Protestbewegungen und Stadtpolitik: Urbane Konflikte in Santiago de Chile und Buenos Aires [1. Aufl.]
 9783839431214

Table of contents :
Inhalt
Dankeschön
1 Einleitung
WANDEL DES POLITISCHEN DURCH KONFLIKTE IN DER STADTENTWICKLUNG
2 Ansätze der Bewegungsforschung
3 Postpolitische Stadtentwicklung in Lateinamerika?
Postpolitik und Postdemokratie
Entpolitisierung des Urbanen in Lateinamerika
4 Wege zur Emanzipation
Ein „Prüfraster“ für radikale Demokratie
Wie lässt sich Demokratie realisieren?
5 Raumbezüge von contentious politics
Räumlichkeiten
Sozialräumliche Positionalität und Bürgerschaft
Dimensionen raumbezogener Politik
6 Untersuchungsdesign
Komparatives Design und Fallauswahl
Rahmenanalyse
Datenerhebung und Auswertung
BEOBACHTUNGEN AUS SANTIAGO DE CHILE UND BUENOS AIRES
7 Rahmenbedingungen der beiden Städte
Santiago de Chile
Buenos Aires
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
8 Konflikt A: Partikulare Proteste gegen Verdichtung in Vitacura
Konfliktbiographie: Verlauf und Auslöser
Positionalität und Rahmungsstrategien
Raumbezogene politische Wirkungen
Zwischenfazit
9 Konflikt B: Widerstände gegen Gentrification in Peñalolén
Konfliktbiographie: Verlauf und Auslöser
Positionalität und Rahmungsstrategien
Raumbezogene politische Wirkungen
Zwischenfazit
10 Konflikt C: Proteste gegen Hochhausbau in Buenos Aires
Konfliktbiographie: Verlauf und Auslöser
Positionalität und Rahmungsstrategien
Raumbezogene politische Wirkungen
Zwischenresümee
11 Konflikt D: Besetzung des Parque Indoamericano in Buenos Aires
Konfliktbiographie: Verlauf und Auslöser
Positionalität und Rahmungsstrategien
Raumbezogene politische Wirkungen
Zwischenfazit
12 Vergleich der urbanen Konflikte
Entscheidende Bedingungsfaktoren
Gegenüberstellung der Wirkungsweisen
(Re-)Politisierung und Anmerkungen zur Postdemokratie
13 (Re-)Politisierung durch urbane Konflikte? Ein Fazit
Literatur
Anhang

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Corinna Hölzl Protestbewegungen und Stadtpolitik

Urban Studies

Corinna Hölzl (Dr.) promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie forscht und lehrt zu verschiedenen Themen der Stadtpolitik und Stadtentwicklung am Geographischen Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

Corinna Hölzl

Protestbewegungen und Stadtpolitik Urbane Konflikte in Santiago de Chile und Buenos Aires

Die vorliegende Arbeit wurde im Oktober 2014 an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin unter dem Titel »Urbane Konflikte in Santiago de Chile und Buenos Aires. Zum Wandel von Rahmungen und politischen Praktiken durch soziale Bewegungen und Bürger*inneninitiativen« als Promotionsschrift angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Dankeschön | 7 1

Einleitung | 9

WANDEL DES POLITISCHEN DURCH IN DER STADTENTWICKLUNG

KONFLIKTE

2

Ansätze der Bewegungsforschung | 19

3

Postpolitische Stadtentwicklung in Lateinamerika? | 29

Postpolitik und Postdemokratie | 30 Entpolitisierung des Urbanen in Lateinamerika | 41 Wege zur Emanzipation | 59 Ein „Prüfraster“ für radikale Demokratie | 60 Wie lässt sich Demokratie realisieren? | 66 4

Raumbezüge von contentious politics | 81 Räumlichkeiten | 81 Sozialräumliche Positionalität und Bürgerschaft | 85 Dimensionen raumbezogener Politik | 89 5

Untersuchungsdesign | 105 Komparatives Design und Fallauswahl | 105 Rahmenanalyse | 108 Datenerhebung und Auswertung | 115 6

BEOBACHTUNGEN AUS SANTIAGO DE CHILE UND BUENOS AIRES 7

Rahmenbedingungen der beiden Städte | 125

Santiago de Chile | 126 Buenos Aires | 144 Gemeinsamkeiten und Unterschiede | 161

8

Konflikt A: Partikulare Proteste gegen Verdichtung in Vitacura | 165

Konfliktbiographie: Verlauf und Auslöser | 166 Positionalität und Rahmungsstrategien | 170 Raumbezogene politische Wirkungen | 187 Zwischenfazit | 197 9

Konflikt B: Widerstände gegen Gentrification in Peñalolén | 199

Konfliktbiographie: Verlauf und Auslöser | 200 Positionalität und Rahmungsstrategien | 207 Raumbezogene politische Wirkungen | 232 Zwischenfazit | 243 10 Konflikt C: Proteste gegen Hochhausbau in Buenos Aires | 247

Konfliktbiographie: Verlauf und Auslöser | 248 Positionalität und Rahmungsstrategien | 254 Raumbezogene politische Wirkungen | 268 Zwischenresümee | 282 11 Konflikt D: Besetzung des Parque Indoamericano in Buenos Aires | 287

Konfliktbiographie: Verlauf und Auslöser | 288 Positionalität und Rahmungsstrategien | 296 Raumbezogene politische Wirkungen | 315 Zwischenfazit | 331 12 Vergleich der urbanen Konflikte | 335

Entscheidende Bedingungsfaktoren | 335 Gegenüberstellung der Wirkungsweisen | 348 (Re-)Politisierung und Anmerkungen zur Postdemokratie | 355 13 (Re-)Politisierung durch urbane Konflikte? Ein Fazit | 361 Literatur | 371 Anhang | 405

Dankeschön

Mein Dank gilt allen, die das Entstehen dieser Arbeit befördert haben. Prof. Dr. Henning Nuissl danke ich für seine Unterstützung und sein Interesse meinem Thema gegenüber. Er hat dieser Arbeit wichtige Impulse erteilt. Prof. Dr. Michael Janoschka und Prof. Dr. Johannes Rehner danke ich für inspirierende Gespräche und dass sie bereit waren, die Begutachtung der Arbeit zu übernehmen. Die Erarbeitung der Studie wurde ermöglicht durch die Forschungsinitiative Risk Habitat Megacity der Helmholtz-Gemeinschaft, das Elsa-Neumann-Stipendium, den Deutschen Akademischen Auslandsdienst und das Caroline-vonHumboldt-Abschlussstipendium der Exzellenzinitiative der Humboldt Universität zu Berlin. Ohne diese Finanzierungen hätte sich die vorliegende Studie nicht realisieren lassen. Ebenso hätte ich diese Arbeit nicht ohne die Unterstützung zahlreicher Aktivist*innen umsetzen können, denen ich zu großem Dank verpflichtet bin. Mein Dank gilt auch meinen Freundinnen und Freunden sowie Kolleginnen und Kollegen in Santiago und Buenos Aires für ihre Unterstützung und Gastfreundschaft. Das gilt selbstverständlich auch für meine lieben Freundinnen und Freunde zuhause. Sehr froh schätze ich mich auch über den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen an den Forschungseinrichtungen, die ich in den vergangenen Jahren besuchen durfte, dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ in Leipzig, der Humboldt Universität zu Berlin, der Pontificia Universidad Católica de Santiago und der Universidad de Buenos Aires. Besonders herzlich danke ich meiner Familie, vor allem meinen Eltern, die mit ihrer Toleranz den Grundstein für diese Arbeit gelegt haben. Bei Roland Verwiebe möchte ich mich für seine liebevolle Unterstützung, Beratung und sein Verständnis auf allen Ebenen bedanken. Für Anton Berlin, im Juni 2015

1 Einleitung „Cities are the places of contested desire“ GUNDER UND HILLIER 2009: 1

Konflikte bestimmen den Alltag der Stadtpolitik. In vielen Städten des globalen Südens und Nordens – sei es in Nordafrika, Lateinamerika oder Südeuropa – zeichnet sich seit einigen Jahren eine Zunahme sozialer und politischer Proteste ab; eine Reaktion auf die im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008 zu beobachtenden Austeritätspolitiken, die ungebremsten Praktiken der Neoliberalisierung und weitere Prozesse der Entdemokratisierung. Wie die Proteste um den Gezi Park in Istanbul 2013 zeigten, ist die Stadt dabei häufig gleichzeitig „Gegenstand“ – etwa wenn Großprojekte demokratischer Mitsprache entbehren – und „Austragungsort“ von sozialen Auseinandersetzungen. Auch in vielen lateinamerikanischen Städten wehren sich seit einigen Jahren immer mehr Bürger*innen gegen die Kommodifizierung des Städtischen. In Chile lässt sich eine Remobilisierung zivilgesellschaftlicher Organisationen beobachten, die im Zuge der Militärdiktatur an Einfluss verloren hatten. So gewinnen zum Beispiel soziale Bewegungen in der Tradition chilenischer Landnahmen wieder an Bedeutung. In Argentinien erfuhr der traditionell starke Bewegungssektor im Verlauf der beiden linksgerichteten Kirchner-Regierungen zwar eine wesentliche Schwächung. Konflikte um das Recht auf Wohnen sind dort jedoch angesichts des fortschreitenden Rückzugs des Staats aus der öffentlichen Wohnungspolitik von großer Brisanz. Neu ist in beiden Städten das gestiegene Interesse mittlerer und oberer Einkommensschichten an der politischen Mitgestaltung von Nachbarschaften. Im Unterschied zu Europa ist für die neuen sozialen Bewegungen in Lateinamerika kennzeichnend, dass Mittelschichten bislang kaum eine Rolle spielten. Stattdessen sind im Wesentlichen untere Schichten involviert (Boris 2007). Allerdings verweisen aktuelle Ereignisse, wie die Studierendenbewegung in Chile seit 2011,

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die Proteste im Zuge der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien 2014 oder die Zunahme planungsbezogener urbaner Initiativen hier auf neue Tendenzen. Auch wenn die Interessen, Ressourcen und Strategien variieren, teilen soziale Bewegungen und Bürger*inneninitiativen ein zunehmendes Misstrauen gegenüber den gängigen wettbewerbsbasierten Stadtentwicklungslogiken. Ausgeprägter als hierzulande basieren diese ganz wesentlich auf privatwirtschaftlichen Interessen, die von politischen Entscheidungsträger*innen häufig befördert werden (de Mattos 2010; Pírez 2002). Gleichzeitig sind Regulationsinstrumentarien und formelle Beteiligungsmechanismen in Politik und Planung defizitär (Ducci 2004; Landau 2008; Forray 2007). Schließlich kennzeichnen die Protestgruppen in Hinblick auf ihre politische Orientierung und ihren sozialen Status vielfach markante Gegensätze, die ihre Entfaltung behindern oder ergänzen können. Forschungsanlass Vor diesem Hintergrund stellt sich aus stadtgeographischer Perspektive die Frauge, welche politischen Auswirkungen eine solche Häufung städtischer Konflikte nach sich zieht. Lassen sich zum Beispiel Konsequenzen für die (lokale) Demokratie ableiten oder werden eher kurzfristige Ergebnisse erzielt, die darunter liegende politische Handlungslogiken wenig beeinträchtigen? Die vorliegende Studie will anhand von ausgewählten Konfliktfällen in Santiago de Chile und Buenos Aires folgende Fragen beantworten: Inwieweit wirken sich urbane Konflikte auf stadtpolitische Arrangements aus, und tragen sie zu einer Emanzipierung und (Re-)Politisierung des Städtischen bei? Dabei widme ich mich fünf Teilfragen: (1) Welche Interessen und Positionen vertreten die involvierten Parteien und von welchen Strategien machen sie dabei Gebrauch? (2) Welche Rolle kommt dabei place-, territory-, scale- und network-bezogenen Bedingungen sowie der sozialräumlichen Positionalität der Bewegungsakteur*innen zu? (3) Welche Faktoren können als Auslöser von urbanen Konflikten identifiziert werden und welche politischen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen beeinflussen den Konfliktverlauf? (4) Welche Wirkungen lassen sich hinsichtlich herrschender Diskurse und Machtverhältnisse, Räumlichkeiten sowie politischen Praktiken und Institutionen identifizieren? (5) Welche Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Bezugspunkte bestehen zwischen den Fällen, und worauf sind sie zurückzuführen? Die Untersuchung verortet sich zwischen Erklärungsansätzen der Stadtpolitik und Ansätzen zu sozialen Bewegungen, die als „collective challenges, based on common purposes and social solidarities, in sustained interaction with elites, opponents, and authorities” (Tarrow 2011: 9 [kursiv im Orig.]) zu verstehen sind.

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Angestrebt wird, die gegenwärtige Forschung zu contentious politics (~ widerständige Politiken) zu bereichern, indem alle relevanten sozialen Gruppen in die empirische Konfliktanalyse integriert werden und eine Fokussierung auf die politischen Wirkungsweisen von Konflikten erfolgt. Durch die vergleichende Analyse von urbanen Konflikten und deren Wechselwirkungen mit stadtpolitischen Prozessen deckt das Buch einerseits die Widersprüche auf, die den in den Städten verbreiteten Mechanismen der Stadtentwicklungspolitik innewohnen. Andererseits werden neue Erkenntnisse über das transformative Potenzial von gesellschaftlichen Widerständen für die (lokale) Politik und deren Rahmenbedingungen gewonnen. Dies ist eine zentrale Voraussetzung, um tragfähige Ansätze zur Stärkung von zivilgesellschaftlichen Mitspracherechten in der Stadtentwicklung und darüber hinaus zu identifizieren. Das komparative Untersuchungsdesign soll dabei nicht nur ein spezifisches Generalisierungspotenzial zulassen, sondern auch einen kritischen Blick auf bestehende Theorien erlauben. Die Studie möchte damit einen Beitrag zur umfassenderen Diskussion um Demokratie in einem (vermeintlich) postpolitischen Zeitalter leisten. Dabei ordnet sie sich in die aktuelle Debatte um Postdemokratie und radikale Demokratie, Recht auf die Stadt und raumbezogene contentious politics ein (Featherstone/Korf 2012; Harvey 2012; Hidalgo/Janoschka 2014; Holm/Gebhardt 2011a; Nicholls/Miller/Beaumont 2013a; Purcell 2013; Zibechi 2011). Theoretische Einbettung Für die Analyse der Auswirkungen urbaner Konflikte wird auf Theorien und Konzepte unterschiedlicher Forschungslinien zurückgegriffen, die Stadtpolitik und soziale Bewegungen1 bzw. contentious politics in Lateinamerika und besonders in Chile und Argentinien erklären. Eine Herausforderung an die theoretische Einbettung stellt sich für die Arbeit dadurch, dass nicht soziale Bewegungen, sondern städtische Konflikte im Mittelpunkt des Buches stehen. Folglich werden – im Unterschied zu vielen contentious politics Analysen – alle in einen Konflikt involvierten Gruppen berücksichtigt, wenngleich ein Fokus auf Protestakteur*innen gesetzt wird. Damit reagiert die Untersuchung auch auf eine an vielen Stellen geäußerte Forderung der Bewegungsforschung, soziale Bewegungen im Kontext derjenigen Gruppen zu betrachten, ohne die sie gar nicht existieren würden (Tilly 1999). Dazu zählen insbesondere politische Entscheidungsträger*innen, Teilnehmer*innen der Bewegungen, „die“ Bevölkerung (subject popula1

Ich unterscheide in der Arbeit – den schichtbezogenen Selbstzuschreibungen der untersuchten Organisationen folgend – soziale Bewegungen und Bürger*inneninitiativen. Von einem Bezug auf explizit urbane soziale Bewegungen wird abgesehen.

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tion) und darüber hinaus weitere Akteur*innen, wie zum Beispiel Gegenbewegungsaktivist*innen, Sympathisierende, konkurrierende Machtinhaber*innen, Polizei und Behörden der Judikative. Eine zweite Herausforderung besteht darin, der Bandbreite der vier empirischen Fallbeispiele – d.h. sowohl der professionellen Wahlkampagne einer privilegierten Bürgerschicht als auch der spontanen Besetzung öffentlichen Raums durch marginalisierte Gruppierungen – theoretisch gerecht zu werden. Die gewählten theoretischen Ansätze sollen zeigen, unter welchen Umständen und in welcher Weise sich Arrangements und Strukturen von lokaler Politik wandeln. Insbesondere erfolgt eine Verflechtung von Konzepten zur Neoliberalisierung des Städtischen und radikaldemokratischen Ansätzen sowie lateinamerikanischen und angelsächsischen Perspektiven auf Raum und Widerstand. Ausgehend von Sidney Tarrow definieren Leitner und Kolleg*innen (2008) contentious politics als: „Concerted, counter-hegemonic social and political action, in which differently positioned participants come together to challenge dominant systems of authority, in order to promote and enact alternative imaginaries.“ (Leitner/Sheppard/Sziarto 2008: 157)

Innerhalb der Erforschung sozialer Bewegungen sind zunächst Ansätze interessant, die Bedingungsebenen und Wirkungsdimensionen differenzieren, und daher einen hilfreichen Ausgangspunkt für ein heuristisches Analysegerüst zum Vergleich von politischen Wirkungen urbaner Konflikte liefern (vgl. Rucht/Roth 2008). Für die Konzeptualisierung des Politischen und von Raum ist es erforderlich, weitere Perspektiven einzubeziehen. Da sich diese Buch auf die politischen und demokratierelevanten Wirkungen von zivilgesellschaftlichen Mobilisierungsstrategien in Städten konzentriert, beziehe ich mich zunächst im Wesentlichen auf Rancières radikaldemokratischen Ansatz und seine Ausführungen zur Postdemokratie. Des Weiteren werden Erklärungsansätze lokaler Politik und Planung berücksichtigt, die die Entfaltung von sozialen Bewegungen bzw. einer demokratischen Teilhabe an der Gesellschaft beeinflussen. Hier fließen unter anderem neoliberalismuskritische Ansätze ein, die nicht nur die Produktion spezifischer Raumformationen, sondern auch die Beeinträchtigung lokaler Demokratie bzw. Tendenzen der postpolitischen Stadt diskutieren (vgl. u.a. Purcell 2008; Swyngedouw 2009). Deren Übertragbarkeit auf Lateinamerika wird geprüft und um kontextspezifische Charakteristika informeller Regierungstechnologien, beispielsweise neopopulistische Regierungsstile und klientelistische Apparate, erweitert (vgl. Zibechi 2011, Souza 2006).

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Ausgehend von der Diskussion postdemokratischer Tendenzen werden anhand des radikalen Demokratieverständnisses von Laclau und Mouffe (2012), das auf der Anerkennung von Antagonismus basiert, die Voraussetzungen diskutiert, um emanzipatorische Praktiken zu schaffen. Wie sich die Verwirklichung einer radikalen Demokratie ausgestalten kann, wird anhand von zwei vielfach diskutierten Wegen reflektiert: Zum einen die Auffassung von Demokratie als hegemonialem Projekt und zum anderen eine „Demokratie-Werdung“ in Form von Autonomie. Dafür wird einerseits auf die Hegemonie- und Diskurstheorie von Laclau und Mouffe (2012) zurückgegriffen. Andererseits wird das Konzept der Autonomie von Castoriadis (1991) vorgestellt und um autonomiebezogene Ansätze lateinamerikanischer Sozialwissenschaftler*innen ergänzt (vgl. Souza 2009; Zibechi 2011). In einem letzten konzeptuellen Abschnitt der Arbeit wird hergeleitet, wie Bewegungen von unterschiedlichen Räumlichkeiten, d.h. räumlichen Skalen, Orten, Territorien und Netzwerken, Gebrauch machen, bzw. wie diese das Wirken von contentious politics beeinflussen. Gleichzeitig ist dabei von Interesse, wie sich urbane Konflikte auf diese Räumlichkeiten auswirken. Die Bedeutung dieser Ebenen hat sich im Zuge des spatial turns in den Sozialwissenschaften weitgehend durchgesetzt. Während für gewöhnlich die Relevanz bestimmter Räumlichkeiten, z.B. place (Massey 2004) oder scale (Brenner 2008), hervorgehoben wurde, betonen immer mehr Geograph*innen den Einbezug multipler räumlicher Faktoren (Leitner/Sheppard/Sziarto 2008; Nicholls 2009). Folglich finden die vier strategischen Dimensionen politics of scale, place, territory und networks Berücksichtigung. Als fünfte relevante Dimension wird die relational verfasste sozialräumliche Positionalität diskutiert, die die soziale Situiertheit der Subjekte umschreibt (vgl. Leitner/Sheppard/Sziarto 2008). Diese beeinflusst die Austragung des Konflikts und gleichzeitig wirkt die Auseinandersetzung umgekehrt auf die Positionalität zurück. Im Zuge dessen bietet es sich an, auf das differenzierte Verständnis von Bürgerschaft in Lateinamerika zu verweisen, wie es zum Beispiel Holston (2008) vorschlägt. Komparativer Ansatz und Fallstudien Methodologisch folgt die Studie einer ethnographischen Vorgehensweise. Diese zielt darauf ab, nachzuzeichnen, wie Menschen die Welt alltäglich erfahren und einordnen (Crang/Cook 2007: 1). Mit dieser methodologischen Grundorientierung verbinden sich eine offene Herangehensweise und die Flexibilität, unterschiedliche Erhebungsmethoden einzubeziehen. Ein solches Vorgehen bot sich für die vorliegenden Konfliktanalysen besonders an, da sich Konstellationen und

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Handlungsdynamiken von sozialen Bewegungen vorab nur begrenzt einschätzen lassen (vgl. Tilly 1999). Der Vergleich von vier urbanen Konflikten (und weniger ein Städtevergleich) stellt die zentrale Methode der Studie dar. Das komparative Fallstudiendesign diente dazu, das Potenzial der Konfliktfälle für Generalisierungen und konzeptuell-theoretische Korrekturen hinsichtlich ihrer Merkmale, Bedingungen und Wirkungen aufzudecken (vgl. Flyvbjerg 2004). Buenos Aires und Santiago weisen zunächst einige Gemeinsamkeiten auf (most similar systems design): dazu zählt ihre ökonomische und politische Funktion als Hauptstädte in relativ jungen, teils delegativen Demokratien mit wenig direktdemokratischen Elementen (vgl. O’Donnell 1994). Sozialräumliche Ungleichheiten sind ausgeprägt. Außerdem wurde dem most different systems design folgend mit maximalen Kontrasten gearbeitet. Diese ergeben sich erstens aus dem Vergleich von Konflikten in einkommensschwachen und -starken Stadtteilen und zweitens aus der internationalen Gegenüberstellung: Chile als zentralistisches, wenig korrupt geltendes Land und der Föderalstaat Argentinien mit ausgeprägtem Klientelismus, stärker verwurzelten Protestkulturen und einem höheren Ausmaß von Armut. Anknüpfend an die verwendete Hegemonie- und Diskurstheorie von Laclau und Mouffe wurde die Rahmenanalyse als Methode aufgegriffen, um die Diskurse zu untersuchen, in denen die Reichweite sozialer Tatsachen verhandelt wird. Außerdem lässt sich mithilfe der Rahmenanalyse erörtern, wie politische Realität durch Diskurse definiert wird, und inwieweit neue Öffentlichkeiten geschaffen werden (vgl. Donati 2011). Kollektive Akteur*innen deuten und ordnen ihre Erfahrungen und Wahrnehmungen der Welt mithilfe von Framing-Strategien und versuchen auf diese Weise, ihre Forderungen umzusetzen (Brand/Eder/Poferl 1997). Dies dient nicht nur der Analyse von Handlungen, sondern deckt mögliche diskursive Verschiebungen auf. Im Sinne einer Triangulation nach Flick (2012) griff ich auf verschiedene Erhebungsmethoden zurück: Erstens wurden problemzentrierte Interviews insbesondere mit Sprecher*innen sozialer Bewegungen und Bürger*inneninitiativen sowie mit politischen Entscheidungsträger*innen geführt. Dadurch ließen sich die unterschiedlichen Strategien und Positionen der Akteur*innen aufzeigen und deren Rahmungen rekonstruieren (vgl. Witzel 2000). Ergänzend flossen Expert*inneninterviews in die Analyse ein. Zweitens bildeten Printmedien als institutionelle Träger von Diskursen eine wichtige Datengrundlage für die Rahmenanalyse. Daneben wurden weitere Dokumentarten (Pläne, juristische Protokolle oder Internetauftritte) berücksichtigt. Drittens gelang es mithilfe teilnehmender Beobachtung an Versammlungen von sozialen Organisationen, Interaktionen zu verstehen und geteilte Interessen zu erörtern. Die Auswertung des Textmaterials

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erfolgte weitgehend anhand einer thematischen Kodierung (Froschauer/Lueger 2003). Ein theoretisch orientierter und induktiv ausdifferenzierter Analyserahmen strukturiert die Ergebnispräsentation der vier Fallstudien. Konflikt A behandelt die Auseinandersetzungen um geplante Hochhausprojekte in Vitacura, der reichsten Kommune Chiles. 2009 resultierten Proteste in einem Referendum, das zur Ablehnung der Maßnahmen führte. Erstmals in der Geschichte Chiles gelang es Bürger*innen damit, ein Referendum zu organisieren und sich dem Wachstumsparadigma von Santiago zu widersetzen. Das lokale Ereignis erzeugte landesweit Aufmerksamkeit und lässt sich womöglich als Wendepunkt bezeichnen, was das Bewusstsein über demokratische Mitspracherechte angeht. Konflikt B diskutiert die gegenwärtigen Proteste um Gentrification in Peñalolén, einer sozial heterogenen Kommune am Stadtrand Santiagos mit formalisierten Landnahmen und sozialem Wohnungsbau einerseits und Gated Communities andererseits. Widerstand wurde durch die umfangreichen Änderungen ausgelöst, die ein neuer kommunaler Flächennutzungsplan vorsah. 2011 gelang es sozialen Organisationen, ihre Kapazitäten zu bündeln und – dem Vorbild Vitacura folgend – den Plan mithilfe eines Referendums abzulehnen. Seitdem wird ein neuer Plan diskutiert. Konflikt C widmet sich den Auswirkungen von Protesten gegen Hochhausprojekte bzw. zum Schutz des städtischen Erbes in Buenos Aires. Gerade seit 2003 kam es in den traditionellen Stadtquartieren der Mittelschicht zu einer hohen Verdichtung, verbunden mit dem Abriss von für die Bewohner*innen identitätsstiftenden Gebäuden. 2008 bewirkten Bürger*inneninitiativen aus Caballito nach jahrelangem Kampf erstmals die Begrenzung der Gebäudehöhe in einigen Teilen des Stadtviertels. Diese Gruppen gelten als Vorreiter*innen für inzwischen über die ganze Stadt verteilte Initiativen und NGOs, die sich zunehmend stadtweit organisieren. Etwas anders gelagert ist Konflikt D: eine massive Parkbesetzung im sozial deprivierten Südwesten von Buenos Aires, wo ein Drittel der Bewohner*innen in informellen Siedlungen lebt. Der Parque Indoamericano – mit 130 ha der zweitgrößte Stadtpark der Metropole – wurde 2010 für etwa eine Woche von circa 13.000 Menschen besetzt und polizeilich gewaltsam geräumt. Eine Frau und zwei Männer starben. Landnahmen sind in Argentinien keine Seltenheit, aber kein anderes Ereignis rückte das Wohnungsdefizit der Hauptstadt so schlagartig in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. Dennoch konnten die Betroffenen ihr Anliegen nicht in der Öffentlichkeit platzieren. Dieser Konflikt richtet den Blick auf die Bedeutung multipler sozialer Unterdrückungstechnologien.

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Aufbau des Buches Das Buch gliedert sich in zwei Teile: eine konzeptuell-theoretische Annäherung an den Wandel des Politischen durch Konflikte in der Stadtentwicklung sowie empirische Beobachtungen aus Santiago de Chile und Buenos Aires. Der erste Teil umfasst fünf Kapitel. In Kapitel 2 erfolgt eine methodologische Einleitung in die Untersuchung der Wirkungsweisen sozialer Konflikte, die sich aus Ansätzen der Bewegungsforschung speist. Den Zielsetzungen des Buchs folgend, werden im Anschluss Ansätze zur Postdemokratie und deren Übertragung auf die Stadt diskutiert, um stadtpolitische Routinen und Arrangements zu hinterfragen (Kapitel 3). Kapitel 4 widmet sich emanzipationstheoretischen Ansätzen um Hegemonie und Autonomie, um ein Raster für den emanzipatorischen Gehalt der Konfliktbeispiele bereitzustellen. Kapitel 5 begibt sich auf die Handlungsebene der kollektiven Akteur*innen und arbeitet heraus, inwieweit verschiedene Dimensionen von Räumlichkeiten das politische Wirken von städtischen Konflikten bedingen. In Kapitel 6 werden der komparative Ansatz, die qualitativen Methoden der Erhebung und Auswertung und die Ergebnispräsentation erläutert. Im zweiten Teil werden zunächst die zentralen politisch-ökonomischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen der Stadtentwicklung in Santiago de Chile und Buenos Aires diskutiert und mit ersten empirischen Erkenntnissen unterlegt (Kapitel 7). In den Kapiteln 8 bis 11 werden die Ergebnisse der empirischen Erhebung vorgestellt. Die Analyse der vier Fallstudien folgt einer einheitlichen Gliederung: Ein chronologischer Abriss informiert zunächst über die wichtigsten Fakten im Konfliktverlauf. Im Anschluss daran werden die unmittelbaren Auslöser der Proteste präsentiert und im Rahmen der Rekonstruktion der Konflikte die involvierten Parteien und deren Potenziale der Einflussnahme in Form ihrer sozialräumlichen Positionalität sowie ihren Rahmungsstrategien diskutiert. Darauf aufbauend werden die Ergebnisse der Wirkungsanalyse mit Blick auf dynamische Masterframes in der Stadtentwicklung sowie sich wandelnde politische und planerische Handlungspraktiken erörtert. In Kapitel 12 werden schließlich die vier untersuchten Konfliktbeispiele einander gegenüber gestellt und die Möglichkeiten der Generalisierung von (re-)politisierenden Wirkungsweisen von Konflikten in der Stadtentwicklung zusammenfassend diskutiert. Kapitel 13 fasst die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit noch einmal auf prägnante Weise zusammen. Ferner wird nach den gesellschaftspolitischen Konsequenzen für die Städte gefragt, und weiterführende Forschungsfragen werden aufgeworfen.

Wandel des Politischen durch Konflikte in der Stadtentwicklung

2 Ansätze der Bewegungsforschung

Bevor ich die verwendeten theoretischen Zugänge im Detail diskutiere, sind zunächst einige grundsätzliche Fragen zu klären, die sich aus der Zielstellung des Buchs ergeben. Was ist mit politischen Auswirkungen überhaupt gemeint? Auf welches Verständnis von Demokratie beziehe ich mich in dieser Arbeit? Wie lassen sich die Auswirkungen urbaner Konflikte untersuchen, und worauf ist dabei zu achten? Generell liegt eine große Bandbreite an Untersuchungen vor, die sich mit sozialen Bewegungen – oder etwas übergeordneter – sozialen Konflikten in der Stadtentwicklung und Stadtplanung befasst. Davon beschäftigt sich jedoch nur ein kleinerer Teil explizit mit den Auswirkungen von Konflikten, und fragt beispielsweise, was die Proteste um den Gezi-Park in Istanbul in Politik und Gesellschaft ausgelöst haben. Ende der 1990er Jahre betonte Giugni noch ein enormes Defizit an Studien über die Umstände, die das Wirken sozialer Bewegungen begünstigen, sowie über mögliche und tatsächliche Auswirkungen vergangener oder gegenwärtiger Bewegungen: „[T]he study of the consequences of social movements is one of the most neglected topics in the literature“ (Giugni 1999: xiv f.). Im Wesentlichen ist dies auf die schwierige Messbarkeit von Wirkungszusammenhängen zurückzuführen, was auch für lokale Konflikte bzw. vergleichsweise kleinere soziale Bewegungen zutrifft. Systematische Hinweise zu Wirkungsweisen von sozialen Bewegungen finden sich vor allem in Ansätzen der nordamerikanischen und europäischen Bewegungsforschung. Dort existiert inzwischen eine größere Zahl an Publikationen, die sich mit den Auswirkungen von sozialen Bewegungen beschäftigen (z.B. Bosi/Uba 2009a; Kolb 2007; Neue Soziale Bewegungen 2006). Entsprechend nähere ich mich der Untersuchung städtischer Konflikte in einem ersten Schritt aus dieser Perspektive an. Im Blickfeld dieser Studien stehen oft weit umfassendere Bewegungen und Prozesse als die hier behandelten; Bürger-, Menschenrechts- und Umweltbewegungen etwa, die mithilfe von Protesteventanaly-

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sen oder anderen quantitativen Methoden erforscht werden. Diese Untersuchungen verorten sich hinsichtlich der betrachteten räumlichen Skalen, der Thematik und der Erhebungsmethoden also anders als die vorliegende Studie. Zudem basieren die Studien, die sich explizit auf die Wirkungen von sozialen Bewegungen beziehen (z.B. Kolb 2006; Giugni 2004; Tilly 1999), meist auf einem Verständnis von politischen Wirkungen und Demokratie, das vom dem hier gewählten etwas abweicht. Da die Ansätze jedoch relevante Analysekategorien offerieren, werde ich als theoretischen Ausgangspunkt auf drei Aspekte eingehen –Wirkungsdimensionen, die Rolle von Zeithorizonten und Kausalitäten sowie die Bedingungsfaktoren – und im Anschluss mein Vorgehen skizzieren. Politische Auswirkungen und Demokratie – was ist gemeint? Für die Untersuchung der Folgen von Konflikten ist es zunächst entscheidend, Wirkungstypen zu definieren und zu bestimmen. Dabei greifen viele Autor*innen auf die Termini „Erfolg“ und „Scheitern“ von sozialen Bewegungen zurück (Beyeler 2006; Kolb 2006; Roose 2006; Rucht/Roth 2008). Aus verschiedenen Gründen handelt sich dabei um keine adäquaten Zuschreibungen, wie beispielsweise Tilly (1999) und Giugni (1999) betonen: So ist zunächst unklar, aus welcher Perspektive von Erfolg gesprochen werden kann, da soziale Bewegungen unterschiedliche Ziele haben. Sie stellen keine homogenen Einheiten dar, sondern komplexe Gruppen, Individuen und Aktionen, die verschiedene Interessen und Strategien verfolgen können und multiplen Dynamiken unterliegen. Außerdem sind für politische Effekte empirisch äußerst komplexe Wirkungsgrade kennzeichnend, so dass man nicht einfach von deren Erfolg oder Scheitern sprechen kann. In Studien zeigt sich häufig ein implizit normatives Verständnis der behandelten Fragestellung, unter anderem, weil sich – wie Kolb (2006) erläutert – die subjektive Perspektive des Forschenden nicht vollständig ausklammern lässt. Diese schlägt sich auch im Zugang zum Forschungsfeld nieder, wo insbesondere Biographie, Identität und organisatorisches Umfeld des Forschenden strukturelle Restriktionen darstellen (Merkens 2004). Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist, dass die Intention, soziale Veränderungen bewirken zu wollen, in der Wissenschaft häufig überbewertet wird. Diese Absicht lässt sich oft gar nicht identifizieren. Viele Proteste ereignen sich spontan und zahlreiche Folgen sind nichtintendiert. Zudem verfolgen soziale Gruppen in der Regel verschiedene Intentionen (Giugni 1999; della Porta 1999). Überdies lassen sich vielfältige, teilweise widersprüchliche „Nebeneffekte“ benennen, darunter der erhöhte Einsatz von Polizei, die Entstehung oppositioneller Bewegungen, die Veränderung von Gesetzgebungen (z.B. Demonstrationsrecht)

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DER

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und die Umwandlung von sozialen Bewegungen in pressure groups (vgl. Tilly 1999). Die Differenzierung zwischen intendierten und nichtintendierten Folgen ist also nicht ohne Weiteres möglich; um so mehr, wenn – wie in der vorliegenden Untersuchung – ein breites, sich gegenseitig beeinflussendes Akteur*innenfeld im Fokus steht. Was die Wirkungsdimensionen von sozialen Bewegungen betrifft, so unterscheidet die Bewegungsforschung zwischen politischen, kulturellen und biographischen Auswirkungen (Bosi/Uba 2009b; Rucht/Roth 2008). Die biographische bzw. die bewegungsinterne Wirkungsanalyse befasst sich mit dem Leben der Mitglieder und Sympathisierenden von sozialen Bewegungen. Von Interesse ist insbesondere, wie sich ihr Leben transformiert, zum Beispiel durch Kooptierungen und/oder die Repression von Anführer*innen (z.B. Giugni 2004). Die politische Dimension bezieht sich vor allem auf Policy Effekte, aber auch auf die Gesetzgebung, politische Institutionen und Regime sowie Programme politischer Parteien (Amenta u. a. 2010; Kolb 2007). Die politischen Auswirkungen sind am stärksten erforscht. Giugni (1999) führt dies darauf zurück, dass sie sich leichter untersuchen lassen als kulturelle und biographische Folgen. Eine ausführliche Herleitung und Differenzierung politischer Wirkungen liefert Kolb (2007). Dabei unterscheidet er zwischen substanziellen und institutionellen Auswirkungen (ebd.: 25ff). Erstere basieren auf dem 1975 von Schumaker entwickelten Konzept der „policy responsiveness“, d.h. der Verbindung zwischen implizit und explizit geäußerten Forderungen einer Protestgruppe und den Handlungen des politischen Systems als Zielobjekt der Forderungen. Daraus leitet er fünf Typen substanzieller Wirkungen ab: 1) agenda impact, 2) alternatives impact, 3) policy impact, 4) implementation impact und 5) collective goods impact. Besondere Bedeutung „und oft ausschließlichen Fokus“ (Kolb 2006: 16) nimmt in empirischen Untersuchungen der policy impact ein. Diesbezüglich betont Kolb, dass zwischen reaktiven und proaktiven Auswirkungen differenziert werden sollte. Dabei bezeichnen reaktive Auswirkungen die Verhinderung weiterer Nachteile, proaktive Auswirkungen meinen hingegen das Erreichen von Vorteilen bezogen auf die Bewegungsziele. Die institutionellen Auswirkungen untergliedert Kolb in drei Typen: Erstens den prozeduralen Wandel des Verhältnisses zwischen Bewegung und politischer Institution; zweitens institutioneninterne Veränderungen (z.B. in Bezug auf Wahlrecht, Parteien, politische Resorts, parlamentarische Repräsentation), wozu auch die Inklusion von Bewegungen zählt, und drittens die Veränderung des gesamten politisch-institutionellen Gefüges, zum Beispiel durch die Schaffung direktdemokratischer Institutionen. Schließlich ist die kulturelle Dimension von sozialen Bewegungen und der damit verbundene Impact hervorzuheben. In diesem Sinne betonen Taylor und

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Whittier (1995: 166), „[c]ollective efforts for social change occur in the realms of culture, identity, and everyday life as well as in direct engagement with the state”. Kulturelle Auswirkungen lassen sich nach Earl (2004) in drei Felder unterteilen. Erstens wirken Problematisierungsleistungen sozialer Bewegungen auf den öffentlichen Wertewandel ein. Diesem widmen sich unter anderem Studien zum Wandel öffentlicher Diskurse über das Recht auf Protest (della Porta 1999; Brand/Eder/Poferl 1997). Dabei ist die öffentliche Anerkennung einer Bewegung bereits eng mit der Beachtung ihres Themas verbunden (Rucht/Roth 2008). Zweitens bilden sich neue kulturelle Praktiken heraus, beispielsweise im Rahmen von Populärkultur und Sprache sowie von Protestformen und öffentlicher Meinungsbildung (Lichterman /Cefaï 2007). Drittens ist die Entwicklung kollektiver Identitäten zu nennen (und damit verbunden die Entstehung von Subkulturen, interner Solidarität und Gegenkulturen). Einzuordnen ist hier auch die Institutionalisierung des Bewegungssektors, was die Verfestigung des Bewegungsmilieus (etwa mit Kommunikationszentren) beinhaltet, aber auch eine mögliche Wiederbelebung von Bewegungen birgt (Rucht/Roth 2008: 644). Diese drei Dimensionen dienen der vorliegenden Studie zur Orientierung, und gerade die politische Dimension liefert hilfreiche Kategorien für die empirische Analyse. Auf die Betrachtung politischer Auswirkungen aus einer „klassischen“ politikwissenschaftlichen Perspektive begrenze ich mich jedoch nicht. Über den Wandel von „Politik“ in einem engen Sinne hinaus interessiert sich das Buch für den Wandel von Machtbeziehungen zwischen Bürger*innen und Autoritäten. Dieser wird im Kontext von Wirkungsanalysen sozialer Bewegungen allerdings oft nur teilweise berücksichtigt (vgl. Giugni 1999). Verbunden damit wird hier die Frage aufgeworfen, inwieweit es zu einer Repolitisierung städtischen Regierens und einer Stärkung von Demokratie kommt (vgl. Swyngedouw 2011a). Dieses Buch bezieht sich also auf ein breiteres Verständnis des Politischen. Des Weiteren bleiben in den oben zitierten Studien Hinweise auf den Raum weitgehend unberücksichtigt, weder in Bezug auf Wirkungsweisen noch in Form einer Einfluss nehmenden Rahmenbedingung. Da städtisches Regieren unweigerlich mit Räumlichkeiten zusammenhängt, wird die räumliche Dimension in Kapitel 5 ausführlich behandelt und die skizzierte Dreiteilung erweitert. In dieser Arbeit gehe ich also von einer Interdependenz zwischen politischen, kulturellen, biographischen und räumlichen Wirkungen aus. Aus diesem Grund fließen in meine Analyse zum Wandel des Politischen in Städten Elemente verschiedener Dimensionen ein, indem die Dynamik von diskursiven Rahmungen sowie damit verbundenen politischen Routinen untersucht wird. Der Begriff der Rahmungen bezieht sich auf nichtfixierte Deutungsmuster der Wahrnehmung und Erfahrung von Ereignissen in der Welt (Brand/ Eder/Poferl 1997). Dabei

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folgt die Studie der Annahme, dass gegenhegemoniale Tendenzen von sozialen Bewegungen, die im Rahmen der Konfliktfälle gegen vorherrschende Stadtentwicklungslogiken protestieren, zu einer Transformation von Rahmungen und übergeordneten Masterframes sowie politischen Praktiken führen können. Daran knüpft sich die Frage an, von welcher Demokratie die Rede ist. Es ist ein zentrales Anliegen dieser Arbeit, die Wirkungsweisen der Konfliktbeispiele auf ihr emanzipatorisches und demokratisches Potenzial zu untersuchen, denn diese stehen im Kontext von strukturell verfestigten Demokratiedefiziten. Um beantworten zu können, ob und inwieweit urbane Konflikte als demokratiefördernd gelten, muss zunächst definiert werden, von welchem Verständnis von Demokratie ausgegangen wird. Das in den Politikwissenschaften gebräuchliche klassische Verständnis definiert Demokratie als Staatsform oder Modell gesellschaftlichen Zusammenlebens. Dieses zeichnet sich in der Regel durch die Teilhabe der Bevölkerung an politischen Entscheidungen aus und differenziert, je nach Grad und Aktivität der Einbindung der Bevölkerung, verschiedene Demokratieformen, zum Beispiel eine repräsentative oder direkte Demokratie (Meyer 2010).1 Auf dieses klassische Demokratieverständnis beziehe ich mich in dieser Arbeit jedoch nicht. Stattdessen liegt der vorliegenden Studie ein radikal-emanzipatorisches Verständnis von Demokratie zugrunde, das in der neueren poststrukturalistischen politischen Theorie vorzufinden ist. Das entessentialisierte Verständnis „radikaler Demokratie“ betont den Kampf um eine differenzoffene und allen Subjekten in gleicher Weise zugängliche Gesellschaft. Unter der Überschrift der Postdemokratie wird dieses Demokratieverständnis unter Rückgriff auf Rancière (2002) theoretisch beleuchtet (Kapitel 3). Als Gegenpol dazu möchte ich mit dem Modell der radikalen Demokratie von Laclau und Mouffe (2012) einen normativen Ansatz von Demokratie vorschlagen sowie diskutierte Möglichkeiten der Beförderung einer solchen Demokratieform präsentieren (Kapitel 4). Zeithorizonte und Kausalitäten Bei der Untersuchung der Wirkungen von sozialen Bewegungen sind auch die Dauer und die Richtung des potenziellen sozialen Wandels von Interesse. Generell ist ein Zusammenhang zwischen politischem Wandel und kurzfristigen Wirkungen einerseits und zwischen institutionellen Veränderungen und langfristigen 1

Das Verständnis von Demokratie, das einer Analyse zugrunde gelegt wird, beeinflusst die Interpretation der Beobachtungen entscheidend. So liegt bei einer partizipatorischen Demokratie beispielsweise bereits eine demokratiefördernde Wirkung vor, wenn soziale Bewegungen nur im öffentlichen Raum „auftauchen“ (Guigni 1999).

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Wirkungen andererseits festzustellen (Giugni 1999; Tarrow 2011). Dabei besteht ein fundamentales Dilemma: Fordern soziale Bewegungen einen kurzfristigen Politikwandel, sind ihre Erfolgsaussichten vergleichsweise groß. Aber sie können auf diese Weise keine strukturellen Veränderungen bewirken. Der Kampf um einen nachhaltigen institutionellen Wandel – beispielsweise die Forderung nach mehr demokratischer Teilhabe oder der Anerkennung der Interessen marginalisierter Gruppen – ist hingegen wesentlich schwieriger (Giugni 1999). Dieser Kampf kann aber eher zu einem dauerhaften sozialen und politischen Wandel führen. Nicht zu vergessen ist in der empirischen Analyse zudem die grundsätzliche Dynamik jeglicher Prozesse politischer, ökonomischer, sozialer oder gar umweltbedingter Art: Politische Errungenschaften werden womöglich rasch wieder vereinnahmt oder nicht absehbare externe Kräfte (etwa Ereignisse globaler Art) lenken die Prozesse in eine neue Richtung. Die Dynamiken und Effekte vieler Bewegungen werden nicht in Frage gestellt. Allerdings lassen sich diese nur selten einem Akteur zuschreiben. Durch die Aktivitäten verschiedener Gruppen bestehen in der Praxis multiple Zusammenhänge, und unterschiedliche Ereignisse erhöhen die Komplexität von Prozessen (Rucht/Roth 2008). In diesem Sinne können bestimmte Effekte entweder das Ergebnis von Bewegungsaktivitäten und/oder von externen Ereignissen sein, die mit Bewegungsforderungen zusammenhängen, oder sie ergeben sich gänzlich unabhängig von Bewegungshandeln (Tilly 1999). Die Identifikation kausaler Zusammenhänge bedeutet also eine große Herausforderung: „the problem of causality, that is, how to establish a causal link between a given movement and an observed change, is probably the main difficulty scholars have encountered” (Giugni 1999: xxiv). Wirkungen, die durch soziale Bewegungen hervorgerufen werden, lassen sich nach Rucht und Roth (2008) umso genauer bestimmen, je eindeutiger und begrenzter die Ziele einer Bewegung, je stärker die Konfliktsituation polarisiert, und je weniger Akteur*innen beteiligt sind. Zudem empfiehlt Tilly (1999), die im Mittelpunkt stehenden Auswirkungstypen zu spezifizieren. Außerdem müssten alternative Einflussfaktoren von Veränderungen erörtert werden, und schließlich eine theoretische Rekonstruktion derjenigen kausalen Muster erfolgen, die von der kollektiven Handlung zur beobachteten Veränderung geführt haben. Diese Hinweise können dabei helfen, die empirische Untersuchung zu fokussieren. Daher werden diese Vorschläge in den generalisierenden Ergebnissen zu den Wirkungsweisen von Stadtentwicklungskonflikten – die aus der Gegenüberstellung der Konflikte abgeleitet werden – berücksichtigt. Allerdings eignen sich die genannten Empfehlungen eher für quantitative Analysen. Zudem strebt die vorliegende Studie eine über die Folgen von Bewegungsakteur*innen hinausge-

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hende Problemanalyse an: Untersucht werden auch die Handlungen anderer Akteur*innen sowie Ereignisse, die im Konfliktkontext stehen. Dies bedeutet, dass eine größere Bandbreite von Effekten von Interesse ist. Diese lassen sich zwar differenzieren, aber eine Isolierung von Faktoren und die Ableitung kausaler Muster halte ich für die in dieser Arbeit gewählte Herangehensweise nicht für sinnvoll. Dies kann sie als qualitative Untersuchung, die einen relationalen Ansatz verfolgt, auch gar nicht leisten (vgl. dazu Ward 2010: 480). Welche Faktoren bedingen das Wirken sozialer Bewegungen? Neben der Identifizierung der konkreten Wirkungen von sozialen Bewegungen wird in der Forschung zunehmend untersucht, welche Faktoren ihren politischen Einfluss bedingen (Uba 2009: 434). Grob lassen sich vier Bedingungsebenen unterscheiden (Amenta u. a. 2010; Rucht/Roth 2008; Giugni 1999). Zunächst wird der Mobilisierungsfunktion eine wichtige Rolle zugeschrieben. Diese bezieht sich auf die politische und soziale Umwelt, also auf alle Faktoren, die soziale Bewegungen bzw. einzelne Subjekte in Bewegung bringen. Rucht und Roth 2008 bezeichnen dies als „Generelle Ebene“. Von besonderer Bedeutung ist auf dieser Ebene der Moment, in dem ein individuell registrierter Missstand in einen kollektiven Handlungsimpuls übergeht, d.h. der Übergang von der Selbst- zur Fremdzurechnung (Rucht/Roth 2008). Zweitens kommt es auf die internen Bedingungen der Bewegungen an, also deren Strategien und Ressourcen zur Mobilisierung und Identitätsentwicklung. Was die internen Strategien betrifft, heben Rucht und Roth (2008) insbesondere die Rahmungen von Forderungsansprüchen (Framing) sowie Proteste und Wahlaktivitäten hervor. Als dritten relevanten Faktor lassen sich die externen Bedingungen bzw. der politische Kontext (political opportunity structures) und die öffentliche Meinung benennen. Dazu zählen die Offenheit bzw. Geschlossenheit politischer Institutionen, der Konsens bzw. Dissens der Eliten, die Existenz bzw. Nicht-Existenz von Verbündeten, der Demokratisierungsgrad einer Gesellschaft und die Fähigkeit und Bereitschaft des Staates zur Repression (vgl. auch Uba 2009). Viertens werden Faktoren auf spezifischer Ebene bzw. Modelle politischer Mediation angeführt. Diese beziehen sich auf strategische Interaktionen von sozialen Bewegungen mit Gegner*innen, Gegenbewegungen, Herrschaftsinstanzen und der Öffentlichkeit. Welche dieser Faktorenebenen besonders ausschlaggebend sind, damit öffentliche Entscheidungsträger*innen auf Anliegen von sozialen Bewegungen eingehen, ist in der Literatur umstritten. Lange Zeit stand diesbezüglich die Debatte um disruption versus moderation sowie interne versus externe Erklärungen im Mittelpunkt. Die Debatte um disruption vs. moderation bezieht sich darauf,

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ob antagonistische oder gemäßigte Bewegungen ihre Forderungen erfolgreicher durchsetzen können. In der Forschung bestehen hierzu unterschiedliche Meinungen. Giugni (2004) zufolge hängt die Wirksamkeit dieser verschiedenen Taktiken von den Umständen ab, unter denen sie angewandt werden: insbesondere vom politischen Kontext, dem kulturellen Klima sowie der Fähigkeit der Bewegung, innovative Taktiken zu schaffen. Sehen sich Bewegungen mit einem geschwächten Staat konfrontiert, ist es wahrscheinlicher, dass disruptive Praktiken Berücksichtigung finden. Ist der Staat hingegen stark oder stößt sein Handeln weitgehend auf Zustimmung seitens der Bevölkerung, ist eher mit Repression zu rechnen. In der Debatte um interne vs. externe Erklärungen wird diskutiert, ob eher externe oder interne Bedingungen ausschlaggebend für den Einfluss sozialer Bewegungen sind. Diese Diskussion wird im Kontext von pluralistisch-elitistischen Kontroversen behandelt (Giugni 1999: xviii). Pluralistische Ansätze, zu deren bekanntesten Vertreter*innen Robert Dahl (1961) zählt, favorisieren eher ein externes Erklärungsmuster: Sie sehen Protestgruppen grundsätzlich als effektiv an, weil sie das politische System als empfänglich für externe Forderungen betrachten; vorausgesetzt, die Interessen zwischen Protestgruppen und Entscheidungsträger*innen variieren nicht zu stark. Dagegen neigen Vertreter*innen elitistischer Ansätze eher zu einer Betonung interner Erklärungsmuster. Sie kritisieren die Einschätzung pluralistischer Ansätze, dass politische Systeme eine Offenheit für Protestforderungen auszeichnet. Diese Zweifel werden sowohl mit theoretischen Argumenten als auch mit Hilfe von empirischen Studien begründet (vgl. Giugni 1999). In diesem Zusammenhang betont Luders (2010) die Kosten-Nutzen-Abwägungen seitens der Politik: Sind soziale Bewegungen von Nutzen für die Politik, weil sie beispielsweise interessante Informationen über die Konsequenzen von vorgeschlagenen Politiken liefern oder die Chancen der Wiederwahl beeinflussen können, ist eher Kollaboration zu erwarten. Ist der erwartete politische Nutzen hingegen gering, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass gegen Bewegungen repressiv vorgegangen wird. Auch hier muss jedoch der Einzelfall in den Fokus genommen werden, da unter anderem die Wahrnehmung einzelner Politiker*innen und die Rolle der öffentlichen Meinung zu berücksichtigen sind. Insgesamt ist der Einfluss dieser vier Faktorenebenen grundsätzlich abhängig vom Kontext des Protests sowie dem Verhältnis strategischer und struktureller Komponenten. Es wird davon ausgegangen, dass die öffentliche Meinung und der Demokratiegrad besonders entscheidend sind (Giugni 2004). Diese Einschätzung stellt einen wesentlichen Ausgangspunkt für die vorliegende Studie dar. Neben der öffentlichen Meinung sind auch formelle und informelle Institutionen sowie die (persönlichen) Wahrnehmungen und Präferenzen von Entscheidungs-

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träger*innen zu berücksichtigen (Uba 2009). Um die vorgestellten Bedingungsebenen für die Analyse von Stadtentwicklungskonflikten fruchtbar zu machen, müssen diese zunächst in einen allgemeineren theoretischen Kontext gestellt werden. Diese Aufgabe steht im Mittelpunkt der folgenden drei Kapitel.

3 Postpolitische Stadtentwicklung in Lateinamerika?

Gerade in Europa wird das Konzept der Postpolitik bzw. der Postdemokratie inzwischen vielfach rezipiert. Vor dem Hintergrund der zunehmend zu beobachtenden Verlagerung politischer Entscheidungen auf über- und nichtstaatliche Ebenen – und damit schwindender Gestaltungsmöglichkeiten durch die Bürger*innen – hat die Debatte um postdemokratische Politikformen an Bedeutung gewonnen. Der Ansatz eignet sich, um aufzudecken, auf welche Weise im von Kontroversen geprägten stadtpolitischen Alltag Normalität und Regierbarkeit hergestellt werden. Die jüngere Vergangenheit Argentiniens zeigt, wie die einflussreichen sozialen Bewegungen von 2001 inzwischen deutlich an Bedeutung eingebüßt haben. Zwar konnten einige der besonders prägnanten Armutserscheinungen durch die Implementierung von sozialen Programmen seitdem erfolgreich bekämpft werden. Die soziale Ungleichheit ist in Argentinien jedoch unverändert hoch. Auch wird eine breite Kooptierung sozialer Bewegungen und Entmachtung derjenigen Bewegungen konstatiert, die nicht bereit waren, ihre Unabhängigkeit aufzugeben (Svampa/Pereyra 2009). In Chile ist die Entwicklung der letzten zwei bis drei Dekaden von einem anderen Verlauf geprägt. Hier haben gerade die konsensorientierten Mitte-Links Regierungen seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1990 die Entpolitisierung der Militärregierung fortgeführt und die Schaffung zivilgesellschaftlicher Teilhabe letztlich verhindert. Aktuell bleiben in Chile die angedachten Reformen der zweiten Amtszeit von Michele Bachelet abzuwarten, wobei die 2015 offengelegten Korruptionsskandale zu großer Ernüchterung geführt haben. In diesem Kontext stellt sich die Frage, wie es dem Staat immer wieder gelingt, Institutionen und politische Praktiken zu restrukturieren, und wie diese Prozesse in Bezug auf demokratietheoretische Überlegungen zu interpretieren sind.

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Die offenen und subtilen Modi politischen Regierens, die die political opportunity structures von Bewegungen und ihre lokalpolitischen Wirkungen beeinflussen, gilt es in diesem Kapitel mit Blick auf Lateinamerika aufzudecken. Dafür wird zunächst das Konzept des Postpolitischen bzw. der Postdemokratie insbesondere in Anlehnung an Jacques Rancière vorgestellt. Zudem wird skizziert, wie sich die Debatte um Postpolitik und um Entpolitisierung in Lateinamerika gestaltet. Daran anschließend wird der Ansatz auf die Stadt übertragen. Dabei beziehe ich mich unter anderem auf Eric Swyngedouw (2009), der die Gleichsetzung von postpolitischer und neoliberaler Stadt prominent proklamiert. Diese Darlegung erfolgt auf der Basis von zwei Erklärungsansätzen für die Stadtentwicklung: dem Konzept der Neoliberalisierung und der Regimetheorie. Auf dieser Basis werden einige Techniken städtischen Regierens reflektiert, die gerade für Lateinamerika relevant erscheinen.

P OSTPOLITIK

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P OSTDEMOKRATIE

Generell bezieht sich das Politische nach Aristoteles auf alle notwendigen Regelungen und Übereinkünfte, die vor dem Hintergrund von allgegenwärtigen und als normal zu betrachtenden Differenzen in der Gesellschaft zu treffen sind. Die als ursprünglich verstandene Vielfalt von Interessen, Meinungen und Werten wird durch das Politische in ein verbindliches und kollektives Handeln umgewandelt. Dafür gibt es – vereinfacht formuliert – zwei mögliche Wege. Entweder geschieht dies nach Hannah Arendt über den Weg der Verständigung. Oder aber das Politische wird als Raum der prinzipiellen Gegnerschaft bzw. des Antagonismus definiert; ein Verständnis, das erstmals von Carl Schmitt geprägt wurde. Während sich in die verständigungsorientierte Tradition beispielsweise Habermas‘ Theorie der deliberativen Demokratie einordnen lässt, vertreten postmarxistische Denker*innen wie Chantal Mouffe ein antagonistisches Politikverständnis. In dieser zweiten Linie wird davon ausgegangen, dass Kollektivität durch einen externen Antagonismus gegenüber einem konstitutiven Außen hergestellt wird (Heil/Hetzel 2006a). Oliver Marchart unterscheidet die beiden Stränge als assoziative und dissoziative Traditionen der Theoretisierung des Politischen (Marchart 2010: 35ff). Diverse Theoretiker*innen, die sich dem radikaldemokratischen Diskurs der antagonistischen Traditionslinie zurechnen lassen, verwenden die Begriffe Postdemokratie (z.B. Rancière 1997, 2008) und/oder Postpolitik (z.B. Mouffe 2007; Žižek 2010). Mit diesem Begriff umschreiben sie die mangelnde Anerkennung der Unterschiede innerhalb einer Gesellschaft, die ihrem Verständnis zufolge

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erst das Politische ausmachen, sowie die Behinderung der politischen Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen. Vertreter*innen der radikalen Demokratie postulieren, dass in einer entpolitisierten Gesellschaft die herrschenden Eliten bereits vor den politischen Aushandlungsprozessen den Anspruch erheben, man kenne die einzig richtige Problemlösung oder wisse – ausgehend von einer „objektiv“ ermittelbaren Definition des Gemeinwohls – was die beste Lösung für alle sei. Zudem verfüge man über die Legitimation, diese Lösung umzusetzen, ohne davon Betroffene einbeziehen zu müssen (vgl. Meyer 2010: 66). In einer postpolitischen Konstellation, so Žižek (2010: 273), werde nicht mehr ein wahrer Konflikt um globale Ideologien geführt. Stattdessen handelten „aufgeklärte Technokraten“ und „liberale Multikulturalisten“ einen Konsens aus: „Die Post-Politik plädiert folglich für die Notwendigkeit, die alten ideologischen Unterscheidungen hinter sich zu lassen und sich – ausgestattet mit dem notwendigen Expertenwissen und dem freien Meinungsaustausch, der die jeweils konkreten Bedürfnisse und Forderungen der Menschen zur Sprache bringt – den neuen Problemen zu stellen.“ (Žižek 2010: 273)

Damit wendet sich Žižek gegen den politischen Modus des heutigen Kapitalismus und dessen liberales Demokratieverständnis. Chantal Mouffe (2007: 64ff) griff den Begriff ebenfalls auf und kritisiert die vorherrschende kosmopolitische, liberal-demokratische und konsensorientierte Perspektive auf das Politische. Neben dem Legitimitätsverlust demokratischer Institutionen im Zuge ihrer neoliberalen Reorganisation macht Mouffe mit Blick auf Europa den „Konsens in der politischen Mitte“ für die wachsende Entpolitisierung verantwortlich (Mouffe 2011: 4). Ein Problem vieler antagonistischer und radikaldemokratischer Ansätze besteht darin, dass die Darlegungen einen bestimmten demokratischen und liberalen Kontext implizit voraussetzen sowie kritisch und ablehnend bleiben. Dies erschwert die Entwicklung von Alternativen. Rancières Diskussion um radikale Demokratie und Postdemokratie lässt sich meines Erachtens für die hier im Zentrum stehenden urbanen Konflikte im lateinamerikanischen Raum hingegen relativ gut nutzen, da sie nicht in erster Linie an eine Demokratiekritik im „postmodernen Zeitalter“ gebunden ist (Rancière 2002: 111). Rancières Ansatz der Postdemokratie Nach Rancière bezeichnet Postdemokratie das Paradox, „das unter dem Namen der Demokratie die konsensuelle Praxis der Auslöschung der Formen demokrati-

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schen Handelns geltend macht“ (Rancière 2002: 111). Was damit konkret gemeint ist, werde ich im Folgenden skizzieren. Sein radikales Demokratiekonzept spannt sich zwischen den zwei Polen einer herrschenden, ordnenden Praxis und einer aufbrechenden, konfliktiven Praxis auf. Rancière (1997) definiert das Politische als für sich stehende Sphäre und unterscheidet im Wesentlichen zwei Kategorien: die Politik (la politique) und die Polizei (la police).1 Zunächst existiert die Polizei (la police) als kontrollierende Praxis der sozialen Ordnung.2 Die Polizei bestimmt die Aufteilung des Sinnlichen (partage du sensible) (Rancière 2008: These 7). Gemeint ist damit eine allgemeine und umfassende Ordnung, die die Körper innerhalb eines Raums anordnet und diesen bestimmte Funktionen und Plätze zuweist. Rancière orientiert sich bei der Formulierung der Kategorie der Polizei an Foucault und bezieht sich damit auf sämtliche mehr oder weniger abstrakte Technologien des Regierens durch Wissen, Diskurse, Institutionen und Praktiken (Rancière 2002: 40; vgl. auch Marchart 2010: 180). Durch die Ordnung der police werden jedoch unweigerlich Ausschlüsse produziert, denn die polizeiliche Ordnung ist niemals in der Lage, alle Elemente der Gesellschaft zu berücksichtigen – eine These, die Mouffe (1993) auch in „Die Rückkehr des Politischen“ vertritt. Die Politik (la politique) bezieht sich „als Demonstrationsform der Gleichheit“ (Marchart 2010: 178) auf diejenigen Teile des Handelns, die diese sinnliche Gestaltung in Frage stellen; auf das Widerständige, das Konflikthafte, auf die Praxis des Aufbrechens. Dieser Bruch ereignet sich, wenn diejenigen, die von der bestehenden Ordnung ignoriert werden oder keinen Anteil daran haben, also die Ausgeschlossenen oder Anteilslosen (sans-part), wie sie Rancière bezeichnet, aktiv werden und den Raum neu ordnen (Rancière 2002: 41f.). Die politische Tätigkeit lässt also „sehen, was keinen Ort hatte gesehen zu werden, lässt eine Rede hören, die nur als Lärm gehört wurde“ (ebd.: 41). In diesem Sinne fügt sich Rancières Konzeption nicht in die Kategorien von Carl Schmitt ein (vgl. Heil/Hetzel 2006a). Er teilt zwar die Ansicht, dass die Entscheidung, eine Angelegenheit für unpolitisch zu befinden, eine politische ist. Allerdings impliziert Rancières Definition von Politik als Klassenkampf, dass den Anteilslosen im Unterschied zu Schmitts Freund-Feind-Achse ein zentraler Ort im Verständnis des Politischen zugewiesen wird. Eben weil die Anteilslosen keine Angehörigen

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Während die konflikthafte Ebene der politique das ist, was zum Beispiel Chantal Mouffe und Ernesto Laclau als „das Politische“ bezeichnen, ist die ordnende Ebene der police bei anderen Theoretiker*innen in etwa mit „der Politik“ gleichzusetzen. Rancières Begriff der Polizei ist nicht identisch mit dem Exekutivorgan, das wir gewöhnlich als Polizei verstehen. Als „niedere Polizei“ fasst Rancière (2002: 40) Letztere als einen Bestandteil der police.

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einer Gruppe oder einer Klasse sind, sondern eher vergleichbar mit Agambens homini sacri um ihre Anerkennung als Subjekte erst noch kämpfen müssen, spielen sie für Rancières Verständnis des Politischen eine wichtige Rolle (ebd.: 15). Zustande kommt die politique durch eine spezifische Subjektivierung von Problemlagen, d.h. wenn sich Anteilslose darüber bewusst werden und ein auf sie bezogenes Unrecht, das mit der existierenden partage du sensible verbunden ist, wahrnehmen, darauf reagieren und handeln. „Ein politisches Subjekt ist keine Interessen- oder Ideengruppe. Es ist der Ausführende eines besonderen Dispositivs der Subjektivierung des Streits, durch den es Politik gibt" (Rancière 2008: These 8). Aus dieser politischen Subjektivierung gehen neue Erfahrungsfelder hervor (Rancière 2002: 46f.). Die Unmöglichkeit einer sozialen Ordnung, die alle gesellschaftlichen Elemente einschließt, lässt sich also als Voraussetzung für den Moment der Demokratie ansehen. Dabei bezieht sich Demokratie nach Rancière (nur) auf die Momente von Konflikt und politischem Austausch, in denen die ordnende Logik der police durch die politique aufgebrochen wird und politische Offenheit entsteht: „Demokratie ist der Name einer singulären Unterbrechung dieser Ordnung der Verteilung der Körper in der Gemeinschaft [...]. Sie ist der Name dessen, was das gute Funktionieren dieser Ordnung durch ein singuläres Dispositiv der Subjektivierung unterbricht.“ (Rancière 2002: 108f.)

Das Zustandekommen von Demokratie basiert auf dem sogenannten Dispositiv, das sich aus drei Aspekten zusammensetzt: Erstens, das „Erscheinen und Sichtbarwerden des Volks“, wodurch sich die erfahrbare Wirklichkeit umgestaltet. Zweitens entspricht dieses Volk keiner bestimmbaren und repräsentierten Gruppe in der Gesellschaft. Vielmehr gehen demokratische Ereignisse von einem Subjekt aus Anteilslosen oder Nichtzugehörigen aus, die sich von den identifizierbaren Teilen des Staats differenzieren. Schließlich wird drittens ein offener Streit ausgetragen, der jedoch kein Interessenkonflikt zwischen bereits konstituierten Partner*innen ist, sondern „ein Gespräch, das die Situation des Gesprächs selbst ins Spiel bringt“ (Rancière 2002: 110): „Es gibt Demokratie, wenn es eine spezifische Erscheinungssphäre des Volks gibt. Es gibt Demokratie, wenn es spezifische Akteure der Politik gibt, die weder Agenten des staatlichen Dispositivs noch der Teile der Gesellschaft sind, wenn es Kollektive gibt, die die Identifikationen mit den Teilen des Staats oder der Gesellschaft verschieben. Es gibt schließlich Demokratie, wenn es einen Streit gibt, der auf der Bühne der Erscheinung des Volks von einem nicht-identitären Subjekt ausgetragen wird.“ (Rancière 2002: 110)

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Hier zeigt sich, dass Rancière die beiden Begriffe Demokratie und Politik fast synonym verwendet. Die Aushandlungsprozesse zwischen Politik und Polizei sind immer in Bewegung, und Demokratie ist ein temporäres Phänomen, das sich nicht dauerhaft aufrechterhalten lässt. Auf ein demokratisches Moment folgt also immer eine neue Stabilisierung. Durch verschiedene Regierungstechniken wird ein neuer Konsens erzeugt, und die Politik mündet wieder in eine polizeiliche Ordnung. Nach Rancière ist der Konflikt zwischen Polizei und Politik folglich als zwingendes Wechselspiel anzuerkennen, in dem demokratische Ereignisse temporär sind. Dabei kann immer wieder zur polizeilichen Ordnung zurückgekehrt werden, aber es besteht auch stets die Möglichkeit einer Repolitisierung festgefahrener Herrschaftsstrukturen. Mit dieser Interpretation liefert das Konzept der Postdemokratie einen sehr allgemeinen und gar ahistorischen Analyserahmen. Wie Mullis und Schipper (2013: 84) folgern, lässt sich der Ansatz der Postdemokratie als „Analyseraster verwenden, mittels dem die Fixiertheit bzw. Starrheit gesellschaftlicher Ordnungen in Bezug auf die Ermöglichung von Politik beschrieben werden kann“. Hier eröffnet sich ein interessanter Aspekt für die in diesem Buch behandelten Fallstudien. Denn diese Ahistorizität ermöglicht es, auch nichteuropäische Gesellschaften wie die Länder Lateinamerikas aus dieser Perspektive zu untersuchen. Gleichzeitig verortet Rancière seine postdemokratische Analyse – ebenso wie andere Theoretiker*innen – aber auch historisch und geographisch. Denn das soeben skizzierte dreifache Dispositiv der Demokratie ist nach Rancière (1997, 2002: 111ff) aus verschiedenen Gründen zunehmend gefährdet (vgl. auch Rosemann 2013: 48ff): Erstens hatdie proklamierte Alternativlosigkeit gegenüber der liberalen Demokratie die Hegemonie von Markt und Wettbewerb als einzig mögliche Modelle gefestigt. Denn das realsozialistische Projekt wird als gescheitert betrachtet und damit ist auch das Vertrauen in alternative Utopien verloren gegangen. Politisch zu definierende Fragen des Gemeinwohls werden zunehmend privatwirtschaftlichen Entscheidungen überlassen, was als legitim betrachtet wird, da der Markt als unumstrittener Konsens, als nicht wegzudenkende Tatsache gilt. Zudem wird die freie Verfügbarkeit über privates Eigentum als universelles Menschenrecht verstanden. Rancière betont außerdem, dass der Staat gerade durch die geschwächte Stellung, die ihm heute zugeschrieben wird, eine besondere Legitimation erlangt, was autoritäre Entscheidungen erleichtert. Somit wird dem politischen Moment eine gemeinsame Welt gegenüber gestellt, in der alles sichtbar ist. Dies schwächt das „Erscheinen“ von Politik und Demokratie. Zweitens vertritt Rancière die Meinung, dass die soziale Ungleichheit durch permanente Befragungen und statistische Erfassungen an Bedeutung verloren

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hat. Auf irgendeine Art und Weise sei heute jeder repräsentiert, im Wissen darum aber gleichzeitig unbedeutend geworden. Die Ungleichheit wird damit zum Problem Einzelner. Es gibt keine „Klasse“ mehr, keine gemeinsame Grundlage, auf der die Anteilslosen Gleichheit einfordern können. In der Konsequenz wird die Subjektivierung von Anteilslosen, die sich außerhalb der polizeilichen Ordnung befinden, erschwert. Und drittens werde durch das Ideal von Konsens, technokratischer Lösungsfindung und rechtlichen Regelungen der für die Demokratie nötige „Streithandel“ unmöglich gemacht. Mit der Technokratie wird nach Rancière eine absolute, wissenschaftliche Wahrheit angenommen und politische Differenz auf den Mangel an Wissen reduziert. Solange sie nur auf den richtigen oder nötigen Erkenntnisquellen basieren, können eigentlich alle politischen Entscheidungen ohne Kontroverse getroffen werden. Diese Quellen sind jedoch nicht allen in gleicher Weise zugänglich. Zudem entscheidet eine bestimmte Gruppe, welche Quellen überhaupt die richtigen sind. Folglich beschreibt das Postdemokratische eine Regierungspraxis, die sich der Generierung von Konsens und der Objektivierung von Wahrheiten bedient. Außerdem wird sie durch die stetige Produktion von Exklusion und Inklusion sowie repressive Praktiken stabilisiert (Rancière 1997: 116). Die polizeilichen Regierungstechnologien der Postdemokratie sind in Teilen vergleichbar mit Foucaults Verständnis der Gouvernementalität (Foucault 2004a, b).3 Vor allem die gouvernementalen Konsens- und Normalisierungstechnologien, die Foucault beschreibt und die darauf abzielen, eigenes und fremdes Handeln mit einem bestimmten Ziel zu lenken (Huxley 2008), sind hier interessant. Regieren bzw. die Regierung geht bei Foucault über politische Steuerungsformen und formelle Institutionen wie Gesetze hinaus. Viel allgemeiner sind unterschiedliche Formen des Führens von Menschen gemeint. Die Gouvernementalität arbeitet also mit einem Verständnis von Regierung, das die Ausübung von politischer Macht nicht auf den Staat reduziert. Stattdessen „verweist Regierung [...] auf zahlreiche und unterschiedliche Handlungsformen und Praxisfelder, die in vielfältiger Weise auf die Lenkung, Kontrolle und Leitung von Individuen und Kollektiven zielen und gleichermaßen Formen der Selbstführung wie Techniken der Fremdführung umfassen“ (Lemke/Krasmann/Bröckling 2000: 10). Die Technologien konsensueller

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Nach Foucault bezeichnet Government Praktiken und Aktivitäten, die von „governing the self“ bis „governing others“, „technologies of the self“ bis „technologies of domination“ und vom Mikro- zum Makropolitischen reichen. Der Neologismus „Gouvernementalität“ setzt sich zusammen aus „govern“ + „mentality“. Demzufolge kann man Machttechnologien nicht identifizieren, ohne eine Analyse der politischen Rationalität vorzunehmen, welche diese stützt (Lemke 2000).

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Praxis erschweren zunehmend, die herrschende Ordnung durch demokratisches Handeln aufzubrechen (Rancière 1997: 109). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die postdemokratische Konstellation nach Auffassung vieler Vertreter*innen radikaler Demokratie auf die Kreation einer konsensuellen Ordnung bezieht, die alle einschließt. Ein legitimes Außen gibt es in der postdemokratischen Gesellschaft demnach nicht mehr. Stattdessen bilden sich Herrschaftsstrukturen heraus, die durch die Schaffung von Konsens Widersprüche unmöglich machen, und mit der zwingend die Exklusion derer verbunden ist, die sich in die Ordnung nicht einfügen. „Das Wesentliche des Konsens ist die Annullierung des Dissens, als des Abstandes des Sinnlichen zu sich selbst, die Annullierung der überschüssigen Subjekte“ (Rancière 2008: These 10). In der postpolitischen bzw. postdemokratischen Ordnung bleiben folglich vor allem diejenigen ausgeschlossen, die gegen das Gesetz verstoßen (Agamben 2004). Damit werden die Möglichkeit des Konflikts und die Meinung eines anzuerkennenden Gegners unmöglich gemacht oder sie lassen sich besonders gut delegitimieren. Diejenigen, die sich innerhalb dieser Ordnung bewegen, werden gegen die Anteilslosen außerhalb des Gesetzes ausgespielt (Swyngedouw 2009: 610). Rancières Verständnis der Postdemokratie stellt für die Analyse urbaner Konflikte somit ein wichtiges Konzept dar. Denn es erlaubt, die Fixiertheit sozialer Ordnungen im Kontext von (limitierten) politischen und demokratischen Spielräumen systematisch zu analysieren. Das Konzept der Postpolitik bzw. dessen Interpretation durch einzelne Autor*innen ist jedoch nicht unumstritten. Auf zwei Aspekte sei an dieser Stelle verwiesen. Die am häufigsten verlautete Kritik bezieht sich auf die mehr oder weniger stark ausgeprägte Historisierung postdemokratischer Ansätze, die teilweise einer Romantisierung der Demokratie des fordistischen Zeitalters anmutet. So postuliert Crouch (2008) (im Unterschied zu Rancière) in seinem Buch „Postdemokratie“ die Entpolitisierung als direkte Folge der Ablöse der fordistischen Ordnung durch eine neoliberale Ordnung (für eine Gegenüberstellung beider Ansätze, vgl. Mullis und Schipper 2013). Es ist in diesem Zusammenhang also naheliegend zu hinterfragen, ob Städte jemals politisch im Sinne der postpolitischen Literatur waren (vgl. MacLeod 2011). Indes haben wir es in den jungen Demokratien Lateinamerikas mit gänzlich anderen Entwicklungsverläufen zu tun, so dass diese Phasenabfolge für diese Länder nicht zutrifft. Zwar existiert auch dort die Tendenz des Übergangs von einem stärker wohlfahrtsstaatlichen Modell zu mehr „Eigenverantwortung“, aber gerade die radikalen Unterbrechungen durch Diktaturen und ökonomische Einbrüche finden sich in der Weise nicht wieder, wie nachfolgend zu sehen ist.

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Des Weiteren wird oft angemerkt, dass die Diskussion um die postpolitische Stadt das Risiko birgt, die Wahrnehmung einer alternativlosen, sprich auswegslosen Situation zu zementieren (vgl. Davidson/Iveson 2014). Diesen Eindruck erwecken selbst manche Beobachtungen aus Lateinamerika (z.B. Zibechi 2011) (vgl. Kapitel 3.2). Teilweise werden durch eine solch kritische Einschätzung die Potenziale von sozialen Bewegungen in den Hintergrund gerückt. Gravierender ist jedoch, dass Studien um das Postpolitische aus dem globalen Norden oft vernachlässigen, sich auf Ansätze um contentious politics zu beziehen. Insbesondere wird nur bedingt die Übertragbarkeit von praktizierten Ansätzen aus dem globalen Süden geprüft. Erhebt kritische Forschung also den Anspruch, Entpolitisierung aufzubrechen statt zu bestärken (Davidson/Iveson 2014: 2), muss sie beinahe zwingend damit einhergehen, Möglichkeiten stadtpolitischer Zukünfte zu identifizieren (vgl. dazu Kapitel 4 und 5). Postdemokratie in Lateinamerika Obwohl die jungen demokratischen Ordnungen in Lateinamerika von Land zu Land sehr unterschiedlich ausgeprägt sind, wird davon ausgegangen, dass sich einige Gemeinsamkeiten festhalten lassen (vgl. Wehr 2006). Auch und gerade wenn das im europäischen Kontext entstandene Konzept der Postdemokratie relativ abstrakt formuliert wird, müssen die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen, auf die hin der Ansatz angewandt wird, für Lateinamerika adaptiert werden. Ingrid Wehr betont in diesem Zusammenhang: „Die Klagen europäischer Kritiker über ein postdemokratisches oder postrepräsentatives Zeitalter basieren auf einer Verlustanalyse: Beweint wird das Ende des goldenen Zeitalters der partizipativen (Nachkriegs-)Demokratie in der Gestalt der wohlfahrtsstaatlich abgefederten Solidargemeinschaft.“ (Wehr 2006: 60)

Im Unterschied zu Europa existieren in Lateinamerika bislang nur wenige konsolidierte repräsentative Demokratien. Die noch jungen Demokratien Lateinamerikas sind maßgeblich durch das Erbe autoritärer Herrschaftsformen geprägt. Hierzu zählen nicht nur die Militärdiktaturen, die die Länder erlitten haben, sondern auch die verschieden stark ausgeprägten populistischen Regime, die sich durch klientelistische und anti-liberale Gefüge auszeichnen. Eine weitere Besonderheit des lateinamerikanischen Kontextes bilden außerdem einschneidende makroökonomische Ereignisse wie die Schuldenkrise zu Beginn der 1990er Jahre, die nur wenige Länder (u.a. Chile) abfedern konnten. Auch die vergleichsweise geringe externe Unterstützung für die Transition zu demokratischen

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Staatsformen ist für diesen Raum prägend (O’Donnell 1994). Im Unterschied dazu profitierten viele europäische Länder nach dem 2. Weltkrieg nicht nur von einer starken Konjunkturlage, sondern auch von den umfassenden Aufbauhilfen des Marshallplans. Nach O’Donnell (1994) sind diese Hintergründe kennzeichnend für die von ihm als „delegativ“ umschriebenen Demokratien Lateinamerikas. Diese delegativen Demokratien zeichnen sich unter anderem durch eine starke Exekutive aus, die die Gewaltenteilung aushebeln kann.4 Charakteristisch ist außerdem die geringe Fähigkeit, Entscheidungen, die die Exekutive am Parlament vorbei zu treffen vermag, in langfristige Regulierungen umzusetzen, was O’Donnell (1994: 66f.) als decretismo bezeichnet. Des Weiteren besteht eine mangelnde horizontale Kontrolle zwischen Justiz, Exekutive und Legislative (horizontal accountability), womit ausgeprägte informelle und klientelistische Praktiken einhergehen. Es liegen also häufig defizitäre Rechtsstaaten vor, die nur in reduziertem Umfang auf sozialstaatliche Funktionen zurückgreifen können. Auf der lokalen Ebene kann man aufgrund der in unterschiedlichem Maße anzutreffenden korrupten Praktiken, räumlichen Kriminalisierung, der Präsenz von Drogenhandel, dem zurückgezogenen Staat sowie ineffizienten Gesetzen laut Souza (2006: 339) von einer „low-intensity state dissolution“ sprechen. Lateinamerikanische Sozialwissenschaftler*innen konstatieren dennoch mit Europa vergleichbare Herausforderungen, mit denen sich Politik und Demokratie konfrontiert sehen. Die Region ist in gleicher oder stärkerer Weise als Europa vom Steuerungsverlust des Nationalstaates betroffen. Auch in Lateinamerika ist eine grundsätzliche Entkopplung zwischen Bürger*innen und demokratischen Institutionen, wie Parteien, Verbänden und Gewerkschaften zu verzeichnen. Allerdings ist anzumerken, dass die vermittelnde Rolle von politischen Institutionen in Lateinamerika schon immer stark angezweifelt wurde, was durch die „Entwertung“ dieser Institutionen durch populistische Regime erklärbar ist (Wehr 2006: 61f.). Konkret sucht man zum Beispiel vergebens nach einer Politik klar formulierter Gegensätze und Alternativen. So zeichnete sich die lange Regierungszeit des Mitte-Links Bündnisses in Chile (Concertación, 1989 bis 2009) durch einen ausgeprägten Konsens zwischen den Mitte-Links Regierungen und konservativen Parteien aus. Und die Stadtentwicklungsstrategien in Buenos Aires unterscheiden sich zwischen dem aktuellen konservativen Bürgermeister und seinen Mitte-Links orientierten Vorgängern nur wenig.

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Uruguay und Chile werden als Ausnahmen hervorgehoben, die nach der Rückkehr zur Demokratie politische Institutionen aus der Zeit vor der Militärdiktatur reaktiviert haben, und damit besser mit ökonomischen und sozialen Herausforderungen der Transitionsphase umgehen konnten (O’Donnell 1994: 56).

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Wie zum Beispiel das Latinobarómetro (2014) zeigt, ist für viele lateinamerikanische Länder eine relativ hohe gesellschaftliche Unzufriedenheit mit den bestehenden Demokratien zu konstatieren (vgl. Kapitel 7). Eine mit Europa vergleichbare Debatte um postdemokratische Zustände gibt es jedoch nicht. Angesichts der vergangenen Militärdiktaturen, auf die die jungen Demokratien Lateinamerikas zurückblicken, überwiegt die wahrgenommene Bedrohung durch autokratische Kräfte. Demokratieforschung wird Wehr (2006) zufolge immer noch vor dem Hintergrund autoritärer und totalitärer Erfahrungen betrieben: „Negativer Bezugspunkt demokratietheoretischer Überlegungen in Lateinamerika ist somit nicht allein die Entmündigung des Bürgers zum passiven Konsumenten politischer Unterhaltungsangebote [...], sondern auch die latente Möglichkeit des politisch rechtlosen, aufs nackte Leben reduzierten Homo sacer [Agamben 2002].“ (Wehr 2006: 61)

Was kennzeichnet nun die spezifisch lateinamerikanische Debatte um das Postdemokratische? Die wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Debatte um Demokratie weist aus den soeben genannten Gründen viele verschiedene Facetten auf. Dabei lassen sich zunächst Elemente ausmachen, die sich mit der postdemokratischen Diskussion überschneiden. Überdies zeigt sich, dass zivilgesellschaftlichen Konzepten eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. So verweisen zum Beispiel in Chile viele empirische Analysen und theoretische Annäherungen seit den 1990er Jahren auf das herrschende Grundprinzip der Konsensfindung, das mithilfe von ausgeprägten technokratischen Technologien umgesetzt wird (Silva 1995, 2008; Zunino 2006; Taylor 1998). Zunino (2006: 1836) folgert daraus, dass die Technokratie in Chile einen Ersatz für die Demokratie darstellt. Lechner (2004) diskutiert eine wachsende Entpolitisierung ferner vor dem Hintergrund der in Chile zu beobachtenden „Neoliberalisierung des Soziallebens“. Des Weiteren betont Holston (2008) als Vertreter der insurgent citizenship die Grenzen der Erklärungskraft klassischer Demokratietheorien und deren enge Konzeptualisierung des Politischen. Dabei ergeben sich aus der Ablehnung eurozentristischer Einteilungen wie formell-informell mit der postdemokratischen Debatte vergleichbare Folgerungen bezüglich der Ausübung neuer Regierungstechniken. Empirische Analysen müssen über formelle Regelwerke hinausgehen, und Demokratie, Bürgerschaft und deren neue Verräumlichungen umfassend konzeptualisiert werden. Allein die Schaffung von formellen Institutionen (z.B. Ministerien, Wahlrecht) reicht nicht aus, denn diese sind nur ein Teil komplexer politischer Zusammenhänge. Fokussiert man die Betrachtung darauf, so birgt dies die Gefahr der Vereinfachung und damit die Wahrscheinlichkeit, entpoliti-

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sierende Mechanismen zu „übersehen“. Auf Letztere ist hingegen das Augenmerk zu richten: „They are the ones that investigation needs to problematize to undermine the imperial regimes of knowledge and policy that typically ground them in formal, ideal, universalizing, and ethnocentric definitions.“ (Holston 2009: 27) So veranschaulicht das Beispiel Brasilien das Paradox der realexistierenden Demokratie, wie es Rancière in Bezug auf postdemokratische, konsensuelle Praktiken identifiziert (2002: 111). Gerade der Übergang zur Demokratie ist mit einer vielfältigen Beschneidung demokratischer Rechte, etwa gewachsenen Ungleichbehandlungen von Bürger*innen einhergegangen, zum Beispiel Korruption und Polizeimorden, denen häufig nicht nachgegangen wird. Die erlangte Gleichheit hat demnach neue Vulnerabilitäten und Destabilisierungen produziert, und gleichzeitig macht die Polizei zunehmend Gebrauch von Diskursen um „Demokratie“ und „Recht“ (Holston 2009: 15ff). Zusätzlich dazu ergibt sich aus der Sorge um eine Reduzierung der Zivilgesellschaft auf eine Konsumgesellschaft, dass im Mittelpunkt demokratietheoretischer Debatten in Lateinamerika stärker die Konzeptualisierung von Zivilgesellschaft steht (Wehr 2006). Zudem besteht großes Forschungsinteresse an der Ausdehnung von Staatsbürgerschaftsrechten und wie durch eine deliberative oder eine agonistische Aktivierung von Teilhabemöglichkeiten postautoritäre Staaten reformiert werden können. Verbunden damit ist das Bewusstsein um die Gefahr einer populistischen Vereinnahmung der Bevölkerung (z.B. Avritzer 2002; Melo/Baiocchi 2006; Souza 2000; Zibechi 2011).5 So lässt sich resümieren, dass in Lateinamerika andere Rahmenbedingungen vorliegen als die, die in Europa die Diskussion um Postdemokratie entfacht haben. Dennoch stoßen wir in der lateinamerikanischen Debatte auf vergleichbare Elemente. Es wird ebenfalls hervorgehoben, dass Regierungstechniken häufig auf dem Prinzip konsensueller Diskurse um den Markt und die öffentliche Sicherheit basieren. Weiterhin sind technokratische Techniken des Regierungshandelns besonders ausgeprägt. Daneben wird die formell-informelle Dichotomie in Frage gestellt. Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung der lateinamerikanischen Demokratien erscheint es jedoch passender, für Lateinamerika von Prozessen der Entdemokratisierung bzw. Entpolitisierung zu sprechen, als von Postdemokratie und Postpolitik. Diese Dynamiken spiegeln sich auch zunehmend auf der Ebene der Stadtentwicklungspolitik wider. Dort wird vielfach befürchtet, dass es zu einer populistischen Vereinnahmung von neuentstandenen, 5

Ähnlich wie Rancière auf die erschwerte Selbstdifferenz von Anteilslosen verweist, betont Zibechi (2011: 80ff) die Subjektrolle der Ausgegrenzten und kritisiert, dass diese in der Wissenschaft häufig ignoriert wird, obwohl die Gruppen als der Motor des sozialen Wandels zu betrachten sind.

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innovativen Formen der zivilgesellschaftlichen Teilhabe (z.B. Souza 2006) und einer weiteren Entpolitisierung der jungen Demokratien kommt.

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Bei der nun folgenden Anwendung des Konzepts der Postdemokratie auf Städte in Lateinamerika, folge ich zunächst Swyngedouw (2009, 2011, 2013), der das Konzept insbesondere mit Bezug auf Rancière, Žižek, Mouffe, Dikeç und Badiou maßgeblich auf den städtischen Raum übertragen hat. Seines Erachtens findet die Postpolitik in der neoliberalen Stadt ihre Materialisierung.6 „Late capitalist urban environmental governance and debates over the arrangement of the city are not only perfect expressions of such a postpolitical order, but, in fact, the debate over the policing of sustainable urban environments, or, more generally, the environmental debate, is one of the key arenas through which this postpolitical consensus becomes constructed.” (Swyngedouw 2009: 610)

Mithilfe dieser Übertragung lassen sich lokalpolitische Logiken verstehen und kontextspezifische Sachverhalte angemessen interpretieren. Dies erfolgt ausgehend von der Annahme, dass Stadtpolitik zum einen maßgeblich von makroökonomischen Faktoren abhängt, zum anderen aber auch lokale Koalitionsdynamiken über stadtpolitische Entscheidungen bestimmen. Neoliberalisierung und Wachstumsorientierung in Städten Globale und lokale Bedingungen von Stadtpolitik Um einschätzen zu können, inwieweit man auf urbaner Ebene von einer Entpolitisierung sprechen kann, stellt sich zunächst die Frage, welche Faktoren stadtpolitische Entscheidungen überhaupt bedingen. Für den Untersuchungsraum und die ausgewählten Fallstudien ist auf das Zusammenspiel von makroökonomischen Prozessen und lokalen Abhängigkeiten zu verweisen, wobei mit Letzteren spezifische Regierungstechnologien verbunden sind. Die beiden Perspektiven eint die Annahme, dass privatwirtschaftliche Interessen ausschlaggebend für zu treffende stadtpolitische Strategien sind (vgl. Bernt 2009). Da die auf das Lokale bezogene community-power-Forschung gesellschaftliche Kontextfaktoren weit6

Michel und Roskamm (2013: 14) merken allerdings an, dass die Annahme der postpolitischen Stadt über die Effekte der Neoliberalisierung hinaus auch eine „Kritik am traditionellen (politökonomischen) Fundament der kritischen Stadtforschung“ enthält.

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gehend außer Acht lässt, eignet sich eine kombinierte Betrachtung von globalen und lokalen Dynamiken für die Erklärung von Stadtentwicklungspolitik in besonderer Weise. Es ist unbestritten, dass die globalen ökonomischen Restrukturierungsprozesse in den vergangenen drei Dekaden erheblichen Einfluss auf die lokale Politik und damit auch auf die Demokratie genommen haben (vgl. Keil/Brenner 2003; Swyngedouw 2004; Harvey 1989). Mit der Krise des Fordismus kam es zu einem roll back von redistributiven Politiken und einem roll out von unternehmensorientierter Governance (Peck/Tickell 2002). Damit verbunden ist insbesondere eine grundlegende Ausrichtung der Politik auf den globalen Wettbewerb. Im Zuge dessen haben weltweit Prozesse der Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung stattgefunden – eine Entwicklung, die seitdem unter dem Stichwort der Neoliberalisierung diskutiert wird (Brenner/Theodore 2002a).7 In diesem Zusammenhang verwies Jessop (1997) als einer der Ersten auf den Wandel der politisch-territorialen Form des Nationalstaates, der mit Prozessen der Entnationalisierung, Entstaatlichung und Internationalisierung politischer Organisationsformen einherging (rescaling) (vgl. auch Kapitel 5). Diese Reorganisationsprozesse staatlicher Governance gründeten darauf, die wirtschaftliche Restrukturierung zu unterstützen und mit Legitimationsverlusten umzugehen. So hat sich mit Ende des Fordismus der spatial fix verschoben; es kam aber auch zu einer Relativierung von scales (Jessop 2002). Bezeichnend sind seitdem Partnerschaftsformen zwischen gouvernementalen, para- und nichtstaatlichen Akteur*innen und Organisationen (Jessop 1997: 53). Staatsapparate seien dabei bestenfalls als primus inter pares einzuordnen, d.h. sie setzen auf Moderation und kümmern sich um Kooperationen und Verhandlungen. Diese allgemeinen Bemerkungen zu neuen Modi des Regierens sind für den städtischen Kontext von besonderer Bedeutung: Auf urbaner Ebene kommt neuen Regierungsmodi und Regime, also dauerhaften Kooperationen und Koalitionen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteur*innen eine besonders wichtige Rolle zu, was auch für lateinamerikanische Städte zutrifft. Städtisches Regieren hängt also – neben strukturellen Komponenten auf der Makroebene – besonders von spezifischen Akteur*innen und deren Interessen ab (vgl. Marcuse 1994). Auch die Regimetheorie, die insbesondere im US-amerikanischen Raum eine lange Tradition hat, erklärt lokale Herrschaftsformen durch einen Fokus auf private Akteur*innen bzw. die Kooperation zwischen öffentlichen und privaten Ak7

Auf eine ausführliche Darlegung des Konzepts der Neoliberalisierung wird an dieser Stelle verzichtet. Stattdessen möchte ich auf die umfassende Literatur dazu verweisen (vgl. u.a. Harvey 2005; Purcell 2008; Brenner/Theodore 2002b).

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teur*innen, nämlich durch die Koalitionsdynamiken von städtischen Eliten mit bezeichnenden Interessen (vgl. Stoker 1995; Stone 1989; Logan/Molotch 1996). Dabei wird angenommen, dass der Staat vom Kapital dominiert wird. In der Konsequenz müssen staatliche Akteur*innen Koalitionen mit Privaten eingehen, um handeln zu können, da privatwirtschaftliche Ressourcen für die Stadtentwicklung heute unabdingbar sind. Folglich stehen private Interessen und ein „bias towards pro-growth“ im Mittelpunkt politischer Strategien (Bernt 2009: 757). Diese Koalitionen bzw. Regime bauen auf gemeinsame Werte, auf Solidarität und Loyalität, auf Vertrauen und „tacit understanding“. Somit gehen Politiken nicht aus einem Aushandlungsprozess von Interessen hervor, sondern die Formulierung von Politikpräferenzen hängt bereits davon ab, welche Dynamiken und Logiken im Regime vorherrschen. Auf einen ausschlaggebenden Wert, um den herum stadtpolitischer Konsens organisiert wird, verwiesen bereits Logan und Molotch (1987) in ihrem Ansatz zur Stadt als growth machine. „The desire for growth creates consensus among a wide range of elite groups, no matter how split they might be on other issues“ (Logan/Molotch 1987: 50f.). Stadtweites Wachstum bzw. die ökonomische Entwicklung stellen einen Wert dar, der als öffentliches Gut erachtet wird. Demnach gewährt die breite soziale Basis, die vom wirtschaftlichen Wachstum der Stadt und damit den Unternehmenskoalitionen (indirekt) profitiert, eine starke ideologische Hegemonie und politische Legitimität des Wachstumsziels. In diesem Zusammenhang lassen sich einige zentrale Aspekte hervorheben, die die Legitimierung und Bedeutung solcher Koalitionen in der Vergangenheit gefestigt haben (MacLeod/Jones 2011: 2635f.). So trugen die leeren Kassen der Kommunen dazu bei, dass die Rolle von unternehmerischen Eliten in Städten an Bedeutung gewonnen hat. Mangels Alternativen sahen sich Kommunen zunehmend gezwungen, Ressourcen zu bündeln. Dies wurde verstärkt durch die Kürzung von zentralstaatlichen Leistungen (in lateinamerikanischen Städten oft im Kontext von Dezentralisierungsprozessen) und zwang die Kommunen, sich vermehrt unternehmensartig zu organisieren. Dies führte wiederum zu einer Konsolidierung des Einflusses von Elitennetzwerken in Städten. Externe und outgesourcte Verwaltungseinheiten, die keiner demokratischen Legitimierung bedürfen, dienen den Wachstumskoalitionen als unabhängige Plattformen. Gleichzeitig führten die Schwächung der öffentlichen Verwaltungen und ihre diskursive Rahmung als „ineffiziente Einheiten“ dazu, unternehmerische Strukturen im städtischen Raum zu stärken. Schließlich ist auch auf die wichtige Rolle der Medien hinzuweisen, die die Legitimierung von privatwirtschaftlichen bzw. öffentlich-privatwirtschaftlichen Maßnahmen maßgeblich unterstützen (Logan/Molotch 1987).

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Infolge dieser lokalen und globalen Dynamiken lassen sich heute folgende Merkmale von Stadtpolitik besonders hervorheben (Mayer 2013): In erster Linie geht es darum, Wachstum zu befördern. Dabei spielen Festivalisierungen, wie die Ausrichtung von Großveranstaltungen und das Streben nach einem kulturellen City-Branding eine wichtige Rolle. Unternehmerische Formen von Governance haben an Bedeutung gewonnen. So werden häufig temporäre Events oder dauerhafte Maßnahmen, zum Beispiel die Daseinsvorsorge betreffend, in Form von öffentlich-privaten Partnerschaften organisiert oder Aufgaben werden durch Privatisierung vollständig in die Hand der Privatwirschaft gelegt. Damit gehen eine wachsende Konsumorientierung sowie Prozesse sozialer und räumlicher Polarisierung und Gentrifizierung einher. Eine entpolitisierte urbane Ordnung? Aus diesen Entwicklungen lässt sich nach Auffasung von Swyngedouw eine postpolitische urbane Ordnung ableiten, die sich durch die „formation of a postdemocratic arrangement that has replaced debate, disagreement and dissensus with a series of technologies of governing that fuse around consensus, agreement, accountancy metrics and technocratic envionmental management“ (2009: 601) auszeichnet. Diese Ordnung ist Swyngedouw zufolge im Wesentlichen durch zwei Merkmale geprägt: Erstens herrschen Governance-Arrangements vor, die auf Konsens abzielen und sich technokratischen Mitteln der Umsetzung bedienen. Unstimmigkeiten und kleinere Verhandlungsspielräume, zum Beispiel in Planungsprojekten, können zwar bestehen, aber was grundsätzliche Fragen und Wahrnehmungen betrifft, sind sich die politischen Eliten einig. Dadurch wird die Bevölkerung zur Passivitität angehalten. Zweitens liegt eine Depolitisierung der Ökonomie vor, d.h. wie Reichtum in der Gesellschaft produziert und verteilt wird, ist nicht Gegenstand politischer Debatten (Swyngedouw 2011b). Damit ist auch verbunden, dass denen, die sich in diesen Konsens nicht einfügen, die Stimme entzogen wird. Im Zuge der proklammierten Alternativlosigkeit des kapitalistischen Entwicklungsmodells sind damit einhergehende soziale Ungleichheiten als unabänderlich zu akzeptieren. Basierend auf diesen verschiedenen Prozessen der Neoliberalisierung wird vielfach eine grundsätzliche Aushöhlung demokratischer Verhältnisse konstatiert (z.B. Mayer 2013; Hidalgo/Janoschka 2014; Leitner/Peck/Sheppard 2007), „as it dismantles welfare systems, increases inequality, and unleashes into urban political life the harsh relations of market competition“ (Purcell 2009a: 143). Konkret lassen sich in diesem Zusammenhang mehrere Faktoren identifizieren: Zunächst wird als Folge von Prozessen der Neoliberalisierung häufig eine wachsende soziale Ungleichheit konstatiert. Dies interpretiert Purcell (2009a) als

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generelle Beschneidung von Demokratie, insofern vom demokratischen Prinzip der politischen Gleichheit ausgegangen wird. Des Weiteren impliziert die mit der Neoliberalisierung verbundene dreifache Reorganisation von Governance, dass zunehmend nicht demokratisch legitimierte Einheiten politisch relevante Entscheidungen fällen (Swyngedouw 2004). Hierzu zählt der Bedeutungsgewinn internationaler Kooperationsformen und Regime (upscaling). Außerdem werden wichtige Funktionen des städtischen Handelns zunehmend auf lokale Einheiten unter Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteur*innen verschoben, um die Auslagerung und den Abbau sozialstaatlicher Leistungen zu kompensieren (downscaling). Auf diese Weise wird verstärkt auf Ressourcen, Wissen und Beziehungen außerhalb des Staates zurückgegriffen. Staatsfunktionen werden also zunehmend ausgelagert (outsourcing). Swyngedouw (2013: 146) betont in diesem Zusammenhang auch das Paradox, dass sich zivilgesellschaftliche Organisationen wie NGOs oder Graswurzelorganisationen in diese neuen Logiken einfügen. Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass Governance-Ansätze häufig von Macht als einem Nullsummenspiel ausgehen (z.B. Kooiman 2005), also angenommen wird, dass veränderte Akteur*innenkonstellationen zu einem Ausgleich der Machtverteilungen führen. D.h., wenn neue Akteur*innen ins Spiel kommen, wie zum Beispiel Bürger*innen oder NGOs, wird häufig unterstellt, dass dies automatisch eine Stärkung der Zivilgesellschaft und eine gleichzeitige Schwächung staatlicher Institutionen zur Folge hat. Die Realität zeigt jedoch, dass mehr Partizipation nicht immer zu einem empowerment der Bürger*innen führt. Der Wechsel vom keynesianischen Wohlfahrtsstaat zu einem neoliberalen Paradigma beinhaltet zwar eine Verschiebung von Verantwortlichkeiten auf nichtstaatliche Akteur*innen, aber nicht gezwungenermaßen einen Machtverlust des Staates bzw. der Mächtigen (Brand 2008: 245). Nach dem Foucaultschen relationalen Machtverständnis, demzufolge Macht den Beziehungen zwischen sozialen Akteur*innen inne wohnt, ist diese Verantwortungsverlagerung nicht als Machttransfer, sondern als Machttransformation zu verstehen. Dabei übt der Staat durch formelle und informelle Techniken weiterhin Kontrolle aus der Distanz aus. Häufig erfolgt also eher eine „Scheinbemächtigung“ der Zivilgesellschaft (Heeg 2008). Die unzureichende Berücksichtigung von Macht und Herrschaft erklärt den – oft unbewussten – Problemlösungsbias des GovernanceKonzeptes. D.h. Governance-Forschung und Steuerungstheorie hinterfragen nicht, ob politische Akteur*innen anstreben, gesellschaftliche Probleme zu bewältigen, sondern dieses Ziel wird als gegeben vorausgesetzt, und es wird davon ausgegangen, dass die Aktivitäten von Politik und Verwaltung auf deren Lösung ausgerichtet sind (Mayntz 2005: 18).

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Schließlich lassen sich aus der Feststellung, dass die gesellschaftliche Entwicklung entscheidend vom Kriterium des globalen Wettbewerbs bestimmt wird, zwei weitere Folgerungen ableiten (Purcell 2009a): Erstens kann die polity nicht als demokratisch erachtet werden, wenn sie den Bürger*innen keine wirklichen Chancen und Möglichkeiten anbieten kann. Zweitens wird auch das Sozialleben zunehmend vom Kapital kontrolliert. D.h. der privatwirtschaftliche Sektor gewinnt gegenüber dem Staat an Macht, was sich auch als Machttransfer von den Bürger*innen zu den Unternehmen interpretieren lässt (ebd.). Allerdings handelt es sich bei der Grenzziehung zwischen öffentlichen und privatwirtschaftlichen Handlungsfeldern immer um eine politische Entscheidung. Dies wird überall dort negiert, wo diese Grenzen als naturwüchsige oder zwingende vorgestellt werden, was das chilenische System in besonderer Weise zum Ausdruck bringt. Neben diesen entpolitisierenden Wirkungen durch staatliche Reorganisationsprozesse und durch die Herausbildung einer unternehmerischen Stadt kann auf weitere konsensuelle Prinzipien des stadtpolitischen Handelns verwiesen werden, denen in lateinamerikanischen Städten eine große Bedeutung zukommt: Dazu zählen neben der Anerkennung von Aushandlungsprozessen im Rahmen von Elitennetzwerken eine teilweise tief greifende Verankerung technokratischer Regierungstechnologien und populistischer Regierungsstile sowie weitere informelle politische Praktiken (Korruption, klientelistische Netzwerke etc.). Technokratisches Handeln basiert auf dem Prinzip, dass für die Lösung gesellschaftlicher Probleme weniger politikbezogenes Wissen erforderlich ist, sondern der Schlüssel vor allem im Einsatz wissenschaftlicher, insbesondere technischer Expertise besteht. Federführend sind hierbei eher die kommunalen Verwaltungsapparate, denn gewählte Vertretungsorgane. Auf diese Weise werden konsensuelle Entscheidungsprozesse möglich und die Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteur*innen erübrigt sich (vgl. Zunino 2006; Silva 2008). Auf ganz andere Weise wird auch mit dem Populismus eine Taktik der Konsensualität und des Negierens von Unterschieden verfolgt (de la Torre 2013). So identifiziert Swyngedouw, unter anderem basierend auf Laclau (2005) und Mouffe (2007), den Populismus als die „symptomatic expression of a post-political condition“ (2009: 611). Allerdings erscheint die Annahme eines kausalen Zusammenhangs zwischen Neoliberalisierung und Populismus fraglich. Die traditionelle Verankerung populistischer Regierungsstile in Lateinamerika lässt vermuten, dass weitere Faktoren zu berücksichtigen sind. Populismus ist dort nicht (nur) als ein jüngst ins Zentrum gerücktes politisches Konsens- und Verständigungsmodell zu verstehen. Den Populismus kennzeichnet ein vielschichtiges Verständnis. Er wird etwa als Ideologie, Bewegung oder politischer Stil interpretiert, deren jeweilige Ge-

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stalt im Laufe der vergangenen Dekaden profunde Transformationen erfahren hat (Rovira Kaltwasser 2009). So lässt sich der klassische Populismus, der sich als Bewegung verstand, um ausgeschlossene Gruppen einzubeziehen (z.B. unter Perón in Argentinien) deutlich abgrenzen von heutigen Ausprägungen des Neopopulismus, der seine „Aufgabe“ im Kampf gegen die politische Klasse sieht. Außerdem ist zwischen den facettenreichen rechts- und linkspopulistischen Tendenzen, die wir in Lateinamerika heute vorfinden, zu unterscheiden (de la Torre 2013). Eine Entpolitisierung lässt sich insbesondere in Bezug auf spezifisch populistische Umverteilungsforderungen und eine charakteristische diskursive Umgangsweise mit dem „Volk“ konstatieren. So zeichnet sich der Populismus durch die Möglichkeit aus, das Volk als einheitliche Gesellschaft zu mystifizieren und gleichzeitig die Marginalisierten als Teile davon herauszugreifen (Laclau 2005). Durch diese Gleichzeitigkeit fügt sich der Populismus in die postdemokratische Annahme von Konsens und Ausschluss ein: „Während er einerseits die Demokratie erneuert sowie die sozialen Ungleichheiten und alltäglichen Erniedrigungen von Armen und Nichtweißen politisiert, kann er andererseits Repräsentationsformen hervorbringen, die in der Anti-Utopie der Einheit zwischen dem Volk und dem Willen der Führerfigur die gesellschaftliche Vielfalt leugnen.“ (de la Torre 2013: 13)

In diesem Zusammenhang ist auch auf das Verständnis von Bürgerschaft in den Gesellschaften Lateinamerikas zu verweisen (vgl. auch Geiger 2010). Nach O’Donnell (1983) definiert sich der lateinamerikanische Staat als organisatorischer und konsensueller Mittelpunkt der Gesellschaft. Daraus schöpft dieser seine legitimierende Basis. Dabei stellt „lo popular“ (~ das Volksbezogene) – neben Nation und Staatsbürgerschaft – als zentrale Vermittlungsform des Staates eine kollektive, nicht ausdifferenzierte Referenzgestalt dar (Avritzer 2002: 72). Demzufolge wird Nationenbildung eher durch „lo popular“ denn durch Staatsbürgerschaft erreicht. Dies hat dazu geführt, dass die Möglichkeit sozialer Teilhabe zwar vom Staat aufgenommen wurde, aber oft nur eine schwache Institutionalisierung von Umverteilungsmechanismen erfolgt ist. Dahinter stehen zwei Gründe: Erstens die Fixierung der gesellschaftlichen Position unterer Bevölkerungsschichten durch ein (traditionell) differenziertes Verständnis von Bürgerschaft (Holston 2008). Sie sind zwar Staatsbürger*innen mit den damit theoretisch verbundenen Rechten, aber Sozialpolitiken haben sich nicht im Rahmen formeller Staatsbürgerrechte etabliert, sondern wurden eher als Akt der Güte seitens der Regierenden gerahmt. Laclau (2005) zufolge handelt es sich bei solchen popular-

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demokratischen Strategien um eine antagonistische Variante gegen die herrschende Oligarchie. Damit konnten andere Antagonismen durch einen von der Regierung gerahmten Pakt mit dem Volk erfolgreich aufgehoben werden. Diese für den Neopopulismus charakteristische Ansprache der unteren Bevölkerungsschichten als „Volk“ und nicht als Staatsbürger*innen hat dazu geführt, dass sich ein verschieden stark ausgeprägter Anti-Institutionalismus bzw. die Missbilligung von Institutionen, wie formellen Rechten, zugunsten der Beziehung zwischen „Volk“ und „Anführer“ festigte (Boris 2001: 104). Zweitens ist damit die Verankerung von Klientelapparaten als informelle politische Praktik verbunden. Für die Stadtpolitik betont Swyngedouw (2009) des Weiteren, wie populistische Elemente aufgrund ihrer Eigenschaft, Emotionen zu aktivieren, in unterschiedlicher Art und Weise postpolitische urbane Arrangements befördern. Dabei bezieht er sich insbesondere auf einen bestimmten Gebrauch von Diskurs und Sprache, der nach Laclau (2005) bezeichnend ist für populistische Strategien. Dadurch werden Schließungen sozialer Ordnungen hergestellt und Ausschlüsse produziert. Diese populistischen Strategien finden sich in diversen Facetten des Urbanen wider (Swyngedouw 2009: 611ff). Beispielsweise wird heute ein bestimmtes und undifferenziertes „Bild der Stadt und der Leute“ betont. „Diese Stadt und ihre Einwohnerschaft sieht sich gemeinsamen Gefahren wie der unkontrollierten Einwanderung oder der Globalisierung ausgesetzt“ (Swyngedouw 2013: 149 [kursiv im Orig.]). Damit werden endzeitliche Bedrohungen heraufbeschworen, die einen unmittelbaren Handlungsbedarf erfordern. Auf die von allen geteilte Notlage muss gemeinsam reagiert werden. Nach innen nimmt der Populismus also eine spannungsfreie Gesellschaft an und der Feind ist ein „bedrohlicher Eindringling“, der das System gefährdet. In Verbindung damit lässt sich eine Orientierung der Politik am „Volk“ beobachten, mit der nicht selten ein nationalistischer Regierungsdiskurs einhergeht, wie zum Beispiel die Fallstudie um die Parkbesetzung in Buenos Aires illustriert. Auf diese Weise wird auf neue Antagonismen abgelenkt. Gleichzeitig proklamiert die populistische Politik, sich auf neutrale wissenschaftliche Argumente zu stützen. Und obwohl sie auch Forderungen an die städtischen Eliten stellt, strebt eine solche Politik nicht an, die strukturellen sozialen Ungleichheiten zu verändern. Vielmehr werden die Eliten laut Swyngedouw appellativ zum Handeln aufgefordert. Ferner rücken an die Stelle konkreter politischer Handlungsfelder vage Begrifflichkeiten oder „leere Signifikanten“ (Laclau 2002) (s. Kapitel 4) wie die „nachhaltige Stadt“, „Partizipation“, oder „soziale Mischung“ in den Mittelpunkt (vgl. auch Gunder/Hillier 2009), Kategorien, die sich nicht oder nur schwer evaluieren lassen (vgl. auch Le Galès 2012). Schließlich kommt der Populismus in Form

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von partikularen Forderungen zum Ausdruck, die im Gegensatz zu universalen, etwa sozial- und umweltpolitischen, Zielsetzungen stehen. Swyngedouw verbindet den Populismus also im Wesentlichen mit einer pauschalisierenden und vereinheitlichenden diskursiven Strategie, die von bedrohlichen Feindbildern Gebrauch macht, und sehr vage Politiken formuliert. Auch wenn seine etwas pauschalisierende Darstellung dem Variantenreichtum des Populismus nicht gerecht wird und verschiedene postpolitische Techniken unter dem Stichwort des Populismus zusammengefasst werden, so resümiert er doch interessante Elemente, von denen sich einige in den empirischen Fallstudien widerspiegeln. Insgesamt verdeutlichen die dargestellten Aspekte interessanterweise, wie sich mit Blick auf depolitisierende Effekte an verschiedenen Stellen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden eigentlich getrennten und ideologisch entgegengesetzten Sphären des populistischen (umverteilenden) Regierens und der (eigenverantwortlichen, rationalen und unabhängigen) neoliberalen Technokratie feststellen lassen. Denn gerade im Zuge des Neopopulismus wird das Selbstverständnis von (neoliberalen) Expert*innen und (charismatischen) Führerfiguren als Vertreter*innen des allgemeinen Interesses deutlich (vgl. Weyland 2003). Ebenso findet sich in beiden Ansätzen eine autoritäre Grundhaltung wieder. Der Populismus berücksichtigt die Einbeziehung des Volkes zwar nominell, das Volk hat sich durch die erfolgreiche Wahl der Führerfigur allerdings uneingeschränkt zu unterwerfen (Peruzzotti (2008). In vergleichbarer Weise setzt auch die Technokratie voraus, dass technokratische Eliten aufgrund ihres privilegierten Zugangs zu Wissensregimen eine Führungsposition im politischen Gefüge einnehmen. Von autoritären zu konsensuellen Regierungstechnologien Zwei Aspekte städtischen Regierens sind für die vorliegende Studie von besonderer Bedeutung: Mechanismen, die in der Stadtplanung in Form von Partizipationsformaten der Konsensherstellung dienen, sowie darüber hinaus gehende politische Praktiken, die implizit oder explizit zur Schwächung von sozialen Bewegungen beitragen. Eine häufige Annahme ist, dass im Zuge der Neoliberalisierungsprozesse vielfach subtile Praktiken zur Unterdrückung von Protesten in den Vordergrund getreten sind. Aber auch offen repressive Mechanismen sind in Städten nach wie vor gebräuchlich. An dieser Stelle erfolgt eine überblicksartige Einordnung dieser oft als Regierungstechnologien diskutierten Strategien. Charakteristika für Santiago de Chile und Buenos Aires werden in Kapitel 7 präsentiert.

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Technokratische und kommunikative Planung Wie auch in anderen Teilen der Welt hat in Lateinamerika die kommunikative Planung, die im Planungsdiskurs als Idealprinzip wahrgenommen wird, an Bedeutung gewonnen. John Forester (1999) etablierte das Konzept der kommunikativen Planung basierend auf Habermas’ Ansatz des kommunikativen Handelns und der deliberativen Demokratie (mit Partizipationsformaten wie Runden Tischen, Foren etc.). Der in der Planungstheorie seitdem vorherrschende kommunikative Ansatz geht davon aus, dass eine ausgeglichene Kommunikationssituation zwischen allen Beteiligten zu einem für alle zufriedenstellenden Ergebnis führt. Diesem Ansatz wird das Demokratieideal der idealen Sprechsituation von Habermas zugrunde gelegt. Dabei wird Macht als akteur*innengebundene Ressource verstanden, der im Aushandlungsprozess entgegengewirkt werden kann. Die Verankerung der kommunikativen Planung variiert in Lateinamerika nicht nur von Land zu Land, sondern auch von Stadt zu Stadt. Brasilien ist mit dem vieldiskutierten Bürgerhaushalt, der 1989 in Porto Alegre erstmals stattfand, sicher der Vorreiter deliberativer Partizipationsprozesse. Das Beteiligungsformat, das aufgrund des damit verbundenen Empowerments von Bürger*innen und der Effizienz für die Kommunalpolitik als Erfolg gefeiert wird bzw. wurde, wurde seitdem nicht nur in Lateinamerika, sondern auch weltweit vielfach kopiert. Auch darüber hinaus wird auf die im Zuge der Reorganisation von Governance neu geschaffenen Mitsprachemöglichkeiten verwiesen (Fung 2006). Gerade in der vergangenen Dekade kamen einige Autor*innen mit Blick auf solche deliberativen Praktiken aber zu ernüchternden Erkenntnissen, da die Ausweitung von Partizipation – nicht nur in Brasilien – zu einer strukturellen Kooptierung partizipierender Bewegungen beitrug, der zivilgesellschaftliche Einfluss abnahm und eine Vereinnahmung durch wettbewerbsbasierte Stadtpolitiken zu verzeichnen ist (Mororó 2014; Souza 2006).8 Ergänzend zum „tokenism“, also einer „AlibiBeteiligung“ (Arnstein 1969), betont Souza die mögliche Manipulation von sozialen Bewegungen, zum Beispiel durch eine Anpassung der Bewegungsagenda an die Agenda des Staates (Souza 2006: 334). Derartige Prozesse bewirken, dass der kritische Sinn und Einsatz der Bürger*innen häufig abnimmt, denn diese Erfahrungen wirken zermürbend auf die Teilnehmenden und führen schließlich häufig zu Resignation. Dabei besteht die Hauptgefahr laut Souza in der Aufgeschlossenheit von Bewegungen gegenüber linken Parteien.9

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So erlaubte die flexible kommunale Gesetzgebung, an die der Bürgerhaushalt in Porto Alegre gekoppelt ist, ständig marktfreundliche Anpassungen (vgl. Mororó 2014). Die negativen Effekte dieses „left-wing technocratism“ führt Souza (2006: 336) darauf zurück, dass man sich weiterhin auf technische Instrumente verlasse, was mit zu

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Auch für Chile und Argentinien ist zu konstatieren, dass formal-partizipative Elemente zunehmend in Erscheinung treten. Allerdings tut man sich in Chile nach wie vor sehr schwer, von dem vorherrschenden autoritären, technokratischen Planungsmodell abzurücken (Hölzl/Nuissl 2015a; Zunino 2006). Dort wird eine Einbindung lokalpolitischer Entscheidungsträger*innen teilweise bereits als „innovative Partizipation“ betrachtet. In Buenos Aires rühmt die aktuelle Stadtregierung ihre Partizipationsangebote unter anderem mit Verweis auf ihre informativen Webseiten. Wie meine Fallstudien zeigen, machen die Planungsakteur*innen jedoch nicht ernsthaft von kommunikativen Planungsprozessen Gebrauch. Stattdessen bedienen sie sich einer partizipativen Rhetorik und bleiben weitgehend einem autoritär-technokratischen Planungsverständnis verhaftet. Dieses geht davon aus, dass zivilgesellschaftliche Stimmen über den Austausch mit Expert*innen ausreichend abgedeckt sind. Ausgehend von diesen Beobachtungen zur Bereitstellung von formellen Partizipationsangeboten im Rahmen einer eher kommunikativen oder eher technokratischen Planung lassen sich zwei Kritiklinien unterscheiden, die im Weiteren vertieft werden: Erstens sind Partizipationsinstrumente häufig sehr schwach und dienen eher der Akzeptanz von (neoliberalen) Planungspolitiken. Hier findet also, wenn man so will, ein „Missbrauch“ kommunikativer Ansätze statt. Zweitens kritisieren Vertreter*innen der radikalen Planung (Sandercock 1998; Hillier 2003; Purcell 2009a; Flyvbjerg 1998), die sich als Reaktion auf die kommunikative Planung (z.B. Healey 2003; Innes/Booher 2004) verstehen lässt, die zugrunde liegenden theoretischen Annahmen. Folgt man zunächst den oben formulierten wettbewerbsbezogenen Annahmen der Stadtpolitik, lässt sich schließen, dass die Planung anstrebt, die Interessen der Elitennetzwerke möglichst reibungslos umzusetzen. Häufig gibt es keine wirkliche Partizipation, da die zivilgesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten sehr gering sind. So betont unter anderem Irazábal (2005), dass sich viele Partizipationsinstrumente in Lateinamerika in Arnsteins (1969) „ladder of partizipation“ der Kategorie „non-participation“ zuordnen lassen. Technokratische Planung besteht also leicht modifiziert fort. Kritische Stimmen verweisen dabei auch auf die Attraktivität der kommunikativen Ansätze für eine neoliberale Stadtentwicklung (vgl. Purcell 2009a). Denn das neoliberale Regime ist – genauso wie jedes andere Regime, das um Vorherrschaft ringt – Konflikten ausgesetzt. Folglich befindet es sich immer in Bewegung und erfordert eine permanente Restablisierung. Um diese Stabilität zu gewährleisten, müssen bestimmte Maßnahmen ergriffen werden. Partizipative Elemente, die im Zuge von roll-out Momenten geschaffenen hohen Erwartungen an die institutionellen Rahmenbedingungen verbunden ist, und die kulturelle Einbettung von Planungsinterventionen unterschätzt.

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werden, dienen demnach weniger der Stärkung zivilgesellschaftlicher Mitsprache, sondern der Stablisierung neoliberaler Stadtpolitiken. So gelingt es durch die Einbindung der Zivilgesellschaft in politische Entscheidungsprozesse, potenzielle Widerstände zu überwinden und Entwicklungsmaßnahmen zu legitimieren (Purcell 2009a: 141). Souza (2006), der Partizipation als zentrale Form des Krisenmanagements im neoliberalen Staat umschreibt, betont deshalb sogar, „conservative planning is often even more conservative today than it was at times when classical regulatory planning was ideologically hegemonic“ (ebd.: 328). Ähnlich folgert Harris (2001), dass die kommunikativen Ansätze ein radikales Gefühl vermitteln ohne radikal zu sein. Hier fügt sich die Beobachtung ein, dass die kommunikative Planung vom Governance-Konzept inzwischen relativ stark vereinnahmt wurde.10 Konzeptionell lässt sich die kommunikative Planung problemlos in das Konzept der Governance einbetten, insbesondere wenn sich Governance als nicht-hierarchisches Steuerungsarrangement versteht. Dies hat auch damit zu tun, dass Planung generell zunehmend als Teil von Governance gedacht wird (Nuissl/Heinrichs 2011). Darüber hinaus lässt sich die kommunikative Planung auch mit Bezug auf die ihr zugrunde liegenden Prämissen kritisieren. Radikaldemokratische Vertreter*innen der Planungstheorie lehnen unter anderem die Annahme der idealen Sprechsituation als nicht realistisch für die Planungspraxis ab. So erläutert Hillier (2003) ausgehend von Lacans Master Signifier die Unmöglichkeit einer unverfälschten Sprechsituation. Damit Sprache und Kommunikation möglich werden, sind Master Signifier erforderlich, die einen konsistenten Bedeutungsrahmen für eine soziale Gruppe schaffen. Dafür wird ein Bezugsfeld zwischen Signifikant (der materiellen Ausdrucksform von Sprache, die auf einen Signifikat, d.h. eine Bedeutung verweist) und Signifikat hergestellt. Hillier (ebd.) betont die unabdingbare Diskrepanz zwischen Signifikant und Signifikat und folgert, dass nie objektive und somit konfliktfreie Bedeutungsrahmen vorliegen können. Unabwendbare Meinungsunterschiede würden folglich minimiert und somit das Politische reduziert (Sandercock 1998, Mouffe 2007). Stattdessen müsse akzeptiert werden, dass Machtdifferenzen in der Kommunikation allgegenwärtig sind. Dies gelte umso mehr, wenn von stark ausgeprägten sozialen und kulturellen

10 Der Governance-Begriff ist im Kontext des Wandels (lokal-)staatlichen Regierens sehr populär geworden. Nach Benz (2001: 56) ist Governance „eine Steuerungs- und Regelungsstruktur, die staatliche wie gesellschaftliche Akteure zusammenführt [...], formelle wie informelle Elemente beinhaltet und durch hierarchische, kompetitive und kooperative Akteursbeziehungen geprägt wird.“ Zu den häufig genannten Merkmalen zählt, dass im Rahmen politischer Interaktionsdynamiken nichtstaatliche Gruppen und informelle Elemente mitgedacht werden (vgl. Pierre/Peters 2000; Rhodes 2000).

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Unterschieden der beteiligten Gruppen auszugehen ist. Diese Unterschiede müssten nach Mouffe (2007) anerkannt und Konflikte mobilisiert werden. Des Weiteren wird das in der kommunikativen Planung hervorgehobene Ideal der Inklusivität in Frage gestellt und auf die Unmöglichkeit verwiesen, alle Betroffenen in den Entscheidungsprozess einzuschließen. Hillier (2003) verweist auf der Basis von Derridas „constitutive outside“ darauf, dass jedes „wir“ ein „sie“ impliziert (vgl. auch Mouffe 2014: 26). Aus radikaldemokratischer Perspektive verstärken kommunikative Planungsansätze langfristig den Status quo, da diese anstreben, konsensuelle Lösungen zu finden (anstatt sich konfliktiven Interessenunterschieden zu stellen) und Macht zu neutralisieren. Anstatt Exklusion als Terrain von sozialen Bewegungen zu erfassen, werde versucht, sie zu eliminieren. Folglich liege es nahe, dass die Politik eine solche Argumentation vereinnahmt, um politische Entscheidungen zu legitimieren. Als problematisch erweist sich nach Purcell (2009a) ferner, dass sich die kommunikative Planung als Politik des Gemeinwohls erachtet, die über dem Verfolgen von Eigeninteressen steht. Dieses Verständnis einer Gemeinwohlorientierung findet sich auch im Diskurs der Planungspraxis in Argentinien und Chile wieder. Aus Perspektive der radikaldemokratischen Planung unterbindet dieses commitment Momente des Politischen. Auf diese Weise werden soziale Unterschiede, Laclau und Mouffe (2012) folgend, „zugenäht“, um Einverständnisse zu erzielen. Nach dem Verständnis von Gemeinwohl werden Konflikte – wie Purcell (2009a) interpretiert – als „Wunden“ erachtet, die „geheilt“ werden müssten. Diese Art und Weise der Annäherung kommt im Endeffekt der Neoliberalisierung zugute, da den Verhandlungen zugrunde liegende Machtbeziehungen nicht thematisiert und in Frage gestellt werden können. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass marginalisierten zivilgesellschaftlichen Gruppen das wichtigste und vielversprechendste Mittel entzogen wird, über das sie verfügen (Purcell 2009a). Denn sie werden durch eine solche Argumentation der Legitimation beraubt, mit ihren Eigeninteressen argumentieren zu können (Hillier 2003). Stattdessen werde generell vorausgesetzt, dass Nachteile überwunden werden müssten, indem eine Strategie verfolgt wird, die im Interesse aller steht. „The common good requirement thus tends to add to the political burden marginalized groups bear “ (Purcell 2009a: 153). Aus radikaldemokratischer Perspektive läuft die kommunikative Planung also Gefahr, zur Schaffung eines entpolitisierten Konsenses beizutragen. Dagegen plädiert der radikaldemokratische Ansatz dafür, Unterschiede zwischen Subjekten anzuerkennen und eine streitbasierte Planung zu ermöglichen. Eine ähnliche und teilweise noch zugespitztere Einschätzung erfolgt seitens der insurgent plan-

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ning (Holston 2008), der autonomen Planung (Souza 2000) oder in autonomieorientierten territorialen Ansätzen um contentious politics (Zibechi 2011). In der Konsequenz bedeutet das, dass selbst innovative direktdemokratische Beteiligungsformen die für politische Entscheidungsträger*innen funktionale Subjekt-Objekt-Beziehung nicht aufheben; zum Beispiel wenn Bewegungsrepertoires wie Methoden der educación popular übernommen werden, Aktivist*innen als „echte Koordinatoren“ eingesetzt werden, Politik sich auf einen territorialen (statt familienbezogenen) Ansatz bezieht oder das Konzept der Differenz berücksichtigt wird. Dies führt, wie Zibechi (2011) am Beispiel des Bürgerhaushaltes in Uruguay diskutiert, zu einer ambivalenten Stellung von NGOs zwischen Staat und Aktivist*innen. Außerdem werde eine Armutselite gefördert, die neue Formen der Gouvernementalität in Armutsterritorien anhand von exklusiven sozialräumlichen Kenntnissen steuere. Dieses Regierungshandeln lässt sich mit Rancière als Ausweitung der sozialen Ordnung interpretieren. Diese theoretischen Überlegungen legen den Schluss nahe, dass es eine wahrhaft demokratische Planung womöglich gar nicht gibt. Ähnlich folgert Rosemann (2013: 55) basierend auf Rancières Ausführungen zur Postdemokratie, dass die Planung als Teil der polizeilichen Ordnung zu verstehen ist und somit per se nicht demokratisch sein kann. Auf diese Weise lassen sich letztlich alle Planungsansätze als nichtdemokratisch dekonstruieren und partizipatorische Errungenschaften niemals allein als demokratisches Einwirken interpretieren. Stattdessen muss Partizipation dann immer als Vereinnahmung durch die polizeiliche Ordnung und damit als Stärkung derselben verstanden werden. Dies erklärt die Tendenz – gerade einiger lateinamerikanischer Autor*innen – zu besonders radikalen Vorschlägen. So lehnt zum Beispiel Zibechi jegliche Partizipation ab und beruft sich auf autonome Ansätze.11 Trotzdem scheint es keine Alternative zu geben, als sich diesen (unvermeidbaren) Ambivalenzen im Bestreben um eine möglichst demokratische Stadtentwicklung bewusst anzunehmen. Repression und subtile „Kontrolle“ von sozialen Bewegungen Im Rahmen der in diesem Buch diskutierten städtischen Konflikte sind neben der Gestaltung formeller Partizipationsmechanismen auch repressive Politiken und das Strafrecht von Belang. Diese kommen gerade im Umgang mit den sozialen Bewegungen zum Einsatz, die in einkommensschwächeren Stadtteilen aktiv sind. Ferner ist, vergleichbar mit den gewandelten Planungsroutinen, auf die Bedeutung von subtilen Kontrollmechanismen hinzuweisen. Zibechi (2011) erkennt basierend auf Foucaults Gouvernementalität eine Verschiebung hin zu neueren 11 Diese Perspektive unterstellt allerdings implizit, dass soziale Bewegungen per se partizipationsbereit sind und demokratische Prinzipien verfolgen.

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Formen der Disziplinierung in Lateinamerika, die meist auf historisch verankerten Strukturen sozialer Kontrolle basieren.12 Demnach werden Staat und Bewegungen, oder allgemeiner, Staat und aktive Zivilgesellschaft durch eine stabile und permanente kollektive Praxis miteinander verknüpft. In gemeinschaftlich konstruierten Raum-Zeiten erfolgt eine gegenseitige Anerkennung der Rolle von Bewegungen und der neuen Rolle des Staates. Im Ergebnis entsteht ein „kapillarer Staat“ von hoher Legitimität, der effizienter in die Territorien der Armut eindringt, als die klientelistischen Caudillos [Anführer] des Neoliberalismus (Zibechi 2011: 130ff). Dies sei als Reaktion der Elite auf die Widerständigkeit von unten zu betrachten, um sich bestmöglich erhalten zu können. Die Bewegungen würden so von innen heraus „entwaffnet“. Im Unterschied zu früher sei der „Neoliberalismus heute subtiler und nicht mehr so offen böse“ (ebd.: 135) bzw. wie Keil (2009) basierend auf Beobachtungen aus dem globalen Norden formuliert, lässt sich ein Übergang von einem roll-out zu einem roll-with-it Neoliberalismus feststellen. Verschiedene Autor*innen verweisen in diesem Zusammenhang auf den zwiespältigen Nutzen von Sicherheitsprogrammen in Stadtquartieren sowie von neugeschaffenen Sozialprogrammen (Villalón 2007; Greaves 2005; Zibechi 2011). Demzufolge dienen lange etablierte Maßnahmen wie Sicherheitsprogramme in widerständigen Nachbarschaften unter dem Deckmantel der Sicherheit oft eher der Kontrolle ihrer Bewohner*innen. Wacquant (2008) spricht hierbei von einer global zu beobachtenden „sicherheitspolitischen Kehrtwende“ zur Kriminalisierung von Armut. „Diese Kehrtwende hat viel mit dem Anwachsen einer entwurzelten Arbeiterschaft und mit der Errichtung eines politischen Regimes zu tun, das diese Wende durchsetzen kann. Ich nenne dieses System liberal-paternalistisch: Oben, gegenüber den Unternehmen und den privilegierten Schichten, ist es liberal, unten aber paternalistisch und strafend gegenüber denjenigen, die von der Umstrukturierung der Arbeitswelt und vom Abbau sozialer Maßnahmen oder von deren Umwandlung in Überwachungsinstrumente betroffen sind.“ (Wacquant 2008: 214f.)

Sozialstaatliche Leistungen wie der Einsatz von Sozialplänen können eine zweifache Wirkung beinhalten (vgl. Zibechi 2011). So lassen sich Sozialprogramme als „Kontrollinstrumente“ erachten, die auf einem biopolitischen Dispositiv basieren. Dies ermöglicht dem Staat, Personen in einer Form von Klientelismus 12 Auch biopolitische Instrumente werden thematisiert. Diese umfassen Machttechniken zur Regulierung der Bevölkerung, insbesondere die Fortpflanzung, die Geburten- und Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau und die Wohnverhältnisse (Lemke 2007).

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nach ihrer Bedürftigkeit zu kategorisieren (de Oliveira 2006, zitiert in Zibechi 2011: 108). In der Folge rückt das Politische in den Hintergrund, und die Forderungen von sozialen Bewegungen nach einem Recht auf Arbeit oder auf ein menschenwürdiges Wohnen werden aufgeweicht. Der Raum für Konflikte wird somit minimiert, und „die Armen“ werden in das System – oder Rancières polizeiliche Ordnung – eingeordnet. Des Weiteren mildern Sozialpläne zwar die Armut, aber die strukturellen Ursachen von sozialer Ungleichheit und die Konzentration von Reichtum bleiben unverändert – eine für Argentinien und Chile zutreffende Beobachtung (vgl. Kapitel 7). Zibechi interpretiert diese Mechanismen in der Konsequenz als direkte Formen der Unterdrückung und folgert, dass zunehmend eine „Logik der Trennung zwischen Politik und sozialer Erfahrung, z.B. eine rationale und kalkulierte Beziehung zwischen Mitteln und Zielen“ (2011: 106f.) zum Einsatz kommt (vgl. auch Greaves 2012). Des Weiteren wird in der Forschung diskutiert, wie durch staatliche Akteur*innen auf unterschiedliche Weise „Keile“ zwischen radikale und gemäßigtere Bewegungen getrieben werden (vgl. z.B. Svampa/Pereyra 2009 für Argentinien; Mayer 2008a für Europa). Dabei kann es sich um gezielte Anreize handeln, wie die finanzielle Unterstützung bestimmter sozialer Organisationen durch den Staat oder die selektive Einbindung in Verhandlungen oder lokalen Institutionen. Außerdem kommt es zur Einbindung der Bewegungen in den Staat (Institutionalisierung). Während diese Strategien in der Forschung zum Teil als Kooptierung und damit Schwächung sozialer Bewegungen verstanden werden (Geiger 2010: 271ff; Greaves 2012; Auyero 2009), diskutieren andere sie neutraler; mit Verweis auf eine potenzielle Stärkung von sozialen Bewegungen (z.B. Massetti 2009). Viele Forscher*innen teilen allerdings die Einschätzung, dass sich dies als Strategie des divide and conquer bezeichnen lässt, mit der eine Schwächung von einzelnen sozialen Bewegungen angestrebt wird. Denn auf diese Weise werden Vertrauensbeziehungen unter Aktivist*innen angegriffen (Uitermark u. a. 2012). Dieser Mechanismus führt dazu, dass hilfreiche Kontakte und gegenseitige Interdependenzen nachhaltig gestört werden. Gleichzeitig bleiben die Eliten geschlossen in ihrem Auftreten und können ihre politische Macht bündeln (vgl. Katznelson 1981). Lokalstaatliche Akteur*innen oder Businesseliten bewahren auf diese Weise ihren Einfluss oder gewinnen sogar an Bedeutung. Schließlich sind in vielen lateinamerikanischen Ländern Strategien in den Mittelpunkt gerückt, die entweder auf Diskursen um „Armut“ oder auf „Entwicklungszusammenarbeit“ basieren. Anstatt Widerstände wie früher zu unterbinden, werden neue, in der Regel universellere Themen aktiviert (vgl. Zibechi 2011). Dadurch hebt sich die Protestmotivation von selbst auf, ohne das eigentliche Problem gelöst zu haben. Mobilisierungen drehen sich weniger darum, links-

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populistische Regierungen, die sich gegen die „Oligarchien“ wendeten, zu unterstützen, sondern darum, sich für eine gerechte Sache wie z.B. Menschenrechte einzusetzen. Personen, die durch politische Militanz geprägt und sozialisiert sind, würden sozusagen auf neue Themen „umgeleitet“. Mit Foucault durchdringt die Kontrolle des Staates auf diese Weise alle möglichen Lebensbereiche. Daraus leitet Zibechi (2011: 121ff) generalisierbare Logiken ab, die letztlich immer zu einer Schwächung von Bewegungen führen: Kapitelausstattung und die Technokratisierung der Führung bewirken Autonomieverlust und die Spaltung von Organisationen (z.B. in den Andenländern); Diskurse um Nachhaltigkeit und Good Governance verhelfen zur Übernahme und Umfunktionierung von Initiativen (z.B. im Cono Sur). Erweiterbar um Kategorien wie Konkurrenzfähigkeit, Sicherheit etc. veranschaulicht dies die diskursive Konsenskreierung städtischer Politiken als normalisierte Wahrheiten (Swyngedouw 2009; Davidson/Iveson 2014).13 Neue Formen der Gouvernementalität haben offenbar überkommene Phänomene abgelöst (Zibechi 2011: 110). Dynamische Formen staatlicher Kontrolle von sozialen Bewegungen scheinen an Bedeutung gewonnen zu haben, wohingegen die herkömmlichen disziplinarischen Techniken zwar weiter fortbestehen, jedoch in den Hintergrund gerückt sind. Demnach zielt der Staat darauf ab, jegliche Etablierung autonomer Prozesse politischer, kultureller und ökonomischer Art zu unterbinden (ebd.: 60). Insgesamt zeigt die in diesem zweiten Abschnitt vorgenommene Anwendung des Konzepts der Postdemokratie auf die Stadt, in welcher Weise gerade Neoliberalisierung und urbane Elitennetzwerke zu einer Entpolitisierung des Städtischen beitragen. Zudem ermöglicht Rancières Perspektive auf die der Postdemokratie innewohnenden polizeilichen Ordnungsherstellung eine kritische Reflexion des Wandels von autoritären zu konsensuellen stadtpolitischen Regierungstechniken in Lateinamerika, was jedoch nicht automatisch als Entpolitisierung zu werten ist. Vielmehr wird der Blick für die potenziell entpolitisierende Wirkung und die teils subtile Schaffung von Ausschluss durch Technologien des Regierens geschärft.

13 Zudem tragen Paramilitärs und der Drogenhandelm durch die Vertreibung von Aktivist*innen zur Desorganisation und Zersplitterung der Unterklassen bei. Gewalteinwirkung und Einschüchterung sind also eine weitere Herausforderung (Zibechi 2011: 103).

4 Wege zur Emanzipation

Das vorhergehende Kapitel hat aufgezeigt, inwiefern Tendenzen einer Entpolitisierung für lateinamerikanische Städte relevant sind. Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, inwieweit die exemplarischen Konflikte aus Buenos Aires und Santiago als Ausdruck einer umfassenderen Politisierung gewertet werden können, und unter welchen Umständen es sozialen Bewegungen (über den unmittelbaren Moment des Konflikts hinaus) gelingen kann, politische Gestaltungsmacht zu erlangen. Um dies zu beantworten, wird im Folgenden reflektiert, auf welchen normativen Idealen das Konzept der Demokratie beruht, und wie deren Belebung in der Stadt erreicht werden kann. Während das Kapitel 3 eher die Gefahren postdemokratischer Entwicklungen für die Demokratie herausgearbeitet hat, soll es hier, sozusagen als Gegenpol, um die Chancen sowie den emanzipatorischen und prozesshaften Charakter von Demokratie gehen. Dafür werden zunächst Elemente eines emanzipatorischen Rahmens für politisches Handeln herausgearbeitet, wobei ich mich vor allem auf den Ansatz der radikalen Demokratie von Laclau und Mouffe (2012) beziehe. Auf diese Weise soll eine Analyseschablone entwickelt werden, um Stadtentwicklungskonflikte auf ihren emanzipatorischen Gehalt prüfen zu können. In diesem Zusammenhang wird kurz die Debatte aufgegriffen, inwieweit politisches Handeln mit oder ohne existierende staatliche Regelwerke gedacht wird. Im Anschluss daran werden zwei emanzipationstheoretische Ansätze vorgestellt, die in der Debatte um contentious politics und in der Praxis sozialer Bewegungen besonders präsent sind: Die Realisierung von Demokratie als hegemoniales Projekt, wie sie Laclau und Mouffe (ebd.) in ihrer Hegemonie- und Diskurstheorie vorschlagen und der Weg zur Demokratie in Form von Autonomie, wobei ich mich unter anderem auf Castoriadis beziehe.

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E IN „P RÜFRASTER “

FÜR RADIKALE

D EMOKRATIE

Die verschiedenen Konzepte der radikalen Demokratie eint die Vorstellung, dass das Politische auf der Anerkennung von Differenz basiert. Eine tatsächlich und vollständig demokratisch organisierte Gesellschaft wäre also fundamental durch eine differenzoffene Beteiligung von Bürger*innen aller sozialen Klassen sowie Bewegungen und Initiativen unterschiedlichster Spielart gekennzeichnet. Diese (idealtypische) Ansicht steht in Kontrast zur politischen Realität der meisten Gesellschaften des 21. Jahrhunderts, die durch entpolitisierte Strukturen geprägt sind. Des Weiteren teilen viele Theoretiker*innen die Auffassung, „Demokratie als Prozess“ zu konzeptualisieren (z.B. Rancière 2011; Laclau/Mouffe 2012). Dies ist verbunden mit der Annahme, dass die voll realisierte Demokratie ein Ideal ist, das nie erreicht werden kann; im Grunde also eine Utopie darstellt. Purcell (2013: 73f.) schlägt ausgehend von verschiedenen Schriften – unter anderem von Laclau/Mouffe, Lefebvre, Rancière, Hardt/Negri – zudem vor, Demokratie als permanenten Kampf zu verstehen, dessen Ziel es ist, die durch (z.B. staatliche) Institutionen entzogene Macht wieder zurückzuerobern. Dieses Ringen nach demokratischer Beteiligung – zu verstehen als Widerstand gegen Oligarchie und Heteronomie und Kampf für die Etablierung von Autonomie – wird für moderne Gesellschaften als essenziell erachtet. Es ist auch unter Verwendung des radikaldemokratischen Ansatzes nicht einfach, einzelne Handlungen als politisch oder apolitisch einzuschätzen. Aussagen darüber fallen sowohl in theoretischen Arbeiten, als auch in der empirisch orientierten Forschung recht unterschiedlich aus. Dies gilt gerade für die mikropolitischen Handlungen, die in dieser Arbeit thematisiert werden, und, so meine Annahme, teilweise voreilig als nichtpolitisch abgetan werden (z.B. Swyngedouw 2011a; Žižek 2002).1 Eine wichtige Herausforderung dieses Buchs besteht darin, den Fokus nicht nur auf postdemokratische Großphänomene und Technologien 1

Dies bedeutet freilich nicht, dass sich bei diesen Denker*innen nicht ebenso emanzipatorische Hinweise identifizieren ließen. So verweist Rancière (2011) auf die historische Entwicklung der Demokratie als Geschichte emanzipatorischer Momente. Diese seien „eine neue Gestaltung dessen, was das ‚Gemeinsame‘ bedeutet, eine Neugestaltung des Universums der Möglichkeiten“ (ebd.: 215). Er erachtet die Emanzipation als einen Prozess, der auf den Verlauf der Dinge und der Zeit Einfluss genommen hat. Um Demokratie zu erlangen, muss also eine Reihe von demokratischen Momenten in der Weise erkämpft werden, dass aus deren Aneinanderreihung ein neues Gefüge entstehen kann. Swyngedouws (2011) Empfehlungen für eine Repolitisierung konzentrieren sich auf das antagonistische Element: 1) institutionalisierte Partizipationsformate ablehnen, 2) Konflikte eingehen und die Stadt als Raum von Unvernehmen annehmen, und 3) Alternativen zur hegemonialen postpolitischen Ordnung entwickeln.

4 W EGE

ZUR

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zu richten (vgl. Kapitel 3) und diese in der empirischen Realität zu identifizieren, sondern auch die politischen Aktivierungspotenziale von sozialen Bewegungen und Mikrophänomenen aufzudecken. Einen ersten Hinweis zur Bewertung des politischen Charakters von Mikrophänomenen liefert Marchart (2010), der explizit danach fragt, welche Handlungen von sozialen Bewegungen und Individuen überhaupt als politisch gelten können, und in diesem Kontext einige Bedingungen „minimalen Handelns“ herausarbeitet (2010: 289ff). Mit Blick auf den besonderen Charakter der lokalen, „kleinen“ Konfliktfälle dieser Studie liefert dies eine erste hilfreiche Orientierung. Allgemein erlangt eine Handlung demnach durch ihre Öffentlichkeit und Widerständigkeit politische Relevanz: „Politische Exemplarität gewinnt eine Handlung, sobald sie allgemein, d.h. öffentlich als ein Verweis auf weitläufigere politische Frontverläufe interpretiert wird“ (Marchart 2010: 297). Dieser Verweis auf das allgemein Politische führt uns zurück zu Laclau und Mouffe (2012). Beide verhandeln radikale Demokratie als normatives Verständnis von Demokratie im Kontext ihrer 1985 erstmals erschienenen Hegemonieund Diskurstheorie.2 Dieses Verständnis zeichnet sich durch eine anti-essentialistische Perspektive aus. Dabei wird davon ausgegangen, dass politische Positionen nicht objektiv gegeben sind, sondern als Momentaufnahmen diskursiver Identifizierungen und Grenzziehungen verstanden werden. Die radikale Demokratie fußt also auf der Kernidee einer unbegrenzten Pluralisierung des politischen Lebens, der Anerkennung von Differenzen und damit Konflikten sowie Gleichheit in der politischen Aushandlung (Mouffe 2007: 22ff). Kollektive Identifikation und stets temporäre Versuche der Fixierung von Identität stellen also die Voraussetzungen für Demokratie dar (Laclau und Mouffe 2012: 168). Im Zuge der Entwicklung ihrer Demokratiekonzeption betonen Laclau und Mouffe, dass erst die „bürgerlich-demokratische Revolution“ die Bedingungen für die Entwicklung eines wahrhaftigen demokratischen Projektes geschaffen hat. Dabei beziehen sie sich insbesondere auf die Französische Revolution. Sie vertreten die Meinung, dass sich durch den Einbruch hierarchischer Gesellschaftsformationen die demokratischen Prinzipien der Freiheit und Gleichheit als „fundamentaler Kontenpunkt in der Konstruktion des Politischen“ herausbilden konnten (Laclau/Mouffe 2012: 195). Diese wichtigen Grundprinzipien moderner Gesellschaften bilden den Autor*innen zufolge die theoretische und praktische Voraussetzung radikaler Demokratie. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sich zwangsläufig eine solche „Reinform“ echter Demokratie verwirklichen lässt. 2

Für eine vertiefende Betrachtung ihres Demokratieverständnisses vgl. die Arbeiten von Marchart (2010), Purcell (2009b, 2013) oder Mullis (2014), der den Ansatz auf das Städtische anwendet.

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Mouffe (2011) betont im Kontext ihrer Ausführungen zum Postpolitischen, wie das demokratische Prinzip der Gleichheit gegenüber dem der Freiheit an Bedeutung verloren hat: „Die Geschichte demokratischer Politik kann dargestellt werden als das Ringen um die Vorherrschaft eines dieser Prinzipien über das andere. [...] Unter der derzeitigen Hegemonie des Neoliberalismus allerdings ist die liberale Komponente so dominant geworden, dass die demokratische fast verschwunden ist.“ (Mouffe 2011: 4)

Laclau und Mouffe bleiben in ihrem Konzept der radikalen Demokratie sehr abstrakt, was die Anwendung für empirisch orientierte Forschung oder auch für die politische Praxis erschwert (vgl. auch Purcell 2013: 97). Auf der Basis des von ihnen hervorgehobenen normativen Prinzips der Gleichheit und ihrer theoretischen Grundannahme, Identität nicht als essentialistisch zu fassen, resümieren jedoch Glasze und Mattissek (2009: 169), wie die normative Demokratiekonzeption der Autor*innen in der Praxis ein „doppeltes emanzipatorisches Potenzial“ entfalten kann: „Zum einen könne das Konzept „Gleichheit“ auf immer weitere Bereiche des Sozialen ausgedehnt werden (d.h. immer weitere soziale Ungleichheiten als kontingent, damit politisch und veränderbar, konzeptionalisiert werden). Und zum anderen können partikulare Setzungen, d.h. Versuche der Fixierung, immer wieder aufs Neue hinterfragt und aufgebrochen werden.“ (Glasze/Mattissek 2009: 169)

Des Weiteren wird deutlich, dass sowohl Laclau als auch Mouffe die Dimension des Antagonismus in den Mittelpunkt ihres Verständnisses des Politischen stellen. Heil und Heitzel (2006: 8) resümieren, dass „das Politische für Laclau in sich antagonistisch verfasst ist; der politische Antagonismus bringt für Laclau die am Konflikt beteiligten Instanzen allererst hervor“. Dem Ansatz der radikalen Demokratie folgend sollen Konfliktbeziehungen nicht eliminiert, sondern transformiert werden. Anstatt Konflikte und damit das Politische zu neutralisieren, wie dies der Liberalismus tue (den beide Vertreter*innen des radikaldemokratischen Diskurses ablehnen), müssen Konflikte im radikaldemokratischen Ansatz toleriert und in politischen Beziehungen immer berücksichtigt werden. Das Politische wird also nicht als intersubjektive Suche nach Verständnis und Übereinstimmung verstanden, sondern es bezieht sich notwendigerweise auf die Auseinandersetzungen um Macht und Herrschaft. Die damit umrissenen Widerstandsformen innerhalb von modernen Gesellschaften – die bereits begrifflich als antagonistische Beziehungen gefasst werden – sind nach Mouffe (2008: 85ff) als

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allgegenwärtig zu betrachten. In dieser Logik sind Phasen der relativen Konfliktfreiheit innerhalb von Gesellschaften immer als temporäre Hegemonien bestimmter Interessen über andere Interessen zu interpretieren. Kleinere und größere soziale Konflikte sind also permanent präsent, auch wenn sie nicht ständig im gesellschaftspolitischen Diskurs sichtbar sind. Um Machtverhältnisse zu transformieren, bedarf es dem radikaldemokratischen Ansatz zufolge konkreter (Gegen-)Politiken, die nicht auf Kooperation und Verständigung setzen. Diese Politiken bezeichnet Mouffe als gegenhegemoniale Praktiken bzw. Antagonismen (2007: 42). Nur mit diesen gezielten (Gegen-)Politiken lasse sich der Neoliberalismus herausfordern, so auch Purcell (2009a: 151). Eine Schlussfolgerung dieser Thesen besteht darin, dass soziale Bewegungen in ihrem Versuch, auf politische Prozesse Einfluss zu nehmen, eine kreative und zugleich fundamental politische Strategie verfolgen müssen. Mouffes jüngeren Arbeiten zufolge besteht die Aufgabe radikaler demokratischer Praxis ferner darin, bestehende gesellschaftliche Antagonismen zu „domestizieren“ und einen „Agonismus“ zu schaffen. Anstatt den Anderen in der WirSie-Beziehung als Feind zu betrachten, ist der Andere im Agonismus jemand mit fundamental abweichenden und als solche anzuerkennenden Interessen, der aber nicht vom politischen System eliminiert werden darf. Es handelt sich also um einen Gegner, aber nicht um einen Feind, wie dies bei Schmitt der Fall ist. Diese agonistische Domestizierung soll durch die Anerkennung der Nichtfixiertheit politischer Subjekte ermöglicht werden. Dafür sei, wie Mouffe (2014) eingesteht, dann doch ein gewisser Konsens erforderlich. Im Unterschied zu liberalen Ansätzen ist die antagonistische Dimension in ihrem agonistischen Verständnis von Politik indes immer präsent (Mouffe 2008, 2014: 27ff). Es bleibt bei Mouffe jedoch offen, was in der empirischen Realität als agonistisches Phänomen gedeutet werden kann. Laclau (2002) betont in seinen Ausführungen zur radikalen Demokratie insbesondere die Verflechtung universaler und gleichzeitig partikularer Forderungen. Im gegenhegemonialen Kampf müssten sich aus dieser theoretischen Perspektive Universalismus und Partikularismus unauflöslich verschränken. Den alleinigen Bezug auf universale Werte wie zum Beispiel „Menschenrechte“ lehnt Laclau ab, da sich dahinter oft nur partikulare Interessen verbergen. Auf der anderen Seite sei es eine „selbstzerstörerische Unternehmung“ (Laclau 2002: 53), sich ausschließlich auf partikulare Eigenschaften der eigenen kulturellen Identität (wie Rasse, Geschlecht) zu berufen. Auf diese Weise würden die Fordernden nur den kulturellen Rahmen fixieren, der sie diskriminiert (vgl. auch Heil/Hetzel 2006a: 7). Stattdessen zeichnet sich emanzipative Politik nach Laclau durch die Anerkennung einer unauflöslichen Ambivalenz, bzw. durch einen Brückenschlag

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zwischen universellen und partikularen Werten aus. Über das Universelle gelte es, eine Verbindung zwischen den sozialen Gruppen des Protests herzustellen. Gleichzeitig sollten diese aber ihren partikularen Charakter beibehalten. „Das Universelle ist inkommensurabel mit dem Partikularen und kann doch nicht ohne dieses existieren. Wie ist dieses Verhältnis möglich? Meine Antwort ist, dass dieses Paradoxon nicht gelöst werden kann, aber seine Nicht-Lösung die eigentliche Voraussetzung von Demokratie ist.“ (Laclau 2002: 63f.)

Im Sinne dieses Paradoxons führt Marchart aus, dass das Hegemoniale des Ansatzes nicht so verstanden dürfe, dass es hier um „große Politik“ gehe. Vielmehr müssten soziale Gruppen eine Tendenz zum „Majoritär-Werden“ aufweisen, damit man von Politik sprechen könne. Dies hat aber nichts mit ihrem numerischen Ausmaß zu tun. Stattdessen geht es Laclau um ein „universeller“ Werden von partikularen Forderungen. „Trifft dieses Kriterium der Universalisierung zu, dann ist keine Praxis zu armselig, keine Aktion zu ineffektiv, kein Häufchen von Demonstranten zu klein für Politik, da nichts erreicht werden kann ohne jene minimalen, alltäglichen Aktionen, aus denen sich hegemoniale Kämpfe molekular zusammensetzen.“ (Marchart 2010: 306)

Als relevante Elemente eines emanzipatorischen Gerüsts lassen sich also basierend auf Laclau und Mouffe im Wesentlichen vier Merkmale nennen: Erstens die Annahme von nicht-essentialisierbaren Identitäten, zweitens die Anerkennung politischer und sozialer Gleichheit, drittens das Zulassen und aktive Gestalten von Konflikten, sowie viertens die Verschränkung universaler und partikularer Forderungen, womit ein Anspruch des „Majoritär-Werdens“ verbunden ist. Die Auseinandersetzungen werden idealerweise innerhalb eines kontrollierten politischen Rahmens ausgetragen, damit aus der agonistischen Wir-Sie-Beziehung keine Freund-Feind-Beziehung wird. Daneben kann man festhalten, dass soziale Bewegungen über Strategie, Organisation, Kollektivität und Aktivismus verfügen müssen (vgl. Marchart 2010). Es ist allerdings anzumerken, dass Laclau und Mouffe auf diese Aspekte der praktischen Umsetzung wenig Bezug nehmen. Widerstand – innerhalb oder ohne staatliche Regelwerke In der sozialwissenschaftlichen Literatur und in der Bewegungspraxis besteht eine relativ klare Differenz zwischen Vertreter*innen, die den Kampf um Demokratie im Rahmen existierender staatlicher Regelwerke oder außerhalb der staat-

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lichen Institutionenordnung verorten. Gerade aus Lateinamerika ist die Kritik zu hören, dass viele Wissenschaftler*innen weiter am Staat festhalten. Ferner wird in diesem Zusammenhang davor gewarnt, dem globalen Süden Konzeptionen überzustülpen, die sich womöglich nur für den globalen Norden eignen (Souza 2009; Zibechi 2011). Mit Blick auf das Verhältnis zwischen sozialen Bewegungen und staatlichen Institutionen besteht also ein zentraler Streitpunkt, sowohl in der Forschung als auch unter Aktivist*innen. Während die einen für widerständige Formen von Autonomie plädieren, sprechen sich andere zwar für unterschiedliche, aber doch regelkonforme Beziehungen zum Staat aus. Die Haltung sozialer Bewegungen gegenüber dem Staat beeinflusst nicht nur ihr strategisches Repertoire, sondern auch ihre Positionalität und ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Eine explizit ablehnende Haltung gegenüber staatlichen Institutionen, die sich mit relativ starken autonomen Bestrebungen paart, findet sich insbesondere in denjenigen Untersuchungsfällen, in die eher marginalisierte Gruppen / Stadtteile involviert sind (Peñalolén und Parque Indoamericano). Für Autoren wie Hirsch (2002), Zibechi (2011) und Holloway (2010a/b) sind politische Auseinandersetzungen nicht innerhalb der staatlichen Institutionenordnung, sondern ausschließlich gegen staatliche Institutionen denkbar (vgl. auch Geiger 2010: 13). Die Bildung politischer Parteien und die Beteiligung an staatlichen Machtinstitutionen wird abgelehnt und stattdessen die Notwendigkeit des widerständigen autonomen Handelns von sozialen Bewegungen betont. Diese Überlegungen stehen in einem deutlichen Gegensatz zu den Ansätzen der Bewegungsforschung, die auf klassische und regelkonforme Bewegungsrepertoires wie Organisation, Zentralisierung und Repräsentation und/oder auf deliberative Mechanismen setzen. Da viele soziale Bewegungen in Lateinamerika ein AntiEtatismus, d.h. eine antiinstitutionelle Ausrichtung kennzeichnet (Alvarez/Dagnino/Escobar 2004: 38f.), ist Autonomie häufig ihr zentrales Handlungsprinzip. Ein in diesem Zusammenhang oft zitiertes Beispiel sind die argentinischen Piquetero-Bewegungen, die (zumindest in ihrem Ursprung) Unabhängigkeit von ökonomischen, politischen und militärischen Eliten fordern und umsetzen. In ihrer unmittelbaren Handlungspraxis versuchen diese Bewegungen Alternativen zu Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung und Wohnungs- und Lebensmittelnot zu schaffen. Dieser Position wird von einigen Autor*innen entgegengehalten, dass ein sozialer Wandel nur dann möglich sei, wenn man staatliche Institutionen für die Zwecke sozialer Bewegungen auch zielgerichtet nutzt. Am Beispiel von Argentinien diskutiert Geiger (2010), dass vor allem die Institutionen der Zentralregierung weiterhin Bestand haben und in vielen gesellschaftlichen Bereichen entscheidende Machtbefugnisse ausüben: „Der kapitalistische Staat könne nicht ein-

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seitig durch eine Revolutionierung des Alltagslebens zum Verschwinden gebracht werden, denn er ist nicht bloß passiver Rezeptionsmechanismus sozialer Prozesse, sondern hat bei der Konstituierung der Gesellschaft ein Eigengewicht" (Geiger 2010: 273). Basierend auf Poulantzas veranschaulicht sie die weitgehend wieder erlangte Kontrolle des Staates über die Piquetero-Bewegungen in Argentinien nach 2001.3 Ziel müsse für die sozialen Bewegungen demnach sein, politische Macht durch eine weitreichende Demokratisierung umzuverteilen. Tun sie das nicht, können Entscheidungsträger*innen immer Herrschaftsinstrumente einsetzen, um Akteur*innen zu bevorzugen bzw. zu benachteiligen. Folglich müsse ein Fokus der sozialen Bewegungen auf den Staat bestehen bleiben und gleichzeitig demokratische Rechte gefordert werden. Diese Überlegungen richten sich in kritischer Weise auch an die Bewegungen selbst. Anstatt das Augenmerk auf die Ausweitung von demokratischen Rechten zu fokussieren, interessierten sich manche der populistischen und tradierten Bewegungen gerade in Lateinamerika vor allem für staatliche Leistungs- und Umverteilungsfunktion, während sich explizit antietatistische Bewegungen „mit [der] Forderung nach Demokratisierung in den lokalen Sozialraum zurückgezogen“ hätten (ebd.: 264). Eine mögliche Erklärung dafür, dass in der Forschung die Pole zwischen einem Desinteresse am Staat und dem Postulieren der notwendigen Beteiligung und Nutzung staatlicher Institutionen so weit auseinanderklaffen, liefert der Verweis auf den relativen Bedeutungsverlust des fordistischen Staates im Zuge der Globalisierung. Diese hat zu einem scales mismatch geführt, d.h. nationalstaatliche Politiken decken sich oft nicht mehr mit realen gesellschaftspolitischen Herausforderungen und den ökonomischen und sozialen Räumen, in denen

sich diese Herausforderungen manifestieren (vgl. dazu auch Kapitel 5).

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LÄSST SICH

D EMOKRATIE

REALISIEREN ?

Aufbruch von Machtverhältnissen durch Gegenhegemonie Von unterschiedlichen Seiten werden in der Forschung zu contentious politics Alternativen zum vorherrschenden Modell der neoliberalen Stadt gefordert (Purcell 2008). Ein Weg der Emanzipation für Städte und ihre Bürger*innen könnte in der Etablierung einer wirklich umfassenden städtischen Demokratie liegen, so wie es Laclau und Mouffe (2012) in ihrer Hegemonietheorie vorschlagen. Dem3

Dieser Aspekt wird meines Erachtens von vielen westlichen Autoren häufig ignoriert, die sich global zwar euphorisch demokratischen Momenten zuwenden, aber die weitere Entwicklung nicht verfolgen (z.B. Mouffe 2014: 121f.).

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nach sollten sich soziale Bewegungen als Projekte der Vielfalt verstehen, die durch lose Vernetzungen zusammengehalten werden. Dabei postuliert die Hegemonietheorie, dass sich über zwei Bedingungen Aussagen über die Schaffung einer gegenhegemonialen Vernetzung ableiten lassen: Erstens die Artikulation gemeinsamer Vorstellungen von sozialen Gruppen und zweitens die Herstellung von Äquivalenz zwischen verschiedenen Gruppen. Gleichzeitig offeriert der Ansatz aber auch eine konzeptuelle Herangehensweise, um die politischen Wirkungsweisen städtischer Konflikte in Bezug auf die ihnen zugrunde liegenden Diskurse zu untersuchen. Diese Wirkungen spiegeln sich unter anderem in der Entstehung aber auch der Transformation von Leitbildern in der Stadtentwicklung wider, die sich mithilfe der Theorie konzeptualisieren lassen. Konkret wird die Hegemonie- und Diskurstheorie herangezogen, um die verschiedenen diskursiven Rahmungen, die im Zuge der urbanen Auseinandersetzungen verhandelt und transformiert werden, herauszuarbeiten und einzuordnen (vgl. auch Glasze/Mattissek 2009). Aus dieser Perspektive lassen sich emanzipatorische Potenziale zum Aufbruch von herrschenden Machtverhältnissen aufdecken. Die Arbeiten von Laclau und Mouffe zielen darauf ab, gesellschaftliche Strukturen und Prozesse sowie damit verbundene Machtverhältnisse aufzudecken. Dabei beziehen sich beide wesentlich auf Antonio Gramscis Hegemonietheorie. Im Sinne poststrukturalistischer Ansätze werden politische Praktiken als Ergebnis hegemonialer Diskurse verstanden. Zentraler Ausgangspunkt ist die Annahme, dass gesellschaftliche Ordnungen das Ergebnis des Kampfs um Hegemonie sind. Gesellschaftliche Ordnungen spiegeln somit den Kampf um politische Vorherrschaft wider und müssen somit ständig neu ausgehandelt werden. Nach Brand ist mit Hegemonie „entweder die ausdrückliche Zustimmung zu bestehenden Verhältnissen und Praktiken oder aber zumindest ihre passive Hinnahme gemeint. Darüber hinaus ist Hegemonie eine umfassende materielle Praxis“ (2005: 9). Gramsci, durch den die Hegemonie- und Diskurstheorie von Laclau und Mouffe ganz wesentlich inspiriert ist, beabsichtigte mit dem Konzept der Hegemonie „die Vorstellungen mechanistischer Determinierung des gesellschaftlichen Überbaus durch die ökonomische Basis aufzubrechen“ (Glasze/Mattissek 2009: 159f.). Gramsci zufolge wird Politik nicht einfach durch Ökonomie determiniert. Stattdessen erklärt sich die Stabilität des Kapitalismus aus der Vorherrschaft der politisch-kapitalistischen Klasse. Er konstruierte die „Zivilgesellschaft“ als neue Sphäre neben dem Staat (als politische Gesellschaft) und der Ökonomie (als Basis), in der um Ideen und Werte gerungen wird. In seiner Vorstellung wird Herrschaft durch Konsens mit den Unterdrückten hergestellt und

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durch gemeinsame Normen, Deutungsmuster und Werte gesichert, was er als „Schützengrabensystem" bezeichnet. Um diese Struktur aufzubrechen und Veränderung zu erzielen, muss das Proletariat nach Gramsci letztlich die intellektuelle und moralische gesellschaftliche Führung erringen. Dabei postuliert er ein erweitertes Verständnis des Staats in Form eines integralen Staates, in dem politische und zivile Gesellschaft verschwimmen (1991ff [1948ff]). Im Unterschied zu klassischen marxistischen Ansätzen basieren Gramscis Annahmen auf einem anti-essentialistischen Prinzip. Dadurch lassen sich, wie unter anderem Purcell betont (2009b: 294), die reduktionistischen Hürden marxistischer Konzepte überwinden. Die Vorstellung, dass es ein zu bevorzugendes Zentrum gebe, das eine Bewegung organisiert, lehnt Gramsci also ab. Gleichzeitig erlaubt Gramscis Konzept, die Ideen eines kollektiven und koordinierten Widerstands weiterzuverfolgen, mit denen auf die Transformation bestehender Machtverhältnisse abgezielt werden kann (ebd: 294).4 Trotz seiner Einsicht, dass neue Allianzen Einfluss auf das Klassenverständnis haben würden, bleibt Gramsci einem ökonomischen Determinismus noch weitgehend verhaftet, wie Laclau und Mouffe (2012) kritisieren. Er versteht Klassen weiterhin als primär sozialstrukturelle Kategorien, die durch Positionen in ökonomischen Zusammenhängen hervorgebracht werden (vgl. Glasze/Mattissek 2009: 165f.). Laclau und Mouffe, die sich als „postmarxistisch“ definieren, entwickeln Gramscis Hegemonietheorie weiter und nehmen dabei eine „Radikalisierung“ vor. Mit dem Begriff der Radikalisierung wird hervorgehoben, dass für ein Verständnis der Handlungen von sozialen Akteur*innen nicht nur Klasse und Ökonomie, sondern eine Vielzahl weiterer Einflussfaktoren berücksichtigt werden muss. Laclau und Mouffe (2012) teilen also das Interesse marxistischer Theorien, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu analysieren, grenzen sich jedoch von einem ökonomischen Determinismus ab. Dabei beziehen sie sich auf Althussers Konzept der Überdeterminierung und erweitern es basierend auf der pluralisti-

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Gramsci stellt fest, dass eine Klasse nicht alleine regieren kann, da das soziale Feld zu divers ist. Folglich müssten Allianzen eingegangen werden, um ausreichend Macht bündeln zu können. Hierfür seien, wie er vorschlägt, eigene Standpunkte zu erweitern und externe Positionen und Interessen zu inkorporieren. Hegemonie bezeichnet nach Gramsci genau diesen Prozess, wenn eine Klasse ihre eigenen engen Interessen überschreitet und ein – in seinen Worten – „Verschweißen“ von verschiedenen sozialen Gruppen erfolgt. Dies basiert auf ideologischen, kulturellen und erzieherischen Kämpfen (Laclau/Mouffe 2012: 100ff). In der Konsequenz kann diese kritische Masse eine allgemeinere soziale Kontrolle übernehmen (Gramsci 1991ff [1948ff] GH 13 §18). In Gramscis Vorstellung verschmelzen diese Gruppen nicht vollständig, sondern behalten ihre Charakteristika und damit eine gewisse Autonomie bei. Gleichzeitig sind sie durch die Interessen der Arbeiterklasse zu einem großen Ganzen verwoben.

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schen Position, die sie vertreten Laclau/Mouffe 2012: 132ff). Demnach ist jedes Mitglied einer hegemonialen Formation durch andere Gruppen überdeterminiert. Nach Laclau und Mouffe entstehen Subjekte durch die permanente Auseinandersetzung mit anderen Subjekten und nicht aufgrund ihrer Position bzgl. einer transzendentalen und verbindenden Logik. Wie im Zuge meiner Diskussion der radikalen Demokratie bereits erwähnt, gehen Laclau und Mouffe in ihrer Theorie von der emanzipatorischen Möglichkeit einer unbegrenzten, und damit „radikalen“ Pluralisierung des politischen Lebens aus. Ihnen zufolge gibt es kein soziales Ganzes und ein solches kann auch nie erreicht werden (Mouffe 2007, Laclau 2002). Immer wenn versucht werde, dies zu repräsentieren, handelt es sich nur um einen Ausschnitt des Ganzen, wobei jeweils partikulare Interessen als universelle Agenda dargelegt werden. Es könne keine Stabilität und auch keine permanente Verflechtung von politischen Identitäten und Interessen hergestellt werden. Daraus folgern sie, dass es auch keine privilegierte Subjektposition gibt. Politische Zentren, Institutionen und Beziehungen sind immer partiell, temporär, umstritten und kontingent.5 Mit diesen Annahmen verweisen Laclau und Mouffe (2012: 175ff) also auch auf die Chance, neue emanzipatorische Praktiken im Kontext der Produktion und Reproduktion von Machtverhältnissen aufzudecken. Es wird ein dezidiert politischer Anspruch verfolgt. Damit versucht die Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe zu erklären, wie generelle Logiken, die hinter politischen Entscheidungen – z.B. in der Stadtentwicklung – stehen, aufrechterhalten werden können. Gleichzeitig weist sie darauf hin, dass diese Logiken durch neue diskursive Verknüpfungen aufgebrochen werden können. Auf diese Strukturen können soziale Bewegungen Einfluss nehmen. Artikulation und Äquivalenz zur Herstellung von Hegemonie Mit ihren theoretischen Überlegungen führen Laclau und Mouffe aus, wie Verbindungen zwischen sozialen Bewegungen hergestellt werden können. Der zentrale Ausgangspunkt ist dabei die Unentscheidbarkeit und Unabschließbarkeit jedes Diskurses um Macht und Herrschaft. Die Theorie lenkt den Blick auf die Heterogenitäten und Widersprüchlichkeiten sozialer Wirklichkeiten. Im Kern wird argumentiert, dass es kein – wie Laclau und Mouffe es nennen – außerdiskursives Element der Sinnfixierung gibt. Stattdessen hat jeder Diskurs ein Außen, das die Fixierung neuer Bedeutungen ermöglicht (Laclau/Mouffe 2012: 141ff). Über 5

Aus der These der Pluralisierung lässt sich ableiten, dass sich soziale Bewegungen theoretisch auf gleicher Augenhöhe begegnen können. Allerdings wird in der Bewegungspraxis meist zur Imagination eines primären Feindbildes oder einer primären Identität einer Bewegung tendiert (Purcell 2009b: 293).

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sogenannte leere Signifikanten, die von einer spezifischen Bedeutung entleert sind, können Äquivalenzbeziehungen entstehen und Diskurse imaginär geschlossen werden. Bei leeren Signifikanten handelt es sich um Zeichen oder „Knotenpunkte“ (vgl. auch Glasze/Mattissek 2009). Das Problem der Hegemonie besteht demnach darin, dass Entscheidungen in Situationen der Unentscheidbarkeit getroffen werden müssen. Folgt man Gramscis, und weiterführend Laclau und Mouffes Annahmen, so ist der zum Common Sense gewordene Neoliberalismus nicht als stabiles Ergebnis und Konsens zu betrachten, sondern als instabiles und umkämpftes Terrain (Peck/Tickell 2002). Wird der Neoliberalismus also nicht als ein feststehender Common Sense angenommen, so eröffnen sich Möglichkeiten für neue politische Vorstellungen. Das zentrale Prinzip der gesellschaftlichen Beteiligung sozialer Bewegungen an Auseinandersetzungen um Macht und Herrschaft ist nach Laclau und Mouffe die Artikulation gemeinsamer Vorstellungen. Durch diesen Prozess der Artikulation kommt es zur Etablierung von sozialen Interaktionen zwischen unterschiedlichen Akteur*innen, mit der Konsequenz, dass deren Identitäten eine Veränderung erfahren (vgl. Laclau/Mouffe 2012: 167ff). Soziale Beziehungen zwischen Bewegungen lassen sich also diskursiv fixieren, so dass der Zusammenhalt sogenannter gegenhegemonialer Formationen gestärkt wird. Aus theoretischer Sicht ist es plausibel, dass es sich dabei vor allem um solche Gruppen handelt, die vorherrschende gesellschaftliche Vorstellungen und Praktiken anfechten und versuchen, alternative Werte zu etablieren. Diese Gegenbewegungen streben danach „not to eliminate power, not to bracket or corral it, but to mobilize it“ (Purcell 2009a: 160). Ein solches emanzipatorisches Projekt setzt voraus – wie oben erläutert –, dass diese Gruppen auf eine Ausweitung (ein „Majoritär-Werden“) abzielen. Voraussetzung für das Zustandekommen sind also Gruppen, die gewillt sind, einen geteilten Common Sense zu kreieren, mit einer kollektiven Sichtweise auf die Welt und dem Willen, gemeinsam zu Handeln. Die Gruppen sind gleichzeitig voneinander abhängig und autonom. Sie werden nicht absorbiert. Laclau und Mouffe (2012: 167ff) sprechen dabei von simultaner Gleichheit und Unterschiedlichkeit und bezeichnen dies als „Äquivalenz“.6 Soziale Bewegungen sollten sich nach Laclau und Mouffe also als gegenhegemoniale Artikulationen differenzierter jedoch äquivalenter Auseinandersetzungen – als Äquivalenzketten – begreifen und formieren. Denn die Gruppierungen verfügen zwar über unterschiedliche Hintergründe, Interessen und Positionen, aber sie sind durch die gegenwärtigen Machtbeziehungen „äquivalent“ benach6

Eine ähnliche Darlegung findet sich bei Hardt, wenn er beschreibt, wie die Gruppen der globalen Linken sich gegenseitig befördern sollen (Laclau/Mouffe 2012: 301).

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teiligt (z.B. aufgrund der Folgen von Neoliberalismus und Globalisierung, vgl. auch Pickerill/Chatterton 2006: 735). In dieser Weise stellt sich Purcell (2009b) das Ideal sogenannter „networks of equivalence“ vor: als teilweise rhizomatische, teilweise zentralisierte Netzwerke sich gegenseitig respektierender Bewegungen, die ihre Besonderheiten beibehalten und keine Verschmelzung ihrer Interessen und Werte anstreben. Dabei stellt sich mit Blick auf ein radikaldemokratisches Projekt auch die Frage, in welchem Rahmen sich die gemeinsamen Forderungen von sozialen Gruppen in Städten bewegen „sollten“. Universalisierenden Prinzipien zufolge lässt sich hier beispielsweise die Forderung nach Mitspracherechten, nach einem Recht auf die Stadt oder die Betonung von Nutzwerten formulieren (Purcell 2009a: 160). Autonomie als Prinzip sozialer Bewegungen Laclau und Mouffe liefern nur wenige konkrete Anhaltspunkte, wie die Realisierung von radikaler Demokratie in der Praxis aussehen kann. Außerdem erfahren wir kaum etwas über die Ausgestaltung des Handelns innerhalb von Bewegungen, da es eher um die Beziehungen zwischen Bewegungen geht (vgl. Purcell 2013: 93). Antworten darauf offerieren autonomietheoretische Ansätze (vgl. Lefebvre 2009; Castoriadis 1990a; Holloway 2010a), die sich auch für die angestrebte, kontextgerechte Interpretation der Interaktionsdynamiken sozialer Akteur*innen anbieten. Denn für viele soziale Bewegungen in Lateinamerika, auch derjenigen, die im Rahmen der vorliegenden empirischen Untersuchung interviewt wurden, stellt Autonomie (griech: autos-nomos, Eigengesetzlichkeit, Selbständigkeit) ein wichtiges Prinzip und strategisches Tool dar. Vielfach wird in der Bewegungsforschung die Autonomie von sozialen Bewegungen hervorgehoben. Diese wird von Bewegungen angestrebt, um zu vermeiden, dass ihre Ziele im Zuge von Kooperationen mit dem Staat nach und nach aufgeweicht werden – ein grundsätzliches und nicht lösbares Problem der linken Parteien und linken Regierungen in Lateinamerika (vgl. Souza 2006; Zibechi 2011). In der Regel lässt sich das autonome Verhalten von Bewegungen als Teil ihrer Identität betrachten. Auf diese Weise wird also ein stärkeres Eintauchen in die Praxis realer Auseinandersetzungen möglich. Es sollte erwähnt werden, dass beide hier präsentierten emanzipatorischen Herangehensweisen nicht als konkurrierende, sondern als sich ergänzende Optionen gedacht werden müssen. Auch Laclau und Mouffe verweisen darauf, Autonomie als ein mögliches „inneres Moment einer umfassenderen hegemonialen Unternehmung“ (2012: 183) zu begreifen. Für die vorliegende Analyse sind vor allem die Arbeiten von Cornelius Castoriadis relevant. Dieser hat ein autonomietheoretisches Konzept entwickelt, auf

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das zum Beispiel im Kontext der Debatte um contentious politics häufig Bezug genommen wird. Zu verweisen ist dabei insbesondere auf den Ansatz der „autonomen Planung“ (Souza 2000) und das Konzept der „autonomen Geographien“ , (z.B. Chatterton 2005), in denen Castoriadis Verständnis von Autonomie auf die Teilhabe an der Stadtplanung bzw. den Raum übertragen wird. Aber auch Lefebvre (2009) bedient sich in seinem Demokratie-Konzept und der korrespondierenden Umsetzung für das Recht auf die Stadt autonomietheoretischen Überlegungen. So kommt es nach Lefebvre (2009) zu „Autogestion“ (~ Selbstverwaltung), die wie Demokratie als Prozess gedacht wird, wenn eine Gruppe von Menschen aktiv beginnt, sich selbständig und autonom um ihre eigene Existenz zu kümmern. Dies beinhaltet auch einen permanenten Kampf gegen Heteronomie, also gegen Formen der Fremdbestimmung durch andere Akteur*innen. Eine zentrale Bedeutung kommt in Castoriadis‘ Arbeiten den Facetten der Freiheit zu. Castoriadis unterscheidet hier unter anderem die Ablehnung, beherrscht zu werden, frei handeln zu können und in gleicher Weise mitbestimmen zu können. Dabei zeigen sich auch einige Parallelen zum Begriff der Anarchie (griech: anarchía‚ Herrschaftslosigkeit): „Freiheit ist die gleiche Beteiligung aller an der Macht. Eine freie Gesellschaft wäre also dadurch definiert, dass die Macht wirklich vom Gemeinwesen ausgeübt wird, und zwar von einem Gemeinwesen, an dem tatsächlich alle in gleicher Weise teilnehmen.“ (Castoriadis 1990: 335)

Die Gleichzeitigkeit von individueller und kollektiver Autonomie, auf die dieses Freiheitsideal verweist, stellt zugleich dessen zentrales Spannungsfeld dar (Castoriadis 1991). Einerseits erlaubt das Ideal individueller Autonomie notwendig auch die egoistischen, zwecknutzenrationalen und freiheitsbetonten Wünsche Einzelner. Gleichzeitig kann die individuelle Autonomie nicht unabhängig von ihrem Kontext, also etwa von Rahmenordnungen wie des Nationalstaates oder eines freien Marktes gedacht werden. In diesem Sinne betont Souza, dass individuelle Autonomie im strengen Sinne aufgrund der strukturellen Ungleichverteilung von Macht in der Gesellschaft immer Fiktion bleiben wird (2000: 189). Andererseits ist kollektive Autonomie als gemeinschaftliches Projekt zu verstehen, das auf reziproken sozialen Beziehungen und gegenseitigem Einverständnis basiert. Sowohl der Einzelne als auch die Gemeinschaft können freie Entscheidungen treffen. Nach Castoriadis sind die beiden Dimensionen der kollektiven und der individuellen Autonomie eng miteinander verwoben, wenn es um die Erneuerung von Demokratie geht (vgl. auch Mororó 2014: 81ff). Castoriadis formuliert Au-

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tonomie als radikaldemokratische Alternative zu traditionellen demokratischen Regierungsformen wie der repräsentativen Demokratie (vgl. Souza 2006: 330). Im Mittelpunkt steht dabei die Kreation autonomer Individuen mit kollektiven Verantwortlichkeiten, also die Neuschaffung des kollektiven Selbst. Eine autonome Gesellschaft zeichnet sich ihm zufolge dadurch aus, dass diese ihre Gesetze selbst schafft. Dabei ist sie sich zudem bewusst, dass dies ohne jeglichen externen Einfluss erfolgt (Castoriadis 1990b). Die individuell-kollektive Dichotomie von Autonomie bringt kontextabhängige und unterschiedliche Verlaufsformen mit sich und lässt sich als Projekt zur Erneuerung von Demokratie wie folgt zusammenfassen: „This project of simultaneous collective and individual autonomy as a tool for renewing democracy is defined through personal freedom, a mistrust of power and a rejection of hierarchy, and the advocacy of self-management, decentralized and voluntary organization, direct action and radical change.“ (Pickerill/Chatterton 2006: 734)

In ähnlicher Weise betont auch Carmen (1996), dass sich das Prinzip der Autonomie auf vier Säulen verteilt: Hierzu gehören politische Selbstverwaltung und Kontrolle; kulturelle Hoheit und Medienkompetenz, Selbstbestimmung von Organisationsformen sowie ökonomische Autarkie. Diese knappe Darstellung zeigt, dass sich Autonomie als ein komplexes Konzept beschreiben lässt; einerseits aufgrund des dem Ansatz inhärenten Spannungsfelds zwischen individueller und kollektiver Autonomie, und andererseits durch seine breite Anwendung als theoretisches Konzept, demokratisches Prinzip und strategisches Instrument. Der Weg zur Autonomie als „Revolution of everyday life” Die Vertreter*innen autonomietheoretischer Ansätze stimmen darin überein, dass Autonomie nicht als (erreichbarer) Zustand zu verstehen ist. So betont Purcell, dass man nicht autonom sein könne, man könne nur autonom werden (2013: 88; 120ff). Autonomie ist demnach eher als Utopie der Demokratie, denn als ein Ziel zu verstehen, das irgendwann erreicht werden kann: „it is impossible to ever be fully autonomous. The political imperative can only ever be to struggle to become autonomous, to flee heteronomy and move toward the horizon of autonomy to the extent we can.“ (Purcell 2013: 88 [Hervorhebung im Orig.])

In eine ähnliche Richtung geht DeFilippis, der Autonomie als „set of power relations“ beschreibt, und das Konzept als relationale Tendenz versteht (2004).

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Demnach lassen sich keine klaren Grenzen zwischen autonomen und nicht-autonomen Prozessen und Räumen ziehen. Ein interstitieller, also zwischenräumlicher Charakter ist somit bezeichnend für Autonomie und „autonome Geographien“, d.h. es gibt kein Außen, das losgelöst von Kapitalbeziehungen existiert und von wo aus Autonomie geschaffen werden kann. „Rather there is a constant negotiation between competing tendencies towards autonomy and non-autonomy (or heteronomy). Autonomy is [...] a desire rather than an existing state of being“ (Pickerill/Chatterton 2006: 737). Auf der Suche nach neuen Möglichkeiten der Machttransformation, betont Holloway (2010a) als Vertreter des Open Marxism das Recht auf ein Leben von Alternativen. Er postuliert, dass Slogans wie in Argentinien im Jahr 2001 „Que se vayan todos“ (Alle sollen verschwinden) darauf verweisen, dass nicht die Mächtigen durch andere Mächtige auszutauschen seien, sondern das Ziel ist, „Nonpower“ oder „Antipower“ zu schaffen. Es gehe darum, mit dem Alltäglichen zu brechen und üblicherweise vorgenommene Einordnungen strategischer Repertoires von Bewegungen zu hinterfragen. Auch Zibechi unterstreicht, dass es nicht um die „Vernichtung“ des Gegners gehe, sondern er plädiert für eine alternative, nichtstaatliche Macht. Anzustreben seien neue Gesellschaftsformen, die er als „gemeinschaftlich, selbstzentriert und weiblich“ identifiziert (Zibechi 2011: 97). Das Ziel sei also nicht, dass Bewegungen durch die Verschiebung von Kräfteverhältnissen zu einem sozialen Wandel beitragen. Dabei verweisen Holloway und Zibechi genauso wie andere Vertreter*innen autonomer Konzepte auf das Plädoyer der Zapatistas: Diese betonen, dass die Absicht nicht darin bestehe, die Macht zu übernehmen, sondern die Welt zu verändern, also nicht den Regierungspalast zu übernehmen, sondern soziale Beziehungen zu verändern. Holloway (2010a) versteht Autonomie daher als way of live und nicht als organisatorisches Tool. So sei Autonomie als ein Projekt zu verstehen, das mit einem endlosen sich-in-Bewegung-befinden und Infragestellen verbunden ist. Es handle sich um eine lange Revolution (Castoriadis 1991), ein Vorantasten, das Holloway mit dem Motto „The road is made by walking“ (2010a) beschreibt. „Autonomy then is not an event, but a process of affirmation of self-belief that comes through self-organising together. Commentators make the mistake of looking for signs of an emerging organizational coherence, political leaders, and a common program that can bid for state power when they do not realise that the rules of engagement have changed. Many have simply rejected such meta-narratives.“ (Chatterton 2005: 559)

Chatterton wendet sich hiermit gegen die verbreitete Kritik, dass soziale Bewegungen keinen Einfluss auf globale Prozesse nehmen könnten, wenn sich ihr

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Handeln autonomen Prinzipien folgend auf die lokale Ebene konzentriere (vgl. dazu auch Geiger 2010). Ebenso wie die anderen diskutierten Autor*innen plädiert er dafür, in der Forschung die gewandelten Handlungsrepertoires von sozialen Bewegungen anzuerkennen und den Blick auf neue Erscheinungsformen des Politischen zu richten. Darauf weisen in ähnlicher Weise auch Holston (2009) und Zibechi (2011) in ihren Darlegungen über aktuelle Prozesse des Widerstands in lateinamerikanischen Städten hin. Insgesamt zeichnet sich ein autonomietheoretischer Ansatz durch seine Offenheit und eine gewisse Fragilität aus (Zibechi 2011). Konkretere Handlungsanweisungen lassen sich auch mit ihm nur schwer liefern. So weist Chatterton (2005) darauf hin, dass Autonomie als Tendenz hilfreich sein oder auch scheitern kann. Wie Holloway betont, ist dieser Prozess immer auch verbunden mit Suche, Hoffnung, Nichtwissen und Inspiration (2010b: 254). Diese Unsicherheit sei in Ermangelung an emanzipatorischen Alternativen anzuerkennen (Holloway 2010a, Zibechi 2011). Zudem mag ein offenes Konzept, wie Pickerill und Chatterton (2006: 731) anregen, angesichts des Scheiterns vieler vorgefertigter Lösungsmodelle diverse Vorteile besitzen. Elemente der Autonomie von sozialen Bewegungen Basierend auf den Erfahrungen und Lernprozessen in der lateinamerikanischen Bewegungspraxis lassen sich verschiedene Prinzipien benennen, die zur Emanzipation der Zivilgesellschaft beitragen können. Zu den zentralen Elementen zählen eine autonome Agenda, eine horizontale Organisationsweise, Direktdemokratie, Solidarität sowie solidarische Ökonomie. Diese Elemente der Autonomie, die als Möglichkeiten aber nicht als Voraussetzungen für eine Transformation städtischer Kräfteverhältnisse zu verstehen sind, werden abschließend kurz skizziert. Zunächst ist das Plädoyer hervorzuheben, im Sinne einer Selbstbestimmung von Bewegungen die jüngeren gouvernementalen „Normalisierungstechnologien“, die Entpolitisierung befördern, in ihrer ganzen Komplexität zu durchdringen, also das Wirken von sozialen Bewegungen und die Reaktionen der Regierenden zu analysieren (Zibechi 2011: 137f.) (vgl. Kapitel 3). Ausgehend von einem Misstrauen gegenüber bestehenden Machtstrukturen fordert Zibechi (ebd.) Würde und die Freiheit, wählen zu können, anstatt eine oligarchische Herrschaft akzeptieren zu müssen. Für diesen Weg werden in der Praxis von sozialen Bewegungen drei wichtige Elemente angewendet: eine horizontale Organisation, solidarische Ökonomie und ein Zusammenspiel aus Resistenz und Kreation (vgl. Zibechi 2003).

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Das Prinzip der Horizontalität beinhaltet, Verantwortlichkeiten zwischen und innerhalb von Nachbarschaften im Sinne einer kollektiven Autonomie zu teilen. Anstatt einer übersichtlichen, ist dafür eine „messy“, also eine chaotische Organisationsweise bezeichnend, d.h. die Abläufe sind komplex, relational, pragmatisch und selektiv. Im Rahmen einer solchen „plebejischen“ Politik wird Einheit nicht durch Zentralisierung, sondern durch aufständische Aktionen und Rebellion sowie das Zusammenführen horizontal organisierter Kämpfe hergestellt. Was von außen als Fragmentierung wahrgenommen wird, ist laut Zibechi (2011: 154f.) eine intendierte und einflussreiche Art der Organisation (vgl. Kapitel 5). Autonome solidarische Ökonomie ist ein weiteres zentrales Element alternativer Handlungsrepertoires, das im Zuge von erlebter Arbeitslosigkeit seit den 1990er Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Damit ist auch die Absicht verbunden, die Bedeutung von Arbeit zu reaktivieren. Im Rahmen der Selbstversorgung könne unter der Bedingung, dass keine staatliche Kontrolle erfolgt, auf öffentliche Gelder zurückgegriffen werden (Zibechi 2011). Außerdem wird für ein autonomes Bildungswesen plädiert (Freire 1970), unter anderem um im Kampf gegen sich selbst ein „Dekontextualisieren des Alltags“ zu bewerkstelligen (Chatterton 2005: 557). Auch im Gesundheitswesen wird auf lokales Wissen gesetzt. Außerdem wird die Bedeutung von unabhängigen Mediengruppen hervorgehoben. Schließlich gehören Resistenz und Kreation zu den zentralen Prozessen autonomer Bewegungen und Geographien, d.h. es werden permanent Vorschläge entwickelt und gleichzeitig Widerstände geäußert (vgl. Pickerill/Chatterton 2006: 737f.). Dabei wird von multiplen und multiskalaren Strategien Gebrauch gemacht (vgl. Kapitel 5). Dazu zählt Protest, aber auch das Testen von Alternativen. Nach Castoriadis (1991: 150) ist die Ablehnung von etablierten sozialen Heteronomien Bestandteil eines kreativen Akts, der verschiedene Machtformen hervorruft. Hardt und Negri (2001) benennen Desertation, Exodus und Nomadismus als kreative Werkzeuge in der Welt der Anti-Macht.7 Gruppen wenden sich von Parteien und Gewerkschaften ab, und besinnen sich stattdessen auf eigene Ressourcen, eigene Communities.8 Einem autonomen way of live folgend seien Chatterton (2005: 559) zufolge hierbei subalterne Widerstandsstrategien auf der Mikroebene besonders relevant, wie zum Beispiel Straßenblockaden im Fall der

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Diese Abkehr von staatlichen Institutionen in Form von Passivität, wie sie Hardt und Negri vorschlagen, lehnt Mouffe explizit ab (2007: 107ff). Castoriadis (1991: 163) behilft sich für die Umschreibung von Autonomie der Methapher des Keims: „As a germ, autonomy emerges when explicit and unlimited interrogation explodes on the scene.“

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argentinischen Piqueteros. Solche Strategien werden als Teil des Repertoires einer „Postentwicklung“ oder „Gegenentwicklung“ verstanden. Autonome Elemente in der Stadtplanung Im Unterschied zu radikal autonomen Vorstellungen (Zibechi 2011, Holloway 2010b) sucht Souza (2000, 2006) mit seinem Ansatz des autoplanejamento (Autonome Planung) einen Mittelweg zwischen absoluter Autonomie und Planung im Einklang mit dem Staat. Aus postdemokratischer Perspektive ist dies zwar widersprüchlich, da die Planung mit Rancière selbst Teil der polizeilichen Ordnung darstellt (vgl. Kapitel 3). Dennoch ist die Intention von Souza nachvollziehbar, da die Vorstellung einer Raumplanung sonst gänzlich obsolet werden würde. Der Ansatz basiert weitgehend auf den positiven und negativen Erfahrungen mit formellen und informellen Partizipationsprozessen in Brasilien. Souza hält am Staat fest, fordert jedoch, dass dieser keine bestimmende Rolle einnehmen darf und stattdessen den Bürger*innen in der Stadtplanung und bei der Umsetzung von Strategien eine entscheidende Bedeutung zukommen soll. Souza macht vom Autonomiebegriff Gebrauch, um Partizipationsmechanismen und soziale Bewegungen in Lateinamerika, insbesondere in Brasilien zu analysieren. Stadtplanung solle dazu dienen, die Autonomie der Bürger*innen zu stärken. Im Sinne einer autonomen Planung plädiert Souza für ein Handeln von sozialen Bewegungen nach dem Motto „together with the state, despite the state, against the state“ (Souza 2006). Dies impliziert, dass eine autonome Zivilgesellschaft erforderlich ist, die eine alternative Positionierung bzw. einen Mix aus „Staatszentrismus“ und „wir wollen mit dem Staat nichts zu tun haben“ anstrebt. Durch die Kombination von spezifisch lokalem Wissen mit technischem Wissen (wobei Letzteres sowohl angewendet als auch hinterfragt wird), könne es sozialen Bewegungen gelingen, an entscheidenden Stellen Einflussmöglichkeiten zu gewinnen.9 Nach Souza sei es aufgrund des Machtzuwachses von privaten Akteur*innen im Zeitalter des Neoliberalismus bedeutender denn je, dass soziale Bewegungen anhand einer möglichst autonomen Agenda eigene Lösungen vorschlagen und umsetzen. Die Schwierigkeit bestehe dabei für viele darin, die Agenda von „oben“ von der Agenda von „unten“ zu unterscheiden (vgl. auch Zibechi 2011). Zudem handle es sich bei der Teilnahme an formalisierter Beteiligung um ein „risky business“. Trotz der Gefahren betrachtet er diese als unumgänglich und lehnt anarchistische Perspektiven, die jede Kooperation mit dem Staat gänzlich ablehnen, als unrealistisch ab. Unter anderem aufgrund des starken Zentralismus 9

Dabei verweist er auf diverse Beispiele aus Lateinamerika (Brasilien, Argentinien) und Europa (Niederlande, Deutschland).

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rät er auch dazu, die Kontrolle und Selbstständigkeit von sozialen Bewegungen nicht an Wissenschaftler*innen und NGOs abzugeben. Souza plädiert außerdem für formelle Partizipationsprozesse, da damit auch ein gewisser finanzieller Nutzen verbunden ist und aus den vielfältigen Erfahrungen mit direkter Demokratie – insbesondere in Brasilien – gelernt werden kann. Er fordert die Anerkennung von autonomen Planungslösungen durch soziale Bewegungen im Sinne einer Graswurzel-Stadtplanung. Anstatt Planungsprozessen (ausschließlich) zu assistieren, sei es wirksamer, wenn soziale Bewegungen im Kontext von konservativen Lobbygruppen als „counterpressuring forces“ agierten. Außerdem müssten soziale Bewegungen außerhalb dieser Arena autonome Aktivitäten fortführen, da sie ansonsten zur „Geisel der Regierung“ mutierten. Neue politische Prozesse beinhalten außerdem die vorsichtige Kooperation mit überzeugt nicht-konservativen Parteien (Souza 2006). Der für den Kampf um eine wahrhaftige Demokratie benötigte Wille zeigt sich im Kontext der praktischen Umsetzung von Autonomie besonders deutlich. Denn wie betont wird, geht es dabei auch um einen Kampf gegen sich selbst, nämlich die Macht einzufordern, die man gerne abtritt (Purcell 2013). So könnten machtbündelnde staatliche Institutionen nur dann existieren, wenn das Bedürfnis besteht, regiert zu werden (z.B. Zibechi 2011):10 „So the project of democracy, I argue, isn’t so much the project to confront a power wielded by malevolent forces beyond our control. Rather, democracy is a struggle against our own desire for oligarchy” (Purcell 2013: 93). Dies fasst das in diesem Kapitel herausgearbeitete Demokratieideal auf Planungsebene gut zusammen. Basierend auf dem Verständnis radikaler Demokratie von Laclau und Mouffe habe ich in diesem Kapitel übersichtsartig versucht, einen Idealtypus politischen Handelns herauszuarbeiten. Damit wurden gleichzeitig Kriterien hergeleitet, die Aussagen darüber unterstützen sollen, inwiefern das Handeln der Akteur*innen in den empirischen Fallstudien dieser Arbeit als politisch bezeichnet werden kann. Des Weiteren wurden mithilfe von hegemonietheoretischen und autonomietheoretischen Ansätzen zwei Wege der politischen Emanzipation diskutiert. Diese sollen erlauben, die Strategien der sozialen Gruppen in den Fallstudien auf ihr emanzipatives und normatives Potential zu hinterfragen. Zudem liefern die hegemonietheoretischen Annahmen von Laclau und Mouffe eine konzeptuelle Einbettung für die diskursive Rahmenanalyse der studierten Konflikte (vgl. Kapitel 6).

10 In ähnlicher Weise beinhaltet Gouvernementalität sowohl, sich zu unterwerfen und regieren lassen (zu wollen), als auch handlungsfähig und frei zu sein, bestimmte Arten des Führens abzulehnen (Foucault 1987).

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Folgt man den Darlegungen zur Postdemokratie in Kapitel 3, müsste man die vorgeschlagenen Elemente einer autonomen Planung bzw. eines Kompromisses zwischen Heteronomie und Autonomie ablehnen. Eine Abwägung der diskutierten Faktoren (bürgerschaftsbezogene Benachteiligungen durch eine anti-etatistische Haltung vs. die Gefahren der Vereinnahmung), bringt mich aber zu dem Schluss, das so pauschal nicht zu tun. Zentral erscheint hingegen, die Vereinnahmung und Adaption gegenhegemonialer Tendenzen durch eine vorherrschende soziale Ordnung – die dadurch zwar einen Wandel erfäht, der jedoch nicht den Zielvorstellungen gegenhegemonialer Bewegungsnetzwerke entspricht – als unvermeidbare Tatsache zu akzeptieren. Diese Anerkennung kann es erleichtern, emanzipatorische Dynamiken durch permanentes Hinterfragen beizubehalten und eröffnet sozialen Organisationen die Möglichkeit, zwischen mehr oder auch weniger radikalen Praktiken zu wählen. Um den Übergang zu den empirischen Analysen des Buchs vorzubereiten, wird im folgenden Kapitel die kollektive Handlungsebene von sozialen Bewegungen noch einmal systematisch diskutiert. Denn die bisher behandelten Theorien liefern mit Ausnahme einiger autonomietheoretischer Überlegungen wenige Hinweise darauf, unter welchen Umständen politisches Handeln in der Praxis möglich wird. Hinzu kommt, dass räumliche Dimensionen und ihre Relationalität in den radikaldemokratischen Ansätzen (z.B. Mouffe 2014) teilweise vernachlässigt werden, etwa die Konstruiertheit von Skalen oder der globale Wettbewerb, dem Städte unterliegen (vgl. auch Mullis 2014).

5 Raumbezüge von contentious politics

Die bisherigen theoretischen Erörterungen behandelten Hintergründe, Realitäten und Barrieren von Demokratie im Allgemeinen und auf städtischer Ebene. Darauf aufbauend stand im Mittelpunkt, ideale Elemente emanzipatorischer Praxis zu identifizieren. Abschließend begebe mich nun von einer Ebene der Makroerklärung stärker auf eine praxisnahe Ebene, um alltägliche mikropolitische Handlungen einfangen zu können. Aus diesem Grund werden die Raumbezüge der Akteur*innen vertiefend unter die Lupe genommen. Dadurch soll aus einer räumlichen und handlungsorientierten Perspektive erklärt werden, welche politischen Veränderungen bewirkt werden. Gleichzeitig ist von Interesse, wie sich urbane Konflikte auf unterschiedliche Räumlichkeiten und die Produktion von Raum auswirken. Denn die Raumproduktion steht unweigerlich in einer Relation mit Politik und Demokratie, ein Zusammenhang, den Lefebvre (2009) prominent diskutiert hat. Somit sind Räumlichkeiten als Bedingung bzw. als Strategie kollektiven Handelns und als Wirkungsdimension von städtischen Konflikten relevant. Dafür erfolgt zunächst eine Annäherung an die Konzeptualisierung von Räumlichkeiten, bevor danach die internen Bedingungen von Aktivist*innen anhand ihrer sozialräumlichen Positionalität erläutert werden. Im Anschluss daran wird hergeleitet, wie Bewegungen und Bürger*inneninitiativen, aber auch der Staat von räumlichen Skalen, Orten, Territorien und Netzwerken Gebrauch machen bzw. wie Räumlichkeiten das Wirken von contentious politics beeinflussen.

R ÄUMLICHKEITEN Im Zuge des spatial turns hat sich die Relevanz räumlicher Dimensionen in den Sozialwissenschaften weitgehend durchgesetzt. Dabei sind vor allem räumliche Konzeptionen in das wissenschaftliche Interesse gerückt, die auf einem sozial-

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konstruktivistischen Weltbild basieren. Mit der sozialkonstruktivistischen Annahme verbindet sich eine relationale Betrachtung von Akteur*innen und Raum. Für die Untersuchung von städtischen sozialen Konflikten nutze ich eine relationale Herangehensweise, da sie sich aufgrund ihrer Offenheit und einem dynamischen Grundprinzip für alle räumlichen Dimensionen und empirischen Belange bzw. Forderungen von sozialen Bewegungen konzeptuell eignet (vgl. Nicholls/ Miller/Beaumont 2013a; Featherstone/Korf 2012). Überdies wird der Relationalität von Raum im Rahmen radikaldemokratischer Ansätze (zu) wenig Beachtung geschenkt. Diese Perspektive ermöglicht unter anderem, die für die vorliegende Studie relevante „dialectic between contention and control“ (Uitermark/ Nicholls/Loopmans 2012: 2552) in Städten, also die lokalen Potenziale für Handlungsformen von sozialen Bewegungen einerseits und staatliche Steuerungsmechanismen andererseits, zu berücksichtigen. Zu den zentralen Vertreter*innen eines relationalen Raumverständnisses gehört Doreen Massey. Sie betrachtet Raum als hybrides offenes Konstrukt, das multiplen Bezügen und Dynamiken unterliegt sowie permanent umkämpft ist (Massey 1994, 2005). Auch Lefebvre geht in seinen Schriften bereits von einem sozial konstruierten Raumverständnis aus.1 Der Wandel und die gegenseitige Beeinträchtigung von sozialen Räumen werden von ihm thematisiert und Raum und Räumlichkeiten nicht naturalisiert oder essentialisiert (Lefebvre 1968, 1991). Allerdings findet sich bei Lefebvre kein systematischer Ansatz, der etwa die Entstehung von scales theoretisiert, und teilweise mischen sich generelle Raumbezüge mit Bezügen auf einzelne Räumlichkeiten (vgl. Smith 2004). Außerdem ist im Rahmen der Recht-auf-Stadt-Debatte, die in ihrem Ursprung auf Lefebvre zurückgeht, die Gefahr einer Lokalisierung von Phänomenen, also eines „local trap“ (Purcell 2006) zu bedenken (Uitermark/Nicholls/Loopmans 2012). Eine systematische Betrachtung von Räumlichkeiten, die heute vor allem in der Humangeographie diskutiert wird, gewährleistet demgegenüber eine differenzierte Analyse von Raum und Räumlichkeiten. Diese findet in der lateinamerikanischen Forschung über „neue Territorialität“ noch wenig Erwähnung (vgl. auch Geiger 2010: 22). Deren Einsatz lässt also zudem auf neue Einblicke für die dort verorteten Phänomene von contentious politics hoffen. Aus relationaler Perspektive offerieren Städte diverse Potenziale, die erklären, weshalb sich hier Auseinandersetzungen konzentrieren (Uitermark/Nicholls/ Loopmans 2012: 2549f.). Als institutionelle und relationale Plattform werden auf 1

Henri Lefebvre (1968, 1991) ist einer der wichtigsten Vorreiter für die Konzeptualisierung von Raum, auch wenn in der aktuellen, insbesondere der angelsächsischen Debatte um Räumlichkeiten und contentious politics relativ selten auf seine marxistischen Interpretationen von Raum und Stadt Bezug genommen wird.

5 R AUMBEZÜGE VON

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der lokalen Ebene von Städten vielfältige Missstände artikuliert sowie Möglichkeiten der Vernetzung geboten. So verweisen Arampatzi und Nicholls (2012: 2592) auf „neighbourhood(s) as strategic site for producing radical subjects“. Außerdem breiten sich soziale Bewegungen in ähnlicher Weise aus, wie es sich für politische Strategien beobachten lässt (vgl. Peck/Theodore 2010). Gleichzeitig können die Herrschenden in Städten besonders beschädigt werden, da sich hier sowohl physisch als auch symbolisch Macht und Eliten konzentrieren: „the city [...] represents a privileged point of attack for all kinds of movements because it concentrates power and prestige“ (Uitermark/Nicholls/Loopmans 2012: 2550). Auf der anderen Seite werden in Städten auch Ideologien und Technologien der Kontrolle entwickelt. So veranschaulicht Katznelson (1981) am Beispiel New York, wie Keile zwischen ethnische Gruppen und geographische Räume getrieben werden. Konzeptuell lassen sich mehrere zentrale Dimensionen von Räumlichkeiten unterscheiden. Die größte Aufmerksamkeit erfahren die Ebenen place, scale und networks. Des Weiteren werden die Komponenten territory und mobility in der Forschung diskutiert. Während für gewöhnlich die Relevanz bestimmter Räumlichkeiten, z.B. place (Massey 2004) oder scale (Brenner 2008) herausgearbeitet wurde, wird seit einigen Jahren die Berücksichtigung multipler räumlicher Faktoren betont ( Jessop/Brenner/Jones 2008). Dabei verweist Brenner (2008) auf die Gefahr, relevante Facetten zu missachten, wenn man sich ausschließlich auf die Analyse einer Dimension konzentriert. Denn letztlich greifen alle Raumdimensionen ineinander. Diese Erkenntnisse über die Bedeutung verschiedener Räumlichkeiten werden zunehmend auf die Erforschung von contentious politics übertragen (Leitner/Sheppard/Sziarto 2008; Nicholls 2009; Nicholls/Miller/Beaumont 2013a). Sheppard (2002) betont in diesem Zusammenhang überdies die Rolle der sozialräumlichen Positionalität. In der deutschsprachigen Debatte wird für die Erforschung von sozialen Bewegungen jedoch bislang wenig Bezug auf eine Kombination dieser räumlichkeitsbezogenen Ansätze genommen. Janoschka (2009) untersucht wie soziale Bewegungen mithilfe von politics of scales, place, networks und mobility Räumlichkeiten aushandeln. Im Rahmen von contentious politics kommt es zu komplexen co-implizierten Überlagerungen von Räumlichkeiten. Dabei ist wenig vorhersehbar, wie Räumlichkeiten spezifische Widerstände beeinflussen und umgekehrt. Diverse Studien weisen auf die Komplementaritäten von Räumlichkeiten hin, aber es wird kaum theoretisiert, wie sich diese gegenseitig durchdringen und beeinflussen (Leitner/Sheppard/Sziarto 2008). Stattdessen wird meist eine bestimmte Räumlichkeit in den Fokus gerückt und andere Dimensionen bleiben unberücksichtigt oder sie werden der ausgewählten Di-

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mension untergeordnet. Leitner und Kolleg*innen (2008) zufolge sind es oft vertikale interskalare Beziehungen, die die Analyse von Räumlichkeiten dominieren, und andere Räumlichkeiten wie Orte, Netzwerke und Mobilität werden nachrangig behandelt: „Such networks, deliberations and co-presence in place cannot simply be subsumed under a master narrative of scalar politics, but are suggestive of other spatialities not readily reducible to scale; socio-spatial connectivities through trans-local networks, mobility across space, and the building of social relations in place.“ (Leitner u. a. 2008: 160)

Neben der sozialräumlichen Positionalität konzentriert sich die vorliegende Arbeit vor allem auf drei Dimensionen – politics of scales, place und networks. Da sozio-territoriale Ansätze in der lateinamerikanischen Forschung besonders verankert sind, wird außerdem kurz auf die territoriale Ebene Bezug genommen.2 Diese werden im Folgenden analytisch getrennt präsentiert. Des Weiteren ist von Interesse, inwieweit bestimmte Räumlichkeiten für den lateinamerikanischen Untersuchungskontext und die ausgewählten Konflikttypen von besonderer Relevanz sind. Diesbezüglich betont beispielsweise Zibechi (2011: 30ff), dass soziale Gruppen auch ohne die von der europäischen und nordamerikanischen Bewegungsforschung formulierten Voraussetzungen zu sozialem Wandel beitragen könnten. Dabei bezieht er sich unter anderem auf eine bestimmte Mobilisierungsstruktur, kollektive Identitäten und ein spezifisches Repertoire an Mobilisierungstechniken. In diesem Zusammenhang verweist Zibechi (ebd.: 30) auch auf die aus seiner Sicht notwendige „Dekolonisierung von kritischem Denken“. Nicholls (2009) argumentiert zwar vor einem anderen Hintergrund, aber seine Kritik geht in eine ähnliche Richtung, wenn er eine Spezifizierung der Art und Funktion von Netzwerken für soziale Bewegungen fordert.

2

Aus Platzgründen war es im Rahmen der Studie nicht möglich, die Mobilitätsdimension zu vertiefen. Mobilität bezieht sich auf die „material or virtual movability of individuals or objects through space-time, within and between places” (Leitner/Sheppard/ Sziarto 2008: 165). Zu denken ist bei politics of mobility unter anderem an Demonstrationen, Besetzungen, Aktionen im öffentlichen Raum, Busfahrten oder das unerwartete Erscheinen an bestimmten Orten, genauso wie die mögliche Immobilität von Akteur*innen (vgl. Leitner/Sheppard/Sziarto 2008). Dabei ist auch auf die Rolle von mobilen Aktivist*innen (Broker*innen) zu verweisen. Mit deren Mobilität lassen sich gerade zwischen ressourcenarmen Organisationen geographische, soziale und institutionelle Hürden überwinden. Broker*innen übernehmen außerdem eine strategische Rolle durch die Verbreitung neuer diskursiver Rahmungen zur Identifikation und Interaktion mit anderen Gruppen und damit der Verbindung von lokalen und entfernten Fürsprecher*innen (Routledge 2003).

5 R AUMBEZÜGE VON

S OZIALRÄUMLICHE P OSITIONALITÄT

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B ÜRGERSCHAFT

Die Untersuchung der Bedingungen und Effekte urbaner Konflikte erfordert eine spezifische Konzeptualisierung von Ressourcen oder Kapitalien, die auf die sozialräumliche Situiertheit der beteiligten Subjekte zugeschnitten ist. Dafür werde ich das Konzept der sozialräumlichen Positionalität von Leitner und Kolleg*innen (2008) um das Verständnis von Bürgerschaft in Lateinamerika erweitern und mithilfe von Bourdieus Kapitalienansatz (1983) vertiefen. Mit der sozialräumlichen Positionalität (vgl. Sheppard 2002) lässt sich die Rolle und Beständigkeit ungleicher Machtbeziehungen innerhalb von Netzwerken und die potenzielle Entstehung neuer Machtbeziehungen analysieren. Neben Machtverhältnissen im Rahmen organisierten sozialen Handelns beeinflusst die soziale Positionalität auch die Einordnung von Aktivist*innen seitens der Öffentlichkeit. Leitner und Kolleg*innen (2008) haben das Konzept der Positionalität aus der feministischen Theorie abgeleitet, wo es die soziale Situiertheit von Subjekten, unter anderem hinsichtlich Gender, Rasse, Klasse und Sexualität, umschreibt. Folgende Merkmale sind bezeichnend für die Positionalität von Subjekten und verweisen auf die sinnvolle Ergänzung eines Raumbezugs: Zunächst entsteht Positionalität aufgrund der verschiedenen und spezifischen Identitäten, Erfahrungen und Perspektiven von Subjekten, die sich auf die individuelle Wahrnehmung der Welt sowie auf persönliche Vorstellungen und Interessen auswirken (Haraway 1988). Die Positionalität rahmt damit den ontologischen und epistemologischen Standpunkt der Subjekte. Des Weiteren ist Positionalität relational, d.h. sie entwickelt sich im Kontext anderer positionierter Subjekte. Zudem sind ungleiche Machtbeziehungen ein Bestandteil von Positionalität. Es geht also immer auch um das Ringen um Unterschiede und Ungleichheiten. Dabei ist Positionalität stets mit Raum verflochten. Daher sprechen Leitner und Kolleg*innen (2008) von sozialräumlicher Positionalität. Schließlich ist sozialräumliche Positionalität nicht fix, sondern sie wird täglich reproduziert, ein Prozess, den Judith Butler (1990) als „citation“ bezeichnet. Einerseits werden bestehende Praktiken permanent reproduziert, andererseits sind Vorstellungen, Praktiken und Machtverhältnisse umstritten und werden ständig neu verhandelt. Ferner beeinflusst das Verständnis von Bürgerschaft und Demokratie die soziale Situiertheit insbesondere mit Blick auf Klasse und ethnische Zugehörigkeit, und damit die Positionalität der Bürger*innen in der Gesellschaft. Dies trifft besonders zu, wenn in urbane Proteste weit auseinander driftende soziale Schichten involviert sind. Bei vielen der sozialen Bewegungen in Lateinamerika handelt es sich weniger um Widerstandsformen der Arbeiterklasse im marxistischen Sinne, sondern um eine Mobilisierung marginalisierter Bevölkerungs-

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schichten. Die eingebundenen Gruppen sind arm, arbeitslos oder unterbeschäftigt (Souza 2006: 333; Boris 2007). Im Unterschied zu Europa erfolgt die Mobilisierung der städtischen Unterschichten in geringerem Maße aufgrund von Auseinandersetzungen um Arbeit, sondern um illegales Wohnen, Bauen und Zugang zu Land (vgl. Holston 2008). Da diese Gruppen im Alltag mit sehr substanziellen Herausforderungen konfrontiert sind, sind ihre Kapazitäten für einen dauerhaften Kampf begrenzt. Außerdem ist es für diese Anteilslosen wesentlich schwieriger, sichtbar zu werden und eine „öffentliche Arena“ für ihr Anliegen zu schaffen (Cefaï 2005). Verweisen möchte ich hier insbesondere auf das national oder regional wahrgenommene und nicht nur das legal fixierte Verständnis von Bürgerschaft. Generell bezieht sich Bürgerschaft auf die Rechte und Pflichten, die mit der Mitgliedschaft einer politischen Gemeinschaft (klassischer Weise dem Nationalstaat) verbunden sind (zu Verständnissen von Bürgerschaft vgl. Purcell 2003). In Lateinamerika ist das Bürgerschaftsverständnis stark geprägt durch gesellschaftliche Einordnungen, die neben der nationalen Mitgliedschaft als Staatsbürger*innen auf dem ethnischen Hintergrund sowie sozioökonomischen und räumlichen Merkmalen (wie Stadtteil und Wohnform) basieren (Holston 2008, 2009). Aus diesem Grund hat Holston (2008) anhand von Analysen in Brasilien den Begriff der „differenzierten Bürgerschaft“ geprägt, der sich auch auf andere Länder Lateinamerikas wie Chile und Argentinien übertragen lässt.3 Dieser beruht auf zwei relevanten Betrachtungen: einerseits die formale Mitgliedschaft an einer Gesellschaft durch Staatsbürgerschaft und andererseits die Verteilung von Rechten, Institutionen, Praktiken und Symbolzuschreibungen, die diese Mitglieder zu Bürger*innen werden lässt. In vielen lateinamerikanischen Ländern ist eine zivilrechtliche Gleichbehandlung der Bürger*innen unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status nicht gegeben (vgl. auch O’Donnell/Wolfson 2000: 205). Auch das Recht auf Boden ist aus historischen Gründen eingeschränkt. So wurde in Brasilien nach der Unabhängigkeit des Landes ein Bodenmarkt mit hohen Bodenpreisen geschaffen und gleichzeitig ein sehr niedriges Einkommensniveau für Arbeitskräfte angesetzt (Holston 2009: 19). Folglich konnte ein Großteil der Bevölkerung auch nach Abschaffung der Sklaverei von dem legal gewordenen Recht auf Boden keinen Gebrauch machen. In diesem Zusammenhang ist die „Rassialisierung“ der Arbeitsteilung hervorzukehren, die Quijano (2010) aus postkolonialer Perspektive akzentuiert. Diese Faktoren zwangen und zwingen weite Bevölkerungsteile noch heute zu informellen Landbesetzungen, die sie au3

Sein Verständnis ist nicht zu verwechseln mit der Verwendung der differenzierten Bürgerschaft von Iris Marion Young, die damit für eine angepasste und gerechtere Zuweisung von Rechten plädiert, die mit Bürgerschaft verbunden sind (Young 1999).

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tomatisch kriminalisiert. Folglich verfügen Bewohner*innen informeller Siedlungen durch den Umstand, dass sie damit gegen das Gesetz verstoßen, nicht über die gleichen Rechte und Sicherheiten wie „Normalbürger*innen“. Mit der Begrenzung bestimmter Rechte geht also eine Reduzierung weiterer bürgerschaftlicher Rechte einher. Das Leitbild einer differenzierten Bürgerschaft besteht in vielen Ländern Lateinamerikas bis heute fort (Holston 2009: 19). Während zum Beispiel früher nur die Elite wählen durfte, dürfen heute zwar alle wählen, aber nicht allen Bürger*innen werden die gleichen zivilen Rechte zugestanden (vgl. auch Zibechi 2011). Auch die Polizei gebraucht nach Holston (2009: 23) ein differenziertes Verständnis von Bürgerschaft, wodurch sich unterschiedliche Gewaltanwendungen und Sicherheitsvorkehrungen erklären lassen. Diese aufgefächerte Einordnung wird durch den neopopulistischen Regierungsstil (vgl. Kapitel 3) weiter gefestigt, der – wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße – in Argentinien und Chile vorzufinden ist. Denn dieser bewirkt eine Entkopplung des „Volks“, das im populistischen Diskurs im Mittelpunkt steht und dem mehr oder weniger formalisierte Umverteilungen zugestanden werden, von den formal rechtlichen und als solche wahrgenommenen Staatsbürger*innen. Schließlich ist auf die Verflechtung von Gesetz und Raum und die räumliche Differenziertheit von legalen Rechten zu verweisen. Blomley (2008: 162) umschreibt diese Überlappung von räumlichen Settings (wie skalaren Ordnungen, materiellen Merkmalen und hegemonialen Ortszuschreibungen) sowie legalen Arrangements (zum Beispiel Polizeigewalt, Gesetzgebung und Eigentumsrechte) als „splices“. In eine ähnliche Richtung weist Santos’ Begriff des „legal pluralism“: „[T]he conception of different legal spaces superimposed, interpenetrated and mixed in our minds, as much as in our actions [...] We live in a time of porous legality or legal porosity, multiple networks of legal orders forcing us to constant transitions and trespassings. Our legal life is constituted by an intersection of different legal orders, that is, by interlegality.“ (Santos 1995: 437)

Die sozioökonomische und räumliche Ungleichverteilung von Rechten ist also in vielfältiger Weise verankert, sei es durch eine differenzierte Gesetzgebung, durch ökonomische Strukturen wie das Recht auf Boden oder durch historisch hervorgebrachte Wertemodelle. Diese Debatte lässt sich einbetten in ein Plädoyer für ein umfassendes Verständnis von Bürgerschaft, das bestimmte Rechte, beispielsweise im Sinne des Rechts auf Stadt, nicht an die Staatsbürgerschaft koppelt (vgl. Purcell 2003; Butler 2009). Eine solche „urbane Bürgerschaft“ wird vielfach eingefordert:

88 | P ROTESTBEWEGUNGEN UND S TADTPOLITIK „By urban citizenship, I mean a citizenship that refers to the city as its public sphere and to right-claims addressing urban practices as its substance – claims concerning residence, neighborhood life, infrastructure, transportation, consumption, and so forth.“ (Holston 2009: 21)4

Mit der sozialräumlichen Positionalität von Subjekten sind im Allgemeinen ungleiche Möglichkeiten der individuellen Einflussnahme verbunden. Dies ist für den Verlauf sozialer Auseinandersetzungen mit Blick auf die Verfügbarkeit von Ressourcen und den Zugang zu Technologien von besonderer Bedeutung (vgl. Leitner/Sheppard/Sziarto 2008). Die unterschiedlichen Identitäten, Interessen und Vorstellungen der Akteur*innen stellen Bündnisse zwischen sozialen Bewegungen vor besondere Herausforderungen und bergen gewisse Konfliktpotenziale. So verweist Routledge (2003: 344) auf Unstimmigkeiten innerhalb von transnationalen Bewegungsnetzwerken, wenn die Ressourcen der beteiligten Aktivist*innen stark differieren (vgl. auch Della Porta/Tarrow 2005). Daneben beeinträchtigt die unterschiedliche Ressourcenverfügbarkeit das Einflussvermögen von Bewegungen in Stadtteilkonflikten. Um diesen Aspekt sozialräumlicher Positionalität zu vertiefen und eine differenzierte Betrachtung von Ressourcen der Bewegungsakteur*innen zu ermöglichen, ist die Berücksichtigung von Bourdieus Kapitalien hilfreich. Denn dadurch lassen sich gerade die klassenbezogenen Faktoren, die die soziale Situiertheit beeinflussen, weiter ausdifferenzieren (vgl. Adkins/Skeggs 2005). Diese Kapitalien entscheiden über die Positionierung von Individuen im sozialen Raum. Nach Bourdieu (1983) lassen sich vier Kapitalarten unterscheiden: Ökonomisches Kapital, das materielle und zeitliche Ressourcen umfasst, soziales Kapital, das sich auf Qualität und Umfang von Netzwerken bezieht, kulturelles Kapital, d.h. insbesondere Bildung und Wissen sowie symbolisches Kapital oder Prestige. Gruppen mit höherer Kapitalausstattung sind eher in der Lage, räumliche Distanzen zu überwinden und sich mit Kommunikationstechnologien auszustatten. Außerdem lassen sich mithilfe des verfügbaren kulturellen Kapitals kulturelle und sprachliche Barrieren überwinden. Stehen hingegen weniger Ressourcen zur Verfügung, ist von einer geringeren physischen und virtuellen Mobilität 4

Außerdem verweist Holston (2009) darauf, dass die in der Bewegungsforschung oft noch vorzufindende normative Einordnung von widerständigen Gruppen nicht zielführend ist (vgl. dazu auch Zibechi 2011, Auyero 2010). Stattdessen diskutiert er mit Blick auf die Praktiken von Gangs, die in Brasilien teilweise einen alternativen Staat darstellen, die Entwicklung einer „aufständischen Bürgerschaft“ (insurgent citizenship). Dabei beobachtet er die Zunahme von „counter-politics that destabilizes the dominant regime of citizenship, renders it vulnerable, and defamiliarizes the coherence with which it usually presents itself to us “ (Holston 2009: 15).

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der Aktivist*innen auszugehen. Differenzen lassen sich daher nicht so einfach überbrücken, und Partnerschaften sind unwahrscheinlicher. Die knappen Ressourcen werden eher auf die Stärkung lokaler Verknüpfungen konzentriert. Es besteht also ein gewisser Zusammenhang zwischen Ressourcen und sozialer und räumlicher Mobilität. Kurz: die sozialräumliche Positionalität beeinflusst die Verhältnisse zwischen Bewegungsakteur*innen sowie das Auftreten der Bewegung(en) gegenüber staatlichen Akteur*innen und der Öffentlichkeit. Abschließend ist noch einmal das transformative Potenzial von Subjekten in sozialen Bewegungen hervorzuheben (vgl. Leitner/Sheppard/Sziarto 2008). Durch den Austausch innerhalb von Bewegungen und mit Aktivist*innen anderer Gruppierungen sowie Erfahrungen in Konflikten wird neues Wissen generiert; Interessen, Positionen und Vorgehensweisen können sich permanent weiterentwickeln. So können neue Bündnisse möglich werden, aber auch neue Konfliktpunkte aufkommen. Für die Fallstudien dieser Arbeit erweisen sich im Zuge der Konfliktaustragung insbesondere die Wissensaneignung der Akteur*innen und damit verbundene emanzipatorische Effekte von besonderer Bedeutung (vgl. Tironi 2013). Allerdings bedingen andere Kapitalien, ob neues Wissen generiert werden kann und inwieweit dieses auf Gehör in den Öffentlichkeit stößt.

D IMENSIONEN

RAUMBEZOGENER

P OLITIK

Im Zuge urbaner Konflikte wird angenommen, dass Räumlichkeiten sowohl in Form von Strategien zum Einsatz kommen als auch über strukturierende Eigenschaften verfügen. Außerdem unterliegen sie selbst Aushandlungsdynamiken und verändern sich. Im Folgenden wird eine analytisch isolierte Darstellung von skalen-, orts- und netzwerkbezogenen Räumlichkeiten angestrebt. Aufgrund von Überlappungen, lässt sich diese allerdings nicht stringent einhalten. Politics of scale Der Ansatz der politics of scale ist in der angelsächsischen Debatte der radical geography verankert. Nach Arbeiten von Peter Taylor und Neil Smith werden insbesondere seit den 1990er Jahren politische Inhalte und die räumliche Maßstäblichkeit von sozialen Prozessen zunehmend kritisch hinterfragt (Wissen 2008; Jessop 2005). Nach Smith (1992) sind die lokale, nationale und globale Maßstabsebene ein Produkt der dem Kapitalismus innewohnenden Dialektik von Angleichung und Differenz. Später wurde die scale-Debatte hinsichtlich mehrerer Aspekte erweitert, und es rückten soziale Kämpfe als Moment der Produktion

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räumlicher Ebenen in den Mittelpunkt des Interesses. Lange Zeit konzentrierte sich die Debatte um räumliche Maßstäblichkeiten auf geographische Dimensionen, also ebenenbezogene Artikulationen politischer Praxis. Inzwischen werden Skalen zunehmend als von Akteur*innen geschaffene Konstrukte angesehen. Der zentrale Ausgangspunkt der politics of scale ist also, dass Skalen sozial konstruiert sind (Brenner 2004; Smith 1992; Agnew 1994): „Die räumlichen Maßstäbe selbst werden als Gegenstand und Ergebnis sozialer Praktiken, mithin als gesellschaftlich produziert, konzeptualisiert“ (Wissen 2008: 19). In der Forschung richtet sich der Fokus auf die Untersuchung der Ausdrucksformen zwischen unterschiedlichen Skalen und ihre relationale Einbettung in soziale Arrangements (vgl. Delaney/Leitner 1997; Massey 2004). Analytisch lassen sich Skalen fassen als „relational, power-laden and contested construction that actors strategically engage with, in order to legitimise or challenge existing power relations“ (Leitner/Sheppard/Sziarto 2008: 159). Von besonderer Bedeutung ist also die Relativität und Reflexivität räumlicher Maßstäblichkeit, d.h. Skalen müssen im Verhältnis zueinander verstanden werden (vgl. Mamadouh/ Kramsch/Van der Velde 2004). Erst so entstehen sie. Daher ist es nicht sinnvoll, politisch-territoriale Ebenen voneinander abzugrenzen. Folglich sind Ebenen als Positionen innerhalb einer Skalen-Hierarchie zu analysieren. In diesem Sinne kann die Skalen-Debatte als Erweiterung von Lefebvres Konzept der Produktion von Raum in Bezug auf eine bestimmte Raumdimension begriffen werden (Wissen 2008: 19). Damit richtet sich die scale-Debatte auch gegen das statische Verständnis von räumlichen Maßstabsebenen der (Multi-level) Governance-Konzeption, in der die räumlich-institutionellen Veränderungen von Staatlichkeit im Mittelpunkt stehen. Dort werden Maßstabsebenen meist als gegeben betrachtet und in ihrer Interaktion und ihren Wirkungen untersucht, anstatt die konfliktgeprägten Prozesse ihrer Produktion zu analysieren (vgl. Brand 2008; Brenner 2004). Überdies erlaubt der scale-Ansatz im Gegensatz zum Konzept der Governance eine Betrachtung über ein spezifisches Politikfeld hinaus. Somit lassen sich übergreifende gesellschaftliche Transformationsprozesse berücksichtigen (vgl. Jessop 2004). Der Wandel der räumlichen Maßstäblichkeit sozialer Prozesse, der im Wesentlichen – so die Annahme – durch Macht und Herrschaft gesteuert wird, ist ein wichtiger Aspekt globaler ökonomischer Reorganisationsprozesse (Wissen 2008). Demzufolge sind Nationalstaaten als sozial konstruierte Einheiten zu verstehen, die durch politische Aushandlungen geschaffen werden. Diese sind stetigen Veränderungen unterworfen. Damit wird also die Selbstverständlichkeit von Nationalstaaten hinterfragt und eine uniskalare bzw. nationale Zentriertheit abge-

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lehnt (vgl. Heeg 2008). Brenner (2004) spricht hierbei von einem „methodologischen Nationalismus“. Vertreter*innen des Skalenansatzes fordern in der Konsequenz eine multiskalare Perspektive. Diese beinhaltet, dass die nationale Ebene nicht mehr als gegeben betrachtet wird, und die räumliche Maßstäblichkeit ein prozesshaftes Verständnis kennzeichnet (Swyngedouw 2004: 26). Bezüglich einiger Elemente des scale-Konzeptes herrscht Uneinigkeit in der wissenschaftlichen Debatte. So wird betont, dass die Vertikalität sozialer Beziehungen nicht mit einer Rangordnung gleichgesetzt werden darf, d.h. höhere Skalen dominieren nicht automatisch die Machthierarchien. Gerade von Poststrukturalist*innen und Vertreter*innen der feministischen Theorie wird diese Annahme vielfach kritisiert (vgl. Marston/Jones/Woodward 2005). Alltagspraktiken und ihr emanzipatorisches Potenzial können in dem Konzept nur erfasst werden, wenn Annahmen einer Skalenhierarchie ausgeblendet werden (vgl. Leitner/Miller 2007). Weitere Diskussionsfelder um strukturierende und prozesshafte Dimensionen verdeutlichen aber, dass eine Verbindung von Perspektiven der Debatte um scales und um Governance von Vorteil sein kann (vgl. Wissen 2008: 20f.). Während etwa aus Perspektive der place-Theorie, die die offene und heterogene Natur von Orten hervorhebt (Massey 2005: 141), die methodologische Verdinglichung von räumlichen Maßstabsebenen als räumlich abgegrenzte Einheiten kritisiert, kommt dieses Verständnis in der staatszentrierten Governance-Debatte immer wieder zum Ausdruck. Eine resolute Ablehnung abgegrenzter Einheiten hat jedoch den Nachteil, dass die strukturierende Wirkung von Skalen vernachlässigt wird, wenn sich der Fokus allein auf das scaling als Prozess vertikaler Differenzierung richtet. Beispielsweise erachten die sozialen Bewegungen und andere Gruppen, die in die Fallkonflikte dieses Buchs involviert sind, die Rolle von Skalen oft als gegeben. Dieses Verhältnis wird insbesondere auch im Kontext der räumlichen Maßstäblichkeit von natürlichen Prozessen und der Wissensdimension diskutiert (Bernt/Görg 2008). Während einerseits Autor*innen auf die umfassende soziale Produktion von Ebenen bestehen, betonen andere die fixierte Existenz von naturräumlichen Governance-Ebenen – insbesondere in der natürlichen Umwelt, aber auch im urbanen Raum durch bestehende Infrastrukturen. Diese stehen in einem Spannungsverhältnis zur gesellschaftlichen Produktion von Raum. Denn materiell-stoffliche Bedingungen sind nicht einfach gegeben, sondern wurden gesellschaftlich produziert (vgl. Görg 2007). Skalare Handlungsstrategien Innerhalb der scale-Debatte wird immer wieder auf die Relevanz von Struktur und Handeln hingewiesen (Mahon/Keil 2008). Damit ist gemeint, dass sich

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Analysen einerseits auf die strukturellen Kräfte konzentrieren, die ein rescaling, also die räumlich-gesellschaftliche Redimensionierung von Skalen, vorantreiben (vgl. Jessop 2005; Brenner 2004). Andererseits setzen Autor*innen den Fokus auf soziale Bewegungen und ihre „interskalaren“ Handlungsstrategien (Herod 1997; Miller 2000). Die letztere Dimension ist für die vorliegende Arbeit von besonderer Bedeutung. Das heißt allerdings nicht, dass die raumstrukturierende Dimension von Skalen außer Acht gelassen werden darf. Hinsichtlich dieser Strategien lassen sich einige Aspekte identifizieren, wie politics of scale im Rahmen von contentious politics angewendet werden (vgl. Janoschka 2009; Leitner/Sheppard/Sziarto 2008). Dabei beziehen sich politics of scale generell auf die strategische Nutzung von (neuen) Skalen für die Politikziele der betroffenen sozialen Gruppen. Vor dem Hintergrund der Fragestellung sind in dieser Arbeit insbesondere die politics of scale sozialer Bewegungen und anderer Protestgruppen von Interesse. Gleichzeitig gilt es aber auch, die politics of scale staatlicher Akteur*innen zu berücksichtigen. Zunächst befinden sich die Adressat*innen von Forderungen auf verschiedenen räumlichen Skalen. Soziale Bewegungen engagieren sich gegen miteinander verflochtene staatliche Institutionen auf unterschiedlichen skalaren Ebenen. Auch in den Fallstudien dieser Arbeit spielen sowohl kommunale, städtische bzw. regionale, als auch nationale und teils internationale Akteur*innen eine einflussreiche Rolle. Durch solche Interaktionsdynamiken wandelt sich die relative Bedeutung von Skalen, und neue Skalen können entstehen (Leitner/Sheppard/ Sziarto 2008). Darüber hinaus werden ganz bewusst multiskalare Handlungsmuster angewendet. Protest erlangt entscheidende Stärke durch simultanes Handeln auf lokaler bis globaler Ebene (Mayer 2008a). Zentral ist, so Mahon und Keil (2008: 52), „dass die emanzipatorischen Kämpfe notwendigerweise die Anfechtung, manchmal auch die Ausnutzung skalarer Anordnungen mit sich bringen“. Strategisch richtet sich der Handlungsfokus auf bestimmte Ebenen. Gegebenenfalls werden im Sinne des von Smith (1992) formulierten scale jumpings, das den strategischen Sprung von Akteur*innen zwischen Ebenen – etwa von der lokalen zur (supra-)nationalen Ebene – umschreibt, Maßstäblichkeiten übersprungen. Denn das Durchschreiten von Skalen kann dazu beitragen, Restriktionen durch lokale Gebundenheit zu überwinden, zum Beispiel lokale Proteste in Form von Demonstrationen, Gemeinderatssitzungen, Unterschriftensammlungen, Referenden und regionale Versammlungen. Diese politics of scale treten meist gepaart mit politics of networks auf. In diesem Zusammenhang verweist Heeg (2008) auf den teilweise hohen Einfluss von NGOs, wenn sie die Verbindung von Skalen und die Artikulation zwischen Skalen ausschöpfen: „Scale-Einheiten, die in der

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räumlichen Ordnung jenseits des jeweils analysierten Scale-Rahmens liegen, [sind] Teil der Bestimmung derselben“ (Heeg 2008: 253). Andere Autor*innen betonen gerade für Lateinamerika hingegen die Bedeutung von explizit lokalen Strategien. Ausgehend von ortsgebundenen kulturellen und ökonomischen Praktiken verweist unter anderem Escobar (2001) darauf, wie die Stärkung des Lokalen zu alternativen skalenbezogenen Visionen verhelfen kann (vgl. auch Zibechi 2011). An dieser Stelle zeigt sich zudem die Überlappung von Räumlichkeiten, wie scale, place und territory. Entsprechend lassen sich auch interskalare Steuerungsmechanismen seitens des Staates identifizieren. Wie die dual state hypothesis von Saunders (1981) zeigt, kann eine Aufgabenteilung zwischen lokaler und nationaler Ebene – durch Sozialpolitiken einerseits und Wirtschaftspolitiken andererseits – dazu führen, dass soziale Bewegungen auf lokaler Ebene verhaftet bleiben. Außerdem kann Kooptierung verhindern, dass Mobilisierungen über partikulare und lokale Interessen hinausgehen, indem Bewegungen in lokale Institutionen eingebunden werden (Greaves 2005: 201; Mayer 2008b: 305f.; Svampa/Pereyra 2009: 235ff). Die damit verknüpfte Abhängigkeit von lokalen Regierungen erschwert es, dass sich Aktivist*innen mit anderen Gruppierungen über Sektoren und Skalen hinweg vernetzen. Folglich bleiben die Organisationen auf lokaler Ebene eingeschlossen. Umgekehrt sind auch staatliche Strategien denkbar, die Bewegungen mithilfe von bestimmten Anreizen, wie finanziellen Ressourcen, auf die nationale oder globale Ebenen verlagern. Kooptierung kann also eine erhebliche Schwächung von sozialen Bewegungen bewirken, und wie soeben skizziert, äußert sich dieses Einbüßen von Macht häufig in Form von skalaren Effekten. Die Interskalarität gilt in gleicher Weise für die Rahmungsstrategien der Akteur*innen. Die für die Protestlegitimierung erforderlichen Rahmungen richten sich an unterschiedliche skalare Öffentlichkeiten. Diskursiv werden Probleme, Ziele und Lösungen identifiziert. In allen diskutierten Konfliktfällen sind Probleme zunächst verbunden mit bestimmten Orten und werden lokal empfunden. Wer wird angegriffen? In welcher Weise legitimieren sich die unterschiedlichen maßstäblichen Rahmungen gegenseitig? Initiativen in Buenos Aires bringen beispielsweise häufig die nationale oder auch internationale Bedeutung von architektonischem Erbe an. Dies gilt in gleicher Weise für andere involvierte Akteur*innen. So argumentieren Akteur*innen der Exekutive in oft umgekehrter Manier, dass ein Thema von nur lokaler und damit unzureichender Bedeutung sei. Nicht selten sind hier auch nationalistische und rassistische Äußerungen seitens politischer Entscheidungsträger*innen zu beobachten. Schließlich wird auf die mögliche Koexistenz konflikthafter skalarer Rahmungen und Handlungen innerhalb von Netzwerken sozialer Bewegungen verwiesen – eine Herausforde-

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rung, mit der die Erforschung von contentious politics umgehen muss (Leitner/ Sheppard/Sziarto 2008: 160). Auch hier wird die Notwendigkeit deutlich, für die Analyse der politics of scale die Diskurse zu untersuchen, in denen soziale Tatsachen ausgehandelt werden (vgl. dazu Kapitel 4). Denn verweisen Akteur*innen auf bestimmte Skalen, wie globale oder lokale Probleme, handelt es sich um eine „politische Strategie mit realen Konsequenzen“ (Füller/Michel 2008: 161). Politics of place Konzeptionen von place zählen ebenfalls zu den am häufigsten diskutierten Dimensionen von Räumlichkeiten – generell, aber auch im Kontext von contentious politics. Wie in der Debatte um scales haben auch hier ein sozialkonstruktivistisches Verständnis und damit relationale Betrachtungsweisen an Bedeutung gewonnen, die „Orte als gleichzeitig bedeutungsgeladene und machtvolle Diskurse wahrnehmen“ (Janoschka 2009: 78). Bei places handelt es sich um gelebte Orte, die als relational verfasste Prozesse verstanden werden können und Ausdruck vielfältiger (Macht geladener) sozialer Beziehungen sind (Massey 1994). Wichtig ist insbesondere, dass place nicht mit dem Lokalen gleichzusetzen ist, d.h. „[p]laces are where social relations are bundled or ,condensed‘, regardless of the territorial extent of those relations“ (Nicholls/Miller/Beaumont 2013a: 4). Diesen Aspekt hat insbesondere Massey (1994) herausgearbeitet und sich etwa der Frage gewidmet, wie soziale Bewegungen Einfluss auf lokale Merkmale ausüben und gleichzeitig einen globalen sense of place kreieren. Entsprechend lassen sich auch Städte und Regionen als sozial geschaffene, interdependente und temporäre places verstehen: „[T]emporary placements of ever moving material and immanent geographies, as , hauntings‘ of things that have moved on but left their mark [...], as situated moments in distanciated networks, as contoured products of the networks that cross a given place. The sum is cities and regions without prescribed or proscribed boundaries.“ (Amin 2004: 34)

In diesem Kontext spielen auch verschiedene Materialitäten eine Rolle, die sich auf die Produktion von places auswirken. Damit gemeint sind umweltbedingte, historisch geschaffene materielle Strukturen wie Straßen, Zäune und öffentliche Räume, die soziale Beziehungen lenken (Leitner/Sheppard/Sziarto 2008: 161). Im Rahmen der Debatte um places wird aber auch die besondere Bedeutung der lokalen Ebene hervorgehoben. Diese kann sich in der Realität wiederum mit der territorialen Ebene überlappen. So verweist Agnew (2011) in seiner Konzeption von place auf drei zentrale Elemente. Demnach sind places erstens als

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Standorte (locations) zu verstehen, d.h. hier werden politische und ökonomische Prozesse verhandelt. Zweitens handelt es sich bei places um Schauplätze (locales). Hier entstehen interaktive soziale und organisatorische Beziehungen, um lokale Antworten auf globale Prozesse zu liefern. Und drittens betont er den sense of place, d.h. hier werden räumliche, sinnstiftende Bedeutungen geschaffen. Diese sind unter anderem für die Generierung von Frames von Bedeutung. In ähnlicher Weise wie für skalare Ansätze lassen sich verschiedene Nuancen in der Debatte um place ausfindig machen. So stehen Vertreter*innen einer reduktionistischen Raumperspektive der Bedeutung des Lokalen für die Generierung von Solidarität und gemeinsamen politischen Vorstellungen kritisch gegenüber, die aus territorialer Perspektive hervorgehoben wird. Denn physische Kopräsenz führe noch lange nicht automatisch zu geteilten Ideen und gegenseitiger Solidarität (Amin 2004; Amin/Thrift 2002; Massey 2005). Massey (2004) spricht in diesem Zusammenhang außerdem von einer politics of nostalgia. Des Weiteren wird im Rahmen der politics of place von sozialen Bewegungen häufig der Gebrauch binärer Dialektiken bemängelt. So kritisiert insbesondere Doreen Massey (ebd.) die räumliche Binarität zwischen place und space, Raum existiere nicht unabhängig von gelebten Orten. Ebenso bezieht sich Featherstone (2003) auf die in der politischen Geographie vorherrschenden räumlichen Binaritäten des Globalen und Lokalen. Diese als problematisch zu erachtende dichotome global-lokale Sichtweise ist gerade in der Stadtforschung häufig gegenwärtig. Dadurch werden nach Featherstone (ebd.) zum einen reaktionäre lokale oder nationale Einforderungen von Macht verstärkt, da lokale Beziehungen über andere gestellt werden. Zum anderen würden Interessen und Identitäten an vermeintlich essenzielle Orte gebunden. Pickerill und Chatterton (2006: 735f.) betonen in ihrem Konzept der autonomen Geographien, dass immer vielfältige Strategien des Widerstands angewendet werden, die sich nie nur auf die lokale oder die globale Ebene beziehen: „To suggest that resistance is either local or global closes us to the creative interconnections that fuel resistance movements, being facilitated through numerous flows (speaker tours, visits and exchanges between activists, conferences, meetings and convergence gatherings, or information from the internet, zines and magazines).“ (Pickerill/Chatterton 2006: 736)

Ferner sehen sich Bewegungen mit der Kritik konfrontiert, dass durch eine lokale Strategie keine („wirklichen“) Veränderungen erzielt werden könnten, da grundlegende gesellschaftliche Strukturen nicht ernsthaft in Frage gestellt würden (Bauman 2002; Geiger 2010). Dem entgegnet Featherstone (2005), dass au-

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tonome Projekte nie nur im Hier und Jetzt zu sehen sind. Lokale militant particularisms seien immer das Ergebnis einer Kombination mit extra-lokalen Beziehungen und Widerständen. Der von Raymond Williams (1989) geprägte Begriff des militant particularism besagt, dass alle lokalen Auseinandersetzungen ihren Ursprung an einem bestimmten Ort mit bestimmten Leuten zu einem bestimmten Zeitpunkt haben. Die Art und Weise der Territorialisierung der Piqueteros im Zuge der argentinischen Wirtschaftskrise beschreibt Souza (2006: 329) beispielsweise als unbeschränkten, genuinen militant particularism mit einer aufrührerischen Raumproduktion von hohem Bedeutungsgehalt. Auch Chatterton distanziert sich davon, militant particularism als ausschließende, standortgebundene Politik zu fassen. Autonome Bewegungen – hier fügt sich auch die MPL in Peñalolén ein – zeichnen sich beispielswiese im lokalen Kampf gegen Hunger und Arbeitslosigkeit durch militant particularism aus. Gleichzeitig lässt sich aber von einem „militant universalism” sprechen, wenn es um die Befürwortung einer uneingeschränkten Ausbreitung radikal autonomer Projekte geht. Chatterton (2005: 546) identifiziert eine spezifische Ortsautonomie von lose vernetzten, in bestimmten Stadtvierteln lokalisierten, autonomen Bewegungen: „Such place autonomy [...] is complex, relational, pragmatic and selective, representing both an opening and closure to the outside world and perhaps a militant pluriversalism." (Chatterton 2005: 546) Demnach wirken sich lokale politics of place nicht nur auf die lokale Ebene aus. So wehren sich Pickerill und Chatterton (2006: 736) dagegen, dass eine Politik autonomer Geographien ein lineares Voranschreiten in Richtung einer ortsgebundenen Utopie bedeutet. Stattdessen sei damit verbunden, Koexistenz, Verhandlungen und Konflikte anzuerkennen. Diese Einschränkungen im Falle einer dichotomen Sichtweise zeigen sich auch anhand der Fallbeispiele in diesem Buch. Selbst wenn ein lokales oder territoriales Interesse im Mittelpunkt der behandelten Auseinandersetzungen steht, beschränken sich weder die Strategien noch die räumlichen Effekte auf die lokale Ebene. Ergänzend möchte ich hier betonen, dass diese Annahme grundsätzlich auch für Bewegungen der Mittelschicht zu berücksichtigen ist. Diesen wird häufig ein ausschließlich standortbezogenes NIMBY-Interesse unterstellt, wohingegen ressourcenarme soziale Bewegungen automatisch Assoziationen einer Politisierung hervorrufen. Aus diesem Grund erscheint die differenzierte Betrachtung, die Nicholls (2009) vorschlägt, zumindest für die vorliegende Arbeit, von besonderem Nutzen: Er plädiert für ein weniger radikales Verständnis von place (vgl. auch Nicholls/Miller/Beaumont 2013b) und kritisiert, dass der radikale Reduktionismus verschiedener Autor*innen zu weit gehe und dadurch die jeweiligen Besonderheiten von place und space verschwimmen:

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„Space is made up of a variety of places but the mechanisms linking these places together produce a space with dynamics and properties that are qualitatively different from the properties of its constitutive places.“ (Nicholls 2009: 82)

In diesem Zusammenhang arbeitet Nicholls (2009) auch die Besonderheiten des territorialen und des relationalen Verständnisses von place heraus und verweist auf deren jeweilige Bedeutung für die politics of networks von sozialen Bewegungen. Konkret werden an physischen Standorten erstens soziologische Attribute (wie Schicht oder Gender) in entscheidende politische Werte und Interessen übersetzt. Zweitens werden dort relationale und kognitive Zuschreibungen wie Vertrauen und Loyalität verfügbar gemacht, die den Zusammenhalt und das WirGefühl kollektiver Akteur*innen stärken. Und drittens erleichtert die an physischen Standorten anzunehmende nachbarschaftliche Solidarität kollektives Handeln. Gleichzeitig besteht jedoch die Gefahr von Verschlüssen der Bewegung nach außen (vgl. Harvey 2001). Relationale places sind hingegen erstens die Voraussetzungen für Kontakt. Zweitens lassen sich mithilfe der damit verbundenen Interaktionen Machtbeziehungen stärken oder dekonstruieren. Und drittens entstehen räumlich verankerte Aktivistennetzwerke durch ihren weiteren Raum sozialer Bewegungen (vgl. weiter unten politics of networks). Ortsbezogene Handlungsstrategien Generell ermöglichen places Begegnungen, um soziale Beziehungen zwischen Aktivist*innen aufzubauen. Soziale Organisationen machen häufig Gebrauch von politics of place, indem sie versuchen, die Bedeutungszuschreibungen, insbesondere von umkämpften, symbolisch aufgeladenen Orten, entsprechend ihrer Interessen zu transformieren sowie durch bestimmte (auch diskursive) Praktiken neue Orte und Visionen zu kreieren (vgl. auch Martin 2013). Beispielsweise okkupiert die soziale Bewegung Movimiento de Pobladores en Lucha (Bewegung der Siedler*innen im Kampf, MPL) in der Kommune Peñalolén, Santiago öffentliche Räume, wie die Unterführung der S-Bahnstation, die sozusagen den „Eingang“ nach Peñalolén darstellt, mit wechselnden Bannern (vgl. Foto 3, Kapitel 9). Des Weiteren greifen Bewegungen in ihrem Handeln auf die spezifische Symbolik von Orten und Zeiten zurück. In diesem Kontext verweist Janoschka (2009: 79) darauf, dass für Protestaktionen geographische Orte sowie Termine gewählt werden, mit denen die Mehrheitsgesellschaft eine bestimmte Bedeutung verbindet. Die NGO Basta de Demoler (Schluss mit dem Abreißen) achtet bei ihren Aktionen in Buenos Aires zum Beispiel genau darauf, solche symbolisch aufgeladenen Orte auszuwählen.

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In diesem Zusammenhang betonen Pickerill und Chatterton (2006) die sozialräumliche und zeitliche Strategie zwischen der lokalen und der globalen Ebene als Merkmal autonomer Geographien. Dabei bezieht sich das Zeitliche unter anderem auf das gemeinsame Erinnern von Kämpfen und den temporären Charakter von erkämpften Autonomien (vgl. auch Featherstone 2005). Auf diese Weise können sich widerständige Praktiken wiederholen, wenn kollektive Fakten geschaffen wurden, also eine „symbolische Belagerung“ bestehen bleibt (Zibechi 2011: 105). Als eindrückliches Beispiel hierfür benennt Regalsky (2008: 21) die Proteste um die Wasserprivatisierung in La Paz / Bolivien von 2003 bis 2005. Dies weckt auch Assoziationen zu Lefebvres (1991) Repräsentationsräumen, womit Lefebvre auf den Zusammenhang von kollektivem Gedächtnis und physischem Raum aufmerksam macht. Aber auch umgekehrt lässt sich in den Fallanalysen feststellen, dass der Staat Handlungen in gewisser Weise auf „unsichtbare“ Orte (z.B. die Justiz) verlagert und damit erreicht, dass das öffentliche Interesse an einem Thema nachlässt. Diskutiert wird des Weiteren die Kanalisierung von Protesten und die Verteilung oder Ablenkung von sozialen Bewegungen auf verschiedene, neugeschaffene Orte, beispielsweise kontrollierbare kommunale Institutionen. Aber denkbar ist auch die permanente Kontrolle von Orten, wo möglicherweise systemfeindliche Bewegungen agieren und entstehen könnten (vgl. Nicholls/Miller/Beaumont 2013b). An dieser Stelle wird auch die Überlappung von place und scale deutlich, wenn man an interskalare Steuerungsmechanismen durch den Staat denkt. Politics of territory Auch wenn im Zuge der Debatte um ein relationales und ein territoriales bzw. essentialistisches Verständnis von place soeben bereits einige territoriale Merkmale angesprochen wurden, soll auf die territoriale Dimension kurz gesondert verwiesen werden, ohne auf die nicht unkomplizierten Besonderheiten dieser Kategorie einzugehen. Gerade für die untersuchten Konfliktfälle dieser Studie ist diese Ebene relevant. Denn die fokussierten Auseinandersetzungen auf Quartiersebene drehen sich mehrheitlich um die Verteidigung bestimmter geographischer Orte. In ihrer jeweiligen Logik trifft dies sowohl für Bewegungen der Mittelschicht zu, denen oft ein NIMBY-Interesse nachgesagt wird (vgl. z.B. Boudreau/Keil 2001), als auch auf soziale Bewegungen, die um ein Recht auf Wohnen und die Stadt kämpfen. In der Literatur fällt es vielfach schwer, die territoriale Ebene zu definieren. Allgemein schlägt Elden (2010) vor, von einem „abgegrenzten Raum“ zu sprechen und verweist aber auch auf territory als „politische Technologie“. Charakteristisch ist für politics of territory die damit ver-

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bundene gleichzeitig inkludierende und exkludierende Absicht, was sich auch in den Fallstudien dieser Arbeit abzeichnet. Mit Verweis auf die prekären Realitäten des Neoliberalismus, denen sich die Menschen ausgesetzt sehen, rechtfertigen gerade Gruppierungen aus dem globalen Süden den Wunsch nach einer ortsgebundenen und exklusiven politischen Autonomie (vgl. Escobar 2001). Im Zuge dessen erfahren das territoriale Konzept bzw. „sozio-territoriale“ Bewegungen in Lateinamerika in jüngerer Zeit große Popularität (vgl. Svampa/Pereyra 2009; Merklen 2010). Auch Zibechi (2011) betont die Verflechtung von territorialer Ebene und sozialen Beziehungen bzw. Konflikten: „Über die unablässige Destrukturierung der Territorien und ihre permanente Rekonfiguration können wir den betreffenden Konflikt in all seinen Dimensionen wahrnehmen, lokal und global, aber auch politisch und kulturell“ (Zibechi 2011: 86). Dieser Ansatz der Neuen Territorien geht über ein rein territoriales Raumverständnis weit hinaus. Politics of territory sind häufig verschränkt mit politics of place und politics of scale. Teilweise wird der Begriff synonym zu space verwendet. Neben place werden autonomiebezogene Elemente wie Selbstbestimmung und Selbstregierung einbezogen, die zusammen zur Emanzipation von sozialen Bewegungen beitragen sollen, weshalb auch die Rede von „emanzipatorischen Territorien“ ist (ebd.: 98) (vgl. Kapitel 4).5 Dies beinhaltet ferner die Aufforderung zur „Neuinterpretation“ von Orten, etwa von emanzipatorischen Orten an Stelle von marginalisierten Stadtteilen zu sprechen. Territoriale Handlungsstrategien Für die vorliegende Untersuchung möchte ich zwei Handlungsstrategien im Kontext von territory hervorheben. Dabei geht es zunächst um die Nutzung von territorialer Identität in den Rahmungen von Konflikten. Solche meist sehr einflussreichen räumlichen Frames (vgl. Elden 2010) werden in physisch mehr oder weniger abgegrenzten Territorien, zum Beispiel informellen Siedlungen, Landnahmen oder Gated Communities, genauso verwendet wie bei Auseinandersetzungen um Fragen der Identität einer administrativen Einheit (Kommune). Damit verbindet sich immer eine simultane Herstellung von Inklusion und Exklusion.

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Beispielsweise betont Zibechi (2011), dass die zu beobachtende intensivierte LandStadt-Wanderungsdynamik zu neuen Intensitäten hinsichtlich der Übernahme ländlicher Praktiken in der Stadt geführt hat. Diese Auflösung der Dichotomie Land-Stadt interpretiert er als Bruch der räumlichen Praktiken aus der Kolonialzeit. Hier bestehe Potenzial, durch kollektives Handeln komplementäre nicht-hierarchische Beziehungen zu entwickeln, was die Generierung autonomer Territorien befördern könne.

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Des Weiteren plädieren gerade sozio-territoriale Bewegungen für die Konstituierung von neuen Territorien durch Landnahmen und den Schutz besetzter Räume vor externer Kontrolle. Dabei wird davon ausgegangen, dass nur auf diese Weise neue „politische Subjekte“ generiert werden, also eine Emanzipierung erfolgt (Porto Gonçalves 2001). Denn da solche besetzten Territorien limitierten staatlichen Kontrollmöglichkeiten unterliegen, werde ermöglicht, neue Produktionsformen und autonome politische Praktiken zu erproben und somit ein selbstbestimmtes Leben zu führen (vgl. Merklen 2010).6 Idealerweise werden diese „territorialen Inseln“ vernetzt und dabei gleichzeitig ihre Eigenheiten bewahrt. Freilich sind Landnahmen – wie es sich in Argentinien beobachten lässt – aber in erster Linie eine Reaktion auf die herrschende Wohnungsnot und weniger ein politischer Akt. Politics of networks Netzwerke stellen schließlich das zentrale Repertoire von sozialen Bewegungen dar (Della Porta/Diani 2006). Im Unterschied zu den Dimensionen politics of place und politics of scale, die sich leichter analytisch abtrennen lassen, ist die isolierte Betrachtung von politics of networks eine (noch) größere Herausforderung. Als konstituierendes Moment von Machtbeziehungen, Orten und Räumlichkeiten sind Netzwerke stattdessen im Kontext von politics of place zu betrachten (Amin 2004) und werden konzeptuell oft in diesem Zusammenhang diskutiert (z.B. Nicholls 2009). Auf diese place-Einbettung wird auch in den folgenden Darlegungen zurückgegriffen. Des Weiteren zeichnet sich häufig eine Überlappung mit politics of scale ab. Viele Autor*innen betonen die Bedeutung bestimmter Dimensionen von Netzwerken. So verweisen jüngere geographische Arbeiten auf die Bedeutung translokaler Netzwerke zwischen einzelnen Aktivist*innen, Institutionen und Bewegungen, da sich Widerstände mithilfe solcher Netzwerke räumlich weniger eindämmen lassen (Featherstone 2005). Dabei wird von Versammlungen und konvergenten Räumen (Routledge 2003) Gebrauch gemacht, um die Vernetzung von Einzelnen und Gruppen zu ermöglichen und so Ideen und Taktiken zu teilen. Wie weiter oben dargestellt, sind andere Autor*innen der Meinung, dass ein globales Wirken nur über die Konzentration von Netzwerken auf die lokale Ebene zu erreichen ist. Sobald die Kräfte darauf verlagert werden, internationale Kooperationen herzustellen und gemeinsame Ziele zu definieren, würden die eigenen Intentionen aufgeweicht, und lokale Schwächung sei die Folge. Deshalb sei6

Auf diese Weise werden Enklaven wie Gated Communities auch als Räume interpretiert, wo die Armen die Reichen in die Enge getrieben haben (Zibechi 2011).

5 R AUMBEZÜGE VON

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en Aktionsfelder sozialer Bewegungen zu begrenzen, was auch beinhaltet, sich von Veranstaltungen abzuwenden und Einladungen zu Versammlungen etc. abzulehnen, also auf bestimmte überlokale Netzwerke zu verzichten (Zibechi 2010; Chatterton 2005). Hierbei handelt es sich auch um eine Reaktion auf die Kritik, dass solche Bewegungen unfähig seien sich zu vernetzen (vgl. Kapitel 4). Hinsichtlich der Materialität der Netzwerke und der dafür erforderlichen Technologien wird zunehmend die Bedeutung von Vernetzungen in Form von transversalen, topologischen oder rhizomatischen Verknüpfungen zwischen geographisch verstreuten Orten oder organisatorischen Einheiten hervorgehoben (Jessop/Brenner/Jones 2008; Purcell 2009b). Noch einen Schritt weiter geht Zibechi, wenn er die Rolle von „chaotischen“ Netzwerken hervorhebt (vgl. Kapitel 4). Während also für gewöhnlich ein einheitliches Auftreten von Bewegungen als notwendig erachtet wird oder wurde, um einer hegemonialen Ordnung etwas entgegen zu setzen (Castells 1983; Katznelson 1981), wird zunehmend auf alternative Formen von Netzwerken verwiesen. So veranschaulichen Nicholls und Arampatzi (2012) am Beispiel von Athen die Vorteile von Bewegungen mit komplexen Zielen und Interessen, die eine strategische horizontale und vertikale Fragmentierung verfolgen. Für den Aufbau und die Aufrechterhaltung von Netzwerken benötigen soziale Bewegungen eigene, alternative Kommunikationsnetzwerke, um Informationen austauschen und streuen zu können, aber auch um gemeinsame Strategien zu erarbeiten und Aufgaben zu koordinieren. Kommunikationsformen wie Blogs, Youtubem Newsletter, Facebook oder Twitter, die durch neue Technologien möglich geworden sind, haben die Verständigung von sozialen Bewegungen und anderen Organisation untereinander enorm erleichtert und unmittelbares Agieren ermöglicht. Gleichzeitig wurden dadurch aber auch neue Unsicherheiten generiert, sowohl nach innen, etwa durch reduzierte Verbindlichkeiten und eine Tendenz zu eher kurzlebigen Mobilisierungen, als auch nach außen durch gewachsene Möglichkeiten der Überwachung. Basierend auf dem oben skizzierten territorialen und relationalen Verständnis von place möchte ich hier mögliche netzwerkbezogene Differenzierungen ergänzen, die für die vorliegende Studie als besonders dienlich erachtet werden. Im Wesentlichen leitet Nicholls (2009: 82f.) anhand von Granovetters (1973) Typisierung von strong local ties und weak global ties verschiedene Funktionen von Netzwerken für soziale Bewegungen ab. Weak ties dienen der Zirkulation von Informationen sowie der Entwicklung von gemeinsamen Visionen und Frames hinsichtlich bestimmter Themen und identifizierter Problemlagen. Strong ties stellen hingegen die Grundlage für die Bildung von sozialem Kapital dar, d.h. Vertrauen, gemeinsame Normen und spezifische Frames (vgl. Tilly 2005). Nur

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so sind die Beteiligten bereit, ihre Ressourcen im Rahmen kollektiver Auseinandersetzungen zu riskieren. Dabei fördert place zwei komplementäre relationale Dynamiken für die Bildung von Netzwerken sozialer Bewegungen. Zunächst stärkt place aus einer territorialen Perspektive die Entstehung und Festigung von strong ties über lange Zeiträume: Auch wenn geographische Orte keine Voraussetzung für die Entstehung von starken Bindungen und Solidaritäten zwischen verschiedenen Aktivist*innen darstellen, zeichnen sie sich durch begünstigende Bedingungen aus: Räumliche Nähe erhöht die Gelegenheiten, sich zu vernetzen; vor allem ist es wahrscheinlicher, dass man sich mit ähnlichen – beispielsweise umweltbedingten, und damit lokal relevanten – Themen konfrontiert sieht. Außerdem ist anzunehmen, dass an einem Standort viele gemeinsame Bekanntschaften bestehen, die vermittelnde Funktionen übernehmen. Verbunden mit der häufigeren Gelegenheit der Begegnung ist eine Minderung des finanziellen Aufwands und der mit dem Aufbau neuer Partnerschaften verbundenen Risiken. Dies ist gerade für ressourcenarme Graswurzelorganisationen relevant, die sonst von einer Vernetzung absehen würden. Mit räumlicher Nähe ist geographische Stabilität verbunden, die die Etablierung von Kontakt und Austausch über lange Zeiträume erleichtert und so enge Cluster hervorbringen kann, umso mehr aufgrund der dadurch möglichen Face-to-Face Begegnungen (Coleman 2000). Dies bedeutet nicht, dass permanente Widerstandsgemeinschaften hervorgebracht werden, sondern das verankerte Sozialkapital – bzw. die gemeinsame Erinnerung – birgt ein Mobilisierungspotenzial, das bei Bedarf aktiviert werden kann. Außerdem fungiert es als Brücke zwischen Kampagnen und Protestzyklen (vgl. Nicholls 2009). Aus relationaler Perspektive ist des Weiteren eine Multiplizierung von Interaktionen durch multiple „Kontaktpunkte“ zu erwarten. Gerade solche Orte, so Nicholls‘ Annahme (2009), befördern die Herausbildung von weak ties. Basierend auf Amin und Thrifts (2002) Ausführungen zu contact points, können places als Orte mit diversen stabilen Kontaktpunkten (z.B. Schulen, ÖPNV) konzeptualisiert werden. Dadurch, dass es an solchen Orten zu kontinuierlichen Begegnungen zwischen unterschiedlichen Gruppierungen kommt, werden Interaktionen angekurbelt, was Amin und Thrift (2002) mit light institutionalism umschreiben. Diese offerieren den Aktivist*innen Möglichkeiten, um Kommunikationen zwischen unterschiedlichen Organisationen und Personen aufzubauen. Solche in der Regel wettbewerbsfreien und kontinuierlichen Begegnungen erleichtern es, Routinen entstehen zu lassen, Grenzen und Misstrauen abzubauen und die gegenseitige Akzeptanz zu erhöhen. Öffentliche Räume, Demonstrationen und Versammlungen könnten solche Kontaktpunkte sein. Dies ermöglicht nicht nur den Informationsaustausch, sondern auch die Generierung innovativer

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Ideen. Gespräche mit unterschiedlichen Aktivist*innen in Buenos Aires und Santiago untermauern diesen Aspekt. Meist wurde darin wohlwollend auf andere Bewegungen reagiert, auch wenn diese unterschiedliche Interessen verfolgen. Mithilfe dieser Ausdifferenzierung verweist Nicholls (2009) auf die Komplementarität von Netzwerkfunktionen und damit verbundene Dynamiken. Denn einerseits setzt eine möglichst hohe Mobilisierungskapazität die Existenz von besonders engen Banden voraus. Andererseits ist jedoch eine gewisse Offenheit erforderlich, um das innovative Potenzial der lokalen Bewegungs-Communities zu aktivieren. Nicholls führt weiter aus, dass Orte, an denen sich Aktivist*innen knotenförmig konzentrieren, von einem lose gefassten „social movement space“ (Massey 2005) zusammengehalten werden. Dabei hebt er hervor, dass der Prozess der Ansammlung von Aktivist*innenorten (activist places) zu einem sozialen Bewegungsraum neue relationale Dynamiken impliziert, die sich von denen individueller Orte stark unterscheiden. Diese differenzierte Darlegung der Materialität und der Funktionen von Netzwerken in einem social movement space stellt eventuell eine fruchtbare Ergänzung zum idealtypischen Verständnis von Laclau und Mouffe von sozialen Bewegungen als Äquivalenzketten dar (s. Kapitel 4). Sind soziale Bewegungen in Netzwerke multipler Funktionen eingebettet, lassen sich nicht nur besondere Dynamiken erwarten, sondern es scheint auch eher wahrscheinlich, dass Äquivalenzbeziehungen differenzierte und gleichzeitig äquivalente Interaktionen ermöglichen. In diesem Kapitel wurde versucht, eine umfassende Übersicht über die räumlichen Dimensionen zu liefern, die den Verlauf und die politischen Wirkungen von urbanen Konflikten in Lateinamerika beeinflussen. Diese analytisch isolierte Reinform von Räumlichkeiten finden wir in der Realität eigentlich nicht vor, weder als strukturierende Dimension noch als Strategie in contentious politics. Stattdessen durchdringen und überlappen sich Räumlichkeiten in unterschiedlicher Weise. Dabei lassen sich kaum generalisierende Aussagen darüber treffen, inwiefern bestimmte räumliche Merkmale und „Kombinationen“ von Räumlichkeiten in der Austragung von Konflikten eine besondere Rolle spielen. Außerdem erzeugen räumliche Dimensionen je nach Ort, Zeit und sonstigen Einflussfaktoren unterschiedliche Wirkungen. Es ist also auf eine kontextgerechte Interpretation von räumlichen Faktoren und Effekten zu achten.

6 Untersuchungsdesign

Für die empirischen Analysen in diesem Buch wurde eine ethnographische Forschungsstrategie gewählt. Der Ansatz zeichnet sich durch ein offenes Vorgehen aus. Dieses eignet sich in besonderer Weise für die Analyse von kollektivem Handeln und raumbezogenen politischen Wirkungen urbaner Konflikte, deren tatsächliche Wirkungsweisen sich im Vorfeld nicht vollständig einschätzen lassen (Tilly 1999). Außerdem zeichnen sich die vier Konfliktfälle durch unterschiedliche Konstellationen aus, und es war davon auszugehen, dass die jeweiligen Verläufe abweichenden Dynamiken unterliegen. Ethnographie zielt darauf ab, nachvollziehen zu können, wie Menschen die Welt alltäglich erfahren und einordnen (Crang/Cook 2007: 1). Mit Ethnographie als methodologischem Grundgerüst oder „sozialer Untersuchungsmethode“ verbinden sich eine offene Herangehensweise und die Flexibilität, unterschiedliche Erhebungsmethoden einzubeziehen. Dazu zählten in dieser Studie teilnehmende Beobachtung, Interviews und die Auswertung von verschiedenen Arten von Dokumenten, „in fact collecting whatever data are available to throw light on the issues with which he or she is concerned“ (Hammersley/Atkinson 2007: 2). In der Umsetzung wurde also eine Methodentriangulation (Flick 2012) verfolgt. „The basic purpose in using these methods is to understand parts of the world as they are experienced and understood in the everyday lives of people who actually live them out.“ (Crang/Cook 2007: 1)

K OMPARATIVES D ESIGN

UND

F ALLAUSWAHL

Der Vergleich von vier urbanen Konflikten stellt die zentrale Methode in diesem Buch dar. Das komparative Vorgehen diente dazu, Gemeinsamkeiten und Un-

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terschiede der Untersuchungsfälle hinsichtlich der Ursachen und Wirkungen der jeweiligen Konfliktverläufe zu erforschen. Gleichzeitig folge ich aber auch der Annahme, dass Stadtpolitik und räumlicher Widerstand neben lokalspezifischen Ausprägungen als reziproke Prozesse zu verstehen sind (vgl. Ward 2010). Somit waren zudem die Beziehungen zwischen den Fällen von Interesse, denn es handelt sich bei den Konflikten und ihren räumlichen Bezügen um keine isolierbaren Einheiten, aus denen sich Kausalitäten ableiten lassen. Auf diese Weise sollten auch globale Zusammenhänge zwischen den jeweiligen sozialen Bewegungen und den Ergebnissen der Konfliktfälle sowie in Relation zu Dynamiken an anderen Orten aufgedeckt werden. Die Auswahl der Fallbeispiele orientierte sich konzeptuell am most similar systems design bzw. dem most different systems design, zwei prominenten Strategien aus der vergleichenden Forschung (Anckar 2008). Diese beiden Modelle dienen dazu, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Analysefällen systematisch herauszuarbeiten. Hierfür wurde in einem ersten Schritt das Städtepaar Buenos Aires und Santiago und die beiden Konfliktfälle innerhalb beider Städte nach dem most similar systems design ausgewählt. Beide Metropolen teilen als Hauptstädte der zentralen Länder des Cono Sur eine Reihe von Charakteristika, unter anderem hinsichtlich der wirtschaftlichen Dynamik, der Stellung von Demokratie und Partizipation sowie der ausgeprägten sozialen und räumlichen Ungleichheit. Durch die internationale Gegenüberstellung und den Vergleich von Konflikten in einkommensschwachen und -starken Stadtteilen wurde aber auch mit starken Kontrasten entsprechend dem most different systems design gearbeitet. Zu den zentralen Unterschieden auf nationaler Ebene zählen insbesondere die politischen Verwaltungsstrukturen, der Umfang von Korruption und Armut sowie die städtische Partizipationskultur. Die konkrete Fallauswahl basierte, der ethnographischen Perspektive folgend, auf einer offenen Herangehensweise. Nach einer intensiven Beschäftigung mit den lokalen Gegebenheiten wurde auf Grundlage der folgenden Vorüberlegungen die Auswahl der Stadtentwicklungskonflikte vorgenommen: (1) Für das Vorhaben wurden Problemfelder von ähnlichem Stellenwert in den beiden Städten ausgewählt. Alle Fälle sollten in der öffentlichen Debatte präsent sein. Dieser Aspekt war relevanter als die Konfliktthematik selbst. (2) Es wurden Akteur*innen aus unterschiedlichen sozialen Klassen einbezogen, um Merkmale und insbesondere Effekte von existierenden (informellen) Partizipationsformen in Abhängigkeit vom sozioökonomischen Status abbilden zu können. (3) Aus methodischen Gründen wurden möglichst aktuelle Beispiele berücksichtigt. Dadurch ließen sich die Akteur*innen einfacher ausfindig machen, und teilweise konnten so bestimmte Erkenntnisse durch teilnehmende Beobachtung geprüft

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und ergänzt werden. Der Verlauf der empirischen Studie wurde durch diese Vorüberlegungen sowie die Eigendynamik des Untersuchungsfelds selbst gesteuert. Dies betrifft unter anderem den Zugang zum Feld sowie dort agierende soziale Gruppen und Schlüsselakteur*innen. Der entwickelte Analyserahmen (vgl. Tabelle 1) diente der strukturierten Analyse und Gegenüberstellung der vier Fallstudien in Hinblick auf die identifizierten Bedingungsebenen und räumlich-politischen Wirkungsdimensionen urbaner Konflikte. Die Struktur des Gerüsts ist angelehnt an Vorschläge aus der Bewegungsforschung, insbesondere von Rucht und Roth (2008: 653ff) (vgl. Kapitel 2). Konkret lassen sich vier Bedingungsebenen differenzieren: Konfliktauslöser, political opportunity structures, interne Bedingungen und Interaktionsdynamiken. Die Konfliktauslöser und political opportunity structures beziehen sich auf die skizzierten Arrangements der postpolitischen Stadt (vgl. Kapitel 3), die internen Bedingungen der Akteur*innen auf die erörterten Räumlichkeiten (vgl. Kapitel 5). Die Analyse der eng mit den Strategien und political opportunity structures verwobenen Interaktionsdynamiken bediente sich beiden Konzeptionen. Tabelle 1: Analyserahmen für räumlich-politische Wirkungen urbaner Konflikte Bedingungen der Wirkungen Konfliktauslöser • Von der Selbst- zur Fremdzurechnung (aktuelle Ereignisse, Ankündigungen von Planung / Politik) Political Opportunity • Globale ökonomische Restrukturierung • Politische Kultur (Elitennetzwerke, Technokratie, Structures Neopopulismus) • Planungskultur (Technokratie / Kommunikation) • Sozialpolitik und Kontrollmechanismen • Zivilgesellschaft / Trends der Bewegungsszenen Interne Bedingungen • Sozialräumliche Positionalität • Handlungsstrategien der Akteur*innen • Rahmungsstrategien Rückgriff auf politics of place, scale, networks, territory Interaktions• Zusammenspiel von Akteur*innen • Handlungs- und Rahmungsstrategien der Politik dynamiken Politische Wirkungsweisen / Diskursdynamiken Masterframes & • Übernahme / Verschiebung von Rahmungen Diskurskoalitionen Diskurspraktiken • Sozialräumliche Positionalität ( Emanzipation) • place, scale, networks, territory • Politische Praktiken der Regierungsebenen • Institutionelle Effekte • Justizialisierung

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Des Weiteren werden zwei Wirkungsdimensionen unterschieden. In diesen Dimensionen finden sich Elemente der Bedingungsebenen aus dem oberen Teil von Tabelle 1 wider. Um die politischen Wirkungsweisen aufzudecken, wurde ausgehend von Laclau und Mouffes Annahme der Unentscheidbarkeit und Unabschließbarkeit von Diskursen (vgl. Kapitel 4) die Verschiebung von – durch Diskurskoalitionen gebrauchte – Masterframes (dominierenden Rahmungen) und Diskurspraktiken (räumlich-politischen Praktiken) untersucht. Im nachfolgenden Abschnitt zur Rahmenanalyse werden diese beiden Kategorien hergeleitet und deren methodische Handhabung erläutert. Schließlich ist darauf zu verweisen, dass für eine detaillierte Diskussion der identifizierten Ebenen weitere Kategorien aus der Empirie induktiv abgeleitet wurden, so zum Beispiel aufgedeckte Praktiken der Justizialisierung.

R AHMENANALYSE In der Forschung lassen sich zwei Verständnisse des Framing-Ansatzes bzw. der Rahmenanalyse unterscheiden. Zunächst ist der diskurstheoretische Ansatz zu nennen, der seinen Ursprung in der Bewegungsforschung hat und dort besonders gebräuchlich ist (Benford/Snow 2000). Rahmungen oder Frames werden dabei als (eigenständige) Handlungsstrategien sozialer Gruppen betrachtet, wodurch politische Bedeutung konstruiert wird (Snow/Benford 1992). Daraus abgeleitet wird die Rahmenanalyse zweitens als sozialwissenschaftliche Methode der Diskursanalyse verwendet, wobei ich mich an Brand und Kolleg*innen (1997) orientiere. In diesem Buch dient die Rahmenanalyse vor allem als Methode, um zu rekonstruieren, wie die Akteur*innen in Konflikten Einfluss auf gängige politische Praktiken nehmen. Allerdings wird das Framing auch als eine von mehreren Handlungsstrategien berücksichtigt. Bevor ich das genaue methodische Vorgehen erläutere, komme ich zunächst auf den theoretischen Ansatz zu sprechen Rahmenanalyse als theoretischer Ansatz Der Ansatz der Rahmenanalyse erklärt, wie politische Realität durch Diskurse definiert wird (Donati 2011). Diskurse werden dabei nach Foucault als sprachliche und zeichenförmige Abbildung des Verständnisses der Wirklichkeit aufgefasst. Im Sinne der Hegemonietheorie (Laclau/Mouffe 2012) lässt sich das Framing als Strategie verstehen, wie Akteur*innen ihre Wahrnehmung der Realität kommunizieren und damit andere Gruppen ansprechen, z.B. indem sie sich auf ein kollektives Feindbild beziehen. Dabei lassen sich Frames hegemonialen und

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gegenhegemonialen Anschauungen (z.B. von Stadtentwicklung) zuordnen. Mithilfe der Untersuchung von Framing-Strategien kann somit nachgezeichnet werden, inwieweit Gruppierungen in der Lage sind, vorherrschende Leitbilder in Frage zu stellen. Der Framing-Ansatz lässt sich an dieser Stelle also als Brücke zwischen der Hegemonie- und Diskurstheorie und der Ethnographie begreifen. Angelehnt an Foucaults Diskursformationen handelt es sich bei Frames bzw. Rahmungen (auch scripts, scenarios, Sinnstrukturen) um übergeordnete Deutungsmuster der Erfahrung und Wahrnehmung von Ereignissen in der Welt (Brand/Eder/Poferl 1997). Erstmals machte Erving Goffman (1974) Gebrauch von Frames, um diskursive Mechanismen der Mobilisierung zu analysieren. Später prägten insbesondere Snow und Benford den Ansatz. Goffman identifizierte Frames als interpretative Deutungsmuster, die Bewegungsakteur*innen dazu nutzen, um Ereignisse und Entwicklungen wahrzunehmen, einzuordnen und zu bezeichnen, und so ihrer Welt Sinn zu verleihen. Snow und Benford (1992: 137) definieren Frames kollektiven Handelns als „an interpretative schemata that simplifies and condenses the world out there ‘ by selectively punctua’ ting and encoding objects, situations, events, experiences, and sequences of actions within one’s present or past environments“. Diese Definition rückt die strategische Komponente von Handlungen in den Vordergrund. In der Bewegungsund Policy-Forschung findet der Ansatz vielfach Verwendung (z.B. Brand/Eder/ Poferl 1997; della Porta 1999; Donati 2011; Gerhards 2008; Martin 2013). Während manche Autor*innen die Bedeutung der Sprache besonders hervorheben (Donati 2011), steht bei anderen die Kommunikation im Vordergrund (Brand/Eder/Poferl 1997). So gebrauchen Brand und Kolleg*innen (1997) Rahmungen, die auf den Strukturbedingungen der Kommunikation ökologischer Probleme und deren Anschlussbedingungen an bestehende kulturelle Vorstellungswelten basieren. Von zentraler Bedeutung sind dabei soziale Akteur*innen, über die Kommunikationsprozesse erfolgen, sowie symbolische Organisationsdynamiken von Diskursen. Im Sinne diskursiver Aushandlungsprozesse durch Bewegungsmitglieder und andere Akteur*innen führt der Prozess des Framings zur Konstruktion von Realität und bedeutet für die Akteur*innen eine sinnaktualisierende und kollektive Praxis. Im Ergebnis entstehen collective action frames: „Collective action frames are constructed as movement adherents negotiate a shared understanding of some problematic condition or situation they define as in need of change, make attributions regarding who or what is to blame, articulate an alternative set of arrangements, and urge others to act in concert to affect change.“ (Benford/Snow 2000: 615)

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Je nach kulturellen Vorstellungen und Interessen der im Diskurs involvierten Akteur*innen variieren Rahmungen eines bestimmten Gegenstands. Sie koordinieren Differenz und sorgen für kollektive Geltung jenseits von subjektiven Motiven. Im Verlauf des Sprechens und Handelns von Akteur*innen (sozialer Bewegungen etc.) gewinnen Rahmungen eine objektive Wirkkraft (Brand/Eder/Poferl 1997). Die Akteur*innen bauen uno-actu mit ihren Interessen ein diskursives Feld auf, in dem sich ein bestimmter Interaktionsmodus zwischen Akteur*innengruppen einspielt. Snow und Oliver (1995) sprechen von einem „struggle to have certain meanings and understandings gain ascendance over others, or at least move up some existing hierarchy of credibility“ (Snow/Oliver 1995: 587). Diese relationale Verknüpfung und Harmonisierung von Erfahrungen und Ereignissen bezeichnen Snow und Benford (2000) als frame articulation. Von frame amplification wird gesprochen, wenn gewisse Ereignisse akzentuiert werden, beispielsweise mithilfe von Slogans, Hinweisen auf übergeordnete Frames oder andere Bewegungen. Hervorgehoben wird in diesem Prozess die dynamische Komponente der Realitätskonstruktion: „active, ongoing, and continuously evolving“ (Snow und Oliver 1995: 587). Selbstverständlich geht dies einher mit Konfrontationen und Widerständen wie Counter-Framing durch Bewegungsgegner*innen, Umfeld und Medien sowie Auseinandersetzungen um Rahmungen innerhalb der Bewegung. Das strategische Vorgehen und die Annäherung bzw. Verbindung von Frames (frame alignment) als zentrales Element von sozialen Bewegungen (Snow/Benford 1988: 198) lassen sich wie folgt einteilen. Durch frame bridging werden verschiedene Frames hinsichtlich eines bestimmten Problems verbunden (z.B. diskursive Brückenbildung zwischen verschiedenen Masterframes in der Stadtentwicklung). Frame amplification verweist auf eine Idealisierung und Klärung von Werten. Um weitere Anliegen einzubeziehen, die für ein breiteres Publikum relevant sein könnten, werden Strategien angepasst, zum Beispiel indem Frames ausgeweitet werden (frame extension). Frame transformation bezieht sich schließlich auf den Wandel von alten Verständnissen und Bedeutungen sowie auf die Schaffung neuer Rahmungen. Üblicherweise werden in der Bewegungsforschung drei aufeinander abfolgende Rahmungen unterschieden: 1) diagnostic frames beziehen sich auf Problemidentifizierung und -zuschreibungen, 2) prognostic frames beinhalten die Äußerung von Problemlösungen, und 3) motivational frames rufen zum kollektiven Handeln auf und sind durch ein entsprechendes Motivationsvokabular gekennzeichnet (Benford/Snow 2000). Diese Frames zeichnen sich durch sehr unterschiedliche Merkmale aus, sie generieren Identifikation, müssen flexibel oder rigide sein, inklusiv oder exklusiv. Cress und Snow (2000) erachten treffende

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diagnostische und prognostische Rahmungen als entscheidend, damit Probleme identifiziert und Lösungen angeboten werden. Dabei müssen Frames sowohl soziale Bewegungen als auch politische Entscheidungsträger*innen ansprechen (vgl. Amenta u. a. 2010). Da soziale Bewegungen in der Regel über weniger privilegierte Zugänge zu Medien verfügen als institutionelle Akteur*innen, ist dafür ein besonderes strategisches Repertoire erforderlich. Diskursdynamik entsteht durch das Aufeinandertreffen und die Konkurrenz differierender Rahmungen. Della Porta (1999) konstatiert in ihrer Forschung die komplexe Evolution der Frames in Form von alignment und dealignment. Die Dominanz bestimmter Rahmungen, d.h. die Durchsetzung von Masterframes ist die Voraussetzung für die Akzeptanz spezifischer Lösungsmodelle. Für diese Dominanz stellen Diskurskoalitionen von verschiedenen Rahmungen die Voraussetzung dar. Dabei handelt es sich um Netzwerke kooperierender Gruppen, die laut Hajer ein bestimmtes gemeinsames Set an Storylines verwenden (Hajer 2008). Nonhoff kritisiert den von Hajer unterstellten spezifischen Zusammenhang von Storylines und den Akteur*innen, die diese nutzen. Storylines seien „das Medium, durch welches die Akteur*innen versuchen, anderen ihre Sicht der Realität aufzuerlegen, bestimmte soziale Positionen zu vertreten und Praktiken anzuregen sowie alternative soziale Arrangements zu kritisieren“ (Nonhoff 2008: 280). Diese Perspektive teile ich, und angelehnt an Brand und Kolleg*innen (1997) gehe ich hier davon aus, dass eher gemeinsame Rahmungen (denn Storylines) verwendet werden. Außerdem setzen Diskurskoalitionen – dies ist für das empirische Vorgehen entscheidend – nach meinem Verständnis keine formellen oder informellen Kooperationen voraus. Stattdessen wird eine ähnliche Sichtweise, ein vergleichbares Ziel verfolgt, und man steht sich bei der Umsetzung nicht im Weg. Die Diskurskoalitionen strukturieren Diskurse – als Teile von Handlungen (Donati 2011) –, verleihen bestimmten Argumentationslinien durch kumulative Effekte Gewicht und unterstützen die Durchsetzung von zentralen Rahmungen (Brand/Eder/Poferl: 294ff). Hajer (2008) spricht von Diskursstrukturierung, wenn eine bestimmte Anzahl von Menschen einen Diskurs zur Konzeptionalisierung der Welt nutzt. Zur Diskursinstitutionalisierung kommt es, wenn sich der Einfluss eines Diskurses in organisationalen oder diskursiven Praktiken (d.h. kontextuell eingebetteten Routinen) und Institutionen niederschlägt. Diese Diskurskoalitionen, die eine hegemoniale Formierung stützen, gilt es zu rekonstruieren (Nonhoff 2008: 311). Wie diese Rekonstruktion erfolgt, wird im nächsten Abschnitt hergeleitet.

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Die Methode der Rahmenanalyse Wie soeben dargelegt, kann mithilfe der Rahmenanalyse die dynamische Konstruiertheit von politischen Realitäten analysiert werden (vgl. Brand/Eder/Poferl 1997; Donati 2011). Verstanden als Methode analysiert sie „die Entwicklung und den Wandel der ideellen Konstrukte, die um die legitime Definition der ‚Natur‘ politischer Sachverhalte konkurrieren“ (Reuber/Pfaffenbach 2005: 166). Mit der Rahmenanalyse wird also der symbolische Kontext rekonstruiert, in dem sich Akteur*innen bewegen, um ihre Ideen und Interessen umzusetzen. Wie andere Formen der Diskursanalyse lässt sich die Rahmenanalyse zunächst von einer bloßen Textanalyse abgrenzen. Im Unterschied dazu wird Text immer im Kontext betrachtet, d.h. diskursive Strategien von Akteur*innen werden auch durch Rückgriff auf extra-textuelle Kategorien erklärt (Brand/Eder/Poferl 1997). Die „Bedeutung eines Textes erschließt sich nie aus sich selbst, verweist immer auch auf Entstehungs- und Wirkungskontext“ (Angermüller 2001: 8), wie zum Beispiel die damit verflochtenen Themen, Akteur*innen und Institutionen. Wichtig ist dabei, durch welche Formen, Mechanismen und Regeln (Storylines) Text und Kontext diskursiv verknüpft werden. Darauf gründet die Abgrenzung von hermeneutischen Zugängen (Angermüller 2001). Methodisch kommt es dabei auf die Rahmungsstrategien als „Formen sozialen Handelns von kollektiven Akteur*innen“ an (Brand/Eder/Poferl 1997: 54ff). Diese zirkulieren in einem sozialen Raum, also einem öffentlichen Diskurs. Rahmungen dienen der Herstellung geteilter Interpretationen der Welt (inkl. Konfliktsituationen), und gleichzeitig wird mit diesen Sprachspielen Differenz konstruiert. Medien fungieren dabei als institutionelle Träger des Diskurses und bilden so die zentrale Datengrundlage der Rahmenanalyse. In einem ersten Schritt werden die Rahmungen der Akteur*innen identifiziert, mit denen die involvierten Gruppen das jeweilige Konfliktfeld (d.h. je nach Fall die politische Debatte über urbanes Erbe bzw. Zugang zu Wohnen) konstruieren. Entsprechend der konzeptuellen Ausführungen wird davon ausgegangen, dass die Rahmungen den jeweiligen Interessenlagen der Akteur*innen entsprechen und sich in ihrem Handeln widerspiegeln (Brand/Eder/Poferl 1997). Die verschiedenen Rahmungen, die eine Gruppe nutzt, lassen sich im Weiteren zu einer „zentralen Rahmung“ zusammenfassen. Von Interesse ist für die vorliegende Studie insbesondere, wie sich die Rahmungen der Akteur*innen gewandelt und wie diese den Konfliktverlauf beeinflusst haben. Dabei wird berücksichtigt, von welchen allgemeinen Diskursen die Akteur*innen in der Argumentation Gebrauch machen. In meiner Untersuchung kristallisierten sich im Laufe der Erhebung und Auswertung – in Abhängigkeit

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des einzelnen Konfliktfalls – diverse Diskurse heraus, wie freie Marktwirtschaft, Neoliberalismus, Technokratie, Demokratischer Rechtsstaat, Autoritärer Staat, Antiimperialismus, Sozialstaat, Lebensqualität, Rassismus und soziale Gerechtigkeit. Ferner ist relevant, wie in den Konfliktprozessen Bezug auf diese Diskurse genommen wird. Um eine analytische Systematisierung der Komplexität möglicher Rahmungen herzustellen, leiten Brand und Kolleg*innen (1997) dafür vier Rahmungslogiken aus den institutionellen Sphären der Moderne – Wissenschaft, Recht, Moral, Kunst – ab: Verwissenschaftlichung, Legalisierung, Moralisierung sowie Ästhetisierung. Diese Rahmungslogiken werden für die Arbeit übernommen. Sie erklären die Dynamik des Diskurses und können eine Institutionalisierung des Protests bedeuten. Sie liegen den Rahmungsstrategien (Diskursstrategien bei Brand/Eder/Poferl 1997) zugrunde, mit denen die Akteur*innengruppen ihre Interessen artikulieren und versuchen, ein möglichst breites Publikum anzusprechen. Brand und Kolleg*innen (1997: 32) identifizieren drei Kommunikationsstrategien kollektiver Akteur*innen, die der Delegitimierung der konkurrierenden Protestierenden dienen. Zwei dieser Strategien spiegeln sich auch in den vorliegenden Fallanalysen wider: 1) Objektive Gesichtspunkte werden gegen moralische Argumente ausgespielt. 2) Das Thema wird als politisches Problem behandelt und Moralisierung als hemmend abgetan. Die Analyse der Interessen, Rahmungen und Vorgehensweisen der Akteur*innen erforderte aus Gründen der Übersichtlichkeit eine unterschiedlich starke Gruppierung der Akteur*innen. Auch wenn dieses Buch einen relationalen Ansatz verfolgt, wurde keine vollständig „realitätsgetreue“ Abbildung der Beziehungen im Untersuchungsfeld angestrebt. Die Gruppierung basiert darauf, Akteur*innen, die eine formalisierte oder informelle bzw. offene oder verborgene Koalition verbindet – unabhängig von Sektor- oder räumlicher Skalenzugehörigkeit – gemeinsam abzubilden. Das konnten verschiedene Bürger*inneninitiativen (innerhalb einer Kommune oder darüber hinaus), privatwirtschaftliche, lokalpolitische Einheiten etc. sein. Insbesondere für die Rekonstruktion des Konflikts um den Parque Indoamericano ist zu ergänzen, dass eine Auseinandersetzung mit allen involvierten Gruppierungen im Rahmen der Arbeit nicht möglich war. Die getroffene Auswahl liefert dennoch einen treffenden Ausschnitt der Bewegungslandschaft. Innerhalb der Rahmungen werden im zweiten Schritt die symbolischen Formen offengelegt, in denen sie organisiert werden. Diese dienen dazu, den Rahmungen eine unmittelbar erkennbare Bedeutung zu verleihen und sie kommunizierbar zu machen (frame articulation). Besonders wichtig ist dabei die symbolische Organisation in Form von Narrationen, die – in Anlehnung an im Common

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Sense verankerte „Metanarrative“ – kollektiv vertraute Storylines enthalten (vgl. Kapitel 4). Somit binden Akteur*innen in Rahmungen bisweilen konkurrierende Storylines ein, deren geteilte Resonanz zum Beispiel aus ideologischen Narrationen, allgemeinen Welt- und Leitbildern resultiert (frame amplification). Die Akteur*innen organisieren auf diese Weise ihre Identität und ihr Image anderen gegenüber. In einem dritten Schritt wird die Dynamik untersucht, wie die Akteur*innen versuchen, bestimmte Rahmungen im diskursiven Feld durchzusetzen. So werden die dominierenden Rahmungen, d.h. Masterframes identifiziert, die dem hegemonialen Diskurs im Sinne von Laclau und Mouffe (2012) (z.B. marktorientiertes Leitbild der Stadtentwicklung) zugrunde liegen. Auf diese Weise lässt sich erschließen, inwieweit Akteur*innengruppen einen neuen Diskurs akzeptieren, d.h. eine Diskursstrukturierung erfolgt (Hajer 2008). Dafür muss analysiert werden, wie ein solcher Masterframe entsteht, „der die kollektive Geltung von Akteur*innenrahmungen und Storylines bestimmt“ (Brand/Eder/Poferl 1997: 57). Dies erfolgt nicht notwendigerweise durch besonders dominante Gruppen. Akteur*innen können Masterframes auf vielfache Weise beeinflussen und für sich nutzen, was nichtintendierte Folgen nach sich ziehen kann. Der Blick richtet sich in der Auswertung darauf, wie strategische Repertoires in Form von frame bridging, frame amplification, frame extension und frame transformation sowie counter-framing eingesetzt werden. In diesem Zusammenhang verweisen Reuber und Pfaffenbach (2005: 231) darauf, die „sprachlichen Trennungen im Textkorpus und ihre argumentative Absicherung in den Masterframes“ und die „sprachliche Kontrolle im jeweiligen diskursiven Feld“ zu analysieren. Auf diese Weise lassen sich Diskurskoalitionen von sozialen Gruppen identifizieren, die sich auf diese zentralen Rahmungen beziehen. Diskurskoalitionen fördern durch ihre Argumentationslinien bestimmte Rahmungen und damit die Durchsetzung von Masterframes (Brand/Eder/Poferl 1997). Ich spreche von einer Diskurskoalition, wenn Akteur*innengruppen „nicht nur“ die gleichen Storylines verwendet werden, sondern erst wenn diese Storylines, die als leere Signifikanten zu verstehen sind, mit gleichen Inhalten gefüllt werden bzw. auf identische Signifikate (Bedeutungen) verweisen. Erst dann kann davon ausgegangen werden, dass gleiche Rahmungen benutzt werden. Diese Anmerkung ist – wie sich in den nachfolgenden empirischen Kapiteln zeigen wird – gerade relevant, wenn Akteur*innen Rahmungen übernehmen, ohne dass damit bestimmte Praktiken einhergehen; beispielsweise, wenn staatliche Akteur*innen die Erhöhung von Mitspracherechten artikulieren, ohne diese Ankündigung in die Praxis umzusetzen.

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Die Manifestation von Diskurskoalitionen ist verbunden mit bestimmten (räumlichen) Diskurspraktiken, d.h. dynamische institutionelle Praktiken in einem Politikfeld (ebd.). Sich wandelnde Masterframes sowie neue Diskurskoalitionen und -praktiken nehmen nicht nur Einfluss auf den Konfliktverlauf, sondern es wird davon ausgegangen, dass sie sich auch in den Governance-Arrangements niederschlagen. Die zeitliche Dauer ist dabei offen.1

D ATENERHEBUNG

UND

A USWERTUNG

In die ethnographisch orientierte empirische Erhebung flossen in erster Linie problemzentrierte Interviews ein. Daneben bediente ich mich der teilnehmenden Beobachtung sowie Expert*inneninterviews und bezog öffentlich zugängliche Dokumenten (vor allem Printmedien) in die Untersuchung ein. Die Erhebungen in Form von Interviews und teilnehmender Beobachtung fanden zwischen November 2010 und August 2012 statt. In diesem Zeitraum hielt ich mich im Rahmen mehrerer Forschungsaufenthalte insgesamt jeweils vier Monate in Buenos Aires und Santiago auf. 2 Problemzentrierte Interviews Das zentrale Erhebungsinstrument dieser Studie war das problemzentrierte Interview (Witzel 1989, 2000). Insgesamt wurden 46 problemzentrierte Interviews – in der Regel mit einer/m Gesprächspartner/in – durchgeführt, davon 19 in Santiago und 27 in Buenos Aires.3 Die folgende Tabelle veranschaulicht, welchen Institutionen sich diese zuordnen lassen. Einige Interviewpartner*innen äußerten sich über einen konkreten Konfliktfall hinaus zu beiden Fallstudien in einer Stadt, vereinzelt auch länderübergreifend (detaillierte Auflistung, vgl. Anhang).

1

2

3

In der empirischen Erhebung zeigte sich, dass die Identifikation von Diskurskoalitionen von der skalaren Perspektive abhängt. So ergab sich aus dem Fokus auf lokale Interaktionen eine gewisse Einschränkung. Ein Blick auf weitere Skalen hätte die Identifizierung weiterer „Kooperationspartner*innen“ und Bewertungsmöglichkeiten zugelassen, was weiteren Forschungsbedarf begründet. Meine Rolle als Forscherin im Feld war durch mehrere Faktoren geprägt, davon sind folgende hervorzuheben: Europäerin aus Deutschland, Sozialwissenschaftlerin, weiblich, weiß, relativ jung. Etwa 15 hier nicht aufgeführte Interviews mit Bürger*inneninitiativen, Graswurzelorganisationen und Wissenschaftler*innen hatten explorativen Charakter und sind nicht direkt in die Auswertung einflossen. Als Hintergrundinformation stützen sie aber die Interpretation der Ergebnisse.

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Tabelle 2: Sample problemzentrierter Interviews Vertreter*innen von Bürger*inneninitiativen Soziale Bewegungen & soziale Organisationen NGOs und Graswurzelorganisationen Regierungsbehörden Kommunalverwaltung; Stadtparlament Weitere staatliche Behörden Privatwirtschaftliche Akteur*innen (Consultings) Gesamt

Santiago 4 5 2 3 (zentralstaatl.) 1 4

Buenos Aires 8 5 3 3 (städtisch) 4 2 2

19

27

Das Sample setzt sich damit zu etwa der Hälfte aus Sprecher*innen der an den Konflikten direkt beteiligten sozialen Bewegungen, Bürger*inneninitiativen, Nachbarschaftsverbänden und sonstigen sozialen Organisationen zusammen. Hinzu kommen Vertreter*innen weiterer zivilgesellschaftlicher Gruppen wie NGOs und Graswurzelorganisationen, die zum Beispiel eine unterstützende Funktion einnahmen. Des Weiteren sind je nach Lagerung und Dimension der Konfliktfälle politische Entscheidungsträger*innen auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene, semi-öffentliche Akteur*innen und Vertreter*innen von Consultings und privaten Entwicklungsprojekten enthalten. Die insgesamt hohe, pro Konfliktfall angemessene Anzahl von Interviews ermöglichte eine engere Verbindung zu einigen Interviewpartner*innen, so dass der Untersuchungsgegenstand kontinuierlich ausgeleuchtet werden konnte (vgl. Crouch/McKenzie 2006). Die Erkenntnisse aus den problemzentrierten Interviews dienen insbesondere zur Analyse der Auslöser sowie der Interessen und Strategien der Akteur*innen in den Fallkonflikten (vgl. Tabelle 1). Durch die offene Gesprächssituation bei problemzentrierten Interviews können subjektive Deutungen und Perspektiven hinsichtlich der in die urbanen Konflikte involvierten Akteur*innen, ihrer Ziele und Strategien sowie der lang- und kurzfristigen Effekte der zivilgesellschaftlichen Beteiligung aufgedeckt werden (Witzel 2000). Die Erkenntnisse aus diesen Interviews wurden als „künstlich rekonstruierte Diskurse“ (Donati 2011) auch für die Rahmenanalyse verwendet, die durch weiteres Textmaterial validiert wurde (vgl. nachfolgend zu teilnehmender Beobachtung und Dokumentenanalyse). Entsprechend folgt die Studie Hank Johnston (2004), der betont: „By analyzing the spoken texts of respondents, one is able to approximate the underlying cognitive organization that structures experience and influences behavior” (Johnston 2004: 234). Ausgehend von bestehenden und aufgebauten wissenschaftlichen Kontakten zu verschiedenen Institutionen der Stadtforschung, wurde ein Schneeballverfah-

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ren genutzt, um die Interviews zu realisieren (Atkinson/Flint 2001).4 Als Samplingstrategie wurde eine gezielte Auswahl der Interviewfälle angewendet (Berg 2007). Ziel war die Generierung eines facetten- und kontrastreichen Samples. Zwei Merkmale, die systematisch variiert wurden, standen für die Samplingstrategie der vier Fallstudien im Mittelpunkt: (1) Die charakteristischen individuellen Eigenschaften wie Migrationshintergrund, Bildungsgrad und Sozialstatus, um die Vielfalt der Konfliktperspektiven der Protestakteur*innen abbilden zu können.5 (2) Die unterschiedlichen institutionellen Zugehörigkeiten der Akteur*innen, um deren – je nach Konfliktfall auch intern voneinander abweichende (z.B. bei politischen Parteien) – Deutungen darstellen zu können. Mit diesen Kategorien habe ich versucht, sowohl der Vielfalt der Perspektiven von zivilgesellschaftlichen, staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteur*innen, als auch den innerhalb dieser Kategorien variierenden subjektiven Deutungen im Untersuchungsfeld Rechnung zu tragen. Expert*inneninterviews Expert*inneninterviews dienen dazu, die überindividuellen Wissensbestände der zentralen Akteur*innen des Feldes zu rekonstruieren (Meuser/Nagel 2005). In der vorliegenden Studie sollten insbesondere bestehende Möglichkeiten und Restriktionen von zivilgesellschaftlichen Mitspracherechten und die Anforderungen an eine demokratieorientierte Stadtentwicklung ergründet werden. Für diesen Zweck wurden in erster Linie Personen aus Wissenschaft und Forschung als Expert*innen einbezogen. Insgesamt wurden acht Expert*inneninterviews durchgeführt, davon drei in Santiago und fünf in Buenos Aires. Konkret handelte es sich bei diesen Interviews um Gespräche mit Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen aus dem Feld der Stadtforschung. Ein Großteil dieser Personen geht gleichzeitig weiteren Tätigkeiten nach, unter anderem in der Stadtverwaltung, in Consultingfirmen oder in Form bürgerschaftlichen Engagements in sozialen Bewegungen. Die Erkenntnisse aus den Expert*inneninterviews wurden insbesondere für die Analyse der political opportunity structures und Interaktionsdynamiken der Konfliktfälle verwendet.

4

5

In Santiago handelte es sich unter anderem um Kontakte an der Pontificia Universidad Católica sowie der Universidad de Chile und in Buenos Aires an der Universidad de Buenos Aires und der Universidad Nacional de General Sarmiento. Weitere Kategorien, die in der Bewegungsforschung relevant sind, z.B. Geschlechtszugehörigkeit, konnten aufgrund des komplexen Designs der Untersuchung nur begrenzt berücksichtigt werden.

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Teilnehmende Beobachtung Ziel der Beobachtung als Methode ist generell herauszufinden, wie Handlungsweisen konkret verlaufen, „wie etwas tatsächlich funktioniert“ (Flick 2010: 281). Interviews enthalten demgegenüber meist gemischte – und folglich in der Auswertung wieder zu trennende – Aussagen darüber, wie etwas ist bzw. sein sollte (ebd.: 281). Gerade von dieser Qualität der Beobachtung sollte in der Auseinandersetzung mit kollektivem Handeln profitiert werden. Mithilfe der teilnehmenden Beobachtung gelang es, Interaktionen von innen zu verstehen und geteilte Interessen der Gruppe zu erörtern, inklusive (Un-)stimmigkeiten, Reibungen sowie neuen und schon lange diskutierten Themen. Der Zugang zum Feld erfolgte über verschiedene Schlüsselpersonen von sozialen Bewegungen und Bürger*inneninitiativen der vier Konfliktfälle, zu denen meist im Rahmen eines qualitativen Interviews der Kontakt hergestellt worden war. Die teilnehmende Beobachtung wurde in Form von Feldnotizen und Protokollen der Situationen dokumentiert. Dabei wurde kein standardisiertes Beobachtungsschema verwendet, sondern die Verläufe wurden offen notiert. Eine wichtige Qualität der teilnehmenden Beobachtung ist die besondere Eignung des Verfahrens, den Prozesscharakter von sozialen Interaktionen systematisch erfassen zu können (Schöne 2003). Die teilnehmende Beobachtung erfolgte insbesondere in Form von Teilnahmen an Versammlungen, Sitzungen, Mobilisierungen von sozialen Bewegungen und Bürger*inneninitiativen sowie öffentlichen Debatten, zu denen Aktivist*innen geladen wurden. Viele der hier gewonnenen Informationen hatten einen ergänzenden und prüfenden Charakter und flossen indirekt in die Auswertung ein. Sie waren im Sinne von going native als Hintergrundinformation und zum generellen Verständnis verschiedener Auffassungen und Abläufe in den sozialen Gruppen von hoher Bedeutung. Verwendung fanden die Ergebnisse der teilnehmenden Beobachtung vor allem bei der Rekonstruktion der Akteur*innenrahmungen und Konfliktstrategien sowie bei der Analyse der Konfliktauslöser. Dokumentenanalyse Für die Rekonstruktion der Rahmungen wurde ergänzend mit Beiträgen aus bedeutenden Tageszeitungen gearbeitet, ein viel genutztes Vorgehen für Rahmenanalysen (Brand/Eder/Poferl 1997). Erfasst wurden Beiträge über die Konflikte ab Beginn der jeweiligen öffentlichen Debatte bis mindestens zum Konfliktende, wobei während der Analyse deutlich wurde, dass ein Ende mitunter schwer identifizierbar ist (d.h. insgesamt von 2005 bis 2014). Wenn sich die Auseinandersetzungen über die Feldforschungsphase hinaus hinzogen, wurden diese (bis auf einen Fall) bis 12/2013 weiterverfolgt. Die konkreten Zeiträume für die Einzelfälle

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umfassten: Fall A Verdichtung Vitacura: 5/2005-4/2013; Fall B Gentrification Peñalolén: 10/2006-12/2013; Fall C Hochhausbau Buenos Aires: 6/200612/2013; Fall D Parkbesetzung Buenos Aires: 12/2012-04/2014. Insgesamt wurden im Rahmen der Medienanalyse für die vier Fallstudien ca. 120 Artikel gesichtet. Theoretisch empfiehlt sich für eine Wirkungsanalyse von Rahmungen eine möglichst dynamische Erhebung über einen längeren Zeitraum, um verlässliche Aussagen machen zu können (della Porta 1999). Dies war in den vorliegenden Fällen in etwa gegeben. Das Ende der Beobachtungsphase ergab sich durch die Fallauswahl selbst. Ein Kriterium der Fallauswahl war, dass die Konflikte entweder noch nicht oder erst kürzlich abgeschlossen waren. Dies war zur Durchführung der teilnehmenden Beobachtungen erforderlich. Nur im Fall A konnte keine Beobachtung erfolgen, da dieser bereits beendet war. Jedoch waren die relativ jungen Ereignisse bei den Interviewten noch sehr präsent. Es ist wichtig anzumerken, dass die mediale Verarbeitung der Konflikte jeweils durch eigene Dynamiken gekennzeichnet war. So liegt in Santiago für den Fall Vitacura eine ausführliche Berichterstattung vor (unter anderem aufgrund des hohen Einflusses der Bürger*inneninitiative). Im Fall Peñalolén konzentrierten sich die Medienberichte hingegen auf linksgerichtete Medien. Vor allem die nationalen Rahmenbedingungen in Chile und Argentinien müssen bei der Medienanalyse berücksichtigt werden. Bedingt durch die spezifische Medienlandschaft der beiden Länder findet man in Buenos Aires generell eine wesentlich umfangreichere Berichterstattung vor, während diese in Chile weniger Akteur*innen umfasst und generell unkritischer gegenüber Staat und Privatwirtschaft ist (vgl. dazu Kapitel 7). Aufgrund dieser jeweiligen Besonderheiten wurden nationale Medien anvisiert, es erfolgte keine Vorselektion (z.B. von einer spezifischen Tageszeitung): In Buenos Aires wurde vor allem La Nación (konservativ, unternehmensnah), Clarín (größte argentinische Tageszeitung, liberal, eher nah an der Stadtregierung), Página 12 (seriös, nah an Zentralregierung) einbezogen. Darüber hinaus fanden sich einige einschlägige Veröffentlichungen in Tiempo Argentino (links), und Perfil (populistisch). In Santiago konzentrierte sich die Berichterstattung auf El Mercurio, La Tercera, teilweise La Segunda (alle unternehmensnah, eher geringfügige Unterschiede); El Mostrador (nur online, links), El Ciudadano (links). Damit wurde versucht, ein möglichst breites Meinungsspektrum abzubilden. Generell ist bei der Auswertung ferner die unterschiedliche Reichweite dieser Medien zu berücksichtigen. Des Weiteren wurden Dokumente über die Partizipationsprozesse als kommunikative Mittel zur Rekonstruktion der Interaktionsprozesse und institutionellen Rahmenbedingungen analysiert (vgl. Wolff 2000). Diese dienten nicht als „Informationscontainer“, sondern wurden zur Kontextualisierung von Informa-

120 | P ROTESTBEWEGUNGEN UND S TADTPOLITIK

tionen verwendet (ebd.: 511). Institutionelle Dokumentationen flossen vor allem in die Rekonstruktion der Rahmenbedingungen und institutioneller Veränderungen (z.B. neue Gesetze, Planänderungen etc.) ein. Hierzu zählten (1) kommunale Dokumente wie geltende Planungsinstrumente und Planstudien (z.B. Flächennutzungsplan) sowie Protokolle von Sitzungen (Gemeinderat, Parlamentsausschüsse), (2) Gesetze (Planung, Bauordnung), Gesetzesurteile und Stellungnahmen, und (3) die Verfassung der Stadt Buenos Aires. Die folgenden „gruppenbezogenen“ Dokumentationen wurden vor allem zur Rekonstruktion der internen Bedingungen sowie zur Identifizierung der Akteur*innenmerkmale und der Interaktionsdynamiken verwendet (vgl. Martin 2003) für eine ähnliche Datenbasis): Publikationen und Berichte von NGOs, Graswurzelorganisationen; Flugblätter, offene Briefe etc. von sozialen Bewegungen und Bürger*innennitiativen; Pressemitteilungen; Strafprozessakten (Parque Indoamericano, Buenos Aires); Webseiten, Blogs, Social Media (Facebook, Youtube), Emailkommunikation; Wahlplakate (z.B. Bürgerentscheid in Peñalolén). Thematisches Kodieren Die problemzentrierten Interviews und Expert*inneninterviews wurden alle vollständig transkribiert. Ins Deutsche übersetzt wurden nur direkt zitierten Textpassagen.Während der teilnehmenden Beobachtungen wurden Feldnotizen angefertigt und Kurzprotokolle erstellt. Einzelne Beobachtungen wurden aufgezeichnet und transkribiert, wenn dies als ethisch unbedenklich (vgl. Schöne 2003) und zeitökonomisch sinnvoll erachtet wurde, d.h. sich aus der Situation aufschlussreiche Gespräche ergaben oder erkenntnisreiche öffentliche Veranstaltungen mitgezeichnet wurden. Die systematische, inhaltlich orientierte Auswertung konzentrierte sich jedoch auf das Interview- und Pressematerial. Die Auswertung des Interviewmaterials erfolgte in einem mehrstufigen Verfahren. Dieses setzt an der vertiefenden Analyse der Gesamtgestalt einzelner Fälle (an dieser Stelle gleichbedeutend mit Interviews) an und ermöglichte fallübergreifende Vergleichsanalysen. Dazu wählte ich das Verfahren des Thematischen Kodierens bzw. der Themenanalyse (Froschauer/Lueger 2003). Dieses eignet sich sowohl für die Erarbeitung der Rahmenanalyse, für die ähnlich wie für andere Formen der Diskursanalyse kein konkretes methodisches Vorgehen vorgeschrieben ist (Lüders/Meuser 1997), als auch für die Beantwortung weiterer Fragen der vorliegenden Studie. Die vorgenommenen Auswertungsschritte des Textmaterials sahen im Einzelnen wie folgt aus: (1) Die Analyse der durchgeführten Interviews erfolgte mittels eines Textreduktionsverfahrens, bei dem zentrale Themenbereiche und deren Kontexte herausgearbeitet und in ihrer Differenziertheit dargestellt wer-

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den. Die extrahierten Textpassagen mit den zentralen Themenbereichen und ihren Subkategorien wurden anschließend mit einem detaillierten Vergleich auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede interpretiert (2). Auf dieser Grundlage ließen sich Quervergleiche zwischen einzelnen Textpassagen sowohl innerhalb eines Interviews als auch interviewübergreifend ziehen. In einem letzten, vertiefenden Schritt (3) wurde ein Kodierverfahren entwickelt, welches gezielter auf die Besonderheiten von Aussagen, Argumentationen und Deutungen im Textmaterial fokussiert. Anhand eines elaborierten Systems von Kategorien, das als Auswertungsschema eingesetzt wird, konnten die Interviewinhalte systematisiert werden. Darauf aufbauend wurden spezifische Ausprägungsdimensionen der entwickelten Kategorien bestimmt. Dies führte zu einer weiteren Konkretisierung der gebildeten Kategorien und ließ eine vertiefende Beschreibung des empirischen Materials zu (Kelle/Kluge 2010). Dieses Kodierverfahren wurde in leicht modifizierter Weise für das Zeitungsmaterial angewendet, das im Unterschied zu den Interviews ausschließlich der Rahmenanalyse diente. Dabei erlaubte der hohe Materialumfang jedoch keine systematische Kodierung. Verflechtung der Erhebungsmethoden Die Verwendung von verschiedenen Methoden diente vor allem dazu, zusätzliches (Hintergrund-)Wissen zu generieren und innerhalb der Rahmenanalyse eine Validierung von Erkenntnissen vornehmen zu können (Flick 2012: 318). So war die teilnehmende Beobachtung von vornherein als Triangulation mit anderen Methoden angedacht. Die Triangulation verschiedener Erhebungsmethoden zeichnet sich dadurch aus, anhand einer vielschichtigen Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand die Aussagekraft der Analyseergebnisse zu erhöhen (Flick 2012). Dadurch können die Forschungsergebnisse vertieft und gegenseitig validiert werden sowie eine möglichst ganzheitliche Sicht auf den Forschungsgegenstand angestrebt werden (Lamnek 2005: 250). „Triangulation beinhaltet die Einnahme unterschiedlicher Perspektiven auf einen untersuchten Gegenstand oder allgemeiner: bei der Beantwortung von Forschungsfragen. Diese Perspektiven können sich in unterschiedlichen Methoden, die angewandt werden und / oder unterschiedlichen gewählten theoretischen Zugängen konkretisieren [...] Durch die Triangulation (etwa verschiedener Methoden oder verschiedener Datensorten) sollte ein prinzipieller Erkenntniszuwachs möglich sein, dass also bspw. Erkenntnisse auf unterschiedlichen Ebenen gewonnen werden, die damit weiter reichen, als es mit einem Zugang möglich wäre.“ (Flick 2008: 12)

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So erfolgte beispielsweise die Extraktion der Rahmungen in einem ersten Schritt anhand der problemzentrierten Interviews. Da Rahmungen als geteilte Interpretation von Erfahrungen in der Realität zu verstehen sind, empfahl es sich, diese Analyseergebnisse mit natürlichen Materialien abzugleichen, die der Öffentlichkeit oder einer Teilöffentlichkeit zugänglich sind (Pressematerial und teilnehmende Beobachtung). Diese Materialien konnten die Rahmenanalyse untermauern und ihre Aussagekraft erhöhen. In ähnlicher Weise ging ich für die weiteren Forschungsfragen vor. Diese methodische Flexibilität erwies sich von Vorteil für die vorliegende Untersuchung, die sich durch eine starke Dynamik und komplexe Interaktionen auszeichnet. Außerdem fügt sich diese in die Empfehlungen zum ethnographischen Vorgehen ein (Hammersley/Atkinson 2007).

Beobachtungen aus Santiago de Chile und Buenos Aires

7 Rahmenbedingungen der beiden Städte

Laut Latinobarómetro war in Chile im Jahr 2011 mit 32% gerade einmal ein Drittel der Bevölkerung zufrieden mit der herrschenden Demokratie. Auf den ersten Blick mag diese Bewertung überraschen, kann das Land doch auf eine erfolgreiche Geschichte der Modernisierung und des ökonomischen Aufstiegs zurückblicken, die einen Zuwachs von Arbeitsplätzen und höhere Erwerbseinkünfte mit sich brachte sowie Bildungschancen und Gesundheitswesen verbesserte. Das Wirtschaftswachstum lag in Chile im Jahr 2013 bei 4,1%, und das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf zählt mit 15.260 US $ (2012) zu den höchsten in Lateinamerika (CEPAL 2014). Auch die Armutsrate konnte in den letzten 20 Jahren halbiert werden. Sie betrug 2011 landesweit 14,4%, in der Metropolregion Santiago 11,5% (Casen 2011). Allerdings ist, wie der Gini-Koeffizient von 0,52 zeigt, selbst im lateinamerikanischen Vergleich eine unverändert starke soziale Ungleichheit zu beobachten (CEPAL 2011). Zudem hat die „neoliberale Modernisierung“ zu sehr ungleichen Chancen des Zugangs zu Wohnen, Bildung, Gesundheit, Alters- und Wasserversorgung geführt. In Argentinien äußerten sich 2011 hingegen fast 58% zufrieden über die demokratischen Institutionen des Landes. Diese positivere Einschätzung lässt sich unter anderem auf die Sozial- und Wirtschaftspolitik der Postkrisen-Regierungen von Nestor Kirchner (2003-2007) sowie Cristina Fernandez Kirchner (seit 2007) zurückführen, mit deren Hilfe mehr Beschäftigung sowie eine Reduzierung der Armut gelungen ist. Dabei wurden unter anderem die sozialen Rechte für Familien verbessert (z.B. Kindergeld) und das Rentensystem reformiert. Die durch die Neoliberalisierung erfolgten Einschnitte in das Wohlfahrtsmodell, das Argentinien lange zu einer Ausnahme in Lateinamerika machte, konnten teilweise wieder rückgängig gemacht werden. Die soziale Ungleichheit reduzierte sich einer Studie der Weltbank (2014) zufolge, von einem Gini-Koeffizient von 0,54 im Jahr 2003 auf 0,41 im Jahr 2013. Das Land erholte sich rasch von der Wirtschaftskrise 2001, wie einige Kennzahlen unterstreichen. So betrug im Jahr 2012

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das BIP pro Kopf 11.610 US $, und das Wirtschaftswachstum lag 2013 wie in Chile bei 4,5% (CEPAL 2014). Allerdings ist in Argentinien eine hohe Wohnungsnot zu verzeichnen. In Buenos Aires leidet etwa jede/r Fünfte unter defizitären Wohnbedingungen. Außerdem war 2013 28,4% der Hauptstadtbevölkerung von Armut betroffen (DGCyE 2014) (landesweit sogar 36,5% (IPyPP 2014).1 Was sich hinter diesen scheinbaren Widersprüchen auf städtischer Ebene verbirgt, werde ich in diesem Kapitel behandeln. Vor allem wird es darum gehen, die politischen, ökonomischen und sozialen Facetten bzw. political opportunity structures aufzudecken, die für die Austragung der vier untersuchten Konflikte der Stadtentwicklung in Santiago und Buenos Aires ausschlaggebend sind. Dabei nehmen marktorientierte Strategien lokaler Elitennetzwerke und globale ökonomische Restrukturierungsprozessen eine hohe Bedeutung ein (vgl. Kapitel 3). In diesem Kontext wird im Sinne einer relationalen Perspektive auch auf die Charakteristika der vier Konfliktfälle eingegangen. Ein Überblick über die aktuellen Tendenzen der Bewegungslandschaften und die anzutreffenden städtischen Widerstände legt außerdem Parallelen und Unterschiede zwischen den Städten offen. Abschließend erfolgt ein kurzes Resümee der Besonderheiten der beiden Städte.

S ANTIAGO

DE

C HILE

Santiago de Chile ist nicht nur Hauptstadt, sondern auch das ökonomische, politische und kulturelle Zentrum von Chile. Dort konzentrieren sich mit knapp 6 Mio. Menschen ein gutes Drittel der Bevölkerung und rund die Hälfte der Wirtschaftskraft des Landes. Das institutionelle Gefüge und die Stadtentwicklungspraxis in Santiago sind durch einen einflussreichen Zentralstaat geprägt. Diesen kennzeichnet eine ungleiche Machtverteilung zwischen Ministerien und eine schwache Stellung der administrativ selbständigen Kommunen. Der Großraum Santiago setzt sich aus 37 Kommunen zusammen, die zu vier Provinzen zählen (vgl. Abbildung 1). Die Hauptstadt formt also keine politisch-administrative Einheit, sondern ist weitgehend Teil der Metropolregion (Región Metropolitana), eine der 15 Verwaltungseinheiten (Regiones) Chiles.

1

Statistischen Daten zu Argentinien wird teilweise mit Misstrauen begegnet. Dem Nationalen Statistik Institut INDEC wird vorgeworfen, dass es 2007 die Zusammenstellung des Warenkorbs veränderte, um die hohen Armutsziffern zu kaschieren.

7 R AHMENBEDINGUNGEN

DER BEIDEN

S TÄDTE

| 127

Regierungstechnologien Die Stadtentwicklung in der chilenischen Hauptstadt ist bis heute von der jüngeren Geschichte Chiles, insbesondere von den Nachwirkungen der zwischen 1973 und 1990 herrschenden Militärdiktatur geprägt. Im Zuge der Militärdiktatur etablierte sich ein technokratischer Regierungsstil, der wie Euardo Silva (1995) betont, die chilenische Politik nachhaltig beeinflusste und ein demokratisches Verständnis bis heute teilweise aushebelt (vgl. Zunino 2006) (vgl. Kapitel 3). Ab Mitte der 1970er Jahre wurden Technokrat*innen, d.h. hochgradig professionalisierte, überwiegend ökonomische oder technische Fachkräfte (z.B. Ingenieure, Ökonomen, Manager, Finanzexperten), zunehmend in der öffentlichen Verwaltung eingesetzt. Dadurch wurde eine Professionalisierung der Verwaltungsstrukturen vorangetrieben und der parteipolitische Einfluss begrenzt (Fischer 2009). Damit einher ging die Herausbildung mächtiger Elitennetzwerke und Interessenkoalitionen von Funktionsträger*innen aus Politik und Privatwirtschaft, die bis heute einen großen Einfluss ausüben. Dies betrifft die Stadtentwicklung genauso wie andere Wirtschaftsbereiche. Unternehmensverbänden sowie neuen liberalen Think Tanks kam im Zuge der neoliberalen Transformation eine wichtige Rolle zu. Fischer (2009) erläutert in einer detaillierten Aufschlüsselung die häufig gleichzeitig politischen und privatwirtschaftlichen Funktionen der Schlüsselakteur*innen der chilenischen Gesellschaft (in der Öffentlichkeit häufig als Chicago Boys bezeichnet).2 Viele dieser Akteur*innen verteilten sich nach dem Referendum 1989, das der Militärregierung ein Ende setzte, auf entscheidende Positionen in Unternehmen und Zivilgesellschaft (insbesondere den Mediensektor, Wissenschaft und Beratungsdienstleistungen) oder gründeten private Universitäten und einflussreiche Think Tanks.3 Vor diesem Hintergrund haben sich nach Zunino (2006: 1836) zwei Modi des Regierungshandelns bzw. „Regierungstechnologien“ nach Foucault herausgebildet, die im heutigen Chile von zentraler Bedeutung sind: Zum einen der Dialog zwischen Eliten und zum anderen ein ausgeprägtes technokratisches Leitbild. Beides dient der Vermeidung von Konflikten und politischen Diskussionen. Konsensorientierung lässt sich also als Grundprinzip des Agierens politischer Eliten in Chile identifizieren. Dies demonstriert auch das Regierungshandeln des

2

3

Die Bezeichnung Chicago Boys verweist auf einflussreiche wirtschaftsnahe „Fädenzieher“ der chilenischen Politik, die ein Ökonomie- oder Jurastudium an der University of Chicago absolvierten (Valdés 1995); ähnlich wird inzwischen auch von den Harvard Boys gesprochen. Dazu gehören das an die beiden Parteien des rechten Flügels angebundene Instituto Libertad y Desarrollo oder das einflussreiche Centro de Estudios Públicos (CEP).

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linksgerichteten Parteienbündnisses der Concertación, das dieses unter Pinochet etablierte Grundprinzip des Regierens und die damit verbundenen Technologien ab 1990 weitgehend fortführte. Auf der Mainstreamebene der Politik lagen zu diesem Zeitpunkt keine großen Meinungsunterschiede vor, was auf die sozioökonomische Stabilität (Barton 2002) sowie die als unumgänglich erachtete Abstimmung zwischen ökonomischer Elite und dem politischen Mitte-Links Spektrum zurückgeführt wird (Cavarozzi 1992). Einer „leere Mitte“, die nach Laclau von spezifischen Inhalten freigehalten wird (Heil/Hetzel 2006b: 13), oder einer klaren Trennung zwischen einem linken und einem rechten Spektrum (Mouffe 2007), wie aus radikaldemokratischer Perspektive für politische Aushandlungen gefordert wird, hat man sich also nach der Rückkehr zur Demokratie wenig angenähert.4 Übertragen auf die Stadtentwicklung folgert Zunino (2006), dass städtische Entscheidungsprozesse insbesondere von einer wirtschaftsorientierten und technokratischen Denkweise sowie dem Konsens zwischen politischen und wirtschaftlichen Eliten angetrieben werden: „[T]he use of economic rationale and consensus between real estate developers and bureaucratic élites is the leading force behind urban development trends“ (Zunino 2006: 1836). Auf diese Weise sind die Netzwerke politischer und ökonomischer Eliten in der Lage, ambitionierte stadtentwicklungspolitische Ziele zu formulieren und – mit Hilfe vor allem der zentralstaatlichen Exekutive – umzusetzen. Aus diesem Grund sind die Möglichkeiten der zivilgesellschaftlichen Einflussnahme auf politische Programme begrenzt, und diesbezügliche Reformprozesse stoßen teilweise auf hohe Widerstände.5 Gesellschaftliche Merkmale „Der Fall Chiles, der international als eine erfolgreiche Modernisierung anerkannt ist, scheint darauf hinzudeuten, dass eine alles durchdringende Modernisierungsstrategie das sozio-kulturelle Gefüge erschüttern kann und dabei ein Missbehagen erzeugt, das die demokratische Regierbarkeit beeinträchtigen kann.“ (Lechner 2004: 85)

4 5

Dafür werden unter anderem unzureichende Verfassungsänderungen verantwortlich gemacht, die ein Zwei-Parteiensystem begünstigen (vgl. Nolte 2004). So wurde das 2004 unter Präsident Lagos erarbeitete Gesetz „Verbände und zivilgesellschaftliche Partizipation in der öffentlichen Verwaltung“ erst 2011 verabschiedet (vgl. Kapitel 8, 9). Ebenso trat das 2009 im Rahmen der regionalen Verfassungsreform erlassene Gesetz für die Direktwahl der Mitglieder des Consejo Regional (Rat auf Regionaler Verwaltungsebene in Chile – bislang indirekt von den Mitgliedern der Kommunalräte gewählt) erst 2014 in Kraft.

7 R AHMENBEDINGUNGEN

DER BEIDEN

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Norbert Lechner (2004: 94) konstatiert für Chile eine „Verabsolutierung der Modernisierung“ in Chile. Demnach hat die mit der rasanten Modernisierung einhergegangene neoliberale Gestaltung von Zivilgesellschaft und Schaffung einer Konsumgesellschaft Egoismus, Unsicherheitsempfinden, ein mangelndes WirGefühl und wenig Vertrauen in soziale Beziehungen nach sich gezogen. Mit dem neoliberalen Modell rückte kollektive Verantwortung – zugunsten individueller Freiheit und einer Individualisierung von Problemen – in den Hintergrund. Ein kollektives Gedächtnis und/oder eine Vergangenheitsaufarbeitung sind nur schwach ausgeprägt. Die gewachsene Unsicherheit gegenüber der Begegnung und dem Austausch mit anderen haben die ohnehin nicht starke Bürgerschaft geschwächt und zu einem Rückzug ins Private geführt. In der Konsequenz, so Lechners Folgerung, wird Politik unpolitisch, da Politik ein kommunikatives Interpretieren von Beobachtungen der Umwelt erfordert. Zudem ist das soziale Gefüge Chiles durch einen schwachen Institutionalisierungs- und Organisationsgrad gekennzeichnet, wie dieser Partizipationsexperte im Interview darstellte: „Hinsichtlich der sozialgemeinschaftlichen Struktur in Chile stellen wir fest, dass sie total primitiv ist. Chile hat ein schwaches soziales Gefüge. Das ist eine Tatsache, die viele Studien seit den 1960er Jahren belegen. Wir leben fast in einem Feudalstaat mit einem Feudalherren, der die Stadt unterwirft. Es gibt also keine Organisation wie im angelsächsischen System, wo die Bürger [...] sich organisieren und auf natürliche Weise Bürgerorganisationen entstehen.“ (S14 43, Geschäftsführer Partizipationsbüro Paisaje Vivo)6

Die schwache Zivilgesellschaft ist also nicht ausschließlich auf die neoliberale Restrukturierung der chilenischen Gesellschaft der letzten zwei Dekaden zurückzuführen. Auch davor war keine starke Bürgerschaft etabliert. Dies ist im Kontext „quasifeudaler“ Strukturen und der damit verbundenen Ausbeutung von Land und Leuten zu verstehen. Im Unterschied dazu wurde in europäischen Städten bereits im Mittelalter in Zünften die Organisation in Gruppen erlernt. Damit verbunden ist, dass sich in Santiago vergleichsweise spät eine Vorstellung von Stadt und Stadtkultur etablierte, wie in verschiedenen Interviews betont wurde. Entsprechend jung ist auch das Konzept städtischer Bürger*innen (vgl. Tironi/Pérez 2009). Der folgende Bewegungssprecher verweist des Weiteren auf eine identitäre Krise, mit der viele Bewegungen zu kämpfen haben. Dies führt er auf die Ausbeutung und Diskriminierung ethnischer Minderheiten seit der Kolonialzeit zu6

Alle verwendeten Interviewzitate wurden ins Deutsche übersetzt. Zum Interviewkürzel: Die Buchstaben und die erste Zahl stehen für die interviewte Person, die zweite Zahl für den Absatz in der Transkription.

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rück (vgl. Hernández 2003). Das mangelnde Vertrauen in sich und die eigenen Fähigkeiten stellt eine zentrale Herausforderung für aktuelle Mobilisierungen – z.B. in Peñalolén (Konflikt B) – dar: „Als chilenisches Volk sind wir wie Waisen, d.h. im Grunde sind wir von keiner der beiden Identitäten anerkannt. Weder von der Mapuche und noch weniger von der Europäischen. Wegen unserer Größe, unserer Hautfarbe, unserer mestizischen Herkunft. Vertrauen ist eine Herausforderung für uns. Vertrauen in unsere Ziele gewinnen, die genauso notwendig und edel sind wie die jeder Klasse.“ (SP4 26, Movimiento por la Justicia)

Rescaling von Governance Ab Mitte der siebziger Jahre nahm die technokratische Elite, der das PinochetRegime eine besondere Autonomie gewährte, einschneidende ökonomische Transformationen in Angriff (Fischer 2009: 306). Damit war Chile das erste Land des globalen Südens überhaupt, das konsequent eine Globalisierung seiner Wirtschaft anstrebte (z.B. durch Exportproduktion, Binnenmarktöffnung für Importe und ausländische Investitionen) und mit diesem Ziel eine neoliberale Strukturanpassungspolitik implementierte. Bis dahin war die Entwicklung wie in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern von einer importsubstituierenden Industrialisierung geprägt (vgl. Parnreiter/Fischer 2002). Mit der Neuausrichtung gingen eine umfangreiche Deregulierung und eine Privatisierung des Bankenwesens sowie vieler Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge einher (z.B. Gesundheitssystem, Rentensystem, Bildungswesen, Wasserversorgung) (De Mattos 2004). Die umfassende Deregulierung hat in Chile außerdem zur Herausbildung oligopolartige Unternehmensstrukturen geführt, unter anderem im Einzelhandel, Finanzsektor und in den Medien (Rogel/del Valle Rojas/Valdebenito 2010). So überrascht es nicht, dass das Poderómetro einige privatwirtschaftliche Unternehmen und den Zentralstaat als die einflussreichsten Akteur*innen des Landes identifiziert. Zivilgesellschaftliche Organisationen haben den geringsten Einfluss (PNUD 2004: 195ff). Mit dem Programm der Nationalen Stadtentwicklungspolitik von 1979 erfolgte auch eine Liberalisierung der Stadtentwicklung. Infolge dessen wurden staatliche Investitionen in den Wohnungsbau und die urbane Sozialpolitik zurückgefahren, Planungsregularien aufgeweicht, die Grundbesitzsteuer aufgehoben und urbanisierbare Stadterweiterungsflächen weitgehend flexibilisiert. Weitere Bestandteile dieser Politik waren eine kommunale Gebietsreform sowie die Umsiedlung informeller Siedlungen (Sabatini 2000). Nach einer radikalen Phase der Neoliberalisierung zu Ende der 1970er / Beginn der 1980er Jahre wurde nach

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der Wirtschaftskrise 1982 ein pragmatischerer Weg eingeschlagen (vgl. Fischer 2009, Silva 1996).7 Dieser Weg wurde auch mit der Redemokratisierung ab 1990 nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern im Wesentlichen weiter verfolgt. Im Zuge der „Umsiedlungspolitik“ während der Militärdiktatur wurden zwischen 1979 und 1985 mehr als 48.000 Familien aus einkommensstärkeren Stadtteilen in Santiago an den Stadtrand verdrängt (Hidalgo 2007). Auf diese Weise wurden die Kommunen Las Condes, Providencia und Santiago Centro von allen informellen Siedlungen „bereinigt“. Des Weiteren induzierte die Liberalisierung der Bodenmärkte einen rasanten Anstieg der Bodenpreise, da lokale Immobiliengesellschaften große Flächen, vor allem auch am Stadtrand, aufkauften (vgl. Borsdorf/Hidalgo 2007; Sabatini 2000). Mithilfe von staatlichen Subventionsprogrammen wurde der soziale Wohnungsbau in die Hände privater Unternehmen gelegt, wodurch es – den Prinzipien des Marktes folgend – zu einer Konzentration von sozialem Wohnungsbau in günstigeren Lagen am Stadtrand kam. Die Verantwortung für den geförderten Wohnungsbau obliegt nach wie vor dem zentralstaatlichen Städtebauministerium MINVU8 und dessen beiden regionalen Behörden (SERVIU Metropolitano, zuständig für die Ausführung von wohnungsbezogenen Planvorhaben, und SEREMI-MINVU, zuständig für Stadtentwicklung und Planung). Im Ergebnis setzte dies gewaltige sozialräumliche Segregationsprozesse in Gang (vgl. Salcedo 2010).9 Im Prinzip setzte sich die Ansiedlung von Sozialwohnungen am Stadtrand mithilfe von Förderprogrammen für untere und mittlere Statusgruppen nach der Rückkehr zur Demokratie in wenig veränderter Weise fort (Hidalgo 2007). Quantitativ wurde umfassend Wohnraum geschaffen, qualitative Aspekte ließ man jedoch weitgehend außen vor. Dies betrifft nicht nur die Wohnungen selbst, vielfach entstanden Komplexe ohne jegliche Anbindung an Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge (z.B. Schulen, Gesundheit, Nahversorgung, Anbindung an ÖPNV) (Rodríguez/Sugranyes 2004). Als ab Mitte der 1990er Jahre die Kritik an den sozialen Effekten des standardisierten Wohnungsbaus zunahm, wurden Förderleistungen erhöht und die Projektentwicklung einer gewissen Regulierung unterlegt. Eine ernsthaftere Anpassung von Föderprogrammen und eine Berücksichtigung von Kriterien wie Wohnungsqualität und Integration erfolgten erst ab 2007 unter Präsidentin Bachelet. Damit wird beispielsweise erstmals

7 8 9

Die im Zuge der Diktatur geschwächten Gewerkschaften haben auch aktuell nur eine geringe Bedeutung. Aus Lesbarkeitsgründen begrenze ich mich im Text weitgehend auf die deutsche Übersetzung und ggf. Akronyme der Institutionen (Originalbezeichnung s. Anhang). Allerdings konzentrierte sich der standardisierte soziale Wohnungsbau bereits vorher auf den Stadtrand; in den 1960er Jahren mit ca. 65.000 Wohnungen (Welz 2014: 104).

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nicht nur der Bezug von neu errichteten, sondern auch von bestehenden Wohnungen unterstützt, so dass Wohnungssuchende die Standortwahl besser beeinflussen können. Wohnungsbaugesellschaften konzentrieren sich allerdings nach wie vor auf den Neubau von Wohnungen (Welz 2014: 107ff). Die Dominanz einer wirtschaftsliberal orientierten Stadtentwicklungs- und Planungspolitik wird besonders deutlich in dem Bestreben der politischen und ökonomischen Eliten Chiles, Santiago im globalen Wettbewerb zu platzieren. Dazu werden möglichst optimale Voraussetzungen für den Zustrom internationalen Kapitals geschaffen (vgl. Silva 2008). So wurde seit Ende der 1990er Jahre unter anderem ein System der „Konditionierten Planung“ aufgebaut, das darauf abzielt, die Realisierung von Megaprojekten zu ermöglichen; neuen Städten mit teilweise mehr als 100.000 Einwohner*innen, die vor allem im noch nicht urbanisierten Umland Santiagos entstehen sollen (Lukas 2014). Die „Kondition“ der Planung beruht dabei auf dem Prinzip, die bauliche Entwicklung von Flächen grundsätzlich nicht einzuschränken, sondern daran zu binden, dass auch öffentliche Interessen (mit)berücksichtigt werden, wobei projektbezogen auszuhandeln ist, worin diese Kompensationsmaßnahmen bestehen.10 Diese Form der öffentlich-privaten Koordination gewährleistete nicht nur die Verknüpfung von Flächennutzungs- und Infrastrukturplanung, sondern auch ein dynamisches Wachstum (vgl. Heinrichs/Nuissl/Rodríguez Seeger 2009). Die ab den 1990er Jahren zunehmend transnationalen Kooperationen zogen eine hohe Kapitalmobilisierung und Modernisierung der Infrastruktur nach sich. Im Zuge dessen haben auch Konzessionssysteme für den privatwirtschaftlichen Autobahnbau erheblich an Bedeutung gewonnen (Silva 2011). Auch die jüngste Modifikation des stadtregionalen Flächennutzungsplans (PRMS) als PRMS 100, mit dem die urbanisierbare Fläche (límite urbano) der Metropolregion um 10.000 ha erweitert wurde, folgt dem Prinzip der konditionierten Planung (vgl. Hölzl/Nuissl 2014). Innerstädtische und semiperiphere Transformationen beruhen hingegen auf kommunalen Flächennutzungsplänen, die häufig modifiziert werden, sowie spezifischen flexibilisierenden Planungsinstrumenten und lokalen Bauregulierungen, die es einer überschaubaren Gruppe von Entwicklern ermöglicht, steigende Grundrenten zu kapitalisieren. Hinzu kommen gezielte Förderlinien für Mittelschichten für innerstädtische Flächen, die Gentrifizierungsprozesse stimulieren (López-Morales 2011). Dabei kommt dem nationalen Infrastrukturministerium (MOP) die einflussreichste Rolle in der Stadtentwicklung zu (vgl. Ducci 2004; Nuissl u. a. 2012). Gerade seitens des MINVU gibt es zwar immer wieder Versuche, die regulativen 10 Ein Gesetzesvorschlag, diese Großprojekte zu einer 5%-Quote für sozialen Wohnungsbau zu verpflichten, wurde abgewiesen.

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Handlungsspielräume der öffentlichen Hand auszuweiten, eine substanzielle Erhöhung der planerischen Gestaltungsmacht war damit jedoch bislang nicht verbunden. Vor allem in den 1990er Jahren hatte dies seine Ursache auch darin, dass Programme der unterschiedlichen Ressorts oftmals unkoordiniert nebenund teilweise auch im Widerspruch zueinander standen. So kollidierte der 1994 vom MINVU verantwortete PRMS, der im Kern das Prinzip einer kompakten Stadt verfolgte, mit den Investitionsplänen des Infrastrukturministeriums. Diesen lag die Idee einer polyzentrischen und weit ins Umland greifenden Urbanisierung zugrunde (vgl. Poduje 2006). Eine konkrete räumliche Leitvorstellung für die künftige Entwicklung Santiagos sucht man daher bislang vergebens. Stattdessen fällt ein ausgeprägtes Wachstumsparadigma auf. Dieses fußt auf der Leitidee der Wohlstandssteigerung für alle Chilen*innen und ist als ein grundeigenes Argument der Concertación, also des Bündnisses der Mitte-Links Parteien, die seit der Rückkehr zur Demokratie (bis auf Piñeras Amtszeit) an der Macht ist, zu verstehen.11 Diese Vorstellung trug zur Verinnerlichung der freien Marktwirtschaft als Teil der chilenischen Identität bei. So beschreibt ein Interviewpartner des MINVU diese als allgegenwärtiges und unantastbares Charakteristikum Chiles und distanziert sich davon, dass dafür während der Militärdiktatur die entscheidenden Impulse gesetzt wurden: „Die freie Marktwirtschaft in Chile ist nicht von heute, sondern von vor 40, 50 Jahren. Das hat weder Pinochet, noch die Concertación, noch die aktuelle Regierung eingeführt. Es gibt sie schon viel länger. Wir sind ein Land des freien Marktes. Wo der Markt agiert. Und der Markt wird wissen, wo und wann er aktiv wird.“ (S16 120, Leiter der Stadtentwicklungsabteilung MINVU)

Soziale Bewegungen wie die MPL, die mit den sozialräumlichen Konsequenzen dieser Entscheidungen in Form von Gentrifizierung und Verdrängung zu kämpfen haben, kommen zu folgender Einschätzung der städtischen Elitennetzwerke: „Das sind Immobilienkartelle, die sich in einem Drehkreuz zwischen Beratungsunternehmen, NGOs, Universitäten, Behörden, Immobilien- und Bauwirtschaft befinden und sich ständig drehen. Es gab zwei Wohnungsminister der Concertación, die heute Teil des Nationalrats der CChC sind, und das ist keine Überraschung. Es ist keine Überraschung, dass die gleichen Bau- und Immobilienunternehmen, die während der Wirtschaftskrise 82, 83 den Großteil des landwirtschaftlichen Hinterlands zu einem Spottpreis gekauft haben, die gleichen sind, die sich danach die Wohnungsprojekte zuteilten.“ (SP3 50, Sprecher MPL) 11 2013 wurde das Bündnis Nueva Mayoría ins Leben gerufen, womit sich die Parteien der Concertación mit weiteren Parteien des linken Spektrums zusammenschlossen.

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Die Kommunen und Regionen in Chile sind aufgrund des historisch herausgebildeten, ausgeprägten Zentralismus‘ des politischen und administrativen Systems hingegen politisch schwach (Chuaqui/Valdivieso 2004). Mit der Rückkehr zur Demokratie übernahmen die Kommunen im Zuge von Dezentralisierungsprozessen bzw. dem downscaling von Governance (Swyngedouw 2004) zwar neue Funktionen um die öffentliche Daseinsvorsorge und Raumplanung. Auch die kommunalen Bürgermeister werden seit 1990 direkt gewählt. Allerdings verfügen sie meist über sehr geringe finanzielle Budgets, und viele lokale Themen werden auf zentralstaatlicher Ebene bestimmt (Zegras/Gakenheimer 2000).12 In diesem Zusammenhang betont Greaves (2012: 99), dass mit den Kommunen „apolitische“ Einheiten ohne realen Einfluss geschaffen wurden, da skalare Steuerungsmechanismen die zivilgesellschaftliche Partizipation an die lokale Ebene banden. Der kommunale Wettbewerb zwingt die Gemeinden außerdem, die lokale Entwicklung auf ökonomische Interessen auszurichten. Zudem betonte die Generalsekretärin der NGO Habitat International Coalition (HIC) im Interview, dass die Nichtschaffung einer Stadtregierung dazu beitrug, dass sich in Santiago keine gemeinsame Identität herausbilden konnte (vgl. auch Schiappacasse/Müller 2004). Hinzu kommt eine vergleichsweise starke Position des Bürgermeisters, wohingegen der Kommunalrat kaum Einflussmöglichkeiten hat. „Man muss es mit aller Ehrlichkeit sagen, [...] der Gemeinderat ist eine Witzfigur. Wenn man eine formale Entscheidungsstruktur vor Augen hat, also kommunale Autorität mit Planungsberatung und Kommunalrat, mit verschiedenen Zugängen, die einen flüssigen Prozess mit Basisorganisationen und mit Anwohnern gewährt. [...] Das existiert nicht.“ (S14 29, Geschäftsführer Partizipationsbüro Paisaje Vivo)

Regierungstechniken auf lokaler Ebene Seit dem Ende der Militärdiktatur lässt sich in Chile ein Übergang zu subtileren Kontrollmechanismen von sogenannten Pobladores-Bewegungen beobachten (vgl. Kapitel 3). Die Figur des Poblador (Siedler) bildete sich im Zuge der Zuwanderung und Wohnungsnot in den 1960er Jahren heraus. Diese umfasst die städtischen, oft migrantischen Unterschichten, die sich organisierten und vom Staat Lösungen einforderten oder Land besetzten, wodurch in Santiago bis heute emblematische Siedlungen entstanden sind, wie La Victoria, José María Caro 12 Auch das Schulsystem wurde dezentralisiert, so dass öffentliche Schulen in den unterfinanzierten Kommunen mit hohen Defiziten zu kämpfen haben. Zusammen mit der Teilprivatisierung des Bildungssystems lassen sich im Bildungssystem also enorme Qualitätsunterschiede konstatieren, die seit 2006 immer wieder zu Protesten führten.

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und Lo Hermida (Tironi 1987; Sperberg 2004; Cortés 2014). Die Pobladores formten auch Teile der Bewegungen, die sich der Diktatur widersetzten. Das folgende Zitat verdeutlicht die spezifische Identität der Pobladores. Sie ordnen sich nicht der Arbeiterklasse zu, einerseits weil sie häufig über keine formelle Beschäftigung verfügen und andererseits weil ihr Agieren stark von einer wohnungs- und quartiersbezogenen Identität geprägt ist. „In Chile gab es neben dem Arbeiter wie überall auf der Welt [...] den Poblador. Dieser Akteur definierte sich nicht als Arbeiter. In Momenten großer Kämpfe verbündete er sich zwar, so wie es auch die Studenten machten, aber er identifizierte sich nicht notwendigerweise. Das scheint mir wichtig, denn im Grunde forderten diese Bürger ein Recht auf Stadt. Das war nicht ausschließlich mit der Welt der Produktion verbunden, sondern einer Welt, in der sie aus dem Arbeitsmarkt verbannt waren, und deswegen sind sie ein sozialer Akteur im wohnungspolitischen Kontext.“ (S10 2, Architektin Fak. für Architektur PUC)

Durch die Einbindung von Pobladores in Sozialprogramme (z.B. Chile Solidario) auf kommunaler Ebene wurden ab 1999 Verbindungen zu popularen Bewegungen aufgebaut, wodurch nach Greaves (2012: 107ff) langfristig ein stiller Konsens mit dem Staat erzeugt wurde. Die im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus geschaffenen Programme sowie Fortbildungsangebote für lokale Sprecher*innen von Komitees von Wohnungssuchenden (comites de allegados), die unter Lagos ins Leben gerufen und unter Bachelet fortgeführt wurden, kennzeichnet eine individualisierende und apolitische Kultur (Greaves 2012: 99f.). Das Interesse der Pobladores-Organisationen an politischen Auseinandersetzungen wurde dadurch erheblich geschwächt (Larrañaga/Contreras 2010). Im Sinne eines divide and conquer kam es zu einer Zersplitterung der politischen Ansichten und einem Verlust von Vertrauen und Zusammenhalt zwischen Pobladores, die als Sprecher*innen an Sozialprogrammen teilnehmen und denen, die eine Teilnahme verweigern. Diese Politiken bewirkten – verstärkt durch die homogenisierende Gemeindereform von 1981 – auch einen scale-Effekt, indem Organisationen an die kommunale Ebene gebunden und Vernetzungen und Mobilisierungen über das Lokale hinaus erschwert wurden (vgl. Uitermark/Nicholls/Loopmans 2012). Verstärkt durch die Unterdrückungsmechanismen der Diktatur büßten soziale Bewegungen dadurch erheblich an Einfluss ein. Zudem wurden zivilgesellschaftliche Potenziale auch dadurch geschwächt, weil internationale Unterstützung in Form von NGOs mit dem Ende der Diktatur gekappt wurde. Folglich stellt die Wiederherstellung insbesondere stadtweiter Netzwerke heute eine der größten Herausforderungen für sie dar (Greaves 2012: 103), wie auch das folgende Zitat veranschaulicht:

136 | P ROTESTBEWEGUNGEN UND S TADTPOLITIK „Wir brauchen Zusammenhalt, und das ist uns schwer gefallen, weil wir ein Volk sind, das immer militärisch unterdrückt wurde. Diese Unterdrückung hat zu einer enormen ideologischen Zersplitterung der politischen Ziele der Leute in den Poblaciones geführt.“ (SP4 25, Movimiento por la Justicia)

Die autoritär-technokratische Grundhaltung bedeutet auch, dass Sozialprogramme (inkl. das aktuelle Quiero mi Barrio) bislang meist einer top-down Gestaltung folgen und sich in der Konsequenz als wenig effizient erwiesen haben, wie ein NGO-Vertreter kommentierte. Hinzu kommt, dass einkommensschwächere Kommunen wie Penalolén nach wie vor von klientelistischen Strukturen durchzogen sind, die sich ab den 1970er Jahren herausgebildet haben (Taylor 1998; Rivera-Ottenberger 2008). Diese schwächen nicht nur die sozialen Organisationen, sondern befördern teilweise auch Konkurrenzen zwischen unterschiedlichen Bewegungen. Auch die Vergabe von Besitzurkunden an ehemalige Landnehmer*innen hat Folgen. Hier lässt sich eine Individualisierung von Problemlagen beobachten (vgl. auch Harvey 2005). Gleichzeitig distanzieren sich Einwohner*innen in Teilen von den Pobladores-Bewegungen. Letzteres ist nach José Bengoa (2009) Folge der „zwanghaften Modernisierung“ Chiles, für die das Leitbild der Konsumorientierung prägend ist. Kollektives politisches Handeln ist demnach zunehmend in den Hintergrund gerückt, was mit einer starken Depolitisierung weiter Bevölkerungsteile verbunden ist. Was die formellen Partizipationsmöglichkeiten in der lokalen Planung betrifft, so dominiert im politischen Raum die Vorstellung, dass Stadtentwicklung eine technisch zu lösende Herausforderung und am besten in den Händen von Expert*innen aufgehoben ist, wie das folgende Zitat veranschaulicht. Damit geht einher, dass der Zivilgesellschaft kaum eine einflussnehmende Rolle zugestanden wird. Dem Politischen haftet also ein elitärer Charakter an. Beteiligen kann sich nur, wer über ein fundiertes Fachwissen verfügt (Forray 2007). Folglich sind zivilgesellschaftliche Mitgestaltungsmöglichkeiten von Stadtquartieren oder der Einfluss auf Großprojekte, wie zum Beispiel Autobahnen, defizitär. Allerdings betrifft dies nicht nur die Bürger*innen. Nach wie vor wird auch keine große Notwendigkeit gesehen, Kommunalverwaltungen in Planungsschritte einzubinden (vgl. Zunino 2006). „Partizipation ist in Chile eine ziemlich neue Idee. Es gibt in Chile eine eher feudale Vorstellung, dass der Experte eine verabschiedete Person ist, die gut informiert ist und wahrscheinlich aus einer höheren Schicht stammt [...], so sieht die Realität aus.“ (S14 31, Geschäftsführer Partizipationsbüro Paisaje Vivo)

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Diese Einschätzung bestätigt auch folgende Expertin und betont, dass trotz vieler Fehlplanungen weiterhin auf technische Lösungen vertraut wird ohne die Kompetenzen der Bürger*innen einzubeziehen: „Die Kompetenzen der Bürger, [...] die Qualitäten von städtischem Raum, Habitat etc. zu bewerten, werden nicht ausreichend anerkannt. Sie glauben, die Lösung liegt in der Technik, und kommen allein daher. Die Geschichte kennen wir bereits. Transantiago war ein Fiasko, die Schnellstraßen, der Tunnel,...“ (S10 35, Architektin Fak. für Architektur PUC)

Die formelle Beteiligungspflicht in der lokalen Stadtplanung begrenzt sich weitgehend auf den kommunalen Flächennutzungsplan (PRC) (vgl. LGUC, Artikel 43).13 Dabei ist hervorzuheben, dass entsprechend der gesetzlichen Regelungen keine Beteiligung während der Erarbeitung des Flächennutzungsplans (durch die kommunale Stadtplanung und/oder ein Planungsbüro) zu erfolgen hat. Erst vor der Anhörung durch den Gemeinderat müssen die Anwohner*innen informiert werden, was unter anderem in Form von postalischen Benachrichtigungen an Vertreter*innen sozialer Organisationen geschieht. Dies können Nachbarschaftsverbände (Juntas de Vecinos) sein, die in Chile jedoch selten eine ernstzunehmende Interessenvertretung darstellen. Bis zu diesem Zeitpunkt kennen die Bürger*innen weder den Plan, noch verfügen sie über die technischen Kenntnisse, um dessen Konsequenzen absehen zu können. Über eine Informationspflicht geht die gesetzliche Regelung jedoch kaum hinaus (vgl. auch Mlynarz 2011).14 Der Aushandlungsprozess im Rahmen des PRC stellt ein Zusammenspiel vieler Akteur*innen mit unterschiedlichen Eigenschaften und Interessen dar: So fordern Investoren und deren Lobbys wie die Chilenische Baukammer (CChC) einen klaren, unkomplizierten Ablauf. Das SEREMI MINVU interessiert die zü13 Etwas umfangreicher gestaltet sich die mögliche Mitgestaltung von Kommunalen Entwicklungsplänen (Pladeco). Diese sind aber nur von untergeordneter Bedeutung. Im Fall von Großprojekten wie Autobahnen sind zwar Umweltverträglichkeitsgutachten erforderlich, die Partizipationsinstrumente enthalten. Aber auch diese gehen über eine Informationspflicht kaum hinaus. Auf das zugrunde liegende und oft modifizierte nationale Planungsgesetz LGUC kann überhaupt kein Einfluss genommen werden. 14 Im Detail müssen laut Gesetz für den PRC mindestens zwei öffentliche Anhörungen stattfinden. Das Projekt wird für 30 Tage ausgehängt und in der zweiten Anhörung erfolgt eine Synthese aller im Gemeinderat eingegangenen Beobachtungen. 15 bis 30 Tage später präsentiert der/die Bürgermeisterin das Projekt, und der Gemeinderat bewilligt es. Dabei ist auf alle erhaltenen schriftlichen Beobachtungen einzugehen, Planadaptionen müssen aber nicht erfolgen. Der Ort der Präsentation muss vorher in mindestens zwei Medien mitgeteilt werden. Die Plangenehmigung obliegt mit dem SEREMI MINVU schließlich der zentralstaatlichen Ebene, die den PRC innerhalb von 60 Tagen auf seine Kompatibilität mit dem übergeordneten PRMS prüft.

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gige Bewilligung von Plänen und das MINVU eine effiziente Ausführung von Förderprogrammen. Planungsbüros, an die die Erarbeitung von Planungsstudien meist ausgelagert wird, müssen unter hohem Kosten- und Wettbewerbsdruck agieren. Dies hat zur Konsequenz, dass partizipative Elemente, die sich in Kosten niederschlagen, so weit wie möglich vermieden werden. Derzeit wird laut einem Consulting-Büro für Partizipation circa 5% des Gesamtbudgets, das für die Erarbeitung eines neuen Flächennutzungsplans zur Verfügung steht, für Partizipationsangebote bereitgestellt.15 Planungsbüros wollen aber auch ihre Expertise zum Einsatz bringen, wodurch eine Vorherrschaft der Technokratie über die kommunale Politik reproduziert wird, wie sich aus einem Gespräch in der Stadtentwicklungsabteilung des MINVU schließen ließ. Hinzu kommt, dass sich die Verhandlungen im Rahmen der Modifikation oder Neuerstellung eines PRC durch einen informellen Charakter auszeichnen. Dies gibt den Akteur*innen in Abhängigkeit von ihrer Positionalität sehr unterschiedliche Einflussmöglichkeiten. So geht mit dem Leitbild der „Flexibilität“ nicht nur einher, dass sich der PRC durch Ausnahmeregeln umgehen lässt (Vergara 2009), sondern Aushandlungen und deren Ergebnisse werden wesentlich durch die Beziehungen und Druckmittel einflussreicher Lobbygruppen gelenkt (Tironi u. a. 2011: 277f.). Sozialräumliche Transformationen & Verortung der Fallstudien Die skizzierten Politiken der Stadtentwicklung ermöglichten seit den 1990er Jahren umfangreiche räumliche Transformationen. Oft im Rahmen öffentlich-privater Partnerschaften entstanden in Santiago zahlreiche neue Stadtautobahnen und neue Immobilienprojekte für die Mittel- und Oberschicht, zunächst als kleinere Gated Community-Projekte am Stadtrand und später in Form von Megaprojekten außerhalb der Metropolregion (Borsdorf/Hidalgo 2008). Damit verbunden ist, dass sich die urbanisierte Fläche von 330 km² im Jahr 1980 auf circa 600 km² in 2004 fast verdoppelte (Petermann 2006). Gleichzeitig sind die innerstädtischen Gebiete geprägt von Prozessen der Vertikalisierung und Gentrifizierung. Gegenüber diesen Aufwertungsprozessen sorgte der soziale Wohnungsbau am Stadtrand für eine ausgeprägte sozialräumliche Entmischung. Von 1985 bis 2002 sind insgesamt 200.000 Sozialwohnungen entstanden (Hidalgo 2007). Mit 1,5 Mio. Menschen lebt heute etwa ein Fünftel der städtischen Bevölkerung in subventioniertem Wohnungsbau (Greaves 2012: 198). Einen Konzentrationspunkt stellen unter anderem die Kommunen am südlichen Rand des Metropolgebietes dar. So setzt sich in der Kommune Puente Alto, wo 0,5 Mio. Menschen le15 Vereinzelt existieren jedoch ambitionierte Consultings für Partizipation, die eine umfassende Aufklärung und Darlegung möglicher Optionen anstreben.

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ben, 25% des Wohnungsbestands aus sozialem Wohnungsbau zusammen. Im 100.000 Einwohner*innen umfassenden La Pintana sind es über 50% (Hölzl u. a. 2011: 33). Auch die in der letzten Dekade konstruierten subventionierten Wohnungen verteilen sich in ähnlicher Weise über das Metropolgebiet. Einer wissenschaftlichen Expertin zufolge lokalisiert sich 40% des zwischen 2001 und 2006 konstruierten sozialen Wohnungsbaus innerhalb von Gran Santiago, von 2007 bis 2010 war es circa 60%. Gleichzeitig gehen die in jüngerer Zeit stattfindenden Gentrifizierungsprozesse semiperipherer Gebiete in Santiago auf Kosten kleiner Eigentümer*innen, die systematisch verdrängt werden. Die Beihilfen, auf die sie Anspruch haben, reichen nur aus, um eine Sozialwohnung in der Peripherie zu erstehen (vgl. López-Morales 2011). Abbildung 1: Kommunen des Großraums Santiago de Chile 0

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10 km

LO BARNECHEA HUECHU RABA QUILICU RA VITACURA CONCHALÍ RENCA CERRO NAVIA PUDAHUEL

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LA LA S. CISTERNA GRANJA

LA FLORIDA

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LA PINTANA

PUENTE A LTO

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Provinzgrenze

besiedelte Fläche

Grenze der Kommune

Autobahn und autobahnähnliche Straße

Quelle: Eigener Entwurf; Basis: Lukas 2014, ergänzt.

IND. P.A.C. S. J. S. J.

INDEPENDENCIA PEDRO AGUIRRE CER DA SAN J OAQUIN SAN RAMÓN

140 | P ROTESTBEWEGUNGEN UND S TADTPOLITIK Vitacura – reichste Kommune in Chile Aufgrund der zentralen Lage, der Nähe zum Banken- und Geschäftsviertel und eines positiv besetzten Images handelt es sich bei Santiagos innerstädtischen sowie nordöstlich angrenzenden Kommunen (vor allem Vitacura, Providencia, Las Condes und Ñuñoa) um begehrte Standorte der Immobilienentwicklung. In der Konsequenz unterliegt die bauliche Struktur und Nutzung einer starken Dynamik. Als Inbegriff des Anschlusses an die globale Wirtschaft entstand in den 1990er Jahren einige Kilometer westlich des historischen Stadtzentrums das neue Banken- und Geschäftsviertel Sanhattan. Die circa 50 zugehörigen Hochhäuser befinden sich am Schnittpunkt der Kommunen Vitacura, Las Condes und Providencia (Lukas/ Wehrhahn 2013). Seitdem wurden viele Büroflächen aus dem Zentrum hierher verlagert, was eine Degradierung des traditionellen Stadtzentrums nach sich zog. 96% der Büroflächen konzentrieren sich auf Vitacura (wo sich die erste Fallstudie lokalisiert) und vier weitere Kommunen (Rodríguez/Winchester 2001). Erst kürzlich wurde der Gran Torre Santiago fertiggestellt, mit 300m der höchste Wolkenkratzer Südamerikas. Vitacura, das mit 81.500 Einwohner*innen zu den kleineren Kommunen Santiagos zählt (vgl. Abbildung 1), ist nicht nur die reichste Kommune innerhalb der Metropolregion, sondern überhaupt in Chile. Als administrative Einheit existiert Vitacura seit 1981, als es im Zuge der kommunalen Gebietsreform als sozioökonomisch privilegierter Teil von Las Condes abgespalten wurde. Armut, sozialen Wohnungsbau oder informelle Siedlungen gibt es hier nicht. Die Bewohner*innenschaft genießt eine hochwertige Infrastrukturausstattung und Lebensqualität, was unter anderem der hohe Grünflächenanteil von 10m² pro Person veranschaulicht (Gran Santiago: 3,7m² pro Kopf) (Hölzl u. a. 2011). Hinzu kommt, dass die traditionell konservative Bevölkerung Vitacuras noch vielfach in Einfamilienhäusern lebt und folglich lukrative Entwicklungspotenziale für Investitionen gesehen werden. Mit durchschnittlich 200 m² werden hier die größten Wohnungen der Stadt gebaut (vgl. Rodríguez/Winchester 2001).

Auf diese Weise entstanden stigmatisierte Siedlungen, in denen sich Armut und Kriminalität konzentrieren (vgl. Rodríguez/Sugranyes 2004). Laut CIPER Chile sind 660.000 Santiaguinos in 80 Siedlungen von einer sozialräumlichen Benachteiligung betroffen (Figueroa/Sullivan/Fouillioux 2010). In einigen Fällen lässt sich von einer Ghettoisierung mit erhöhter Drogenproblematik, Jugendgewalt und überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit sprechen, womit aus Sicherheitsbedenken auch eine eingeschränkte Infrastrukturversorgung (z.B. Post, Polizei, medizinische Versorgung) einhergeht (vgl. Sabatini/Brain 2008). Auf diese Weise wurde eine große Gruppe von „Anteilslosen“ (Rancière 2002) geschaffen, die kaum in der Lage ist, sich zu organisieren.

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Als problematisch ist auch der schwache soziale Zusammenhalt in diesen Siedlungen einzustufen, der auf die mangelnde Berücksichtigung von Netzwerken zwischen Anwohner*innen im Rahmen der Vergabe von Sozialwohnungen zurückzuführen ist. Außerdem wird davon ausgegangen, dass die Umsiedlungspolitik unter Pinochet auf die Durchbrechung von sozialen Netzwerken abzielte. Verschiedenen Autor*innen zufolge handelt es sich hierbei um Strategien der Militärdiktatur, um potenziell widerständige soziale Gemeinschaften aufzulösen (Rodríguez/Sugranyes 2004) und durch sozialräumliche Homogenisierung die Kontrolle sozialer Gruppen zu vereinfachen (Guzmán u. a. 2009; Rebolledo 2012). Vor diesem Hintergrund wird auch die kommunale Gebietsreform von 1981 gesehen, aus der auch Peñalolén hervorging, so dass sich hier von politics of territory sprechen lässt. Peñalolén – Vom Sammelbecken der Armen zum Immobilienparadies Die am westlichen Stadtrand am Fuße der Anden gelegene Kommune Peñalolén (Abbildung 1) erfährt eine voranschreitende Gentrifizierung und Verdrängung ärmerer Schichten. Die dortigen Restrukturierungsprozesse bilden den Rahmen für den zweiten Analysefall dieser Studie. Die Kommune zeichnet sich durch eine in Santiago selten vorzufindende soziale und kulturelle Heterogenität aus. Während Peñalolén bis Ende der 1980er Jahre vorwiegend von unteren Einkommensschichten bewohnt war, reichen die Wohnformen der etwa 238.000 Einwohner heute von Sozialwohnungen über formalisierte Landnahmen (poblaciones) bis zu Gated Communities. Das heutige Peñalolén ging aus früheren Haciendas, also landwirtschaftlichen Großgrundbesitzen, hervor. In den 1950er und 1960er Jahren setzte eine starke Zuwanderung nach Santiago ein, wobei sich viele Landflüchtige in Peñalolén niederließen (Welz 2014). Darauf reagierte der Staat mit dem Verkauf von loteos irregulares, also nicht urbanisierten Grundstücken. Dies zog massive Forderungen nach einer Legalisierung und staatlichen Bereitstellung von Infrastruktur nach sich. Dem wurde Ende der 1960er Jahre nachgekommen (v.a. in den Quartieren Lo Hermida, La Faena und San Luis de Macul). Zudem kam es gerade in Lo Hermida, Peñalolén Alto und Las Parcelas bis zum Militärputsch 1973 zu diversen Landnahmen von Pobladores (Guzmán u. a. 2009: 6). Peñalolén war auch Empfänger von 11% der 48.000 Pobladores, die unter Pinochet umgesiedelt wurden (Hidalgo 2007). Bis heute prägt der historische Kampf um den Zugang zu Boden und Infrastruktur nicht nur die Entwicklung der Wohnstandorte, sondern auch die politische Kultur in Peñalolén insgesamt. Im Unterschied zu den meisten Kommunen Santiagos ist hier ein hoher Organisationsgrad vorzufinden. Es existieren relativ viele Vereine, soziale Bewegungen und andere soziale Organisationen. In Peñalolén Alto entstand ab 1984 die Comunidad Ecológica, ein Eco-Village mit 200 ha, in dem heute ca. 1.100 Menschen leben. Dabei handelt es sich um eine

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Soziale Bewegungen und aktuelle Trends Seit einigen Jahren mehrt sich die Kritik an den Folgen der neoliberalen Stadtentwicklung in Chile. Konflikte ergeben sich aus der wachsenden Unzufriedenheit um die Kommodifizierung von Wohnen, im Zuge des Abrisses von historisch wertvollen Gebäuden, Neubauprojekten, Autobahnprojekten, Shopping Malls und den kommunalen Planungsprozessen selbst. So kommt es je nach Entwicklungsdynamik in den Kommunen im Großraum Santiago insbesondere im Zusammenhang mit geplanten Immobilienprojekten häufig zu Änderungen von kommunalen Flächennutzungsplänen, obwohl das nationale Baugesetz (LGUC) eine Geltungsdauer von 10 bis 20 Jahren für diese Pläne vorsieht. Gegenwärtig lässt sich also eine Reaktivierung von Bewegungen und eine wachsende Zahl

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von bürgerschaftlichen Initiativen mit einer stadtentwicklungspolitischen Programmatik feststellen, die sich auch zunehmend öffentlich Gehör verschaffen, wenngleich große Unterschiede zwischen den barrios bestehen. Diese Entwicklung ist im Kontext jüngerer Tendenzen der Remobilisierung sozialer Bewegungen in Chile zu betrachten. Diese zeichnen sich durch einen Anstieg proaktiver Lösungsvorschläge und autonomer Handlungsansätze aus. Vor allem seit dem Erdbeben im Februar 2010 und der Kritik an den Rekonstruktionsprogrammen der Regierung lässt sich die Entstehung eines neuen nationalen Bewegungsnetzwerks beobachten (vgl. Valenzuela 2012). Im Zuge dessen gründete sich das Nationale Bündnis der Pobladores FENAPO, das inzwischen etwa 50.000 Mitglieder vereint.16 Des Weiteren ist auf die Studierendenbewegung (Höhepunkte 2011/12) zu verweisen, die eine Reform des Bildungssystems fordert. Auch über die Rekonstruktionsdebatte hinaus werden im Kontext der Mobilisierungen um Zugang zu Wohnen neue Tendenzen sichtbar. Ein Auslöser dafür waren die Proteste im Dezember 2010, als die rechtskonservative Staatsregierung (die erste nach 20 Jahren Concertación) das Vergabeverfahren von Wohnungsbeihilfen zu modifizieren versuchte, was die FENAPO verhindern konnte. Ein Experte kommentiert die aktuellen Entwicklungen wie folgt: „Diese Artikulationen generieren eine vielschichtige Stärkung der Organisation, auf der Ebene von Diskursen, von Vorschlägen, ihrer Kapazitäten. Themen der Selbstverwaltung etablieren sich, die es vorher vielleicht nicht gab, sondern nur die Forderung nach Unterstützungsleistungen oder nach dem Staat. Stattdessen entstehen Möglichkeiten von Selbstverwaltung, Kooperativismus.“ (S10 36, Geograph INVI)

Einen besonderen Bedeutungszuwachs hat die 2006 als Komitee von wohnungssuchenden Familienangehörigen gegründete „Bewegung der Siedler im Kampf“ (Movimiento de Pobladores en Lucha, MPL) erfahren, die als „Vorbild“ für andere Bewegungen fungiert. Die MPL baut auf die Tradition der chilenischen Landlosenbewegungen, die in die 1960er Jahre zurückreicht. Im Unterschied zu den herkömmlichen Komitees versucht sie einen neuen Weg einzuschlagen: Die Bewegung, bestehend aus 400 bis 600 Familien (d.h. ca. 2.000 Personen) und 50 Fachkräften, setzt sich nicht nur für würdiges Wohnen und gegen Gentrifizie-

16 Proaktiv beeinflusste die FENAPO die seit 2012 reformierten Wohnungspolitiken. Das Bündnis erarbeitete (1) eine neue Verordnung, um die Autokonstruktion von Sozialwohnungen durch Kooperativen zu ermöglichen, (2) eine Bodenbank, die verfügbare Flächen im Stadtgebiet von Santiago erfasst, um soziale Segregation zu reduzieren, und (3) die Möglichkeit, in Selbstverwaltung leerstehende Immobilien zu rekonstruieren (vgl. Castillo Couve 2010).

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rung ein. Sie will auch die klientelistischen Strukturen nicht mehr hinnehmen und kämpft basierend auf dem Prinzip der Selbstverwaltung gegen vorherrschende Unterdrückungsstrukturen (vgl. auch Mathivet/Pulgar 2010). „Die Wohnung ist nur der erste Schritt bei der Eroberung des menschenwürdigen Lebens. Unser Traum ist so groß, dass er gar nicht in vier Wände passt. Aus dieser Überzeugung haben wir beschlossen, dass wir den wohnungsfixierten Charakter des popularen Kampfes überwinden und die kulturelle Befreiung und Emanzipation in Angriff nehmen müssen.“ (SP3 15, Sprecher MPL)

Gleichzeitig ist erstmals in Chile ein steigendes zivilgesellschaftliches Interesse mittlerer und oberer Einkommensschichten zu verzeichnen (SUR 2009). Technokratische Planungsentscheidungen (z.B. Straßenbauprojekte) stoßen auch in diesen Milieus auf wachsende Kritik, wobei der Streit um die Stadtautobahn Costanera Norte, aus der 1996 die NGO Ciudad Viva hervorging, zu den ersten Protesten gehörte (vgl. Ducci 2000). Seitdem haben sich viele weitere Initiativen gebildet. Aktuell ist also eine Reaktivierung von Pobladores-Bewegungen (Movimientos de Pobladores) und ein Wachstum von Bürger*innenbewegungen (Movimientos Ciudadanos) zu beobachten. Während Pobladores-Bewegungen eher von öffentlichen Mobilisierungen Gebrauch machen, zählt Lobbyarbeit zum Handlungsrepertoire der Bürger*innenbewegungen.

B UENOS A IRES In Gran Buenos Aires, dem kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum des Föderalstaats Argentinien lebt mit 13 Mio. Einwohner*innen über 30% der Landesbevölkerung. Das Metropolgebiet setzt sich administrativ aus der autonomen Hauptstadt sowie 24 Partidos (~ Kommunen, formalrechtlich) der Provinz Buenos Aires (eine der 23 Provinzen Argentiniens) zusammen. In der autonomen Stadt Buenos Aires (Ciudad Autónoma de Buenos Aires, CABA, im Weiteren „Buenos Aires“) leben etwa 2,9 Mio. Menschen. Seit der Verfassungsreform 1994 verfügt diese über eine unabhängige Stadtregierung und eine eigene Verfassung, die im Vergleich zu Santiago eine eigenständige Stadtentwicklungspraxis ermöglicht. Die Koordination mit der zentralstaatlichen Ebene ist, unter anderem aufgrund von Haushaltsfragen, von Konflikten geprägt (Haldenwang/Gordin 2010). Buenos Aires besteht aus 48 Stadtteilen, die seit 2011 zu 15 Kommunen zusammengefasst sind (vgl. Abbildung 2).

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Regierungstechnologien Im Unterschied zu Chile ist der Regierungsstil in Argentinien durch einen starken Populismus geprägt. Dabei kommt dem Peronismus eine besondere Rolle zu. Dieser zeichnet sich unter anderem durch eine charismatische politische Führerschaft sowie eine hohe Flexibilität aus, wie die verschiedenen Regierungen seit den 1950er Jahren erkennen lassen (Levitsky 2003; Geiger 2010). Das Beispiel der aktuellen Stadtregierung von Buenos Aires belegt zudem, dass auch rechte Parteien zunehmend Gebrauch von neopopulistischen Elementen des Regierens machen (Casullo 2012). Das Feld der Planung charakterisiert – wie in Chile – ein ausgeprägt technokratisches Verständnis, das sich unter anderem in Form von Top-down Lösungsansätzen und einer restriktiven Vorstellung von zivilgesellschaftlicher Mitsprache niederschlägt. Aber im Unterschied zu Chile basiert dieses Handeln weniger auf einer tief verankerten Regierungstechnologie. Während in Chile ein konsensuelles Grundprinzip des Regierens vorherrscht, scheint sich in Argentinien eher ein Prinzip des Dissenses identifizieren zu lassen. Eine generelle Problematik ist, dass politische Meinungsunterschiede im Vordergrund stehen und wenig Kontinuität von Politiken vorherrscht. Vorschläge vorangegangener Regierungen werden nicht aufgegriffen. Das Parteiensystem ist geprägt von einer mangelnden Repräsentationsfähigkeit politischer Alternativen für die Wähler*innen (Mustapic 2010). Auf städtischer Ebene tragen die Parteienzersplitterung und das schwache Parlament dazu bei, dass umfassende Reformen, beispielsweise des Stadtplanungsgesetzes, schwer durchzusetzen sind. Seitdem auf städtischer und nationaler Ebene unterschiedliche Parteien herrschen, bestimmt dieser Dissens zudem die vertikale Koordination. Folgt man Auyero (2001) verbergen sich hinter diesen politischen Auseinandersetzungen von Elitennetzwerken jedoch oft weit mehr Gemeinsamkeiten, als man zunächst annehmen würde. Des Weiteren wird Argentinien zu den „Räumen begrenzter Staatlichkeit“ gerechnet (Braig/Stanley 2008; Desmond Arias/Goldstein 2010), was eine defizitäre staatliche Steuerungsfähigkeit nicht-staatliche Akteur*innen beschreibt. Dabei wird der formale Rechtsstaat zunehmend durch nur begrenzt kontrollierbare, nicht-legale Praktiken im Kontext von Korruption, klientelistischen und mafiösen Strukturen sowie gewachsenen nicht-staatlichen Sicherheitsdiensten ausgehebelt. Dies gilt gerade für informelle Siedlungen und kommt in Konflikt D um die Besetzung des Parque Indoamericano zum Ausdruck.

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Gesellschaftliche Merkmale Die argentinische Identität ist stark von der gemeinsamen Zuordnung zur Mittelschicht geprägt. Beim Konzept der Mittelschicht handelt es sich in Argentinien weniger um eine ökonomische Kategorie, sondern um ein „historisch-kulturelles Modell“ (Kessler 2002: 275ff). Dieses Modell hat nach Adamovsky (2009) seinen Ursprung im Peronismus und bezieht sich auf die Nachfahren europäischer Einwanderer*innen, die Zugang zu staatlicher Bildung und einen funktionierenden Wohlfahrtsstaat haben. Mit der Idee, dass alle Bürger*innen Teil der Mittelschicht sind, ist in Argentinien auch das Leitbild der Chancengleichheit tief verankert. Allerdings ging mit der seit den 1990er Jahren gewachsenen sozialen Polarisierung und der damit verbundenen auf- und abwärts gerichteten sozialen Mobilität sowie neuen kulturellen Zugehörigkeiten ein zunehmend diffuses Verständnis der Mittelschicht einher. Im Ergebnis ordnet sich heute ein diverses Feld von Einkommensschichten dieser Kategorie zu. Gleichzeitig ist diese Zuschreibung als ausgeprägtes Abgrenzungsmerkmal von anderen Ländern Lateinamerikas zu verstehen, womit sich eine tief verwurzelte xenophobe Grundhaltung verbindet (Adamovsky 2009). Diese Kehrseite des argentinischen Identitätsmodells bekommen die marginalisierten Schichten in Buenos Aires zu spüren. Diese Bevölkerungsgruppen, von denen sich auch die verarmten Mittelschichten abgrenzen (Kessler 2002: 275ff), besitzen häufig einen Migrationshintergrund. Überdies sind sie oft im informellen Sektor tätig. In Argentinien gelten sie als Bürger*innen 3. Klasse (Cravino 2011) oder, in Rancières Worten, als „Anteilslose“. Die Einwanderungspolitik Argentiniens signalisiert zwar Offenheit für Zuwanderung, aber lange Zeit zielte diese auf eine „Europäisierung“ der argentinischen Gesellschaft ab (Sutton 2008: 107). Diese Einordnung ist im Kontext eines stark klassenbezogenen Verständnisses von Bürgerschaft in lateinamerikanischen Ländern zu sehen, in der Individuen nicht als gleich betrachtet werden. Diese diskriminierende Haltung hat sich Grimson und Caggiano (2012) zufolge seit den 1990er Jahren – also mit der Zunahme von ökonomischen Krisensituationen, der Krise des Gesundheitssystems und hohen Arbeitslosenziffern – weiter verschärft. Seitdem werden in Argentinien Migrant*innen aus den Nachbarstaaten zunehmend für bestehende soziale Probleme verantwortlich gemacht. Des Weiteren wird gerade aufsteigenden Mittelschichten und Oberschichten, ähnlich wie in Chile, ein politisches und soziales Desinteresse nachgesagt (Kessler 2002). Manche Autor*innen betonen gar einen „regelsprengenden“ Individualismus in Argentinien, und das nicht erst als Folge der Neoliberalisierung (Waldmann 2002). Der Anstieg von Individualisierung und politischem Desinte-

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resse ist aber auch in Zusammenhang mit der Herausbildung von neuen abgeschotteten Wohnformen und einer gestiegenen Konsumorientierung zu sehen (Centner 2012; Svampa 2001). Rescaling von Governance Auch in Argentinien fanden die ersten Neoliberalisierungsprozesse während der Militärdiktatur (1976-1983) statt. Durch die Liberalisierung des transnationalen Kapitalmarktes wurde eine enorme Kapitalflucht stimuliert, mit dem Ergebnis einer bis heute anhaltenden Staatsverschuldung (vgl. Geiger 2010). Nach der Rückkehr zur Demokratie zwangen die Auflagen des IWF zu umfassenden finanziellen Einsparungen. Die damit verbundene Abwertung der Landeswährung resultierte 1989 in einer Hyperinflation, die von gravierenden sozialen Ausschreitungen begleitet wurde. Unter Präsident Menem (1989-1999) wurde im Zuge der Staatsreform eine umfassende Deregulierung und Privatisierung staatlicher Unternehmen sowie Liberalisierung des Kapitalmarkts und des Bodenmarktes vorangetrieben. Im Rahmen des Konvertibilitätsgesetzes wurde 1991 die Peso-Dollar-Parität eingeführt. Gleichzeitig stiegen die ausländischen Direktinvestitionen. Allein innerhalb der Stadtgrenzen wurden damit ca. 1.000 ha für die privatwirtschaftliche Entwicklung verfügbar gemacht, die bis dahin einer öffentlichen Nutzung vorbehalten waren (z.B. Flächen von Bahn und Hafen) (Crot 2006: 235). Das emblematischste Projekt stellt dabei sicherlich die Revitalisierung des ehemaligen Hafens Puerto Madero dar, der als öffentlich-private Partnerschaft entwickelt wurde (Pütz/Rehner 2007). Mit den rasanten Deindustrialisierungsprozessen ging ein starker Anstieg von Armut und Arbeitslosigkeit einher. Im Rahmen der Liberalisierungspraktiken der 1990er Jahre wurde auch der Wohnungssektor reformiert. Unter anderem erfolgte eine Dezentralisierung der finanziellen Ressourcen auf die Ebene der Provinzen durch die Restrukturierung des Nationalen Wohnungsfonds (FONAVI). Des Weiteren wurde die Nationale Hypothekenbank (BHN) reorganisiert und privatisiert. Schließlich konzentrierte man sich auf die räumliche Revitalisierung und Regulierung informell erschlossener Flächen (Baer 2011).17 Im Zuge der Neoliberalisierung wurde also verstärkt auf Eigenverantwortung gesetzt (vgl. Harvey 2005).

17 Gesellschaftspolitisch folgte man damit den Ideen des peruanischen Ökonoms und Gründers des einflussreichen Think Tanks ILD (Instituto Igualdad y Democracia) Hernando de Soto. Soto (1987) argumentiert, dass Arme durch die Generierung von Eigentum(spflichten) gleichberechtigter an gesellschaftlichen Prozessen teilnehmen.

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Nach 2001 wurden einige privatisierte Aufgaben wiederverstaatlicht, beispielsweise die Argentinischen Wasserbetriebe (AySA) (2006), das Rentensystem (2008) und der Ölkonzern YPF (2012). Durch die Reform von Exportsteuern (u.a. im Agrarsektor) konnten die Förderung von Industrie, tarifliche Lohnerhöhungen und neu aufgelegte Sozialprogrammen finanziert werden (Geiger 2010). Außerdem wurden Auslandsschulden neuverhandelt und dadurch erheblich reduziert.18 Auch die Wohnungspolitik wurde nach der Wirtschaftskrise wieder zentralisiert. Die Regierung unter Nestor Kirchner setzte den Fokus auf standardisierten Wohnungsbau und auf die Revitalisierung deprivierter Stadtteile. Das ambitionierte Bundeswohnungsbauprogramm (PFCV) zielte nicht nur darauf ab, die Wohnungsnot zu lindern. Damit sollte auch die Wirtschaft angekurbelt und Arbeitsplätze generiert werden (Ostuni 2010). Aufgrund steigender Bodenpreise scheiterte das Programm allerdings (Baer 2011; Río del/Duarte 2011). Letztlich wurden in Buenos Aires zwischen 2002 und 2009 nur 4.000 (anstatt der geplanten 11.000) Wohnungen gebaut, d.h. etwa 470 Wohnungen pro Jahr und damit sogar weniger als in den 1990er Jahren. Der Bedarf liegt Schätzungen des IVC zufolge jedoch bei mindestens 78.000 neuen Wohnungen (Baer 2011: 345). Auf städtischer Ebene lassen sich gerade seit dem Regierungsantritt von Mauricio Macri im Jahr 2007 wachsende Einsparungen und ein fortschreitendes Outsourcing beobachten. Auf diese Weise wurde dem Städtischen Wohnungsinstitut (IVC), das für die Wohnungspolitik in Buenos Aires zuständig ist, zunehmend die Gestaltungskraft entzogen.19 Gerade die zentrale Aufgabe der Urbanisierung von informellen Siedlungen (villas miserías) wurde finanziell beträchtlich gekürzt, und Leistungen für villas reduzieren sich mehr und mehr auf Notfälle (Arqueros Mejica u. a. 2011: 177). Die wohnungspolitischen Tätigkeiten konzentrieren sich demnach zunehmend auf kostengünstige und öffentlichkeitswirksame Maßnahmen wie die Bodenregulierung (vgl. Kapitel 11).

18 Aufgrund ungelöster Schuldenprobleme stand Argentinien 2014 jedoch erneut vor einem Staatsbankrott. 19 Das Organ ist der Stadtregierung direkt unterstellt. Während unter den Bürgermeistern Ibarra (2000-2006) und Telerman (2006-2007) 5% des Gesamtetats der Wohnungspolitik zugewiesen wurde, war es 2010 weniger als 1%, wovon überdies nicht einmal die Hälfte ausgegeben wurde (Zapata 2013). Der wichtigste Arbeitsschwerpunkt des IVC ist derzeit ein Umsiedlungsprogramm zur Sanierung des Flusses Riachuelo. 2012 wurden 600 Familien umgesiedelt, 1.400 weitere Sozialwohnungen sind geplant. Dieses und ähnliche Programme, die die Stadt durch Gerichtsbeschlüsse verpflichten, Wohnungen bereitzustellen, sind sehr konfliktgeladen; unter anderem da den Bedürftigen anstatt zusätzlicher Programme oft Wohnungen zugewiesen werden, die für andere Anwärter*innen vorgesehen waren (vgl. Kapitel 11).

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Außerdem wurden seit 2000 umfangreiche Kompetenzen an neue Wohnungsbehörden ausgelagert (Arqueros Mejica u. a. 2011; Zapata 2013). Die dezentralen Einheiten für Soziale Intervention (UGIS) kümmern sich um die Vergabe von Materialien in villas. Die Corporación Buenos Aires Sur S.E. (CBAS) ist seitdem für die wirtschaftliche Entwicklung im Süden der Stadt (die Corporación Buenos Aires Norte im Norden) und die Koordination des sozialen Wohnungsbaus zuständig.20 Die durch das Outsourcing versprochene Effizienzsteigerung blieb jedoch aus. Stattdessen zeichnet sich die Wohnungspolitik von Buenos Aires durch mangelnde Koordination und Misswirtschaft aus. Korruption und Intransparenz haben dadurch laut interviewten Expert*innen (darunter eine Mitarbeiterin des IVC) weiter zugenommen. So kommentierte eine Expertin die weitgehend unbekannte Corporación Buenos Aires Norte wie folgt: „Diese Einrichtung gibt es in der Praxis noch gar nicht, sondern nur auf dem Papier. Und jedes Jahr wird ihr ein Haushalt zugewiesen, aber da die praktische Umsetzung dieser Einrichtung nicht abgeschlossen ist, finden die Mittel anderweitig Verwendung [lacht].“ (BI9 14, Soziologin IIGG UBA)

Ferner wurden alle Behörden dem 2011 gegründeten Sekretariat für Wohnen und Inklusion unterstellt, das dem Ministerium für Wirtschaftsentwicklung untergeordnet ist. Da die tatsächliche Organisation aber unverändert geblieben ist, wird auch hier Korruption vermutet. So äußerte eine Angestellte des IVC: „Der Punkt ist, bzw. böse Zunge behaupten, dass dieses Sekretariat nur geschaffen wurde, um noch mehr Geld zu waschen.” Trotz des verfassungsmäßigen Rechts auf Wohnen in Buenos Aires ist die Wohnungsversorgung vollkommen unzureichend, und die Wohnungen sind in der Regel von niedriger Qualität bzw. werden auf ungeeignetem Grund oder ohne Bauerlaubnis gebaut oder gar nicht fertig gestellt (Bettanin/Ferme/Ostuni 2011). Hinzu kommt ein hoher bürokratischer Aufwand, lange Wartezeiten und ein willkürlicher Umgang mit Bedürftigen (Auyero 2010). Zudem sind die Vergabestrukturen vielfältig korrupt. Nicht selten werden Verwandte von kommunalen Funktionären und politische Punteros (lokale politische Anführer*innen, s.u.) mit Wohnungen versorgt oder Extrazahlungen verlangt. Auch bei nationalen Wohnungsplänen werden immer wieder Korruptionsfälle aufgedeckt. Für mittlere Einkommensschichten ist der Wohnungszugang aufgrund steigender Immobilienpreise ebenfalls eingeschränkt. Erst seit 2012 gibt es erstmals seit der 20 Wohnungen werden von Wohnungsbaugesellschaften und dem IVC gebaut. Dem IVC obliegen weiterhin die Übergabe der Sozialwohnungen sowie die Koordination mit und zwischen Bewohner*innen.

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letzten Krise überhaupt wieder auf Mittelschichtshaushalte ausgerichtete Kredite. Über die Wohnungspolitik hinaus kennzeichnet die aktuelle Stadtpolitik in Buenos Aires, wie dieser Experte formuliert, ein wenig strategisches Agieren: „Mein Eindruck von dieser Regierung ist, dass sie die Dinge einfach so macht. Staatliche Intervention und Kontrolle reduzieren, den Markt walten lassen, Ressourcen für Sozialpolitiken reduzieren. Und nicht nur das, bei der Reduzierung von Ausgaben weiß man nicht, ob es sich um eine Strategie oder um Unfähigkeit, den Apparat zu verwalten, handelt.“ (BP18 26, Stadtforscher Universidad San Martín)

Die Stadtentwicklung ist in Buenos Aires ähnlich wie in Santiago dadurch gekennzeichnet, dass dem privatwirtschaftlichen Sektor möglichst freie Hand gewährt wird. Das Planungssystem lässt sich insgesamt als schwach und reaktiv beschreiben. So werden informelle Entwicklungen wie Gated Communities häufig nachträglich legalisiert. Die einzelnen Planungsinstrumente sind fragmentiert, und unstimmige Akteur*inneninteressen äußern sich in langwierigen Entscheidungsprozessen und einer lückenhaften Planung. Nicht erst seit der Neoliberalisierung in den 1990er Jahren sind ferner eine defizitäre vertikale Koordination und eine hohe Flexibilität kennzeichnend. Dies manifestiert sich in einer intensiven städtebaulichen Dynamik (Crot 2002). Die planerischen Voraussetzungen für die aktuelle Stadtentwicklung wurden durch diverse Ausnahmeregelungen des städtischen Planungsgesetzes (Código de Planeamiento Urbano, CPU) geschaffen. Im Unterschied zu Chile hat die nationale Ebene in Argentinien seit der Autonomie von Buenos Aires darauf keinen Einfluss mehr. Dieses noch während der Militärdiktatur verabschiedete Regelwerk legt die Bodennutzung und bauliche Dichte im Stadtgebiet fest. Die Leitprinzipien des CPU begünstigen eine städtebauliche Vertikalisierung. Die erste bedeutende Flexibilisierung des Planungsgesetzes fand 1989 statt (Szajnberg 2007). Im Kontext der Wirtschaftskrise und der Rezession, die sich in Argentinien abzeichnete, wurde der CPU im Jahr 2000 weiter dereguliert, um die Bauwirtschaft anzukurbeln.21 Damit wurde den Bauingenieur*innen und Archi21 Leitend sind für den CPU die Grundflächenzahl (FOT), die den Anteil der Grundstücksfläche umfasst, die überbaut werden darf, und die Geschossflächenzahl (FOS), die sich auf das Verhältnis der Geschossfläche aller Vollgeschosse eines Gebäudes zur Fläche des Baugrundstücks bezieht. Folgende Ausnahmeregeln sind hervorzuheben: Grundstücke eines oder auch mehrerer Straßenblocks dürfen zusammengefasst werden, was (bei einer flexiblen Verteilung der Geschossflächenzahl) den Bau von bis zu 40 Stockwerken ermöglicht. Zusätzliche Stockwerke sind ferner an den meisten Verkehrsachsen erlaubt oder wenn diese von der Straße zurückgesetzt sind. Zudem wurden alle südlichen Stadtteile (wo ein- bis zweistöckige Bebauung dominiert) zum „Pri-

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tekt*innen eine große Handlungsfreiheit überlassen, was unter der herrschenden Marktlogik eine maximale Ausschöpfung der Bebauungsdichte impliziert. Für den Bausektor wurde also eine große „Spielwiese“ kreiert. Auch wenn diese Deregulierung auf wachsende Kritik stößt, ist die Bereitschaft gering, das Einflussfeld in irgendeiner Weise zu begrenzen. So überrascht es auch nicht, dass die mit der Verfassungsreform von 1994 festgelegte Erstellung eines Plan Urbano Ambiental (PUA) jahrelang auf sich warten ließ. Der PUA stellt einen Raumordnungsplan dar, der darauf abzielt, die Stadtentwicklung und Planungspolitik in der Hauptstadt zu lenken. Erst im November 2008 trat der PUA für die Stadt Buenos Aires in Kraft. Dieser schreibt auch die Entwicklung eines neuen, „morphologischen“ CPU vor, d.h. eine Planungsgesetzgebung, die die existierende Gebäudehöhe in Stadtquartieren berücksichtigt (vgl. Tercco 2009). Diesen Dynamiken liegen wie in Santiago einflussreiche Interessenkoalitionen zwischen privatwirtschaftlichen Akteur*innen und politischen Entscheidungsträger*innen zugrunde; so sind zahlreiche gewählte Politiker*innen (unterschiedlicher Parteien der zentral- und lokalstaatlichen Ebene) Teilhaber*innen einflussreicher Baufirmen. Die aktuelle Stadtregierung bringt dies zwar besonders unverblümt zum Ausdruck, aber sie unterscheidet sich diesbezüglich im Grunde kaum von den vorherigen linksorientierten Regierungen, wie interviewte Expert*innen hervorhoben.22 Der aktuelle Stadtentwicklungsminister Daniel Chain war bis Amtsantritt Beiratsmitglied des Berufsrats für Architektur und Urbanismus (CPAU), der bedeutendsten Lobby lokaler Baufirmen. Wie Daniel Lostri, Staatssekretär für Planung, war er vorher für die Immobilienfirma SOCMA und weitere Unternehmen tätig, an die die Stadt Aufträge vergibt. Schließlich ist im Kontext von rescaling-Prozessen auf die im Zuge der politischen Restrukturierungsprozesse in den 1990er Jahren durchgesetzte Dezentralisierung als Bestandteil der Nationalen Verfassungsreform 1994 zu verweisen. Diese brachte neue Herausforderungen für die vertikale Koordination mit sich. Seit 1996 ist Buenos Aires zwar autonom (eigene Stadtregierung und Verfasoritären Entwicklungsgebiet I“ ernannt, was drei bis vier zusätzliche Stockwerke zur sonstigen Normierung gewährt. 22 Weitere einflussreiche Akteur*innen in der Stadtentwicklung sind der Zentralverband für Architekten (SCA), die Argentinische Gewerkschaft der Bauarbeiter (UOCRA), die Argentinische Baukammer (Cámara Argentina de la Construcción, Camarco), die Argentinische Immobilienkammer (CIA) und die Fakultät für Architektur, Design und Städtebau (FADU) der UBA. Außerdem verfügen diese häufig über multiple Funktionen: an Hochschulen, in der Politik sowie in Architekturbüros. Bspw. trieb A. Garay, Professor der FADU, als Vorsitzender der Planungskommission zentrale Änderungen des CPU voran und errichtete bedeutende Hochhauskomplexe in Buenos Aires.

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sung), jedoch ging mit dieser Dezentralisierung von Politik und Verwaltung keine hinreichende finanzielle Umverteilung einher. Die Autonomie der Stadt ermöglichte freilich auch, dass Stadt und Nation von unterschiedlichen Parteien angeführt werden. Dies ist seit 2007 erstmals der Fall: Die von Nestor Kirchner, 2003 gegründete peronistisch orientierte Wahlallianz Frente para la Victoria (Front für den Sieg, FPV) regiert auf nationaler Ebene und die konservative Propuesta Republicana (Republikanischer Vorschlag, PRO) auf Hauptstadtebene. Politische Koordinierungsdefizite haben zugenommen, umso mehr, seitdem der Bürgermeister als potenzieller Präsidentschaftskandidat (für 2015) gehandelt wird. Dies äußert sich auch in der medialen Debatte um die in Buenos Aires untersuchten Konflikte zur Hochhausentwicklung und zur Wohnungsnot. Die Verfassungsreform führte zu einer starken Machtkonzentration auf Hauptstadtebene und – wie kritisiert wird – zu einem Missverhältnis der formal demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten der Hauptstadtbewohner*innen im nationalen Vergleich, da sich ein erheblicher politischer Widerstand gegen ein downscaling innerhalb der Hauptstadt konstatieren lässt (Cosacov 2010). Erst seit 2011 (statt wie vorgesehen 2002) ist Buenos Aires in Kommunen untergliedert. Bei den ersten Kommunalwahlen gewann die regierende Partei PRO in allen 15 Kommunen. Von einer demokratischeren Mitsprache kann allerdings bislang keine Rede sein, da die Kommunen nur über wenige Kompetenzen (darunter fallen z.B. sekundäre Straßen und Grünflächen) und minimale finanzielle Ressourcen verfügen. Darüber hinaus schuf der Bürgermeister mit den Bürgerämtern funktionale Paralleleinheiten zu den kommunalen Verwaltungseinheiten (CGP). Im Zuge dessen wurden allerdings auch die Bürgerrechte sowie das Recht auf Wohnen erhöht. Seit 1996 verfügt Buenos Aires nicht nur über einen direkt gewählten Bürgermeister, sondern auch über eine eigene Verfassung, die den Bürger*innen von Buenos Aires neue Rechte garantiert. Unter anderem bestimmt der Artikel 31 menschenwürdiges Wohnen als Verfassungsrecht für alle – auch nichtargentinische – Einwohner*innen der Metropole. Damit einher ging ein sich wandelndes Bewusstsein der Bürger*innen, was individuelle Rechte betrifft. So lässt sich beobachten, wie die mit den neuen Bürgerrechten verbundene Erweiterung von juristischen Einflussmöglichkeiten, sowohl hinsichtlich der Stadtplanung als auch des Zugangs zu Wohnen, zunehmend wahrgenommen werden. Dabei fällt für Aspekte des Rechts auf Wohnen in Buenos Aires die präsente Stellung der Allgemeinen Verteidigung auf.23 Im Rahmen des diffusen 23 Die Aufgabe der Allgemeinen Verteidigung (Defensoría General) der Stadt besteht vorwiegend in der Bereitstellung von Pflichtverteidiger*innen für Straffälle oder Verwaltungsstreitfälle. Darüber hinaus ermutigt die Allgemeine Verteidigung zur Inan-

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Rechts auf Identität urbanes Erbe kommt der Verteidigung des Volkes, deren Einführung auf die städtische Verfassung zurückzuführen ist, und die sich für den Schutz und die Förderung der Rechte der Bürger*innen einsetzt, eine wachsende Bedeutung zu.24 Regierungstechniken auf lokaler Ebene Auf Stadtteilebene haben die steigende Bodennachfrage, die wachsenden Tourismuszahlen und die damit einhergehende Gentrifizierung zu einer Intensivierung öffentlicher Sicherheitsprogramme geführt (vgl. Auyero 2010). Dabei werden vielfältige Strategien zur Ausgrenzung von deprivierten Schichten implementiert, darunter die Räumung von öffentlichen Plätzen und besetzten Gebäuden (ebd.; Baer 2011: 328). Der konservative Bürgermeister Mauricio Macri, der seit Beginn seiner Amtszeit eine möglichst „sichtbare“ Stadtpolitik betreibt, griff dabei temporär auf den Einsatz von Paramilitärs zurück. Darüber hinaus gehören offene und subtile Formen der Repression seitens Stadt- und Bundesregierung zur Tagesordnung, um die Kontrolle über soziale Bewegungen und marginalisierte Gruppen zu bewahren (Wagner 2012). Hierzu zählt eine erhöhte Polizeipräsenz, insbesondere in informellen Siedlungen, die oft eher der Kontrolle denn der Sicherheit der Bewohner*innen dient (vgl. auch Zibechi 2011). Die lokale Politik in den informellen Siedlungen ist durch eine ausgeprägte Patronage gekennzeichnet, was jedoch keineswegs ein Spezifikum des aktuellen Bürgermeisters ist. Gerade für die peronistischen politischen Strömungen der Partido Justicialista sind die sich immer wieder transformierenden klientelistischen Strukturen charakteristisch (Levitsky 2003). So wurde unter Menem versucht, die zunehmende Armut im Zuge der Neoliberalisierungspolitik mit finanziellen Unterstützungen im Rahmen des 1997 eingeführten Arbeitsprogramms Plan Trabajar auszugleichen, das 2003 durch das Programm Jefas y Jefes de Hogar ersetzt wurde (Villalón 2007). Diese Programme erfolgen jedoch über personalisierte Verteilungskanäle durch sogenannte Punteros, d.h. lokale politische Anführer*innen, die in ärmeren Stadtteilen, insbesondere in villas miserías als verlängerter Arm der Regierung fungieren. Als zentraler Bestandteil der loka-

spruchnahme von vorhandenen Instrumenten für Wohnungsbedürftige: einstweilige Verfügungen bei Räumungen, Schutzerlässe zur Verlängerung von zeitlich begrenzten Wohnungsbeihilfen, Auflagen zur Infrastrukturbereitstellung in villas und die Zuweisung von Sozialwohnungen. 24 Die Verteidigung des Volkes (Defensoría del Pueblo) der Stadt ist eine Einheit sui generis im Sinne einer Ombudsperson zur Unterstützung der Bürger*innen, die Empfehlungen aussprechen kann.

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len klientelistischen Strukturen handelt es sich dabei beispielsweise um gewählte Nachbarschaftsvorstände, Sprecher*innen von Piquetero-Bewegungen, die seit den 1990er Jahren an Einfluss gewonnen haben (s.u.) und Betreiber*innen von öffentlich finanzierten Armentafeln. Punteros binden die Bevölkerung an sich und eine Partei, Organisation oder Gewerkschaft. Im Rahmen der lokalpolitischen Verwaltung in villas erfolgt zum Beispiel die Vergabe von Sozialhilfen nur über diese Mittelspersonen. Verbunden damit ist eine ausgeprägte Korruption (ebd.). Svampa und Pereyra (2009: 237) resümieren die Politiken der kirchneristischen Regierungen gegenüber sozialen Bewegungen als Integration, Kooptierung und Disziplinierung. Klientelistische Strukturen setzen sich also in transformierter Weise fort (Geiger 2010: 271). Die Vergabe finanzieller Zuwendungen ist weiterhin an politische Zwecke gekoppelt, so dass Bedürftige nicht in gleichberechtigter Weise von Sozialprogrammen profitieren. Einige Piquetero-Bewegungen wurden durch die Integration in Sozialprogramme kooptiert oder institutionalisiert wie etwa die Federación Tierra, Vivienda y Habitat de la República Argentina (FTV). Soziale Bewegungen, die wie die Frente Popular Darío Santillán (FPDS) und die Corriente Clasista y Combativa (CCC) selbstbestimmt bleiben wollten, wurden diszipliniert und erlitten einen starken Bedeutungs- und Akzeptanzverlust in der Öffentlichkeit.25 Diese Strategien der Kirchner-Regierungen haben dazu geführt, dass Interdependenzen zwischen Aktivist*innen zerstört wurden und die sozialen Bewegungen in den letzten Jahren einen Großteil ihres Einflusses eingebüßt haben (Svampa/Pereyra 2009). Die Koordinierung und Abstimmungsbereitschaft zwischen den Organisationen hat sich dadurch erschwert, wie der Fall der Besetzung des Parque Indoamericano zeigt. Hinsichtlich formeller Beteiligungsmöglichkeiten in Buenos Aires ist festzuhalten, dass die Verfassungsreform eine Demokratisierung der Stadtplanung nach sich gezogen hat. Zum einen in Form von repräsentativer Demokratie durch das inzwischen gewählte Parlament und zum anderen wurden gewisse formelle Beteiligungsmechanismen geschaffen.26 Der partizipative Charakter ist rudimentär, denn nur das Fachpublikum kennt die relevanten Termine und nicht selten fallen heikle Abstimmungen auf nächtliche Uhrzeiten. Gleichwohl hat (wie In-

25 2003 gab es einen Bruch zwischen zwei seit den 1980er Jahren starken und kooperierenden Piquetero-Organisationen: FTV (engagiert sich zunehmend gegen Wohnungsnot) und CCC (verknüpft mit der Revolutionäre Kommunistische Partei, PRC). 26 Gesetzesvorschläge zur Änderung des CPU bedürfen zwei Abstimmungen im Parlament, die je 31 Stimmen erfordern (eine mehr als die Hälfte der 60 Sitze). Vor der zweiten Abstimmung (zwischen erster und zweiter vergehen mindestens sechs Monate) findet eine öffentliche, nichtbindende Anhörung der Zivilgesellschaft statt.

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terviews mit Abgeordneten zeigen) die Politik erkannt, politische Entscheidungen vermehrt mit Verweis auf diese Beteiligungsverfahren (verbunden mit einer Verantwortungsübertragung auf die Bürger*innen) zu rechtfertigen. Sozialräumliche Transformationen & Verortung der Fallstudien Die Metropolregion Buenos Aires hat seit den 1990er Jahren umfassende sozioökonomische und räumliche Restrukturierungsprozesse erfahren (Pírez 2002; Ciccolella/Mignaqui 2008; Clichevsky 2002). Dazu zählen etwa Shopping Malls, neue Bürostandorte, die Revitalisierung des alten Hafengeländes Puerto Madero, Gated Communites innerhalb und außerhalb der Stadtgrenzen (inkl. neuer privater Städte für bis zu 100.000 Einwohner*innen) (Welch Guerra/Valentini 2005; Janoschka 2002). Dabei wurde ein Immobilienboom induziert, und ähnlich wie in Santiago wuchs die urbanisierte Fläche in der Metropolregion um 300 km² (Torres 2001). Mit der Erholung von der Wirtschaftskrise machten sich ab 2003/2004 die durch die Flexibilisierung der Normen der Stadtplanung freigesetzten Entwicklungspotenziale bemerkbar. Seitdem erfuhr die Stadt Buenos Aires einen regelrechten Bauboom, der 2006 seinen Höhepunkt erreichte und sich ab 2012 zunehmend als große Immobilienblase entpuppte. So wurden 2006 fast 2.800 Bauerlaubnisse erteilt und über 3 Mio. m² gebaut.27 Dies ist die höchste Zahl seit 30 Jahren (Ministerio de Desarrollo Urbano 2011). Dabei konzentriert sich die Entwicklung mit ca. 2,7 Mio. m² eindeutig auf den Bau von Wohnimmobilien. In der Metropolregion nehmen 540 Gated Communities inzwischen eine Fläche von 400 km² ein (Fernández Wagner 2008). Dieser Boom ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass – verstärkt durch die ökonomische Instabilität des Landes und die durch die Wirtschaftskrise induzierte Unsicherheit und das Misstrauen in Banken – Investitionen in Wohnimmobilien gehobenen Standards in Argentinien als besonders sichere Geldanlage gelten (vgl. Hölzl 2005). Dabei lassen sich drei zentrale Käufergruppen identifizieren: 1) Einkommensstarke Personen, die nach der Krise Dollars sichern konnten, 2) Agrarunternehmen, die ihre hohen Profite (z.B. aus der Sojaproduktion) ebenfalls in Immobilien investieren, sowie 3) ausländische Investoren (Baer 2011: 323). Gleichzeitig sind die hohen Renditemöglichkeiten für Immobilien zu bedenken, die auf die Differenz zwischen dem Verkaufspreis, der ausschließlich in Dollars erfolgt, und den Ausgaben, die für Gehälter und Materialien in argentinischen Pesos getätigt werden, zurückzuführen ist. 27 Zum Vergleich: Berlin erteilte 2013 3.864 Genehmigungen für 12.518 Wohnungen, ca. 6.600 wurden gebaut (Amt für Statistik Berlin und Brandenburg 2014).

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Abbildung 2: Stadt Buenos Aires: Comunas, barrios und villas 0

2 km

R NUÑEZ

SAAVEDRA

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BELGRANO

13

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12 VILLA URQUIZA VILLA PUEYRREDON

VILLA SANTA RITA

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10

VILLA GRAL. MITRE

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9

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SAN CRISTOBAL

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26

Gran Buenos Aires

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8

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d

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19

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20

Grenze Kommune Grenze Stadtteil (Barrio) Nummer der Kommune Informelle Siedlungen (Villas und Asentamientos) Parque Indoamericano

C.S. Rodrigo Bueno

Asentamiento Lamadrid

PARQUE PATRICIOS

Au 7

17

SAN TELMO

21-24

6

VILLA LUGANO

PUERTO MADERO

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4

1-11-14 3

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MONSERRAT

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7

MATADEROS

3

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VILLA LURO

SAN NICOLAS

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ALMAGRO

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PARQUE AVELLANEDA

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6

VELEZ SARSFIELD

31 bis

VILLA CRESPO

VILLA DEL PARQUE

11

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2

15 PATERNAL

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14

CHACARITA

AGRONOMIA

VILLA DEVOTO

PALERMO

COLEGIALES VILLA ORTUZAR

PARQUE CHAS

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VILLA RIACHUELO

0

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20 km

Quelle: Eigener Entwurf nach DGEyC / GCBA 2011

Auf nationaler Ebene wurde nach der Wirtschaftskrise 2001 alles getan, um die Beschäftigungsrate zu erhöhen. Der auf den Bausektor gelegte Fokus verdeutlicht, wie sich auf nationaler Ebene getroffene Entscheidungen lokal äußern und die aktuelle Stadtentwicklung nicht nur lokalen Politiken zuzuschreiben ist: „Der Boom begann mit dieser Zentralregierung. Das ist eine andere Lesart. Das Land öffnete der Geldwäsche die Türen. Dies äußerte sich in den vielen Bauten, das Vierfache voriger Phasen. Damit ging ein Anstieg der Arbeitskräfte in den Baufirmen einher und freilich eine Reduzierung der Arbeitslosenquote.“ (BP5 26, Abgeordneter UCR, CABA)

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Die genannten Faktoren haben seit 2005 zu einem massiven Anstieg der Bodenpreise geführt (vgl. Baer 2011). Im Ergebnis liegt heute in der Hauptstadt ein deutlicher Überschuss an Luxuswohnungen vor. Bei etwa einem Drittel aller seit 2003 gebauten Wohnungen handelt es sich um Luxuswohnungen. Paradoxerweise ist die Leerstandsrate dadurch mit 180.000 freien Wohnungen im oberen Preissegment auf 25 bis 30% des gesamten Wohnungsbestands im Jahr 2010 angestiegen. Damit ist der Leerstand innerhalb von fünf Jahren um 40% gestiegen (Telam 2011, in ebd.: 327). Hochhausboom in den nördlichen und nordwestlichen Barrios Die stärkste Immobiliennachfrage erfahren die traditionellen Wohnstandorte der oberen Mittel- und Oberschicht in den nördlichen Stadtteilen Belgrano, Palermo und Recoleta (vgl. Abbildung 2). In den letzten zehn Jahren sind Immobilienentwickler zunehmend auf den angrenzenden, sogenannten westlichen Korridor, insbesondere Caballito, Flores, Villa Urquiza und Villa Pueyrredón ausgewichen, wo noch relativ große Grundstücke existieren. 60% der Konstruktion der letzten zehn Jahre konzentriert sich auf 6 von 15 Kommunen. Konfliktfall C widmet sich den Widerständen der in diesen Stadtteilen entstanden Bürger*inneninitiativen. Die vergleichsweise gute Verkehrsanbindung, die Nähe zum Zentrum, die Verfügbarkeit qualitativ hochwertiger sozialer Infrastruktur sowie das positive Image und die weitgehend homogene Sozialstruktur machen diese Stadtteile besonders attraktiv. Besonders betroffen ist die sowieso relativ dicht besiedelte Kommune Caballito. Dort lokalisierte sich zwischen 2001 und 2011 10,4% der Konstruktion der gesamten Stadt (in Palermo sogar 13,6% und in Villa Urquiza 8,1%) (Ministerio de Desarrollo Urbano 2011). Des Weiteren ist Barracas verstärkt in das Interesse der Immobilienentwicklung gerückt. Im Unterschied zu anderen südlichen Stadtteilen, wie La Boca, gehören Teile dieses sehr heterogenen Stadtviertels zu den traditionellen Wohnstandorten mittlerer Einkommensschichten. Hinzu kommt die Zentrumsnähe, die mit der Gentrifizierung der Altstadt San Telmo und der Revitalisierung des ehemaligen Hafens Puerto Madero augenscheinlich wurde (Herzer 2008). Zudem liefern die skizzierten planerischen Sonderregeln für das Prioritäre Entwicklungsgebiet, die auf eine Aufwertung der degradierten südlichen Stadtteile abzielen, besondere Investitionsanreize. In diesen Gebieten, wo eine ein- bis zweistöckige Bebauung vorherrschend war, entstehen nun 8-12-stöckige von der Straße zurückgesetzte Gebäude oder freistehende, luxuriöse Hochhäuser mit 20 bis 30 Stockwerken, die über zusätzliche Service-Ausstattung verfügen (z.B. Fitnessräume, Service-Personal, Tennisplätze oder Restaurants) (Szajnberg 2007). Die Stadtteile haben sich also in den vergangenen ein bis zwei Dekaden grundlegend transformiert; hin zu einer Vertikalisierung und neuen Wohnformen sowie einer Tertiärisierung der Ökonomie (Ciccolella 1999).

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Gleichzeitig hat das Wohnungsdefizit für untere Einkommensgruppen vor allem innerhalb der Stadtgrenzen seit den 1990er Jahren stark zugenommen. Als zentrale Ursache lässt sich neben der mangelnden Bereitschaft zur staatlichen Regulierung der Zugang zu Boden benennen. Diversen Schätzungen zufolge leiden heute etwa 600.000 Einwohner*innen der Hauptstadt unter defizitären Wohnungsbedingungen. Dies betrifft 240.000 Bewohner*innen und Mieter*innen in informellen Siedlungen, 200.000 Menschen in besetzten Häusern, 140.000 Mieter*innen in Hotels-Pensionen,28 82.000 Menschen in sozialem Wohnungsbau sowie temporären Wohnungsbauten (NHT) und ca. 2.000 Obdachlose (Zapata 2013). Die Anzahl der Bewohner*innen der 16 villas miserias in Buenos Aires hat sich seit 2001 verdoppelt und ist mit 240.000 Personen heute drei Mal so hoch wie 1991 (CELS 2012). Seit Mitte der 1990er Jahre ist der informelle Wohnungsmarkt stark gewachsen, einerseits durch Immobilien(ver)käufe und andererseits durch Vermietung von Zimmern und Wohnungen. Waren Anfang der 1990er noch ca. 10-15% der Bewohner*innen der Stadt Mieter*innen, ist der Anteil heute auf 40% angestiegen. Eine zentrale Folgerung ist, dass die Mieter*innen in villas heute nicht mehr Eigentümer*innen ihrer Behausungen werden können. Dies war früher durchaus möglich (CxI 2011; Cravino 2006). Die sozialräumliche Differenzierung in Buenos Aires steht in unmittelbarem Zusammenhang mit historisch verankerten symbolischen Ortszuschreibungen. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die in ostwestlicher Richtung verlaufende Avenida Rivadavia als materielle und symbolische Grenzlinie zwischen dem fortschrittlichen, wohlsituierten Norden und dem traditionellen, armen Süden. „Quien atraviesa esa calle entra en un mundo más antiguo y más firme”, formulierte bereits Jorge Luis Borges (1944) in „El Sur“. Ferner entwickelte sich Buenos Aires unter dem Leitbild einer „weißen“, „elitären“ und „zivilisierten“ Stadt (Cosacov/Perelman 2011: 298). Dies bringt die verankerte soziale und ethnische Diskriminierung in Argentinien zum Ausdruck. Während der Militärdiktatur (1976-1983) strebte der damalige Intendente Osvaldo Cacciatore eine umfassende Modernisierung von Buenos Aires an. Diese Modernisierungspolitik im Sinne einer „ciudad blanca“, also einer weißen Stadt, beinhaltete den Abriss aller informeller Siedlungen. Die Worte von Guillermo Del Cioppo, der während der Militärdiktatur die Kommunale Wohnungskommission – die Vorgängerin des IVC – leitete und die Abrisse anordnete, die die Verdrängung von 150.000 Menschen bedeutete, gingen in die Geschichte ein: „in Buenos Ai-

28 Hotels-Pensionen sind einfache, meist prekäre Pensionen, wo Familien zu überteuerten Preisen ein Zimmer mieten und Gemeinschaftsbäder nutzen. Aus einer vorübergehenden Lösung wird meist ein Dauerzustand.

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res leben ist nicht für jedermann, sondern für den, der es verdient“ (zitiert in Oszlak 1991: 78). Der Stadtpark Indoamericano – Im Süden des Südens Abgesehen von den Villas 31 und 31bis im zentralen Stadtteil Retiro konzentrieren sich die informellen Siedlungen der Stadt auf die südlichen Stadtteile, insbesondere die Kommune 8, die sich aus Villa Lugano, Villa Soldati und Villa Riachuelo zusammensetzt. Hier befindet sich auch der Parque Indoamericano, dessen Besetzung in Kapitel 11 diskutiert wird (vgl. Abbildung 2). Dabei handelt es sich um die ärmsten und am stärksten benachteiligten Stadtviertel von Buenos Aires. In der von 190.000 Einwohner*innen bewohnten Kommune konzentrieren sich sozialer Wohnungsbau sowie zahlreiche villas miserias (z.B. Villa 20, Villa 1-1114) und Los Piletones. Etwa ein Drittel der dortigen Bevölkerung lebt in informellen Siedlungen. Die Kommune verfügt mit einem Anteil von ca. 24% über die größte ausländische Community vor allem mit bolivianischem und paraguayischem Migrationshintergrund (INDEC 2010). Der Stadtteil Villa Lugano, der erst Ende des 19. Jahrhunderts eingemeindet wurde, zeichnet sich durch eine intensive industrielle Nutzung aus. Auf einer der ehemaligen städtischen Deponien, die sich dort bis Ende der 1970er Jahre konzentrierten, entstand mit der Villa 20 die zweitgrößte informelle Siedlung der Stadt. Das dafür bestehende Urbanisierungsgesetz wurde bislang nicht umgesetzt. Hier leben mit 40.000 Personen 19,2% aller villa-Bewohner von Buenos Aires. Neben villas gehören Anfang des 20. Jahrhunderts entstandene Einfamilienhaussiedlungen sowie in den 1970er Jahren gebaute Komplexe sozialen Wohnungsbaus (unter anderem „Lugano I und II“ mit 25.000 Bewohner*innen) zu den zentralen Wohnformen in diesen südwestlichen Stadtteilen. Im Arbeiterviertel Villa Soldati leben etwa 40.000 Menschen, davon jeweils circa 10.000 in villas und in Sozialwohnungen. Die Anbindung dieser Stadtteile an den öffentlichen Nahverkehr ist defizitär, ebenso die Ausstattung mit sozialer Infrastruktur (Schulen, Gesundheitsversorgung, öffentlicher Nahverkehr) (vgl. Parea/Vitale 2011). Im Jahr 1978 entschied Buenos Aires’ damaliger Intendente Osvaldo Cacciatore, den Parque Indoamericano anzulegen. Allerdings wurde nur ein Bruchteil dieses Projektes umgesetzt. Auf dem Gelände des 130 ha großen Parks befinden sich heute zwei Besetzungen (Los Piletones mit 10 ha und La Esperanza, ein ehemaliges Fußballfeld) sowie 420 zum Zeitpunkt der Besetzung des Parks entstandene Sozialwohnungen der Stiftung Madres de Plaza de Mayo. 2005 wurde die Zuständigkeit für den Park an die Corporación Buenos Aires Sur übertragen. Der angekündigte Modernisierungsplan wurde jedoch nicht erstellt. 2006 entstand auf dem Parkgelände ein bislang nicht legalisierter Pharma-Industriepark, der aufgrund von Umweltbelastungen sehr umstritten ist. Interviewten Anwohner*innen und dort tätigen Expert*innen zufolge war der Park zum Zeitpunkt der Besetzung 2010 stark vernachlässigt und wurde nur begrenzt genutzt, etwa zum Fußball durch migrantische Communities (Canelo 2011).

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Soziale Bewegungen in Argentinien und aktuelle Trends In Argentinien besteht eine lange Tradition von sozialen Bewegungen, was unter anderem auf die Charakteristika der Immigrant*innen zurückgeführt wird. So brachten gerade Einwander*innen aus Italien, Russland und Katalunien sozialrevolutionäre Ideen ins Land, was das Zustandekommen anarchistischer Bewegungen erklärt (vgl. Marshall 1992). Zudem trug der Einwanderer*innen nichtgewährte Zugang zu Land zur Entwicklung einer Arbeiterbewegung bei. Die tief greifenden Transformationen der letzten 50 Jahre – Herausbildung klientelistischer Strukturen, Repressionen während der Militärdiktaturen, Demokratisierung, rasche Liberalisierung und Deregulierung, Schwächung der Gewerkschaften durch ökonomische Krisen – stellten für die sozialen Bewegungen große Herausforderungen dar (vgl. Chatterton 2005, Geiger 2010, Schuster 2005). Piquetero-Organisationen, d.h. soziale Bewegungen von Arbeitslosen und Wohnungssuchenden, gewannen ab den 1980er Jahren und insbesondere im Zuge der fortschreitenden Neoliberalisierung der 1990er Jahre an Bedeutung.29 Charakteristisch für diese Bewegungen ist ein komplexes Handlungsrepertoire (Souza 2006: 331). Dazu gehören unter anderem Straßenblockaden – daher der Name: piquete ~ Blockade, Streikposten – und der Besetzung von Land, leerstehenden Gebäuden und Fabriken (Merklen 2010; Schuster 2005).30 Zunehmend wurde Raum für neue autonome Ideen um solidarische Ökonomien, Selbstverwaltung und Autokonstruktion geschaffen (Schuster 2005; Chatterton 2005; Svampa/Pereyra 2009; Zibechi 2003). Hier fügt sich unter anderem die aus der Coordinadora Aníbal Verón hervor gegangene Frente Popular Darío Santillán (FPDS) ein, benannt nach dem 2002 von Polizisten ermordeten Aktivisten Darío Santillán. Aus dieser Zeit (2000) stammt auch eine zentrale wohnungspolitische Errungenschaft und Ausnahme zum standardisierten Wohnungsbau: Ein von der MOI (Movimiento de Ocupantes e Inquilinos, Bewegung der Besetzer und Mieter) erarbeitete Gesetz soll den sozialen Wohnungsbau in innerstädtischen Lagen durch selbstverwaltete Kooperativen erleichtern, indem günstige städtische Kreditkonditionen geschaffen wurden. Dabei wird auch auf Bauqualität und Partizi29 Die seit den 1980er Jahren gewachsenen Klientelstrukturen stärkten auch PiqueteroOrganisationen (Geiger 2010). Im Unterschied zu anderen lateinamerikanischen Bewegungen lehnten die argentinischen Bewegungen finanzielle Unterstützung nicht ab bzw. forderten diese ein (vgl. Merklen 2010), weil man an die Merkmale eines sozialen Wohlfahrtsstaates gewöhnt war, der sich in gewandelter Form fortsetzte. 30 In Argentinien gibt es eine schwer überschaubare Zahl von sozialen Bewegungen, die einer hohen Dynamik unterworfen ist. Daher beschränke ich mich in meinen Ausführungen auf die Organisationen, die im Kontext der hier analysierten Fallstudie eine besondere Rolle spielten.

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pation geachtet (Rodríguez 2009).31 Quantitativ ist das Gesetz heute allerdings wenig bedeutend, da die Kreditvergabe unter Macri wieder eingestellt wurde. Ihren Höhepunkt erreichten die sozialen Bewegungen während und nach der Wirtschaftskrise (2001-2003), als die Forderungen von Piqueteros unterstützt durch untere und mittlere Teile der Mittelschicht auf großes Gehör stießen. Ein zentrales Mobilisierungsformat waren dabei die Asambleas Vecinales (basisdemokratische Nachbarschaftsversammlungen) (vgl. Villalón 2007). Geiger (2010) führt die gegenwärtige Schwächung der argentinischen sozialen Bewegungen, die noch vor wenigen Jahren vielen Organisationen weltweit als Vorbild dienten, auf deren mangelndes Vertrauen in staatliche Institutionen zurück, das aus der politischen Geschichte Argentiniens resultiert (vgl. Kapitel 3). Dieses Misstrauen schlägt sich im Handeln der Bewegungen auf zweierlei Weise nieder: zum einen in den anti-etatistischen Haltungen von autonomen Bewegungen und zum anderen in staatsorientierten Erwerbslosenorganisationen, die den gesetzlich verbürgten Rechten keine Bedeutung beimessen. So setzt sich das Misstrauen fort, was sich für die kirchneristische Regierung als Vorteil erweist (Geiger 2010: 273). Was die Mobilisierung von mittleren und oberen Einkommensschichten betrifft, so lässt sich – vergleichbar mit Santiago – etwa seit 2006 ein wachsender und vorher nicht in dieser Weise dagewesener Widerstand gegen die neoliberale Logik der Stadtentwicklung konstatieren (vgl. Bracco 2013, Azuela/Cosacov 2013).

G EMEINSAMKEITEN

UND

U NTERSCHIEDE

Insgesamt lässt sich sagen, dass die demokratische Mitbestimmung in Santiago und Buenos Aires auf vielfache Weise beschnitten wird und unterschiedliche Tendenzen einer Entpolitisierung zu konstatieren sind, wie dieses Resümee wichtiger Befunde noch einmal zeigen soll: Charakteristisch ist für die chilenische Hauptstadt, dass einflussreiche, konsensorientierte politisch-ökonomische Elitennetzwerke die Stadtentwicklung weitgehend dominieren. Ähnlich in Buenos Aires: Auch wenn sich nicht von einer konsensuellen Politik sprechen lässt, sind sich dortige Elitennetzwerke über die marktorientierte Entwicklung der argentinischen Hauptstadt einig. Dies führt dazu, dass sich angedachte Reformen, zum Beispiel des Planungsgesetzes, oft 31 Die MOI ist unter anderem über das Lateinamerikanische Sekretariat für Populares Wohnen (SeLVIP) mit chilenischen Bewegungen wie FENAPO und MPL verbündet, die sich bei der Erarbeitung ihres Wohnungsdekrets in Chile hier Rat holten.

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nicht oder nur in abgeschwächter Weise implementieren lassen. Allerdings ziehen diverse Auseinandersetzungen aufgrund ihres wahrhaft politischen Charakters – wie im Kontext der radikalen Demokratie diskutiert (vgl. Kapitel 3) – wichtige Errungenschaften nach sich (vgl. die Fallstudien B und C). Bezeichnend ist für Santiago des Weiteren ein ausgeprägtes technokratisches und autoritäres Politik- und Planungsverständnis. Es ist nicht vorgesehen, dass Nichtexpert*innen (z.B. die Zivilgesellschaft) Einfluss auf die Stadtentwicklung nehmen können. Für Buenos Aires lässt sich auf Planungsebene ein vergleichbares Verständnis identifizieren. Dieses wird begleitet von einem populistischen Handlungsrepertoires und einem entsprechend verwurzelten Gebrauch von Diskurs und Sprache. Die markanten Selbstregulierungskräfte des Marktes führen in Santiago dazu, dass privatwirtschaftliche Akteur*innen bei der Umsetzung staatlicher Politiken, Programme und Pläne eine zentrale Rolle einnehmen. Diese „Vorherrschaft“ der Privatwirtschaft wird aufgrund der konsequenten und anerkannten Neoliberalisierung kaum in Frage gestellt. In Argentinien wurden auf zentralstaatlicher Ebene nach der Wirtschaftskrise zwar einige Regulierungsmechanismen reaktiviert und Privatisierungen rückgängig gemacht, die sich auch auf lokalpolitischer Ebene bemerkbar machen, zum Beispiel im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge. In der Stadt- und Immobilienentwicklung ist der Einfluss der Privatwirtschaft jedoch unverändert groß. Hinzu kommt – im Unterschied zu Santiago – eine defizitäre politische Steuerungskapazität durch Korruption und mafiöse Strukturen. Die Kommunen sind in Santiago bedingt durch das zentralistische politische und administrative System in Chile politisch schwach und verfügen in der Regel nur über geringe finanzielle Budgets. Gleichzeitig zeigt sich auf lokaler Ebene gerade in sozial schwächeren Gebieten die Beständigkeit „quasifeudaler“ Strukturen. Die Situation in Buenos Aires stellt sich diesbezüglich etwas anders dar: Auch wenn die rescaling-Prozesse Schwächen vertikaler Koordination beinhalten, ist die Hauptstadtebene mit politischen Gestaltungsmöglichkeiten ausgestattet; von eher geringer Bedeutung ist dort die kommunale Untergliederung. Auf formellem Wege werden den Bürger*innen in Santiago also wenige Möglichkeiten zugestanden, Einfluss auf die Stadtpolitik und Stadtentwicklung zu nehmen. Reformversuche stoßen auf teils erheblichen Widerstand. Die technokratische Planung lässt auch in Buenos Aires kaum eine umfassende zivilgesellschaftliche Beteiligung zu. Im Unterschied zu Santiago wurden durch die Autonomie der Stadt und eine eigene Verfassung allerdings neue Möglichkeiten der politischen Teilhabe generiert.

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Im Rahmen der Stadtentwicklung Santiagos ist ferner auf horizontale Koordinationsdefizite hinzuweisen, was auch im Zusammenhang mit einer fehlenden gesamtstädtischen Vision zu sehen. Ebenso wird Leitbildern der Raumplanung in Buenos Aires wenig Bedeutung beigemessen. Die argentinische Hauptstadt verfügt (sogar) über ein noch flexibleres Planungssystem. Versuche, Regulierungsmechanismen zu etablieren, stoßen dort auf erheblichen Widerstand. Aber auch über die beschriebenen Stadtentwicklungsprozesse hinaus ist festzuhalten, dass die bestehenden politischen Techniken und Politiken (inkl. Mechanismen der Repression und Diskriminierung während der Militärdiktaturen) zu einer Schwächung von sozialen Bewegungen und der Zivilgesellschaft im Allgemeinen geführt haben: So haben die Steuerungsmechanismen der Stadtplanung und der Wohnungspolitik – angefangen bei den Umsiedlungen während der Militärdiktaturen – in beiden Städten zu einer Verlagerung unterer Einkommensschichten an den Stadtrand geführt. Damit gehen viele Benachteiligungen für die betroffenen sozialen Gruppen einher. Für Santiago setzt sich diese Entwicklung im Zuge der fortschreitenden Gentrifizierung weiter fort. Im Unterschied dazu sind staatliche Institutionen in Argentinien wenig in der Lage, überhaupt Wohnungslösungen anzubieten, so dass sich in Buenos Aires ein stark segregierter informeller Wohnungsmarkt herausgebildet hat. Durch die Gentrifizierung, für die die aktuelle Stadtpolitik gezielte Impulse setzt (z.B. im Rahmen der wirtschaftlichen Cluster-Strategie und der Revitalisierung südlicher Stadtteile), ist aktuell sogar anzunehmen, dass sich die städtische Wohnungsnot dort noch weiter verschärfen wird. Dazu kommt gerade in Argentinien eine xenophobe Grundhaltung, über die sich sozialräumliche Benachteiligungen öffentlich rechtfertigen lassen. Des Weiteren haben Sozialprogramme, die gerade in ärmeren Stadtteilen von Santiago eingesetzt werden, zu einer Zersplitterung der politischen Ansichten unter den Pobladores beigetragen. In Buenos Aires sind es weit umfassendere klientelistische Apparate, die in ärmeren Stadtteilen zu einer Atomisierung politischer Ansichten beigetragen haben. Allerdings wäre es – auch im Kontext des anzutreffenden Antietatismus – aufgrund der komplexen Strukturen zu kurz gegriffen, für Buenos Aires ausschließlich eine Schwächung von sozialen Bewegungen zu diagnostizieren. Für Santiago bzw. Chile werden in vielen Studien eine entkräftete Zivilgesellschaft und eine stark ausgeprägte Individualisierung konstatiert, die durch die gestiegene Konsumorientierung im Zuge von Modernisierungsprozessen weiter zugenommen hat. Diese Beobachtung (und eine damit korrespondierende Entpolitisierung der Gesellschaft) lässt sich auch für Buenos Aires treffen. Verbunden

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damit sind gewandelte Zugehörigkeiten durch die Entstehung neuer Wohnformen und die Zunahme von Sicherheitsdiskursen. Aus den genannten Gründen haben die ehemals ausgeprägten Mobilisierungskräfte der chilenischen Zivilgesellschaft über zwanzig Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur noch nicht wieder die Stärke erlangt, die sie vorher hatten (vgl. Greaves 2005; Rivera-Ottenberger 2008). Aktuell sind allerdings ein wachsendes Interesse an und das Einfordern von Mitsprache seitens der Zivilgesellschaft zu beobachten. Soziale Bewegungen gewinnen wieder an Bedeutung, und neue Bürger*inneninitiativen entstehen. In Buenos Aires lassen sich hingegen – trotz der bestehenden Machtassymetrien – generell vielfältige politische Mobilisierungen von sozialen Bewegungen beobachten, an denen sich gegenwärtig Teile der Mittelschicht zu beteiligen beginnen.

8 Konflikt A: Partikulare Proteste gegen Verdichtung in Vitacura

In diesem ersten untersuchten Konflikt gelang es erstmals, im Rahmen von Auseinandersetzungen um die Modifikation eines kommunalen Flächennutzungsplans die technokratische Planungskultur und die mangelnden lokalen Mitspracherechte der Bürger*innen in Chile ernsthaft in Frage zu stellen. Die Modifikation kommunaler oder regionaler Flächennutzungspläne ist in Chile keineswegs eine Seltenheit. Aber da sich in Vitacura eine Anwohner*innengruppe von den baulichen Konsequenzen dieser Maßnahme beeinträchtigt sah und sich zur Wehr setzte, führte eine – sonst meist völlig unbemerkte – kommunale Verhandlung zur Austragung eines national sichtbaren Konflikts. Dieser Konfliktfall drehte sich unter anderem um die Frage, wer in der Planung dazu berechtigt ist, als Expertin oder Experte aufzutreten, Probleme zu identifizieren und Lösungen vorzuschlagen. Der Erfolg der Bürger*innen ist in diesem Fall insbesondere auf die Kapazitäten einer im Zuge des Planungskonflikts neu entstandenen Initiative Salvemos Vitacura (Lasst uns Vitacura retten) und ihr professionelles Vorgehen zurückzuführen. Darüber hinaus lässt sich anhand des Konflikts der grundsätzliche Unwillen vieler lokaler Regierungen veranschaulichen, konstruktiv mit städtischen Konflikten umzugehen. In der nun folgenden Analyse gehe ich der Frage nach, inwiefern diese Auseinandersetzungen auch über den behandelten Planungskonflikt hinaus von Bedeutung sind. Von besonderem Interesse ist, ob der Konflikt einen Wandel des vorherrschenden Verständnisses von lokaler Politik und Planung sowie der Routinen der Organisation von Stadtentwicklungsprozessen in der Kommune und in der chilenischen Gesellschaft insgesamt anzustoßen vermochte.

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K ONFLIKTBIOGRAPHIE : V ERLAUF

UND

A USLÖSER

Konfliktchronologie Bezeichnend für diesen Konflikt um die Anpassung des Flächennutzungsplans in Vitacura ist, dass sich ein konkreter Anfang und ein konkretes Endes benennen lassen. Die folgende Chronologie basiert auf im Rahmen meiner empirischen Studie vorgenommenen Interviews und der Berichterstattung über den Konfliktfall in den chilenischen Leitmedien. Phase I: Ursachen 2005 Im Juni 2005 wird bekannt, dass die Gemeindeverwaltung plant, den kommunalen Flächennutzungsplan (Plan Regulador Comunal – PRC) an drei Standorten (Escrivá de Balaguer, Alonso de Córdova, Avenida Kennedy) zu modifizieren. Die drei Straßenabschnitte sind allesamt Einfamilienhaussiedlungen (teils mit gewerblicher Nutzung), in denen, anstelle der vorhandenen zwei- bis viergeschossigen, künftig eine Bebauung von 12 bis 15 Stockwerken zulässig sein soll. Diese Entscheidung steht im Kontext des geplanten Ausbaus der teilweise dreispurigen mautfreien Autobahn Costanera Sur in Verantwortung des Infrastrukturministeriums (MOP) und des Städtebauministeriums (MINVU). Die Costanera Sur ist im Masterplan von 2001 enthalten, erste Projektionen dazu stammen bereits aus den 1960er Jahren. Bestandteil der insgesamt 13 km langen Autobahn ist auch der Straßenabschnitt Escrivá de Balaguer. Aufgrund der erheblichen Auswirkungen dieser Maßnahme auf ihre Grundstücke hatten die unmittelbaren Anrainer*innen der geplanten Stadtautobahn die genannte Plananpassung für ihre Siedlung vorgeschlagen. Als die Anwohner*innen in zweiter Reihe zu besagter Straße in der öffentlichen Gemeinderatssitzung von der geplanten Planänderung erfahren, lehnen sie diese ab und fordern einen alternativen Vorschlag. Daraufhin nimmt das mit einer Bebauungsstudie für den Standort beauftragte Architekturbüro Anpassungen vor, reduziert schrittweise die entlang der neuen Stadtautobahn vorgesehene maximale Gebäudehöhe von zwölf auf zuletzt sieben Stockwerke und plant angrenzend zusätzlich eine Grünfläche ein. Da die Gegner*innen der Planänderung ihre Interessen dennoch beeinträchtigt sehen, fordern sie einen alternativen Plan und schalten Planer*innen der Pontificia Universidad Católica (PUC) ein. Die Kommunalverwaltung stimmt zunächst zu. Die Verhandlungen zwischen Gemeinde und Anwohner*innen scheitern jedoch und gegen Ende des Jahres 2005 werden sie ganz abgebrochen.

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Phase II: Konfliktlösung 2006 Die Gruppe der Hochhausgegner*innen gründet die Bürger*inneninitiative Salvemos Vitacura. Angeführt von zwei Anwälten vernetzen sich die Bürger*innen der drei betroffenen Standorte, an denen die bauliche Nutzung verdichtet werden soll. Salvemos Vitacura organisiert ein Bürger*innenbegehren gegen alle drei geplanten Modifikationen des Flächennutzungsplans. Die Unterschriftensammlungen finden am 02.09. und am 20.12. statt. Im Dezember 2006 überreicht Salvemos Vitacura die notwendigen Unterschriften der Kommunalverwaltung. Zu diesem Zeitpunkt sind es laut Gesetz noch 10% aller Wahlberechtigten der Kommune, die ein Bürger*innenbegehren unterstützen müssen. 2007 Im Januar 2007 lehnt der Bürgermeister unter Verweis auf „Formfehler“ ab, das Begehren umzusetzen und ein Referendum abzuhalten. Salvemos Vitacura schaltet daraufhin die zuständige nationale Aufsichtsbehörde ein, den chilenischen Rechnungshof. Im Oktober bestätigt der Rechnungshof, dass die Ablehnung des Bürger*innenbegehrens nicht rechtens ist. 2008 Mitte 2008 muss der Bürgermeister entsprechend der Weisung des Rechnungshofes dem Begehren zustimmen. Bei den chilenischen Kommunalwahlen im Oktober desselben Jahres kandidiert Rodolfo Terrazas, Kopf von Salvemos Vitacura, als unabhängiger Bürgermeisterkandidat und erzielt knapp 33% der Stimmen; ein weiteres Mitglied der Initiative wird in den Gemeinderat gewählt. 2009 Am 15.03.2009 gewinnt Salvemos Vitacura den Bürger*innenentscheid für alle drei Standorte: Mit 75-80% der Stimmen ist das Plebiszit erfolgreich und mit einer Wahlbeteiligung von 73% verbindlich (mind. 50% der eingetragenen Wähler*innen mussten sich beteiligen). Als Konsequenz wird der Flächennutzungsplan für die betreffenden Standorte (ca. 5% der Gemeindefläche) „eingefroren“, so dass dort keine bauliche Verdichtung mehr möglich ist. Eine Aufhebung dieser Regelung wäre nur durch ein weiteres Referendum möglich. Insgesamt werden 300 Mio. chilenische Pesos (~ 450.000 Euro) für die Organisation des Bürger*innenbegehrens und des anschließenden Referendums aufgewendet. 2011-2013 Im November 2011 eröffnet Bürgermeister Torrealba den Parque Bicentenario in Vitacura. Bei den Kommunalwahlen im Oktober 2012 wird Torrealba mit 80% der Stimmen wieder Bürgermeister der Kommune. Terrazas wird in den Ge-

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meinderat gewählt. Im Frühjahr 2013 wird entschieden, dass der Ausbau der Autobahn Costanera Sur in bestimmten Abschnitten vermieden werden soll. Auslöser des Konflikts Im Folgenden werden zwei Faktoren diskutiert, die eine kommunale Plananpassung in einen Konflikt von landesweiter Sichtbarkeit verwandelten. Die technokratische Umgangsweise mit der bürgerlichen Elite und die empfundene Kommodifizierung des Stadtraums waren ausschlaggebend dafür, dass aus einem Missstand ein konkreter Handlungsimpuls (Rucht/Roth 2008) abgeleitet wurde. Umgang mit der bürgerlichen Elite unterschätzt Der Auslöser für den Planungskonflikt lässt sich zunächst konkret an der Bekanntgabe der geplanten Modifikation des Flächennutzungsplans, insbesondere für den Straßenabschnitt Escrivá de Balaguer, festmachen. An diesem Standort im nördlichen Teil Vitacuras ist die Plananpassung von Anwohner*innen vorgeschlagen worden, um die Attraktivität und Rentabilität ihrer Grundstücke zu erhöhen. Aufgrund der wachsenden Zahl an Restaurants, des gestiegenen Verkehrs und vor allem der geplanten Ausweitung der besagten Straße als Teil der Stadtautobahn Costanera Sur, wollten laut Leitung der Stadtplanungsabteilung ursprünglich viele Anwohner*innen ihre Grundstücke zu einem guten Preis verkaufen und in einen anderen Teil Vitacuras ziehen. Die dahinter wohnhafte Nachbarschaft widersetzte sich dem Vorschlag, zunächst vor allem weil sie befürchteten, dass die Schatten der Hochhäuser ihre Grundstücke beeinträchtigen würden. Das Ausmaß des Konflikts lässt sich jedoch nicht anhand dieses ursprünglichen Flächennutzungskonfliktes erklären, sondern ist auf den Kommunikationsprozess zwischen Gemeindeverwaltung und den betroffenen Nachbar*innen zurückzuführen, dessen Scheitern sich rasch andeutete. Als die Nachbarschaftsgruppe ein zweites Gutachten zu der bereits vor der Modifikation erstellten Bebauungsstudie forderte, willigte der Bürgermeister zunächst ein. Während die von Salvemos Vitacura engagierten Wissenschaftler*innen ein öffentliches Beteiligungsverfahren in Form einer Charrette vorbereiteten, brach der Bürgermeister die Zusammenarbeit jedoch ab. Zudem setzte er sich mit dem Dekan der Fakultät für Architektur in Verbindung der PUC, der das Team „zurückpfiff“. Um einen Konflikt mit dem Bürgermeister der reichsten Kommune Chiles zu vermeiden, beendeten die Wissenschaftler*innen ihre Arbeiten:

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„Der Druck kam irgendwann vom Dekan. [...] Da sowas in Chile vorher nie passiert war, unterstützte er uns zunächst [...] Später ließen sie uns spüren, dass es nicht so passend wäre, wenn wir teilnähmen. Die Gemeindeverwaltung setzte sich auch mit der Universität in Verbindung.“ (SV5 9, Stadtplaner, Fak. für Architektur PUC)

Dieses Agieren des Bürgermeisters und seiner politischen Verbündeten unterstreicht nicht nur die mangelnde Bereitschaft, einen Kompromiss mit allen Beteiligten zu finden, sondern auch die Nichtanerkennung der Bürger*innengruppe und ihres akkumulierten Expert*innenwissens (Forray 2007). Eine weitere herangezogene wissenschaftliche Expertin betont zudem, dass sich der Bürgermeister nicht einmal die Mühe machte, die Einzelheiten des neuen Bebauungsplan und seiner Modifikation zu erläutern. Das Scheitern der Öffentlichkeitsbeteiligung ist also zum einen auf das autoritäre Vorgehen der Kommune zurückzuführen und zum anderen darauf, dass dies bei den Betroffenen eine aktive Oppositionshaltung auslöste. Angesichts des sozioökonomischen Hintergrunds der Einwohner*innen und der Struktur der Gemeinde ist dies relativ einfach zu erklären. Hier konzentriert sich die bürgerliche Elite Chiles, die sich im Prinzip von ihrem Bürgermeister (der 2004 70% der Stimmen erhielt und danach zwei Mal wiedergewählt wurde) sehr gut vertreten sieht – was auch für die protestierende Anwohner*innengruppe zutrifft. Für diese Akteur*innen bedeutete die Verweigerung von Kommunikation und Teilhabe einen nicht hinnehmbaren und handlungsauslösenden Affront. „Ohne jegliche Vorwarnung sagt uns die Gemeindeverwaltung: ‚Schluss, das wird nicht gemacht‘. Wahlen standen an und sie wollten nichts aufwirbeln. [...] Für die Bürgerinnen war das eine Ohrfeige, den Prozess ohne irgendeine Erklärung von einem Moment auf den anderen abzubrechen. Meiner Meinung nach war das ein schlechtes Vorgehen der Gemeindeverwaltung. Aber es beweist ihren Autoritarismus, ihre mangelnde Bereitschaft zum demokratischen Dialog.“ (S10 42, Architektin, Fak. für Architektur PUC)

Gegen Ende 2005 hatte sich also aus der anfänglichen Auseinandersetzung um den Schattenwurf geplanter Hochhäuser ein Kampf um politische Positionen entwickelt. Die Modifikation brachte das Fass zum Überlaufen Ein zweiter Aspekt erklärt, weshalb sich so rasch eine lokale Öffentlichkeit für das Thema fand: Denn in den Kommunen des Großraums Santiago kommt es im Zuge von Immobilienprojekten häufig zu Änderungen von kommunalen Flächennutzungsplänen (vgl. Poduje 2006). So handelte es sich bei der beabsichtig-

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ten Planänderung um die 21. Modifikation des Flächennutzungsplans von Vitacura in den letzten neun Jahren.1 Mehreren interviewten Vertreter*innen von Salvemos Vitacura zufolge war sie es, die das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen brachte und das Misstrauen vieler Bürger*innen gegenüber staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteur*innen massiv erhöhte. „Die Kombination all dieser Tatsachen führte dazu, dass die Leute diesbezüglich in einen Zustand der Alarmbereitschaft verfielen.“ (SV2 6, Unterstützerin Salvemos Vitacura)

Zudem illustriert der skizzierte Planungskonflikt, dass für den Ausbau einer Autobahn innerhalb bestehender Siedlungsbereiche in Santiago nicht einmal – wie im Fall der chilenischen Bauleitplanung – rudimentäre, sondern gar keine Vorkehrungen zur Partizipation existieren (s. auch Tironi u. a. 2011: 276). Auf dessen weitaus stärkere Auswirkungen als die Reduzierung des Wohnwerts der angrenzenden Gebäude kann dann mit einer Erhöhung der dort zulässigen baulichen Ausnutzung reagiert werden. Das ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass es sich beim Autobahnbau um ein Vorhaben von regionaler Dimension handelt, bei dem die auf kommunaler Ebene existierenden Beteiligungsmechanismen nicht greifen: Mit dem Infrastrukturministerium (MOP) und teilweise dem Städtebauministerium (MINVU) entscheiden nationalstaatliche Behörden weitestgehend autonom über solche Maßnahmen, d.h. ohne Zivilgesellschaft und Lokalstaat, und greifen damit massiv in die kommunale Entwicklung ein (Zunino 2006; Zegras/Gakenheimer 2000). Folglich weitete sich die Kritik der Initiative auf die Defizite des wachstumsorientierten zentralistischen Systems Chiles aus (vgl. Hölzl/Nuissl 2015b) (vgl. Kapitel 7).

P OSITIONALITÄT

UND

R AHMUNGSSTRATEGIEN

Konfliktparteien Der Streit um die Modifikation des Plans wurde maßgeblich von zwei Parteien gelenkt (vgl. Abbildung 3): Auf der einen Seite die Bürger*inneninitiative Salvemos Vitacura, die sich im Zuge der Auseinandersetzung aus drei Nachbar-

1

In vergleichbarer Weise hatte eine unlängst am Standort St. Maria de Manquehue erfolgte Modifikation große Unzufriedenheit ausgelöst. Darauf reagierten Anwohner*innen mit einem juristischen Verfahren, das sie in etwa zeitgleich zum Plebiszit in Vitacura gewannen.

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schaftsorganisationen formierte.2 Indirekt sind weitere Gruppen wie privatwirtschaftliche Lobbyverbände (z.B. die Chilenische Baukammer CChC) und städtebauliche Expert*innen relevant, die unter der Überschrift der technokratischen Elite diskutiert werden. Auf der anderen Seite befindet sich die Gemeindeverwaltung (Bürgermeister, Bürgermeisterverwaltung, Abteilung für Stadtplanung), die auf Anfrage der betroffenen Anrainer*innen eine Bebauungsstudie für den Standort in Auftrag gab (Architekturbüro Figueroa) und drei Modifikationen umzusetzen versuchte. Bürger*inneninitiative Salvemos Vitacura Die 2006 gegründete Bürger*inneninitiative, die anstrebte, die „Lebensqualität“ in der Kommune zu bewahren, wurde maßgeblich von zwei Anwälten des Standorts Escrivá de Balaguer angeführt und vereinte in ihrer Hochphase circa 100 Nachbar*innen aus unterschiedlichen Teilen Vitacuras. Sozialräumliche Positionalität Salvemos Vitacura zeichnete sich ganz wesentlich durch umfangreiche verfügbaren Ressourcen aus: Diese Initiative war nicht nur in der Lage, sehr hohe finanzielle Ressourcen zu mobilisieren, sondern konnte auch auf lose, aber einflussreiche Elitennetzwerke zurückgreifen. Dazu gehören landesweit bekannte Anwält*innen, Künstler*innen, Architekt*innen und Journalist*innen. Durch diesen Pool an Expert*innenwissen konnte die Initiative professionell agieren, Aufgaben verteilen und – genauso wie die öffentlichen Behörden – namhafte externe Fachleute (darunter Teams renommierter Architekt*innen und Anwält*innen) mit speziellen Aufgaben beauftragen. Dadurch wurde sie zu einer ernstzunehmenden Widersacherin für staatliche und privatwirtschaftliche Akteur*innen, die das städtebauliche Wachstum in Vitacura vorantreiben. Der Zugang zu Presse und Rundfund verhalf zur Sichtbarmachung ihrer Anliegen in den Medien – mit Blick auf Chiles oligopolistischen Mediensektor eine bemerkenswerte Tatsache.3 2

3

Die am Standort Escrivá de Balaguer wohnhaften Initiator*innen schlossen sich für die Organisation des Referendums mit Initiativen der beiden anderen Standorte zusammen (Quartier El Dorado nähe Avenida Kennedy und Nachbarschaftsverband Alonso de Córdoba). Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass sich die Gruppen der drei Standorte durchaus unterscheiden (vgl. Foto 1). Gerade die Anwohner*innen von El Dorado sind ökonomisch weniger einflussreich. Die Verflechtungen zwischen Medienindustrie und Immobilienwirtschaft erschwerte die Medienstrategie von Salvemos Vitacura teilweise. Bspw ist Álvaro Saieh, dem unter anderem die Tageszeitungen La Tercera und La Cuarta gehören, gleichzeitig einer der Gesellschafter eines Hotels, das am Standort Escrivá de Balaguer vorgesehen war.

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Abbildung 3: Akteur*innenlandschaft der Planmodifikation in Vitacura

National

International

Zivilgesellschaft

Printmedien & Rundfunk

Staat

Abgeordnete (einzelne)

Privatwirtschaft

Immobiliensektor

MINVU

Fakultät für Architektur, PUC

MOP CChC, Lobby Oberster Rechnungshof

Regional

Technokratische Elite Grasswurzelorganisationen & Initiativen z.B. Ciudad Viva, Defendamos la Ciudad

Lokal

Initiative Escrivá de Balaguer

Initiative Salvemos Vitacura

SEREMI MINVU Planungsbüro (Figueroa) Gemeindeverwaltung (Bürgermeister Torrealba, Abteilung für Stadtplanung)

Initiative El Dorado (Av. Kennedy) Initiative Alonso de Córdoba

Gemeinderat

Neben der Lancierung redaktioneller Beiträge bemühte sich die Initiative, Leserbriefe zu platzieren. Salvemos Vitacura profitierte zudem davon, dass Sympathisierende sie in ihren Zeitungskolumnen thematisierten.4 Im Unterschied zur journalistischen Berichterstattung generieren Leserbriefe und Kolumnen spezifische Formen eines zivilgesellschaftlichen Expert*innenwissens. Auf diese Weise gelangen auch kollektive Positionierungen zu bestimmten Problemlagen in den öffentlichen Fokus (vgl. Tironi 2012). Erstmals war eine Initiative also in der Lage, Kapazitäten zu mobilisieren, die denen staatlicher Institutionen und der Privatwirtschaft nicht nachstehen, wie eine Expertin hervorhob: „In Escrivá de Balaguer passierte es mir zum ersten Mal, einer Gemeinde gegenüberzustehen, die den gleichen politischen Einfluss hatte wie die kommunale Autorität.“ (S10 55, Architektin Fak. für Architektur PUC) Es ist also nicht verwunderlich, dass es in der reichsten Kommune Chiles erstmals gelang, die Anforderungen der Organisation eines Referendums zu meistern und es auch zu gewinnen. Zu diesen Hürden zählte insbesondere das bis 2010 vergleichsweise hohe Quorum von 10% der Wahlberechtigten. Zudem müssen Unterschriftensammlungen in Anwesenheit eines Notars erfolgen, womit 4

So verfassten der international renommierte Architekt Jose Cruz Ovalle und TV- und Radiosprecher Nicolás Larraín Kolumnen oder wurden zum Plebiszit interviewt.

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extra Kosten verbunden sind. Überdies waren gesetzliche Einschränkungen zu berücksichtigen: In Wahljahren (Kommunal- oder Präsidentschaftswahlen) dürfen keine Bürgerentscheide abgehalten werden.5 Schließlich musste die Initiative die Anerkennung des Begehrens, das von der damaligen stellvertretenden Leiterin des Rechnungshofes zunächst abgelehnt wurde, juristisch erkämpfen. Außerdem waren die Bürger*innen in Vitacura nicht nur in der Lage, überdurchschnittliche Ressourcen zu bündeln, sondern sie sind sich ihrer Rechte, Kapazitäten und relativen Position in der chilenischen Gesellschaft freilich bewusst. Dies korreliert mit den räumlichen Zuschreibungen der Kommune. Wer in Vitacura lebt, versteht sich als Teil der ökonomischen und kulturellen Elite des Landes, die sich – im Sinne eines differenzierten Verständnisses von Bürgerschaft – von den meisten anderen Kommunen Santiagos abhebt.6 Schon durch die Gründung von Vitacura im Jahr 1981, mit der die Beseitigung der dort lokalisierten informellen Siedlungen einherging, wurde politics of territory folgend eine sozioökonomisch und politisch homogene Kommune materialisiert (vgl. Rodríguez /Rodríguez 2012). Entsprechend nehmen die Bewohner*innen sich und ihre Rechte als Bürger*innen wahr: „Im April [2006] fing die Sache an sich wiederzubeleben. Da wurde es uns bewusst; ich bat Torrealba um ein Treffen. Ich kenne ihn schon lange, weil er Jura studiert hat und wir Kommilitonen waren. Wir haben viele gemeinsame Freunde. Also wollte ich ihn sehen; erfahren, was dahinter steckt. Und er empfing mich umringt vom juristischen Berater, dem städtebaulichen Berater, dem externen städtebaulichen Berater, seinem Kabinettschef, und ich kam alleine!“ (SV1 80, Vertreter Salvemos Vitacura)

Dieses Zitat verdeutlicht zunächst die persönlichen Verflechtungen der Akteur*innen und die Überlappungen der Milieus. Auch andere Textstellen in diesem und anderen Interviews belegen immer wieder die gemeinsame politische Herkunft. Etwa kennt man die damalige Stadtentwicklungsministerin (Patricia Poblete) persönlich, die im Konflikt jedoch die Unterstützung verweigerte. Zudem lässt die der Aussage zu entnehmende Empörung erahnen, dass die Ablehnung durch ihresgleichen eine neue Erfahrung für die untersuchte Bürger*innengruppe darstellte. Dies griff das bis dato stabile milieubedingte Vertrauensverhältnis an. Da diese Akteur*innen eine Machtelite repräsentieren, geht es in dem Konflikt nicht nur um die potenzielle Transformation einzelner Stadtquartiere. Der Konflikt wurde in der Öffentlichkeit teilweise auch als Auseinandersetzung 5 6

Ab 2011 wurden diesbezüglich Gesetzesänderungen beschlossen (vgl. Kapitel 9). Beim Referendum 1988 zählte Vitacura zu den Kommunen mit dem höchsten Anteil der Stimmen, die für eine Fortsetzung des Militärregimes unter Pinochet plädierte.

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innerhalb der rechtskonservativen Elite Chiles gewertet, deren Zusammenhalt damit auf die Probe gestellt wurde. Darauf verweist der Titel eines Zeitungsartikels, der am Tag des Referendums erschien: „Retten wir Vitacura und die Alianza“ (das rechtsgerichtete Parteienbündnis in Chile) (Orrego 2009). Ferner war es für die Initiative eine neue Erfahrung, sich einflussreichen ökonomischen Kräften entgegenzustellen: „Das bedeutete, gegen die großen Investoren vorzugehen. Und der Bürgermeister ist mächtig, am zweithäufigsten gewählt in Chile, mit sehr guten Kontakten; Kommunikationsmedien, die ihn unterstützen, wie die Tageszeitung El Mercurio und La Tercera. Das war nicht einfach. Wir hatten alle gegen uns. Sogar die Städtebauministerin.“ (SV1 80, Vertreter Salvemos Vitacura)

Vor diesem Hintergrund leuchtet es auch ein, dass die Initiative sich explizit nicht als soziale Bewegung bezeichnet, da in der Öffentlichkeit damit eine linksorientierte und womöglich illegale Organisation assoziiert wird, die in marginalisierten Schichten vorzufinden ist. Auch in ihrem strategischen Vorgehen war die Gruppierung auf ein gesetzkonformes Vorgehen bedacht. Von nichtinstitutionalisierten Partizipationsformen wie Demonstrationen wurde nicht Gebrauch gemacht. Ein Interviewpartner betonte außerdem, dass sozialer Wandel in Chile schon immer von oben induziert worden sei. Somit sei es kein Zufall, dass es gerade in Vitacura zu Auseinandersetzungen kam, die eine solche Aufmerksamkeit erregten: „Salvador Allende war auch ein Mann aus der Oberschicht, d.h., all diese Veränderungen passieren in Chile von oben nach unten. Die Reichen, die in der Lage sind und mehr Bewusstsein oder eine andere Ansicht haben, mischen sich schließlich ein und suchen einen Wandel. Aber am Ende sind die Konflikte über die Reichen mit den Reichen.“ (SV5 39, Stadtplaner, Fak. für Architektur PUC)

Dies weist auf die Strukturverhältnisse einer von der ökonomischen Elite auf besondere Weise gesteuerten Gesellschaft hin. In Chile herrscht ein starkes Obrigkeitsdenken vor, wobei verschiedene (u.a. neoliberale) Mechanismen greifen, um die verankerte Sozialstruktur aufrechtzuerhalten (vgl. Greaves 2012). Demzufolge können Bürger*innen nur Einfluss nehmen, wenn sie in überdurchschnittlichem Maße über Ressourcen bzw. Kapitalien im Sinne Bourdieus verfügen oder sich widerstandsfähige Bewegungen (wie die der Studierenden) formieren, die fähig sind, historisch fest etablierte Machtstrukturen zu hinterfragen.

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Foto 1: Boutiquenstraße Alonso de Cordova

Quelle: Eigenes Foto 2010

Abbildung 4: Flyer Salvemos Vitacura Plebiszit 2009

Quelle: plebiscitovitacura.wordpress.com (12.12.2010)

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Rahmungen Bei der Untersuchung der Frames von Salvemos Vitacura lassen sich wichtige Kernpunkte extrahieren, die nachfolgend erläutert werden (vgl. Tabelle 3). Tabelle 3: Frames Salvemos Vitacura Rahmungsstrategie Rahmungen und Storylines7

Zentrale Rahmung

Was ihr könnt, können wir auch. Schatten durch Hochhäuser (Gebrauchswert) (a) Lokale Lebensqualität wird zugunsten Einzelner und NichtAnwohner*innen zerstört (b)  Patrimonio, das barrio vs. Verdichtung, Hochhäuser, noch mehr Durchgangsverkehr (Staus, Luftverschmutzung, Autos)  noch mehr mangelhafte Architektur (z.B. Berg Manquehue, Straße Juan XXIII, Las Ursulinas) • Recht auf Gestaltung des Viertels nach individuellen Bedürfnissen / moderne Demokratie, denn (c):  Die Bürger*innen haben die (Tausch-)werte geschaffen, die sich die Immobilienentwickler zu Eigen machen wollen  Die Bürger*innen finanzieren die Kommune. • Vertrauensverlust in Kommune, Private, Medien etc. (d)  Die Kommunalverwaltung macht alles, was die Immobilienentwickler wollen (Immobiliengeschäfte, Vetternwirtschaft)  Kompetenzen und Interessen der Kommune sind unzureichend.  Wir sind apolitisch. Wir lassen uns das nicht mehr gefallen.

• •

Den drohenden Transformationen begegneten die Bürger*innen in Vitacura – ähnlich wie andere von Ober- und Mittelschichtsangehörigen getragene Bürger*inneninitiativen in Santiago – mit der starken Betonung eines Rechts auf lokale Lebensqualität und Entrüstung über unzureichende zivilgesellschaftliche Mitsprachemöglichkeiten an der Gestaltung von Stadtquartieren (vgl. dazu Ducci 2000). Da sich Letztere weitgehend darin erschöpfen, dass die Kommunalverwaltung ihrer Informationspflicht nachkommt, ohne aber Diskussionen zuzulassen, konnten öffentliche Konflikte bislang weitgehend vermieden werden. Von der anfänglichen Argumentation um die Beschattung von Grundstücken, welche die geplanten Hochhäuser verursachen würden (a), verblieb im weiteren Verlauf die Beeinträchtigung des persönlichen Gebrauchswertes. Und nicht nur das, mit dem Fokus auf die Zerstörung der Lebensqualität (b) in der Kommune Vitacura wurde das Framing auf eine andere räumliche Maßstabsebene verlagert. Veränderungen beträfen nicht nur die zu modifizierenden Ausschnitte, sondern die ganze Kommune. Anhand diverser Beispiele illustrierte die Initiative die städtebauliche Beeinträchtigung, von der nur Einzelne profitier-

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Wörter / Schlüsselbegriffe, die auf Storylines verweisen, sind kursiv geschrieben.

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ten. Thematisiert und als Storyline genutzt wurden die Gefährdung des urbanen Erbes (patrimonio) und des Stadtviertels (barrio) oder die Zunahme von Hochhäusern (torres). Dabei wurde einerseits geschickt der Diskurs über steigende Verdichtung in Santiago genutzt und ein bewusst exkludierendes Framing verwendet. Die Bürger*innen äußerten also ein sehr partikulares Anliegen, was sich auch mit NIMBY (not in my backyard) umschreiben ließe (vgl. Sabatini/Wormald/Contreras 2004). So wäre die Autobahn nur von Vorteil für Bewohner anderer Kommunen. Hierbei handelt es sich um einen Frame, der an die Debatten um die Zunahmen von Staus, steigende Luftverschmutzung, immer mehr Autos, in Santiago anknüpft. Eine weitere Thematik, für die die lokale Öffentlichkeit sehr empfänglich ist, ist die Zunahme einer „Einheitsarchitektur“. In einer ästhetisierenden Weise wurden Bausünden benannt, die zumindest die lokale Bevölkerung einzuordnen weiß (Konstruktionen am Berg Manquehue, Straße Juan XXIII, Las Ursulinas), wie das folgende Zitat aus der Zeitungskolumne eines landesweit bekannten und in Vitacura wohnhaften Publizisten zeigt: „Wir könnten eine Anthologie der Verirrungen diesen Kalibers verfassen: Wir sehen uns mit einem städtebaulichen Macchiavellismus in seinem vollendeten Glanz konfrontiert: die Strategie besteht darin, isolierte Hochhäuser an unterschiedlichen Punkten im barrio zu platzieren, um die in den umliegenden Häusern Lebenden zu verpflichten, ihre Grundstücke zu verkaufen, angeblich um sie zu entschädigen. Auf diese Weise wird ein barrio, das Jahrzehnte gebraucht hat, um sich zusammenzufügen, in wenigen Jahren, Block um Block, Entschädigung um Entschädigung, verwüstet.“ (Warnken 2009)

Des Weiteren setzte die Initiative in ihrer Argumentation einen starken Akzent auf ihre Bürgerrechte (c) im Sinne einer modernen Demokratie: Recht auf Lebensqualität, Recht auf politische Teilhabe an der Gestaltung der Kommune. Dies entspricht etwa der in der Theorie diskutierten Notwendigkeit einer universelleren Forderung für politisches Handeln (Laclau 2002) (vgl. Kapitel 4). Folgendes Zitat, das sich auf die Erweiterung des Straßennetzwerks im Zuge der Planmodifikation bezieht, macht deutlich, dass diese Interessen spätestens an der Kommunalgrenze Halt machen. Denn die ressourcenstarken Anwohner*innen sind nicht darauf angewiesen, über Vitacura hinaus Öffentlichkeit zu schaffen: „Die Straßenerschließung dient dem Komfort der Anwohner und nicht dazu, zu gewährleisten, dass anderen Kommunen dadurch der freie Durchgangsverkehr ermöglicht wird.“ (SV1 36, Vertreter Salvemos Vitacura 2010) Dennoch lassen sich hier Parallelen zum Framing anderer sozialer Organisationen in Santiago (z.B. Red Ciudadana por Ñuñoa oder Vecinos del Barrio de Yungay) wiedererkennen, die in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen ha-

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ben und von denen sich die Bürger*inneninitiative beraten ließ. Dieser Rechtsanspruch wird insbesondere durch den hohen Beitrag gerechtfertigt, den die Bürger*innen für die Kommune leisten. Sie seien es, die die Steuern zahlten, und ihnen habe man die geschaffenen Werte zu verdanken, d.h. das Image des Stadtviertels und die Werte der Grundstücke, die sich nun die Immobilienentwickler zu Eigen machen wollten: „Wenn die mir vorwerfen: ‚Sie sind egoistisch, Sie wollen in einem Vorzeigestadtteil leben. Schauen Sie, ja, weil ich es gemacht hab! Sie wollen von Meinem leben, von dem was ich gemacht hab. Nein! Sie wollen sich bereichern, auf Kosten meiner Arbeit. Nein!‘“ (SV2 48, Unterstützerin Salvemos Vitacura)

Damit wird nicht nur auf bestehende Rechte verwiesen, sondern dem Immobiliensektor mit einer ökonomisierten Argumentation entgegengetreten. Auf das moralisierende Framing des „Gemeinwohls“, welches das Vorhaben rechtfertigen soll, wird mit einem legalistischen Counter-Framing reagiert, das sich in den allgemein anerkannten marktwirtschaftlichen Diskurs einbettet. Bezeichnend ist dabei das bereits erwähnte selbstsichere Auftreten von Salvemos Vitacura, das auf dem Wissen darum fußt, dass dieser Ort von seiner besonderen Bewohnerschaft geprägt ist. Schließlich berührte die Bürger*inneninitiative im Zuge der Kampagne um das Referendum zunehmend auch öffentlichkeitsrelevante Themen. So ist das Framing – wie bereits dargelegt – zwar betont lokalistisch, jedoch wird deutlich, dass es sich um eine Problematik handelt, mit der die Bürger*innen vieler Kommunen Santiagos zu kämpfen haben. So wurde in den Frames der Verlust des Vertrauens (d) in die Kommunalverwaltung, die Privatwirtschaft, den Mediensektor thematisiert. Der Kommunalverwaltung, so ein häufig zu vernehmender Vorwurf, gehe es nur um wirtschaftlichen Profit und nicht um die Menschen am Ort (vgl. Ducci 2004). Die Initiative kritisierte den der Projektentwicklung nachgelagerten Planungsprozess, der zu einem massiven Wandel der Kommune – in Hinblick auf Gewerbezahlen und Verkehrsbelastung – beigetragen hatte. Außerdem wurden die unzureichenden Kompetenzen und Interessen der Kommune hervorgehoben. Dieses Misstrauen der Bürger*innen wurde durch die Verwicklungen des Bürgermeisters mit der Immobilienfirma seiner Ehefrau (Simonetta S.A.) weiter verstärkt, die an einem der Standorte zu bauen beabsichtigte.8 Das Thema Korruption wurde von der Initiative nicht direkt aufgegriffen, förderte

8

Über die Gesellschaft Proyectos SA verfügt Torrealba über Anteile von 1,5% und seine Frau ist Teilhaberin des Unternehmens mit „ehelicher Gesellschaft“.

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aber die öffentliche Skepsis gegenüber der herrschenden Entwicklungslogik (Tironi u. a. 2011): „Ich hätte gerne, dass urbane Richtlinien entworfen werden, damit die Investoren genau wissen [...], wo sie investieren können, wie hoch ihr Gebäude sein darf. Aber hier, nein, im Gegenteil: Zuerst gibt es die Vorstudien der Immobilienentwickler, die der Gemeindeverwaltung präsentiert werden und danach modifiziert die Kommune den PRC. Das ist pervers, denn über einen Akt der Behörde produzierst Du Reichtum. Da kann es Korruption geben.“ (SV1 73, Vertreter Salvemos Vitacura)

Mitgliedern der Initiative zufolge mangele es dem Staat an Knowhow und es fehle eine beratende regionale Einheit. In der Konsequenz müssten die Bürger*innen die negativen Auswirkungen solcher Projekte über Steuern refinanzieren. Diese Äußerungen aus dem Kreis der Initiative untermauern die Expertise und das Selbstverständnis der Gruppe ein weiteres Mal (vgl. Tironi 2014). In diesem Kontext fällt auch auf, wie Salvemos Vitacura ihren apolitischen Charakter und damit ihr Interesse an einer (rein) technischen Lösungsfindung betonte: „Die Idee [ist] das Apolitische, das die Bewegung, die Bürgerorganisation visualisiert. Dass da etwas schlecht Gemachtes ist, was gut gemacht werden soll, aber das fundamentale Ziel ist: urbanistisch, technisch, mit guten Ideen zu Lösungen beizutragen.“ (SV1 8, Vertreter Salvemos Vitacura). Dies ist auch dem Slogan der Referendumskampagne zu entnehmen: „Das ist nicht politisch, lassen Sie sich nicht täuschen (vgl. Abbildung 4).9 Spätestens mit der Organisation des Referendums wurde die Auseinandersetzung in Vitacura durch die Thematisierung von Partizipation und direkter Demokratie anschlussfähig an ein universelleres Anliegen und „öffentliche Arenen“ (Cefaï 2005). So erreichten die Motive im Konflikt über zunächst rein technische und nachfolgend situative Gründe eine gesellschaftliche Ebene (vgl. Fischer 2003). Dabei verstand sich die Initiative – in Konkurrenz zur Gemeindeverwaltung – als wahre Repräsentantin der Interessen der Einwohner*innen. Mit Blick auf die Einflussmöglichkeiten von Salvemos Vitacura lässt sich ihre Rahmungsstrategie zusammenfassen mit „Was ihr könnt, können wir auch“. Mit dem Referendum gelang es ihr zudem, genau das unter Beweis zu stellen. Sie erreichte, dass ihre zentrale Rahmung, das „Recht auf lokale Lebensqualität“, über die Kommune hinaus stärker in den Blick der Öffentlichkeit rückte. 9

Dennoch nahm Salvemos Vitacura an den Kommunalwahlen 2008 teil, um als ernstzunehmender Akteur weiterhin öffentlich wahrgenommen zu werden. Denn eine klare Mehrheit für den Bürgermeister, mit der zu rechnen gewesen wäre, hätte sich wahrscheinlich unvorteilhaft auf das Referendum ausgewirkt.

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Die zentrale Rahmungsstrategie von Salvemos Vitacura lässt verschiedene Interpretationen zu: Einerseits bleibt ihr Handeln in den für Chile charakteristischen Logiken der Technokratie und des Individuellen verhaftet (Zunino 2006; Silva 2004). Dies birgt die Gefahr, dass die Organisation in einem entpolitisierten Konsens verhaftet bleibt, wodurch weitere Brüche mit gewohnten Routinen unterbunden werden. Andererseits veranschaulichen ihre Handlungsstrategien, wie anerkannte Deutungsmuster mit ihren „eigenen Waffen geschlagen“ werden können; zum Beispiel wenn die Organisation die Dichotomie zwischen Expert*innen und Laien aufweicht oder sich die Argumentation privatwirtschaftlicher Akteur*innen zu Eigen macht. Diese Fähigkeiten sind wesentlich auf die spezifische Positionalität der Gruppe zurückzuführen. Rahmungen der Gemeindeverwaltung Im Mittelpunkt der Argumentation der Gemeindeverwaltung steht der städtische Wettbewerb. Dabei wird die ablehnende Haltung der Gemeindeverwaltung gegenüber einer Beteiligung der Bürger*innen deutlich (vgl. Tabelle 4). Tabelle 4: Frames der Gemeindeverwaltung Rahmungsstrategie Rahmungen und Storylines

Zentrale Rahmung

Konsensorientierung nach den Regeln der Gemeinde Modifikationen erfolgen ausschließlich im Interesse der Anwohner*innen. Sie dienen der Aufwertung und Verschönerung von Vitacura (schöne Geschäfte, öffentlicher Raum, Bäume, unterirdische Kabel). (a) • Stadtplanung dient dem Allgemeinwohl und muss den demographischen Wandel berücksichtigen. Die Bürger*innen vertreten per se nur Partikularinteressen. (b) • Vitacura lässt sich nicht unabhängig von anderen Kommunen betrachten (Autobahn). (c) • Der Protest ist nur politisch und nicht planerisch begründet. (d) • Partizipation ist grundsätzlich positiv, aber: (e)  Plebiszit zu teuer  besser informiert hätten die Bürger*innen anders gestimmt  sie werden die Nachteile noch zu spüren bekommen. Stadtplanung geht vor Partikularinteressen.



Generell betont die Stadtplanungsabteilung von Vitacura, dass Planmodifikationen ausschließlich auf Wunsch der Einwohner*innen erfolgen (a). Hierzu zählten auch die Vorschläge der Anrainer*innen zum Straßenabschnitt Escrivá de Balaguer. Diesen sollte dadurch ermöglicht werden, den Wert ihrer Grundstücke

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zu erhöhen und von einem möglichen Verkaufserlös Eigentum an einem attraktiveren Wohnstandort erstehen zu können.10 „Wenn hier jemand ankommt und um eine Änderung des Flächennutzungsplans bittet, sind es die Anwohner, nicht die Immobilienfirmen. Komischerweise passen sich die Immobilienfirmen an das an, was der Plan aktuell erlaubt. Viele Leute glauben, dass sie hier nach Vitacura kommen und sagen ‚macht mir eine Anpassung des Plans‘, weil es sehr attraktiv ist, hier zu bauen, aber so ist es nicht gewesen.“ (SV3 73, Leiterin Stadtplanung Vitacura)

Weitere Modifikationen wurden mit ästhetisierenden Argumenten gerahmt; Prestige und kommunale Wettbewerbsfähigkeit bei Planungsmaßnahmen wurden genannt. So diene die Änderung an der Avenida Kennedy und Alonso de Córdova dazu, der Degradierung des Einzelhandels in bestimmten Teilen Vitacuras entgegen zu steuern. Mit dem Bau von Hochhäusern werde angestrebt, eine für Vitacura „angemessene“ gewerbliche Nutzung zu fördern. Es gehe um die Bewahrung des residenziellen Charakters von Vitacura und verschönernde Maßnahmen des öffentlichen Raums, wie die Pflanzung von Bäumen oder die unterirdische Verlegung von Kabeln. In der Summe offenbaren sich hier eher Ziele des Stadtmarketings als ein Fokus auf die Stadtplanung. Dass damit die Verdrängung der – im Vergleich zum restlichen Vitacura weniger kaufkräftigen – Anwohner*innen des Viertels El Dorado einhergehen sollte, wird, wie der Austausch der gewerblichen Nutzung, als Teil der allgemein anerkannten Entwicklungslogik betrachtet: „Die Leute, die dort wohnen, sind Taxifahrer, Lehrer, für die es von Vorteil ist, in Vitacura zu leben. Wenn sie ihr Grundstück verkaufen, können sie von dem Erlös hier nichts mehr kaufen. Das reicht für eine andere Kommune von Santiago, die aber nicht den gleichen Standard hat. Deswegen wollen sie die Bauordnung nicht ändern, sie wollen keine Verdichtung. Für sie ist es wichtiger ist, zu sagen, ‚ich wohne in Vitacura‘ als ‚ich wohne in Ñuñoa‘ oder in Santiago oder in Peñalolén. [...] Das ist eine hübsche Gegend mit niedrigen Häusern, [...] vielen Grünflächen, gute Beleuchtung, sehr kleine Straßen. Aber logisch, dafür ist der Boden sehr teuer.“ (SV3 24, Leiterin Stadtplanung Vitacura)

10 Allerdings wird immer wieder darauf hingewiesen, dass private Investoren häufig Mitglieder in Nachbarschaftsverbänden sind und damit sehr wohl versuchen, Einfluss zu nehmen. Generell wird der relativ große Ermessensspielraum solcher Verhandlungen kritisiert (Tironi u. a. 2011; Poduje 2008) (vgl. Kapitel 7).

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Zudem wird das Argument des Anwohner*inneninteresses auf eine andere Ebene abstrahiert (b): Die Stadtplanung habe das Gemeinwohl und die nötige Adaption an den demographischen Wandel zu berücksichtigen, der Einfamilienhäuser zunehmend überflüssig werden lasse. Bei diesem expertisierenden Frame handelt es sich um ein häufiges Argument für den Bau von Hochhäusern bzw. den Geschosswohnungsbau in Santiago.11 Vor dem Hintergrund eines eigentumsorientierten Denkens in Chile wird zudem impliziert, dass die Bürger*innen per se nicht in der Lage sind, über ihre individuellen Interessen hinaus handeln zu können. Gerechtfertigt durch diesen in Chile verankerten Diskurs wird den Bürger*innen also sowohl die Fähigkeit abgesprochen, darüber zu urteilen, was Allgemeinwohl ausmacht als auch danach handeln zu können: „Für mich ist die Stadt ein Konzept. Du weißt, hier in Chile ist Eigentum etwas Heiliges, in anderen Ländern ist das nicht so. Also sind wir mit einem Schlag absolute Individualisten, wenn wir Entscheidungen darüber fällen, was ich an meinem Wohnort will oder nicht will. An die Stadt denken wir dabei nicht.“ (S16 10, Leiter Stadtentwicklung, MINVU)

In der Konsequenz obliegt die Definitionsmacht über das Gemeinwohl, das sich wie in Kapitel 3 diskutiert als leerer Signifikant bezeichnen lässt (vgl. Gunder/ Hillier 2009), den politischen Entscheidungsträger*innen und den Planungsakteur*innen. Sowohl im Framing um den Fall Vitacura als auch den Fall Peñalolén wird der Begriff in etwa mit wirtschaftlicher Prosperität gleichgesetzt. Um die Initiative zu schwächen, setzte der Bürgermeister darauf, die Proteste mit bürokratischen Restriktionen und zeitlichen Verzögerungen zu zermürben, was sich auch in anderen Kommunen Santiagos beobachten lässt (Mlynarz 2011).12 Mit Blick auf das Autobahnprojekt wurde außerdem auf andere räumliche scales verwiesen (vgl. Kapitel 5), denn diesbezüglich seien dem Bürgermeister „die Hände gebunden“. Vitacura ließe sich nicht unabhängig von anderen Kommunen betrachten (c). Die zentralstaatliche Ebene habe über den Autobahnbau entschieden. Ebenso wird die Verantwortung für mögliche Fehlentscheidungen auf Vereinbarungen früherer Verwaltungen abgewälzt: „Viele davon, ein großer Teil [...] bis zum Jahr 2006, waren Modifikationen, die mit den Anwohner*innen vorher vereinbart worden waren.” (SV3 52, Leiterin Stadtplanung Vitacura)

11 Ähnliche Muster zeigen sich auch in der Fallstudie aus Peñalolén (Kapitel 9). 12 Aufgrund von formellen Fehlern wie fehlende Beglaubigungen lehnte er das Begehren ab. Wird auf solche Einwände nicht innerhalb von 30 Tagen reagiert, verlieren die gesammelten Unterschriften ihre Gültigkeit. Als er dem Plebiszit schließlich zustimmte, wurde der Wahltermin unmittelbar nach den Sommerferien angesetzt.

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Des Weiteren warf die Gemeindeverwaltung Salvemos Vitacura vor, ihr gehe es nur um politische Gründe (d) und nicht um die Stadtplanung, und versuchte die Initiative mit diesem – auch in Buenos Aires – häufig zu hörenden Frame zu delegitimieren. Dies ist als Reaktion auf den Erfolg Rodolfo Terrazas, Kopf von Salvemos Vitacura bei den Kommunalwahlen 2008, zu interpretieren, ein Denkzettel für Bürgermeister Torrealba, der bislang mit ca. 70% der Stimmen immer eine deutliche Mehrheit erzielt hatte. Das Politische an sich provoziert in der anerkannt technokratischen und entpolitisierten Regierungspraxis Chiles (vgl. Silva 2004) aber auch Skepsis in der Öffentlichkeit und bremst, dass die Bürger*innen hegemoniale Diskurse in Frage stellen. Erst als die Gemeinde das Referendum nicht mehr verhindern konnte, wurde das Framing der Initiative in Teilen übernommen (Snow/Benford 1992). Expertisierend wurden die positiven Aspekte von Partizipation hervorgehoben, jedoch auf die hohen Kosten eines solchen Plebiszits verwiesen. Nach außen zeigt sich schließlich eine defensive Haltung der Gemeindeverwaltung, was angesichts des Kommunalwahlergebnisses nicht überrascht. Gleichzeitig wurde der Versuch unternommen, das Ergebnis zu relativieren, indem auf die sich daraus ergebenden Nachteile und die Partikularinteressen sowie die spezifische Rolle von Salvemos Vitacura hingewiesen wurde. Zudem hätten die Bürger*innen bei dem Plebiszit anders gestimmt, wären sie besser informiert gewesen: „Aus Angst, dass man ihnen die Sprache, die Vision der Kommune ändert, haben die Leute ‚nein‘ gesagt. Und nachdem sie gemerkt hatten, worum es ging, sagten viele Anwohner: ‚Mist, ich hab es nicht verstanden, ich wusste nicht, ich habe mich für das Thema nicht interessiert, ich hab gewählt, nichts weiter‘.“ (SV3 27, Leiterin Stadtplanung Vitacura)

In ihrer Rahmungsstrategie vermittelt die Gemeindeverwaltung die scheinbar „konsensuelle ideale technische Lösung“. Als sich einige Bürger*innen jedoch widersetzen, werden die defizitäre Anerkennung von wahrer Mitsprache und ein autoritärer Regierungsstil offengelegt. Wenngleich die Äußerung moderat bleibt, so lässt sich die zentrale Rahmung der Gemeindeverwaltung mit „Stadtplanung geht vor Partikularinteressen“ resümieren. Rahmungen der technokratischen Elite Die Gemeindeverwaltung genoss die volle Unterstützung der technokratischen Elite Santiagos, die ihre Empörung über die Bürger*inneninitiative in ihrem Framing vehement zum Ausdruck brachte (vgl. Tabelle 5).

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Tabelle 5: Frames der technokratischen Elite Rahmungsstrategie Rahmungen und Storylines

Zentrale Rahmung

Die Legitimität etablierter Instanzen und Instrumente ist nicht in Frage zu stellen. • Die Bewohner*innen sind egoistisch, gewähren anderen Bürger*innen keinen Zutritt zur Kommune. (a) • Bürger*innen sind keine Expert*innen und können daher nicht über Planung urteilen. (b) • Bürger*innen sollten verstehen, dass Mobilität als Zeichen von Fortschritt zu unterstützen ist. / Entwicklung lässt sich nicht aufhalten, aber man hat aus Fehlern gelernt.(c) • Konflikte erschweren die Planung. (d) Laien können nicht über Stadtplanung entscheiden.

Weit offensiver als die Gemeindeverwaltung versuchte die technokratische Elite, Salvemos Vitacura mithilfe eines moralisierenden und expertisierenden CounterFraming (Benford/Snow 2000) zu delegitimieren (a): Die Bürger*innen seien egoistisch. Es gehe nur um NIMBY-Interessen, man wehre sich gegen jedwede Veränderung und wolle die Kommune nicht mit neuen Einwohner*innen teilen, die „auf der Suche nach einem Ort zum Leben“ seien, und „nicht einmal für die Kinder und Jugendlichen sei mehr Platz“. Dabei lassen sich Storylines wie Leben in einer Blase (burbuja) und Einfrieren des Lokalen identifizieren. Diese Argumente wurden von den Medien aufgenommen: „Vitacura wird als Club gesehen und niemand möchte, dass mehr Leute dem Club beitreten.“ (La Nación 2009) Dies veranschaulicht das in Chile verbreitete technokratische Planungsverständnis, welches fachliche Expertise gegenüber den Interessen und dem Wissen der Bürger*innen systematisch priorisiert (b) (vgl. Zunino 2006; Nuissl u. a. 2012; Silva 2008). Eine im Zuge des Konflikts geführte Mediendebatte ist dabei aufschlussreich: In Reaktion auf Salvemos Vitacura Befürworter Cristián Warnken, schrieb Pablo Allard13 am Tag des Referendums in seiner Kolumne, dass Bürger*innen keine Experten und daher auch nicht in der Lage seien, über Planungsaspekte zu urteilen. Seine unmissverständliche Empfehlung lautete: „Schuster, bleib bei deinen Leisten“ (Allard 2009). Hier wurde die „Empörung“ über die Anmaßung von Laien deutlich, das Fachwissen von Chiles bekanntesten Planern in Frage zu stellen (vgl. auch Tironi 2012). Es erfolgte ein vehementer Appell an fachbezogene Zuständigkeiten (vgl. Zunino 2006). Verbunden mit einem technokratischen Planungsverständnis kommt hier ebenfalls ein grundlegender Machtkonflikt zum Ausdruck:

13 Pablo Allard war 2014 Dekan und zu jenem Zeitpunkt Geschäftsführer des Cities Observatory der Fakultät für Architektur, Design und Stadtforschung der PUC.

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„Wenn Sie nicht ausreichend informiert sind und sich unsicher sind, was Sie davon halten sollen, empfehle ich Ihnen, sich darauf zu verlassen, was die Fachleute Ihrer Kommune vorschlagen. Außerdem ist die drängende Entwicklung zweckmäßig und entsprechend der vorgeschriebenen vorhandenen Instrumentarien zu lenken.“ (Allard 2009)

Diese technokratische Rahmung steht in engem Kontext zu einer wachstumsorientierten Argumentation (c), die in der chilenischen Stadtentwicklung eine starke, quasi natürliche Priorisierung genießt, und wofür sich der von Logan und Molotch (1996) geprägte Begriff der growth machine besonders eignet. Folglich wurde auch die geplante Ausweitung von Escrivá de Balaguer zur Costanera Sur nicht hinterfragt, denn es handelt sich um ein „notwendiges Projekt“. Zudem hätten darüber Experten auf höherer Ebene entschieden, der Beschluss könne also nicht in Frage gestellt werden. So hätten (vernünftige) Bürger*innen verstanden, dass der (unvermeidbare) Wandel hin zu einer verbesserten Mobilität zu unterstützen sei, „welcher den Verlust von Erbe und Lebensqualität kompensiert“ (Allard 2009). Dahinter verbirgt sich ein Verweis auf die „Alternativlosigkeit“ der Gesellschaft, wie Rancière (2002) es im Kontext der Postdemokratie formuliert (vgl. Kapitel 3). Im Sinne der allgemein anzustrebenden Nachverdichtungen („man habe aus Fehlern gelernt“) zum Ziel einer nachhaltigen Stadtentwicklung sei dem Bau von Hochhäusern zuzustimmen. So nimmt das Framing Bezug auf die Debatte um städtebauliche Verdichtung in Santiago. Das Nichtakzeptieren von Veränderungen wird moralisiert, dahingehend dass dieses einem unzureichenden technischen Wissen geschuldet sei. Damit fügt sich die Argumentation in das von Žižek (2010: 273) postulierte Plädoyer der Postpolitik „die alten ideologischen Unterscheidungen hinter sich zu lassen“ ein. Bei diesem Framing zeigen sich jedoch Brüche. Darauf deuten die gegensätzlichen genutzten Begriffspaare: Autobahn, Hektik, Wandel einerseits und Lebensqualität, Erbe andererseits. Eine bessere Information der Bevölkerung – darauf konzentriert sich die zugestandene Partizipation – solle helfen, solche Konflikte zukünftig zu vermeiden und damit die „entpolitisierte“ Politik weniger angreifbar zu machen (d). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die technokratische Elite in ihrem Framing klarzustellen versucht, dass die „Legitimität etablierter staatlicher Institutionen nicht in Frage zu stellen ist“. Es wird eine klare Differenzierung vorgenommen zwischen der Rolle der Bürger*innen als Laien, die in der Stadt wohnen, und städtischen Expert*innen, die über diese Stadt zu urteilen vermögen.

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Konfliktursache

Tabelle 6: Verdichtung in Vitacura – Diskursdynamiken und -praktiken Salvemos Vitacura Schatten durch Hochhäuser (Gebrauchswert)

Kommunalverwaltung Modifikationen erfolgen ausschließlich im Interesse der Einwohner*innen.

Technokratische Elite

Lokale Lebensqualität wird zugunsten Einzelner / Anderer zerstört.

Vitacura lässt sich nicht unabhängig von anderen Kommunen betrachten.

Bürger*innen sind keine Experten, können nicht über Planung urteilen.

Immobilienentwickler eignen sich Tauschwerte der Bürger*innen an.

Stadtplanung dient dem Allgemeinwohl.

Anderen Bürger*innen wird kein Zutritt zur Kommune gewährt.

Bürger*innen finanzieren die Kommune

Bürger*innen vertreten per se nur Partikularinteressen.

Mobilität ist als Zeichen von Fortschritt zu unterstützen.

Die Kommunalverwaltung macht, was Immobilienentwickler wollen.

Entwicklung lässt sich nicht aufhalten, aber man hat aus Fehlern gelernt.

Post-Plebiszit

Umgang mit Konflikt

Vertrauensverlust in Kommune, Private, Medien etc. Wir sind apolitisch.

Der Protest ist nur politisch und nicht planerisch begründet.

Recht auf lokale Gestaltung nach den Wünschen der Bürger*innen.

Die Modifikation dient der Aufwertung von Vitacura.

Zusammen können wir etwas dagegen erreichen. Bürger*innen werden Nachteile noch zu spüren bekommen. Plebiszit als Grundrecht muss öffentlich finanziert werden.

Partizipation positiv, aber: sehr teuer; informiert hätten man anders gestimmt

Masterframes

Bürger*innen zukünftig besser informieren.

Diskurspraktiken

Konflikte erschweren die Planung.

Besser informieren und Konflikte vermeiden.

Lebensqualität und Mitbestimmung Technokratisches Planungsverständnis und Wachstumsdiskurs geschwächt Wissensbasierte apolitische Strategie Lose Vernetzung der Bürger*innen und lokales Engagement

Zögerliches Umdenken der Planungsroutinen

Freiwillige Partizipationsangebote in Santiago (keine) institutionellen Effekte

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R AUMBEZOGENE

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W IRKUNGEN

Auf der Grundlage der erörterten Rahmungsstrategien und zentralen Rahmungen der drei beleuchteten Parteien werde ich nun der Frage nachgehen, ob die Austragung des Konfliktes auch über den Fall hinaus von Bedeutung ist. Im Fokus steht dabei, inwiefern im Handlungsfeld der Stadtpolitik und -planung geltende Masterframes einen Wandel erfahren haben, welche Routinen der Organisation und Durchführung von Politik und Planung in der Stadt angestoßen wurden und inwieweit sich Verschiebungen von Räumlichkeiten konstatieren lassen. Diskurskoalition: Mehr Mitsprache weniger Technokratie? Hinsichtlich geltender Masterframes, die das vorherrschende Verständnis von Stadtentwicklung in Santiago definieren, lässt sich eine Diskurskoalition aus Akteur*innengruppen mit einem gemeinsamen Set von Rahmungen identifizieren, die im Zuge der skizzierten Auseinandersetzung in Vitacura verstärkt in den Vordergrund rückte: Zunächst beziehen sich diese Gruppen auf einen Masterframe, der Lebensqualität und Mitsprache thematisiert. Ein weiterer von den Rahmungsstrategien beeinflusster Masterframe dreht sich um das Infragestellen von Expertentum in der Stadtplanung und von wachstumsorientierter Stadtentwicklung (vgl. Tabelle 6). Beide Masterframes werden von unterschiedlichen Gruppen gebraucht. Salvemos Vitacura verfolgte nach dem Konflikt kein anderweitig orientiertes Argumentationsmuster. Stattdessen finden sich eher Überschneidungen zwischen den Rahmungen der Initiative und denen der anderen Akteur*innen, was darauf hinweist, dass Salvemos Vitacura auf keine vom politisch-ökonomischen Konsens abweichenden Reformen abzielte. Aus diesem Grund beziehen sich die herausgearbeiteten Diskurspraktiken auf beide Masterframes. Nach Hajer (2008: 278ff) geht die Strukturierung von (neuen) Diskurskoalitionen mit einem Set von Praktiken einher, die dem Diskurs entsprechen, ihn reproduzieren und transformieren. Übertragen auf Planungsprozesse betont Healey (2006), dass Lernprozesse dann stattfinden, wenn sich die öffentliche Wahrnehmung verändert. Neuer Masterframe: Lebensqualität und Mitsprache Durch den Planungskonflikt in Vitacura wurde eine öffentliche Debatte zum Thema angestoßen. Mit dem erfolgreichen Referendum demonstrierte Salvemos Vitacura, welche Macht die bürgerliche Elite zu bündeln in der Lage ist, was in der chilenischen Planer*innen-Community gleichsam als Schock erlebt wurde

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und sich als elementare Infragestellung der dort geltenden Angemessenheitsregeln interpretieren lässt. Hinzu kommt, dass das Plebiszit von hoher symbolischer Bedeutung für den noch immer anhaltenden Demokratisierungsprozess in Chile ist: Es handelt sich nicht nur um das erste von Bürger*innen organisierte Plebiszit in Chile überhaupt, sondern auch um das erste seit dem „Nein“ des Jahres 1989, das damals der Militärdiktatur ein Ende setzte. Anhand des untersuchten Fallbeispiels kommt demnach eine tiefer greifende Problematisierungsleistung zum Ausdruck: Die Protagonist*innen waren in der Lage, grundlegende demokratische Lücken auf lokaler Ebene zu identifizieren, was als entscheidende Voraussetzung für einen Wandel von gesellschaftlichen Werten und politischer Kultur sowie geltender Leitbilder von Planung und Stadtpolitik erachtet werden kann. Dieses Infragestellen vorherrschender Ordnungen war nur möglich durch eine agonistische Aushandlung (vgl. Mouffe 2007). Im Kontext der Schaffung von Öffentlichkeit erwies sich dabei die Sichtbarkeit von Referenden – im Unterschied zu anderen rechtlichen Mechanismen – von großem Vorteil. Durch eine solche place-Strategie lassen sich zivilgesellschaftliche Gruppen und ihre Interessen in den öffentlichen Fokus rücken. Der Plan hätte sich auch juristisch anfechten lassen, aber so hätte man das Anliegen, wie ein Vertreter von Salvemos Vitacura formulierte, „dem Bereich des Politischen, dem Interesse des Bürgers“ entzogen und somit öffentlich weniger unterstützt (vgl. Zitat im Anhang). Aus diesem Grund verfolgte die Initiative die Implementation des Plebiszits trotz Hürden konsequent und betrieb damit eine effiziente politics of place. So wurde sowohl räumlich als auch grundsätzlich politisch im Sinne eines Majoritär-Werdens (Marchart 2010) an „größere“ Themen angeknüpft. Auch die skalare Maßstäblichkeit des betroffenen Ortes wurde ausgeweitet. Die territorialen Ausschnitte spiegeln Veränderungen in der gesamten Kommune wider, und das erstmals von Bürger*innen initiierte Instrument des Plebiszits offenbarte die Forderung nach mehr direkter Mitsprache. Im Zuge dessen sind die – auch von anderen Organisationen und Bewegungen – proklamierten Werte, die sich mit dem neuen Masterframe Lebensqualität und Mitbestimmung zusammenfassen lassen, stärker in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt und haben Einfluss auf das vorherrschende Planungsleitbild genommen. So ist der Bürgermeister seitdem bemüht, neue Elemente herauszustreichen: Lebensqualität, lokale Identität und aktive Bürgerschaft. Gut zwei Jahre nach dem Referendum betonte er: „Es ist nicht leicht möglich, dass sich die Leute einem Stadtteil zugehörig fühlen, dass sie ihn gern mögen; und wir haben das in kurzer Zeit erreicht“ (El Mercurio 2011). Damit machte er sich die Frames der Bürger*inneninitiative zu Eigen – wohl auch, um die unzweifelhaften Errungen-

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schaften des Plebiszits seinem eigenen politischen Agieren zuschreiben zu können. In dem zitierten Zeitungsartikels wurden ferner die starke Zivilgesellschaft in Vitacura und der Erfolg von Salvemos Vitacura hervorgehoben, wobei wiederholt der Bürgermeister als Zeuge bemüht wurde, der die Schaffung einer lokalen Identität und die Stärkung einer aktiven Bürgerschaft mithilfe direktdemokratischer Instrumente als positives Kennzeichen seiner Kommune hervorhob. Die Initiative zwang die Kommunalverwaltung in Vitcura also zu einer gewissen Dialogorientierung. Die herrschenden Machtverhältnisse wurden jedoch kaum beeinträchtigt, da kein Bruch mit der politischen Elite riskiert wurde. Mit diesen ortsbezogenen Rahmungen kam es auch zur Verfestigung zugeschriebener lokaler Symboliken. Vitacura wurde als prestigeträchtiger Standort weiter gestärkt, was sich als Vorteil für den kommunalen Wettbewerb erweist. Hinzu kommt eine Materialisierung dieser Symbolik durch die offensichtliche Steigerung der Grundstückspreise und Nachfrage in Vitacura, die das Plebiszit wider Erwarten induzierte (Neira/Ovalle 2009; Poblete 2009). Geschwächter Masterframe: Technokratie und Wachstum Genauso wichtig wie die Entstehung neuer diskursiver Leitbilder ist die Auflösung bislang vorherrschender Planungsvorstellungen. So deutet sich insbesondere im Zuge dieses Konfliktfalls an, dass die vordem allgemein akzeptierte Vorstellung, Stadtplanung habe auf den Entscheidungen von Expert*innen zu basieren, ins Wanken geraten ist. Ein „walk over“ der Bevölkerung, wie ein Vertreter der Chilenischen Baukammer es formulierte, d.h. das strategische Nichtinformieren über Planungsmaßnahmen, ist nicht mehr so leicht möglich. Genauso sind partizipationsfeindliche Meinungsäußerungen von Expert*innen nach dem erfolgreichen Plebiszit nicht mehr artikulierbar oder erzielen zumindest nicht mehr den gewünschten Effekt (vgl. Zitate im Anhang). Es häufen sich die Anzeichen, dass Stadtplanung und Entscheidungsautoritäten zivilgesellschaftliche Expertise inzwischen nicht mehr ignorieren können. Insbesondere nicht an Orten wie Vitacura, wo die „Eigentümer Chiles“ leben (Leiterin Stadtplanung Vitacura) und die Bürger*innen vielfältige Kapitalien (u.a. Bildung und Wissen) mobilisieren können. Denn bessere Bildung heißt nicht nur, dass Bürger*innen in der Lage sind, Situationen abzuschätzen, sondern auch, dass diese die Berücksichtigung ihres Wissens und ihrer Bedürfnisse einfordern (vgl. Tironi 2013). Vorstellungen von Expertentum und vom Primat technokratischer Entscheidungsfindung wurden bislang von vielen der in den raumplanerischen Debatten in Chile vernehmbaren Diskurskoalitionen weitgehend geteilt. Ausgehend von

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der Idee einer Hegemonie bestimmter machtgeladener Diskurse über andere (vgl. Laclau/Mouffe 2012), geht mit der sich hier andeutenden Schwächung bestimmter Diskurse durch die Streuung und Stärkung neuer Frames eine gewisse Transformation von Machtverhältnissen einher, und zivilgesellschaftliche Gruppen rücken stärker in den Mittelpunkt. Dabei fällt auf, dass die befragten staatlichen oder privatwirtschaftlichen Akteur*innen an keiner Stelle darauf verwiesen, dass zivilgesellschaftliches Expertenwissen dienlich für die Planung sei (vgl. Forray 2007), sondern im Mittelpunkt steht, dass man sich diesem neuen Druck, der die Planung verkompliziert, beugen müsse. Gemäß der Schwächung des Leitbilds der Technokratie zeichnen sich Tendenzen ab, dass die Priorisierung von Wachstum als oberstes Ziel von Stadtentwicklung zumindest hinterfragt wird. Jedenfalls zeigen die jüngsten stadtpolitischen Auseinandersetzungen in Vitacura und insgesamt in Santiago, dass sich Stadtentwicklungsprojekte nicht mehr allein auf der Basis einer wachstumsorientierten Argumentation durchsetzen lassen, wie auch die Debatte um den neuen regionalen Flächennutzungsplan PRMS 100 illustriert (Trivelli 2011). Insbesondere deutet sich an, dass das Framing um Flächenbedarf bzw. das Leitbild einer „Flächenmetropole“ zunehmend ins Wanken gerät (vgl. auch Hölzl/Nuissl 2015b; Hölzl 2014). Denn die mit dem Flächenverbrauch einhergehenden sozialen und ökologischen Probleme lassen sich immer weniger ignorieren, und zugleich bedarf das lukrative Geschäft der Reurbanisierung einer öffentlichen Rechtfertigung. Diskurspraktiken: Zögerliche Machttransformationen Wissensbasiertes apolitisches Vorgehen Salvemos Vitacura kehrte in der Auseinandersetzung ihren „apolitischen“ Charakter hervor und vermied eine parteipolitische Zuordnung. Stattdessen konzentrierte sie sich ähnlich wie andere Initiativen in Santiago bewusst auf ihr (nicht politisch, sondern) technisch lösbares Kernanliegen. Generell ist dies im Kontext der Skepsis zu sehen, die gegenüber dem politischen System, vor allem der in Teilen klientelistischen Parteienpolitik in Chile vorherrscht (vgl. Kapitel 7). Durch den Fokus auf technische Argumente versuchen die Initiativen, einer Instrumentalisierung vorzubeugen und Interessenunterschiede zwischen Bürger*inneninitiativen auszuklammern. Des Weiteren bestätigte Salvemos Vitacura, dass ihr Handeln auf fundierten technischen Erkenntnissen basieren müsse, „um sich auf die Entscheidungsträger auszurichten“. Denn um Einfluss nehmen zu können, werden bestimmte Bildungsabschlüsse vorausgesetzt, die das technische Wissen unter Beweis stellen. Ansonsten gelingt es, durch das Framing des

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Nichtwissens als sozialer Akteur delegitimiert zu werden. Zugleich zeigte sich für den Fall Vitacura, dass die Betonung des Apolitischen damit zusammenhängt, den politischen Zusammenhalt der Konservativen nicht zu gefährden (vgl. Zitate im Anhang). Dies unterstreicht das für Chile charakteristische entpolitisierte oder postdemokratische Grundprinzip des konsensuellen Regierens (Zunino 2006). Das technokratische Planungsverständnis, gepaart mit einem autoritätshörigen Denken ist also nicht so leicht zu brechen, im Gegenteil, die Initiative folgte dieser Argumentation. Der Bürger*inneninitiative gelang es zwar, die Dichotomie zwischen Experte und Laie aufzubrechen, wie Tironi (2012) konstatiert, aber um eine politische Stimme zu positionieren, muss nach wie vor das Expert*innenwissen „unter Beweis gestellt“ werden. Diese Forderung – oder Artikulation im Sinne der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe (2012) – hinterfragt Salvemos Vitacura nicht. Damit erfährt das Technokratische gleichzeitig eine Stärkung, so dass für diesen Fall nicht von einer Radikalisierung der Planung gesprochen werden kann (vgl. auch Tironi 2013). Denn dies illustriert, dass sich Teile der Gesellschaft legitim politisch ausschließen lassen, wenn sie die erwarteten technischen Voraussetzungen nicht erfüllen können. Aber auch wenn viele Initiativen negieren, politisch zu sein, stellen ihre tatsächlichen Interaktionen das Gegenteil unter Beweis, wie auch Tironi (2012) anmerkt. Dabei sei nicht nur auf die Teilnahme vieler Vertreter*innen von Bürger*innenorganisationen an den vergangenen Kommunalwahlen (v.a. 2008 und 2012) verwiesen, entweder um ihre Interessen durchzusetzen – wie in Vitacura – oder um ihre Forderungen längerfristig zu institutionalisieren – wie in Providencia, wo eine Vertreterin von Ciudad Viva seit 2012 das Bürgermeisteramt inne hält. Gerade die Fähigkeit, eigene Interessen in der Öffentlichkeit zu platzieren, stellt das Politisch-Sein unter Beweis. Auf diese Weise ist es vielen neuen Initiativen in Santiago gelungen, einen Abstand zu den traditionellen politischen Parteien herzustellen. Lose Vernetzung der Bürger*innen Abgesehen von einem vereinzelten Austausch auf städtischer Ebene konzentrierten sich die politics of networks der Initiative auf die Kommune. Zudem besteht für diese Elite keine Notwendigkeit, dauerhaft öffentlichkeitswirksam aktiv zu sein. Entsprechend kommentierte ein Sprecher den Zustand: „Salvemos Vitacura schläft gerade. Es lässt sich jederzeit reaktivieren.“ Zwar forderte die Initiative nach dem Referendum, direktdemokratische Instrumente wie Plebiszite als Grundrecht der Bürger*innen in Chile stärker zu institutionalisieren (unter anderem durch finanzielle Ressourcen). Allerdings gingen damit keine konkreten

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Handlungsschritte einher. Denn letztlich stand die Verteidigung temporärer, territorialer Interessen und weniger ein politisierendes Handeln, wie es Marchart (2010) diskutiert, im Vordergrund. Bezeichnend für das limitierte übergeordnete Interesse an einer sozial- und umweltgerechten Entwicklung von Santiago ist, dass sich Salvemos Vitacuras 2010/2011 nicht an den Verhandlungen zum neuen PRMS 100 beteiligte (vgl. Kapitel 7). Der umstrittene Plan brachte erstmals soziale Organisationen aus der gesamten Metropolregion zusammen, und zwar sowohl soziale Bewegungen unterer Einkommensschichten als auch Gruppierungen der chilenischen Mittelschicht. Auch wenn das Handeln lokal blieb und die Initiative heute nicht mehr aktiv ist, demonstriert dieser Konfliktfall jedoch, dass selbst sehr lokal orientierte Praktiken (unbeabsichtigt) immer auch Konsequenzen über das Lokale hinaus nach sich ziehen (Featherstone 2005). Zunächst ist festzuhalten, dass der zivilgesellschaftliche Erfolg im Planungskonflikt in Vitacura und die lose Vernetzung zur Schaffung eines gemeinsamen Bewusstseins beitrugen. Mit Lefebvre gesprochen kam es zu einer Materialisierung im sozialen Raum. Die sozialräumliche Positionalität der Bürger*innen hat sich durch den Erfolg der Bewegung weiter gestärkt, so dass davon ausgegangen werden kann, dass der Staat es zumindest auf lokaler Ebene nicht wagen kann, die erkämpften Ergebnisse zu untergraben, was für den Konflikt B Peñalolén nicht zutrifft. Man kann also ein neues Selbstverständnis der Bürger*innen und transformierte place-Zuschreibungen identifizieren, was vor dem Hintergrund der dort mobilisierbaren Ressourcen von hoher Bedeutung ist. Überdies wird Salvemos Vitacura trotz begrenzter Bemühungen zu einem stadtweiten Netzwerk von Bürger*inneninitiativen gerechnet, dem ihre Vertreter vereinzelt beratend zur Verfügung stehen oder als Vorbild fungieren. Die zugehörigen Organisationen tauschen sich in variierender Intensität aus. Wenn Gebäudeabrisse drohen und/oder gegen neue Immobilienprojekte vorgegangen werden soll, berät man sich gegenseitig hinsichtlich existierender Gestaltungsspielräume, wie juristische Maßnahmen, Plebiszite oder die Ausweisung von Denkmalschutzgebieten (vgl. auch Tironi 2013). In der Summe haben die lokalen Konflikte eine regionale Bedeutung erlangt und tragen zur Herausbildung eines social movement space bei (Massey 2005; Nicholls 2009). Die konservative Natur der Gruppe, die sich eigentlich ideal in ihr parteipolitisches Umfeld einbettet, illustriert eine weitere besondere Facette des diskutierten Konflikts. So wurde in den Medien teilweise davor gewarnt, dass mit dem Referendum eine „Schwächung des traditionellen rechten Flügels“ in Chile einhergehen könnte. Damit verbunden war der Appell für einen besonnenen Umgang mit dem Ergebnis des Plebiszits. Hier deutet sich die potenzielle Macht der Bürger*inneninitiative an, die in der Lage (gewesen) wäre, die politische Rechte

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zu spalten. Genau das strebte sie jedoch nicht an, denn in der Summe blieb das Vorgehen der Bürger*inneninitiative sehr moderat und „apolitisch“ – wie sie selbst formuliert (s.o.). Dies erklärt, weshalb keine Vernetzung mit anderen Organisationen und Nutzung der Potenziale eines social movement space‘ angestrebt wurde (vgl. Nicholls 2009). So hat der Planungskonflikt nichts an ihrer Identifikation mit der nationalen Elite geändert. Folglich bleibt der Konsens innerhalb der lokalen Elite im Ergebnis bewahrt – wie der neue Masterframe um Lebensqualität und Mitsprache zeigt –, und der Konflikt führte zu keiner weiteren Erschütterung der konservativen Wählerschaft. Denkt man hier an die von Laclau und Mouffe formulierten Äquivalenzbeziehungen (2012), wurden letztlich eher die Beziehungen zwischen einflussreichen Gruppen gestärkt. Damit bildet diese Auseinandersetzung auch keinen Ausgangspunkt für Verhandlungen in der Zukunft, die offener für andere Meinungen und konstruktive Konflikte sind. Salvemos Vitacura (bzw. ihr Initiator) tritt seitdem eher als neue Expertin für kommunale Themen auf (vgl. Hölzl 2014), die wie andere Initiativen die Generierung von „Modi der Technifizierung“ übernimmt (Tironi 2013). Partizipation und Planung in Vitacura: zögerliches Umdenken Infolge des Plebiszits sehen sich kommunale Planungsakteur*innen in Vitacura vor neuartige Herausforderungen gestellt. Nach dem Plebiszit musste sich die Verwaltung, die sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, die durchaus auch sinnvollen Aspekte der Planmodifikation zu vermitteln, eingestehen, dass sie den Bürger*innen mehr Aufmerksamkeit hätte schenken müssen (vgl. Zitat im Anhang). Sie mussten die Grenzen des gängigen autoritären Handelns erkennen und sehen sich nun gezwungen, die politische Teilhabe der Bürger*innen zu erhöhen. Über die Schaffung zusätzlicher Informationsangebote gehen die Vorschläge, zumindest im untersuchten Fall, allerdings kaum hinaus, wie die Leiterin der Stadtplanung von Vitacura deutlich machte: „Es muss Partizipation, einen Interessenaustausch geben, aber schließlich müssen die technischen Einheiten bestimmen, [...] welche Nutzung und wie viele Stockwerke Du haben wirst.“ Mit Blick auf den Ausgangspunkt ist dies dennoch als ein erster Schritt zu werten. Allerdings ist auch auf rechtliche Feinheiten und damit verbundene akteur*innenbezogene Machtkonkurrenzen als Folge des Referendums hinzuweisen. Anstatt dass öffentliche Autoritäten und private Investoren basierend auf dem nationalen Planungsgesetz (LGUC) Prozesse zu lenken vermochten, haben die Bürger*innen anhand des Plebiszits von ihrem verfassungsmäßigen Recht auf Mitbestimmung Gebrauch gemacht. Das bedeutet zum einen, dass planerische Entscheidungen dem dafür vorgesehenen Planungsgesetz entzogen wurden. Oder pointierter, der place wurde in seiner Zugänglichkeit beschränkt (vgl. Ni-

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cholls/Miller/Beaumont 2013b). Zum anderen kann die Aufhebung der für die drei Standorte gefällten Entscheidung nicht mehr mithilfe von Regelwerken der Planung erfolgen, sondern nur mit einem weiteren Referendum. Hiermit wurde die Entscheidungsmacht planerischer Autoritäten klar beschnitten.14 Die einzig sichtbare Reaktion des Bürgermeisters auf den Konflikt, war das Vorantreiben der Erweiterung des Parque Bicentenario in Vitacura. Die 2011 fertig gestellte Vergrößerung des Parks wurde von verschiedenen Seiten als geschickte Strategie der Wiedergutmachung eingeschätzt, die auch seine Chancen in den Kommunalwahlen 2012 beeinflussten. Gemäß dem an Bedeutung gewonnenen Masterframe symbolisiert der Park die errungene Lebensqualität im physischen Raum. Auch im internationalen Vergleich lassen sich die Schaffung öffentlich nutzbarer Räume wie Grünflächen oder der Rückgriff auf Umweltdiskurse als häufig eingesetzte stadtpolitische Strategien beobachten, wie mit Bezug auf Buenos Aires zum Beispiel diskutiert wird (Carman 2011). Dabei zeigt sich, dass diese sich anbieten, um die Aufmerksamkeit von tiefer liegenden städtischen Herausforderungen abzulenken, die sich nicht so leicht in Angriff nehmen lassen. Der Nutzen solcher Erholungsflächen ist in der Öffentlichkeit über politische Positionen hinaus anerkannt, allein weil deren Sichtbarkeit für die Einwohner*innen eines Stadtteils ein Potenzial für Prestige und Identifikation birgt. Insgesamt zeigt sich, dass die Kommune heute zwar mehr Vorsicht bei solchen Planungsverfahren walten lässt, aber sich (noch) kein klarer Wandel von Handlungsroutinen abzeichnet. Stattdessen scheint man eher darauf bedacht zu sein, rasch zu einem business as usual zurückzukehren (vgl. Hölzl 2014). Über Vitacura hinaus: Freiwillige Partizipationsangebote Öffentliche Institutionen wie das nationale Städtebauministerium (MINVU) und dessen regionales Sekretariat (SEREMI MINVU) sowie private Interessenvertreter wie die Chilenische Baukammer (CChC) sind sich der wachsenden Planungskonflikte in Santiago bewusst. Vitacura und Peñalolén sind nur zwei (wenngleich sehr bekannte) Konfliktbeispiele. Diese institutionellen Akteur*innen realisieren, dass sie nicht mehr so uneingeschränkt agieren können wie bisher (vgl. Tironi u. a. 2011). Beispielsweise betonte die Leiterin des Seremi MINVU, dass viele Kommunen Modifikationen ihrer Planwerke fürchteten und Projekte daher aufgeschoben würden. Diese Stakeholder beobachten – teils mit Überraschung – wie bestimmte NGOs (z.B. Ciudad Viva) an Sichtbarkeit gewinnen, und informierte Bürger*innen in der Lage sind, Expertisen zu formulieren und sich rasch 14 Ferner beeinträchtigte das Plebiszit den Ausbau der Autobahn, was über die lokale / metropolitane Ebene hinaus auch die zentralstaatliche Entscheidungshoheit berührt (vgl. Hölzl 2014).

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zu organisieren. Dabei wird auch auf die Bedeutung sozialer Netzwerke verwiesen. Das Problembewusstsein bezieht sich jedoch weniger auf eine gegebenenfalls wachsende Demokratisierung in der Planung denn auf die mit den Konflikten verbundenen Kosten durch Verzögerungen, Plananpassungen und Projektausfälle. In der Konsequenz lässt sich in Santiago über die betrachteten Kommunen hinaus die Etablierung von neuen freiwilligen Partizipationsverfahren beobachten, die entweder von staatlicher Seite oder von privaten Investoren initiiert worden sind: So fanden 2010 erstmals Konsultationen im Rahmen von städtebaulichen Entwicklungsmaßnahmen wie der Errichtung von Shopping Malls (z.B. Mall Martin de Zamora) oder der Gestaltung öffentlicher Grünflächen (z.B. Parque Forestal) statt. Zwar sind deren Ergebnisse weder bindend noch ist der Partizipationsprozess verpflichtend. Er folgt auch nicht einem formalisierten Ablauf – es ist also offen, welche kollektiven oder individuellen Akteur*innen mitreden und auf welcher Maßstabsebene sich Anwohner*innen einbringen können. Dennoch lassen sich diese Konsultationen als einen ersten Schritt hin zu mehr Mitsprache bei Entscheidungen in der Stadtplanung interpretieren, auch wenn sie sich in Strategien des roll-with-it Neoliberalismus einfügen (vgl. Keil 2009). Auf Basis dieser Konsultationen wurden Projekte bereits angepasst oder sogar ganz zurückgezogen. Dies trifft zumindest für bestimmte Projektarten in einkommensstärkeren Nachbarschaften zu, von deren Akzeptanz schließlich auch ihre Wirtschaftlichkeit abhängt. Es bleibt abzuwarten, ob und in welcher Weise diese Ansätze institutionalisiert werden. (Keine) institutionellen Effekte Die befragten staatlichen Stakeholder erkennen zudem, dass formelle Partizipationsmöglichkeiten verbessert werden müssen. Dafür wäre es erforderlich, das im nationalen Planungsgesetz (LGUC) festgelegte Verfahren zur Erstellung von Flächennutzungsplänen zu modifizieren. Verschiedenen Interviews zufolge lieferte das Referendum in Vitacura einen wichtigen Impuls, die Überarbeitung des LGUC in Angriff zu nehmen. Hinsichtlich einer grundsätzlichen Neugestaltung formeller Partizipationsmechanismen in der Raumplanung und der Entwicklung von Leitvorstellungen für die Metropolregion Santiago und ihre Kommunen ist man sich jedoch uneinig. Zumindest herrscht Konsens, dass das kommunale Budget für die Beteiligung an Planungsprozessen erhöht und die Bürger*innen bereits während der Erarbeitung von Plänen einbezogen werden sollen. Um den informellen Charakter der Verhandlungen einzudämmen, sind sich viele staatliche Stakeholder einig, dass der Planungsprozess von Beginn transparent sein muss, damit keine Vorteilnahme durch Lobbygruppen erfolgen kann (vgl. Tironi

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u. a. 2011: 294). Bindende Beteiligungsmechanismen werden jedoch vielfach abgelehnt, da die Chilen*innen zu individualistisch und eigentumsfixiert seien (s.o.). Dabei wird ein Widerspruch deutlich zwischen den Vorstellungen der technokratische Elite von Planungsabläufen einerseits und zivilgesellschaftlicher Partizipation andererseits: So hat die Planung im Sinne der konditionierten Planung flexibel zu sein. Dies wird damit begründet, dass die PRCs häufig veraltet sind und Planung dennoch möglich sein muss. Dabei wurde wissenschaftlich bereits vielfach belegt, dass Flexibilisierungsnormen die Intransparenz erhöhen (Poduje 2006; Vergara 2009). Hingegen sollte der Partizipationsprozess klar geregelt und effizient in Planungsprozesse eingebettet sein, um Interventionen bei Projektimplementationen vorzubeugen. Es bleibt also die Logik einer angestrebten Konfliktvermeidung bestehen, wobei eher eine Regelung der Beteiligung, denn Regularien für privatwirtschaftliche Akteur*innen angedacht werden. Dies untermauert letzlich die Forderung der radikalen Planung nach einer konfliktoffenen Auseinandersetzung in der Planung, anstatt einen nicht (erreichbaren) Konsens aller Interessengruppen anzustreben (vgl. Kapitel 3). Daher ist es nicht überraschend, dass auf einen Änderungsentwurf des Nationalen Planungsgesetzes LGUC bislang nur zögerlich reagiert wurde. Darin werden unter anderem die Forderungen einer frühen und bindenden Partizipation aufgegriffen. Der Entwurf zielt nicht darauf ab, „Konflikte zu minimieren“, sondern „kreativere, kollaborativere und offenere Lösungen“ zu ermöglichen (Tironi u. a. 2011: 304). Zumindest wurde mit dem 2011 verabschiedeten Partizipationsgesetz (s. Kapitel 7) die notwendige Unterschriftenzahl für ein Bürgerbegehren von 10% auf 5% aller Wahlberechtigten reduziert. Hier wird an vielen Stellen ein Zusammenhang mit dem Vitacura-Referendum vermutet (vgl. Herman 2009). Dies wurde bereits im Rahmen der geplanten Steigerung zivilgesellschaftlicher Partizipation unter der Präsidentschaft von Lagos (2000-2006) und Bachelet (2006-2010) proklamiert. Diese demokratischen Aspekte der Gleichheit lassen sich als Nebeninteresse der lokalistischen Bürger*inneninitiative interpretieren. So lässt sich diese Errungenschaft im Sinne demokratischer Teilhabe ebenfalls eher als nichtintendierte Folge (Tilly 1999) einordnen. Über den untersuchten Fall hinaus ist zu beobachten, dass öffentliche Entscheidungsträger*innen und private Lobbygruppen anstatt bindende Partizipationsangebote zu schaffen und damit Entscheidungsmacht abzugeben, eher auf der Suche nach Lösungen sind, die weiterhin eine effiziente Implementation von Plänen und Projekten erlauben. Auch die am 30.10.2013 erstmals veröffentlichte Nationale Stadtentwicklungsplanung (PNDU) veranschaulicht die Fortführung gewohnter Routinen und Machtverhältnisse. So erfolgte die Entwicklung des

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Programms ohne jegliche Einbindung zivilgesellschaftlicher Organisationen und in gängiger zentralistischer Struktur mit dem üblichen exklusiven Kreis aus Architekt*innen der technokratischen Elite. Kurz darauf, im November 2013 wurde der umstrittene PRMS 100 bewilligt (vgl. Kapitel 7), der den Leitlinien der indikativen Nationale Stadtentwicklungsplanung entgegensteht. Dies bekräftigt den Verdacht, dass die PNDU eher eine diskursive roll-with-it Anpassung darstellt, denn mit wahrhaft transformativen Absichten verbunden ist.

Z WISCHENFAZIT Der analysierte Konflikt in der reichsten Kommune Santiagos kreiste im Kern um die Möglichkeiten zivilgesellschaftlicher Mitsprache bei formalen Planungsprozessen: diese Mitsprache wurde in der Kommune Vitacura von einer (politisch) konservativ orientierten Bürger*inneninitiative ausgeübt, die zunächst vor allem die Partikularinteressen von Grundstückseigentümer*innen im Blick hatte. Die kommunalen Entscheidungsträger*innen ignorierten die Interessen der Anwohner*innen und rechneten nicht mit einer Verschärfung der Auseinandersetzungen. Dies veranschaulicht das traditionell vorherrschende dezidiert technokratische Verständnis von lokaler Politik und Planung in Chile und die rudimentär vorhandenen Partizipationsmöglichkeiten in öffentlichen Planungsprozessen. Der breite zivilgesellschaftliche Widerstand, der im Zuge des Konfliktes erwuchs, entfaltete genügend Kraft, um nicht nur die kritisierte Planmodifikation aufzuhalten, sondern auch politische Routinen ernsthaft in Frage zu stellen. Die Rekonstruktion des Konflikts zeigt, dass die Motive der beteiligten Akteur*innen im Konfliktverlauf einem Wandel unterliegen können. So trat Salvemos Vitacura zunächst lediglich an, um partikulare Interessen einer Anwohner*innengruppe zu verfolgen, aber im Zuge des damit öffentlich etablierten Konflikts wurden zunehmend weitere Demokratiedefizite auf lokalpolitischer Ebene deutlich. Deren Überwindung rückte als zusätzliches Motiv der Bürger*inneninitiative in den Vordergrund. Dies erklärt unter anderem das starke öffentliche Interesse, welches sie zu erzeugen vermochte. Aber erst die Kombination mit ihren außerordentlichen ökonomischen Voraussetzungen, ihrer Expertise und ihren Beziehungen macht den Erfolg der Initiative begreiflich. Salvemos Vitacura hat die technokratische Elite „vor den Kopf gestoßen“ und bewiesen, welchen Einfluss eine gut organisierte bürgerschaftliche Initiative erlangen kann. Hierbei waren die umfangreichen Ressourcen ausschlaggebend, auf die Salvemos Vitacura zurückgreifen konnte: die Positionalität der Akteur*innen selbst, deren juristisches und planerisches Expert*innenwissen, öko-

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nomisches Kapital und Kontakte zu chilenischen Medien sowie die Unterstützung durch landesweit bekannte Persönlichkeiten. Der (Veränderungs-)Druck, der von der immer sichtbarer werdenden, organisierten Zivilgesellschaft auf die Akteur*innen der Raumplanung ausgeht, ist offensichtlich. Erkennbar hat dies dazu geführt, dass altbewährte Legitimationsmuster der Stadtentwicklung ins Wanken geraten. Es gibt verschiedene Anzeichen dafür, dass im Zuge des hier nachgezeichneten Konflikts die Masterframes der Stadtentwicklung einen Wandel erfuhren: Mitbestimmung wird scheinbar größere Bedeutung zugemessen, die starke Betonung von Expertentum und Wachstumsorientierung wird zumindest hinterfragt. Besonders interessant ist die Empörung, die der Konflikt in der Community der Planer*innen auslöste. Lokal hat der Erfolg des Protests zur Entstehung einer neuen bürgerschaftlichen Identität beigetragen und damit die Kommune als place gestärkt. Auch wenn sich die Praktiken der Initiative als politics of territory auf das Lokale konzentrieren, reicht ihr Wirken weit darüber hinaus. Selbst wenn dies teils nichtintendiert ist, zieht das lokale Projekt Folgen von regionaler und nationaler Dimension nach sich. Das Recht auf Mitsprache wird öffentlich platziert und die gestärkte Identität beeinträchtigt überlokale planerische Entscheidungen. Von diesen Erfahrungen zehren andere Organisationen und soziale Bewegungen in Santiago (vgl. dazu Konfliktfall B). Das Interesse der Initiative an einem umfassenderen Wandel ist jedoch begrenzt. Mit der Betonung des „Apolitischen“ agierte diese im Konsens mit der rechtskonservativen Elite und ging der Förderung von potenziell gegenhegemonialen Netzwerken aus dem Weg. Es ist anzunehmen, dass von einem solchen heterogenen social movement space ein wesentlich höherer Druck auf Politik und Planung ausgeübt werden könnte. Aber eine Repolitisierung erschien von der Initiative nicht gewünscht. Entsprechend zeigt die Analyse der kommunalpolitischen Praktiken, die im Zusammenhang mit sich wandelnden Masterframes steht, dass sich Entwicklungsmaßnahmen wie der Parque Bicentenario ideal einfügen in das von der Initiative platzierte Framing. Außerdem werden Planungsprozesse seit dem erfolgreichen Plebiszit von größerer Vorsicht begleitet und stadtweit neue Partizipationsangebote bereitgestellt. Strukturelle Veränderungen fallen der Kommunalverwaltung dennoch schwer. Die gewachsenen Gestaltungsmöglichkeiten lassen sich in engem Zusammenhang mit der sozialräumlichen Positionalität von Salvemos Vitacura sehen, die ein hohes Einflusspotenzial birgt. Die Untersuchung stellt in dieser Hinsicht die Annahme von Tironi (2013) in Frage, dass die Bürger*inneninitiativen – unabhängig von ihrer sozialen Schicht – ihr Anliegen platzieren und Einfluss nehmen können.

9 Konflikt B: Widerstände gegen Gentrification in Peñalolén

Wie in Vitacura steht der Konflikt in Peñalolén in Zusammenhang mit dem kommunalen Flächennutzungsplan (PRC), der dort basierend auf einem nationalen Aktualisierungsprogramm für einkommensschwache Kommunen neu erarbeitet werden sollte. Im Zuge der Debatte um das Planungsinstrument nahm der Widerstand gegen Verdichtungs- und Gentrifizierungsprozesse in Peñalolén eine konkrete Form an. Obwohl die Kommune diverse Stadtteilversammlungen einberief, um über den Plan zu informieren, stieß dieser auf breite Proteste seitens der Bürger*innen. Im Vergleich zu Vitacura sind die Interessen der betroffenen sozialen Gruppen sehr heterogen: Soziale Bewegungen und Organisationen kämpfen um gerechte Lösungen (im Sinne eines Rechts auf Stadt); das Eco-Village Comunidad Ecológica ringt um die Beibehaltung urbanistischer Sonderregelungen für ihr Gebiet und Komitees von wohnungsbedürftigen Familienangehörigen (Comites de Allegados) fordern den vermehrten Bau von Sozialwohnungen. Auch in diesem Fall organisierten die widerständigen Organisationen ein Referendum und erreichten, dass der angestrebte Plan abgelehnt wurde. Damit ging zwar nicht eine mit Vitacura vergleichbare öffentliche Aufmerksamkeit einher, aber die kommunalen Entscheidungsträger*innen müssen neue Formen der Bürger*innenbeteiligung in Prozessen politischer Entscheidungsfindung akzeptieren. In diesem Kapitel gehe ich der Frage nach, inwiefern die Austragung des Konfliktes auch jenseits des Planungsfalls von Bedeutung ist und einen Wandel des in Peñalolén vorherrschenden Verständnisses von bürgerschaftlicher Teilhabe und Stadtentwicklung sowie der Praktiken lokaler Stadtpolitik und -planung in Gang setzen konnte.

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K ONFLIKTBIOGRAPHIE : V ERLAUF

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Konfliktchronologie Die chronologische Darstellung der Auseinandersetzungen um den Plan und weiteren dafür relevanten Ereignissen basiert auf öffentlich zugänglichen Dokumentationen (Internetauftritte, Planungsberichte) sowie Interviewaussagen. Phase I: Planerstellung und Kritik der Bürger*innen 2006-2008 2006 verkündet Bürgermeister Claudio Orrego die Schaffung eines Parks auf der Fläche der seit 1999 bestehenden Landnahme (toma) Nasur (El Mercurio 2006). Gefördert durch ein nationales Aktualisierungsprogramm erarbeitet das Planungsbüro URBE die Vorstudie für einen neuen PRC in Peñalolén (2006-2008). Der zu diesem Zeitpunkt gültige Flächennutzungsplan stammt aus dem Jahre 1989. Entsprechend des Vertrags mit dem Planungsbüro werden insgesamt 15 gemeindeweite Stadtteilversammlungen organisiert. Bei den Kommunalwahlen im Oktober 2010 wird Lautaro Guanca, Mitglied des Movimiento de Pobladores en Lucha – MPL, in den Gemeinderat gewählt. 2009 Neben den Versammlungen, die als Bestandteil der Vorstudie gelten, informiert die Kommunalverwaltung in weiteren Versammlungen auf Quartiersebene über den Plan. Als weiteres Partizipationsangebot dient der kommunale Blog: „Participa o callate para siempre“ („Beteilige Dich oder schweige für immer“). Zeitgleich organisieren Studierende neun Versammlungen in verschiedenen Quartieren: Peñalolén Alto, Lo Hermida, San Luis und La Faena mit jeweils 20-30 Teilnehmer*innen. 2010 Es findet die erste gesetzlich vorgeschriebene öffentliche Anhörung statt. Der Plan stößt auf breite Proteste seitens der Bürger*innen, da er einige potenziell strittige Punkte enthält: Straßenverbreiterungen und Straßendurchbrüche, die zu Enteignungen führen würden; die Umwandlung von Erholungsflächen in Bauland sowie die Erhöhung der Bebauungsdichte auf dem Gelände der Comunidad Ecológica. Der Bürgermeister willigt ein, einige Vorschläge, darunter Enteignungen im Rahmen von Straßenverbreiterungen, zu streichen. Ein neues Planungsbüro (PAC) wird eingesetzt, das die Anpassungen vornimmt (Auftragshöhe: 12 Mio. Pesos ~ 17.230 Euro).

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Phase II: Auf dem Weg zum Referendums 2011 Etwa ein Jahr später findet die zweite Anhörung statt (16.01.2011). Circa 800 Personen nehmen teil. Im Zuge von 13 Konsultationen der Bürger*innen erfolgten einige Korrekturen des Plans, unter anderem: Zwei Straßenverbreiterungen wurden gestrichen, die Verbreiterung von Las Perdices blieb jedoch bestehen. Die Einwohnerdichte der Comunidad Ecológica wurde beibehalten, die Fläche jedoch um 40% reduziert. Einige Forderungen bleiben unberücksichtigt. Obwohl das LGUC vorschreibt, alle Konfliktpunkte anzusprechen, stimmt der Gemeinderat mit nur einer Gegenstimme (Lautaro Guanca, MPL) für den überarbeiteten Entwurf des neuen PRC. Um ihre Forderungen weiterzuverfolgen, gründen lokale soziale Bewegungen und weitere Organisationen den „Rat der Sozialen Bewegungen von Peñalolén“ (Consejo de Movimientos Sociales de Peñalolén, CMSP). Unabhängig davon bewirkt die Comunidad Ecológica aufgrund formaler Fehler eine Verzögerung der Planbewilligung. Im Juni 2011 organisiert der CMSP erfolgreich ein Bürger*innenbegehren, um über die drei folgenden strittigen Punkte abzustimmen: 1) Erhöhung der Bebauung und Umwandlung von Grünflächen in Bauland entlang des Autobahnrings Vespucio: Der CMSP lehnt dies ab, da es die verbleibenden Grünflächen eines Quartiers der Kommune eliminieren würde. Gleichzeitig wäre hier zwar der Bau von Sozialwohnungen aufgrund der zugrunde gelegten Normen möglich, aber aus ökonomischen Gründen sehr unwahrscheinlich. 2) Schaffung des Stadtparks José Arrieta auf dem Gelände der Landnahme Nasur, der „toma“ von Peñalolén. Dieses Prestige-Projekt des Bürgermeisters würde mit 23,5 ha zu den größten Parks der Stadt zählen (Villaba 2006): Der CMSP schlägt vor, 50% des geplanten Parks für sozialen Wohnungsbau vorzuhalten. 3) Straßenverbreiterung Las Perdices: Der CMSP lehnt dies ab, da damit die Enteignung von Wohnungen, einer Schule und einer Kirche einhergehen würde. Zwei Monate später überreicht der CMSP dem Bürgermeister die erforderlichen Unterschriften (5.400). Im September wird der Plan vom Gemeinderat verabschiedet, wobei es unter Polizeieinsatz zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Protestierenden kommt. Lautaro Guanca wird beschuldigt, zwei Polizisten und einen Fotografen geschlagen zu haben (Acevedo 2011). Das Umweltministerium stellt am 12.10.2011 ein Umweltverträglichkeitsgutachten für Peñalolén aus. Damit erfüllt die Kommune alle formalen Voraussetzung für eine PRC-Modifikation (Emol 2011). Auf Weisung des chilenischen Rechnungshofes, der jedoch nicht den genauen Abstimmungsinhalt vorgibt, wird im selben Monat das Referendum beschlossen (17.10.2011). Diese Flexibilität

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ermöglicht dem Bürgermeister, anstelle der drei genannten Punkte, den neuen PRC zur Gänze zum Gegenstand des Referendums zu machen. Am 11. Dezember gewinnt der CMSP das Referendum; 52,2% der Stimmen lehnen den Plan ab (La Tercera 2011). Seitdem wird ein neuer Plan diskutiert. Phase III: Auf dem Weg zu einem neuen PRC 2012-2013 Im Mai 2012 starten Komitees von Wohnungssuchenden und Anwohner*innen der Comunidad Ecológica einen Runden Tisch, der vom Wohnungsinstitut (INVI) der Universidad de Chile begleitet wird. Der Runde Tisch mündet Ende des Jahres in die Zeichnung eines Integrationsabkommen über den Bau von Sozialwohnungen in der Comunidad Ecológica. Derweil (September) präsentiert Claudio Orrego einen Vorschlag zur Modifikation des PRC in der Comunidad Ecológica, um sozialen Wohnungsbaus zu errichten. Bei den Kommunalwahlen im Oktober 2012 stellt er sich nicht mehr zur Wahl. Neue Bürgermeisterin wird Carolina Leitao, ebenfalls Mitglied der Democracia Cristiana. Mit Natalia Garrido wird erneut eine Vertreterin der MPL in den Gemeinderat gewählt. Im März 2013 präsentiert der CMSP im Gemeinderat den Vorschlag einer Bodenbank, die 84 ha und 15 Flächen umfasst, und die Kommune wird aufgefordert, den PRC zu ändern. Dadurch könnten laut CMSP statt ca. 5.500 Wohnungen mehr als 10.400 gebaut werden. Claudio Orrego stellt sich als Präsidentschaftskandidat der Democracia Cristiana, scheitert jedoch in den Vorwahlen an Michele Bachelet. Im Zuge der Präsidentschaftswahlen kommt es zum Bruch des CMSP. Teile unterstützen die Partei Igualdad, andere das Parteienbündnis Nueva Mayoria (angeführt von Michelle Bachelet). Die Kommunalverwaltung präsentiert einen Vorschlag zur Modifikation des PRC an einigen Standorten der Kommune, um sozialen Wohnungsbau errichten zu können (Gemeinderatssitzung am 25.07.2013, Protokoll 23). Im Oktober 2013 sagt das SERVIU Metropolitano (Amt für Wohnungen und Urbanisierung) Wohnungskomitees aus Peñalolén Beihilfen für 232 Familien zu. Zwei Jahre nach dem Referendum ist offen, ob die Kommune die erarbeiteten Vorschläge von MPL bzw. CMSP sowie des Runden Tisches der Comunidad Ecológica aufgreifen wird. Auslöser des Konflikts Gerade im Unterschied zu den Konflikten um den Hochhausbau in Vitacura und Buenos Aires wird in diesem Fall deutlich, dass keine neuen Organisationen und Bewegungen entstehen müssen, die als Vertretung von Anwohner*innen gegen-

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über den städtischen Institutionen auftreten. Stattdessen nutzten in diesem Untersuchungsfall größtenteils bereits existierende Gruppen ihr Mobilisierungspotenzial und Expert*innenwissen für eine Beteiligung. Korrespondierend damit waren viele Aktivist*innen und externe unterstützende Organisationen schon in einer frühen Phase des Konfliktes aktiv. Für den Konflikt lassen sich drei wichtige Auslöser bestimmen: Zunächst die unmittelbaren negativen Effekte, die der Plan für viele Einwohner*innen haben würde, zweitens die dadurch befürchtete Verschärfung von Gentrifizierung und Wohnungsnot in Peñalolén und schließlich die wachsende Auflehnung gegen Unterdrückungsmechanismen gegenüber marginalisierten Schichten. Auswirkungen des Plans Wie in Vitacura lässt sich der Ausbruch des Konflikts um die Stadtentwicklung in Peñalolén zunächst an dem vorgesehenen neuen Flächennutzungsplan festmachen. Folgender Auszug aus der Planungsstudie, für die das Planungsbüro URBE beauftragt worden war, bringt die Vision für die Kommune auf den Punkt: „Die Notwendigkeit der Ausdehnung der Stadt und die Suche nach entwicklungsfähigen Flächen für den Immobiliensektor hat zur Entstehung von Wohnungsangeboten geführt, die vor 20 Jahren nicht denkbar gewesen wären [...] Das trifft auch für die Kommune Peñalolén zu, die sich von Zeiten regelmäßiger Landnahmen und Siedlungen sozialen Wohnungsbaus in einen Ort von besonderer Attraktivität für den Immobiliensektor verwandelt hat.“ (URBE 2010)

Die zentralen Herausforderungen bestehen der zitierten Studie zufolge darin, die Zentralität der Kommune und deren Verkehrsanbindung – insbesondere an die nördlich angrenzenden reicheren Kommunen – zu verbessern, die unter anderem aufgrund früherer Landnahmen begrenzt ist. Zudem soll dem „semiperipheren Charakter“ der Kommune entsprechend eine Verdichtung hin zum Autobahnring Américo Vespucio an der westlichen Grenze der Kommune, d.h. der innenstadtzugewandten Seite, erfolgen (ebd.) (vgl. Abbildung 1). Abseits der kommunalen Beteiligungsformate, die über den Plan informieren sollen, zirkulierte bereits vor der ersten vorgeschriebenen Anhörung nicht nur der Plan, sondern einzelne Aktivist*innen engagierten sich, Anwohner*innen über mögliche Konsequenzen des neuen Instruments zu informieren. Konkret würden die Anpassungen der Normen, die der Plan vorsah, diverse Wohnstandorte beeinträchtigen und damit die Voraussetzungen für eine nicht unerhebliche Verdrängung schaffen, und zwar zunächst unmittelbar durch Enteignungen im

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Zuge von Straßenerweiterungen und -durchbrüchen sowie im weiteren Verlauf durch steigende Bodenpreise und eine Reduzierung der Flächen für sozialen Wohnungsbau. Dies lässt sich aus der vorgesehenen Bebauungsdichte ableiten. Des Weiteren beklagten die ansässigen Pobladores eine symbolische Verdrängung durch die Beseitigung selbstgeschaffener Orte (politics of territory und place): „Dieser Modernisierungsplan hatte vier große Komponenten: 1) Die Dichte und damit die Option auf sozialen Wohnungsbau in bestimmten Teilen der Kommune zu begrenzen. 2) Einen Gentrifizierungsprozess, denn er beinhaltete den Anstieg der Dichte in anderen Teilen, die aufgrund der Bodenpreise für uns nicht zugänglich waren. 3) Einen radikalen Ausverkauf öffentlicher Räume, vor allem der Fußballfelder. 4) Den Bau von Hochhäusern entlang der Straße Américo Vespucio, und damit die Änderung des Gesichts der Kommune nach außen.“ (SP3 53, Sprecher MPL)

Vor diesem Hintergrund wendeten sich Betroffene (darunter Schulen, Kirchen, Sportvereine) sowie Pobladores-Bewegungen gegen den Plan. Ferner lehnte sich mit der Comunidad Ecológica eine weitere Gruppe gegen den Planentwurf auf, da der Plan für das von der Comunidad bewohnte Gebiet keine Ausnahmeregelung hinsichtlich der Bevölkerungsdichte mehr vorsah. Die durch einen Abschnittsplans (plan seccional) dort geltenden Planungsnormen, vor allem die reduzierte Dichte von 25-50 Einwohner*innen pro ha, sollten zugunsten neuer Potenziale für die Immobilienentwicklung entfallen. „In der Comunidad Ecológica wurden die Grundstücke auf 500 m² begrenzt, alle gleich. Die Comunidad Ecológica war verschwunden. Also haben wir gestritten. Wir erstellten ein [...] Dokument über die Comunidad, was es hier gibt, ‚schau, es existiert eine Identität, es gibt Kultur, es gibt ein Naturerbe‘ [...] Wir sind anders, wir müssen anders sein, als anders anerkannt sein.“ (SP5 59, Sprecher Comunidad Ecológica)

Daraufhin wurde die vorgeschlagene Änderung der Bebauungsdichte zurückgezogen, womit sich die Comunidad zunächst zufrieden zeigte, umso mehr, weil im Sinne des „Naturerbes“ weitere Bedingungen an Architektur und Wohnungsbau innerhalb des Geländes geknüpft wurden. Allerdings wurde in der zweiten Anhörung offengelegt, dass das Gebiet mit dem neuen Plan um circa 40% reduziert werden sollte. „ Das ergänzten sie in letzter Minute, vollkommen ohne Beteiligung, ohne irgendjemanden von uns zu fragen!“ (SP5 68 , Sprecher Comunidad Ecológica)

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Im Endeffekt wurde die Comunidad Ecológica also genauso wie der Rat der sozialen Bewegungen (CMSP) nur bedingt in den Abstimmungsprozess einbezogen. Die unterlassene Einbindung löste bei vielen Bürger*innen in Peñalolén große Empörung aus und führte dazu, dass Comunidad Ecológica und CMSP gemeinsam das organisierte Referendum unterstützten. Gentrifizierung und neoliberale Stadtentwicklung Über das Planungsinstrument hinaus sind beide betroffenen Bürger*innengruppen (Pobladores und Comunidad Ecológica), so unterschiedlich sie auch sind, in ähnlicher Weise von der Attraktivität der Kommune für Stadterweiterungsmaßnahmen betroffen. Zudem hat sich auf beiden Seiten ein über viele Jahre gewachsenes Misstrauen gegenüber der Kommune angestaut. So kämpft die Comunidad Ecológica zeit ihres Bestehens um die Aufrechterhaltung dieses Lebensmodells. Auch wenn die Urbanisierung dort seit 1999 durch die planerische Ausnahmeregelung theoretisch eingeschränkt ist, ist das Gebiet durch wiederkehrende räumliche Auseinandersetzungen geprägt. Hier machten die Anwohner*innen die Erfahrung, dass der unter dem Vorwand sozialer Zwecke geführte Streit um Flächen oft eher wirtschaftlichen Belangen dient. So war die Schaffung des Ausnahmeplans von 1999 das Ergebnis eines Verkaufs von Teilen des Territoriums an Investoren, die hier Einzelhandel und Gated Communities entwickelten. Ein wieterer Konflikt um sozialen Wohnungsbau in der Comunidad im Jahr 2005 führte nicht nur zu einem erheblichen – allerdings selbstverschuldeten – Imageverlust, sondern auch dazu, dass die für Wohnungsbedürftige vorgesehenen Grundstücke letztendlich an den freien Markt gingen. Außerdem gilt Peñalolén längst nicht mehr als periphere Kommune, wo marginalisierte Schichten Zuflucht finden (vgl. Welz 2014). Diese Zuschreibung hat sich durch die fortschreitende Suburbanisierung stark gewandelt. Damit sind für Wohnungssuchende, die auf sozialen Wohnungsbau angewiesen sind und sich dafür in einem der etwa 200 Verbänden Peñaloléns organisieren, die Chancen auf eine Wohnung in ihrem vertrauten Umfeld deutlich gesunken. Folglich sehen sich die Einwohner*innen zunehmend mit Verdrängungsrisiken konfrontiert, und der Planentwurf wird als Beweis erachtet, diese weiter zu forcieren. „Der Anstieg der Bodenpreise ist das Ergebnis einer bewussten Strategie der Kommunalregierung, aus Peñalolén eine Gemeinde der Mittelschicht zu machen; wegen der attraktiven Kordillere, wegen den Grünflächen, weil man weg ist von Santiagos Zentrum und gleichzeitig gut versorgt ist [...]. Selbstverständlich ist Peñalolén heute ein eindeutiges Beispiel für eine radikale Gentrifizierung, für die Steuerung der räumlichen Ordnung durch die Behörden und für die neoliberalen Politiken, die sich die Verdrängung der Ar-

206 | P ROTESTBEWEGUNGEN UND S TADTPOLITIK men – nicht an die Peripherie, sondern aus der Stadt – zum Prinzip gemacht haben.“ (SP3 44, Sprecher MPL)

Zunehmende Auflehnung gegen soziale Unterdrückung Der breite Protest vieler sozialer Gruppen gegen das Vorhaben der Kommunalverwaltung lässt sich ganz wesentlich auch auf eine immer besser informierte Bevölkerung und das gestiegene Bewusstsein der Bürger*innen für demokratische Teilhabe und städtische Belange zurückführen. Lange Zeit konnten Staat und Privatwirtschaft gerade bildungsferne Schichten relativ leicht davon überzeugen, dass stadtplanerische Reformen keinen negativen Einfluss auf ihre Lebenssituation haben würden. Gegenteilige Erfahrungen und „apolitische“ kommunale Beteiligungsformate haben jedoch Vorsicht und Misstrauen gegenüber marktorientierten Planungsprozessen erhöht (vgl. Greaves 2005; Casgrain/Janoschka 2013). Überdies hat die von Bürger*innen unterschiedlicher sozialer Herkunft (Bewegungssprecher*innen, Vereine, Comunidad Ecológica) als klientelistisch beschriebene Politik der leeren Versprechungen über die vielen Jahre zu Resignation geführt, so dass Wohnungslose angefangen haben, sich vom Bürgermeister abzuwenden. Folgendes Zitat, das die Ausweitung der urbanisierbaren Fläche Santiagos (límite urbano) durch den neuen PRMS 100 thematisiert, verdeutlicht, wie soziale Bewegungen zunehmend auf die Reproduktion von Unterdrückungsmechanismen verweisen und anstreben, diese Logik aufzubrechen. „In Santiago gibt es noch 16.000 ha Land. [...] Würden sie den Pobladores 10% geben, wären das 1.600 ha, um Wohnungen für die Armen in Gran Santiago zu bauen. Wenn sie uns sagen, dass es notwendig ist, das Límite urbano auszuweiten, und sie anfangen, die Wohnungsprojekte in ländlichen Gebieten stärker zu subventionieren, dann ist da irgendwas faul. [...] Damit verdrängen sie [die Armen] aus der Stadt. Für den Staat ist es günstiger. Das ist die Logik.“ (SP2 126, Sprecher MPL)

Hinzu kommt, dass gerade in Peñalolén eine spezifische Protesttradition existiert, die auch die MPL hervorgebracht hat. So betrachten viele Pobladores das diskutierte Planungsinstrument als Ausdruck eines Gesellschaftsmodells, das die soziale Ungleichheit in Chile permanent reproduziert. Während früher das Militärregime die Armen unterdrückte, ist es heute das – vom Staat gesteuerte – neoliberale Paradigma (vgl. Zibechi 2011). Folglich wurde der Planentwurf auch als Ventil genutzt, um allgemeinen Unmut zu äußern. Aus diversen Gründen begegnete man dem Reformvorhaben der Kommune also mit großem Misstrauen. Das gilt auch für die Partizipationsangebote (Blog, Versammlungen auf Nachbarschaftsebene), die die Kommunalverwaltung ein-

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richtete. Das hat auch damit zu tun, dass ein umfassendes technisches Knowhow von Nöten ist, um die Planungsinstrumente zu verstehen. Zahlreiche Ausnahmeregeln erhöhen Intransparenz und Komplexität, beispielsweise, wo überhaupt sozialer Wohnungsbau möglich ist (vgl. Kapitel 7). Dementsprechend kritisierten Aktivist*innen das Vorenthalten von wichtigen Informationen, was das Abschätzen der Auswirkungen der vorgesehenen Planungsänderungen erschwerte.1 Gleichzeitig wehren sich die Aktivist*innen gegen die (essentialistische) Haltung staatlicher Akteur*innen im Sinne der technokratischen Logik, dass die Bürger*innen bedingt durch mangelndes Fachwissen solche Reformvorhaben nicht verstehen könnten.

P OSITIONALITÄT

UND

R AHMUNGSSTRATEGIEN

Konfliktparteien Eine Reihe von Interessengruppen ist im Rahmen des Planungskonfliktes hervorzuheben (vgl. Abbildung 5). In erster Linie sind das die Kommunalverwaltung – der Bürgermeister Claudio Orrego (Partei Democracia Cristiana, rechter Flügel der Concertación), der Gemeinderat und die Abteilung für Stadtplanung – und die betroffenen Bürger*innengruppen, die sehr heterogene Interessen vertreten. Erstens zählen dazu Pobladores-Bewegungen und Organisationen wie Vereine in Lo Hermida, die um gerechte Lösungen im Sinne eines Rechts auf Stadt kämpfen; vor allem die MPL, die sich für menschenwürdiges Wohnen und gegen Gentrifizierung einsetzt. Zweitens ringt die Comunidad Ecológica um die Beibehaltung planerischer Sonderregelungen für ihr Gebiet. Drittens fordern Komitees von Wohnungssuchenden den Bau von Sozialwohnungen. Ferner sind nicht offen zutage tretende privatwirtschaftliche Interessen vom Konflikt berührt sowie das Städtebauministerium.

1

Deutlich wurden in Interviews und Versammlungen auch die für Bürger*innen scalesund outsourcing-bedingt nicht nachvollziehbaren Governance-Strukturen der Planung: Das MINVU weist ein PRC-Aktualisierungsprogramm aus, das SEREMI MINVU beauftragt ein Planungsbüro (URBE) für die Erarbeitung der Plan-Studie. Teilweise ist die Einbindung der lokalen Ebene so minimal, dass diese das Ergebnis nicht kennt. Für die Bürger*innen sind indes nur Kommunalverwaltung und Planungsbüro sichtbar. Sie verstehen den fehlenden Austausch der beiden Einheiten nicht, ebenso wenig, weshalb ein zweites Planungsbüro zum Einsatz kommt, da nicht bekannt ist, dass URBE nicht für die Bewilligungsphase des Plans zuständig war. Zudem wechselte zwischen 2006 und 2011 mehrmals die lokale Stadtplanungsleitung.

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Abbildung 5: Konfliktparteien Flächennutzungsplan Peñalolén International

Zivilgesellschaft

Staat

SeLVIP

National

Printmedien & Rundfunk (vereinzelt)

Umweltministerium

FENAPO

Nuevo Chile

Regional

Immobilienentwickler & Grundstückseigentümer, z.B. Cousiña Macul

Oberste Rechnungshof

CChC, Lobby

Universitäten, z.B. INVI

MINVU

Graswurzelorganisationen & Initiativen z.B. Defendamos la Ciudad, Ciudad Viva SEREMI MINVU Rat der Sozialen Bewegungen von Peñalolén (CMSP) MPST

Lokal

Privatwirtschaft

Vereine

MPL

Gemeindeverwaltung (Bürgermeister Orrego, Abteilung für Stadtplanung)

MUA

Soziale Organisationen

Comunidad Ecológica

Planungsbüros URBE; PAC

Komitees von Wohnungssuchenden

Gemeinderat

Rat der sozialen Bewegungen von Peñalolén – CMSP Die sozialräumliche Positionalität des CMSP ist vor allem durch die Identität der Pobladores und deren Remobilisierung gekennzeichnet. Korrespondierend damit stellen die verwendeten Rahmungen vor allem auf eine bürgerschaftliche Anerkennung der Pobladores in der Öffentlichkeit ab. Sozialräumliche Positionalität Die sozialräumliche Positionalität vieler Pobladores in Peñalolén erfährt seit einigen Jahren, angefangen mit der Landnahme in Peñalolén 1999 und insbesondere mit der Gründung der MPL im Jahr 2006, einen starken Wandel (vgl. Kapitel 7). Vor diesem Hintergrund waren soziale Bewegungen in der Lage, ein emanzipatorisches Potenzial zu mobilisieren, als der Konflikt um den PRC aufkam. Aufgrund der besonderen Entstehungsgeschichte von Peñalolén verbindet viele Einwohner*innen eine gemeinsame Identität der Pobladores. Auch wenn von jeher versucht wurde, die Pobladores und ihren Zusammenhalt zu schwächen, zeigt der vorliegende Fall, wie sich mithilfe der kollektiven Erinnerung die Protestkultur der Pobladores zu (re-)mobilisieren begann. Die durch Landnahmen

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geschaffenen Siedlungen zeugen nicht nur vom dem Kampf um ein eigenes Zuhause, sondern auch vom Kampf gegen die Unterdrückung durch das Militär. Sie lassen sich damit als „symbolische Belagerung“ verstehen (Regalsky 2008). „Durch die in den 60er oder 50er Jahren selbstgeschaffenen Territorien, wie im Fall von Peñalolén, ist dieses Erbe viel lebendiger oder zumindest gibt es dort so eine Art Verständnis, dass Organisation wichtig ist, weil die Großeltern diese Häuser errungen haben, wo die Enkel jetzt leben; dank ihrer Organisation und weil sie das Land genommen und Wohnungen gebaut haben.“ (S2 34, Geograph INVI)

Die Wahrnehmung der Pobladores in der Öffentlichkeit ist eng verflochten mit dem räumlichen Image der Kommune, das durch ehemalige Landnahmen und häufig stigmatisierten sozialen Wohnungsbau geprägt ist. Es ist daher wenig überraschend, dass es vergleichsweise schwer fiel, eine öffentliche Arena für die Forderungen zu schaffen.2 Man kann hier die These formulieren, dass die Pobladores von Peñalolén in der chilenischen Gesellschaft als Bürger*innen 2. Klasse wahrgenommen werden. Ihr geringes Einkommen schließt sie vom freien Wohnungsmarkt meist aus, und viele sind nur informell beschäftigt. Aufgrund der hohen Bodenpreise lässt sich diese soziale Positionalität der Pobladores auch nur schwer aufheben (vgl. Holston 2009). Auch das folgende Zitat veranschaulicht, dass sich viele Pobladores der politischen Reproduktion unterdrückender Strukturen, die das chilenische Wohnungssystem symbolisiert, ausgesetzt sehen. „Das war das Motto [von Pinochet]: Chile der Eigentümer und nicht der Proletarier. Heute sind wir keine Eigentümer von irgendetwas und mit Glück haben wir einen Job, d.h. wir sind auch keine Proletarier, und die Mittelschichten verschulden sich [...] Irgendjemand profitiert vom Traum der eigenen Wohnung und damit konkurrieren wir.“ (SP2 126, Sprecher MPL) Der Kampf gegen die bestehende Machtkonzentration impliziert für Bewegungen wie die MPL daher auch, das seit Pinochet bestehende hegemoniale Wohnungsmodell aufzubrechen und Alternativen zu generieren (vgl. auch Greaves 2012). Trotz dieser Mechanismen, die die Positionalität der Pobladores nach wie vor wesentlich beeinflussen, zeigt sich gegenwärtig, wie sich die Aktivist*innen zunehmend von der Verunsicherung ihre Elterngeneration lösen und die lokal verankerte Bewegungskultur aufzugreifen wissen. Dafür eignete sich 2

Die Pobladores haben Schwierigkeiten ihre formellen Bürgerrechte einzufordern, denn in der chilenischen Öffentlichkeit gilt weitgehend: wer in sozialem Wohnungsbau lebt, hat seine Wohnung „geschenkt“ bekommen und wer in ehemaligen Landnahmen lebt, ist nicht rechtmäßiger Eigentümer des Grundstücks, sondern hat ein kriminelles Delikt verübt.

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der hier thematisierte Planungskonflikt in besonderer Weise. Der Konflikt wurde also von Anfang an auch als Mittel zum Zweck genutzt. Die verfolgten sozialen Vernetzungen dienten nicht nur dazu, die Interessen betroffener Bewohner*innen von Peñalolén im Planungskonflikt durchzusetzen, sondern es wurden universellere politische Motive verfolgt (Laclau 2002). Auf diese Weise entstand über die unmittelbare Forderung hinaus (z.B. den Erhalt von Fußballfeldern) eine Basis, um verschiedene Organisationen, die diverse Interessen verfolgen (Sport, Wohnungsbau, Kirchen) im Sinne eines Äquivalenznetzwerks (Purcell 2009b) für Reformen zu aktivieren: „Für uns ist der PRC total wichtig. [...] Denn dieses Element erlaubt uns, mit allen Leuten aus der Siedlung zu sprechen. Es ermöglicht, mit der Hausfrau zu sprechen, mit den Sportvereinen, mit den sozialen und kulturellen Organisationen, mit den Nachbarschaftsverbänden. D.h. mit allen über die gleiche Problematik, nämlich die Raumplanung in der Kommune von heute bis in 20 Jahren.“ (SP4 29, Movimiento por la Justicia).

So begannen Aktivist*innen unterstützt durch Wissenschaftler*innen bereits zu einem frühen Zeitpunkt, Versammlungen in verschiedenen Stadtteilen (Peñalolén Alto, Lo Hermida, San Luis etc.) zu organisieren, um die Bürger*innen über die Inhalte des neuen Plans aufzuklären. Nach und nach verstetigte sich der Austausch zwischen den sozialen Organisationen im Rahmen des PRC und im weiteren Verlauf führte dies zur Gründung des Rats der Sozialen Bewegungen von Peñalolén (CMSP). Der CMSP vernetzte soziale Bewegungen, allem voran die MPL, Komitees von Wohnungssuchenden, Sportvereine und die Bewegung der Siedler ohne Dach (Movimiento Pobladores sin Techo, MPST aus La Pintana), die in der Landnahme Nasur aktiv ist. Es zählten sich auch Nachbarschaftsverbände, Senioren- und kulturelle Jugendverbände sowie unterstützende Graswurzelorganisationen wie Nuevo Chile dazu. Des Weiteren schlossen sich Teile des MUA (Movimiento Unitario de Allegados) an, ein Netzwerk, das seit der toma von Peñalolén viele der Wohnungslosenkomitees repräsentiert. Dies führte zur Spaltung des MUA.3 Damit vereinte der CMSP skalenübergreifend lokale und 3

Die Entwicklung kommentierte ein ehemaliger MUA-Sprecher so: „Für uns lief es gut, wir hätte alle auf dieser Fläche Platz gehabt, bis sich Lautaro Guanca aus dem Gemeinderat einmischte. Er unterwarf das MUA der MPL. Er [...] sprach mit einigen schwächeren Anführer*innen, die dann den Konflikt produzierten. Da sagte ich mir, 'Ich verschwinde [...], mein Ziel ist ein eigenes Haus und nicht das was ihr wollt'. Wenn ich dafür auf der Seite der Gemeindeverwaltung sein muss, dann bin ich da.“ (SP6 69, Sprecher Casa Digna) Die abgespaltenen Komitees, die den neuen Plan befürworteten, repräsentieren 2.000 Familien. Die Sprecher*innen leben oft von den Mitgliedsbeiträgen (ca. 400 Euro monatlich bei einem Komitee mit 300 Mitgliedern).

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stadtweit aktive Organisationen mit NGOs und universitären Einrichtungen, und somit auch unterschiedliche soziale Kapitalien und Wissensbestände. Der CMSP entschied, nach dem Vorbild von Vitacura, ein Referendum zu organisieren. In der Tat gelang es ihm, mithilfe von intensiven und schichtübergreifenden Vernetzungen, für einen minimalen finanziellen Aufwand (1,5 Mio. Chilenische Pesos, ~ 2.350 Euro) die dafür erforderlichen Unterschriften zu sammeln. Dabei profitierte der Rat von dem neuen Partizipationsgesetz (20.500), dank dessen sich die erforderliche Unterschriftenzahl 2011 auf 5% reduzierte (vgl. Kapitel 7 und Fall A Vitacura). Nicht unerheblich für den Erfolg war auch die Beratungsleistung von Salvemos Vitacura zur Organisation des Plebiszits. Zudem war schließlich ausschlaggebend, dass sich die Comunidad Ecológica durchrang, die Wahlkampagne zu unterstützen. Eine direkte Kooperation lehnte sie allerdings ab. In diesem Zusammenhang ist auch auf das interne Fachwissen hinzuweisen, das der CMSP einzusetzen wusste. So befanden sich unter den Aktivist*innen unter anderem Jurist*innen und Stadtplaner*innen, so dass die Gruppe bei der Organisation des Referendums nicht nur auf Unterstützung von außen angewiesen war, sondern selbst fähig war, das nötige technische Wissen zu generieren. Die Anwendung des Referendums als institutionalisiertes Instrument wurde begleitet von lokalen Mobilisierungen, die bezeichnend sind für die MPL. Das Einreichen der Unterschriften wurde etwa mit einem 500-köpfigen Siegeszug zum Rathaus in Szene gesetzt. Mangels finanzieller Ressourcen wie sie Organisationen wie Salvemos Vitacura haben, wenden die Pobladores kreative Strategien an (Tarrow 2011), um öffentliche Aufmerksamkeit für ihr Anliegen zu wecken und kommunale Autoritäten unter Druck zu setzen; unter anderem indem Aktivist*innen mit Transparenten von Brücken abgeseilt werden. Außerdem ist auf die Stärke der von MPL und CMSP verfolgten Kommunikationsstrategie hinzuweisen: einerseits veranstaltet man regelmäßige Treffen, Demonstrationen oder Partys und verbreitet Informationen über Handzettel; andererseits werden soziale Medien wie Facebook, Twitter, YouTube und Internetblogs verstärkt für das eigene Anliegen genutzt. Dies dient auch dazu, einen interskalaren Austausch mit anderen Bewegungen zu etablieren. Allerdings besteht zwischen der öffentlichen Wahrnehmung und der lokalen Mobilisierung des CMSP eine gewisse Diskrepanz. Zwar hat der CMSP vor Ort entscheidende Ergebnisse erzielt. Diese werden von den chilenischen Leitmedien, die – wenn überhaupt – die Comunidad Ecológica im Blick haben, jedoch nicht widergespiegelt: „Wir haben kein Netzwerk, um unsere Erfahrungen zu systematisieren wie das Defendamos la Ciudad macht oder wie sie es in Vitacura machen. Wir haben zig Erfahrungen, die jedoch nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Die Gemeindeverwaltung

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hat mit ihren Ressourcen hingegen schon die Möglichkeit, ihre Version des Konflikts zu platzieren.“ (SP2 155, Sprecher MPL) Movimiento de Pobladores en Lucha (MPL) Neben Peñalolén ist die MPL inzwischen in Santiago Centro und San Joaquín sowie in weiteren Kommunen landesweit aktiv (Revista Planeo 2013). Für die Umsetzung ihrer Arbeit widmet sich die Bewegung drei Arbeitsschwerpunkten: 1) Wohnen in Selbstverwaltung, 2) Bildung und 3) „Kampf“. Was den Schwerpunkt Wohnen betrifft, so verfügt die MPL seit 2008 über eine EGIS (Entidad de (auto)gestión Inmobiliaria Social), also eine Wohnungskooperative zur Autokonstruktion von Wohnungen. Bislang wurden 120 Wohnungen geschaffen, und zwar erstmals in Chile durch Pobladores selbst. Zudem bestehen 150 Wohnungen in Selbstverwaltung. Es wird angestrebt, zukünftig den Bau von Wohnungen durch eine eigene Baufirma auszuführen, um sich aus den Strukturen des oligopolistischen Bausektors in Chile zu befreien. Dies ist als ganzheitlicher, autonomieorientierter emanzipatorischer Ansatz zu verstehen, der sich durch Gemeinschaft, Ablehnung von Entfremdung und alternative Organisationsmodelle auszeichnet (vgl. Zibechi 2011): „Die EGIS hat drei Funktionen. Sie erlaubt einerseits die Berufswelt mit der populären Welt wieder zu verbinden bzw. den historischen Bund zwischen Fachleuten und Studierenden wiederzuerlangen, und andererseits eine Einbindung der Familien mit ihrem Lebensprojekt herzustellen. Das ist die Antithese zum Schlüssel-in-die-Hand-Wohnungssystem, das zutiefst fürsorgend, individualistisch ist und die Armut und Ungleichheit gänzlich reproduziert. Der dritte Bestandteil ist, ein neues Organisationsmodell zu schaffen, das die Kontrolle des Produktionsprozesses in die Hände der sozialen Bewegung legt.“ (SP3 13, Sprecher MPL)

Mit dem Forschungs- und Bildungszentrum Corporación Educación al Poblar, das seit 2009 besteht und über etwa 30 Mitarbeiter*innen verfügt, widmet sich die MPL in einem weiteren Schwerpunkt der Bildung. Auf diese Weise sollen Erfahrungen sichtbar gemacht, Beziehungen zwischen Berufstätigen, Studierenden und Aktivist*innen aufgebaut werden, um so eine „subalterne Gegenöffentlichkeit“ (Fraser 1995) zu schaffen, wo nicht-privilegierte Schichten ihre eigenen Interessen und Konzepte entwickeln können. Schließlich verfolgt die MPL eine politische Präsenz. Seit 2008 stellt die Bewegung in Peñalolén ein Gemeinderatsmitglied (2008-2011 Lautaro Guanca, 20122015 Natalia Garrido), um in der lokalen Politik vertreten zu sein. Hierfür wirkte sie auch wesentlich an der Gründung der Partei Igualdad mit, um „ein politisches Instrument der sozialen Bewegungen zu schaffen und [...] das Kräfteverhältnis innerhalb der Regierungen zu verändern“ (SP2 56, Sprecher MPL). Diese politische Einbindung, in der sich Prinzipien einer autonomen Planung wiederfinden (Souza

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2006), ermöglichte, früher und detaillierter die Hintergründe zum PRC zu erfahren. Die MPL betreibt zudem eine skalenübergreifende Vernetzung mit anderen sozialen Bewegungen und NGOs in Santiago, Chile und Lateinamerika. Dazu zählen auf internationaler Ebene SeLVIP und HIC, das Nationale Bündnis der Pobladores FENAPO, an dessen Gründung sie ebenfalls mitgewirkt haben, der Nationale Verband der Eigenheimverschuldeten Chiles ANDHA Chile a Luchar Democrático und die MPST in La Pintana. In Gesprächen mit MPL-Mitgliedern wurde immer wieder die absolute Verbundenheit mit der Bewegung und das gemeinsame Verfolgen von Zielen stark betont, was im Kontext der strukturellen Schwächung der Pobladores sowie als Reaktion auf neue gouvernementale Techniken zu betrachten ist. Dies beinhaltet auch eine Distanzierung von Sympatisierenden z.B. aus der Wissenschaft, um die Ziele möglichst „rein“ zu halten (Zibechi 2011, vgl. Kapitel 3). „Das ist nicht für die, denen es „gefällt“, sondern für die, die daran glauben. Es gibt viele Wissenschaftler, Professoren, Intellektuelle, die die sozialen Bewegungen wirklich gut finden, aber wenn Du von „es gefällt Dir“ zu „“Du glaubst daran“ übergehst, ist das eine ganz andere Situation. Denn wenn Du daran glaubst, dann spürst Du es, und wenn Du es spürst, gibt es keine Rationalität, die dieses Gefühl in Frage stellen könnt. Jegliche rationale Erklärung tritt in den Hintergrund, wenn Du überzeugt bist, dass diese Stadt zutiefst ungerecht und ungleich ist. Und wenn Du Dich für die Veränderung der sozialräumlichen Ordnung einsetzt, wird das zur politischen Aufgabe, zur Lebensaufgabe.“ (SP3 64, Sprecher MPL)

Folgendes Zitat verdeutlicht die heutige Position der MPL in der Kommune im Kontext ihrer verschiedenen Tätigkeitsfelder. In der Konsequenz wird die Organisation nach eigenen Aussagen von der Kommunalverwaltung, die sich über den zunehmenden Einflusses bewusst ist, als „feindliche“ Bewegung behandelt. Dies demonstriert die im radikaldemokratischen Sinne erforderliche Reibung einer autonomen Planung. „Als die MPL ihren ersten Wurf landete und Lautaro in den Gemeinderat wählte, ihr Unternehmen [EGIS], die Partei Igualdad und den Verband [FENAPO] gründete, hörte sie auf, das sympathische Pobladores-Komitee zu sein, die Selbstverwaltung gut findet, und wir wurden der zentrale politische Feind der Gemeindeverwaltung [...] Hier sind wir die Opposition, und das entschlossene Handeln der Verwaltung uns gegenüber zeugt von einer unglaublichen Brutalität. Ich spreche von Verfolgung durch die Polizei, Telefone werden abgehört, brutalem Verruf, Konflikte zwischen uns und anderen Bewegungen werden provoziert.“ (SP3 60, Sprecher MPL)

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Rahmungen Die Auseinandersetzungen in Peñalolén wurden, verglichen mit dem Konfliktfall in Vitacura, kaum in den Medien diskutiert. Nur linksgerichtete Medien wie El Ciudadano oder die Online-Zeitung El Mostrador berichteten über die sozialen Bewegungen. Die Rekonstruktion der Rahmungen (vgl. Tabelle 7) basiert daher stärker auf anderen öffentlichen Dokumenten (Kampagne des Referendums, Versammlungen der Bewegungen, im Kommunalrat, Veröffentlichungen auf YouTube oder Facebook) sowie auf Interviewzitaten. Tabelle 7: Frames der Pobladores Rahmungsstrategie Rahmungen und Storylines

Zentrale Rahmung

Wirkliche Teilhabe und Mobilisierung statt Partizipation • Der Plan führt zu Enteignungen und Reduktion bereits knapper Grünflächen. (a) • Der neue Plan verstärkt die Gentrifizierung in Peñalolén. (b) • Die Planung macht nur, was der Immobilienmarkt will. (c) • Um sozialen Wohnungsbau geht es nicht. (d) • Recht auf Wohnen in Peñalolén und reale Mitsprache. (e) Wir lassen uns nicht mehr unterdrücken. Recht auf Stadt!

Die Rahmungen des CMSP bezogen sich auf die konkreten Änderungen, die der Plan beinhalten würde, und knüpften an weitere Diskurse um die „Neoliberalisierung“ der Stadt und die Segregation in Santiago an. So verwies der CMSP zunächst auf die Enteignungen öffentlicher und privater Grundstücke sowie die Reduktion der bereits knappen Grünflächen, die der Plan nach sich ziehen würde (a). Diese unmittelbare Beeinträchtigung der lokalen Lebensqualität wurde in die zu beobachtenden Gentrifizierungsprozesse und das wachsende Risiko der Verdrängung der Pobladores eingebettet, die damit einhergehen würde (b). So war auf einem Flyer (Abbildung 6) zum Referendum zu lesen: „Peñalolén ist eine populare Kommune, geschaffen durch die Organisation und den Kampf der Arbeiter, hier sind wir geboren und hier wollen wir wohnen bleiben. Deswegen ist sie nicht zum Ausverkauf für den Aufschwung Weniger und die Ungleichheit Vieler.“

Im Vordergrund stand hier der Verweis auf bürgerliche Grundrechte, d.h. es lässt sich eine verrechtlichende Strategie identifizieren. Dabei fällt auf, wie die Forderungen auf dem Flyer visualisiert wurden. Während sich die Formulierung klar dem CMSP zuordnen lässt, könnte die Darstellung der Hochhauslandschaften, die den Wandel des Charakters der Kommune veranschaulicht, auch aus der Hand einer Mittelschichtsbewegung stammen.

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Ferner mobilisierte der CMSP gegen die Zerstörung der von den Pobladores kreierten und gelebten Orte, dem Erbe der Pobladores sozusagen, was der Flyer auf ästhetisierende Weise verdeutlicht. So betonte ein Sprecher der MPL (SP3 59): „Das sind die gleichen Konfliktorte, die man sich im Zuge dieser städtischen Revolution der 70er Jahre angeeignet hat [...]. Sie wollen die Barrios eingrenzen, die die Pobladores in dieser Zeit gebaut haben.“ Die umkämpften Fußballfelder werden also nicht nur als vernachlässigte Grünflächen empfunden. Die im Zuge der Landnahmen entstandenen Erholungsflächen zeugen von der Rebellion und der erfolgreichen Schaffung gegenhegemonialer Orte (vgl. Regalsky 2008). Diese symbolträchtigen Orte gilt es zu erhalten und sich der allgemeinen Durchsetzung des liberalen Stadtentwicklungsmodells zu widersetzen. Gleichzeitig ermöglicht der Kampf um solche places, die geteilte Erinnerung und Identifizierung der Pobladores zu reaktivieren (vgl. Foto 3). Des Weiteren betrachtete der CMSP den Plan im Kontext breiterer wirtschaftlicher Interessen in Santiago (c) und versuchte in Form eines CounterFramings andere soziale Organisationen in der Kommune über die eigentlichen Absichten des Plans aufzuklären (d). Entsprechend kommentierte Lautaro Guanca, Sprecher der MPL und zu jenem Zeitpunkt Mitglied im Gemeinderat die Wohnungsversprechungen des Bürgermeisters. „Der Plan wird viele Hektar für den Immobilienmarkt mit teuren Wohnungen verfügbar machen. Das sind falsche Versprechungen.“ (La Hora 2011) Damit verdeutlichten die Pobladores auch ihre antagonistische Haltung und die Forderung nach einem – im Unterschied zum kommunalen Partizipationsverfahren – tatsächlich demokratischen Prozess der Mitsprache (e), wie dieses Zitat illustriert: „Was den PRC geändert hat, das war nicht Partizipation. Das war Mobilisierung.“ (SP2 190, Sprecher MPL) Entsprechend lässt sich auch die Rahmungsstrategie des CMSP umschreiben. Überdies veranschaulicht der Slogan der Kampagne des Referendums „Mit Erinnerung, Rebellion und Bürgerschaft. Lasst uns voller Freude die neue Población schaffen!“ (vgl. Foto 2) den Versuch, die Kultur der Pobladores fortzusetzen – untermauert von der kämpferischen Abbildung einer weiblichen Pobladora mit Fahne – und zugleich mit ihren ursprünglichen Zuschreibungen zu brechen. Im Ergebnis wird so ein Bild von emanzipierten Pobladores verfolgt, die nicht mehr unterdrückt werden und für die die gleichen bürgerschaftlichen Rechte gelten, wie für alle anderen chilenischen Bürger*innen. Mit den Termini „Bürgerschaft“ auf der einen Seite und „Población“ auf der anderen wurden zwei Storylines aufgegriffen, die aufgrund ihrer Zuweisung zu zwei getrennten Klassen in der Regel nicht in dieser Gleichzeitigkeit artikuliert werden. Dies demonstriert sowohl eine Emanzipierung nach innen (Selbstbild) als auch nach außen.

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Abbildung 6: Flyer des CMSP zum Referendum

Quelle: CMSP / MPL 2011

Foto 2: Wahlplakate MPL (rechts), Comunidad Ecológica (links)

Quelle: Eigenes Foto 2011

Foto 3: Wandbild „Nein zum Plan Regulador“ in Lo Hermida

Quelle und freundliche Genehmigung: Felipe Morales 2009

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Daraus kann man als zentrale Rahmung des CMSP ableiten: „Die Pobladores lassen sich nicht mehr unterdrücken und fordern ein Recht auf Stadt“. Zudem lehnte der Rat der sozialen Bewegungen die partizipative Rhetorik der Kommunalverwaltung als roll-with-it-Moment neoliberaler Stadtentwicklung (vgl. Keil 2009) gänzlich ab und sah eine Realisierung seiner Forderungen ausschließlich über den Weg der Mobilisierung. Es fällt insgesamt auf, dass sich die Argumentation der Pobladores stark auf Begrifflichkeiten der kritischen Stadtforschung bezieht. So werden die Auseinandersetzungen der Pobladores vielfach unter dem Stichwort der „Gentrifizierung“ geführt, obwohl es dazu bislang relativ wenig Forschung in Chile gibt. Dies erleichterte nicht nur, Anknüpfungspunkte zu sozialen Bewegungen in anderen Kommunen Santiagos zu etablieren. Es ging auch darum, auf nationaler und internationaler Ebene Verflechtungen mit Bewegungen herzustellen und den sozialen Konflikt in Peñalolén im Forschungsdiskurs zu platzieren, mit dem Ergebnis einer Verwissenschaftlichung des Framings. In der Tat finden sich in der internationalen Debatte um Gentrifizierung bereits vielfach Bezüge auf die MPL und den CMSP (z.B. Sugranyes/Mathivet 2010). Auf diese Weise werden unterschiedliche soziale Gruppen angesprochen und Vernetzungen differenzierter Funktionen auf verschiedenen scales möglich (vgl. Nicholls 2009), so dass die Bedeutung des Anliegens einzelne Fußballfelder oder einen kommunalen Flächennutzungsplan weit übertrifft. Comunidad Ecológica Die seit circa 30 Jahren bestehende Comunidad Ecológica ist seit ihrer Gründung bestrebt, das etwa 200 ha umfassende gering besiedelte Gebiet möglichst in seiner ursprünglichen Form zu erhalten und kämpft daher vehement gegen die vorgesehene Modifikation der Bebauungsdichte. „Die Leute dieser Gemeinschaft haben eine starke Identität für das was es gibt, und sie sind in der Lage, darum zu kämpfen, wenn sie sich bedroht fühlen. Wir wollen nicht, dass sie uns unsere Lebensform ändern, d.h., wir wollen keine Asphaltierung, wir wollen kein Licht, wir wollen nichts davon!“ (SP5 33, Sprecher Comunidad Ecológica)

Sozialräumliche Positionalität Die überwiegend wohlhabende Bewohner*innenschaft des Eco-Villages zeichnet sich durch eine linksorientierte, alternative Einstellung aus. Da diese Gruppe ein gemeinsam organisiertes Territorium bewohnt, verfügt sie – im Unterschied zu anderen in dieser Arbeit diskutierten Organisationen – über ein permanent in-

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stitutionalisiertes Netzwerk mit einer gewählten Verwaltung. Unter den Bewohner*innen befinden sich Rückkehrer*innen aus dem Exil, einige sind aus den Medien bekannt (Schauspieler*innen, Journalist*innen). Die überdurchschnittliche Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital gewährt der Comunidad Ecológica Zugang zu den chilenischen Leitmedien und ein Verhandlungslevel auf Augenhöhe mit dem Bürgermeister. Dadurch ist sie auch in der Lage, technische Studien und juristische Verfahren zu finanzieren, mit dem Effekt, dass beauftragte Anwält*innen im Aufstellungsverfahren eine Verzögerung der Planbewilligung bewirkten.4 Derlei Strategien zählen zu ihrem Repertoire, das sich (wie bei Salvemos Vitacura) ausschließlich im legalen bzw. formell anerkannten institutionellen Rahmen bewegt. Aus diesem Grund bemühte sich die Comunidad Ecológica relativ lange um einen Dialog mit dem Bürgermeister. Ihr öffentlicher Protest umfasst das Veranstalten von Nachbarschaftsfesten, was auch der Stärkung der kulturellen Identität dient, man wendet sich an die Medien und verfasst Artikel und Leserbriefe oder Briefe an Minister. Erst als letzten Ausweg unterstützte sie das Referendum, allerdings mit Distanz zum CMSP, deren Mobilisierungsstrategien sich in rechtlichen Grauzonen bewegen. Problematisch für die Schaffung einer öffentlichen Arena ist allerdings die gespaltene Wahrnehmung der Comunidad in der Öffentlichkeit: von Vertreter*innen der konservativen Oberschicht Chiles als Red Set belächelt – eine Ironisierung von hedonistisch überlagerten linksorientierten Einstellungen – und von Pobladores aufgrund des exkludierenden Lebensstil abwertend als „Eco-Elitistas“ bezeichnet. Das Gelände ist im Unterschied zu anderen Gated Communities in Peñalolén zwar prinzipiell betretbar, aber die Comunidad befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus, so dass sie gern zur Veranschaulichung von Arm-Reich-Kontrasten herangezogen wird. Ihr schlechtes Image ist allerdings vor allem auf einen Raumkonflikt im Jahr 2005 zurückzuführen, als das Wohnungsministerium zwei Grundstücke in der Comunidad Ecológica für sozialen Wohnungsbau kaufte, was seitens der Anwohner*innen starke Proteste auslöste: „Wir setzten in unserer Kampagne auf unsere Künstler aus dem Fernsehen. Dies hinterließ einen sehr schlechten Eindruck in der Öffentlichkeit: sehr reiche und sehr berühmte Künstler wollen keine Armen um sich: purster Egoismus [...] Und wir demonstrierten vor

4

Die Leiterin des SEREMI MINVU, die den Plan verabschieden sollte, war als Stadtplanungsleiterin in Peñalolén ehemals für den Plan zuständig. Ein Plan darf aber nicht von derselben natürlichen Person erarbeitet und bewilligt werden. Zudem wurde aufgedeckt, dass ein seit 2011 vorgeschriebenes Umweltverträglichkeitsgutachten fehlte.

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dem Haus des Wohnungsministers. [...] Gleichzeitig blockierten uns die Pobladores. Wir konnten das Gelände nicht mehr verlassen. [...] Bis der Präsident den Minister anrief und sagte, ‚Minister, bei Ihnen herrscht Chaos, das geht nicht‘. Schließlich wurde die Vereinbarung getroffen, dass das vom Ministerium gekaufte Land an Immobilienfirmen gehen sollte. [...] Wir vermuten, dass das vielleicht von Anfang die Absicht war. Und dass sie dafür die Armen missbraucht haben.“ (SP5 26-31, Sprecher Comunidad Ecológica)

Das Zitat bringt die Einstellung und Positionalität der Comunidad Ecológica auf den Punkt: für soziale Aspekte interessiert man sich nur begrenzt.5 In der Regel lehnen es Angehörige oberer Einkommensschichten ab, in der Nähe von Sozialwohnungen zu leben. Stattdessen möchte man ungestört in Naturnähe wohnen und zugleich von der guten Anbindung der Kommune zu profitieren. Gleichzeitig wird der Protest als identitätsstiftend hervorgehoben, was die Existenz einer organisierten Nachbarschaft belegt. Im Unterschied zur „materiellen“ linken Haltung der Pobladores konzentriert sich deren politische Haltung – wie Greaves (2012: 95) es formuliert – auf postmaterielle Aspekte wie Toleranz, die gleichgeschlechtliche Ehe und Umweltschutz. Mit der Kampagne von 2005 haben die Anwohner*innen also dauerhaft ihr Ansehen geschädigt. Im Zuge des Planungskonfliktes werden große Bemühungen sichtbar, um dies zu revidieren. Auch seitens der Pobladores herrscht großes Misstrauen. Denn die Schuld am ausbleibenden Wohnungsbau wurde seinerzeit der Comunidad Ecológica „zugeschoben“, obgleich letztlich Kommunalverwaltung und Immobilienentwickler von der Entscheidung profitierten. Vor diesem Hintergrund war es leicht möglich, im gegenwärtigen Konflikt eine populistische Logik der Instrumentalisierung der Armut zum Zweck eines divide and conquer wieder aufzugreifen (vgl. Kapitel 3), ungeachtet dessen ob 2005 tatsächlich von Anfang an geplant war, die Grundstücke an die Entwickler zu geben oder nicht. Dieser Imageverlust bedeutet jedoch nicht, dass die Comunidad Ecológica ihre öffentliche Präsenz verloren hat. So fand in Interviews zum PRC in Peñalolén, z.B. im Ministerium, vor allem die Comunidad Ecológica Erwähnung. Ebenso wurde die „Nein-Kampagne“ im Referendum weitgehend auf die Comunidad reduziert. Aber auch sie stand gegenüber der Kommunalverwaltung eher im Hintergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit. Dabei untermauert die einseitige mediale Reflexion des Konflikts, dass die oligopolistisch organisierten Medien weniger als unabhängige Akteurin einzuordnen ist, sondern eher Wirtschaftsinteressen unterstützt. 5

Die für die Besetzer*innen der toma vorgesehenen Sozialwohnungen (Casas chubi) wurden letztlich direkt angrenzend an die Comunidad gebaut. Inzwischen haben sich zwischen den neuen Bewohner*innen und der Comunidad lose Beziehungen etabliert.

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Um ihre Forderungen durchzusetzen, folgte die Comunidad ganz wesentlich den Empfehlungen ähnlich gesinnter Initiativen in Santiago, z.B. Vecinos del Barrio de Yungay, Ciudad Viva und Defendamos la Ciudad, zu denen eine starke Vernetzung gesucht wurde. Beispielsweise ist es für solche Anliegen von Vorteil, gemeinsam mit anderen anerkannten Bürger*innenorganisationen, die für territorial-universelle Anliegen der Mittelschicht stehen (Umwelt, urbanes Erbe), öffentlich in Erscheinung zu treten (vgl. auch Canteros Gormaz 2011). „Sie haben uns erklärt, was wichtig ist und was nicht. [...] Unsere Strategie ist: Wir verteidigen das hier aus Umweltgründen, weil wir kulturelles Erbe sind, weil wir so leben wollen. Sie werden uns nicht ändern. Aber das Wie haben uns die Bürgerorganisationen erklärt. Patricio Herman ist ein wichtiger Stratege. Die Kontakte, und wie man vorgeht, das hat Josefa Errazuriz gemacht. Wir sind den Beispielen von Rosario aus Yungay gefolgt. [...] Das war sehr wichtig, weil wir immer noch Angst haben, dass wir erneut mit Egoisten, Reichen, Berühmten assoziiert werden.“ (SP5 160, Sprecher Comunidad Ecológica)

Die Gruppe arbeitete also explizit daran, nicht nur ihr Ansehen wieder herzustellen, sondern eine eigene Identität zu schaffen, auch weil „der Anwalt verlangt, dass wir alles sammeln, was einem Richter zeigt, dass wir eine besondere Identität formieren und dass wir existieren“ (SP5 196 Sprecher Comunidad Ecológica). Dies verdeutlicht den doppelten Charakter des strategisch „universalisierenden“ Vorgehens. Um die Argumentation um Umweltschutz und die eigene Identität, die die Zugehörigkeit zu einer globalen Eco-Community beinhaltet, zu stützen, wurde ferner ein intensiverer Austausch mit Eco-Villages in aller Welt gesucht. Außerdem wurden strategische Netzwerke mit umweltbezogenen NGOs und Initiativen in Santiago zum Zweck öffentlich anerkannter politics of territory hergestellt. So erläuterte der interviewte Anwohner weiter (SP5 154): „Unser Streit bezieht sich auf die Umwelt. Und wir wollen, dass aus diesem Streit ein umfassender Plan entsteht, wie das Vorgebirge zu besiedeln ist. Und dafür haben wir eine Allianz geschaffen mit den Leuten aus La Florida und La Reina.“6 Obgleich die sozialräumliche Positionalität der Comunidad sich als relativ stark einstufen lässt (einkommensstark, gut vernetzt, sichtbar in den Medien, vertraut mit Planungszusammenhängen und lokalen Kräfteverhältnissen), und sie mithilfe professioneller Unterstützung erfasst, an welchen „Stellschrauben“ gedreht werden kann, gelang ihr die Konservierung des Gebietes nicht: „Der Bürgermeister sagte: ‚Ich brauche Platz für die Armen. Und Ihr müsst mir den Platz geben [...].‘ Einfach so, zack! [...] Wir hatten viel gearbeitet, wie jede andere Bürgerorga6

Wie Peñalolén grenzen La Florida und La Reina an die Kordillere an (vgl. Abb. 1).

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nisation. Karten, Zeitungen, Proteste, Feste. Alles was die Bürgerorganisationen machen. Wir haben ein Team von Anwälten beschäftigt, das viel teurer ist als was wir bezahlen können.“ (SP5 84, Sprecher Comunidad Ecológica)

Zwar stand der Bürgermeister der Öko-Gemeinde, einer der wenigen touristischen Attraktionen Peñaloléns, immer wohl gesonnen gegenüber – so war Claudio Orrego Wohnungsminister, als der Plan Seccional für das Gebiet verabschiedet wurde. Aber gegen die starken ökonomischen und politischen Kräfte (v.a. der Druck von Immobilienfirmen und zahllosen Wohnungslosen-Komitees), die hinter dem Planungsinstrument stehen, lässt sich wenig ausrichten. Dies resultierte letztlich darin, dass die Comunidad das Referendum unterstützte. Rahmungen Die Analyse der Frames verdeutlicht das Bemühen der Comunidad Ecológica, den schützenswerten Charakter ihrer Siedlung, deren Mitgestaltung sie fordert, in den Vordergrund zu rücken (vgl. Tabelle 8). Tabelle 8: Frames Comunidad Ecológica Rahmungsstrategie Rahmungen und Storylines

Zentrale Rahmung

Moderate Artikulation von Identität & Forderung von Mitsprache • Keine bauliche Verdichtung (und somit kein sozialer Wohnungsbau) in der Comunidad Ecológica (a), weil  der Wald schützt Santiago vor Überschwemmungen und ist die grüne Lunge des luftverpessteten Santiagos;  hier verläuft eine tektonische Verwerfung (Falla de San Ramón);  kulturelle Identität und naturräumliches Erbe sind zu bewahren. • Vertrauensverlust in die Kommune: Sie agiert nur im Sinne der Immobilieninteressen. (b) • Die Kommune wird gar keine Sozialwohnungen bauen. (c) • Die Bürger*innen können die Stadt nicht mitgestalten (wie während der Militärdiktatur). (d) Die Bürger*innen haben ein Recht auf alternative und nachhaltige Siedlungsformen. („otra forma de ciudad es posible“)

In ihrem Framing setzte die Comunidad Ecológica darauf, neben Partikularinteressen ein universelles Anliegen zu formulieren und so vom NIMBY-Vorurteil wegzukommen. Das Hervorkehren der Bedeutung des Gebietes für das stadtökologische Gleichgewicht lässt sich als Anknüpfen an öffentliche Arenen (Cefaï 2005) interpretieren, um ein territoriales Interesse zu legitimieren (a). Dabei wird auf für die Stadtentwicklung Santiagos bezeichnende Storylines Bezug genommen, insbesondere die Luftverschmutzung und Überschwemmungen: „Die Idee der Comunidad Ecológica ist, Grünflächen zu erhalten, Umweltressourcen für

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die Stadt bereitzuhalten, das Absorbieren von Regenwasser, eine Verbesserung der Luftqualität.“ (SP5 113, Sprecher Comunidad Ecológica) Aus dem Interview mit einem Vertreter der Comunidad lässt sich das zu bewahrende Naturerbe als weitere Storyline herausheben, welches eine zu respektierende eigene Identität und Lebensweise verkörpere. Um dies zu untermauern und mit Berechtigung von Natur- und Umweltschutz sprechen zu können, gab man diverse Studien in Auftrag (Erhebung von Baumarten und Waldbestand, Relevanz des Gebiets für die städtische Luftqualität). Außerdem wurde betont und durch Studien belegt, dass das Gebiet aufgrund von Erdbebengefahr für bauliche Verdichtungen ungeeignet sei, da mit der Falla de San Ramón in nächster Nähe eine tektonischer Bruch verläuft. Diesen Risikoaspekt nahm auch der CMSP in seine Argumentation auf. Es wird also ein place-making (Martin 2003) verfolgt, wobei die Rahmung einen technischen und ästhetischen Bezug verdeutlicht. Dieses Framing und die damit verbundenen schärfenden strategischen Vorarbeiten, brachte die Präsidentin des Nachbarschaftsverbands der Comunidad Ecológica in El Mercurio auf den Punkt, als es zum Plebiszit kommt: „Das Problem ist nicht, dass Leute mit wenigen Ressourcen kommen, sondern dass diese Gebäude die Böden versiegeln und das Ökosystem zerstören, um das wir uns als auf der ganzen Welt anerkannte Comunidad Ecológica kümmern.“ (Cabello 2011)

Im Zuge der Wahlkampagne um die Ablehnung des PRC wurden weitere Argumentationslinien platziert. Die zentrale Position lautete, man könne der Kommune nicht mehr trauen, da diese primär nach den Interessen der Immobilienfirmen handle (b). Letzteres lässt sich als wichtige, auch vom CMSP gebrauchte Storyline, einordnen. Entsprechend wurde der Slogan im Referendum gewählt (vgl. Foto 2): „Für ein Peñalolén, das gut wächst; Denn eine andere Lebensform ist möglich; Sag nein zum Plan Regulador der Immobilienentwickler.“ Dieser Frame wird durch Verweise auf Irregularitäten im Konfliktfall gestützt. So wird die „herbeigezauberte“ Strategische Umweltbewertung (EAE) (s. nächster Abschnitt), mit Kommentaren wie „Orrego und seine Boys“ (Herman 2011) begleitet. Dabei bezieht sich die Storyline auf die Chicago Boys oder Harvard Boys, also die politisch-ökonomischen Elitennetzwerke in Chile (vgl. Lukas 2014). Dieses Misstrauen ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass es in dem Konflikt nur bedingt um die Errichtung von Sozialwohnungen in der Comunidad Ecológica geht (c); ein Argument, das allerdings nicht öffentlich genannt wurde. Denn aus ökonomischen und planerischen Gründen käme dafür nur ein Grundstück von 3,5 ha (~250 Wohnungen) in Frage, das der Eigentümer der Kommunalverwaltung zum Verkauf versprochen hatte. Daran wird abermals deutlich,

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dass eine Mitsprache in solchen Planungskonflikten ein detailliertes technisches Wissen voraussetzt. In der Praxis führte dies zu zahlreichen Spekulationen und nährte das Misstrauen gegenüber der Kommunalverwaltung. „Uns als Organisation lassen sie dastehen als diejenigen, die mit den Armen streiten. Aber das stimmt nicht. Wie auch immer. [...] Wir konnten diese Grundstücke nicht kaufen. Jeder will hier kaufen, aufgrund der Bodenspekulation! [...] Und Achtung, hier [zeigt auf Comunidad Ecológica im Plan] ist die Gemeinde der Eigentümer. Wenn sie daraus Einzelhandelsnutzung machen können und es an einen großen Supermarkt verkaufen, ist es viel wert!“ (SP5 104-108, Sprecher Comunidad Ecológica)

Im Vergleich zu Vitacura fällt auf, dass das Framing eher wenig auf Diskurse um lokale Demokratie Bezug nimmt. Die Rahmungsstrategie konzentrierte sich stattdessen deutlich auf eine ästhetisierende und technische Sichtweise von umweltbezogenen Aspekten. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das Bewusstsein der Anwohner*innen der Comunidad Ecológica um die öffentliche Anschlussfähigkeit umweltbezogener Argumentationsmuster (vgl. auch Carman 2011): „Mit Umweltgründen lassen sich ziemlich viele Barrieren brechen, Umweltgründe, da findest Du überall Leute.“ (SP5 246, Sprecher Comunidad Ecológica). Dennoch wurden in den Gesprächen vielfach auch die unzureichenden Mitspracherechte der Bürger*innen in Chile thematisiert und die mangelhaften Transformationen seit der Militärdiktatur kritisiert (d). Insgesamt ist die Rahmungsstrategie der Comunidad Ecológica durch eine „moderate Einforderung des Rechts auf Identität und Mitsprache“ geprägt. Die zentrale Rahmung lässt sich mit einem „Recht auf alternative und nachhaltige Siedlungsformen“ umschreiben. Rahmungen der Gemeindeverwaltung Der aktuell gültige PRC stammt aus dem Jahr 1989. Daher liegt es nahe, dass die Kommunalverwaltung die Implementation der vom MINVU finanzierten Vorstudie unterstützt. Die entwicklungsfreundliche Vision des Plans entspricht den Vorstellungen des Bürgermeisters, Peñalolén in eine prosperierende Kommune wie Vitacura zu verwandeln (vgl. Greaves 2012). Umfassende Entwicklungspotenziale der Kommune ließen sich dadurch ausschöpfen, unter anderem die teilweise noch zum Weinanbau genutzte Cousiño Macul (vgl. Kapitel 7), deren Bebauungsplan zur Umnutzung in Gated Communities ebenfalls von URBE erstellt wurde. Das Interesse der Entwickler der Cousiño Macul an einer wirtschaftsfreundlichen Modifikation des PRC illustriert exemplarisch den hohen Druck,

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den die Immobilienwirtschaft auf die lokale Regierung ausübt. Zudem erläuterte ein Interviewter: „Alle wirtschaftlichen Gruppen der Democracia Cristiana sind Immobilienfirmen.“ (SP5 264, Sprecher Comunidad Ecológica) Tabelle 9: Frames der Gemeindeverwaltung Rahmungsstrategie Rahmungen und Storylines

Zentrale Rahmung

Konsens durch umfassende Partizipation der Bürger*innen Wir wollen die Potenziale der Kommune ausschöpfen. (a) Wir betreiben einen vorbildlichen und innovativen Partizipationsprozess im Sinne der Demokratie. (b) • Bestimmte Organisationen verbreiten Terrorkampagnen. (c) • Die kommunale Planung hat das Gemeinwohl der Kommune – und der ganzen Stadt – zum Ziel. (d) Peñalolén ist eine moderne, demokratische Kommune.

• •

Als der neue PRC in Angriff genommen wurde, argumentierte der Bürgermeister vor allem, dass Entwicklungspotenziale der Kommune zukünftig besser ausgeschöpft werden müssten (a): „Es ist wichtig, neue Verdichtungen zu ermöglichen, die auf die Verkehrsanbindung wie U-Bahn und Autobahnen abgestimmt sind [...] Außerdem müssen neue Verkehrswege, hochwertige öffentliche und neue kommerziell genutzte Räume angeregt werden.” (Portalinmobiliario 2008) Im Unterschied zu Vitacura fällt auf, dass man nicht den „Fehler“ beging, sich öffentlich über das Einfordern von Mitsprache seitens der Bürger*innen zu brüskieren. Im Gegenteil, der Bürgermeister inszenierte von Beginn an einen Partizipationsprozess, an dem alle Einwohner*innen der Kommune teilhaben könnten, und der weit über gesetzliche Verpflichtungen hinausgehe (b). Dazu gehörten Stadtteilversammlungen und der Blog „Beteilige Dich oder schweige für immer“.7 In dem Konflikt wird deutlich, dass die Kommunalverwaltung mit allen Mitteln das Bild einer konsensuellen Stadtentwicklung zu vermitteln suchte. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass die mit dem neuen PRC angestrebte Umwandlung der Nasur-Grundstücke in einen großzügigen Park (23,5 ha) – und damit die Beseitigung von Landnahmen aus den 1990er Jahren – von Beginn an als der „Traum der Pobladores“ gerahmt wurde. Der Bürgermeister verglich das Projekt mit dem Central Park, wo sich „Arm und Reich“ begegneten und betonte: „Damit weisen wir den Markt in seine Schranken.“ Mit dieser dis-

7

Soziale Bewegungen kritisierten den Blog stark: „Der Blog ist ein Format von Orrego, das er in Harvard gelernt hat. Es heißt ‚Partizipation ohne Entscheidung‘. [...] Wenn Orrego einmal seine Entscheidung getroffen hat, informiert er anstatt zu beteiligen. [...] Die Strategie des Bürgermeisters ist: Ich mache eine Fokusgruppe und erzähle ihnen, was ich machen werde. Und ich höre mir an, was sie mir sagen. Und wenn sie sich sträuben, mache ich es trotzdem.“ (SP2 150-152, Sprecher MPL)

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kursiven Strategie wurde versucht, die Besetzer*innen zu delegitimieren und mit Bezug auf das „Volk“ einen Konsens für neue Projektmaßnahmen herzustellen (vgl. Rancière 2002; Swyngedouw 2009). Denn der Park, den zudem die Pobladores selbst vorgeschlagen hätten, stehe wie der neue PRC voll und ganz im Dienste der Gemeinschaft: „Claudio Orrego, der Bürgermeister von Peñalolén kann seinen Enthusiasmus und Einvernehmen nicht verbergen, den Traum der Pobladores zu konkretisieren, die über viele Jahre die ehemalige Flächen des Unternehmers Miguel Nasur besetzten und sich nun einverstanden erklärten, sie herzugeben, damit im Gegenzug eine Grünfläche für die ganze Gemeinde gebaut werden könne.“ (El Mercurio 2006)

Im Hintergrund dieser Rhetorik, die aufschlussreiche Parallelen zur Stadtregierung von Buenos Aires im Konfliktfall Parque Indoamericano offenbart, finden jedoch informelle Aushandlungsprozesse zwischen Bürgermeister und Organisationen (z.B. Vereinen, Komitees von Wohnungssuchenden, Comunidad Ecológica) statt (vgl. Tironi u. a. 2011). Das partizipative Framing dient als Moment der roll-with-it Neoliberalisierung also eher dazu, lokalpolitische Entwicklungslogiken zu stabilisieren (vgl. Purcell 2009a). Insgesamt lassen sich im Umgang mit marginalisierten Schichten vier Strategien des Bürgermeisters differenzieren, die demonstrieren, dass diese Akteur*innen in der bestehenden Konstellation nicht ernst genommen werden. Dazu zählt erstens Verständnis zeigen und leere Versprechungen äußern, was die folgende Beobachtung untermauert: „Der Leiter der Fußballfelder ist ein alter Herr, der wahrscheinlich gerade lesen und schreiben kann. Aber seit vielen Jahren bringt er Kindern das Fußballspielen bei. Und er sagt zum Bürgermeister ‚Herr Bürgermeister, schauen Sie, ich bitte Sie darum, dass wir die Fußballfelder erhalten, denn hier holen wir die Kinder weg von den Drogen [...]‘. Und er sagt vor uns ‚Sorgen Sie sich nicht, wir werden die Nutzung beibehalten‘. Die Nutzung behielt er zwar bei, änderte aber die Dichte, d.h. aus den Fußballfeldern kann man jetzt Gebäude mit zehn Stockwerken machen. Wie kann man so gemein sein?“ (SP5 203, Sprecher Comunidad Ecológica)

Zweitens visualisiert der Konflikt in Peñalolén, wie gerade in einkommensschwächeren Kommunen von klientelistischen Praktiken Gebrauch gemacht wird, um einen Konsens im Interesse der Gemeinde durchzusetzen (vgl. Greaves 2005). Im Sinne von divide and conquer-Strategien zählen dazu einerseits Versprechen, zum Beispiel die Bereitstellung von Sozialwohnungen für Wohnungskomitees, deren commitment der Kommunalverwaltung gegenüber sich beim Re-

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ferendum auch räumlich in der Kommune widerspiegelte. So stimmten im Quartier San Luis auffällig viele Bewohner*innen für den Plan, obwohl auch hier eine Straßenerweiterung geplant und damit Wohnungen gefährdet waren. „Aber dazu muss man sagen, das sind Orregistas“, erläuterten Mitglieder von Nuevo Chile (SP8 80-81). „Dort sind Wohnungskomitees aktiv, die für ihn sind. In der Tat hat er vor kurzem ein paar Wohnungen übergeben, ausschließlich an die Komitees aus San Luis.“ Drittens ließ sich der Bürgermeister nach der ersten Anhörung sogar auf Anpassungen des Plans ein. Im Unterschied zu URBE, dem ersten Büro, dem ein „neoliberaler“ Ruf vorauseilt, wurde dafür das von einem Mitglied der kommunistischen Partei geführte Büro PAC eingesetzt, das die Bürger*innen offenbar wohlgesonnen stimmen sollte. Aktivist*innen deuteten dies als bewussten Wechsel, kritisierten jedoch die Distanz des neuen „vertikalistischen, unternehmerischen“ Ansprechpartners zum Volk (campo popular). Dies wurde viertens von Kooptierung begleitet: Der Bürgermeister offerierte den Leitern der Fußballvereine, die die in Frage gestellten Fußballfelder nutzten, eine Woche nach der zweiten öffentlichen Anhörung eine Summe von 58 Mio. Pesos (~83.300 Euro) für die Aufwertung der Fußballfelder. Diese willigten ein und zogen sich aus dem Konflikt zurück und damit auch die Wissenschaftler*innen der Fakultät für Architektur der Universidad de Chile (FAU), die den Verein begleitet hatten. Stattdessen wurden die Sportvereine von nun an durch einen „Orrego“-nahen Nachbarschaftsverband repräsentiert.8 Und auf die Klage der Anwälte der Comunidad Ecológica, dass der PRC ohne die seit Änderung des Umweltgesetzes im Jahr 2010 erforderliche Strategische Umweltbewertung (EAE), die spezifische Beteiligungsmechanismen und Umweltanpassungen voraussetzt, nicht bewilligt werden könne, wusste der Bürgermeister mithilfe seiner politischen Netzwerke rasch zu reagieren. Obwohl das Berufungsgericht von Santiago die Umweltverträglichkeitserklärung (DIA) des PRC vorher für nichtig erklärt hatte. Am 12. November 2011 bestätigte das Umweltministerium die EAE für Peñalolén, ohne dass die Kommunalverwaltung zusätzliche Auflagen erfüllen muss. Im Gegenteil, der Bürgermeister führte diese rasche Bereitstellung auf die vorbildlichen Partizipationsansätze der Kommune zurück und nutzte die Gelegenheit, in der Presse auf sein demokratieorientiertes Vorgehen hinzuweisen:

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Dem Verwalter der Fußballfelder zufolge versuchte der Bürgermeister bereits davor, einem potenziellen Widerstand der Fußballer unauffällig vorzubeugen: Sportflächen wurden in einen anderen Stadtteil verlagert, was eine Verwahrlosung und damit einen reduzierten Widerstand nach sich zog.

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„Bürgermeister Orrego betonte, dass ‚die Gemeinde immer versucht hat, über das was das Gesetz hinsichtlich der Bewilligung des PRC vorschreibt, hinauszugehen. Wo das Gesetz einen Prozess der Partizipation und Information der Bürger von nur zwei Anhörungen und einem öffentlichen Aushang für 60 Tage vorschreibt, haben wir zahlreiche Versammlungen organisiert, wir haben 39 Organisationen empfangen und tausende Beobachtungen von Anwohnern erhalten‘. Entsprechend signalisiert der Kommunalchef, dass die Kommune, obwohl sie über ein bewilligtes […] Umweltverträglichkeitsgutachten verfügt, entschied, […] auch die Strategische Umweltbewertung abzuschließen. ‚Das jetzige Urteil des Berufungsgerichts bestätigt uns nur, dass wir korrekt gehandelt haben‘.“ (Emol 2011)

Diese Strategie der Umdeutung und Delegitimierung des Bürgerbegehrens wurde von einer sehr harschen Kampagne gegen einzelne Initiativen oder deren Repräsentant*innen begleitet. Diese verbreiteten „Terrorkampagnen“ und Unwahrheiten über die Planinhalte des PRC (c). Die Kampagne des Bürgermeisters zum Plebiszit kennzeichnete zudem eine starke populistische Unterfütterung. Slogans wie „Wohnungen für alle“ oder „Keine Mobilfunkantennen“ betrafen den Plan nur indirekt; die personalisierte Ansprache der Bürger*innen beabsichtigte, Kritiker*innen des Plans aus dem herrschenden Konsens zu exkludieren, etwa auf diesem Flyer: „In den letzten vier Jahren haben wir alle Anwohner*innen angehört. Leider ziehen es einige vor, Lügen und Terrorkampagnen zu verbreiten. Dazu gehören beispielsweise falsche Gerüchte über Enteignungen von Häusern und Gebäude zu bauen. Lassen Sie sich nicht hinters Licht führen. Informieren Sie sich unter...“

Diese Vorwürfe wurden von einigen Allegados-Gruppierungen übernommen: In der Comunidad Ecológica wohnten nur Rassisten, die keine Armen um sich haben wollten. Ohne den Protest des CMSP wäre der Plan jetzt bewilligt und die nötigen Sozialwohnungen genehmigt. Allerdings gingen diese Organisationen von viel größeren Möglichkeiten für sozialen Wohnungsbau in Peñalolén aus, als diese faktisch bestehen: „Hier sollen Sozialwohnungen gebaut werden, aber ein Fußballfeld soll bleiben“ (SP6 87, Sprecher Casa Digna). Stattdessen plädierte der interviewte Sprecher des Komitees Casa Digna für „Dialog und Absprachen mit der Gemeindeverwaltung und dem Bürgermeister“, da antagonistische Strategien, wie die der MPL, nicht mehr angemessen seien. Dies zeige die toma, wo die Menschen in armseligen Bedingungen lebten. Besser seien kleine Erfolge, bevor man gar nichts erreicht. Diese Einschätzung verdeutlicht neben einem gelungenen divide and conquer die Entpolitisierung vieler Organisationen (Greaves 2005), und wie die Macht des Bürgermeisters von der technokratischen

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Raumplanung profitiert. Denn das technische Wissen der kooptierten Allegados reicht nicht aus, um die tatsächliche Substanz von „Ankündigungspolitiken“ einschätzen zu können. Als sich das Referendum nicht mehr abwenden ließ, rief der Bürgermeister selbst dazu auf. Anstelle der drei Modifikationen, die im Rahmen des Bürger*innenbegehrens vorgeschlagen wurden (s. Konfliktchronologie), machte der Bürgermeister allerdings den gesamten Flächennutzungsplan zum Gegenstand des Referendums; ein klarer Unterschied zum Vitacura-Fall. Möglich wurde dies durch die flexiblen Umsetzungshinweise des Rechnungshofes für das Referendum. In der Öffentlichkeit gab er sich also als demokratischer Bürgermeister, aber zugleich verhinderte er die moderaten Anpassungen, die von den Bewegungen und Aktivist*innen erarbeitet wurden. Im Zuge des Plebiszits nahm er jede Möglichkeit wahr, um auf das eigentlich „richtige“ und dem Gemeinwohl dienliche Instrument hinzuweisen (d). So wurde ein sozialbewusstes, demokratisches Bild präsentiert. Dazu zählten auch medial wirksame Auftritte mit Wohnungslosenkomittees, um die facettenreichen Vorteile des Plans zu erläutern (Palacios 2011). Entsprechend äußerte sich Orrego nach dem Referendum in seiner Kolumne in La Segunda: „Das Ergebnis nehmen wir mit Demut und einem gewissen Schmerz auf, weil wir wissen, dass viele Probleme ungelöst bleiben [...]. Wir werden weiterarbeiten, um sie mit den verfügbaren Instrumenten zu lösen, [...] um das Vertrauen und den Geist des Gemeinwohls, die in Chile regieren sollten, zu stärken.“ (Orrego 2011)

Obwohl sich die Kommune im Bürgerentscheid nicht durchgesetzt hat, gelang es Orrego, letzten Endes auf positive Weise im Mittelpunkt der Ereignisse zu stehen und einen innovativen und bürgernahen Eindruck zu vermitteln; Partizipationsmechanismen in Peñalolén werden als beispielhaft kommuniziert (Montecinos 2012). Nach dem Plebiszit interviewten die Zeitungen ihn, die Organisatoren des Plebiszits erschienen hingegen kaum. Schließlich trat er als Verfechter jener demokratischen Rechte auf, für die sich die Bürgergruppen eingesetzt hatten. An dieser Stelle wird der „struggle to have certain meanings and understandings gain ascendance over others“ (Snow/Oliver 1995: 587) besonders deutlich. Bezeichnend ist, dass die strategische Okkupation der Frames und Argumente der Gegenseite in Bezug auf Partizipation und Transparenz von Anfang an erfolgte. Die Rahmungsstrategie der Gemeindeverwaltung lässt sich zusammenfassen mit einer Konsensorientierung durch eine umfassende zivilgesellschaftliche Partizipation. Klar ist aber, dass der Bürgermeister entscheidet, wie diese Partizipation auszusehen hat. Auffällig ist der moralisierende Grundtenor, der die Rah-

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mungen begleitet: Man setzt sich für das Gemeinwohl ein und bietet durchweg mehr als was die Gesetze vorsehen. Im Zentrum steht dabei die Rahmung, dass Peñalolén eine „moderne, demokratische, und am Gemeinwohl orientierte Kommune“ ist. Community der Planer*innen Mit der Planung sind starke privatwirtschaftliche Interessen verbunden, die sich aber schwer adressieren lassen. Das Sprachrohr bildeten Bürgermeister und die beauftragten Planungsbüros. Wie in Kapitel 7 erläutert, birgt gerade Peñalolén Alto ein immenses Entwicklungspotenzial, dessen Realisierung die Schaffung von Zugangstrassen für den Individualverkehr voraussetzt. Im Unterschied zu Vitacura kam es in diesem Fall zu keinem medialen Schlagabtausch zwischen Zivilgesellschaft und der technokratischen Elite. Tabelle 10: Frames der Community der Planer*innen Rahmungsstrategie Rahmungen und Storylines

Zentrale Rahmung

Planung ist Expert*innensache Die Straßenanbindung der Kommune muss verbessert werden. (a) • Die Entwicklungspotenziale sollten ausgenutzt und die Planung an die periphere Lage angepasst werden. (b) • Partizipation ist gut, aber Entscheidungen können die Bürger*innen nicht fällen. (c) • Der Konflikt ist grundlos. (d) Die Stadtplanung verfolgt das Gemeinwohl.



Aus Sicht der Planung besteht die größte Herausforderung für die Stadtentwicklung in der Verkehrsanbindung der Kommune (a). Dabei finden sich in der URBE-Studie Verweise auf übergeordnete Diskurse der Stadtentwicklung wie das städtische und wirtschaftliche Wachstum, was als neutrales Gut und Mehrwert für die Allgemeinheit dargestellt wird. Mit der Notwendigkeit, die Stadt zu erweitern, wird der Immobiliensektor auf diese Weise zum Vertreter öffentlicher Belange. Dabei fällt auf, dass soziale Aspekte nicht zu den zentralen Herausforderungen gehören. Sie wurden in keiner Weise erwähnt und auch der Plan benennt hierfür keine Maßnahmen. Dies wird umso deutlicher, als die interviewte Planerin auf Nachfrage nach sozialen Themen noch mal auf die Verkehrsanbindung verwies: „Es gibt ein Anbindungsproblem, das ist die größte Herausforderung [...] Eine andere Herausforderung hat damit zu tun, Natur und Umwelt mit der Stadt zu verbinden. Wie soll der Übergang vom Fuß der Anden bis zur Stadt sein? Mit Grünflächen, Parks, Alleen?

230 | P ROTESTBEWEGUNGEN UND S TADTPOLITIK Und wie läuft die Stadt aus, mit einer zum Rand sinkenden Dichte, die zugleich die Vorteile ausnutzt? Die Kommune hat sechs U-Bahnstationen. Sowas haben nur wenige Kommunen.“ (SP7 76, Stadtplanerin Planungsbüro URBE)

Stattdessen steht im Mittelpunkt, welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um die Attraktivität der Kommune als Wohnstandort zu steigern und die räumlichen Vorteile, d.h. gleichzeitige Stadt- und Naturnähe sowie besondere ÖPNV-Konditionen, zu nutzen (b). Neue (durch Investoren finanzierte) Straßenerschließungen zu benachbarten Kommunen, würden dabei die Standortvorteile weiter erhöhen. Zudem finden sich Hinweise auf das verankerte Verständnis von Gemeinwohl als die Summe der Dinge, die das wirtschaftliche Wachstum vorantreiben, das eigene Zuhause, steigende Eigentumspreise. Als trotz Partizipation, Information und sogar Anpassung des Entwurfs Widerstand blieb, wurde diesem, wie in Vitacura, mit Unverständnis begegnet und moralisiert, dass die Bürger*innen keine Rücksicht auf das Gemeinwohl nähmen, kein echtes Wissen über Planungsfragen hätten und damit letztlich auch Entscheidungen über die Gestaltung der Kommune an Expert*innen abgeben sollten (c): „Es handelt sich um multiple Verantwortlichkeiten, wo die Einwohner der Gemeinde nicht verstanden haben, von welcher Bedeutung die Stadtplanung ist“ (SP9 65, ehem. Leiterin der Stadtplanung in Peñalolén). Wie im Fall Vitacura wurde unterstellt, dass der Plan dem Gemeinwohl diene, was als nicht in Frage zu stellender Common Sense verstanden wird. Dabei obliegt es der Kommunalverwaltung, den leeren Signifikanten des „Gemeinwohls“ (Gunder/Hillier 2009) mit Inhalten zu füllen. Durch die Bürger*innen von Peñalolén sei das Gemeinwohl nicht verhandelbar, da diese nur Partikularinteressen verträten und schlecht informiert seien. Gleichzeitig wurde jedoch die Relevanz der Investoren hervorgehoben. In der Rechtfertigung erfolgte zudem eine strategische Nutzung von scales: Ein lokales bzw. territoriales Interesse sei immer ein partikulares Anliegen, das nicht ausreichend in Kontext gesetzt werde. Stattdessen seien einzelne Punkte mithilfe von Instrumenten wie der Umweltverträglichkeitserklärung immer in Relation zur Gemeinde oder sogar zur Gesamtstadt zu sehen. Indem also auf das Gemeinwohl der ganzen Stadt und die Möglichkeit, neue Visionen zu kreieren verwiesen wird, lässt sich die Relevanz partikularer Anliegen einschränken (Hillier 2003; Purcell 2009a). In dieser Logik kann man sozialen Organisationen dann auch vorwerfen, dass sie unverantwortlich handeln, da ihre Interessen nicht die der Gemeinschaft widerspiegeln. In diesem Kontext wurde der Comunidad Ecológica ein NIMBY-Interesse vorgeworfen, weil sie an ihrem – die Immobilienentwicklung einschränkenden – Plan Seccional festhalte. Sie wurden zudem als „Feudalherren“ dargestellt. Denn

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durch den territorialen Anspruch, so das folgende Zitat, würde es den Bauern, die viele der verbleibenden Grundstücke besitzen, verwehrt, marktadäquate Grundstückspreise zu erzielen. Damit gelingt es nicht nur, einen Schuldigen an der lokalen Wohnungsnot und der Segregation zu „identifizieren“, der die „Notwendigkeit“ von Anpassungen (Žižek 2010) nicht anerkennt. Zudem wird gegen die Comunidad neben Wohnungssuchenden ein weiterer „vulnerabler“ Akteur aufgebracht. „Die Comunidad Ecológica verteidigt ein Territorium. Hier in Chile gibt es schon lange keine Lehensgüter mehr. So ist es eben, ich bin Besitzer meines Grundstücks, aber das Gemeinwohl muss man noch finden. [...] Aber Peñalolén muss sich weiterentwickeln, der PRC muss Alternativen finden, damit die Stadt funktioniert und es Flächen für [...] Wohnungen gibt. So schaffen wir auch Integration. Seien wir nicht spalterisch, denn Santiago ist absolut segregiert!“ (S16 23, Leiter der Stadtentwicklungsabteilung MINVU)

Das skizzierte Framing um den territorialen Egoismus der Comunidad Ecológica veranschaulicht, wie ausgehend von einem staatlichen Problemlösungsbias von den eigentlich relevanten Fragen abgelenkt wird: Werden die Grundstücke überhaupt für sozialen Wohnungsbau vorbehalten sein? Was könnte der Staat (lokal und national) tun, um ein erschwingliches Wohnungsangebot im Stadtgebiet zu schaffen? Laut Planungsstudie gibt es in Peñalolén noch ca. 500 ha urbanisierbares Land. In Anbetracht der lokalen Wohnungsnot sind die diskutierten Flächen nur ein „Tropfen auf dem heißen Stein“ (250 mögliche Wohnungen auf dem Gelände der Comunidad bei 19.000 wohnungssuchenden Familien). Wieso stellt der Staat nicht mehr Flächen für sozialen Wohnungsbau bereit oder warum verpflichtet er Investoren über Kompensationsmaßnahmen nicht zur Schaffung von kostengünstigem Wohnraum? Dabei zeigt sich auch, wie das Framing zur weiteren Stärkung des liberalen Diskurses um Stadtentwicklung in Chile genutzt wird. Im Umgang mit vielen urbanen Konflikten in Santiago lässt sich schließlich eine generelle Nichtanerkennung einer „Begründetheit“ von Konflikten konstatieren (vgl. Hillier 2003) (d). Diese hängt mit der Nichtanerkennung der Position der betroffenen Akteur*innen und ihrer Rechte zusammen (vgl. Holston 2009), was besonders für ärmere Kommunen zutrifft. Die Konflikte hätten also meist gar nichts mit der Planung zu tun; stattdessen gehe es entweder um politische oder um partikulare Interessen: „In den ärmsten Kommunen gibt es Konflikte, aber die sind politischer. [...] Das sind radikalere Gruppen und sie sind ideologischer. Die Konflikte hier im Barrio Alto gibt es, ‚weil ich kein Gebäude mit 20 Stockwerken neben meinem Haus will‘.“ (S16 85, Leiter der Stadtentwicklungsabteilung MINVU) Die grundsätzliche Verflechtung von Politik und Planung

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wird kaum anerkannt und ein Raum für die Diskussion von Planungsaspekten, die über den unmittelbaren Planungsgegenstand hinausgehen, ist dem technokratischen Leitbild folgend nicht vorgesehen (vgl. Zunino 2006; Silva 2004). Insgesamt wird Stadtplanung als „Aufgabe von Expert*innen“ verstanden. Die zentrale Rahmung lässt sich damit resümieren, dass „die Stadtplanung das Gemeinwohl verfolgt, welches über den Einzelinteressen steht“.

R AUMBEZOGENE

POLITISCHE

W IRKUNGEN

Im Folgenden gehe ich der Frage nach, inwieweit sich der Planungskonflikt über das diskutierte Instrument hinaus auf die lokale Politik auswirkte. Welche Folgerungen für Masterframes und Diskurspraktiken können geschlossen werden? Dafür stützt sich die Auswertung auf zwei aus den Rahmungen der Akteur*innen abgeleitete Diskurskoalitionen (vgl. Tabelle 11). Im Zuge der skizzierten Auseinandersetzungen rückten zwei Masterframes in den Vordergrund, die im Kontext des vorherrschenden Planungsverständnis in Santiago stehen: Zunächst die Bezüge auf Partizipation und Gemeinwohl, die insbesondere in den Rahmungen der kommunalen Ebene gepflegt werden und sich in den Argumentationslinien der Community der Planer*innen in Santiago bzw. auf zentralstaatlicher Ebene wiederfinden. Von Interesse ist hier unter anderem die Übernahme zivilgesellschaftlicher Rahmungen durch die staatlichen Ebenen und in welcher Weise sich dies in den Praktiken widerspiegelt. Davon abgegrenzt zeichnet sich zweitens die Verstetigung eines Masterframes um Recht auf Mitsprache / Recht auf Stadt ab. Darauf nehmen verschiedene zivilgesellschaftliche Gruppen, insbesondere Pobladores-Bewegungen Bezug. Im Kontext dieser Diskurskoalitionen lassen sich einige Routinen der Organisation und Durchführung von Politik und Planung ausmachen, die angestoßen, transformiert oder verstetigt wurden und womit Verschiebungen von Räumlichkeiten einhergingen. Diskurskoalition I: Partizipation und Gemeinwohl Masterframe: Partizipation im Sinne des Gemeinwohls Sowohl Kommunalverwaltung als auch die Planer*innen sind sich einig darüber, dass die Entwicklung des Flächennutzungsplans für Peñalolén von einem erfolgreichen Partizipationsprozess begleitet war. Wiederholt hob der Bürgermeister die Stärkung der lokalen Demokratie als positives Kennzeichen seiner Kommune hervor. Dies veranschaulicht, in welch starkem Maße er sich ein allgemein aner-

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kanntes Framing zu Eigen gemacht hat – auch, um den zweifelhaften Verlauf des Plebiszits zu überdecken. Unmittelbar nach dem Referendum äußert der Bürgermeister: „Ich bin von Stolz erfüllt, Teil dieses demokratischen Festes gewesen zu sein“ (Orrego 2011). Die Rahmenanalyse illustriert, wie sich die Diskurskoalition auf den Masterframe der Partizipation im Sinne des Gemeinwohls bezieht. Dieses Framing, das sich von Beginn der Debatte um den PRC beobachten ließ, hat sich im Konfliktverlauf weiter geschärft. Auffällig ist dabei, dass sich das Partizpationsverständnis der öffentlich/privaten Planungsakteur*innen, die die Interessen der politisch-ökonomischen Elite Chiles reflektieren, deutlich von dem der Bürger*innen unterscheidet. Diese verstehen Partizipation als Strategie zur Schaffung von Transparenz und Information, um ein „Ziel zu erfüllen“, nämlich die Anwohner*innen aufzuklären, „anzuhören“ und sie von der dem Gemeinwohl dienenden Planungsentscheidung zu überzeugen (ehem. Leiterin Stadtplanung, Peñalolén). Eine wirkliche Berücksichtigung aller Akteur*inneninteressen ist jedoch nicht vorgesehen. Insbesondere hält die chilenische Technokratie die Definitionsmacht über die Legitimität von zivilgesellschaftlichen Beweggründen und das Gemeinwohl inne. Partizipation und Demokratie sind also leere Signifikanten, die mit Laclau keine explizite Bedeutung in sich tragen (vgl. Gunder/Hillier 2009). Folglich werden Planungskonflikte nicht mit Teilhabe verknüpft, sondern als störend betrachtet, da sie die Planungseffizienz beeinträchtigen (vgl. Poduje 2008). Dabei wird die Ablehnung wahrer Mitsprache auch auf die mangelnden Erfahrungen in Chile zurückgeführt, konstruktiv mit Interessengegensätzen umzugehen (vgl. Zitate im Anhang). Es lässt sich also eine gewisse Abkehr vom traditionellen autoritär-technokratischen Planungsparadigma konstatieren, das Konflikte schlicht ignoriert, und dessen Scheitern in Santiago zunehmend zu beobachten ist (vgl. Zunino 2006; Poduje 2008). Stattdessen rücken Elemente konsensorientierter kommunikativer Planung stärker in den Mittelpunkt; eine Tendenz, die aus kritischer Perspektive der Stabilisierung neoliberaler Stadtentwicklung dient (Purcell 2009a; Souza 2006; Keil 2009). Aufgrund des strategischen Einsatzes kommunikativer Elemente erscheint die Skepsis radikaldemokratischer Planungsansätze gegenüber der kommunikativen Planung (z.B. Sandercock 1998; Hillier 2003) an dieser Stelle besonders angebracht.

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Diskurspraktiken

Masterframe

Post-Plebiszit

Umgang mit Konflikt

Konfliktursache

Tabelle 11: Gentrifizierung in Peñalolén – Diskursdynamiken und -praktiken CMSP / MPL

Comunidad Ecológica

Kommunalverwaltung

Community Planer*innen

Der Plan führt zu Enteignungen und Reduktion bereits knapper Grünflächen.

Nicht verdichten, denn der Wald schützt vor Überschwemmungen und ist grüne Lunge; Risiko durch tektonische Verwerfung.

Wir wollen die Potenziale der attraktiven Kommune ausschöpfen.

Die Straßenanbindung der Kommune muss verbessert werden.

Der neue Plan verstärkt die Gentrifizierung in Peñalolén.

Kulturelle Identität und naturräumliches Erbe bewahren.

Die Planung macht nur, was der Immobilienmarkt will.

Vertrauensverlust in die Kommune. Sie agiert nur im Sinne der Immobilieninteressen.

Wir betreiben eine vorbildliche und innovative Partizipation im Sinne der Demokratie.

Um sozialen Wohnungsbau geht es der Kommune gar nicht.

Die Kommune wird gar keine Sozialwohnungen bauen.

Die kommunale Planung hat das Gemeinwohl der Kommune und der Stadt zum Ziel.

Recht auf Wohnen in Peñalolén und reale Mitsprache.

Die Bürger*innen können Stadt nicht mitgestalten (Militärdiktatur).

Manche Organisationen verbreiten Terrorkampagnen.

Wir setzen uns für sozialen Wohnungsbau ein.

Wir sind kompromissbereit.

Recht auf die Stadt (mit anderen Bewegungen / Initiativen) Vernetzung von Pobladores

Vernetzung von Initiativen

Klassenübergreifende lose Vernetzung Lokalisierung neuer Wohnungspolitiken (scale jumping)

Planung anpassen, um Entwicklungspotenzial auszunutzen. Der Konflikt ist grundlos. Partizipation verlief vorbildlich.

Partizipation und Gemeinwohl

Mehr Information & Transparenz Neue Rhetorik; informelle Praktiken und Justizialisierung Korrektur institutioneller Rahmenbedingungen

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Diskurspraktiken: Oberflächliche Korrekturen Mehr Information und Transparenz Im Unterschied zu sicherlich zahlreichen Kommunen in Santiago stellte Peñalolén im Rahmen des PRC ein „freiwilliges“ Beteiligungsangebot bereit, das auf einen verbesserten Informationsfluss in Richtung der Bürger*innen abzielte. Überdies ließ man sich sogar auf gewisse inhaltliche Zugeständnisse ein. Auch über den Plan hinaus lässt sich eine aufwändige Digitalisierung und erhöhte Transparenz kommunaler Verwaltungsstrukturen konstatieren, was sich als Teil des „Portfolios“ einer modernen, wettbewerbsfähigen Kommune einordnen lässt. Dies dient generell der Schaffung von Akzeptanz oder wie es die damalige Stadtplanungsleiterin beschrieb, wollte der „kommunale Konterpart im Prozess“ die fertiggestellte Planstudie in eine „kommunale Strategie“ verwandeln.9 Dies gilt umso mehr für Kommunen wie Peñalolén, wo von einem höheren Widerstandspotenzial auszugehen ist. Das Partizipationsangebot ist aber auch der parteipolitischen Profilierung des Bürgermeisters geschuldet.10 Aus diesem Grund vermied der vielversprechende „Nachwuchspolitiker“ Eskalationen und nahm einige Vorstellungen der Bürger*innen in die Planung auf. In der Summe lassen sich so am ehesten die Entwicklungslogiken aufrechterhalten (vgl. Purcell 2009a). Die Zugeständnisse waren also weniger die Folge eines „Bewusstseinswandels“, sondern eher einer strategischen Kosten-Nutzen-Abwägung (vgl. Luders 2010). Der an Bedeutung gewinnende Masterframe institutionalisiert sich also nur bedingt darüber, die Mitsprachemöglichkeiten der Bürger*innen tatsächlich zu erweitern, sondern über Information Akzeptanz zu generieren. Damit fügt sich der Umgang mit zivilgesellschaftlicher Partizipation in den „technokratischen Blickwinkel“ (Architektin PUC) der chilenischen Regierung ein (vgl. auch Tironi 2012). Zudem wurde im Unterschied zu Vitacura keine verbindliche – und nur durch ein weiteres Referendum aufzuhebende – Planungsentscheidung für die umstrittenen Standorte erreicht. Ebenso obliegt die Einbindung der Zivilgesellschaft im weiteren Verlauf dem Ermessensspielraum der Kommunalverwaltung und die Kommunalplanung ist nicht (rechtsverbindlich) angehalten, ihre Praktiken anzupassen.

9

Dieses Vorgehen illustriert auch die Kluft zwischen politischen und technischen Entscheidungen. 10 Zum Zeitpunkt der Partizipationsprozesse wurde der Christdemokrat Vize-Parteichef der Democracia Cristiana und als Präsidentschaftskandidat für 2013 gehandelt.

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Informelle politische Praktiken und Justizialisierung Die genaue Betrachtung offenbart ferner, dass sich lange etablierte informelle Handlungslogiken fortsetzen – einschließlich klientelistischer Praktiken wie finanzielle Versprechungen für Wählerstimmen (vgl. auch Rivera-Ottenberger 2008). Mit der im Unterschied zu Vitacura bemerkenswerten Platzierung von Rahmungen wie „Demokratie“ und „Partizipation“ ging also nicht einher, stärker auf die Vorstellungen der Bürger*innen einzugehen, bzw. dienen die neuen partizipatorischen Elemente eher der Verschleierung althergebrachter Routinen. Möglich wird dies unter anderem durch den Rückgriff auf einflussreiche Elitennetzwerke, durch die sich gesetzliche Anforderungen umgehen lassen. Dies demonstriert die ausgeprägten Machtunterschiede zwischen politisch-ökonomischer Elite und Bürger*innen sowie – mit Blick auf Vitacura – die ungleichen bürgerschaftlichen Einflussmöglichkeiten in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft (vgl. Holston 2008). Die Netzwerke ermöglichten dem Bürgermeister, seiner Pflicht zur Umsetzung des Plebiszits „trickreich“ nachzukommen. Auf diese Weise konnte er umgehen, sein persönliches Aushängeschild, den „zukünftigen Central Park der Kommune“ und die unternehmensorientierte kommunale Entwicklungsstrategie zu riskieren (vgl. auch López-Morales/Gasic/Meza 2012) (vgl. Zitate im Anhang). Des Weiteren wurde der Rechtsweg beschritten, um Proteste und politischen Einfluss sozialer Bewegungen zu unterbinden; eine mögliche Variante der Repression, von der der Staat typischerweise Gebrauch macht, um soziale Bewegungen zu schwächen (Della Porta 2006; Davenport 2007) (vgl. auch Kapitel 11). So erhob der Bürgermeister, nachdem es im Zuge des Verfahrens zur Aufstellung des Flächennutzungsplans zu Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und der Polizei gekommen war, Anklage gegen einen Vertreter der MPL, der gleichzeitig dem Gemeinderat angehörte. Diese Justizialisierung hatte zur Folge, dass die nunmehr als vorbestraft geltende Person bei den Kommunalwahlen 2012 nicht mehr antreten konnte. Des Weiteren blieb auch nach dem Plebiszit eine Logik des „Blamings“ bestehen (vgl. Katznelson 1981), um weiter das Misstrauen zwischen den lokalen Bewegungen zu schüren. Auch unter Carolina Leitao, Orregos Nachfolgerin, setzte sich das Framing um die „Mythen“ und „Unwahrheiten“ über den PRC fort, das die Aktivist*innen des CMSP bzw. MPL zu delegitimieren sucht (ADN Radio 2012). Korrektur der institutionellen Rahmenbedingungen Zunächst illustrieren die erfolgten Referenda in Santiago ein gewachsenes zivilgesellschaftliches Einflussvermögen über die jeweiligen Kommunen hinaus. So ist das Zustandekommen eines zweiten Plebiszits (neben weiteren erstmaligen

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Konsultationen) innerhalb von vergleichsweise kurzer Zeit ein Anhaltspunkt dafür, dass Instrumente direkter Demokratie und bindende Partizipationsmechanismen an Bedeutung gewinnen und es zu einer gewissen Institutionalisierung derselben kommt. Die Organisation von Plebisziten hat sich im Zuge des 2011 verabschiedeten Partizipationsgesetzes gegenüber dem Fall Vitacura zudem vereinfacht. Hier deuten sich also substanzielle politische Veränderungen an. Zwei Gesetzesprojekte lassen aber vermuten, dass sich die politische Bereitschaft zur Reformierung der lokalen Demokratie nicht erhöht hat. 1) Der Kongress verabschiedete im Januar 2012 ein Gesetz zur „Automatischen Einschreibung“, um das Wahlverfahren zu modernisieren. Dieses Gesetz enthält zwar generelle Aspekte zur Vereinfachung von politischen Wahlen, aber damit wurde die Reduzierung der erforderlichen Wählerstimmen für Bürgerbegehren von 10% auf 5% wieder aufgehoben. Hier lässt sich die These aufstellen, dass dies im Zusammenhang mit dem kurz davor erfolgten Plebiszit in Peñalolén steht. Ein Sozialwissenschaftler vermutet entsprechend, dass dieses Ereignis eine gewisse Furcht vor dem lokalen Einflussvermögen sozialer Akteure provozierte (Rodriguez 2012). Die zentralstaatliche Regierung hob also die Möglichkeit wieder auf, den in Chile schwachen Kommunen eine politische Rolle zu erteilen. 2) Ein weiteres geplantes Gesetz soll zwar die Kosten von Bürgerbegehren erheblich reduzieren. Zugleich sieht es aber vor, dass nicht mehr über Themen abgestimmt werden kann, die sich – wie der Flächennutzungsplan – auf den kommunalen Haushalt beziehen (Navea Parra/Sepúlveda Díaz 2013). Dies kommentierte eine Partizipationsexpertin wie folgt: „Die Bürgermeister und Bürgermeister*innen sind es nicht gewöhnt, Macht zu teilen und noch weniger, diese an die Bürger zu überführen“ (Mlynarz 2012). Insgesamt zeichnet sich ab, dass die Akteur*innen, die sich auf den Masterframe um Partizipation und Gemeinwohl beziehen, weitgehend in einem technokratischen, mit informellen Elementen gepaarten, Paradigma verhaftet bleiben. Abgesehen von einem vermehrten Bemühen um Informationsbereitstellung reduzieren sich scheinbar innovative Elemente einer kooperativen Planung auf eine bloße Rhetorik. Es kommt also nicht so weit, die Möglichkeiten einer stärkeren Einflussnahme konkret zu diskutieren, da diese nicht einmal gewährleistet ist. Diskurskoalition II: Einforderung eines Rechts auf die Stadt Neuer Masterframe: Ein Recht auf die Stadt Eine zweite Diskurskoalition, zu der Bewegungen wie die MPL zählen, lehnt den Partizipationsbegriff explizit ab. Vermehrt durchschauen Allegado-Organi-

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sationen die Machtstrukturen in Santiago und fordern, wie zum Beispiel der CMSP, ein Recht auf Stadt. Das auf Lefevbre basierende Plädoyer bezieht sich auf das Recht auf eine wahre politische, d.h. konfliktoffene Teilhabe und spezifische reformpolitische Forderungen zu Wohnen (inkl. Autogestion) (vgl. Holm/ Gebhardt 2011b; Purcell 2003; Mayer 2009). Eine Partizipationsexpertin betonte entsprechend: „Partizipation muss streng mit der Legitimität, die man dem Anderen als sozialem und politischem Akteur zuschreibt, verbunden sein.“ Auch einige Initiativen der Mittelschicht wie die Comunidad Ecológica oder Vecinos del Barrio de Yungay (Fokus auf Denkmalschutz) lassen sich teilweise dieser agonistischen Diskurskoalition zurechnen, auch wenn die Dynamik der Rahmungen offen ist. Gerade für solche Organisationen der Mittelschichten stellt sich die Frage, inwieweit der Gebrauch eines bestimmten Framing eher partikularen Interessen dient oder ob auch ein Interesse an gegenhegemonialen losen Netzwerken besteht (vgl. Purcell 2009b). Unter Rückgriff auf „Identität“, „städtisches Erbe“ oder die Forderung nach mehr „Partizipation“ konnten diese territorialen Initiativen ihre öffentliche Sichtbarkeit in den letzten ein bis zwei Dekaden enorm erhöhen. Es ist zu vermuten, dass die Konflikte der letzten Jahre dazu beigetragen haben, städtische Masterframes entsprechend zu erweitern. Zuletzt wurden Aspekte dieser Art zum Beispiel in die Nationale Stadtentwicklungspolitik aufgenommen (vgl. Kapitel 7). Gleichzeitig rücken damit leere Signifikanten in den Vordergrund, die sich in einen postpolitischen Konsens des Gemeinwohls einbetten lassen (vgl. Gunder/Hillier 2009). So beziehen sich viele Organisationen letztlich auf eine mit der technokratischen Elite vergleichbare Konsenskommunikation (wie für den Fall Vitacura gefolgert werden konnte). Diskurspraktiken: Neue Vernetzungen und Strategien Vernetzungen von Pobladores In Peñalolén kam es durch die Auseinandersetzungen um den Plan zu einer Vernetzung im Rahmen des Rats der sozialen Bewegungen von Peñalolén (CMSP), der von überlokalen Graswurzelorganisationen, Studierenden und Wissenschaftler*innen unterstützt wird. Eine übergeordnete Bedeutung kommt dabei der MPL als der größten mitwirkenden Organisation zu. Da das CMSP-Netzwerk ihre Ziele noch nicht erreicht hatte, war es außerdem gezwungen, die gemeinsame Plattform aufrechtzuerhalten. Im Zuge der Zusammenarbeit mussten politische Differenzen überwunden und Misstrauen abgebaut werden. Der Fokus auf lokale Themen wie den Erhalt von Fußballfeldern erleichterte zunächst die Mobilisierung verschiedener Gruppen. Zugleich ließ sich ein breiterer überlokaler Problemzusammenhang der Gentrifizierung in Santiago herstellen.

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Der CMSP besteht aufgrund unterschiedlicher politischer Interessen in seiner ursprünglichen Zusammensetzung jedoch seit 2013 nicht mehr (s. Chronologie). Die Aufrechterhaltung eines gemeinsamen widerständigen Agierens erfordert kontinuierliche Investitionen, auch weil die Kommunalverwaltung sehr gut in der Lage ist, ihre Handlungsroutinen fortzusetzen und subtile Unterdrückungsmechanismen gegen die Pobladores einzusetzen (vgl. Greaves 2005). Nichtsdestotrotz wirkte sich die Verstetigung von Netzwerken und gemeinsamen Zielen deutlich auf die sozialräumliche Positionalität der Pobladores aus und bewirkte eine Emanzipierung (vgl. Zitate im Anhang): So reorganisieren sich die Gruppierungen, und die im Zuge des Konflikts erforderliche Erarbeitung von Strategien und Durchführung von Mobilisierungsaktionen verlieh vielen Bewegungen einen neuen Sinn. Im Zuge der Diskussion um den PRC gelang es dem CMSP, das hegemoniale Tabu des Politischen in Chile zu reflektieren, und die Bewegung positionierte sich. Insgesamt lassen sich die Anwohner*innen immer schwerer davon überzeugen, dass ein neuer Plan oder ein neues Projekt keine Auswirkung auf sie haben würde. Die Strategien der Kooptierung durch Wohnungsversprechungen greifen nicht mehr in jedem Fall, und die Bürger*innen lernen sich zu wehren. Die Bewegungen wenden sich von klientelistischen Strukturen ab bzw. fangen an, Zugeständnisse neu zu interpretieren, d.h. anstatt beispielsweise die Zahlung zur Erneuerung von Fußballfeldern als „Geschenk“ zu betrachten, wurde das Ergebnis als „Verhandlungserfolg“ gedeutet. Dahinter verbirgt sich die Vision, die Pobladores zunehmend als gleichwertige – anstatt der Elite untergeordnete – Verhandlungsakteur*innen zu betrachten. Eine besondere symbolische Wirkung hatte dabei das erfolgreiche Plebiszit. Dadurch haben sich die Pobladores als ernstzunehmende Akteur*innen weiter etabliert und eine neue Sichtbarkeit unter zivilgesellschaftlichen Organisationen erlangt. Dabei hat die Fähigkeit, auch auf institutionalisierte demokratische Instrumentarien zurückgreifen zu können, großen Einfluss auf ihr Selbstverständnis und zivilgesellschaftliches standing genommen. Ihre sozialräumliche Positionalität hat sich auch durch neue Wissensbestände und die Platzierung eigener fachlicher Positionen entscheidend gewandelt (vgl. dazu Leitner/Sheppard/Sziarto 2008). So gelang es den sozialen Bewegungen in Peñalolén, den Zusammenhalt zwischen den Pobladores zu stärken und die widerständige Identität der Pobladores ein Stück weit zu rekonstruieren und sich gleichzeitig einem neuen, gleichberechtigteren staatsbürgerlichen Selbstverständnis anzunähern (vgl. dazu Geiger 2010). Dies deutet auf einige zielführende Aspekte von Souzas (2006) vermeintlich widersprüchlicher Idee einer autonomen Planung.

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Vernetzung von Initiativen der Mittelschicht Die Comunidad Ecológica verfolgte und etablierte unterschiedliche Arten von – teils längerfristig gedachten – politics of network: einerseits lose globale Netzwerke, um sich als Eco-Village positionieren zu können, und andererseits stadtregionale Netzwerke für eine spezifische Zusammenarbeit und den teilweise vertraulichen Austausch mit Bürger*inneninitativen und Umweltorganisationen (vgl. dazu Nicholls 2009). Auf diese Weise bringt sich die Comunidad Ecológica inzwischen auch in Stadtentwicklungsthemen ein, die nicht nur Peñalolén bzw. ihr territoriales Interesse betreffen, zum Beispiel lokale Mitspracherechte oder die stadtweite Flächenausdehnung und damit verbundene Umweltrisiken. Zugleich wirkte dieses Engagement auf die kulturelle Identität der lokalen Gemeinschaft zurück. Die Comunidad Ecológica erfuhr also eine umfassende strategische Weiterentwicklung und Professionalisierung im Konfliktprozess. Potenziale durch Vernetzung – Trotz Klassenunterschied? „Die urbanen Konflikte kreuzen heute alle sozialen Schichten [...] die Maßnahmen, die die Kommunen betreiben, um die Rentabilität im städtischen Raum zu erhöhen, beeinflussen populare Schichten wie uns, die Mittelschichten wie im barrio Yungay, wo das historische Erbe zerstört wird, oder beim Bau von Hochhäusern wie in Vitacura. Diese drei völlig verschiedenen Gesichter sind Ausdruck desselben Kapitalismus.“ (SP3 75, Sprecher MPL)

In Santiago besteht traditionell eine klare Differenzierung zwischen Bewegungen der Mittel- und Oberschicht und sogenannten Pobladores-Bewegungen. Da beide ihre Motivation letztlich aus der gleichen Ursache schöpfen, wie es das obige Zitat auf den Punkt bringt, stellt sich die Frage, inwieweit potenzielle Synergien nutzbar gemacht werden könnten (vgl. Mayer 2013). Umso mehr, weil auch auf dieser Ebene politisch-ökonomische Elitennetzwerke von bestehenden divides profitieren. Zunächst gingen die wichtigsten Gruppen im Rahmen des Widerstands gegen den PRC bis zum Referendum unterschiedliche Wege. Während die Comunidad Ecológica eher Rat bei Initiativen mit vergleichbaren Interessen in anderen Kommunen Santiagos suchte, fanden die Pobladores-Bewegungen im CMSP eine Vernetzung mit ihresgleichen. Im Zuge der weiteren Auseinandersetzungen um den Flächennutzungsplan kam es allerdings – erstmals in der Geschichte Chiles – zum Austausch sowie einer gegenseitigen Unterstützung von Initiativen aus ganz unterschiedlichen sozialen Milieus und damit zu äquivalenten Netzwerken. Dies beinhaltet etwa die Beratungsleistung von Salvemos Vitacura zur Organisation des Referendums und Kommunikation mit dem Rechnungshof. Als besonders effizient erwiesen sich die – nichtkoordinierten und gegensätzlichen – Strategien von CMSP bzw.

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MPL und Comunidad Ecológica in ihrer Kombination: Einerseits das umfassendes Mobilisierungspotenzial der wachsenden MPL (zur 2. Anhörung im Gemeinderat erschienen 2.000 Personen) und andererseits die juristischen Verzögerungsstrategien der Comunidad Ecológica. Die sozialen, ethnischen und ideologischen Differenzen lassen sich allerdings nicht einfach überwinden. Vertreter*innen verschiedener Organisationen betonen zudem, dass vor allem seitens der Pobladores-Bewegungen versucht wurde, eine Zusammenarbeit über Milieuund Organisationsgrenzen hinweg zu etablieren. Erleichtert wurde dies im Prozess durch eine Annäherung der Protestrepertoires und die Einsicht von Mittelschichtsbewegungen, dass die Pobladores im Konflikt unverzichtbar sind.11 Nur so konnte man sich den gemeinsamen „Gegner*innen“ widersetzen. In diese Beobachtung fügt sich ein, dass die Comunidad Ecológica nicht nur erkannt hat, dass es aussichtsreicher ist, konkrete Vorschläge zu präsentieren und sich mit anderen sozialen Gruppen zusammenzuschließen. Sondern es hat sich seit dem Referendum auch ein neuer Dialog zwischen einigen Allegados-Organisationen und der Comunidad Ecológica entwickelt. Gegenstand dieses Dialogs ist die Auslotung von Möglichkeiten, auf dem Gelände der Comunidad neue Sozialwohnungen zu errichten; unter der Bedingung einer ökologisch integrierten Entwicklung und mit der Sicherheit, dass die Flächen nicht der Immobilienspekulation zum Opfer fallen.12 Im ebenfalls von Gentrifizierung betroffenen Innenstadtquartier Yungay deutet sich in einer ähnlichen Akteur*innenkonstellation ebenfalls eine gewisse Reflexion über partikulare Interessen hinaus an (urbanes Erbe und Verdrängung). Auch die Debatte um die Modifikation des regionalen Flächennutzungsplans PRMS 100 in den Jahren 2011/12 bot hierzu Gelegenheit (vgl. Biskupovic 2011). Die Analyse des Referendums offenbart das Potenzial einer solchen gegenhegemonialen äquivalenten Vernetzung unter Beibehalt der eigenen Interessen (vgl. Purcell 2009b; Laclau/Mouffe 2012). Dabei geht es weniger um ein institutionalisiertes Netzwerk, sondern eine gemeinsame Schnittstelle in einem multi11 Auch im Interview mit Defendamos la Ciudad wurde deutlich, dass das bürgerliche Lager die Pobladores als urbane Akteur*innen bislang ignoriert hatte. Eine wichtige Rolle für die gestiegene Akzeptanz der MPL (als sichtbarste Gruppe des CMSP) spielten der Erfolg beim Plebiszit und ihr Auftreten als seriöse Akteurin in einem institutionalisierten Prozess. 12 Die Organisationen riefen einen runden Tisch ins Leben, der von Architekt*innen der Universidad de Chile begleitet wurde, um einen gemeinsamen Vorschlag zu erarbeiten. Dieser Runde Tisch unterzeichnete Ende 2012 ein Integrationsabkommen. Lokal scheint sich also eine Fortsetzung dieser schichtübergreifenden Vernetzung anzudeuten. Die neue Bürgermeisterin von Peñalolén unterstützte dieses Vorhaben jedoch nicht (zumindest bis zum Termin der Planmodifikation im Juli 2013; s. Chronologie).

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funktionalen social movement space. Durch eine nachhaltige Generierung von Wissen und Solidarität im Zuge von Äquivalenznetzwerken ließe sich also divide & conquer Logiken begegnen (vgl. Chatterton/Featherstone/Routledge 2013) (vgl. Zitate im Anhang). Soziale Organisationen lokalisieren alternative Politiken Besonders auffällig ist in der untersuchten Fallstudie, dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen von Anfang an eine proaktive und kreative Haltung demonstrierten. Umfassend arbeiteten sich marginalisierte Schichten in Peñalolén erstmals in Themen der Stadtentwicklung und -planung ein, betrieben Aufklärungsarbeit, und konnten so frühzeitig Widerstand leisten. Unterstützt durch Studierende entwickelten sie eigene Positionen zu einem zukünftigen Flächennutzungsplan im Sinne eines Urbanismo Popular (Hölzl 2014). Solche Vorschläge gab es auf kommunaler Ebene in Chile vorher noch nicht. Als diese Positionen in Teilen ignoriert wurden, setzte sich die Vorgehensweise bei der Organisation des Referendums fort. Die hierfür erforderlichen juristischen und planerischen Voraussetzungen lieferte die Bewegung von innen bzw. über assoziierte Organisationen. Dabei fällt auf, dass sich wissenschaftliche Unterstützer*innen im Zeitverlauf mit oft temporären Beiträgen ablösten. Womöglich soll deren Funktion gerade nicht über eine Unterstützung hinausgehen (vgl. Zibechi 2011; Kapitel 3). Seit dem Referendum wurden die Ziele weiterentwickelt, wovon auch das 2013 gegründete „Populare Sekretariat für Raumplanung“ (SEPPLAT) der MPL zeugt. Dabei stellen die in den letzten Jahren erzielten wohnungspolitischen Errungenschaften sozialer Bewegungen eine bedeutende Rahmenbedingung für das Fallbeispiel dar. So arbeiten Bewegungen wie MPL und MST daran, Bodenbanken, die die FENAPO (in der die MPL ein starkes Mitglied ist) im Zuge einer neuen wohnungspolititischen Norm 2012 etablieren konnte, vor Ort umzusetzen (vgl. Kapitel 7). Konkret bedeutet dies, dass die Sprecher*innen von Wohnungskomitees Grundstücke identifizieren, Kaufpreise aushandeln und dem SERVIU den Erwerb mithilfe einer sogenannten „Lokalisierungsbeihilfe“ (subsidios de localización) vorschlagen. Damit übernehmen sie eine neue Funktion: Anstatt sich auf Versprechungen der Kommunalverwaltung zu verlassen, werden sie selbst aktiv (Castillo Couve 2010).13

13 Inzwischen verfügen einige Komitees über Wohnungsbeihilfen zum Kauf von Grundstücken (SEPPLAT MPL 2013) und es liegen erste Grundstückszusagen vor. Ferner präsentierten MPL und CMSP einen Vorschlag für eine extensive Flächenbereitstellung für sozialen Wohnungsbau in Peñalolén (1. Ex Nasur, 50% = 11 ha in Peñalolén Alto, 2. Antipurén 11,4ha, 3. 6,3ha in Sauzal, 3,5ha in San Luis (Sepplat MPL 2012).

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Mithilfe dieses Instruments ist es theoretisch möglich, dass das Ministerium den kommunalen Flächennutzungsplan unterläuft und das Grundstück kauft, die Bodennorm aufhebt und mit der für Sozialwohnungen erforderlichen Norm belegt. Mit diesem scale jumping (Smith 1992), wird also versucht, Mechanismen zu schaffen, um den Zentralstaat wieder in die Verantwortung zu nehmen (vgl. Zitate im Anhang). Dabei erhofft man sich, ein Gegengewicht zu lokalen Regierungschefs zu etablieren, die die Vorherrschaft der traditionell technokratischen Stadtplanung aufrechterhalten wollen. Die Voraussetzung dafür ist allerdings eine „politische Bereitschaft, die es bis heute noch nicht gegeben hat“ (Sprecher/in Nuevo Chile). Zudem kam es infolge der Anwendung dieser Beihilfe zum Anstieg der Bodenpreise, so dass die Pobladores mit der verfügbaren Finanzierung keine Grundstücke mehr erstehen können (s. auch Castillo Couve 2011: 12) (Sitution vergleichbar mit der MOI in Argentinien, Kapitel 7). Insgesamt lässt sich der Konflikt in Peñalolén als Versuchsfeld für die MPL und andere Bewegungen interpretieren, um das neue multiskalare Kompetenzspektrum der Bewegungen zu festigen, was sich wiederum positiv in deren Sichtbarkeit niederschlägt. Gleichzeitig zeigt sich, dass eine isolierte Fallbetrachtung nicht möglich ist. Auch wenn zum jetzigen Zeitpunkt der Ausgang offen ist, zeichnen sich ein Wandel der sozialräumlichen Positionalität und eine bemerkenswerte Emanzipierung der Pobladores ab. Besonders sticht hervor, dass die Pobladores an ihrer Identität festhalten, zugleich aber die ihnen zustehenden formellen bürgerschaftlichen Rechte einfordern.

Z WISCHENFAZIT In diesem Kapitel wurden die raumbezogenen politischen Wirkungen eines Konflikts um zivilgesellschaftliche Mitsprache in der Stadtentwicklung in der randstädtisch gelegenen Kommune Peñalolén analysiert. Dieser Protest wurde von einer Reihe von Organisationen und sozialen Bewegungen angeführt, die gegen Gentrifizierung und für einen umfassenderen gesellschaftlichen Wandel kämpfen. Die kommunalen Entscheidungsträger*innen verfolgten ein konsensorientiertes Vorgehen, um einen offenen Konflikt nach Möglichkeit zu vermeiden. Allerdings wurde in besonderer Weise deutlich, dass man nur begrenzt bereit ist, von dem für Chile typischen, dezidiert technokratischen Verständnis von Stadtentwicklung abzuweichen und die rudimentären Partizipationsmöglichkeiten in öffentlichen Planungsprozessen auszuweiten. Zunächst lösten die unmittelbar drohenden negativen Effekte der Neuplanungen des PRC bei unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Organisationen in Pe-

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ñalolén einen Handlungsimpuls aus. Dieser verfestigte sich durch die zu beobachtende Gentrifizierung in der Kommune und die dadurch symbolisierten Unterdrückungsmechanismen, die eine neue Generation von Pobladores, die sich auf die Potenziale ihrer sozialräumlichen Positionalität besinnt, nicht mehr hinnehmen wollte. So gelang es einem Netzwerk sozialer Bewegungen sich zu organisieren und über eigene Interessen hinaus differenzierte Allianzen zu schaffen. Damit konnte ein merklich spürbarer Druck auf das stadtentwicklungspolitische Akteur*innenfeld ausgeübt werden. Erkennbar trug dies zu einer konfliktbetonten Öffnung bislang anerkannter Masterframes bei. Die Auseinandersetzung belegt eine rhetorische Öffnung und Aneignung demokratiebezogener Rahmungen, was unter dem Masterframe Partizipation im Sinne des Gemeinwohls zusammengefasst wird. Auf diesen greifen die Akteur*innen zurück, die traditionell in Chile über Planung bestimmen, sowie kommunale Entscheidungsträger*innen (Diskurskoalition I). Dass sich Letztere, insbesondere in ärmeren Kommunen, derart engagieren, ist in gewisser Weise neu. Die Analyse der Praktiken veranschaulicht zudem den offenbaren Wandel des Masterframes. Hier wird deutlich, dass zwar mehr Informationen bereitgestellt werden und kurzfristige Anpassungen erfolgen, strukturelle Veränderungen aber nicht beabsichtigt sind. Dies ist im Wesentlichen auf die dahinter stehenden starken ökonomischen Kräfte zurückzuführen, die ein Eingreifen in den Markt nicht zulassen. Aber auch die andauernde Nichtanerkennung (gerade marginalisierter Bürger*innen) in politisch-planerischen Auseinandersetzungen spielt eine zentrale Rolle dafür, dass eine konfliktoffene Verhandlung nicht zugelassen wird. In diesem Zusammenhang zeigt sich auch, wie multiple räumliche Strategien angewendet werden, um Keile zwischen soziale Gruppen zu treiben. Dabei wird des Weiteren die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung von NIMBYMotiven und delegitimierenden Zuweisungen deutlich. Auch über Peñalolén hinaus offenbaren die gegenwärtigen Entwicklungen im Rahmen der Wohnungspolitik und der zivilgesellschaftlichen Teilhabe eine begrenzte Bereitschaft des Staates zu Veränderungen. Ein wirklich neuer Einfluss auf lokale Praktiken der Politik und Planung erfolgt eher seitens zivilgesellschaftlicher Akteur*innen (Diskurskoalition II), denen es gelingt, einen Masterframe um das Recht auf Mitsprache / Recht auf Stadt zu platzieren. Die sozialen Bewegungen, insbesondere die MPL, aber auch die Comunidad Ecológica bauen lokale, nationale und internationale Vernetzungen auf, mit Klassen überschreitenden Ansätzen auf lokaler und städtischer Ebene. Sie sind in der Lage, eigene Vorschläge zu entwickeln, was auch darauf zurückzuführen ist, dass das Anliegen weit über den umstrittenen Flächennutzungsplan hinausgeht. In diesem Zusammenhang ist überdies ein Wandel der Po-

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sitionalität der Pobladores zu beobachten: Sie agieren mit einem neuen Selbstverständnis, erfahren durch das erfolgreiche Referendum vielfach öffentliche Anerkennung, und ihre ortsbezogene Identität wird gestärkt. Zudem profitieren die Organisationen von einem jüngst gewachsenen social movement space in Santiago, dessen unterschiedliche Funktionen sich wahrnehmen lassen und der Ansatzpunkte klassenübergreifender Äquivalenzbeziehungen liefert. Es ist davon auszugehen, dass sich das traditionell elitenorientierten Verständnis von Politik und Planung nur dann nachhaltig reformulieren lässt, wenn die Mobilisierung und die öffentliche Sichtbarkeit der in Santiago jüngst entstandenen zivilgesellschaftlichen Organisationen aufrechterhalten wird. Entscheidend ist dabei mitunter, inwieweit sich klassenübergreifende Netzwerke etablieren lassen, deren spezifische Stärken hier deutlich wurden. Ansonsten besteht das Risiko, dass Planungsprozesse künftig zwar als partizipativ bezeichnet werden, in der politischen Realität jedoch – wie andernorts oft kritisiert – eher als Worthülse oder leerer Signifikant einzustufen sind.

10 Konflikt C: Proteste gegen Hochhausbau in Buenos Aires

„Buenos Aires ist ein Geschäft.“ (Vertreter SOS Caballito) Durch den umfangreichen Bau von Hochhäusern und die zunehmende Beseitigung der gewachsenen städtebaulichen Strukturen sehen sich viele Menschen in der argentinischen Hauptstadt immer mehr in ihrer Lebensqualität eingeschränkt. Nicht alle Stadtteile sind von diesen städtebaulichen Restrukturierungen in gleicher Weise betroffen. Besonders viele Neubauprojekte konzentrieren sich seit 2003 auf die traditionellen Quartiere der Mittelschicht in Buenos Aires. Der Widerstand dagegen regte sich 2006 in Caballito, wo sich erste Bürger*inneninitiativen gründeten. Diese konnten eine Änderung des Planungsgesetzes der Stadt (CPU) für bestimmte Sektoren durchsetzen. Seitdem folgten viele neu entstehende Initiativen diesem Vorbild und erzielten teilweise ähnliche Erfolge. Sie greifen mithilfe neuer Gesetze in die Stadtplanung ein, bewirken richterliche Schutzerlässe oder andere Gerichtsurteile. Erstmals interessieren sich mittlere bis obere Schichten der argentinischen Gesellschaft also für Stadtentwicklung und sind in der Lage, Einfluss auszuüben. Dabei sind Hintergründe und Motivation vielfach vergleichbar mit den chilenischen Bürger*inneninitiativen. Wie dort gibt es in Buenos Aires kaum formal wahrnehmbare Beteiligungsplattformen in der Planung. Für die Untersuchung der Widerstände gegen Hochhausbau in Buenos Aires habe ich eine andere Perspektive gewählt als in den vorangegangen Fallanalysen. Ausgehend von den Auseinandersetzungen im Stadtteil Caballito gehe ich der Frauge nach, inwieweit die stadtweite Vernetzung von Bürger*innen über lokale Anpassungen hinaus auf das Verständnis von Stadtentwicklung und auf stadtpolitische Routinen eingewirkt hat.

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K ONFLIKTBIOGRAPHIE : V ERLAUF

UND

A USLÖSER

Konfliktchronologie Diese Chronologie basiert auf der Berichterstattung in den Medien, gesetzlichen Erlässen und Interviewaussagen und konzentriert sich auf die markantesten Ereignisse seit dem Wiederanstieg der Immobilienentwicklung nach 2001. Phase I: Ursachen Seit 2003 Es deutet sich ein neuer Immobilienboom an, der sich auf ausgewählte Stadtteile der oberen Mittelschicht konzentriert. Allein in Caballito bemisst sich die von 2001 bis 2011 gebaute Fläche für Wohnungen auf 15,5 Mio. m² (Gobierno de la Ciudad 2012). Phase II: Erste Errungenschaften 2006 In Caballito regen sich erste Widerstände gegen den Bau von Hochhäusern in Buenos Aires. Cacerolazos (lautstarke Proteste vor allem der Mittelschicht, häufig mit Töpfen) von Anwohner*innen wecken das Interesse der Medien. Ein Gerichtsbeschluss zwingt die Stadtregierung am 14.11.2006 für 90 Tage ein Baustopp zu verhängen, um zu prüfen, inwieweit Bauprojekte, die eine Höhe von 13,5 m übersteigen, kompatibel mit der vorhandenen technischen Infrastruktur sind. Davon betroffen sind die sechs Stadtteile Villa Urquiza, Coghlan, Núñez, Palermo, Villa Pueyrredón und Caballito) (vgl. Abbildung 1). 2007 Die Prüfung ergibt, dass in fünf der sechs Stadtteile die Wasserver- und -entsorgung unzureichend ist. Im Ergebnis müssen Bauvorhaben zukünftig ein Zertifikat der Wasserbetriebe AySA nachweisen, bevor sie eingereicht werden. Mit einem weiteren Gesetz wird diese Prüfpflicht auf die ganze Stadt ausgeweitet. [4/2007] Die zunächst vor allem in Recoleta aktive NGO Basta de Demoler gründet sich. [06/2007] Die konservative PRO unter Bürgermeister Mauricio Macri tritt die Regierung in Buenos Aires an. [11/2007] Mithilfe einer Speziellen Denkmalschutzverordnung (Promoción Especial de Protección Patrimonial, PEPP) werden in Recoleta alle vor 1941 errichteten Gebäude einem provisorischen Schutz unterstellt. Das von Basta de Demoler angeregte und der Abgeordneten Teresa Anchorena (Coalición Cívica) erarbeitete Gesetz soll so lange gelten, bis eine vollständige Katalogisierung schützenswerter Gebäude erfolgt ist.

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Es beinhaltet, dass im Fall einer geplanten Baumaßnahme, die den Abriss eines vor 1941 errichteten Gebäudes erfordert, der Beirat für Denkmalbelange (CAAP) darüber entscheidet, ob das Objekt schützenswert ist. Für den Denkmalschutz gibt es zwei Kategorien: den Schutz der Fassade oder den Schutz des gesamten Gebäudes. In Barracas gründet sich die Initiative Proteger Barracas und beginnt eine Änderung des Planungsgesetzes zu erarbeiten, um die Gebäudehöhe von 30 Häuserblocks (manzanas) zu reduzieren und 80 Gebäude unter Schutz zu stellen. 2008 [22.05.2008] Bürger*inneninitiativen erreichen mit einer Modifikation des CPU, dass die Gebäudehöhe in Teilen von Caballito weitgehend auf drei Stockwerke begrenzt wird (insgesamt ca. 80 Häuserblocks) (vgl. Abbildung 9). Bevor die zugrunde liegenden Gesetze am 1. Juli 2008 in Kraft treten, wird noch ein Einkaufszentrum der Gruppe IRSA bewilligt, gegen das seitdem protestiert wird. Der Hochhausbau setzt sich jedoch fort, da vor Inkrafttreten der Gesetze noch zahlreiche Bauerlaubnisse erteilt wurden. [01.07.2008] Macri legt ein Veto gegen die Gesetze in Caballito ein. Mit 56 von 60 Stimmen lehnen die Abgeordneten, darunter viele Mitglieder der PRO, das Veto ab (Novillo 2008). Basta de Demoler erreicht, unterstützt durch andere Organisationen, anhand eines Schutzerlasses im Oktober die Bewahrung der historischen Straße Defensa in der Altstadt San Telmo, die in eine Fußgängerzone umgewandelt werden sollte. Der Raumordnungsplan für Buenos Aires Plan Urbano Ambiental (PUA) tritt in Kraft. Dieser fordert unter anderem eine Aktualisierung des CPU. Im Dezember wird die Denkmalschutzverordnung (PEPP) um sechs Monate verlängert. 2009-2010 [04/2009] Auf Initiative des städtischen Abgeordneten Patricio Di Stefano (PRO) wird die PEPP auf ganz Buenos Aires ausgeweitet und bis einschließlich 2011 jährlich erneuert. In der Verteidigung des Volkes (Defensoria del Pueblo) der Stadt Buenos Aires wird 2009 eine Abteilung geschaffen, die sich mit dem urbanen Erbe befasst. [06/2010] Auch in Teilen von Villa Pueyrredón wird die Gebäudehöhe gesetzlich begrenzt. Allerdings werden vor Inkrafttreten des Gesetzes, wie in Caballito, noch zahlreiche Bauerlaubnisse erteilt. [08/2010] Im Stadtteil Villa Urquiza stürzt ein Fitnessstudio ein, da der Aushub für ein Wohnprojekt auf einem benachbarten Grundstück das Fundament beschädigt. Drei Personen, die sich im Fitnessstudio befanden, sterben (Castro 2010). [03.09.2010] Die Initiative Salvar a Floresta erreicht, dass Teile von Floresta als APH (Area de Patrimonio Histórico) unter Denkmalschutz gestellt werden.

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Phase III: Professionalisierung – Fortschritte und Rückschläge 2011 [5/2011] In Santa Rita erreichen Bürger*innen ein Stopp von im Bau befindlichen Hochhäusern. Im Juli finden in Buenos Aires erstmals Kommunalwahlen statt. Im September erreichen Initiativen in Villa Pueyrredón und Agronomía, dass bereits genehmigte Bauprojekte die beschlossene Begrenzung der Gebäudehöhe einhalten müssen. [04.11.2011] Im Stadtzentrum (Bartolomé Mitre 1232) stürzt ein 10-stöckiges Gebäude mit 100 Wohnungen ein. Eine Person stirbt und hunderte Menschen verlieren ihre Wohnung. Ursache ist der Abriss eines benachbarten Gebäudes. [10.11.2011] In Barracas wird die Gebäudehöhe für 30 Häuserblocks auf zwei Stockwerke reduziert. [12/2011] Die PEPP wird nicht mehr verlängert. Ein richterlicher Schutzerlass erzwingt jedoch, dass das Gesetz so lange gültig bleibt, bis die vollständige Katalogisierung erfolgt ist. 2012-2013 [7/2012] Monica Capano, Leiterin der Kommission für den Schutz des historisch-kulturellen Erbes in Buenos Aires (CPPCH), wird entlassen. [18.07.2012] Die Initiative Proteger Barracas erreicht, dass La Boca, Teile von San Telmo und ein Großteil von Barracas zukünftig nicht mehr Teil des Prioritären Entwicklungsgebietes 1 darstellen. Dieses Gebiet, für das bauliche Sonderkonditionen gelten (vgl. Kapitel 7), verkleinert sich auf die Stadtteile südwestlich der Avenidas San Juan und Entre Ríos. [9/2012] Als juristische Gewalt wird in der Allgemeinen Verteidigung der Stadt die Technische Sondereinheit für Urbanes Erbe (UET) geschaffen, die mit Roberto Gallardo über einen eigenen Verteidiger verfügt. [12/2012] Insbesondere als Reaktion auf das Hochhausprojekt Quartier in San Telmo wird das historische Denkmalschutzgebiet APH 1 südlich von San Telmo ausgeweitet. Konjunkturbedingt geht 2013 die Immobilienentwicklung zurück. Der seit Regierungsantritt der PRO angekündigte neue morphologische CPU liegt zu Jahresende noch nicht vor. Konfliktauslöser Im Unterschied zu den Konflikten in Santiago, die sich um ein Planungsinstrument entfachten, löste in diesem Fall der zu beobachtende Bau von Hochhäusern die Proteste aus. Impulsgebend dafür waren zwei Motive: Wachsende Nachteile für die lokale Lebensqualität durch die Transformation der Stadtquartiere und eine zunehmende Ablehnung des neoliberalen Stadtentwicklungsmodells.

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Symbolische Gentrifizierung durch Hochhausentwicklung Die Anwohner*innen der besonders betroffenen Stadtteile sahen sich von der steigenden Zahl von Hochhäusern zunehmend in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt und fingen 2006 an sich zu mobilisieren. Der erste Widerstand regte sich in Caballito, was sich auf die überdurchschnittliche Bauintensität und einen erheblichen sozioökonomischen Wandel in diesem Stadtteil zurückführen lässt: „Heute wohnt hier eher die obere Mittelschicht. Durch diese Gentrifizierung ist die Diversität in den letzten 25 Jahren verloren gegangen.“ (BP13 54, Sprecher Proto Comuna Caballito) Die Bürger*innen standen diesen Entwicklungen, die sich im Rahmen des geltenden Planungsgesetzes (CPU) bewegen, zunächst weitgehend machtlos gegenüber. Formelle Beteiligungsmöglichkeiten bestehen nur im Fall einer Neuauflage oder Modifikation des CPU (vgl. Kapitel 7). In vielen Interviews mit Bewohner*innen des Viertels zeigte sich, dass die Widerstände meist aus einer Kombination von persönlicher Betroffenheit und sozialräumlichen Veränderungen im barrio hervorgehen. Das folgende Zitat resümiert eine der ersten Reaktionen in Caballito: „Im Inneren des barrios gibt es ein Haus mit Park. Daneben wollen sie ein 10-stöckiges Gebäude hinsetzen. Der Bewohner sagt: [...] Sie werden alles ruinieren, was ich in meinem Leben angespart habe‘. Angestellter einer Chemiefirma, eine normale Familie. Er fängt an, die umliegenden Nachbarn zusammenzutrommeln. ‚Die wollen hier ein Gebäude bauen, wo das höchste Haus in diesem barrio nicht höher als 10m ist. Wieso sollten wir das erlauben?‘ Sie machen ein Cacerolero vor seiner Haustür [...]. Und es kommen ein paar Zeitungen, um zu sehen, worum es geht.“ (BP9 10, Vertreter SOS Caballito)

Das Zitat verweist zunächst auf ökonomischen Folgen, die geplante Neubauten hätten. Der betroffene Anwohner sah aber auch seine bürgerschaftlichen Rechte beeinträchtigt und versuchte diese einzufordern. Dabei stieß er auf ein Umfeld von Anwohner*innen und Medien, die ihn dabei unterstützen. In ähnlicher Weise äußerte sich dieser Architekt aus Barracas, der für eine Mobilisierung von Unterstützer*innen andere Methoden wählte: „Ich habe ein altes Haus, das ich vor 10 Jahren restauriert habe, und eines Tages erfuhr ich, dass das Häuschen nebenan abgerissen werden sollte, um ein 8-stöckiges Gebäude zu errichten. Ich dachte, das ginge nicht, aber doch und mir wurde bewusst, dass man den Código ändern müsste. Das war in etwa der Ursprung. Ich startete einen Blog – „Flaschenpost“ – und merkte, dass er gelesen wurde. Leute kamen dazu, als klar wurde, dass an anderen Orten das Gleiche passierte.“ (BP8 2, Sprecher Proteger Barracas)

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Viele Protestierende im vorliegenden Konfliktfall werden zunächst durch partikulare Interessen zum Handeln bewegt, eine Motivation, die aus postpolitischer Perspektive oft abgelehnt wird (vgl. Swyngedouw 2011). So engagieren sich manche Betroffenen ausschließlich, um gegen den mit einer Verdichtung einhergehenden Wertverlust des eigenen Grundstücks vorzugehen bzw. einen guten Verkaufspreis zu erzielen. Ein Netzwerk interessiert diese somit nur solange, bis das Ziel erreicht ist, wie dieser Sprecher von Proto Comuna Caballito beklagt (BP13 62) (vgl. auch Bracco 2013): „Es gibt Leute, die sagen, ‚ich bin hier, weil, wenn sie mir 100.000 US $ mehr geben, gehen wir. Für 350.000 verkaufe ich nicht, für 450.000 schon.“ Häufig sehen die Anwohner*innen allerdings auch ihre Identität bedroht, die sie mit dem Wohnviertel verbinden. Zum Ausdruck kommt dies insbesondere bei der Vermarktung von sogenannten „Gartentürmen“ (Welch Guerra/Valentini 2005), also luxuriösen, bewachten Wohnhochhäusern, die beispielsweise damit werben, dass dadurch „ein neues Caballito geschaffen wird“ (La Nación 2007) (vgl. auch Centner 2012; Dohnke/Hölzl 2015). Bei dieser symbolischen Gentrifizierung (vgl. Colomb 2012: 290) spielen – wie das folgende Zitat zeigt – kulturelle Unterschiede eine zentrale Rolle: „Es gibt eine urbanistische Dimension. Aber da ist auch eine kulturelle, die damit zu tun hat, in welchem barrio man leben will, der Aufwand, den man betrieben hat, um dieses Haus zu bekommen. Ein Klassenkonflikt, der damit zu tun hat, welches Bild die alteingesessenen Bewohner von diesen neuen Bewohnern der Hochhäuser haben. Das scheinen Neureiche mit einer US-amerikanischen Ästhetik zu sein, im Unterschied zu der europäischen Ästhetik des Caballitos von früher.“ (BP16 3-4, Soziologin IIGG UBA)

Hinzu kommen aber auch ökonomische Unterschiede, wie der folgende Experte betont. Die protestierenden Anwohner*innen verfügen nicht über die Ressourcen, in dieser Lage eine Wohnung zu erstehen. Häufig haben sie ihre Häuser geerbt. Gentrification oder Verdrängung wurde von Interviewten zwar nur vereinzelt thematisiert, aber vielfach beklagten sie den Preisverfall von Grundstücken, wenn nebenan Hochhäuser entstehen. Im Kontext der seit 2003 stark gestiegenen Bodenpreise ist eine Verdrängungsgefahr also naheliegend (vgl. Centner 2012; Baer 2011). „Niemals könnten sie sich diese teuren Wohnungen leisten, die 400.000, 300.000 US$ kosten. Es gibt also auch eine ökonomische Verdrängung. Das ist offensichtlich, diese Leute habe keine wirtschaftliche Macht mehr, da kommen andere mit mehr wirtschaftli-

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cher Macht und die verändern ihre Lebensweise und daraus ergibt sich eine sehr konservative Haltung.“ (BP18 30, Stadtforscher Universidad San Martín)

Widerstand gegen neoliberale Stadtentwicklung Des Weiteren wird die bauliche Verdichtung in engem Zusammenhang mit der neoliberalen Stadtentwicklung von Buenos Aires gesehen. Dabei finden sich zahlreiche Anknüpfungspunkte zwischen der kritisierten Gefährdung des quartiersbezogenen urbanen Erbes und Kritikpunkten im Kontext der Immobilienentwicklung, die in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt sind: Zentrale Themen der öffentlichen Debatte sind 1) schlechte bauliche Qualität, 2) mangelnde Kontrolle der Einhaltung von Regelwerken und 3) Sicherheitsvorkehrungen am Bau. So kam es bei Gebäudeabrissen in den letzten Jahren häufiger zu Gebäudeeinstürzen, bei Unfällen gab es etliche Todesopfer (vgl. Chronologie). Eine gängige Praxis von Immobiliengesellschaften ist, dass diese umgehend Baugenehmigungen beantragen, wenn im Parlament Gesetze zur Modifikation des CPU vorgelegt werden. Auf diese Weise können sehr häufig Projekte in unverändertem Umfang realisiert werden (z.B. in Caballito), da bis zur Bewilligung und Veröffentlichung von Gesetzesmodifikationen teilweise fast ein Jahr vergeht. Diese Spielräume und Lücken der Rechtspraxis nutzen Immobilienunternehmen systematisch, wodurch sich auch eine Dynamisierung von Konflikten und Protesten reproduziert. Diese Widerstände bewirken allerdings zunehmend, dass erteilte Genehmigungen auf gerichtlichen Beschluss in Einklang mit dem modifizierten CPU angepasst werden müssen (z.B. in Villa Pueyrredón). Was die vielfach kritisierten illegalen Gebäudeabrisse angeht, so erfolgen diese häufig nachts unbemerkt von der Öffentlichkeit, was eine zivilgesellschaftliche Intervention erschwert. Die Strafen für nicht genehmigte Abrisse sind vergleichsweise gering und fallen im Kontext der Gewinnperspektive nicht ins Gewicht. Des Weiteren kommt es im Fall von Anzeigen durch Bürger*innen oft zu administrativen Verzögerungen, so dass Abrisserlaubnisse rechtzeitig erteilt werden können. Ähnliches ist für Gebäude zu beobachten, die generisch aber nicht spezifisch geschützt sind. Bevor diese abgerissen werden dürfen, muss das Verfahren vom Beirat für Denkmalbelange (CAAP) genehmigt werden. Tagt dieser jedoch nicht innerhalb einer bestimmten Frist, kann abgerissen werden. Zudem kommt es bei Katalogisierungsprozessen des CAAP nicht selten vor, dass Gebäude unbemerkt beschädigt werden, mit dem Ziel, dass die Unterschutzstellung schließlich unterlassen wird, weil das Gebäude aufgrund seines Zustands nicht mehr erhaltenswert ist. Dieses Vorgehen thematisierten Aktivist*innen und Expert*innen im Interview wiederholt (vgl. auch Bracco 2013).

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P OSITIONALITÄT

UND

R AHMUNGSSTRATEGIEN

Konfliktparteien Die involvierten Akteur*innen konzentrieren sich auf staatlicher und zivilgesellschaftlicher Seite weitgehend auf die städtische Ebene (vgl. Abbildung 7). Die im Mittelpunkt stehenden zivilgesellschaftlichen Initiativen haben sich zunehmend den Schutz des urbanen Erbes als gemeinsames Ziel gesetzt. Zu den bekanntesten und „ältesten“ zählen SOS Caballito, Proto Comuna Caballito, Basta de Demoler, Proteger Barracas und Salvar a Floresta.1 Die Initiativen werden von einigen staatlichen Institutionen unterstützt, wobei die Mitglieder des Stadtparlaments wichtige Ansprechpartner*innen darstellen. Im Parlament gibt es seit 2005 eine Sonderkommission für architektonisches und landschaftliches Erbe (CEPAP), die ab 2011 jedoch lange unbesetzt blieb. Daneben gewann die Kommission für den Schutz des historisch-kulturellen Erbes (CPPHC) in den letzten Jahren an Bedeutung. Zudem befasst sich in der Verteidigung des Volkes seit 2009 eine Abteilung mit urbanem Erbe und Stadtplanung. Innerhalb der Exekutive besitzt neben dem Bürgermeister das Ministerium für Stadtentwicklung eine tragende Rolle, vor allem Stadtentwicklungsminister Chain, Staatssekretär für Planung Lostri und Ledesma, der Generaldirektor für urbanistische Interpretation und Vorsitzender im Beirat für Denkmalbelange (CAAP).2 Für das Verständnis dieses Konfliktfalls ist anzumerken, dass die Stadtregierung eng mit privatwirtschaftlichen Unternehmen und Lobbyverbänden der Bauwirtschaft verflochten ist. Bürger*innenorganisationen schützen urbanes Erbe Die Diskussion der sozialräumlichen Positionalität und der Rahmungen der Bürger*inneninitiativen konzentriert sich auf schon länger bestehende Organisationen, die sich durch ein höheres Aktivitätsniveau abheben. 1 2

Schon länger bestehende Initiativen und Stiftungen wie Fundación Ciudad oder Asociación Amigos del Lago kennzeichnet eine andere Entstehungsgeschichte. Dieser Beirat bestimmt, ob vor 1941 errichtete Objekte unter Denkmalschutz zu stellen sind (Speziellen Denkmalschutzverordnung). Nur im Falle der Unterschutzstellung eines Gebäudes wird das Parlament eingebunden, da damit eine Änderung des städtischen Planungsgesetzes erforderlich wird. Der Beirat setzt sich aus Vertreter*innen vier städtischer Organe zusammen: Kulturministerium, Kommission für den Schutz des historisch-kulturellen Erbes (CPPHC) sowie die Parlamentsausschüsse für Stadtplanung und Denkmalschutz. Zudem besitzen vier Vertreter*innen weiterer Organisationen wie Berufsverbände und Wissenschaft ein Stimmrecht; u.a. SCA und FADU.

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Abbildung 7: Konfliktparteien Hochhausbau in Buenos Aires Staat

Privatwirtschaft

National

International

Zivilgesellschaft

Immobilienentwickler z.B. IRSA

Printmedien & Rundfunk z.B. Página 12, Clarín, La Nación

Lobbys, z.B. Arg. Baukammer, SCA, CPAU, FADU / UBA

Richter Stadt Buenos Aires

Bürgermeister Macri

Regional

Verteidigung des Volks CABA

Ministerium für Stadtentwicklung CPPHC

NGOs, z.B. Basta de Demoler!

Ministerium für Kultur

Stadtparlament

CAAP

CEPAP

Kommission für Stadtplanung Kommission für Kultur

Lokal

Bürger*inneninitiativen, z.B. SOS Caballito

Kommission für öffentlichen Raum

Salvar a Floresta

Proteger Barracas

Sozialräumliche Positionalität Die sozialräumliche Positionalität der Initiativen, die sich gegen die massive Immobilienentwicklung in Buenos Aires einsetzen, zeichnet sich in erster Linie durch eine Identifikation mit der argentinischen Mittelschicht aus. Im Sinne einer kulturellen und politischen Kategorie ist für viele Mitglieder dieser Gruppen ein hoher Bildungsgrad charakteristisch, der oftmals an einer öffentlichen Einrichtung erworben wurde (vgl. Adamovsky 2009) (vgl. Kapitel 7). Das berufliche Spektrum der Aktivist*innen umfasst unter anderem Wissenschaft, Kunst, Design, Architektur, Recht und öffentlichen Dienst. Ein Merkmal der Mittelschicht in Buenos Aires war über lange Zeit eine gewisse Chancengleichheit, in höhere Positionen aufzusteigen. Allerdings haben seit den 1990er Jahren viele Porteños soziale Abstiege erfahren (vgl. Kessler 2002). Die Protestaktionen der Initiativen werden mit einem relativ kleinen Budget realisiert. Viele Aktivist*innen sind lokal verwurzelt, haben vielleicht schon immer im gleichen barrio oder sogar Haus gelebt. Es besteht zudem ein Grundinteresse an Kultur und Politik und ein bürgerschaftliches Rechtsverständnis. So verweist das folgende Zitat auf das kollektive Gedächtnis vieler Aktivist*innen und verdeutlicht zugleich, dass die jüngsten räumlichen Transformationen im Kontext kollektiver Erinnerungen gesehen werden (Diktatur, wiederkehrende Wirt-

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schaftskrisen). Die aktuell erlebten Einschnitte in die lokale Demokratie interpretieren und kontextualisieren sie in spezifischer Weise, was sich in die Konzeptualisierung von Demokratie in Lateinamerika einfügt (vgl. Wehr 2006; Kapitel 3): „Nicht nur einer von uns lebte während der ganzen Diktatur hier. Ich war damals kommunistischer Aktivist, d.h. Du fürchtest um entführte Kameraden, Verschwundene aus dem Viertel. Was wir heute erleben, ist verglichen damit wie Frühling, trotz all der Schwierigkeiten, über die wir gerade sprechen.“ (BP9 101, Vertreter SOS Caballito)

Wesentlich für den Konfliktverlauf ist, dass die betroffenen Stadtteile mit Wohnorten der Mittelschicht verbunden werden. Die „Mittelschicht“ sieht sich also in ihrer räumlichen Lebensweise bedroht, und da es sich hierbei um ein Merkmal nationaler Identifikation handelt, lässt sich die These aufstellen, dass die zunächst lokale Problematik zu einer Thematik von gesellschaftlicher Relevanz wird. In der geteilten Identität besteht ein besonderes Potenzial für die Generierung einer öffentlichen Arena und den Aufbau von Vernetzungen innerhalb und zwischen Stadtteilen. In Caballito treten die öffentlichkeitswirksamen Bedingungen und Strukturen besonders deutlich zutage (Azuela/Cosacov 2013). Der Stadtteil, der sich im geographischen Zentrum befindet, dem Herzen von Buenos Aires also, wird als Inbegriff der argentinischen Mittelschicht verstanden: „Zum Glück versteht sich Caballito als Synthese der Mittelschicht der Stadt Buenos Aires. Ein Problem in Caballito ist also ein Problem der Mittelschicht aus Buenos Aires. Und niemand möchte sich mit der Mittelschicht von Buenos Aires streiten. Das ist unbequem.“ (BP13 50, Sprecher Proto Comuna Caballito)

Dies verdeutlicht die Beständigkeit der symbolischen Raumzuschreibung. An dem konstruierten place wird festgehalten, genauso wie man sich trotz sozialer Aufstiege oder Abstiege weiterhin in der öffentlichen Kommunikation der „Mittelschicht“ zuordnet. Die symbolische Bedeutung von Orten beeinflusst die Sichtbarkeit und damit das Potenzial lokaler Proteste maßgeblich, wie diese Soziologin (BP16 5) hervorhebt: „Es ist nicht unwichtig, ob jemand aus Scalabrini Ortiz und Santa Fe [Straßennamen] in Palermo oder Acoyte und Rivadavia in Caballito ist oder aus La Boca, nein!“ (vgl. auch Azuela/Cosacov 2013). Dies erklärt auch das große Interesse der Printmedien an den Initiativen aus Caballito.3 Hinzu kommt, wie die zitierte Expertin betont, dass ein relevanter 3

Das Medieninteresse hat auch damit zu tun, dass in Caballito erstmals Widerstand gegen Hochhausbau geleistet wurde. 2006 war dies ein gänzlich neues Thema.

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Teil der Leserschaft in Caballito wohnhaft ist. Demnach kommen acht von zehn Clarin-Leser*innen aus der Hauptstadt, wovon sich viele zur Mittelschicht zählen und in Caballito leben. Dabei sei auch daran erinnert, dass Caballito mit circa 180.000 Einwohner*innen der drittgrößte Stadtteil von Buenos Aires ist. In den erfolgreichen Initiativen ballt sich ferner häufig das Expert*innenwissen von Architekt*innen, Jurist*innen oder Planer*innen, das für die Austragung von Konflikten sehr wichtig ist. Dadurch sind die Organisationen in der Lage, die technokratische Planung zu verstehen und über die Legislative oder die Judikative Einfluss auszuüben. Im Rahmen der Widerstände gegen die Immobilienentwicklung greifen die Initiativen auf zwei zentrale Tools zurück: Die Modifizierung des CPU, um an bestimmten Standorten die zulässige Gebäudehöhe zu reduzieren, und die Behinderung von Gebäudeabrissen auf juristischem Wege. Zudem erweist es sich mitunter als Herausforderung für die politischen Funktionäre, diese Expert*innen abzuwehren, wie die folgende Sequenz untermauert: „In den Versammlungen denken die Funktionäre im Allgemeinen, dass sie Dich von einem Sockel herab empfangen und Du bist der dumme Anwohner, der nicht versteht, was sie vorhaben. Sie konzentrieren sich im Grunde darauf, Dir Dinge zu erklären, die sich oft nicht erklären lassen und werden sehr nervös, wenn man ihnen das sagt: ‚Wenn ich Dich richtig verstanden habe, willst Du mir erklären, dass Du vor dem Friedhof in Recoleta einen Behindertenzugang von 7 Mio. Pesos planst, wo Du zudem die Freitreppe aus Carrara-Marmor zerstört hast, die unter nationalem Denkmalschutz steht, weil Du vermeiden wolltest, dass sich davor eine Pfütze bildet? [...]‘. Das hab ich dem Minister für Stadtentwicklung so gesagt. Klar, dahinter steckt ein Geschäft, was weiß ich, aber ‚zerstör nicht das Erbe und verkauf mich nicht für dumm, denn Du zahlst mit meinen Steuern und hast das Öffentliche gut zu verwalten!‘“ (BP12 38, Architekt/Sympathisant Basta de Demoler)

Das Zitat untermauert neben Fachwissen auch die Bedeutung des Auftretens der Bürger*innen und ihres symbolischen Kapitals (Bourdieu 1983). Diese Kapitalien erhöhen die Chance, gehört zu werden und korrespondieren mit dem Selbstverständnis der Bürger*innen. Sie sehen keinen Unterschied zwischen sich als Anwohner*innen und Autoritäten wie dem Stadtentwicklungsminister. Politische Entscheidungsträger*innen werden nicht als absolute Autoritäten empfunden. Da es nicht nur ausschlaggebend ist, über technische Expertise zu verfügen, sondern im Umfeld exkludierender technokratischer Argumentationsmuster (vgl. Rancière 2002) eine höhere Wirkung erzielt wird, wenn diese von Fachleuten geäußert wird, übernehmen in Organisationen wie Basta de Demoler häufig assoziierte Expert*innen das Verfassen von Stellungnahmen und Leserbriefen.

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Hinzu kommt, dass diese Bürger*innen nicht nur mit den politischen Prozessen vertraut sind, sondern oft über konkrete Erfahrungen mit Verwaltungsabläufen und interne Kenntnisse von Institutionen verfügen. Denn unter den Aktivist*innen befinden sich wissenschaftliche Berater*innen von Abgeordneten, die die technischen Details nicht selten besser als die Funktionäre selbst kennen. Sie sind – wie die aktiven Architekten in den Stadtteilen Barracas oder Floresta – also nicht nur ausgewiesene Fachleute und können selbst Pläne und Gesetzesänderungen entwerfen, sondern einige wissen zudem, wie sich eine erfolgreiche Lobbyarbeit im Parlament gestaltet und welche parteibezogenen Befindlichkeiten zu beachten sind. Auf diese Weise konnte in Floresta relativ rasch ein Denkmalschutzgebiet ausgewiesen werden. Das bedeutet letztlich aber auch, dass Bürger*innen eigentlich staatliche Aufgaben ausführen: „Wir setzten uns mit den Leuten der APH der Stadtregierung in Verbindung, überreichten eine Menge Arbeit, die wir gemacht hatten, Fotoaufnahmen von jedem Haus, alle Daten und das erleichterte das Prozedere enorm.“ (BP8 11, Sprecher Proteger Barracas) Aber auch wenn all diese Fähigkeiten vorhanden sind, handelt es sich um einen langwierigen Prozess, das städitsche Planungsgesetz CPU zu modifizieren. Liegen nicht alle Faktoren vor, insbesondere die erwähnten institutionellen Kenntnisse, ist es wahrscheinlich, dass die Bestrebungen scheitern – z.B. wenn ein Gesetzesvorschlag nicht innerhalb von zwei Jahren behandelt wird – oder sich, wie in Barracas, die Verhandlungen sehr lange hinziehen. Schließlich verfügen die Initiativen aufgrund der Professionalisierungen vieler Mitglieder und nachbarschaftlicher Kontakte über sehr effiziente lose Kontakte, zum Beispiel zu Abgeordneten, die Gesetze vorschlagen können, oder zu Zeitungen und dem Fernsehen. Diverse Initiativen berichteten, wie erste Medienkontakte vor allem durch den privaten Bekanntenkreis entstanden sind. Daneben äußern sich die Mitglieder der Initiativen natürlich selbst in Printmedien oder eigenen Radioprogrammen. Außerdem wird zur Streuung von Informationen und zum gegenseitigen Austausch intensiv von sozialen Netzwerken Gebrauch gemacht (Email-Verteiler, Blogs, Webseiten, Facebook, Youtube, Twitter). Die Aktivist*innen greifen ferner auf ein für die Mittelschicht charakteristisches Protestrepertoire zurück (Visacovsky 2009). Meist gehen dem Eingriff in die Gesetzgebung und das Rechtswesen Mobilisierungen im öffentlichen und/ oder virtuellen Raum voraus (oder finden parallel statt), um zunächst die nötige Aufmerksamkeit zu erlangen. In diesem Zusammenhang legen die Akteur*innen darauf Wert, dass sich die Protestaktionen in einem formell anerkannten Rahmen bewegen. Dabei scheinen im kollektiven Gedächtnis dieser Mittelschichten jedoch auch die Mobilisierungen der Asambleas (Stadtteilversammlungen) während und nach der Wirtschaftskrise 2001 verankert zu sein. Politisch identifiziert

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man sich mit den Asambleas zwar weniger, aber ihr Handlungsrepertoire stellt für viele Initiativen eine wichtige Orientierung dar (vgl. auch Bracco 2013). Unter anderem werden Demonstrationen, Unterschriftenaktionen und partielle Straßenblockaden organisiert, wobei man tunlichst darauf achtet, öffentliche Verärgerung zu vermeiden. Ein letzter Punkt ist relevant: Die Initiativen verfügen zwar über vielversprechende Voraussetzungen, aber sie sehen sich, ähnlich wie in Vitacura, mit äußerst einflussreichen ökonomischen Kräften konfrontiert (vgl. Cerrutti/Grimson 2005; Cohen/Gutman 2007), was in Interviews stets betont wurde: „Wir haben Anwälte mit Konsultationen beauftragt und sie haben uns gesagt, ‚Ihr kämpft gegen die Größten, die es gibt, Ihr könnt Euch nicht mit der ökonomischen und politischen Macht anlegen, und ich als Anwalt, eine Klage, kümmert Euch selbst, sucht Euch einen anderen‘.“ (BP9 113, Vertreter SOS Caballito)

Rahmungen Die Rahmungen der Anti-Hochhaus-Initiativen kritisieren, dass die Immobilienspekulation ausschließlich die Interessen einer kleinen Elite bedient und betonen das bürgerschaftliche Recht auf Mitsprache und lokale Identität. Tabelle 12: Frames Bürger*innenorganisationen Rahmungsstrategie Rahmungen und Storylines

Zentrale Rahmung

Wir entscheiden, wie unser barrio aussehen soll. • Die Hochhäuser rauben uns die Sonne. (a) • Es geht nur um wirtschaftliche Interessen. (b)  Es gibt gar keinen Wohnungsbedarf.  Verdacht auf Korruption / Misstrauen in die Regierung.  Die Qualität der Architektur ist mangelhaft. • Das urbane Erbe und die Identität der barrios werden zerstört. (c) • Durch die Hochhäuser werden die Infrastrukturnetze überlastet. (d) Lokale Identität und Lebensqualität müssen bewahrt werden.

Zunächst adressierten viele Initiativen die durch den Bau von Hochhäusern empfundene individuelle Beeinträchtigung, insbesondere die Minderung von Sonneneinstrahlung und Grünflächen (a). Einem Slogan gleicht der Wunsch nach „mehr Sonne, mehr Platz, mehr Grün“ (vgl. Abbildung 8). Diese Forderung wird häufig von gemeinsamen kulturellen Bezügen (z.B. Literatur und Tango) begleitet, die bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Thematisierung urba-

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ner Dynamiken dienten. Im weiteren Verlauf fällt auf, wie Initiativen über Partikularinteressen hinaus gehende Rahmungen prägten. So wird des Weiteren kritisiert, dass ausschließlich wirtschaftliche Interessen im Vordergrund der Stadtentwicklung stünden, die durch enge politisch-ökonomische Koalitionen, insbesondere der Exekutive, Bauunternehmen und Lobbygruppen des Bausektors, vorangetrieben würden (b). Der öffentliche Nutzen für die städtische Bevölkerung sei hingegen nachgeordnet. In diesem Zuge erfolgt auch ein expertisierendes Counter-Framing des von der Stadtregierung betonten Wohnungsbedarfs in Buenos Aires: Der Wohnungsbau richte sich nicht an die Bevölkerungssegmente, die Wohnungen brauchten, sondern die Investitionen konzentrierten sich auf Luxussegmente; zudem stehe ein Großteil der Neubauten leer. Aufgrund der Wertsteigerungen seien die Eigentümer*innen nicht einmal zur Vermietung genötigt. Genauso wird in diesem Zusammenhang auf den hohen Bedarf an Sozialwohnungen hingewiesen: „Du besetzt Raum, den eine Menge Leute brauchen, und ziehst städtische Produktionskraft auf Dinge ab, die keinen Sinn machen. Das emblematische Beispiel ist Puerto Madero. 70% dort ist leer, die Wohnungen sind verkauft, aber niemand wohnt dort. Und in Caballito stehen 30, 40% der Wohnungen leer. Deswegen ist die Infrastruktur nicht zusammengebrochen, wie wir angekündigt haben, denn die Leute kamen nie.“ (BP13 29, Sprecher Proto Comuna Caballito)

Damit wird der Vorwurf revidiert, ausschließlich partikulare Interessen zu verfolgen. Stattdessen hinterfragen die Aktivist*innen universeller den tatsächlichen volkswirtschaftlichen Mehrwert des gegenwärtigen Stadtentwicklungsmodells, wie dieser Auszug aus der Tageszeitung Tiempo Argentino veranschaulicht: „‚Wenn es ihnen nicht gefällt, sollen sie doch in ein Country [~ suburbane Gated Community] ziehen. Sie sind gegen den Fortschritt.’ So argumentieren die Unternehmen. ‚Es wird Arbeit geschaffen‘ ist ein weiteres Argument, obwohl für ein Hochhaus die gleiche Anzahl von Arbeitern beschäftigt wird wie für ein Haus mit drei Stockwerken. Und außerdem halten sich diese Raubtiere nicht an die Sozialgesetze.“ (Livingston 2010)

Zudem werden immer wieder Vorwürfe von Korruption und Vetternwirtschaft zwischen Stadtregierung und Immobilienwirtschaft laut. Ein konkreter Vorwurf der Initiativen gegenüber politischen Entscheidungsträger*innen lautet, dass sich diese weniger „der Anwendung der Gesetze“ verpflichtet sähen, sondern sie deren Missbrauch zugunsten der Immobilienwirtschaft unterstützten. Die Debatte wird auch von der medialen Berichterstattung über das urbane Erbe in Buenos

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Aires ironisierend aufgegriffen, etwa mit Verweis auf die „Kreativität“ der Stadtregierung, „Irregularitäten rein zu waschen und neue Bauten zu erlauben“ (Kiernan 2013). Auf diese Weise wird Misstrauen gegenüber der Regierung zum Ausdruck gebracht und das Thema lässt sich an ein weiteres Feld anschließen, nämlich den verantwortungsvollen Umgang mit öffentlichen Mitteln und die generelle Vision der Stadtentwicklung in der Hauptstadt. In diesem Kontext wird unter Verwendung von Storylines wie Durlock-Gebäude oder „casa de zapato“ 4 auch auf die einfältige Architektur oder sogar qualitativ mangelhafte Bauweise hingewiesen. Dieses Argumentationsmuster lässt sich durch die Vorfälle von Gebäudeeinstürzen in jüngster Vergangenheit untermauern. Die Einstürze haben sich als öffentlich nachvollziehbare Symbole für eine profitorientierte Kommodifizierung des Wohnungsbaus etabliert. Außerdem wird die Zerstörung von architektonischem bzw. urbanem Erbe in der Stadt kritisiert und dessen Schutz gefordert (c) (vgl. Foto 4). Gebräuchlich ist eine über ein architektonisches Verständnis hinausgehende Definition von urbanem Erbe, die Faktoren wie Lebensqualität und die historische urbane Struktur einschließt, wie eine Soziologin im Interview erläuterte. Im Mittelpunkt steht weniger, ob ein abrissbedrohtes Haus schützenswert ist, sondern Hochhausbau zu vermeiden. Denn sie verbinden Erbe im Stadtteil mit einer bestimmten Lebensqualität: „Das hat nicht zwingend damit zu tun, dass ein Haus von 1800 ist, sondern damit, eine bestimmte urbane Struktur zu respektieren, die mit dem Aufkommen der Hochhäuser aufgebrochen wird.“ (BP15 13) Die Hervorhebung von lokalen Besonderheiten der Stadtteile (z.B. durch Fotos von zu bewahrenden Gebäuden, die ausgestellt werden oder im Internet einzusehen sind) trägt dabei zur Schaffung neuer places bei. Damit rückt auch das durch die Verfassung legitimierte diffuse Recht auf den Schutz von Identitäten in den Mittelpunkt: „Wenn sie mir dieses Umfeld, diese Referenzpunkte, die Sicht entreißen, werde ich eine andere Person sein. Und wir werden eine andere Gesellschaft als früher werden.“ (BP13 6, Sprecher Proto Comuna Caballito)

Dabei wird auch versucht, über leere Signifikanten neue Bedeutungszuschreibungen zu fixieren. Die Initiativen streben an, das Argument des von Stadtregierung und Immobilienwirtschaft umworbenen „Fortschritts“, der durch das von den Initiativen angestrebte „Einfrieren“ der Wirtschaft gefährdet sei, aufzubre4

Durlock ist der marktführende argentinische Hersteller von Gipsplatten; „Casa de zapato“ („Schuhhäuser“) ist eine Abwandlung von „caja de zapato“ (Schuhkarton).

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chen. Im Counter-Framing wird Fortschritt mit Elementen verknüpft, die sich auf ein Mehr an sozialer, baulicher und ökologischer Qualität und damit auf alternative ökonomische Perspektiven beziehen: „Das ist ein ideologischer Streit, denn Fortschritt heißt nicht ‚höher und mehr Zement‘, Fortschritt ist mehr grün, mehr Licht, mehr Luft, mehr Lebensqualität. Das sind entgegengesetzte Konzepte.“ (BP9 90,Vertreter Vertreter SOS Caballito)

Schließlich platzierten insbesondere Anwohner*innen aus Caballito die steigende Umweltbelastung durch die Überlastung der technischen Infrastruktur (Wasserversorgung, Energie und Straßen) in der Öffentlichkeit (vgl. Abbildung 8) (d). Die umweltbezogene rechtliche Argumentation der dortigen Initiativen war auch für die Urteile der Richter ausschlaggebend (vgl. Chronologie). Dieses Framing wurde durch Aktivitäten wie die Teilnahme an einer großen Demonstration ländlicher und städtischer Umweltorganisationen gegen die Umweltzerstörungen in Argentinien durch Bergbau und Sojaproduktion (2007) untermauert. Damit erreichten die Anwohner*innen, ihre territorialen Forderungen in einem allgemeineren Feld zu platzieren, was sich in die Logik der Verschränkung von universalen und partikularen Anliegen einfügt (vgl. Laclau 2005). Seitdem wurde dieses Umwelt-Framing von diversen anderen Initiativen übernommen. Bei der öffentlichen Verankerung der zentralen Rahmung, „die lokale Identität und Lebensqualität zu bewahren“ zeigt sich, dass die Initiativen in Übereinstimmung mit den Charakteristika ihrer Stadtteile geeignete Rahmungen befördern.5 Während sich im relativ dicht besiedelten Caballito, das unter Verkehrsproblemen und mangelnden Grünflächen leidet, sehr gut mit „Umwelt- und Infrastrukturbelastung“ argumentieren lässt, erzielten die Anwohner*innen von Recoleta oder Barracas mit dem „urbanen Erbe“ mehr Aufmerksamkeit. Die Rahmungsstrategie um eine politische Teihabe verdeutlicht, dass die Initiativen teilweise in partikularen Forderungen verhaftet bleiben, aber auch versuchen, mit einem universelleren Anspruch die vorherrschenden Logiken der Stadtpolitik aufzubrechen.

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Der gezielt strategische Einsatz solcher Argumente lässt sich anhand von Salvar a Floresta demonstrieren. Die Initiative „änderte die Methode“, wie ein Sprecher erläuterte, und fing an, das „urbanes Erbe“ als Frame zu verwenden. Dies geschah, da man wenig gegen die eigentliche Problematik in Floresta (wachsende informelle gewerbliche Nutzung von Wohngebäuden, v.a. als Nähwerkstätten) ausrichten kann.

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Abbildung 8: Flyer SOS Caballito

Foto 4: Festival SOS Caballito 2010

Quelle: SOS Caballito 2006

Quelle und freundliche Genehmigung: SOS Caballito 2010

Rahmungen der öffentlichen Unterstützer*innen In diesem Konfliktfall fällt auf, dass die Initiativen auf eine Reihe von unterstützenden staatlichen Interlokutoren des Parlaments, der Verteidigung des Volks6 und der CPPHC7 zählen können. Auch wenn die Verteidigung des Volks und die CPPHC keine politischen Entscheidungsbefugnisse haben, konnten sie in der Vergangenheit nennenswerte Erfolge erzielen. Ferner sind viele Abgeordnete im Stadtparlament motiviert, sich für Belange des urbanen Erbes einzusetzen. Da sich dieses Thema keinem politischen Spektrum zuordnen lässt und innerhalb

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Der stellvertretende Verteidiger des Volkes setzt sich für die Beförderung von Bürgerschaft ein und unterstützt deren räumliche Identifizierung; z.B. durch Aufrufe zum Erhalt historischer Gebäude, Cafés und Kinos. Auf diese Weise soll in barrios mehr soziales Interesse und Selbstverantwortung etabliert werden. Unter der Leitung von Monica Capano erhöhte sich die Bedeutung der CPPHC, eine gemischte Kommission der städtischen Legislative und Exekutive für den Schutz des historisch-kulturellen Erbes. Dies ist sowohl auf ihre beratende Funktion zurückzuführen (z.B. bei der Begutachtung von parlamentarischen Gesetzesvorschlägen), als auch auf ihren Sitz in der CAAP. Auf diese Weise wurden Abrisse gebremst, und wichtige Informationen öffentlich diskutiert.

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der Parteien – inkl. der unternehmensnahen PRO – unterschiedliche Lager bestehen, können Bürger*inneninitiativen, die eine pragmatische Lobbyarbeit betreiben, überall Unterstützung finden. In der städtischen Öffentlichkeit ist das urbane Erbe, im Unterschied zur Wohnungsnot, ein positiv besetztes Thema (bzw. Signifikant), zum Beispiel im Kontext von Tourismus und Altstadtquartieren (vgl. Carman 2006; Kanai 2011). Werden Gesetze erlassen oder Gebäude unter Schutz gestellt, schmücken sich die Initiator*innen und Gesetzesautor*innen im Parlament mit den Errungenschaften und finden in den Medien entsprechend Erwähnung. Hier haben sich also einflussreiche Synergien entwickelt, wodurch bereits einige Veränderungen erwirkt wurden. Tabelle 13: Frames der öffentlichen Unterstützer*innen Rahmungsstrategie Rahmungen und Storylines

Zentrale Rahmung

Stadtentwicklung unter Mitbestimmung der Bürger*innen Stadtentwicklung soll der Öffentlichkeit und nicht der Privatwirtschaft dienen. (a)  Die Regierung verfolgt einen doppelten Diskurs.  Infrastrukturkosten werden sozialisiert.  „Bauen schafft Arbeitsplätze“ ist nicht mehr zeitgemäß. • Die Identität der barrios und die Bedürfnisse der Bürger*innen sind zu berücksichtigen. (b) • Wir brauchen eine ökologisch und ökonomisch nachhaltige Stadtentwicklung. (c)  Gebäudeabrisse verschmutzen die Umwelt.  Das urbane Erbe lockt Touristen an. Die Zerstörung von urbanem Erbe ist nicht nachhaltig.



Die Rahmungen dieser Akteur*innen, die als Interlokutor*innen die Kanalisierung der Thematik übernehmen, decken sich weitgehend mit denen der Bürger*inneninitiativen. Zunächst wird ebenfalls das unternehmensfreundliche Agieren der Regierung kritisiert (a) und auf den „doppelten Diskurs“ der Regierung verwiesen. Generell wird die Umsetzung des Raumordnungsplans (PUA) gefordert, der empfiehlt, den Charakter der barrios zu bewahren und anhand eines neuen „morphologischen“ Stadtplanungsgesetzes (CPU) die Stadtentwicklung stärker zu regulieren. Ein neues CPU würde nicht nur gestatten, die Identität der barrios zu schützen, sondern auch die räumliche „Kontrolle“ durch die Bürgerschaft erleichtern. Die mit Regierungsantritt versprochene Neuauflage des CPU liegt immer noch nicht vor (vgl. Kapitel 7). Des Weiteren wird die von den Bürger*innen kritisierte Missachtung der Infrastruktur aufgegriffen und die Sozialisierung der Kosten für technische Infrastrukturnetze durch Hochhausprojekte beanstandet. Auch innerhalb der konservativen PRO finden sich Abgeordnete, die die deregulierte Planung kritisieren und das von den politisch-ökonomischen Interessenkoalitionen proklamierte Argument der Schaffung von Arbeitsplätzen durch die Bauwirtschaft als nicht mehr zeitgemäß ablehnen: „Die Idee, dass Ar-

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beit generiert wird, indem man Gebäude abreißt und neue Gebäude baut, ist sehr 60er, nicht nachhaltig, überhaupt nicht.“ (BP 7 13, Abgeordneter PRO) In den Rahmungen erfolgt also eine Verrechtlichung und Expertisierung. Des Weiteren betonen die Institutionen aus einer gesamtstädtischen Perspektive die Bewahrung der verschiedenen Identitäten der barrios (b), worauf die Bürger*innen ein Recht hätten, und treiben die Ausweitung des Verständnisses von urbanem Erbe gezielt voran. Diese Identität wird mit Lebensqualität gleichgesetzt, die durch die intensive Immobilienentwicklung gefährdet sei. Dadurch wird die ästhetisierende Rahmung für unterschiedliche Fragen dienlich, was erleichtert, auch den Abriss von nicht schützenswerten Gebäuden zu verbieten (vgl. auch Bracco 2013). „Wenn auf einer Brachfläche ein Hochhaus mit 60 Stockwerken inmitten von zweistöckigen Häusern gebaut wird, dann schädigen sie das Erbe des barrios, finden wir. Wir integrieren eine stärker morphologische und urbanistische Vision, es geht nicht nur um Historisches, Künstlerisches oder den architektonischen Stil.“ (BP11 30, Stellv. Verteidiger, Verteidigung des Volkes, CABA)

Schließlich wird für alternative ökonomische und ökologische Ansätze plädiert und die mangelnde Nachhaltigkeit der gegenwärtigen Stadtentwicklung in Buenos Aires kritisiert (c). Dabei wird eine neue ökonomische Anschlussfähigkeit konstruiert: „Der Abriss ist zentral für die Umweltverschmutzung, Materialien werden transportiert, Straßen gehen kaputt, Bäume werden zerstört.“ „Urbanes Erbe ist eine touristische und kulturelle Ressource, sie muss nachhaltig sein. Deswegen vertreten wir nicht die Ansicht eines ‚eingefrorenen‘ Erbes.“ (BP10 5; 41, Leiterin CPPHC, CABA) Insgesamt fordern die Interlokutoren eine stärkere Mitsprache der Bürger*innen in der Stadtentwicklung. Dies wird mit dem sich wandelnden, nichtessentialisierbaren Verständnis von Erbe begründet: „Wir verstehen Erbe heute als eine soziale Konstruktion und dadurch ist die Partizipation der Leute, die sich darauf beziehen und durch deren Aneignung es sich rekonstruiert, fundamental. Aber diese Sichtweise beißt sich mit der früheren, die die Experten immer noch haben.“ (BP10 2, Leiterin CPPHC, CABA). Außerdem zeichnet sich zunehmend ab, wie sich das urbane Erbe als gemeinsames Dach oder „Artikulation“ (vgl. Laclau/ Mouffe 2012), als strategischer Bezugspunkt für die Auseinandersetzung eignet. Dabei wird deutlich, dass die Gruppen – letzlich alle Expert*innen – um die Definitionsmacht des Erbes ringen. Die zentrale Rahmung dieser Gruppe ist, „dass alternative Stadtentwicklungsmodelle mit einem ganzheitlichen Ansatz verfolgt werden müssen“.

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Rahmungen der Stadtregierung und Bauwirtschaft Die Rahmungen von Stadtregierung und ökonomischen Stadtentwicklungsakteur*innen betonen übereinstimmend das Prinzip eines unbeschränkten Markts, wie dieses Zitat auf den Punkt bringt: „Auf die Nachfrage folgt die Befriedigung der Nachfrage, also wird weiter gebaut und es macht überhaupt keinen Sinn, das einzuschränken.“ (BP20 92, Berater PRO im Parlament, CABA) Tabelle 14: Frames von Stadtregierung und Bauwirtschaft Rahmungsstrategie Rahmungen und Storylines

Zentrale Rahmung

Die Regierung ist demokratisch legitimiert und entscheidet. • In Buenos Aires werden Wohnungen gebraucht. (a) • Der Wohnungsbau schafft Arbeitsplätze. (b) • Wer ein Haus haben will, muss in ein Country ziehen. (c) • Das sind nur politische Gründe. (d)  Wir haben ein Planungsgesetz, die Konflikte sind überflüssig.  So viele Hochhäuser gibt es gar nicht. / Natürlich reicht die Infrastruktur aus. • Bald wird es ein neues Planungsgesetz geben. (e) Der Markt reguliert Angebot und Nachfrage.

Eine bedeutende Rahmung, die platziert wird, ist der dringende Bedarf an Wohnungen in der Hauptstadt. (a) Die Referenz Wohnungskrise ist dabei als Storyline zu interpretieren. „Warum sollen wird keine Hochhäuser mehr entwickeln? Weil es das Gesetzbuch sagt oder nur weil es den Anwohner daneben stört? Wenn die Stadt eine Wohnungskrise hat und mehr Wohnungen entwickeln muss, wo werde ich das tun, wenn sie wollen, dass alles geschützt wird?“ (BP19 6, Abgeordnete PRO, CABA)

Damit korrespondierend wird im Namen des öffentlichen Interesses auf die Schaffung von Arbeitsplätzen durch die Bauwirtschaft als „Motor der Industrie“ verwiesen. (b) Dies betonte zum Beispiel Hugo Mennella, Präsident der Argentinischen Immobilienkammer (CIA), als ein Gerichtsbeschluss 2006 ein temporäres Baustopp in mehreren Stadtteilen bewirkte (s. Chronologie); eine Entscheidung, auf die der mächtige Immobiliensektor, der erstmals eine solche Beschneidung seiner Macht durch die Zivilgesellschaft erlebte, erbost reagierte (vgl. auch Ciccolella/Mignaqui 2008). „Die Bauwirtschaft ist einer der Motoren unserer Wirtschaft [...]. Aus diesem Grund erachten wir dieses Dekret für unangebracht, denn der Markt reagiert immer sensibler auf

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solche Maßnahmen, die die Furcht unter den Investoren schüren und die Rechtssicherheit ernsthaft gefährden.“ (La Nación 2006)

Mit dieser Rahmung wird versucht, die Kritik an einer mangelnden Regulierung der Planung zu delegitimieren (vgl. dazu Crot 2006). Schließlich sei es der Bauwirtschaft zu verdanken, dass sich das Land schnell von der Wirtschaftskrise erholen konnte. Auch im Zuge jüngerer Gerichtsbeschlüsse wird deutlich, dass man einem lästigen Gegner gegenübersteht, der an Einfluss gewonnen hat und die Geschäfte stört: „Im barrio Villa Pueyrredón hat ein Richter 15 Bauvorhaben gestoppt. Wenn Du dieses Paradigma fortsetzt, wirst Du gar nichts mehr bauen. Es wurden bereits 20 Bauprojekte in der Stadt gestoppt.“ (BP2 58, Leiter der Planung, Ministerium für Stadtentwicklung) Des Weiteren wird der Forderung zivilgesellschaftlicher Organisationen, lokale Identitäten zu bewahren, folgendes Counter-Framing entgegen gebracht: Wer in einem Haus leben will, müsse in ein Country ziehen. (c) Das Framing der Bürger*innen wird also auf ein objektives, egoistisches NIMBY-Interesse reduziert, wie dieses Zitat des Leiters der Planung, Ministerium für Stadtentwicklung, illustriert: „Schau, ich hab viel Stadtsoziologie studiert, und dies bezeichnet man als Urbanen Egoismus.“ (BP2 56) Ebenso äußerte sich ein Abgeordneter der PRO (BP19 25): „Das sind Leute, die in Buenos Aires leben wollen, aber mit der Struktur und den Steuern eines Country der Provinz Buenos Aires.“ Mit Bemerkungen wie „eine Stadt voller Einfamilienhäuser“ wird das NIMBY-Argument auch von interviewten Stadtplanungsexpert*innen geteilt. Hierbei schwingt auch das postpolitische Argument der „Unabwendbarkeit des Fortschritts“ mit (vgl. Žižek 2010).8 Anstatt die eigenen (Un-)Fähigkeiten zu hinterfragen, wird – wie im Fall Peñalolén – die Kritik auf die Bürger*innen zurückgeworfen. Mit Erfolg, denn Initiativen wie Proteger Barracas sehen sich oft mit der Kritik konfrontiert, man habe sich nur um ausgewählte Quartiere gekümmert. Ähnlich wie im Fall Vitacura wird darüber hinaus die Debatte als solche abgelehnt und damit der Konflikt an sich delegitimiert: Es gehe gar nicht um Hochhäuser, sondern um politische Gründe. (d) Die Initiativen oder „die Industrie der Schutzerlässe“, wie die Leiterin des parlamentarischen Stadtplanungsausschusses bemerkte, nutzten das Thema nur, um die Regierung schlecht zu machen. Dieses Framing wird davon begleitet, dass Bürger*inneninitiativen durch die

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Ein Interview mit einer Stadtplanerin der FADU offenbarte zudem, dass es auf wenig Verständnis seitens der technokratischen Stadtplanung stößt, urbanes Erbe über den architektonischen Wert hinaus zu definieren. Es zeichnet sich also ein Disput über die Definitionsmacht von Stadtentwicklung und städtebaulicher Ästhetik ab.

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willkürliche Zuordnung zum Kirchnerismus politisch eingefärbt werden und man eine konfliktoffene Verhandlung unterbindet: „Da Macri eine alternative politische Macht zur Zentralregierung sein könnte, sind die Pole [Macrismus und Kirchnerismus] mehr als entgegengesetzt. In diesem Kontext musst Du den Konflikt um das urbane Erbe sehen. Das ist ganz klar ein politisches Thema, sonst nichts. [...] Man muss die Regeln des Konflikts verstehen: Wenn der CPU 10 Stockwerke erlaubt und es gibt einen Konflikt, dann macht das eigentlich keinen Sinn.“ (BP20 11; 28, Berater PRO im Parlament, CABA)

In diesem Sinne verweisen die Medien auch auf wissenschaftliche Studien, die belegen, dass der diskutierte Hochhausboom in Buenos Aires in Wahrheit ein „Mythos“ (Sánchez 2010) sei. In solchen Zusammenhängen fällt auf, dass mit dem projektierten Planungsgesetz stets eine konsensuelle Lösung platziert wird. (e) Im Mittelpunkt des Framing der Stadtregierung steht die liberale Auffassung einer zyklischen Stadtentwicklung: „Eingreifen wird nicht als erforderlich erachtet, da der Markt Angebot und Nachfrage reguliert.“ Ein planerisches Leitbild liegt für die projektbasierte Stadtentwicklung in Buenos Aires nur begrenzt vor. Insgesamt fällt auf, dass in den Rahmungen eine starke Moralisierung vorherrscht. Selbst eine Expertisierung des Framings ist äußerst vage. Stattdessen werden fachliche Einwände, z.B. mit Verweis auf eine Politisierung, abgewehrt. Denn – so lässt sich die Rahmungsstrategie resümieren – „die Stadtregierung ist demokratisch legitimiert; ihr obliegt die Entscheidungsmacht“. Diese für populistische Regierungen charakteristische Haltung (vgl. Peruzzotti 2008; Kapitel 3), äußerte sich seit der klaren Wiederwahl Macris 2011 umso deutlicher, denn diese zeigte – so die Argumentation –, dass die Bevölkerung voll und ganz hinter der Regierung stehe. Der Streit um die Denkmalschutzverordnung (PEPP), die laut einem Sprecher der PRO zufolge „schon zu oft erneuert“ wurde (Kiernan 2011) und über dessen Ende mit Entschiedenheit verfügt wurde, belegt die Ablehnung von zivilgesellschaftlicher Mitsprache – jenseits von Wahlen – in besonderer Weise und demonstriert die autoritäre Sichtweise der Stadtregierung.

R AUMBEZOGENE

POLITISCHE

W IRKUNGEN

Inwieweit haben sich die Konflikte um Hochhausentwicklung und das urbane Erbe nun über die lokalen Auseinandersetzungen hinaus politisch ausgewirkt? Die Gegenüberstellung der Rahmungen der Parteien erlaubt, zwei Diskurskoali-

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Diskurspraktiken

Masterframes

Umgang mit Konflikt: kurz-/längerfristig

Konfliktursache

Tabelle 15: Hochhausbau in Buenos Aires – Diskursdynamiken und -praktiken Bürger*inneninitiativen Die Hochhäuser rauben uns die Sonne.

Unterstützer*innen der Initiativen

Es geht nur um wirtschaftliche Interessen. Es gibt gar keinen Wohnungsbedarf.

Stadtentwicklung zum Wohle der Öffentlichkeit statt privatwirtschaftlicher Koalitionen. Infrastrukturkosten werden sozialisiert. Doppelter Diskurs der Regierung.

Verdacht auf Korruption. Misstrauen in die Regierung. Mangelhafte Qualität der Architektur. Das urbanes Erbe und die Identität der barrios werden zerstört. Überlastung der Infrastruktur durch Hochhäuser. Gesetzeslücken werden ausgenutzt.

„Bauen schafft Arbeitsplätze“ veraltet. Identität der barrios und Bedürfnisse der Bürger sind zu berücksichtigen.

Stadtregierung Wer in einem Haus leben will, muss in ein Country ziehen. In der Stadt werden Wohnungen gebraucht.

Durch den Wohnungsbau werden Arbeitsplätze geschaffen. Inzwischen wird genug geschützt.

Das Problem sind gar nicht die Hochhäuser, sondern politische Gründe. Wir brauchen eine ökolo- So viele Hochhäuser gibt gisch & ökonomisch nach- es gar nicht. haltige Stadtentwicklung. Natürlich reicht die  Umweltverschmutzung Infrastruktur. durch Abrisse  Touristen kommen wegen urbanem Erbe Bald wird es ein neues Planungsgesetz geben.

Recht auf urbanes Erbe und Identität

Vernetzung von Bürger*innenorganisationen Proaktives Handeln: Lobbyismus und Justizialisierung Vernetzung über Denkmalschutz hinaus

Wachstum ist gut für alle

Autoritäre Techniken & rechtliche Grauzonen Alibi-Partizipation Ankündigungspolitik Divide & conquer / Kooptierung

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tionen auszumachen (vgl. Tabelle 15). Zunächst stechen gemeinsame diskursive Bezüge von Bürger*inneninitiativen, Graswurzelorganisationen und einigen staatlichen Einheiten hervor, die ich im Folgenden als Koalition um das Recht auf urbanes Erbe bezeichne. Der Gebrauch dieses Masterframe hat sich in den letzten Jahren zunehmend verstetigt. Des Weiteren erweist sich ein zweiter Masterframe um städtisches Wachstum als relevant. Auf diesen beziehen sich neben der Exekutive der Stadt der Bausektor, Vertreter*innen der Fakultät für Architektur und indirekt auch Akteur*innen der zentralstaatlichen Ebene. Im Rahmen der beiden Diskurskoalitionen lassen sich einige Diskurspraktiken ausmachen, die in diesem Zusammenhang angestoßen, transformiert oder reproduziert wurden. Abbildung 9: Änderung des CPU in Caballito (2008)

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Grenze Kommune reduzierte Gebäudehöhe

Quelle: Eigener Entwurf auf Basis der Gesetze 2721/08 und 2722/08 (BOCBA N° 2966; 2978); Kartengrundlage: OpenStreetMap

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Diskurskoalition I: Recht auf urbanes Erbe Neuer Masterframe: Recht auf urbanes Erbe und Identität Mit der gewachsenen Mobilisierung und Berichterstattung in den letzten 10 Jahren sind urbanes Erbe und lokale Identität zunehmend auf die Agenda der städtischen Politik gerückt. Die Verschiebungen des Agendasettings implizieren, dass zunehmend ein Begriffsverständnis von städtischem Erbe als sozialem Konstrukt angenommen wird, das mehr als den objektivierten Wert einzelner Gebäude umfasst (vgl. Schávelzon 2008). Dies belegen die erfolgreichen Änderungen des CPU, die mit dem Schutz von Erbe und Identität begründet werden. Dass Erbe nicht mehr nur als architektonischer Wert und gewinnbringendes Nebenprodukt für den Tourismus betrachtet wird (vgl. Kanai/Ortega-Alcázar 2009), lässt sich insbesondere auf die Aktivitäten der zahlreichen entstandenen Initiativen zurückführen. Dabei wird das urbane Erbe als „umstrittenes politisches Feld“, wie die Leiterin der CPPHC im Interview unterstrich, von beiden identifizierten Diskurskoalitionen aufgegriffen (ähnlich wie die Partizipation im Fall Peñalolén). Die Auseinandersetzungen um die Definitionsmacht veranschaulichen ferner, wie versucht wird, die klassenkonnotierte Debatte um urbanes Erbe zu erweitern (vgl. Zitate im Anhang). Zudem wird das urbane Erbe als politisch „transversales Thema“ (Leiterin CPPHC) betrachtet, was das inzwischen breite Interesse im Parlament erklärt. Dies hat zu einer gewissen Reflexion der Problematiken der rein marktfokussierten Stadtentwicklung in Buenos Aires beigetragen. Interessant ist, dass sich erstmals Teile der Stadtplanungselite kritisch äußern und die Beeinträchtigung der städtischen Lebensqualität beklagen. Mit Verweis auf die wirtschaftliche Attraktivität entkräftigte etwa der 2014 ernannte Dekan der wirtschaftsnahen Fakultät für Architektur der UBA das häufig zu hörende Argument einer nötigen Verdichtung durch Hochhäuser und betonte die damit einhergehende Produktion von Unsicherheit. Stattdessen seien die Hochhäuser der Inbegriff einer Entwicklungslogik, in der es um Profit gehe und nicht um die Bürger*innen und deren Interessen. Interessanterweise wurde in Reaktion darauf nicht nur auf die wachsende Gefahr verwiesen, die Bürger*innen auf den Markt ausübten (vergleichbar mit Vitacura, vgl. Tironi 2012), sondern zugleich wurde die mangelhafte Expertise der urteilenden Richter*innen herausgestrichen. Folglich lassen sich dem Masterframe auch Teile der Justiz zuordnen (vgl. Zitate im Anhang). Den Initiativen – Basta de Demoler, Proteger Barracas und Salvar a Floresta sind besonders hervorzuheben – ermöglicht der Rückgriff auf das Thema urbanes Erbe, unter einem gemeinsamen Dach zu agieren. Auch Organisationen

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wie SOS Caballito oder Amigos del Lago (Palermo), die für ihre individuelle Arbeit ein anderes Framing pflegen (Umweltbelastung, Infrastruktur, öffentlicher Raum), nutzen diese Einbettung:9 Diese Gruppen sind „Teil der Agenda von Politik und Medien geworden“, wie der Sprecher von Proteger Barracas feststellte. Die Bürger*innen haben sich also zunehmend Themen von Expert*innen angeeignet. Im Rahmen der Diskurskoalition „Recht auf urbanes Erbe“ wird zunehmend der universellere Wunsch nach mehr bürgerschaftlicher Mitsprache in der Stadtentwicklung artikuliert, um städtische Planungsdefizite aufzudecken und zu revidieren. Initiativen wie Basta de Demoler versuchen stadtweite Visionen um Denkmalschutz zu schaffen und es wird zivilgesellschaftliche Teilhabe eingefordert, z.B. über die Mitsprache an der CAAP. Diskurspraktiken: Neue Vernetzungen, strategische Routinierung Neue Netzwerke und deren Rahmenbedingungen „Wenn es etwas gibt, was diese Stadt auszeichnet, dann ist es die multiple Organisation“, betonte die Leiterin der CPPHC im Interview. Im vorliegenden Konfliktfall paaren sich die engen organisationsinternen Beziehungen der Initiativen mit losen Kontakten zwischen den Initiativen, Graswurzelorganisationen und NGOs sowie zu städtischen Funktionären, Abgeordneten und Journalist*innen.10 Dabei erfüllen die einzelnen Netze in diesem über die Jahre etablierten Beziehungsnetzwerk spezifische Funktionen. Die bedingt organisierte Vernetzung der Initiativen ist zum einen auf die begrenzten Ressourcen zurückzuführen und zum anderen auf den „ausgeprägt territorialen Charakter“ der Initiativen, die jedoch wie der Sprecher Proto Comuna Caballito ergänzte, „auch die Integriertheit der Themen“ sehen. Die Interaktion kennzeichnet eine gegenseitige „dialektische Unterstützung“ (Sprecher Proteger Barracas), die meist an konkrete Projekte gebunden ist. D.h. die Initiativen verfolgen, was in anderen Stadtteilen politisch zur Diskussion steht und greifen bei Bedarf unterstützend ein. Auf diese Weise

9

Weit über diese Initiativen hinaus werden inzwischen vielfach die Erfolgsaussichten des Framings um das urbane Erbe deutlich. Besonders eindrücklich zeigt dies das Beispiel des Kampfs um den Erhalt einer psychiatrischen Klinik im Stadtteil Constitución: Während ein Schutzerlass mit gesundheitsbezogener Argumentation erfolglos blieb, wurde einem weiteren Erlass, der aus der Denkmalschutzperspektive argumentierte, statt gegeben. 10 Zu den stabilen Medienkontakten zählt die wöchentliche Berichterstattung über bürgerschaftliche Aktivitäten und Denkmalschutz eines Journalisten in Página 12, die von politisch-ökonomischen Interessenvertreter*innen als Hetzkampagne verstanden wird.

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kann eine breitere Öffentlichkeit für Aktionen wie Demonstrationen mobilisiert werden. Hier deutet sich eine strategische Routinierung der Initiativen an (vgl. Zitate im Anhang). Jede Organisation weiß aufgrund der gesammelten Erfahrungen genau, wie sich im eigenen Stadtteil die Anwohner*innen mobilisieren lassen und was es zu berücksichtigen gilt, damit die Presse erscheint. Die Kommunikation von Informationen und Forderungen vor den Medien (Print und TV) hat sich professionalisiert, um ideale Bedingungen dafür zu schaffen, öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und politische Entscheidungsträger*innen unter Druck zu setzen. Die anfänglich typische Spontaneität wurde also durch genaue Planung und Entwicklung von Routinen ersetzt. Bei (akuten) Problemlagen wissen die Initiativen von den synergetischen Effekten der gruppenspezifischen Kompetenzen zu profitieren (z.B. Basta de Demoler: juristisch-prozedurale Kenntnisse, Salvar a Floresta: Beziehungen zu Abgeordneten, Proteger Barracas: Identitätsstiftung). Neben der gegenseitigen Beratung werden ferner spezifische Wissensbestände und Expertisen weitervermittelt. Aktuell stehen viele Gruppierungen vor der Herausforderung, ihr Agieren längerfristig zu professionalisieren. So plädiert etwa Basta de Demoler für neue Mobilisierungsformen und eine institutionalisierte Arbeitsteilung, da sich die Effekte spontaner, improvisierter Aktionen mit der Zeit erschöpfen. Grundlage für die verstetigte Vernetzung und Routinierung der lokalen Initiativen gegen die unregulierte Vertikalisierung in Buenos Aires ist zunächst die geteilte politisch-administrative Ebene. Im Unterschied zu den Konfliktfällen in Santiago beziehen sich die Bewegungen auf eine gemeinsame Verfassung, eine Gesetzgebung, ein Abgeordnetenhaus. Aus diesem Grund kommt bei der Nutzung von politics of networks Interlokutor*innen, ähnlich wie Broker*innen in sozialen Bewegungen (vgl. Routledge 2003), eine wichtige Rolle zu. Damit gemeint sind institutionalisierte Akteur*innen, wie die Leiterin der CPPHC sowie der Vertreter der Verteidigung des Volkes. Diese Institutionen verleihen den lokalen Initiativen ein organisiertes Gerüst und die Möglichkeit, sich zu stadtweit relevanten Themen zu artikulieren. Durch diese Unterstützung gründete sich das „Netzwerk zur Verteidigung des historischen Erbes der Stadt Buenos Aires“, das im Jahr 2012 etwa 60 Organisationen vereinte. Dieses informiert über entscheidende Projekte und Veranstaltungen wie öffentliche Anhörungen und bewirkte 2012 gestützt durch die drei Senatoren von Buenos Aires die Gründung einer eigenen Abteilung für urbanes Erbe in der Allgemeinen Verteidigung (s. Chronologie). Zum Repertoire der Verteidigung des Volkes gehört die Vermittlung von Kontakten zur Presse, das Unterstreichen von bürgerschaflichen Empfehlungen

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in den Medien und bei öffentlichen Anhörungen im Parlament. Zudem birgt deren Ermächtigung, Informationen über Bauprojekte anzufordern, Inspektoren zur Kontrolle von Gebäude im Prozess der Katalogisierung auszusenden und Handlungsempfehlungen oder „institutionelle Warnungen“ auszusprechen, ein nicht unerhebliches Einflusspotenzial.11 Gleichzeitig verdeutlicht dieses Vorgehen die Synergien bzw. gegenseitigen Abhängigkeiten, da die Mobilisierung der Anwohner*innen die Wirksamkeit des Kontrollorgans erhöht oder erst in Gang setzt. Allerdings zeigt sich für diese vermittelnden Institutionen, dass die Erfolge vom Handeln der individuellen Vertreter*innen abhängen, was zugleich die Angreifbarkeit des Wirkens dieser Institutionen offenbart – z.B. durch Kündigung wie im Fall der CPPHC-Leiterin. Die Konfliktdynamiken haben die sozialräumliche Positionalität der organisierten Bürger*innen klar beeinflusst. Viele dieser Bürger*innen erachten sich inzwischen als Expert*innen für ein bestimmtes Thema. Nicht Fachleute waren es, die das Thema urbanes Erbe auf die Agenda gesetzt und konkrete Änderungen bewirkt haben sowie alternative Strategien kreieren (vgl. Bracco 2013). Sondern ihnen ist es letztlich zuzuschreiben, dass der „schützende Geist des kommenden CPU“ (Sprecher Proteger Barracas) im Sinne des neuen Raumordnungsplans, zumindest teilweise eingelöst wird. Auch das gewandelte Verhältnis zwischen Abgeordneten und Bürger*innen verweist auf die veränderte Positionalität. Politiker*innen haben in den letzten Jahren nicht nur die politische Attraktivität der Thematik erkannt, da sie in den Medien als Gesetzesautor*innen oder Teilnehmer*innen von Mobilisierungen Erwähnung finden, was Sichtbarkeit erhöht und Wählerstimmen sichert. Zugleich brauchen sie die Bürger*innen dafür. Damit sind diese nicht mehr nur „Bittsteller*innen“, wie dies in klientelistisch geprägten Gesellschaften typisch ist (Levitsky 2003), sondern als Expert*innen begegnen sie den Politiker*innen auf einer Augenhöhe und erarbeiten gemeinsame Lösungen. Dies beinhaltet, dass Abgeordnete inzwischen Versammlungen mit Bürger*inneninitiativen einberufen, eine gänzlich neue Logik also. Durch die entfalteten Kapazitäten und Wissensbestände, die lokal materialisierten Erfolge und entstandenen lokalen und überlokalen Beziehungen haben sich neue identitätsstiftende places entwickelt. In diesem Kontext argumentierten zum Beispiel Initiativen in Caballito, dass die städtebaulichen Veränderungen die räumliche Identität zerstört hätten, „dass das barrio, das sie kannten verloren 11 Bisweilen kann die Verteidigung auf diese Weise zielführend Druck auf Immobilienunternehmen ausüben. So sorgte die Kritik an einem Hochhausprojekt (28 Stockwerke) der Gruppe Torres Quartier im Altstadtquartier San Telmo, die von Straßenblockaden der Anwohner*innen begleitet wurde, für unerwünschte negative Publicity.

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geht“. Es kann aber, wie auch Azuela und Cosacov (2013) betonen, eher so interpretiert werden, dass diese Identität und die places durch die widerständigen Prozesse erst geschaffen wurden. Sie waren vorher nicht vorhanden, man kannte sich nicht. Folglich transformierte sich die kollektive soziale Raumkonstruktion um das barrio (vgl. Gorelik 1998) zu einem gelebten Ort. Dieses Bewusstsein setzt sich über den Konflikt hinaus weiter fort, indem das barrio mehr Wertschätzung erfährt und Veränderungen genauer beobachtet werden. Gleichzeitig kommt dabei der für politics of territory bezeichnende partikulare und andere soziale Gruppen ausschließende Effekt des Tuns vieler Initiativen zum Ausdruck: „Wir sind zufrieden, alle haben ein Haus, dessen Wert gestiegen“, wie ein Aktivist resümiert. Diese sehen sich nicht nur aufgrund der erlangten Konservierung, sondern auch wegen beobachtbarer Wertsteigerungen in ihrem Handeln bestätigt. Dabei werden die zugrunde liegenden Marktlogiken kaum hinterfragt. Insgesamt deutet sich an, dass die Errungenschaften der Bürger*innen in verschiedenen Stadtteilen eine Emanzipierung generiert haben. In der Hoffnung auf profitable Synergien streben die Organisationen Aktivitäten an, bei denen weitergehende politische Dynamiken und sozialräumliche Verknüpfungen sichtbar werden. Die Handlungsziele der länger bestehenden Initiativen entwickeln sich also beständig weiter. Dies betrifft auch die Maßstabsebene. Es geht in der Regel nicht nur um ein paar Manzanas, sondern um Stadtquartiere. So waren die Aktionen in Caballito anfangs von einem partikularen Interesse geprägt, weitergehende Motive im Kontext einer Neoliberalisierung des Städtischen wurden aber relativ rasch zum Kernbestand des Verständnisses der Bewegungen. Es wird also ein „wahrer Konflikt“ im Sinne der Verschränkung von Partikularität und Universalität (Laclau 2002) aufgeworfen, der verankerte Strukturen angreift.12 Gleichzeitig illustriert das frame bridging seitens der Stadtverwaltung, wie sich in Teilen eine Vereinnahmung andeutet. Oder wie es dieser Sprecher von Salvar a Floresta formulierte: „wenn man Dinge erreicht, fangen sie an, Dich zu respektieren“. Die verschwimmenden Grenzen zwischen Anwohner*innen bzw. Laien und Fachpersonal im Stadtentwicklungskonflikt verdeutlichen die Unmöglichkeit, demokratische Momente permanent aufrechtzuerhalten. Allerdings fällt es nicht leicht, zu entscheiden, inwieweit sich im vorliegenden Fall überhaupt das dreifache Dispositiv der Demokratie erfüllt sieht (Rancière 2002). So lag und liegt ein wahrer Streithandel vor, Nichtzugehörige (des Themas) sind inzwischen zu Zugehörigen geworden, aber um anteilslose Subjekte handelte es sich im 12 Gleichzeitig existieren Initiativen wie Salvar a Floresta, die ein explizit partikulares und „apolitisches“ Interesse verfolgen. Dennoch gehen deren effiziente Strategien mit einer nichtintendierten Politisierung einher (vgl. Tilly 1999).

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strengen Sinne nie. Allerdings bleibt dennoch die agonistische Konfliktsituation aufrechterhalten, wie aus Gesprächen mit Aktivist*innen zu folgern ist. Justizialisierung und Interventionen über die Legislative Das proaktive Handeln der Organisationen materialisiert sich vor allem über die Gesetzgebung und das Justizsystem als rechtliche Konfliktproduktion (vgl. Azuela und Cosacov 2013). Mit diesen Ebenen wurden neue places der Aushandlung von Konflikten in der Stadtentwicklung gefestigt.13 Auf legislativer Ebene kann man angesichts der Eingriffe in das Planungsgesetz zur Begrenzung von Gebäudehöhen in Stadtteilen, der Ernennung von Denkmalschutzgebieten (APH) und der Unterschutzstellung von Einzelgebäuden auf Initiative von Bürger*innen von neuen politischen Routinen sprechen (vgl. Abbildung 9). Aus Gründen der Durchsetzbarkeit – und weniger aufgrund partikularer Interessen – wird der Fokus dabei auf territoriale Ausschnitte gesetzt. Somit handelt es sich um einen permanenten Kampf, wie ein Abgeordneter (PSA) erläuterte: „Man nimmt ein Gebiet und modifiziert den CPU; ständig machen wir Bruchstücke.“ Denn wenn Bürger*inneninitiativen einen Erfolg erzielt haben, setzt sich diese Arbeit in vielen Fällen fort. Man versucht die modifizierten Flächen auszudehnen oder auf weitere Lücken des Planungsgesetzes (bspw. die Umweltverträglichkeit betreffend) einzuwirken. Eine zentrale Rolle kommt beim Wiederstand gegen Hochhaubau in Buenos Aires der Justiz zu. Die juristischen Instrumentarien zum Einspruch – die durch die Verfassung von 1996 möglich geworden sind – werden nun erstmals im Kontext des urbanen Erbes angewendet. Am gängigsten ist dabei der richterliche Schutzerlass, der zum Beispiel bei einem drohenden Abriss von potenziell wertvollen Gebäuden eingesetzt wird (vgl. auch Bracco 2013). Seit dem ersten Schutzerlass 2008 zur Konservierung einer prägenden Straße in der Altstadt (s. Chronologie) hat sich dies als eines der gängigsten Instrumentarien etabliert, um den Staat zur Intervention zu zwingen. Gerade die Aktionen der Graswurzelorganisation Basta de Demoler, zu deren Vorstand eine Anwältin zählt, haben sich in dieser Richtung professionalisiert. Die Organisation verhindert regelmäßig Abrisse, indem sie Schutzerlässe präsentiert. Die Verfahren der letzten Jahre zeigen, dass diese Initiativen, genauso wie bei Konflikten um das Recht auf Stadt, bei den Richter*innen, die eine „anti-

13 Diese Eingriffe reduzieren sich auf die Stadtteile, wo die Akteur*innen über die notwendigen Voraussetzungen verfügen. Die sozialen Gruppen, die im Zuge von Gentrifizierung verdrängt werden (vgl. Centner 2012; Herzer 2008; Carman 2006), oder in benachteiligten Stadtteilen leben, können nicht intervenieren.

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Macri Position“ vertreten (Soziologin, IIGG) auf Wohlwollen stoßen.14 Seitens der Wirtschaft und Stadtregierung werden diese richterlichen Erlasse und Gerichtsurteile freilich als großer Affront aufgefasst. Denn durch die Vermeidung von Räumungen, das Stopp von Abrissen und Bauprojekten produzieren sie einschneidende räumliche Wirkungen. Zudem fällen die Richter*innen nicht nur Urteile, sondern nehmen auch eine vermittelnde Rolle zwischen Anwohner*innen, Verteidigung und Entwicklern ein, bspw. im Streit um einen Hochhausbau in San Telmo. Des Weiteren ist im Rahmen der Justizialisierung eine zunehmende Institutionalisierung in Buenos Aires zu beobachten, die den Rückgriff auf rechtliche Instrumente weiter erleichtert. So wurde neben der Ansprechperson für urbanes Erbe in der Verteidigung des Volks (seit 2009), 2013 die Technische Sondereinheit für Urbanes Erbe (UET) in der Allgemeinen Verteidigung ins Leben gerufen. Dies erleichtert die Beweissammlung und Präsentation von Schutzerlässen. Insgesamt ist die wachsende Justizialisierung als Reaktion auf die marktorientierte, kaum regulierte Stadtentwicklung zu interpretieren (vgl. Pírez 2002). Bürger*innen und Aktivist*innen sind sich ihrer bürgerschaftlichen Rechte vermehrt bewusst und wissen diese einzufordern, was als Emanzipierung und politisches Handeln verstanden werden kann (vgl. Marchart 2010). Gleichzeitig demonstrieren die hier analysierten Vorgänge eine funktionierende Demokratie, in der das Justizwesen als unabhängige Institution agiert. Mehr noch, die Justiz fällt Urteile von stadtpolitischer Relevanz und ersetzt dadurch auch den abwesenden Staat (vgl. auch Azuela/Cosacov 2013). Social movement space über urbanes Erbe hinaus Es fällt auf, dass sich inzwischen hier und da Potenziale für breitere gegenhegemoniale Artikulationen andeuten (Purcell 2009b). So werden unterschiedliche Dynamiken – sowohl eine tief greifende Transformation von Quartieren als auch eine weitere Verschärfung der Wohnungsnot aufgrund der steigenden Bodenpreise (thematisiert in Konflikt D, Parkbesetzung) – zunehmend unter einer gemeinsamen Überschrift, der „Logik des Immobilienmarkts“ artikuliert. Dieser geteilte Verursacher wird auch von Sozialwissenschaftler*innen zunehmend thematisiert (z.B. Plataforma 2012, Baer 2011 in Pagina 12, Tiempo Argentina 2010) (vgl. Zitate im Anhang). Es lässt sich also dahingehend eine Politisierung

14 Dies illustriert beispielsweise das Baustopp in fünf Stadtteilen im Jahr 2006 oder die gerichtliche Annulierung von Bauerlaubnissen in Caballito und Villa Pueyrredón, wo die Gebäudehöhe reduziert wurde und die Erteilung der Bauerlaubnisse zwischen Beschluss und Erlass der Gesetzesmodifikation fiel.

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beobachten, dass sich das Framing nicht in ein hegemoniales neoliberales Leitbild einbetten lässt. Darin fügt sich ein, dass sich unterschiedlich ausgerichtete Organisationen über das urbane Erbe hinaus inzwischen bisweilen vernetzen und vergleichbar mit einem social movement space voneinander profitieren. Über die gemeinsame Artikulation („mangelnde Kontrolle in der Bauwirtschaft“, SOS Caballito) entstehen Anknüpfungspunkte zu thematisch anders orientierten Organisationen, zum Beispiel NGOs, die für bessere Arbeitsbedingungen am Bau eintreten. Berichtenswert ist in diesem Kontext, wie dies das Bewusstsein für die eigenen Ziele schärfte. Bislang deuten sich im Zuge der Hochhauskonflikte in Buenos Aires allerdings kaum Tendenzen einer klassenübergreifenden Vernetzung an, wie dies in Ansätzen in Peñalolén beobachtbar ist. Nur wenige der territorialen Initiativen denken die Themen räumlich und sozial übergreifend. Etwas deutlicher wird das zum Beispiel in Caballito, wo sich Organisationen wie SOS Caballito und Proto Comuna Caballito gegen den gemeinsamen „Gegner“ einsetzen (z.B. bei der Räumung eines urban gardening Projektes). Hier werden place-Zuschreibungen auch aufgegriffen, um eine kollektive, räumliche Erinnerung über soziale Schichten hinweg fortzuführen. Organisation wie SOS Caballito haben sich die Protestpraktiken der Asambleas von 2001 abgeschaut, die laut einer Soziologin ein „Karma der Partizipation“ hinterließen, was neben dem „wie“ auch Antagonismus und den Wunsch nach Mitsprache an sich einschließt. Diese „ursprünglichen“ places reproduzieren sich und verweben sich mit den jüngeren Hochhauskonflikten zu neuen places (vgl. Zitat im Anhang). Die Asambleas lieferten also die Basis für weiteres politisches Handeln, gerade auf lokaler Ebene. „Viele, die heute dabei sind, waren damals dabei. [...] Und durch die mit den Gebäuden entsteht etwas viel Stärkeres, das immer noch existiert und einen Wandel impliziert. Ich glaube auch, dass diese urbanen Konflikte einem Nährboden glichen.“ (SP16 71, Soziologin UBA) Erst dadurch erhielten eher abstrakte Konzepte, wie Partizipation und lokale Demokratie, einen Sinn. Diskurskoalition II: Wachstum – was sonst? Bewährter Masterframe: Wachstum ist gut für alle Die Akteur*innen dieser Diskurskoalition beziehen sich vorwiegend auf das städtische Wachstumsparadigma. Dieses besitzt in der Stadtentwicklung von Buenos Aires einen großen Stellenwert, was unter anderem durch den rasanten wirtschaftlichen Aufschwung, den Argentinien nach 2001 erfuhr, unterstützt und legitimiert wird (vgl. Baer 2011). Um die „Vorherrschaft“ des Wachstumspara-

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digmas zu stabilisieren, werden durch relevante Akteur*innen – ähnlich wie anhand von partizipativen Argumentationsmustern wie im Fall Peñalolén (vgl. Gunder/Hillier 2009; Purcell 2009a) – teilweise Bezüge auf das urbane Erbe verwendet. Hier fügen sich auch Haltungen der Zentralregierung ein, die unter dem Deckmantel eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums marktorientierte Politiken fortsetzt (vgl. Cohen/Gutman 2007; Centner 2012). Im Kontext von Hochhausbau und Denkmalschutz in Buenos Aires wird diese Erweiterung des Wachstums-Frames inzwischen immer deutlicher. Zwar wird von vielen in den Medien sichtbaren politisch-ökonomischen Akteur*innen die Argumentation abgelehnt, dass zu viele Hochhäuser gebaut werden. Eingestanden wird aber eine Beeinträchtigung der Lebensqualität durch die entstehende „Unordnung“ (Sánchez 2010), so dass eine bessere Planung von Nöten sei. Jedoch verbleibt das Wachstum als unantastbares Gut, wie dieses Zeitungszitat illustriert: „Die Stadt ist nicht in der Lage, das Wachstumspotenzial hinsichtlich Bebauung, Straßenversorgung und Transport zu stützen und einzubetten.“ (Paulin 2010) Ferner erleichtert die Transversalität des Themas urbanes Erbe (vgl. Carman 2006; Kanai/Ortega-Alcázar 2009) eine Übernahme und Vereinnahmung durch die Stadtregierung sowie die Aneignung zivilgesellschaftlicher Errungenschaften. So zeigt sich, dass der – zumindest artikulierte – Reformwilllen davon begleitet wird, dass sich die Stadtregierung (ähnlich dem Bürgermeister in Peñalolén) mit den Veränderungen, „schmückt“, die die Anwohner*innen erkämpft haben. Dies betrifft sowohl den Schutz einzelner Gebäude als auch die Änderung der Gebäudehöhe. So betonte der Leiter der Planung, Ministerium für Stadtentwicklung im Kontext der geplanten Katalogisierung aller vor 1941 errichteten Gebäude: „Keine andere Regierung zuvor hat so viel unter Schutz gestellt. [...] 15.000 erfasste Gebäude, die alle auf unserer Homepage zu finden sind.“ Diskurspraktiken: Business as Usual Autoritäre Techniken und rechtliche Grauzonen Für den vorliegenden Untersuchungsfall ist kennzeichnend, dass die Exekutive versucht, in einem Modus des business as usual autoritäre Entscheidungen fortzusetzen. So entschied zum Beispiel Bürgermeister Macri trotz starken Widerstands, die Spezielle Denkmalschutzverordnung 2011 abzusetzen, wofür das Abgeordnetenhaus, inkl. Mitgliedern der eigenen Partei, stark unter Druck gesetzt wurde, wie dieser Abgeordnete der PRO (BP7 77-80) berichtete: „Meine Partei wollte nicht, dass es weiterläuft: ‚Wir haben genug geschützt, wir wollen nicht mehr‘. [...] Ich sagte, ich werde unterschreiben, auch wenn es nicht reicht. [...]

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Danach musste ich wegen der Position der Partei beantragen, [...] meine Unterschrift zurückzuziehen.“ Zudem entließ der Bürgermeister 2012 Monica Capano, Vorsitzende der ehemals unbedeutenden Kommission für historisch-kulturelles Erbe in Buenos Aires (CPPHC). Sie hatte sich im Beirat für Denkmalbelange (CAAP) als einflussreiche Person herauskristallisiert. Der Bürgermeister demonstrierte mit diesen Entscheidungen Handlungsfähigkeit. Ferner wurde damit den Interessen der Bauund Immobilienbranche („Abriss und Neubau“) Rechnung getragen, die eine Einflussnahme dieser prominenten Kritikerin der Wachstumspolitik nicht länger hinnehmen wollte. Dabei offenbarte sich ein Amtsverständnis, das auf der öffentlich sichtbaren Ausübung von Macht beruht, und mit dem zugleich politische Aushandlungspraktiken und informelle Abkommen zwischen regierender Partei und Opposition legitimiert werden (vgl. Peruzzotti 2008). Dies untermauert, dass mit den Erfolgen zivilgesellschaftlicher Akteur*innen keineswegs etablierte defizitäre Routinen in Buenos Aires prinzipiell in Frage gestellt werden. Im Gegenteil, die politischen Praktiken laufen weiter im Modus des business as usual. Ein Sprecher der Proto Comuna Caballito vergleicht dies mit einem „Spiel“, in dem immer unterschiedliche Teams gewinnen. Errungenschaften (z.B. Gesetze) und Einbußen (z.B. Kappung von Normen oder Ignorieren von Anweisungen) wechseln sich ab (vgl. Zitat im Anhang). Davon zeugen – unabhängig von der aktuellen Stadtregierung – auch die notorisch unzureichenden Instrumente zum Denkmalschutz. Die Notwendigkeit von Gesetzesreformen wird in Buenos Aires seit Jahren diskutiert, aber sie werden nicht in die Praxis umgesetzt. Gesetzliche Regulierungen sind partiell, zugleich gelingt es nicht, Förderinstrumente für den Denkmalschutz (Subventionen, Kredite, Steuervergünstigungen, etc.) im Parlament abzusegnen und zu implementieren. Dabei ist nicht zu vergessen, dass für diese Defizite auch die Bundesebene die Verantwortung trägt (vgl. Centner 2012). Hinzu kommt eine mangelhafte Gesetzeskontrolle, die von Bürger*inneninitiativen vehement gefordert wird. Mit Erlass eines neuen Gesetzes ist die Problematik also längst nicht gelöst, da auch die Einhaltung der Gesetze garantiert werden muss, was wie bereits mehrfach angemerkt, vielfach nicht passiert (vgl. Zitat im Anhang). Ankündigungspolitik, Alibi-Partizipation und Kooptierung Die gewohnten autoritären Techniken des Regierens werden überdies um konsensorientierte Techniken erweitert. So lässt sich eine Strategie der Versprechungen und des demonstrativen Handelns konstatieren. In Reaktion auf kritische Meinungen postuliert die Exekutive zunehmend einen Reformwillen. So äußerte

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der Staatssekretär für Planung, Lostri gegenüber den Medien: „Wir sind einverstanden, dass ein neues Instrument nötig ist, das die maximal erlaubte Höhe reduziert und auf eine kompaktere Stadt ohne so viele Höhenunterschiede abzielt.“ (Gutman 2010) Das neue Planungsgesetz wird angekündigt, wodurch sich die Kritik von Aktivist*innen und Initiativen in der Öffentlichkeit entkräften lässt. Zudem erfolgt eine diskursive Okkupierung von „Partizipation“, die sich in der Realität (wie in Peñalolén) jedoch auf eine erhöhte Transparenz reduziert. So erläuterte der Planungsleiter im Ministerium für Stadtentwicklung (BP2 28): „Mit dem Paradigmenwechsel machen wir Planung mit offenen Türen [...] Das bewirkt außerdem einen Paradigmenwechsel bzgl. der Beziehung Bürger und öffentlicher Funktionär.“ Es wird also eine Erhöhung von Partizipation und lokaler Demokratie postuliert und dabei ein kausaler Zusammenhang mit dem nach der Wirtschaftskrise 2001 eingeleiteten „Paradigmenwechsel“ hergestellt. Weder diese Kausalität noch der im Gespräch nicht nur mehrfach hervorgehobene Paradigmenwechsel werden als nicht zu hinterfragende Realität wahrgenommen. Zudem betrachtet sich der Interviewte als Teil des damaligen Widerstands. Dieses Negieren von Unterschieden zwischen sozialen Gruppen fügt sich in das Streben um eine alle einschließende konsensuelle Ordnung ein (vgl. Rancière 2002). Diese Partizipationsformate werden von subtilen ordnenden Techniken auf kommunaler Ebene begleitet. Vergleichbar mit den klientelistischen Praktiken in ärmeren Stadtteilen werden bürgerschaftliche Mitspracherechte in den neuen Kommunen nicht nur nicht befördert, sondern bewusst behindert (vgl. Auyero 2010; Cosacov 2010). Auch eine interviewte Soziologin hob hervor, dass sich stattdessen „die Logik der Parteipolitik auf einer kleineren Skala reproduziert [...] und sich neue Möglichkeiten für politische Punteros eröffnet“ haben. Entsprechend berichteten Initiativen in Caballito, wie – divide and conquer Strategien folgend – bewusst Spannungen zwischen Bürger*innengruppen der Mittelschicht und ärmeren Schichten provoziert wurden. Dadurch wurde die Legitimierung der Anti-Hochhaus-Initiativen und ihrer Forderungen in der Öffentlichkeit geschwächt. Privatwirtschaftliche Praktiken: Business as Usual? Aufgrund dieser Darlegungen der Regierungstechniken überrascht es nicht, dass sich der eng mit politischen Akteur*innen und Medienunternehmen verflochtene Bau- und Immobiliensektor kaum zur Anpassung von politischen Praktiken veranlasst sieht. Die Bauwirtschaft ist in der Lage, unter anderem über die Schaltung von Werbeanzeigen einen nicht zu vernachlässigenden Druck auf die Printmedien auszuüben; so zählt der Verkauf der Architekturbeilage mit seinen Immobilienanzeigen zu den Haupteinnahmen der Tageszeitung Clarín. Entspre-

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chend kommt es vor, dass negative Berichterstattung mit dem Entzug von Anzeigen bestraft wird, wie der Sprecher von Proto Comuna Caballito berichtete: „Als die Proteste explodierten [...] war ich einmal mit einer Person aus der Baukammer in einem Fernsehsendung. Er zeigte mir in seinem Blackberry eine Email, die an alle wichtigen Immobilienfirmen geschickt wurde. Gemeinsam sollten alle für ein Wochenende keine Werbung im Clarín schalten, weil sie uns zu viel Aufmerksamkeit beimaßen. Der Clarín verstand genau was Sache ist. Danach hat es drei Jahre gedauert, bis ich dort wieder erschienen bin. Und seitdem immer mit negativen Konnotationen.“ (BP13 52)

Dies demonstriert die immensen Einflussmöglichkeiten der Unternehmensnetzwerke auf die Stadtentwicklung in Buenos Aires (vgl. Pírez 2006; Ciccolella/ Mignaqui 2008). Zudem ist das Thema Hochhausbau/Denkmalschutz in den Medien geographisch unterschiedlich stark beleuchtet, was auch mit den Geschäftsinteressen der Medienunternehmen zu tun hat. Über Barracas, wo der Clarín zahlreiche Grundstücke besitzt, publizierte der Konzern von 2008 bis 2013 gerade einmal zwei Artikel. Wie in Santiago zeigt sich hier die doppelte Rolle der Medien als Spiegelbild der öffentlichen Meinung und Teil urbaner Regime (vgl. MacLeod 2011; Logon/Molotch 1987). Ferner ist zu beobachten, dass Investoren – durch die Zunahme von Schutzerlässen in traditionellen Mittelschichtsquartieren wie Caballito – auf andere Standorte in Buenos Aires ausweichen. Schließlich schlagen sich mangelnde staatliche Kontrollmechanismen in aggressiven Strategien privatwirtschaftlicher Akteur*innen nieder, die sich in rechtlichen Grauzonen bewegen (vgl. Crot 2006): Zum Beispiel werden Initiativen und Anwälte bei einstweiligen Verfügungen unter Druck gesetzt oder Denkmalschutz wird durch „Immobilien-Mobbing“ umgangen. Konkret kann das heißen, dass ein Haus im Zuge der langwierigen Katalogisierung zerstört wird, wie die Leiterin der CPPHC (BP10 34) erläuterte: „Sie reißen das Holz vom Dach, damit Wasser reinkommt, reißen die Türen und Fenster raus, zerstören von hinten nach vorne, so dass man es nicht merkt und dann rufen sie die Aufsichtsbehörde, da das Haus zusammenfällt und gefährlich für das barrio ist.“

Z WISCHENRESÜMEE Die Proteste diverser Stadtteilinitiativen, die sich gegen Hochhausbau in Buenos Aires und die Kommodifizierung des städtischen Raums zur Wehr setzen, können für sich genommen als partikulare, territoriale Widerstände verstanden werden, haben aber in der Summe mehrere Themen auf die Agenda der Stadtpolitik

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setzen können: die mangelnden bürgerlichen Mitbestimmungsrechte, die Relevanz des städtischen Erbe und die negativen Effekte einer marktorientierten Stadtpolitik. Die Widerstände sind die Konsequenz einer massiven Hochhausentwicklung – ermöglicht durch wirtschaftsfreundliche städtische Bebauungsnormen –, die für die Anwohner*innen eine persönliche Beeinträchtigung von Lebensqualität und Identität bedeutet. Nach einem anfänglichen Fokus auf partikulare Argumente, besann man sich in der Kommunikation der Interessen bald auf zwei an öffentliche Arenen besonders anschlussfähige leere Signifikanten: Umweltbelastung und städtisches Erbe. In Caballito, wo die Auswirkungen am deutlichsten zu spüren sind, wurde ein erster erfolgreicher Widerstand ins Leben gerufen. Dieser diente zahlreichen weiteren Initiativen als Vorbild. Dabei zeigte die Rahmenanalyse auf, wie die Initiativen ihre Forderungen platzieren konnten. Dies ist auf das anschlussfähige, auf die Charakteristika der barrios abgestimmte Framing, und vor allem auf die starke sozialräumliche Positionalität dieser Bürger*innen zurückzuführen, die vielfach hochgebildet sind und als Teil der argentinischen Mittelschicht wahrgenommen werden. Damit ist auch ein ausgeprägtes Bewusstsein über ihre bürgerschaftlichen Rechte verbunden. Vor diesem Hintergrund konnten sie als Diskurskoalition für Buenos Aires weitgehend neue Masterframes um ein Recht auf urbanes Erbe und lokale Identität und Mitsprache in der Stadtentwicklung positionieren. Und nicht nur dass, seitdem ließ sich eine beträchtliche Zahl von planungs- und raumrelevanten Erfolgen durchsetzen. Die von den politisch-ökonomischen Koalitionen verfochtenen Prinzipien um „wirtschaftliches Wachstum“ und „den freien Markt“ werden von einer zweiten Diskurskoalition jedoch vehement verteidigt. Es hat sich also im Kontext dieses Konfliktfalls ein dauerhafter Kampf um die Vorherrschaft stadtpolitischer Leitbilder entzündet, wo sich Siege und Niederlagen abwechseln. Dabei demonstrierte die Analyse die besondere Bedeutung von richterlichen Instanzen für die Stadtentwicklung in Buenos Aires. In der Folge konnte sich die Stadtregierung nicht gegen gewisse Modifikationen des Stadtplanungsgesetzes wehren. Dies betrifft Fragen der Regulierung (von Gebäudehöhen) und die Kontrolle von Gebäudeabrissen, teilweise auch eine vorausschauendere Planungen von Infrastrukturprojekten. Eine substanziellere Reformulierung städtischer Politiken ist dennoch nicht zu erwarten. Die Stadtregierung vertritt ein dezidiert unternehmensorientiertes Leitbild urbaner Entwicklung, und das Stadtparlament verfügt nicht über die Kapazitäten, diesem Politikansatz etwas entgegenzustellen. Hinzu kommen für Buenos Aires charakteristische Lücken öffentlicher Kontrolle.

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Auf lokaler Ebene haben sich in verschiedenen Stadtteilen neue Netzwerke etabliert, wodurch neue places mit einem hohen Identifikationspotenzial generiert wurden. Interessant ist dabei auch, dass die Anwohner*innen diese Beziehungen als eine Reaktivierung empfinden. Allerdings waren diese Vernetzungen vorher nicht real existent. Caballito scheint des Weiteren zu den wenigen barrios zu gehören, wo diese stadtteilbezogenen Netzwerke im Rahmen weiterer lokaler Raumkonflikte teilweise klassenübergreifend erfolgen. Das zivilgesellschaftliche Engagement vieler Akteur*innen setzt sich außerdem über die Initiativen hinaus fort, beispielsweise im Rahmen der neugeschaffenen Kommunalebene. Darüber hinaus etablierte sich eine lose, aber stadtweite und dauerhafte Vernetzung zwischen zahlreichen Initiativen, der insbesondere der Bezug auf das urbane Erbe als gemeinsames Dach dient. Durch die konkrete Auseinandersetzung im Konflikt haben viele eine Vorstellung von politischen Handlungen und bis dahin abstrakten partizipatorischen Konzepten entwickelt und durch Expertisierung und Interaktion ihre sozialräumliche Positionalität entscheidend transformiert. Im Zuge der dauerhaft konfliktiven Auseinandersetzungen deuten sich jedoch bei den finanziell begrenzt ausgestatteten und bedingt institutionalisierten Organisationen auch Ermüdungserscheinungen an. Auf Regierungsebene zeichnet sich ab, dass alles dafür getan wird, damit die verfolgten Routinen nicht gestört werden. Dafür kommen bewährte und neuere autoritäre und konsensuelle Regierungstechniken zum Einsatz. Zum einen lässt sich von einer Strategie der Ankündigungspolitik reden („bald kommt ein neues Planungsgesetz“). Dazu gesellt sich ein neuerer Trend der Alibi-Partizipation, zum Beispiel in Form einer besseren Informationsbereitstellung über planungsbezogene Entscheidungen. Zum anderen wird dies begleitet von autoritären Entscheidungen der Exekutive (Personen und Regelwerke betreffend). Dadurch werden neu geschaffene places geschwächt. Hierzu sieht sich gerade im Populismus eine auf breite Zustimmung stoßende Führungsperson berechtigt. Ferner werden auf lokaler Ebene diverse subtile ordnende Techniken verfolgt. Beispielsweise wird das Erstarken der Kommunen behindert, was zur Ernüchtern derer führt, die sich hier zu engagieren versuchen. Überdies werden gerade in einflussreicheren Kommunen wie Caballito die Anliegen konservativer Initiativen gestützt, um damit „Keile“ zwischen lokale Organisationen zu treiben. Dadurch lässt sich zudem eine Delegitimierung dieser Initiativen in der Öffentlichkeit erzielen und die NIMBY-Zuschreibung von „egoistischen“, „xenophoben“ Interessen für alle Initiativen der Mittelschicht belegen. Schließlich deutet sich im Zuge von Gentrifizierungspolitiken eine Vereinnahmung von Frames um das urbane Erbe an.

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Insgesamt lassen diese Auseinandersetzungen eine deutliche Politisierung erkennen, auch wenn viele der Organisationen dieses Konfliktfalls durch partikulare Interessen geprägt sind. Es wäre also ein Fehlschluss, die Initiativen aus einer postpolitischen Perspektive voreilig zu delegitimieren. Zu bedenken ist allerdings, dass eine Vereinnahmung der Errungenschaften durch die Regierung und damit eine Diskurskoalition nicht ausgeschlossen ist. Dies könnte im Zuge von Gentrifizierung Verdrängungsprozesse intensivieren.

11 Konflikt D: Die Besetzung des Parque Indoamericano in Buenos Aires

Im Dezember 2010 wird der im Süden von Buenos Aires gelegene Parque Indoamericano besetzt. Dabei handelt es sich um den zweitgrößten Park der Stadt, der sich mit einer Ausdehnung von 130 ha auf die Stadtteile Villa Lugano und Villa Soldati verteilt (vgl. Abbildung 2, Kapitel 7). Etwa 13.000 Personen, die vorwiegend aus umliegenden informellen Siedlungen stammen (villas miserias), besetzen weite Teile der vernachlässigten Grünfläche (vgl. Foto 5). Nach weniger als zwei Wochen wird die Landnahme von der Polizei gewaltsam aufgelöst. Drei Menschen sterben, Dutzende werden verletzt. Landnahmen sind in der Stadt und der Provinz Buenos Aires keine Seltenheit. Aber kein anderes Ereignis der letzten Jahre brachte die Wohnungsnot in der argentinischen Hauptstadt so schlagartig ans Licht wie dieses. Begleitet von einer umfangreichen, teils reißerischen Berichterstattung löste der Konflikt intensive Debatten aus, insbesondere über das Wohnungsdefizit, aber auch über rassistischen Tendenzen in der argentinischen Gesellschaft. Seitdem blieb die durch die Besetzung aufgezeigte Wohnungsnot in Buenos Aires ungelöst, und die Morde und Körperverletzungen durch Polizisten im Zuge der Räumung wurden nicht geklärt. Diese Fallstudie fügt sich ein in die Untersuchung von neuen Konfliktformen, die aus sozialen Ungleichheiten resultieren, denen sich gerade migrantische Communities zunehmend ausgesetzt sehen. Diese werden jedoch in der Öffentlichkeit tendenziell nicht als „legitimierte“ Akteur*innen politischer Mobilisierung erachtet (z.B. Auyero/Lapegna/Poma 2009; Dzudzek/Müller 2013). Die folgende Analyse diskutiert, aus welchem Grund den Forderungen der Besetzer*innen nicht nachgekommen wurde, und inwiefern der Konflikt Einfluss auf politische Leitbilder und Routinen in Buenos Aires genommen hat.

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K ONFLIKTBIOGRAPHIE : V ERLAUF

UND

A USLÖSER

Konfliktchronologie Die Chronologie der wichtigsten Ereignisse dieses Falls, die auf Medienberichterstattung und Berichten von NGOs basiert, zeigt, dass die Besetzung selbst nur von kurzer Dauer war, der Konflikt darum aber bis heute anhält. Phase I: Ursachen, Umgang, Lösung Dezember 2010 [2.12.2010] Bürgermeister Mauricio Macri und sein Kabinettschef verkünden die Vergabe von Grundbesitzurkunden an die Bewohner von villas miserias in Buenos Aires (Diario Perfil 2010). [3.12.2010] Familien aus umliegenden informellen Siedlungen fangen an, den Park zu besetzen (CELS 2011). [4.12.2010] Der Wohnungsausschuss des Parlaments der Stadt Buenos Aires wird informiert (CxI 2011). [5./6.12. 2010] Die Landnahme nimmt weiter zu; ca. 300 Personen sind beteiligt (ebd.). [7.12.2010] 500 Familien befinden sich im Park, erste Parzellierungen und Zelte werden beobachtet (ebd.). Corporación Buenos Aires Sur (CBAS) meldet die Besetzung und erstattet Strafanzeige wegen widerrechtlicher Besetzung (Usurpation). Die Medienberichterstattung beginnt. Sergio Schoklender, Verwalter der Stiftung Madres de Plaza de Mayo, meldet, dass die Besetzer*innen im Bau befindliche Sozialwohnungen der Stiftung auf dem Parkgelände gewaltsam einnehmen (Clarín 2010a). María Cristina Nazar, Strafrichterin von Buenos Aires, ordnet die Räumung des Parks an (ebd.). Gegen 19:30 Uhr räumen Bundespolizei (200 Polizisten) und Stadtpolizei (60 Polizisten) gewaltsam den Park. Bernardo Gallo, Paraguayer, 24 Jahre und Rosemary Chura Puña, Bolivianerin, 28 Jahre werden erschossen. Beide Besetzer*innen stammen aus der benachbarten Villa 20. Zwei Polizisten werden verletzt (ebd.). Die NGO CELS (2012) berichtet von fünf Verletzten (ein Bolivianer, zwei Paraguayer, 2 Argentinier) sowie 55 verhafteten Personen. [8.12.2010] Der Park wird erneut besetzt. Es erfolgen Stellungnahmen des Menschenrechtsobservatoriums (Carlos Pisoni) und des Allgemeinen Verteidigers der Stadt, Mario Kestelboim (CxI 2011). Verwaltungsrichter Roberto Gallardo weist Flughafenpolizei und Marine an, Materialien im Park zu konfiszieren und erteilt einstweilige Verfügungen: Abgrenzung des Gebiets durch die Gendarmerie, Erstellung eines Zensus und Bereitstellung von Grundversorgung mit Hygiene und Wasser. Eine erste Versammlung zwischen Gallardo und Vertreter*innen der Besetzung findet statt. In der Innenstadt wird aufgrund der Morde

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im Park gegen Bürgermeister Macri demonstriert. In der lokalen Einheit für Soziale Intervention (UGIS) findet eine erste Versammlung mit städtischen Funktionären, Abgeordneten von Stadt und Bund sowie Besetzer*innen statt. Letztere fordern Wasser (Paulin/Novillo 2010). [9.12.2010] Richterin Nazar beruft eine Versammlung mit juristischen Akteur*innen, Abgeordneten, NGOs und sozialen Bewegungen ein. Anwohner*innen der benachbarten „Monoblocks“ in Villa Soldati demonstrieren gegen die Besetzung. Circa 30 Personen spalten sich von der Mobilisierung ab, darunter mindestens drei Barra Bravas (Julito Capella vom Fußballclub Huracán und weitere der Clubs Racing und River).1 Mit Emiliano Canaviri Álvarez wird eine weitere Person erschossen, vermutlich von einem Barra Brava. Mehr als 30 Personen werden verletzt (CELS 2012). [10.12.2010] Verschiedene Instanzen bitten um Intervention (CxI: 19). Es kommt zu weiteren Ausschreitungen. Am Abend beruft Aníbal Fernandez, Kabinettschef der Bundesregierung, eine Versammlung in der Casa Rosada (Präsidentenpalast) ein. Es nehmen teil: Mauricio Macri, Rodríguez Larreta (Kabinettschef der Stadt), Besetzungsvertreter*innen, darunter die Organisationen FPDS, CCC und FTV sowie NGOs und Graswurzelorganisationen für Menschenrechte wie Liberpueblo, CELS und ACIJ. Es wird über die Grundversorgung (Wasser, Hygiene) im Park und ein Wohnungsprogramm diskutiert. Im Ergebnis wird Ersteres abgewiesen und bezüglich der Wohnungen kommt keine Einigung zwischen Bund und Stadt zustande (La Nación 2010a). Die Präsidentin verkündet die Schaffung des Bundesministeriums für Sicherheit (ebd.). [11.12.2010] Noch immer sind die Menschen im Park nicht mit Wasser versorgt. Es kommt zu weiteren Besetzungen in benachbarten Gebieten (z.B. Villa Lugano, Club Albariño, Bernal / Quilmes). Die Gendarmerie übernimmt die Überwachung des Parks. Im Casa Rosada findet eine zweite Versammlung statt. [12.12.2010] Das Bundesministerium für Soziale Entwicklung erfasst alle Besetzer*innen des Parks („Zensus“). Richterin Libertori besichtigt die Lage vor Ort. In räumlicher Nähe gibt es weitere Besetzungen (z.B. in Barracas, Villa Lugano, Km 31 / Ruta 3) (CxI 2011). [13.12.2010] Der Zählung des Ministeriums zufolge befinden sich 5.866 Personen vor Ort, die 7.467 Familienangehörige haben; insgesamt werden 13.333 Besetzer*innen erfasst.

1

Barras Bravas (~ Wilde Horden) sind in Argentinien organisierte und gewalttätige Fußballfanclubs. Illegale Geschäfte, Drogenhandel, Geldwäsche, Vernetzungen mit Polizei- und Staatsapparat prägen ihre Aktivitäten. Als „Berufsdemonstranten“ werden sie auch bezahlt, um Demonstrationen „aufzumischen“, wie während der Besetzung des Parque Indoamericano (vgl. auch Harari 2011).

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Bei der dritten Versammlung in der Casa Rosada kommen Stadt- und Zentralregierung zu folgender Vereinbarung: für jeden Peso der Zentralregierung gibt die Stadt einen Peso (ebd.) für sozialen Wohnungsbau. Die Besetzer*innen willigen ein und ziehen ab. Bund und Stadt verkünden: Wer weiterhin besetzt, verliert den Anspruch auf soziale Unterstützung und Wohnungsplan. Mehrere Gruppen demonstrieren am Plaza de Mayo. Phase II: Rechtliche (Nicht-)Aufklärung und Revitalisierung des Parks 2011-2012 [1.3.2011] Die Staatsanwaltschaft erstattet Anzeige gegen sechs Vertreter*innen sozialer Organisationen (u.a. FTV, FPDS und CCC) mit dem Vorwurf, die Besetzung initiiert zu haben. [3.03.2011] Richterin Nazar ordnet an, das Verfahren einzustellen, da kein Delikt der Usurpation vorliege, es handle sich um einen sozialen Konflikt (Videla 2011a). [5.03.2011] Stadtminister für Öffentlichen Raum Santilli präsentiert einen Revitalisierungsplan für den Park: 27 der 130 ha sollen in den nächsten 120 Tagen erneuert werden (Página 12 2011a). [27.05.2011] Schwere Korruptionsvorwürfe gegen Sergio Schoklender werden offenkundig. Er verlässt die Stiftung Madres de la Plaza de Mayo (Clarín 2011a). [8.06.2011] Gegen sechs Polizisten der Bundesregierung läuft ein Prozess wegen Körperverletzung an Besetzer*innen im Park (Página 12 2011b). [7/2011] Bürgermeister Macri wird wiedergewählt (64% der Stimmen in der Stichwahl). [16.08.2011] Das Berufungsgericht von Buenos Aires, das auf Antrag der städtischen Staatsanwaltschaft (Luis Cevasco) eingeschaltet wurde, urteilt, dass der Prozess gegen die sechs Vertreter*innen sozialer Bewegungen wieder aufzunehmen ist. Die Entscheidung wird von Protesten sozialer Bewegungen und NGOs begleitet (Videla 2011b). [19.11.2011] Richterin Nazar zieht sich aus dem Fall zurück, nachdem die Strafgerichtskammer ablehnte, das Verfahren einzustellen (Página 12 2011c). [2.12.2011] Die Bundesstaatsanwalt Sandro Abraldes macht 45 Polizisten für die Morde und Körperverletzungen an sechs Personen durch Schüsse verantwortlich (Di Nicola 2011). Gegen Richterin Nazar wird Anklage erhoben wegen 1) ihrem Urteil des Hausfriedensbruch und mangelnder Kontrolle der Räumung und 2) Amtsmissbrauch, da sie das verkündete Urteil des Hausfriedensbruchs später revidierte (La Nación 2011a). [3.12.2011] Die ausgeführten Maßnahmen zur Parkrevitalisierung werden präsentiert (La Nación 2011b). [7.12.2011] Soziale Organisationen demonstrieren gegen Protestkriminalisierung und wegen des ausstehenden Wohnungspro-

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gramms (Rivas/Amaya 2011). [9.12.2011] Unterstützt durch Abgeordnete veranstalten soziale Organisationen, unter anderem Frente de Organizaciones en Lucha (FOL), CCC und FPDS einen Festakt „1 Jahr nach der Besetzung“ auf der Brücke zwischen Villa 20 und dem Park (Página 12 2011d). [21.12.2011] Die ersten 17 der geplanten 27 ha des Parks werden wiedereröffnet (Clarín 2011b). [07.02.2012] Richter Eliseo Otero stellt das Verfahren gegen die 45 Polizisten und die Richterin Nazar ein (Clarín 2012a), obwohl eine Untersuchung der Staatsanwaltschaft (Bund) den Verdacht gegen die staatlichen Sicherheitskräfte verfestigt. [04/2012] Die Anklage gegen vier der sechs Vertreter*innen sozialer Organisationen wird fallengelassen. Diosnel Perez (FPDS) und Tano Nardulli (CCC) bleiben angeklagt (TN 2012). [11/2012] Mit Blick auf aktuelle urbane Ereignisse (Parque Indoamericano, Korruptionsskandale, das mangelhafte Umsiedlungsprogramm am Fluss Riachuelo) konstatiert der Clarín das Versagen von Bund und Stadt in der Wohnungspolitik (Clarín 2012b). [05.12.2012] Abgeordnete, Aktivist*innen und NGOs fordern Gerechtigkeit für die Ermordeten und den von Bund und Stadt versprochenen Wohnungsplan (Página 12 2012). Phase III: Errungenschaften und business as usual 2013-2014 [16.12.2013] Diosnel Perez (FPDS) und Tano Nardulli (CCC) werden freigesprochen (Hoy 2013). [14.02.2014] Das Verfahren gegen die Polizisten wird wieder aufgenommen (Morini 2014). [24.02.2014] Teile des an die Villa 20 angrenzenden Autofriedhofs werden besetzt. Ein Mann wird erschossen (La Nación 2014). [25.02.2014] Die Strafgerichtskammer der Stadt entscheidet, ob die Anklage gegen Perez und Nardulli wieder aufgenommen wird (Blog NGO Liberpueblo (15.4.2014). [12.03.2014] Aufgrund der Fürsprache des Papstes wird die neue Besetzung bestehend aus circa 300 Familien „Papa Francisco“ benannt (Castro 2014). Bis April 2014 (Ende des Analysezeitraums) erfolgte keine Verurteilung der Polizisten, die zwei Besetzer*innen erschossen haben. Auch der dritte Todesfall ist ungeklärt. Der versprochene Wohnungsplan wurde nicht umgesetzt. Konfliktauslöser Diese Studie identifizierte für die Besetzung vier zentrale Handlungsimpulse: zunehmende Wohnungsnot, Ankündigung der Vergabe von Wohnbesitzurkunden, politische Auseinandersetzungen zwischen Punteros und dem Bürgermeister sowie Besetzen öffentlicher Räume als Teil der argentinischen Protestkultur.

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Foto 5: Besetzung des Parque Indoamericano Dezember 2010

Quelle und freundliche Genehmigung: Mariano Arias 2010, Fotograph*innenkollektiv Colectivo En La Vuelta, http://www.enlavuelta.org/

Wohnungsnot und informeller Wohnungsmarkt – Stille Rebellion Das hohe Wohnungsdefizit und die Dynamiken des informellen Wohnungsmarktes in Buenos Aires gehören nach Ansicht der interviewten Expert*innen zu den wichtigsten Auslösern der Besetzung des Parks (vgl. auch Zapata 2013; Sorín 2012). Die Zentralregierung ist kaum in der Lage, effektive Wohnungsbauprogramme bereitzustellen (Baer 2011), und die Stadt hat sich in den letzten Jahren weitgehend aus dem öffentlichen Wohnungsbau zurückgezogen (Arqueros Mejica u. a. 2011). Gleichzeitig hat der informelle Wohnungsmarkt stark an Bedeutung gewonnen (Cravino 2012) (vgl. Kapitel 7). Mit dem Wachstum des informellen Wohnungsmarktes ist auch ein Anstieg der Mieten verbunden. Familien können sich meist nur einen Raum leisten, das Bad wird mit vier bis fünf anderen Familien geteilt. Die Mieten für ein Zimmer waren 2012 in etwa so hoch wie für eine Wohnung auf dem formellen Wohnungsmarkt: Befragten Bewohner*innen und Expert*innen zufolge kostete ein Zimmer (12-16 m²) je nach Lage 500 bis 1.500 arg. Pesos.2 Damit haben sich die Preise innerhalb von vier Jahren verachtfacht (Cravino 2011). Mit dieser Entwicklung ging eine zunehmende bauliche Verdichtung bzw. Vertikalisierung von 2

2012 entsprach dies ca. 83 bis 250 Euro. Die Inflation der letzten Jahre hat den Kostendruck für viele Betroffene noch weiter verschärft.

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villas einher, die Infrastruktursysteme kollabieren lässt. Es kommt zu Stromausfällen, die Wasserqualität ist kritisch, Beleuchtung unsicher, Abfallentsorgung und Sicherheit sind mangelhaft und Kloaken laufen über. Eine Befragte schildert die Lebenssituation auf folgende Weise: „Ich wohnte in einem Zimmer, ich hatte das Kinderbett, wir schliefen alle zusammen, die Küche mit in dem Zimmer drin, und alles, was wir hatten, in diesem kleinen Zimmerchen, und das Bad teilten wir mit den anderen Mietern [...] Ich weiß gar nicht, wie es genau anfing und wer diese Besetzung initiierte. Als ich davon hörte, war er schon besetzt. Zusammen mit einigen Bekannten, Verwandten, meinem Bruder ging ich los, um zu sehen, ob da noch Platz war.“ (BI1 19, Besetzerin aus Paraguay, Gruppendiskussion FOL)

Auf dem informellen Wohnungsmarkt lassen sich zwei Vermietungstypen unterscheiden: Zum einen Personen, die auf Vermietung angewiesen sind, da sie sich selbst in prekären Situationen befinden (z.B. alleinerziehende Mütter, Personen mit Behinderung, chronisch Kranke und Langzeitarbeitslose). Zum anderen Besitzer*innen von sogenannten inquilinatos, d.h. Mietgebäuden mit 20 bis 30 Zimmern und Gemeinschaftsbädern. Letztere sind aufgrund der ausbeuterischen Vermietungspraxis häufig schlecht angesehen. Cravino geht davon aus, dass alle Landnahmen der letzten Jahre – inklusive der Besetzung des Parque Indoamericano – maßgeblich durch diese informellen Mieter*innen, „die neuen Einwohner*innen der Stadt“ erfolgen und spricht von einer „rebelión silenciosa”, also einer stillen Rebellion (Cravino 2011: 33). Macri verkündet die Vergabe von Grundbesitzurkunden Als Teil des Wahlkampfs zur Wiederwahl von Bürgermeister Macri verkündete der Kabinettschef der Stadtregierung Anfang Dezember 2010 die Vergabe von Grundbesitzurkunden an Bewohner*innen informeller Siedlungen und Sozialwohnungen. Das entsprechende Projekt wurde dem Stadtplanungsausschuss des Stadtparlaments am 3.12.2010 vorgelegt.3 Damit wäre eine Änderung des städtischen Planungsgesetzes (CPU) verbunden gewesen. Dieses schreibt eigentlich vor, dass vor der Vergabe von Besitzurkunden eine Planung und Ausstattung mit Straßen, Elektrizität und Wasser zu erfolgen hat. Durch die Gesetzesänderung wollte sich die Regierung von dieser Verpflichtung lösen und so eine Privatisierung der Stadtentwicklung weiter vorantreiben,4 die Verantwortung dafür also in die Hände der „Besitzenden“ legen. Ganz im Sinne neoliberaler Stadtentwick3 4

Dies betrifft die meisten villas der Stadt außer Villa 31 und Villa 31bis im Stadtzentrum (vgl. Abbildung 2, Kapitel 7). Außer Verwaltungskosten würden der Stadt dadurch keine Ausgaben entstehen.

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lung entfiele so die staatliche Aufgabe der Urbanisierung (vgl. Harvey 2005). Gleichzeitig wird damit politisches Agieren in einem wichtigen Politikbereich demonstriert. Der Vorschlag stieß auf Seiten der Opposition und zivilgesellschaftlicher Organisationen auf starke Kritik und wurde zurückgezogen, mit der Idee einer Neuvorlage in 2011.5 Die Ablehnung fußt auf verschiedenen Gründen: Viele Wohnungen weisen häufig schon zum Zeitpunkt der Übergabe gravierende Mängel auf, die Bewohner*innen sind durch die Wohnungskredite verschuldet,6 der Urbanisierung in villas wurde in der Vergangenheit kaum nachgegangen, und schließlich bewohnen nicht selten bis zu sieben Familien ein Grundstück, die zusammen eine Urkunde erhalten würden. Für die Dynamik des Untersuchungsfalls ist erwähnenswert, dass die öffentliche Ankündigung der Weitergabe von Besitzurkunden bereits vor der Behandlung des Vorschlags im Parlament erfolgte, was die vereinnehmende Logik des Populismus illustriert (vgl. de la Torre 2013). In einigen Medien wurde die Initiative sehr positiv aufgenommen: „Indem Du ihnen die Urkunden gibst, verwandelst Du sie in Bürger, und die Bedeutung von Eigentum wird dazu führen, dass die Leute versuchen, ihr eigenes Haus zu verbessern und zu stärken.“ (Diario Perfil 2010)

Das Vorhaben implizierte für villa-Bewohner*innen, dass nur „offizielle“ Bewohner*innen von dieser Neuausrichtung der Wohnungspolitik profitieren würden, nicht aber die zahlreichen informellen Mieter*innen. Mehreren Interviewten und Berichten von NGOs zufolge hatte diese Ankündigung der Vergabe von Besitzurkunden über die Medien direkte Effekte: etliche informelle Mieter*innen wurden sofort auf die Straße gesetzt, was die akute Wohnungsnot in einigen villas weiter verschärfte. Zugleich sahen viele Wohnungssuchende in neuen Landnahmen die Chance, ebenfalls von einer eigenen Urkunde zu profitieren. Dafür spricht, dass in der Besetzung des Parque Indoamericano Mieter*innen aus umliegenden villas überwogen (vgl. auch Bruschtein 2010). Insgesamt heizte die Ankündigung der Vergabe von Besitzurkunden also einerseits die Debatte um Wohnungsnot in Buenos Aires an und machte diese sichtbar, andererseits stellte sie einen konkreten Handlungsimpuls für die Besetzung des Parks dar.

5 6

Das IVC startete Anfang 2012 in urbanisierten villas (u.a. Villa Inta) mit der Vergabe von Urkunden; geplant waren zu dem Zeitpunkt 7.000 Vergaben bis Ende 2012. Diese beiden Aspekte haben auch in Chile Protestbewegungen entstehen lassen.

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Konflikte zwischen Punteros und politischen Funktionären Die Graswurzelorganisation Colectivo por la Igualdad (CxI) (2011) betonte, dass es Bewohner*innen umliegender villas zufolge Absprachen zwischen öffentlichen Funktionären und Punteros, d.h. lokalen politischen Anführer*innen (vgl. Kapitel 7) gegeben habe, die die erste Besetzung im Park organisiert hätten. Laut Facundo di Filipo (ehemaliger Präsident des parlamentarischen Wohnungsausschusses und Mitglied des CxI) und weiteren Expert*innen haben Kooperativen, die für die Stadtregierung arbeiteten, die Besetzung organisiert, um soziale Unterstützungen zu fordern, da sie nicht fristgemäß bezahlt worden seien. Es ist anzunehmen, dass dieser Konflikt ein weiteres auslösendes Moment darstellt. Hinweise darauf ergeben sich auch aus dem Umstand, dass gleichzeitig weitere Gebäude und Flächen außerhalb des Parks besetzt wurden und staatliche Institutionen wie die Polizei nicht unmittelbar darauf reagierten (CELS 2011). Um temporäre soziale Wohnungsbeihilfen zu erhalten, organisieren die mit öffentlichen Funktionären verwickelten Punteros oft Landnahmen, die als wichtiges Element der lokalen klientelistischen Strukturen verstanden werden können. Hinzu kommt, dass die Stadtregierung häufig nicht unmittelbar auf Besetzungen von Punteros reagiert. „Politischen Tauschgeschäfte“ sind Kern des Verhältnisses zwischen Punteros und zentral- und lokalstaatlichen Institutionen. Soziale Beihilfen werden – im Unterschied zu europäischen Wohlfahrtsstaaten – in der Regel unkontrolliert verteilt. Anstatt sicher zu stellen, dass Förderungen bei den wirklich Bedürftigen ankommen, gelangen häufig nicht anspruchsberechtigte Personen an Gelder (vgl. Auyero 2001; Villalón 2007). Oder die für die Verteilung zuständigen Punteros behalten die Mittel ein, wie Interviewte vielfach bestätigten. Besetzungen als Teil der Protestkultur Abschließend lässt sich für die Besetzung des Parque Indoamericano ein weiterer Handlungsimpuls benennen, der aus der Dynamik der Besetzung selbst und der spezifischen argentinischen Kultur von sozialen Protesten resultiert. Zum einen ist die brutale Repression der Polizei gegen Familien und Kinder im Park als zentraler Auslöser zu interpretieren (CxI 2011: 13). Darauf reagierten viele Familien mit einem „jetzt erst recht“. Die Interviewten sind sich einig, dass die zweite Besetzung nicht durch die Organisation von Punteros ausgelöst wurde. Neben sogenannten piquetes, d.h. Straßensperrungen, zählen Besetzungen öffentlicher und privater Flächen seit den 1980er Jahren zum Repertoire kollektiven Handelns in Argentinien (vgl. Merklen 2010; Villalón 2007; Massetti 2009). Für ein Verständnis der argentinischen Protestkultur ist die besondere Rolle der Punteros relevant. Auyero und Kolleg*innen (2009: 2f.) warnen hier

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im Übrigen davor, klientelistische Politik und kollektives Handeln dichotomisch als konkurrierende politische Phänomene zu betrachten. Stattdessen – und das belegt auch diese Analyse – liegen meist dynamische Prozesse mit rekursiven Beziehungen und multiplen Verwebungen vor.

P OSITIONALITÄT

UND

R AHMUNGSSTRATEGIEN

Konfliktparteien: Eine Vielzahl involvierter Akteur*innen Die Besetzung spiegelt neben der auslösenden Wohnungsnot in Buenos Aires verschiedene Konflikte und Themen auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen wider: 1) Die Auseinandersetzung zwischen der peronistischen Bundesregierung und der konservativen Stadtregierung, 2) die Instrumentalisierung der Unterschichten, die immer wieder gegeneinander ausgespielt werden, sowie 3) die Gebräuchlichkeit xenophober Diskurse in Argentinien. Zu den Protagonist*innen im Konflikt zählten die Besetzer*innen, eine heterogene und wenig organisierte Gruppe aus Wohnungssuchenden, Angehörigen sozialer Bewegungen und Entwickler*innen informeller Immobilien. Des Weiteren steht die nationale Exekutivebene im Vordergrund. Sichtbar sind auf dieser Ebene neben der Präsidentin vor allem der Kabinettschef und die Minister für Justiz und Menschenrechte sowie für Soziale Entwicklung. Die Bundesregierung wurde lokal von kirchnernahen Gruppierungen und Punteros unterstützt. Die Exekutive der Stadt war vor allem durch den Bürgermeister, den Kabinettschef, die Ministerin für Soziale Entwicklung und den Minister für Öffentlichen Raum sowie die Staatsanwaltschaft präsent. Im Hintergrund agierten auch das städtische Wohnungsinstitut (IVC) und die Corporación Buenos Aires Sur (CBAS). Den Kontrollinstanzen der Rechtspflege und der Polizei kam im Konflikt eine entscheidende Rolle zu. Eine wichtige Stellung nahmen auch rechtliche Instanzen und NGOs ein, die die Wohnungsbedürftigen unterstützen. In Abbildung 10 ist die Vielfalt der Konfliktparteien skizziert. Ihre interskalaren Verflechtungen werden in den nachfolgenden Kapiteln vertieft. Diese konzentrieren sich auf den öffentlichen Sektor und die Zivilgesellschaft. Der privatwirtschaftliche Sektor spielt direkt keine Rolle. Verflechtungen mit dem Bausektor bestehen über Interessenkoalitionen mit der politischen Elite, sei es in Form personalisierter Anteile oder dass städtische Wohnungsbehörden (IVC, CBAS) als Auftraggeber für den Bau von Sozialwohnungen fungieren.

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Abbildung 10: Konfliktparteien der Besetzung des Parque Indoamericano International

Zivilgesellschaft

Staat

Präsidentin, Kabinettschef

Printmedien & Rundfunk Wissenschaft

National

Privatwirtschaft

Bolivien, Paraguay, Peru: Botschaften, Regierungen

Madres de Plaza de Mayo

NGOs, Graswurzelorg.: Liberpueblo, CELS, AJIS, Colectivo por la Igualdad

Abgeordnete (einzelne)

Bundmin. für Justiz und Menschenrechte

Potenzielle Investoren

Bundesmin. für Soziale Entwicklung Bundesmin. für Sicherheit (neu) Polizei (Bund)

Barra Bravas u.a. mafiöse Strukturen

Polizei Stadt

Bürgermeister, Kabinettschef

Regional

Staatsanwaltschaft FTV

CCC FPDS

Kirchneristische Gruppierungen

Lokal

Weitere Bewegungen: Polo Obrero etc. Besetzer*innen (aus Argentinien, Bolivian, Paraguay, Peru)

Oberster Gerichtshof

Min. für Soziale Entwicklung

Strafgericht

Min. für Öffentlichen Raum

Verwaltungsgericht

Pflichtverteidigung Stadtparlament (Wohnungs- und Menschenrechtskommission

Wohnungsinstitut (IVC) Corporación Buenos Aires Sur

Anwohner*innen

Die Besetzer*innen: Familien, Punteros, andere Organisationen Die Gruppe der Wohnungssuchenden charakterisiert eine schwache sozialräumliche Positionalität. Bedingt dadurch sind sie nur begrenzt in der Lage, ihre Forderungen in der Öffentlichkeit zu platzieren. Sozialräumliche Positionalität Bei den Besetzer*innen handelte es sich um einen Zusammenschluss diverser Gruppen mit unterschiedlichen Interessenlagen und Strategien. Vommaro und Cremonte (2012: 82) betonen die für solche Ereignisse charakteristische Multiorganisation unterer Schichten und die Vielfalt staatlicher Präsenz. Grob ließen sich vier Gruppen differenzieren: 1) Wohnungsbedürftige Familien, die in umliegenden villas der Stadt zur Miete wohnen.7 Darunter befanden sich neben Argentinier*innen Migrant*innen aus Bolivien, Peru und Paraguay. 2) Informelle Immobilienentwickler, die Flächen besetzen und in Wert setzen, sei es durch Verkauf von parzellierten Einheiten oder durch Entwicklung und Vermietung. 3) Punteros, die Wohnungssuchende organisieren, um politischen Druck zu erzeu7

Viele Wohnungssuchende stammten unter anderem aus Villa 20, Villa 10-11-14, Villa 6 / Barrio Cildáñez, Villa 3 und Villa 15 bzw. Ciudad Oculta (CxI 2011) (vgl. Abb. 2).

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gen. 4) Zahlreiche soziale Bewegungen und Organisationen – ein Spiegelbild des zersplitterten Bewegungssektors –, die einen gesellschaftlichen Wandel verfolgen und/oder bei solchen Gelegenheiten versuchen, Familien für sich zu gewinnen. Zwei unabhängige Bewegungen spielten eine besondere Rolle, zumindest waren sie in dem Medien stärker präsent: Die maoistische Corriente Clasista y Combativa – CCC, die im Zuge der Kirchner-Regierungen einen starken Bedeutungsverlust erlitten hat und die Frente Popular Darío Santillán – FPDS (vgl. Svampa/Pereyra 2009: 242).8 „Es tummelten sich alle möglichen Leute, mit oder ohne Haus. Mein Bruder und ich haben einen Herrn gesehen, der einen Supermarkt hier in der villa hat, und mit seinem Angestellten losging und ein Stück Land nahm, bzw. der Angestellte griff es sich, und er sagte ihm, ‚bring die Schnur an, komm her so’, und wir lachten, weil das ein Mann war, der außerhalb der villa ein ziemlich großes Haus hat, fast ein Gebäude, er hat ein Radio und einen Supermarkt.“ (BI1 21, Besetzerin aus Paraguay, Gruppendiskussion FOL)

Dieses Zitat einer Besetzerin vermittelt ein Bild der für Landnahmen üblichen Verflechtung von Akteur*innen und deren Vorgehensweisen. Entscheidend ist, dass sich die Besetzung des Parque Indoamericano weitgehend aus einzelnen, d.h. nicht kollektiv organisierten Familien zusammensetzte. Im Unterschied dazu sind die in den letzten 25 Jahren entstandenen informellen Siedlungen das Ergebnis von Landnahmen, die von Anfang an organisiert waren (Vommaro/Cremonte 2012: 82).9 Auch die migrantischen Communities sind keineswegs als homogene Interessengruppe einzuordnen, wie in den Erhebungen deutlich wurde. Folglich waren die Besetzer*innen kaum in der Lage, gemeinsame Strategien zu formulieren und Repräsentant*innen für Verhandlungen zu nominieren. Stattdessen gaben sich Personen zahlreicher etablierter Gruppen als Repräsentant*innen der Besetzer*innen aus, und staatliche Institutionen luden diejenigen, die sie als Interessenvertreter*innen erachteten, zu Verhandlungen ein. Dies spiegelt die gegenwärtige, fragmentierte Bewegungsszene in Buenos Aires wider (Pereyra/ Svampa 2009). Zudem – und dies ist ein wesentliches Merkmal dieses Untersuchungsfalls – war die Zusammensetzung der Verhandlungspartner in der Casa Rosada durch sehr ungleiche Machtverhältnisse geprägt. Die meisten Aktivist*innen verfügen über keine externe politische und juristische Beratung oder be8

9

Erwähnung fanden auch die Arbeiterpartei (Partido Obrero, Vorsitzender Jorge Altamira) oder die Sozialistische Arbeiterbewegung (Movimiento Socialista de los Trabajadores, MST, angeführt von Vilma Ripoll). Wie sich im Gespräch mit einer Mitarbeiterin der FTV abzeichnete, wird Landnahmen dann Aussicht auf Erfolg unterstellt, wenn Eigenbedarf als Motiv überwiegt.

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sonderes Fachwissen in diesen Bereichen. Nur ein Aktivist erschien in Unterstützung eines juristischen NGO-Vertreters. Es bestehen generell kaum Kontakte zu den argentinischen Medien, und die Besetzer*innen besitzen keine nennenswerten ökonomischen Ressourcen oder überlokale soziale Kapitalien. In der Summe waren die Einflussmöglichkeiten der Besetzer*innen während den Verhandlungen im Präsidentenpalast gering. Das zugleich hohe Misstrauen zwischen den unterschiedlichen beteiligten Gruppierungen und die geschwächte Fähigkeit zur Vernetzung steht in engem Zusammenhang mit den staatlichen Kooptierungsstrategien (vgl. Kapitel 7). Folgendes Zitat illustriert, wie Punteros agieren und in das staatliche Institutionensystem integriert werden: „So läuft es, die Regierung kauft Dich. Mir haben sie eine Menge Posten angeboten. Sie sagen mir, ‚Du musst aufhören, die Regierung zu belästigen, wir können Dir 5.000 oder 6.000 Pesos geben. Das käme Dir doch gelegen‘!“ (BI6 110, Sprecher FPDS)

Aber auch die in den Medien präsente Delegitimierung von Landnahmen sowie die komplexen Unterdrückungsstrukturen innerhalb der marginalisierten Stadtteile schwächen den lokalen Zusammenhalt. Ein Beispiel hierfür ist die bolivianische Community (ähnlich auch andere migrantische Communities): Viele Bolivaner*innen sind informell in der Textilbranche tätig, die durch ausbeuterische Strukturen bekannt ist (talleres clandestinos). Die Eigentümer der Nähereien, die in der Regel gleichzeitig auch im Besitz der bolivianischen Radiosender sind, besitzen viel Macht. Diese Sender führten interviewten bolivianischen Aktivist*innen zufolge während der Besetzung einen sehr abwertenden Diskurs gegen die Bolivianer*innen im Parque Indoamericano. Dies trug dazu bei, dass die Besetzung innerhalb der bolivianischen Community auf relativ starke Kritik stieß. Mit Aussagen wie „Wir sind nicht diese Bolivianer“ distanzierte sich die Community. Ferner wird auch der informelle Wohnungsmarkt der Community durch bolivianische Eigentümer beherrscht (Cravino, 2011: 32), die in einigen Fällen auch größere Arbeitgeber sind. In der Summe erschweren diese Mechanismen den Zusammenhalt innerhalb ethnischer Communities und behindern eine offene Thematisierung der Wohnungsnot. Gleichzeitig haben Bolivianer*innen oft wenig Zugang zu anderen Medien, wie die interviewten Aktivist*innen berichteten. Aus Angst, ihre Jobs zu verlieren, scheuten sie sich davor, sich zu organisieren. Zudem werden sie nicht als Mitbürger*innen wahrgenommen, sondern als „Besuch“ (vgl. auch Taller Hacer Ciudad 2011). Daher werden diese

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marginalisierten Gruppen oft als Bürger*innen zweiter oder sogar dritter Klasse bezeichnet (Cravino 2012).10 Die Positionalität der Wohnungssuchenden und Besetzer*innen ist weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass ein pronounciert klassenbasiertes Verständnis von Bürgerschaft in lateinamerikanischen Gesellschaften vorherrscht (Holston 2008). Dies ist im Kontext sozialer und räumlicher Bedeutungszuschreibungen in Buenos Aires und einem in Argentinien tief verwurzelten xenophoben Diskurs zu betrachten. Die ausgeprägten sozialräumlichen Ungleichheiten zwischen den nördlichen und südlichen Stadtteilen der argentinischen Hauptstadt (vgl. Herzer 2008) gehen einher mit historisch herausgebildeten räumlichen Bedeutungszuschreibungen (vgl. Kapitel 7). Vielfach wird die Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Argentinien für gesellschaftliche Krisensituationen verantwortlich gemacht; sei es die seit den 1990er Jahren gestiegene sozioökonomische Exklusion oder die Wohnungsnot, die zur Besetzung des Parque Indoamericano führte. Das eigentliche Problem, nämlich die (fehlende) Wohnungspolitik, wird in der gesellschaftlichen Debatte nicht benannt (Grimson/Caggiano 2012). Immobilienindustrie und Medienunternehmen profitieren von der parallel gestiegenen Thematisierung von „städtischer Unsicherheit“ (Vommaro/Cremonte 2012: 61), für die sich mit Verweis auf die Einwanderung auch Verursacher*innen finden lassen (vgl. Cosacov/Perelman 2011; Kessler 2009). Dies erklärt wiederum die Nachfrage nach bewachten Wohnformen und beeinflusst die Entwicklung von Bodenpreisen. Damit einher geht die kollektive Ablehnung von anderen, ärmeren sozialen Gruppen, was zur Herausbildung eines kollektiven Feindbildes beiträgt (Svampa 2001; Centner 2012).11 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Besetzer*innen des Parque Indoamericano aus unterschiedlichen Gründen nicht als relevante soziale Akteur*innen in der Stadt, sondern als Anteilslose (Rancière 2002), angesehen werden. Sie verfügen einerseits nicht über die Ressourcen – kein ökonomisches Kapital, schwache Netzwerke und Spaltungen zwischen Gruppen, kein Fachwissen –, um ihre soziale Not begreiflich zu machen und medienwirksam aufzutreten. Und andererseits führen die verankerte hegemoniale sozialräumliche Ordnung der Stadt und die ethnische Differenzierung dazu, dass die mit dieser Ordnung

10 Dies verdeutlicht das Exkludierende des Konzepts der Mittelschicht, das für die „Anti-Hochhaus-Initiativen“ hingegen von großem Vorteil ist (vgl. Kapitel 7, 10). 11 Generell profitieren viele gesellschaftliche Akteur*innen in Argentinien von rassistischen Vorurteilen: Die öffentliche Verwaltung umgeht, Politiken für bestimmte Bevölkerungsgruppen zu formulieren; informelle Vermieter kassieren enorme Mieten; Bau- und Textilbranche sowie private Haushalte profitieren von billigen Arbeitskräften, was Aníbal Quijano (2010) als ‚Rassialisierung‘ der Arbeitsteilung bezeichnet.

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verbundene soziale Ungleichheit, Diskriminierung und legalistische Differenziertheit weitgehend unhinterfragt bleiben (vgl. dazu Blomeley 2008). Rahmungen der Besetzer*innen Soeben wurde deutlich, dass die Handlungsmotive der Besetzer*innen und ihrer Repräsentant*innen breit gestreut sind. Dennoch lassen sich einige gemeinsame Rahmungen identifizieren, die im Zuge des Konfliktverlaufs nur eingeschränkt in der Öffentlichkeit platziert werden konnten. Die Voraussetzungen für eine frame articulation und frame amplification (Snow/Benford 2000) war für diese Akteur*innen weniger gegeben als für alle anderen Gruppen. Damit wird auch deutlich, dass strukturelle politische und ökonomische Kräfte neben Faktoren der Identität und des Framings, die im Zuge des cultural turn in der Forschung an Bedeutung gewonnen haben, weiterhin entscheidend sind (Tarrow 2011: 156). Tabelle 16: Frames der Besetzer*innen Rahmungsstrategie Rahmungen und Storylines Zentrale Rahmung

Einforderung von Rechten

• Der Parque Indoamericano ist kein Park. (a) • Landbesetzung ist legitim, das war schon immer so. (b) • Den Armen wird verwehrt, in der Stadt zu wohnen. (c) Gleiches Recht auf Wohnen, auch für die Armen

Die Protagonist*innen, die die Wohnungsnot beklagen, betonten in erster Linie, dass der Parque Indoamericano kein Park im eigentlichen Sinn sei (a). Stattdessen vertraten sie mehr oder weniger einheitlich die Aussage, dass es sich um ein äußerst vernachlässigtes Terrain ohne jegliche Instandhaltung seitens der Stadtverwaltung handle. Aus diesem Grund wurde der Park von den Anwohner*innen kaum genutzt. Im Gegenteil, viele mieden ihn aufgrund der Gefahr von Gewaltdelikten und der Präsenz von Drogenabhängigen. Damit steht der Parque Indoamericano im absoluten Gegensatz zu seinem Äquivalent, dem Parque 3 de Febrero im reichen Norden von Buenos Aires, wie dieser Bewegungsvertreter beschreibt: „In Wirklichkeit war der Indoamericano Brachland. Das einzige, was es gab, waren ein paar Fußballfelder. Davon abgesehen war er für die meisten peripheres Land, Gestrüpp, Gebüsch, alle Arten von Ungeziefer, Schlangen, Ratten, all so was war der Teil, der besetzt wurde.“ (BI8 2, Vertreter CCC)

Das kollektive Nord-Süd Raumbild von Buenos Aires (vgl. Gorelik 2004) wurde genutzt, um zu verdeutlichen, was besagten Ort ausmacht. Anhand dieser place-

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Rahmung rechtfertigen die Familien die Landnahme und die damit verbundene Intention, auch dort zu wohnen. Außerdem reagierten sie mit diesem ästhetisierenden Counter-Frame (wobei sich Park als Storyline fassen lässt) auf die moralische Delegitimierung der Stadtregierung, die die Besetzung als eine „unethische“ Tat darstellt, die nur dazu diene, Entschädigungen zu erhalten. Damit verbunden ist die gemeinsame Rahmung – als Teil der kollektiven Identität der Besetzer*innen –, dass Landbesetzung legitim ist (b), es schon immer das Vorgehen war, um ein eigenes Zuhause zu verwirklichen. Die Menschen seien vielfach in informellen Siedlungen aufgewachsen, die Eltern hätten selbst Land besetzt. So argumentierten die interviewten Besetzer*innen bzw. Bewegungsvertreter*innen (z.B. von CCC, FPDS). In einer Analyse der Praktiken der Besetzer*innen kommt auch Perelman zu dem Schluss, dass die Praxis der Landnahme als „legitime Weise des Zugangs zu Boden“ (2011: 13) in der kollektiven Erinnerung verankert sei. So lässt sich nicht nur von einer von außen vorgenommenen räumlichen Differenziertheit von Rechten sprechen, sondern die Besetzer*innen beanspruchen diese pluralistische legale Ordnung (Santos 1995) auch für sich. Hierzu reiht sich auch die Rahmung ein, dass den Armen nicht zugestanden wird, in Buenos Aires zu wohnen – ein Bild, das sich insbesondere im Zuge der Militärdiktatur gefestigt hat (vgl. Oszlak 1991) –, wie dieser von den Medien zitierte Besetzer betont (c): „Sie sagen, dass wir faul sind und Land umsonst wollen, aber so ist es nicht. Wir wollen unsere Häuser kaufen. Mehr als einmal bewarben wir uns im IVC, aber als ich ein Einkommen von 500 Pesos hatte, baten sie mich um 1.000, und als ich bei 1.000 Pesos war, forderten sie 2.500. Wir wollen nichts umsonst, wir wollen zahlen, aber die Programme müssen auf unsere Möglichkeiten abgestimmt sein. Nur das fordern wir. Und eine Klarstellung: Wir sind hier nicht nur Bolivianer und Paraguayer, es gibt auch viele Argentinier.“ (Rodríguez 2010)

Der Besetzer beschreibt die Erfahrungen vieler Deprivierter, dass der Zugang zu einer Wohnung noch immer mit vielen Hürden verbunden ist; eine Praxis, die Tilly (1997) mit „invisible elbows“ umschreibt. Laut Auyero (2010) handelt es sich dabei um eine gängige politische Strategie zur Unterdrückung ausgegrenzter Schichten. Bewegungsvertreter*innen rahmen diese Vorgehensweisen als „hegemoniale Unterdrückung der Armen“ und moralisieren den Umgang mit unteren Schichten in Buenos Aires. Die Besetzer*innen beklagten auch die fremdenfeindlichen Äußerungen in den Medien. Sie waren jedoch nicht in der Lage, das Framing der Stadtregierung zu entkräften und der fremdenfeindlichen Hetze von

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Arm gegen Arm diskursiv etwas entgegen zu setzen, zum Beispiel um die Anliegen anderer deprivierter Gruppen einzubeziehen. Es werden also auch „Keile“ zwischen nichtkollektive Akteur*innen getrieben: „Manchmal sieht man, wie im Wohnungskomplex von Soldati, dass in einer Wohnung 40 Personen leben. Sie wollten also diesen Widerspruch des Wohnungsdefizits der weniger armen und der noch ärmeren Schichten ausnutzen, sie nutzten ihn wie einen Lendenschurz.“ ( BI8 11, Vertreter CCC)

Nach der Auflösung der Besetzung setzt sich das Einfordern von Rechten zwar weiter fort, insbesondere das Recht auf Protest sowie das durch die Verfassung garantierte Recht auf Wohnen. Die zentrale Rahmung der Besetzer*innen des Parks, die sich als „Recht auf Wohnen für alle“ umreißen lässt, konnte dennoch am Ende kaum Durchsetzungskraft entfalten. Rahmungen der Bundesregierung Als kollektiv vertraute Storyline findet sich das Spannungsverhältnis zwischen Bundesebene bzw. Kirchnerismus und der Stadt Buenos Aires bzw. Macrismus in allen Rahmungen beider Regierungsebenen wieder. Deren unterschiedliche Interessen dominieren die mediale Debatte. Als die Besetzung bekannt wird, ist die Zentralregierung vor allem an einer raschen Konfliktlösung interessiert. Tabelle 17: Frames der Bundesregierung Rahmungsstrategie Rahmungen und Storylines

Konsensuelle statt repressive Konfliktlösung

• Die Stadt ist für Wohnungen und Sicherheit zuständig. (a) • Macri ist mit seiner Wahlkampagne schuld an der (von Punteros organisierten) Besetzung. (b)

• Durch Macris xenophoben Diskurs eskalierte die Situation. (c) • Der Bund hat alles richtig gemacht: vorbildlicher Einsatz von

Zentrale Rahmung

Gendarmerie und Sozialministerium und konsensuelle Auflösung der Besetzung. (d) • Der Bund lehnt jede Besetzung öffentlicher Räume ab. (e) Das Problem muss die Stadt lösen.

Die eben genannte Storyline findet sich treffend in der Rahmung „die Stadt ist für Wohnungsversorgung und Sicherheit zuständig“ wieder (a). Nachdem der Bund die richterlich angeordnete Räumung und Repression des Parks mit 200 Bundespolizisten unterstützte und sich damit mitverantwortlich für zwei Todesopfer und die Verletzung mehrerer Zivilist*innen machte, wurden zunächst jegliche Aktionen eingestellt. Bei der zweiten Besetzung ging die Bundesregierung

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erst drei Tage später der Anweisung des Verwaltungsrichters Gallardo nach, den Park durch die Gendarmerie abzugrenzen. Dabei wies Bundesjustizminister Alak über die Medien mehrfach darauf hin, dass die polizeiliche Überwachung des Geländes in der Kompetenz der Stadt läge. Auf die Forderung Macris nach Unterstützung durch die Bundespolizei reagierte Alak mit dem Verweis auf die umfangreichen Kapazitäten der Stadtpolizei (Clarín 2010b): „Die lokale Regierung ist für den rechtlichen Umgang zuständig, denn das Delikt der Usurpation wurde vor mehr als drei Jahren auf die Stadt übertragen. Macri kann sich seiner Verantwortung nicht entziehen. Die Bundespolizei befolgte die richterliche Räumungsanordnung und übergab der Stadtpolizei die Fläche ohne Besetzer. Wenn die Stadtregierung den Standort danach nicht zu überwachen wusste, ist das nicht unser Problem.“ (La Nación 2010b)

Des Weiteren gab der Bundeskabinettschef Aníbal Fernández dem Bürgermeister die Schuld am Konflikt (b). Dies beträfe nicht nur die Besetzung des Parks, die dieser mit seiner Wahlkampagne zur Vergabe von Besitzurkunden provoziert habe und an der sich Punteros durch den Verkauf von Grundstücken zu bereichern suchten. Die Storyline Punteros steht hier für illegale Bereicherungen. Auch die Eskalation im Park zwischen Besetzer*innen und Anwohner*innen aus Villa Soldati und Villa Lugano sei durch die xenophoben Äußerungen des Bürgermeisters angestachelt worden (c). Mit Bezug auf den Leitdiskurs eines toleranten und modernen Einwanderungsstaates distanziert sich die argentinische Bundesregierung somit klar von dieser „xenophoben und disqualifizierenden“ Haltung (Pertot 2010a). Gleichzeitig wurde das vorbildliche Vorgehen der Bundesregierung zur gewaltfreien Auflösung der Besetzung betont (d). Dies beträfe den friedlichen Einsatz der Gendarmerie sowie die professionelle Erfassung der Besetzer*innen durch Expert*innen des Bundesministeriums für Soziale Entwicklung.12 „Die Gendarmerie ist bereits seit 18 Stunden im Einsatz, ohne irgendwelche Komplikationen und die Arbeit des Bundesministeriums für Soziale Entwicklung verlief einwandfrei.“ (Kabinettschef Fernández, in Clarín 2010c)

In der Tat führten 320 Sozialarbeiter*innen des Bundesministeriums für Soziales den Zensus durch, da sich das entsprechende städtische Ministerium weigerte, 12 Auch die kirchnernahe NGO CELS interpretierte das Vorgehen als positiv: Einbezug von Besetzungsvertreter*innen, kompetente Erfassung der Besetzer*innen, Übergabe von Zertifikaten, friedlicher Abzug mithilfe der Gendarmerie (CELS 2012: 280f.).

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die Erfassung zu übernehmen. Damit demonstrierte der Bund Präsenz vor Ort und Interesse an einer konsensuellen Lösung. Dieses Vorgehen fügt sich ein in die kirchneristische Intention, nicht offen repressiv zu agieren und sich tolerant gegenüber kollektivem Handeln zu zeigen (vgl. Pereyra/Svampas 2009: 237). Dies entspricht der Tendenz zu subtileren Regierungstechniken (Zibechi 2011). Ein wahrer politischer Wille zur Lösung der Wohnungsnot – wie sich nach der Räumung zeigte – ist damit jedoch nicht verbunden. Die zentrale Rahmung, dass der Stadt die Verantwortung für die Umsetzung des Wohnungsprogramms obliegt, dringt hier immer durch. Das zu Beginn der Besetzung geäußerte Verständnis für die Besetzung wurde im Zuge der zweiten Besetzung revidiert (e), und der Kabinettschef stellte klar, „dass die Bundesregierung weder mit irgendwelchen Besetzungen öffentlichen Raums einverstanden ist, noch beabsichtigt, die Besetzung zu belohnen“ (Clarín 2010c). Im Zuge der bürgerkriegsähnlichen Eskalationen berief der Bundeskabinettschef eine Versammlung in der Casa Rosada (Präsidentenpalast) ein. Dazu wurden „Vertreter*innen“ sozialer Bewegungen und Organisationen geladen, die jedoch von der Bundesregierung bestimmt wurden. Darunter befanden sich einige kirchneristische Punteros,13 was die starke Fragmentierung von politischen und zivilgesellschaftlichen Gruppen in der klientilistisch geprägten argentinischen Gesellschaft deutlich macht (vgl. Levitsky 2003; Villalón 2007). „In der Besetzung sah man, dass viele Organisationen da waren, im Fernsehen sprach man von lokalen Organisationen, wie der FOL. Aber nein, da waren mehr, Madres de Plaza de Mayo, Kirchneristen sind das, es gab Punteros der Kirchneristen, da war viel Politik im Park, ganz viel Politik.“ (BI1 19, Besetzerin Gruppendiskussion FOL)

Einige Bewegungsvertreter*innen (u.a. CCC, FPDS, MST, Polo Obrero) lehnten die Vorschläge der Regierungen und somit die Auflösung der Besetzung ab. Sie glaubten nicht an Wohnungsversprechen und versuchten, die Besetzung des Parks aufrechtzuhalten. Die Auflösung der Besetzung und Fragmentierung der Bewegung ist damit wesentlich auf das Vorgehen der kirchneristischen Gruppierungen zurückzuführen.

13 Zu den Teilnehmer*innen zählen u.a. der in den Medien präsente Puntero und Kirchnerist „Pitu“ Salvatierra; Mónica Rueca, Mitglied der Cámpora (kirchnernahe politische Gruppierung) und Präsidentin der Villa Los Piletones; der als Mafiaboss bekannte ehemalige Präsident der Villa 20 Marcelo Changalay, und die inzwischen institutionalisierte Piquetero-Bewegung FTV, die in Buenos Aires über etwa 2.000 Mitglieder und neun Volksküchen verfügt (s. auch Svampa/Pereyra 2009: 239ff).

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Das Agieren dieser Gruppen ist ein besonderes Merkmal des Untersuchungsfalls und zugleich für die Strategie der Bundesregierung bezeichnend.14 Bei einer von Richterin Nazar organisierten Versammlung verhinderten diese Gruppierungen zum Beispiel die Unterzeichnung eines gemeinsamen Dokuments der sozialen Organisationen, da dies der Bundesregierung Mitverantwortung für die Vorfälle im Parque Indoamericano und den weiteren Umgang damit zugeschrieben hätte (Interview Rechtsanwälte CELS). Im Park selbst übte die FTV durch die Bereitstellung von Wasser und Essen Einfluss auf viele Besetzer*innen aus. Die FTV übernahm, wie andere kirchnernahe Organisationen auch, somit (mehr oder weniger bewusst) einen wichtigen Teil der lokalen Kommunikation der politischen Ziele der argentinischen Zentralregierung und beeinflusste wesentlich die Mikrologiken und Machtausübungen auf der lokalen Ebene, wie dieses Zitat aus einem Interview mit einer FTV-Vertreterin deutlich macht: „Die Compañeros kamen für einen Teller Essen oder ein bisschen Wasser, und dort fingen wir an, mit ihnen zu sprechen. ’Compañero, wir dürfen uns nicht mitreißen lassen, wir werden hier auf diesem Land nicht bleiben können, weil das ist nicht richtig. Wir werden eine Lösung suchen, wir sind nicht allein, wir werden erhört’.” (BI4 30, Präsidentin FTV Buenos Aires Stadt)

Beteiligte Besetzerinnen reflektierten im Rahmen eines Gruppengesprächs sehr ausführlich über das korrupte Vorgehen vieler Gruppierungen bezüglich der Wasser- und Essensversorgung. Pitu Salvatierra und sein Team agierten noch offensiver. Aufgrund seiner offiziellen Verbindung zur Bundesregierung vertrauten anfangs viele Besetzer*innen dem kirchneristischen Vertreter. Nach kurzer Zeit offenbarte sich aber seine eigentliche Rolle, nämlich die Androhung körperlicher Gewalt gegenüber Besetzenden und Bewegungen, die die Besetzung aufrechterhalten wollten (vgl. auch La Paco Urondo 2011): „Die Regierung überzeugte die Leute. Er war dort als Kämpfer eingespannt. Aber er ist kein Kämpfer, sondern Funktionär der Bundesregierung, er überzeugte mit Worten und drohte. Er kam mit seiner Gang, zeigte seine Knarre. ‚Du sei ruhig, Du weißt, wie das sonst ausgeht.‘ [...] Er nutzte die Gerüchte aus, dass man ihnen die Sozialhilfen entziehen würde. Also sagten die Leute, ‚wir haben keine Wohnung, aber wenn sie mir auch noch das Sozialgeld wegnehmen, bin ich noch stärker benachteiligt‘. ‚Das sind Lügen, was sie

14 Zugehörige Schlüsselakteur*innen waren während der Besetzung in den Medien stark präsent und vertraten dort Positionen ihrer Organisation und Elemente des Framings der Bundesebene. Allerdings erfolgen solche Zuordnungen, die einer starken Dynamik unterliegen, auch häufig durch die Medien (Vommaro/Cremonte 2012: 84).

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Euch erzählen‘, sagten unsere Kameraden. Und sie kamen und bedrängten sie, sagten, dass sie sie umbringen würden. Sie erzeugten also von zwei Seiten Druck, mit Waffen und dem Entzug von Sozialhilfen.“ (BI6 93-94, Vertreter FPDS)

Diese strategische Bandbreite, die sich auch als politics of scale bezeichnen lässt – sowohl im formellen Rahmen während der Versammlungen im Präsidentenpalast als auch im unüberschaubaren lokalen Feld – verdeutlicht die multiskalare Präsenz der Zentralregierung. Einerseits zeigte sie sich konsensorientiert, lehnte aber eine Zuständigkeit auf Bundesebene ab. Andererseits veranschaulichte die lokale Präsenz kirchnernaher Organisationen die besonderen Einflussmöglichkeiten der Zentralregierung. Diese Strategie fügt sich ein in die Schaffung einer „konsensuellen Ordnung“ (Rancière 2002): Man gibt sich aufgeschlossen für „populare“ Routinen, und wer sich dennoch nicht einordnet, kann nur „gesetzesuntreu“ sein (vgl. Agamben 2004). Außerdem wurden verrechtlichende Logiken angewendet, d.h. Regierungsakteur*innen verwiesen auf die gesetzliche Lage im föderalen Argentinien und damit die Kompetenzen, die auf Ebene der Stadt Buenos Aires verankert seien. Im Gegensatz zur Stadt zeigte man sich jedoch kooperativ (Zensus und Verhandlungen in der Casa Rosada) und ließ die verfeindeten und teils kooptierten Bewegungen den Konflikt lösen. Die zentrale Rahmung der argentinischen Bundesregierung im vorliegenden Untersuchungsfall ist damit: „Die Stadtregierung von Buenos Aires ist für eine Lösung des Konfliktes verantwortlich.“ Rahmungen der Stadtregierung Im Konflikt war die Stadt viel resoluter als der Bund daran interessiert, die Ordnung wieder herzustellen, sich als durchgreifender Staat zu positionieren und die „Verantwortlichen“ zur Rechenschaft zu ziehen, ganz gleich zu welchen Kosten. Tabelle 18: Frames der Stadtregierung Rahmungsstrategie Rahmungen und Storylines

Durchgreifender Staat

• Wir kümmern uns um die villas (Vergabe Urkunden). (a) • Die Besetzung öffentlicher Räume ist illegal. Die Besetzer*innen wollen damit nur soziale Beihilfen kassieren. (b)

• Der Bund muss sich kümmern. (c) • Die Besetzer*innen sind Immgrant*innen, die in Drogenhandel und Kriminalität verwickelt sind. (d)

• Die nationale Migrationspolitik ist schuld. (e) • Die Leidtragenden sind die ehrlichen bedürftigen Bürger*innen Zentrale Rahmung

der Stadt  Arme gegen Arme. (f) Es gibt kein Wohnungsproblem in Buenos Aires.

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Mauricio Macri und Kabinettschef Horacio Rodríguez Larreta kündigten Anfang Dezember 2010 mit folgenden Argumenten die Vergabe von Grundbesitzurkunden an: Auf diese Weise würden die Armen zu Eigentümer*innen, mit der Möglichkeit, Immobilien zu kaufen, zu verkaufen, was einem Zuschuss von 40.000 Dollar gleichkäme (Diario Perfil 2010). Aus ihnen würden also Bürger*innen mit allen damit verbundenen Rechten und Pflichten. Die Urkunden ließen sich somit als Instrument zur Integration in Gesellschaft und Arbeitsmarkt interpretieren, hoben IVC-Präsident Abboud sowie verschiedene Abgeordnete der in der Stadt regierenden PRO hervor. Auch Margarita Barrientos, medienpräsente Inhaberin einer großen von der PRO finanzierten Armentafel in Los Piletones, befürwortete das Vorhaben. Sie betonte, dass die Armen ihre Rechte ausüben wollten, d.h. auch Steuern zu zahlen. In der Analyse fällt auf, dass sie – im Sinne einer Storyline – häufig interviewt und zitiert wird, um Stellungnahmen der Stadtregierung – aus „Sicht“ der Armen – zu untermauern. Mit der Rahmung „Wir kümmern uns um die villas“ (a) erfolgt also ein personalisierter Appell. Es fällt auf, dass nur im Rahmen der Urkundenvergabe die prekären Wohnverhältnisse in Buenos Aires angesprochen wurden. Bis auf wenige Ausnahmen wurde das Wohnungsdefizit während und nach der Besetzung des Parks nicht mehr thematisiert. Stattdessen demonstrierte die Exekutive der Stadt ihre Macht und setzte Räumung und Polizeieinsatz in Gang. Der Konflikt sollte unmittelbar gelöst werden, d.h. die Unterdrückung des Widerstands stand im Mittelpunkt des Interesses. Ergebnis war zunächst eine „erfolgreiche Räumung“, in deren Verlauf zwei Zivilist*innen erschossen wurden. Vor Ort waren am Abend der Räumung der Justizminister und der Minister für Öffentlichen Raum der Stadt Buenos Aires. Die dramatischen Geschehnisse der Räumung wurden durch Verantwortliche der Stadt in den Medien so dargestellt, als wären die Schüsse nicht von der Polizei abgefeuert worden. Viele argentinische Leitmedien äußerten sich in Editorials ohnehin unkritisch zu der brutalen Repression der Besetzung des Parks. Der Clarín stellte die Aggressivität der Besetzer*innen gegenüber der Polizei in den Vordergrund der Berichterstattung und resümierte am Tag danach: „Die Räumung war ein Rekord: Es war eine Sache von Stunden, ohne Beihilfen zu zahlen.“ (Paulin 2010: 16) Die polizeiliche Räumung wurde als Erfolg interpretiert. Denn im Unterschied zu anderen Besetzungen in Buenos Aires konnte der Staat die Besetzung des Parque Indoamericano beenden, ohne Unterstützungsleistungen zu tätigen (b). Dabei stehen soziale Beihilfen als Storyline in der Öffentlichkeit dafür, dass illegale Besetzungen mit sozialen Transfers belohnt werden, wobei es sich um ein überaus anschlussfähiges Framing handelt. Zusätzlich sollte die „Innenan-

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sicht“ von Margarita Barrientos belegen – hierbei wird deutlich, dass die Stadtregierung sich genauso wie die Zentralregierung um lokale Präsenz bemüht –, dass gar kein Wohnungsproblem vorliegt. Neben Beihilfen verwies sie im Clarín auf die Rolle von Punteros, eine Storyline, die das „betrügerische Vorgehen“ der Besetzer*innen untermauert: „80% der Personen, die den Parque Indoamericano besetzen, haben ein Haus. Ermutigt durch Versprechungen politischer Punteros, soziale Beihilfen zu bekommen, haben sie dieses Land besetzt. Die Bundes- und die Stadtregierung sollen sie nach Hause schicken und ihnen nichts geben.“ (Clarín 2010d)

Korrespondierend mit diesen Argumenten der Stadtregierung beschränkte sich die Unterstützung der Ministerin für Soziale Entwicklung Eugenia Vidal auf die Bereitstellung von temporären Notfallunterkünften (CELS 2012: 280). Als die Besetzer*innen dies ablehnten, weigerte sich die städtische Ministerin, die juristisch angeordnete Erfassung der Besetzer*innen im Park durchzuführen, und auch das IVC und das Ministerium für Öffentlichen Raum zeigten keine Handlungsbereitschaft (CxI 2011: 16). Ein weiteres Element des Framings der Stadtregierung ist Empörung. Argumentiert wurde, dass die Besetzung eines öffentlichen Parks, also eines Guts, das allen gehört, in erster Linie allen Anwohner*innen schade. Mit diesem moralisierenden Counter-Framing wurde auf die Besetzung reagiert. Gleichzeitig wurde die nicht-legale Handlung des Landnehmens an sich betont. Letztlich wurden die Einwohner*innen der betroffenen Stadtviertel separiert in kriminelle und „rechtlose“ Besetzer*innen mit Migrationshintergrund auf der einen Seite und beeinträchtigte, gesetzestreue argentinische / weiße Bürger*innen auf der anderen; eine starke diskursive Zuspitzung seitens der Stadtregierung von Buenos Aires. „Macri sagte, dass sie weiterarbeiten würden, damit der Park wieder hergestellt wird, und er bat die Nachbar*innen, nicht für die parzellierten Grundstücke zu bezahlen. ‚Das Gesetz muss befolgt werden und wir dürfen nicht auf die Mafiagangster hereinfallen‘ .“ (Clarín 2010b)

Die Rahmungsstrategie wurde in gewisser Weise ausgeweitet, um die Anliegen der Nicht-Besetzer*innen einzubeziehen; d.h. deren Benachteiligung wurde thematisiert, Schuldige dafür identifiziert und mit der Revitalisierung des Parks Investitionen in die öffentliche Infrastruktur versprochen. Der Bürgermeister gab sich als Beschützer der Armen, die von den Drogenbanden „ausgenommen“

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würden. Mehrfach wurden „die Armen“, zu verstehen als diskursiver populistischer Bezug auf das Volk, davor gewarnt, den Kriminellen Flächen abzukaufen. Außerdem wurde auf die Benachteiligung „ehrlicher Bürger*innen“ in den südlichen Stadtteilen durch wachsende Kriminalität und unmoralische Bereicherung der Nicht-Argentinier*innen verwiesen (d). Dies veranschaulicht die mit diesem Bezugspunkt verbundene Möglichkeit, gleichzeitig alle einzuschließen und Einzelne auszuschließen (vgl. Laclau 2005). Dieses Element des Framings der Stadtregierung verdeutlicht Macris zunehmende Hinwendung zu Populismus und zu unteren sozialen Schichten, was in Argentinien bislang eher für linksgerichtete Parteien typisch war (Casullo 201254f.). Was das Verhältnis zur Bundesebene betrifft, fällt auf, dass Macri und Larreta versuchten, polizeiliche Unterstützung der Bundesebene für eine erneute Räumung einzufordern, anstatt das Ministerium für Soziale Entwicklung als zuständige Einheit einzusetzen (CxI 2011: 10). Damit wurde auch auf ein geschlossenes Auftreten staatlicher Institutionen im Diskurs abgezielt. In einer Pressekonferenz wandte sich der Bürgermeister direkt an die Präsidentin und appellierte an die gemeinsame Verteidigung des Rechtsstaates. „Ich möchte die Präsidentin bitten, dass wir zusammen arbeiten, dass wir die Banalitäten beiseite lassen, wir müssen das Gesetz verteidigen.“ (Clarín 2010b) Als die zweite Räumung abgelehnt wurde und die Bundesregierung sich passiv verhielt, blieb auch die Exekutive der Stadt tatenlos. Stattdessen stritten sich die Regierungsebenen über die Verantwortung der Konfliktlösung. Die Anweisungen des Verwaltungsrichters wurden erst drei Tage später befolgt. Im entscheidenden Moment des Konflikts war der Staat abwesend und es wurden gravierende Koordinationsdefizite innerhalb und zwischen den zuständigen Institutionen deutlich. Außerdem forderte die Stadtregierung, gegen die „unkontrollierte Einwanderungspolitik“ vorzugehen (ebd.). Sie schob mit dieser Rahmungsstrategie die Verantwortung auf die Bundesebene (e) und stellte zugleich medial einen kausalen Zusammenhang zwischen Kriminalität, Drogenhandel und Zuwanderungswellen her.15 Die Heraufbeschwörung einer Bedrohung, eines „state of emergency“, auf den unmittelbar reagiert werden müsse, fügt sich ein in das, was Swyn15 Der Bürgermeister sagte in einer auflagenstarken Tageszeitung im Detail: „Argentinien ist einer unkontrollierten Einwanderungspolitik ausgesetzt. Ich glaube, dass wir Argentinier aufgeschlossen sind, ehrliche Leute zu empfangen, die in unserem Land arbeiten wollen. Aber wir haben ein Recht darauf zu wissen, wer sie sind. Stattdessen erleben wir eine unkontrollierte Situation, wo sich die Stadt Buenos Aires anscheinend um die Wohnungsprobleme aller Nachbarländer kümmern muss. Und das ist absolut unmöglich. [...] Jeden Tag kommen 100, 200 Personen über Drogenhandel und Verbrechen an.“ (Página 12 2010a)

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gedouw (2013: 149) als „entpolitisierten urbanen Populismus“ beschreibt. So werden Ausländer*innen mit rassistischen Äußerungen als Kriminelle und Verursacher des Konflikts identifiziert. Dabei kam Sergio Schoklender, zu jenem Zeitpunkt Bauverwalter eines Sozialwohnungsbauprojektes in Los Piletones mit seiner Behauptung, dass die Besetzer*innen eine „Achse des Drogenhandels zwischen Villa 20 und Villa 1-11-14“ planten, sehr zu Hilfe: „Das waren Drogenabhängige aus den bekanntesten villas [...]. Sie wollten die Wohnungen besetzen und drohten, uns alle zu töten, wenn wir nicht gehen würden.“ (Noticias Urbanas 2010)

Mit diesem xenophoben Diskurs, der bei vielen Bürger*innen auf offene Ohren stößt (vgl. Adamovsky 2009; Sutton 2008), wies die Stadtregierung die Verantwortung von sich und schürte durch eine gezielte mediale Berichterstattung Spannungen zwischen den ebenfalls marginalisierten Anwohner*innen und den Besetzer*innen des Parks. So gelang es, dass die sich als „europäisch-argentinisch“ identifizierenden Anwohner*innen der angrenzenden Viertel, die sich wenig von Politik und Medien gehört fühlen, instrumentalisiert und mobilisiert wurden.16 Durch das fremdenfeindliche Framing des Bürgermeisters wurde ein kausaler Zusammenhang zwischen Zuwanderung und tatsächlich bestehenden sozialen Missständen (v.a. defizitäre technische und soziale Infrastruktursysteme) in der Öffentlichkeit gefestigt. Den öffentlichen Diskriminierungen der Stadtregierung folgend, wurden also Immigrant*innen für die schlechte Lebensqualität verantwortlich gemacht. Und so reagierten die Anwohner*innen auf die Parkbesetzung mit Cacerolazos, also lautstarken Protesten. Über die folgenden Auseinandersetzungen berichteten die Medien so: „Es beginnen die Provokationen der Bewohner der Hochhäuser [Sozialer Wohnungsbau]: ‚Schwuchtel‘, ‚Scheiß Bolivianer‘, ‚Drogenbande‘. ‚Wie es hier nach Scheiße riecht!‘ Von der anderen Seite antworten sie: ‚Hau ab, pass auf Deine Frau auf.‘ Der letzte Kriegsruf kommt: ‚Hey Villero, wenn wir euch kriegen, bringen wir euch um‘.“ (Ruchansky 2010)

16 Vereinzelt kämpfen kleine Initiativen in Villa Soldati gegen weiteren sozialen Wohnungsbau und fordern die Ansiedlung von Infrastruktureinrichtungen (Krankenhäuser, Supermärkte) an Stelle von Parks. Die Stadtregierung nimmt diese Forderungen jedoch kaum wahr. Eine interviewte Anwohnerin aus Villa Soldati führt dies auf die geringe Zahl von Wählerstimmen und mangelnde Praktikabilität von Patronagepolitik in diesem „Arbeitermilieu“ zurück. Um sich zu organisieren, fehlen diesen Anwohner*innen häufig finanzielle Mittel, planerische und juristische Fachexpertise sowie Räumlichkeiten, um sich zu treffen.

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Diese Auseinandersetzungen zwischen Besetzer*innen und Anwohner*innen wurden im Konfliktverlauf zusätzlich durch von der Stadtregierung engagierte Mitglieder von Barras Bravas angeheizt, was teilweise zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen im Parque Indoamericano führte: „Mit der Komplizenschaft der Bundesregierung ließen sie sie los; Gangs waren aktiv, Barras Bravas von Boca, die kommunale Gewerkschaft von Yenta, die ein politisches Abkommen mit Macri haben, hatten diese Halbstarkentruppe dort. Sie haben das Leben von Canabiri auf dem Gewissen. Sie haben die ausgenutzt, die in überfüllten Wohnungen leben.“ (BI8 12, Vertreter CCC)

Zwar appellierte Bürgermeister Macri im Verlauf des Konflikts ständig an die Einhaltung geltender Gesetzen, gleichzeitig setzten sich die städtischen Entscheidungsträger*innen mit der Mobilisierung der Barras Bravas und der Tolerierung der von diesen Gangs ausgeübten offenen Gewalt selbst ins Unrecht (vgl. auch Auyero 2010). Die Medien titulierten die Auseinandersetzung mit den Anwohner*innen mit der Storyline Arme gegen Arme oder okupas contra vecinos (f).17 Mit dieser vielfach gebrauchten Storyline wurde die verbreitete Imagination des Südens von Buenos Aires als von unteren Schichten umkämpfter, gesetzesfreier Ort verfestigt. In der Öffentlichkeit erzeugen diese politics of place den Eindruck, dass die Problematik nichts mit dem Leben der „normalen“ Porteños zu tun hat. Den Konflikt tragen die Armen im Süden von Buenos Aires aus, dem Teil der Stadt, den man nicht aufsucht. Die Normalbürger*innen werden zu räumlich distanzierten Beobachter*innen dieses medialen „Spektakels der Armut“ (Vommaro/ Cremonte 2012: 84). Den marginalisierten Gruppen selbst ist es kaum möglich, die medial präsentierten Bilder zu beeinflussen. Das öffentliche Desinteresse an einer gerechten Entwicklung steht also auch in Zusammenhang mit der Storyline bzw. dem Raumbild des Südens von Buenos Aires. Die im kollektiven Gedächtnis verankerte Nord-Süd-Teilung der Stadt wird über den untersuchten Konflikt hinaus strategisch genutzt für Entscheidungen in der Stadtentwicklung. Die Bürger*innen „erster Klasse“ sind von den konfrontativen Ereignissen im Süden, wo sich die Bürger*innen „zweiter und dritter Klasse“ – häufig mit Migrationshintergrund – konzentrieren, weder räumlich noch emotional betroffen. Dies wird in der Debatte um den Parque Indoamericano mit einem xenophoben Diskurs ge17 Im Unterschied zum sprachlich korrekten „ocupas“ enthält der in spanischsprachigen Ländern gebräuchliche Term „okupas“ eine politische Konnotation. Ähnlich wie in Fall C ist diese allerdings durch die Medien gewählt. Anstatt die politische Komponente anzuerkennen, ist dies eher Ausdruck der Delegitimierung der Besetzung.

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koppelt. Es handelt sich also um eine gesellschaftlich weit akzeptierte Storyline, da sie anknüpft an bestehende räumliche Diskurse. Dieses Zitat verdeutlicht die Haltung vieler nichtbetroffener Bürger*innen „erster Klasse“: „Alle in den Süden, auf dass sie sich dort versammeln, und wenn sie sich gegenseitig abknallen, werde ich sagen, das sind die Einwanderer. Ich werde hier nichts erörtern. Bei diesem Problem wird nichts erörtert. Als das mit dem Indoamericano passiert ist, sagten sie, das waren die Einwanderer, die hierher kommen und alles verstopfen. [...] Da kann man entscheiden, dies nicht zu teilen, aber die allgemeine Denkweise ist so.“ (BI7 46, Anwältin Allgemeine Verteidigung CABA)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Rahmungsstrategien der Stadtregierung auf eine Demoralisierung der Besetzung abzielten. Verwendet wurden dabei juristische und moralisierende Argumente sowie Verweise auf die Verantwortung der Bundespolitik. Es fällt zudem auf, dass sich die Rahmungen der Stadtregierung innerhalb kurzer Zeit verschoben: Vor der Besetzung wurde im Zuge der Ankündigung der Grundbesitzurkunden die Wohnungsnot hervorgehoben. Mit der Besetzung rückten die kriminellen Aktivitäten der Besetzer*innen und deren moralische Verwerflichkeit in den Vordergrund. Dabei wurde ganz wesentlich die Schuld den Migrant*innen aus den Nachbarstaaten zugewiesen. Nach der Auflösung der Besetzung konzentrierten sich die Rahmungen schließlich auf die Kriminalisierung von Armut und Protest. Damit verbunden war auch, dass verschiedene Institutionen in Erscheinung traten, d.h. die anfangs präsenten wohnungspolitischen Einrichtungen rückten in den Hintergrund, und letztlich waren nur noch juristische Einheiten sowie das Ministerium für Öffentlichen Raum öffentlich sichtbar. Die zentrale Rahmung „es gibt kein Wohnungsproblem“ resümiert die Intention der Stadtregierung, die eigentliche Problematik in den Hintergrund zu rücken. Xenophobie erwies sich dabei als sehr anschlussfähig in der Öffentlichkeit. Dieser Teil der Rahmung spiegelt das Interesse der Stadt wider, das Wohnungsproblem nicht lösen zu wollen („Schuld sind kriminelle Ausländer“).18

18 Damit korrespondiert, dass der von der Stadt vorgeschlagene Wohnungsinvestitionsplan für das Jahr 2011 exakt dem bereits vorgelegten Haushaltsjahresplan der Stadt entsprach. Dieser umfasste, den Anteil des Bundes eingeschlossen, 1,6 Mio. Pesos (ca. 660.000 Euro) (CxI 2011: 30). Der Plan wurde von der Bundesregierung abgelehnt, und bis heute ist kein einziges Bauvorhaben aus diesem Plan realisiert worden.

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Rahmungen der rechtlichen Unterstützer*innen Es lässt sich eine Reihe von Akteur*innen benennen, die Wohnungsbedürftige dabei unterstützen, ihr legales Recht auf Wohnen in der Stadt zu realisieren. Im Rahmen der Besetzung des Parque Indoamericano waren verschiedene NGOs, einzelne Abgeordnete sowie die Allgemeine Verteidigung (Defensoría General) und das Verwaltungsgericht der Stadt – die zentralen rechtlichen Instanzen zum Schutz der Bürger*innen – besonders sichtbar. Unterstützung finden diese Akteur*innen auch von etlichen Wissenschaftler*innen. Tabelle 19: Frames der rechtlichen Unterstützer*innen Rahmungsstrategie Rahmungen und Storylines Zentrale Rahmung

Wohnungsversorgung und Prävention von Konflikteskalationen

• Es liegt keine Usurpation, also kein Delikt vor. Alle Einwohner von Buenos Aires haben ein Recht auf Wohnen.

Im Unterschied zu den anderen Parteien stehen hier ausschließlich Rahmungen in Form von juristisch verankerten Argumenten im Vordergrund. Für den Untersuchungsfall ist dabei vor allem relevant, dass durch die juristischen Expert*innen insbesondere das Urteil der Usurpation als juristisch falsch kritisiert wurde. Da es jedoch zu einer Räumung kam, setzten sich unterschiedliche Instanzen für einen möglichst weitgehenden Schutz der Besetzer*innen im Park ein. So konnte dank der raschen Reaktion von Verteidigung und Verwaltungsrichtern, die eigentlich nicht zuständig waren, eine zweite Räumung vermieden werden. Denn aufgrund vehementer Kritik seitens juristischer Instanzen und Menschenrechtsorganisationen verweigerte Richterin Nazar, eine zweite Räumung auszusprechen. Außerdem ordnete der Verwaltungsrichter die Versorgung der Menschen im Park an. Ähnlich wie bei den politischen Institutionen von Stadt- und Zentralregierung waren sich während der Besetzung auch die rechtlichen Instanzen uneinig, wer für den Konflikt zuständig sei. So beanspruchten sowohl das Strafgericht als auch das Verwaltungsgericht die juristische Zuständigkeit für sich. Daraufhin wurde der Oberste Gerichtshof eingeschaltet. Erst nach der Räumung entschied dieser, dass die Angelegenheit nicht als Verwaltungsrechtssache, sondern strafrechtlich zu handhaben sei, so eine Anwältin der Allgemeinen Verteidigung im Interview (BI7 21): „Dazwischen machte parallel die Casa Rosada ihre Verhandlungen. Es waren sehr hektische Tage mit Leuten, die an verschiedenen Stellen viele Sachen forderten. Drei Richter intervenierten, und die sehr langsame Justiz konnte keinerlei Lösung anbieten.”

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Die Basis der Rahmungsstrategie dieser Gruppe, nämlich die Wohnungsversorgung und Prävention von Konflikten, ist das durch die Verfassung der Stadt garantierte „Recht auf Wohnen in Buenos Aires“.

R AUMBEZOGENE

POLITISCHE

W IRKUNGEN

Die Gegenüberstellung der Gruppen erlaubt, zwei Diskurskoalitionen auszumachen (vgl. Tabelle 10). Zunächst stechen gemeinsame diskursive Bezüge der städtischen Ebene und der Bundesebene hervor, die ich im Folgenden als Sicherheits- und Sanktionskoalition bezeichne. Aufgrund der Präsenz der beiden Akteur*innen handelt es sich hierbei um einen sehr starken Masterframe. Innerhalb dieses Masterframes deutet sich ein diskursiver Wandel zu Ungunsten der Wohnungsbedürftigen an. Es ist auch die Verstetigung eines zweiten Masterframes zu beobachten. Auf diesen beziehen sich unter anderem autonome politische Bewegungen, die Allgemeine Verteidigung der Stadt, NGOs und Graswurzelorganisationen sowie einige Parlamentsmitglieder. Diese wesentlich schwächere Diskurskoalition nenne ich im Weiteren Recht auf Wohnen. Im Rahmen der beiden Diskurskoalitionen lassen sich einige Diskurspraktiken ausmachen, die in diesem Zusammenhang angestoßen, transformiert oder reproduziert wurden. Die auffälligsten Wirkungen werden nun dargestellt und in Hinblick auf die zugrunde liegenden politischen Kräfteverhältnisse interpretiert. Diskurskoalition I: Sicherheit und Sanktion Ein Masterframe verstetigt sich: Sicherheit und Sanktion Obwohl Stadt und Bund verschiedene Strategien einsetzten, verfolgten beide ein ähnliches Ziel, nämlich die Besetzung aufzulösen und die Kontrolle über die Lage wiederherzustellen. Die Verantwortung für das Wohnungsdefizit wollten weder Stadt- noch Zentralregierung übernehmen. Stattdessen konzentrieren sich die Rahmungen auf gegenseitige Schuldzuweisungen, und beide thematisierten vor allem nach dem Abzug der Besetzer*innen die Illegalität und moralische Verwerflichkeit solchen Handelns. Diese Argumentationslinien dominieren die Auseinandersetzungen um die Geschehnisse im Dezember 2010 im Parque Indoamericano bis heute. Daher lässt sich von einer diskursiven Koalition sprechen, die einen Masterframe der Sicherheit und Sanktion etabliert und verstetigt hat. Durch das gegenseitige Zuschieben der Zuständigkeit, der Schuldzuweisung auf Ausländer, Punteros und Drogenabhängige sowie einer Moralisierung gegenüber

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den „ehrlichen“ Armen gelang es Bund und Stadt, sich aus der Verantwortung zu ziehen. Relevant ist diesem Zusammenhang, dass sie im Zuge ihrer gegenseitigen Beschuldigungen das eigentliche Problem, d.h. die existierende Wohnungsnot in Buenos Aires, außen vor ließen. So liegen Übereinstimmungen zwischen den beiden Regierungsebenen vor, auch wenn beide im Konfliktverlauf generell stark darauf bedacht waren, gegenseitige Grenzziehungen vorzunehmen. Nachdem die Landnahme zunächst auf das Verständnis einiger Bundesfunktionäre stieß, wurde rasch klargestellt, dass die Zentralregierung jegliche Besetzung öffentlicher Räume ablehne, womit eine Rahmung der Stadtregierung übernommen wurde. Ein Wohnungsdefizit, also ein soziales Problem, wurde auch von Bundesseite nicht bestätigt, weder im Fall des Parque Indoamericano noch bei späteren Landnahmen. Stattdessen werden Verfassungsrechte (Recht auf Wohnen) nicht anerkannt und der Protest wird justizialisiert. Auf diese Weise wird der Diskurs strukturiert (vgl. Donati 2011). Derartige politische Praktiken sind auch landesweit in vergleichbaren Konflikten zu beobachten (vgl. Fernández Wagner 2012). Dazu bemerkte der Stadtforscher Raúl Fernández Wagner in einem Zeitungsinterview: „Auf seltsame Weise zeigten Jujuy und der Indoamericano – genauso wie es in Ushuaia, Bariloche, Trelew oder Córdoba passiert – dass sich eine territoriale Governance durchsetzt, die auf der Nicht-Anerkennung von Rechten basiert (auf Wohnen, auf Stadt), auf der Justizialisierung des Problems und darauf, dass diejenigen, die Rechte einfordern, wie Kriminelle behandelt werden.“ (Yofre 2011)

Der Masterframe Sicherheit und Sanktion schlägt sich in den Handlungen beider Regierungsebenen nieder. Nach der Räumung durch die Polizei ergriffen beide subtilere Strategien der Konfliktlösung in Form von lokalen Interventionen durch politische Punteros. Auf Bundesebene standen die in den Medien präsenten Verhandlungen in der Casa Rosada im Vordergrund. Was in den Medien nicht gezeigt wurde, ist der Einsatz der Punteros im Park mit dem Ziel, die Besetzer*innen zum Abzug zu bewegen. Die Stadtregierung engagierte zur Vertreibung der Besetzer*innen sogar Gangs, die offen Gewalt anwandten (mehrere Medien berichteten Anfang Dezember 2010 von bewaffneten Barra Bravas, die Schüsse auf Besetzer*innen abgaben).

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Tabelle 20: Parque Indoamericano – Diskursdynamiken und -praktiken

Diskurspraktiken Masterframes

Maßnahmen (Aufklärung, Prävention)

Auflösung Besetzung

Ursache Besetzung

Zentralregierung Stadtregierung

Aufgrund des hohen Wohnungsdefizits ist die Besetzung nicht verwunderlich. Macri ist mit seiner Wahlkampagne schuld an der Besetzung.

Durch Macris xenophoben Diskurs eskalierte die Situation. Die Stadt ist für Wohnen und Sicherheit zuständig. Vorbildliches Verhalten des Bunds --

Wir verbessern die Wohnbedingungen in villas (Urkunden). Die Besetzer wollen nur Beihilfen kassieren. Die Besetzer sind Immigranten, die in Drogenhandel/Kriminalität verwickelt sind. Die nationale Migrationspolitik ist schuld. Die Leidtragenden sind die ehrlichen Bürger. Parks besetzen ist illegal. Der Bund muss sich kümmern. Die Räumung war ein Erfolg. --

Wohnungsbedürftige

Rechtliche Unterstützung

Der Indoamericano ist kein Park. Landbesetzung ist legitim, das war schon immer so. Den Armen wird verwehrt, in der Stadt zu wohnen.

Die Regierung kommt der Erfüllung des Grundrechts auf Wohnen nicht nach.

Arme werden gegeneinander aufgehetzt.

Die Besetzung öffentlicher Räume ist illegal u. wird verfolgt.  Sanktionen bei Besetzungen.

Die Organisatoren der Besetzung müssen bestraft werden.  Sanktionen bei Besetzungen.

Kriminalisierung von Protest und Armut.

Morde sind nicht aufgeklärt. Rassistische Diskurse werden genutzt. Armut und Protest werden kriminalisiert.

Wir stellen mehr Sicherheit bereit.

Wir stellen den Park für ehrwürdige Anwohner wieder her.

Versprochenes Wohnungsprogramm muss erfüllt werden.

Versprochenes Wohnungsprogramm muss erfüllt werden.

Sicherheit und Sanktion

Kontrolle & Ordnung über umweltbezogene politics of place. Rechtfertigung von „Nichtpolitiken“

Erhöhung der Sicherheitspolitik.

Erhöhung von Justizialisierungen

Morde müssen aufgeklärt werden.

Recht auf Wohnen

Anhaltende Proteste

Mehr Vorsicht bei Räumungen.

Juristische Einforderung von Wohnen (neues Wohnungsgesetz in Provinz Buenos Aires)

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Auch wenn die Verhandlungen in der Casa Rosada sehr kontrovers verliefen und sich zunächst durch Uneinigkeit verschiedener sozialer Gruppen auszeichneten (Pertot 2010b), kam es zwischen den verschiedenen Ebenen schließlich zu einer Einigung. Daher lassen sich diese Verhandlungen als zentrale diskursive Praktik der Koalition interpretieren (vgl. Brand/Eder/Poferl 1997). Zudem vereinbarten Bundes- und Stadtregierung, dass alle Bürger*innen, die zukünftig an der Besetzung von öffentlichen oder privaten Immobilien und Flächen mitwirkten, aus Sozialhilfeprogrammen sowie aus Wohnungsprogrammen ausgeschlossen würden (CELS 2012: 281). Dies stieß auf große Empörung seitens der Zivilgesellschaft. So verwies die NGO Colectivo por la Igualdad auf die Verfassungswidrigkeit einer solchen Sanktion und dass dafür ein Gesetz erforderlich wäre. Der vom Abgeordneten Ritondo (PRO) unterbreitete Gesetzesvorschlag zur Formalisierung dieses Beschlusses, wurde 2011 zwar behandelt, aber aufgrund umfangreicher Kritik nicht verabschiedet. Dass Stadt- und Zentralregierung letztlich in vielen Belangen mit größerer Übereinstimmung agieren, brachte auch der Soziologe Javier Auyero in einem Interview in Tiempo Argentino auf den Punkt: „So viel Beachtung darauf zu konzentrieren, was die Interventionen der lokalen, regionalen und föderalen Regierungen unterscheidet, kann dazu führen, aus dem Blick zu verlieren, was sie gemeinsam haben, über die antagonistischen Rhetoriken hinaus nämlich die Regulationsweisen und die Disziplinierung der Armen.“ (Forster 2010) Diskurspraktiken: Offene und subtile Unterdrückung Institutionelle Effekte: Erhöhte Sicherheitspolitik Infolge der Eskalationen im Rahmen der Parkbesetzung und der Erschießung von Demonstrant*innen entstand das Bundesministerium für Sicherheit. Die Schaffung dieses neuen Ministeriums wurde von der Präsidentin verkündet, die damit einen Vorschlag des CELS und anderen NGOs aufgriff. Die Aufgabe des Ministeriums ist insbesondere eine verbesserte politische Koordination und Steuerung der nationalen Sicherheitskräfte (CELS 2012: 279). Die erste Änderung des Ministeriums war die Bestimmung eines neuen Polizeichefs der Bundespolizei; eine der wenigen personellen Konsequenzen des Konflikts (Página 12 2010b). Die Gründung des Sicherheitsministeriums veranschaulicht, dass der Konflikt um den Parque Indoamericano mit erhöhter Sicherheit beantwortet wurde, anstatt das Wohnungsdefizit anzugehen. Es handelt sich hier also um eine einschneidende institutionelle Veränderung – nach Hajer (2008) können wir von einer Diskursinstitutionalisierung sprechen –, die beweist, dass sich die Regierung

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über mögliche Folgen der Gewalteskalation im Klaren ist. Das Hauptinteresse der Zentralregierung bestand folglich darin, die Kontrolle über die Situation nicht zu verlieren, wie auch eine interviewte Anwältin der Allgemeinen Verteidigung betonte. Verbunden mit dem neuen Ministerium für Sicherheit ist die erhöhte Präsenz der Gendarmerie in Villa Soldati entsprechend des Programms „Seguridad Cinturon Sur“, worauf die Bürger*innen in unterschiedlicher Weise reagierten (vgl. auch Taller Hacer Ciudad 2011). Während viele Anwohner*innen aufgrund des herrschenden Drogenhandels und der Kriminalität laut einem Stadtforscher zufrieden seien und keine Diskriminierung wie im Fall der Stadtpolizei befürchteten, äußerten Bewegungsvertreter hingegen starkes Misstrauen. Die Präsenz der Gendarmerie diene weniger dazu, die Bürger*innen zu beschützen, als dazu, „die villa zu militarisieren“ und Aktivist*innen „zu kontrollieren, damit wir nicht weiter unsere Rechte einfordern“, so ein Vertreter der FPDS im Interview (BI6 161, 166). Weitere institutionelle Reformen auf Bundesebene, die mit der Schaffung des Ministeriums einhergehen sollten, blieben allerdings aus (CELS 2013: 46). Selbstverständlich handelt es sich hierbei nicht um eine vollkommen neue strategische Ausrichtung der Politik. Die Entscheidung veranschaulicht jedoch die auch in der argentinischen Gesellschaft zunehmende Verfestigung von Sicherheitspolitiken, die auf eine Kriminalisierung der Armut abzielt (vgl. Wacquant 2008) und sich in die Diskussion um eine postdemokratische Konstellation einfügt (vgl. Swyngedouw 2009). Folgen wir Zibechis Annahme, dass informelle und staatlich nicht kontrollierbare Territorien spezifische Machtpotenziale bergen, so reduzieren solche Politiken autonome Entfaltungsmöglichkeiten.19 „Nicht-Politiken“ im Bereich Wohnen Bemerkenswerterweise gab es in der städtischen Wohnungspolitik trotz der eklatanten Wohnungskrise keinerlei Anzeichen für ein Umdenken hin zu einer stärkeren Anerkennung des in der städtischen und nationalen Verfassung verankerten Rechts auf Wohnen. Stattdessen wurden bisherige Praktiken beibehalten. So lässt die in Kapitel 7 angesprochene Budgetpolitik der Stadtregierung darauf schließen, dass der Fokus weiterhin auf temporären Notlösungen liegt (Zapata 2012: 310f.).

19 Allerdings bedeutet die Nichtpräsenz des Staats nicht im automatischen Umkehrschluss, dass Bewegungen mehr Macht haben. Im Gegenteil, angesichts des Misstrauens zwischen vielen Organisationen besteht gar keine Notwendigkeit, dass der Staat präsent ist, da sich die Gruppen gegenseitig schwächen (vgl. dazu Santos 1992).

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Foto 6: Wahlkampagne Mauricio Macri / PRO 2011

Quelle: Eigenes Foto

Foto 7: Bürgermeister eröffnet Spielplätze, Parque Indoamericano

Quelle: Sandra Hernandez; Marcelo Baiardi / GCBA 2011, Creative Commons, https://www.flickr.com/search/?q=indoamericano&l=6

Was das versprochene Wohnungsprogramm angeht, so lässt das Vorgehen des Bundesministeriums für Soziale Entwicklung auf ein begrenztes Interesse an einer (gerechten) Umsetzung schließen: 2011 prüfte das Ministerium die tatsächlichen Wohnbedingungen der im Rahmen des Zensus erfassten Besetzer*innen und damit die Voraussetzungen zur Teilnahme am Wohnungsprogramm. Wer

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zum Zeitpunkt der Prüfung nicht anzutreffen war, verlor den Anspruch. Diese Prüfung wurde weder in der Öffentlichkeit kommuniziert, noch an die betroffenen Besetzer*innen übermittelt. Da viele Familien aufgrund der beschriebenen prekären Mietsituation häufig die Wohnung wechseln oder bei Erhebungen von Vermieter*innen versteckt werden, reduzierte sich die Zahl der Anspruchsinhaber*innen mit 4.000 bestätigten Familien um fast ein Drittel (CELS 2012: 282).20 Eine Unterstützung dieser wichtigen Datenerfassung durch andere Instanzen lehnte das Ministerium ab, genauso zeigte es sich nicht bereit, die Zensusdaten herauszugeben – mit der Begründung, die erfassten Familien schützen zu wollen. Folglich sind wichtige Informationen über diese Zensen nicht zugänglich. Interviewten Jurist*innen des CELS zufolge handelt es sich dabei um eine gängige Praxis, um der juristischen Einklage von Wohnungen vorzubeugen.21 Letztlich wurde das versprochene Wohnungsprogramms auf „Sparflamme“ weiterverfolgt, wie Betroffene sowie die Anwältin der Allgemeinen Verteidigung im Interview berichteten. Es fanden einzelne lokale Versammlungen mit Bürger*innen und Stadtteilvertreter*innen (unter anderem der FTV) statt, an denen das Bundesministerium für Soziale Entwicklung sowie IVC und CBAS teilnahmen (vgl. auch CxI 2011). Eine Bereitstellung oder sogar der Neubau von Wohnungen fand bislang nicht statt. Dies unterstreicht den Unwillen der Institutionen von Stadt- und Bundesregierung, ein Recht auf Wohnen für die Besetzer*innen zu realisieren. Während die Stadtregierung explizit neoliberale Prinzipien verfolgt, demonstriert die Bundesregierung zwar lokal Offenheit für Reformen. Die Verteilung von Ressourcen konzentriert sie jedoch auf die politische Klientel. Dahinter ist auch die Absicht zu vermuten, dass dieses partielle Engagement die Motivation für erneute Proteste mindern soll. Es ist allerdings anzumerken, dass die Untätigkeit, das Wohnungsproblem in Buenos Aires anzugehen, keineswegs nur der aktuellen Stadtregierung vorzuwerfen ist: „Der Staat hat bewiesen, dass weder diese Verwaltung noch die vorherigen gewillt sind, sich der Problematik zu stellen. Tatsache ist, dass diese Verwaltung diesbezüglich auch nicht schlimmer ist als die anderen. Diese Problematik bringt keine Wählerstimmen. Wenn Du sie löst, interessiert das niemanden. Es lohnt sich mehr, einen Fahrradweg zu bauen.“ (BI7 46, Anwältin Allgemeine Verteidigung CABA)22

20 So wurden z.B. in der Villa 1-11-14 von 491 erfassten Familien nur 131 bestätigt. 21 Ebenso kam es schon vor, dass Besetzer*innen wegen Hausfriedensbruch angezeigt wurden, wenn NGOs wie das CELS Erhebungen unterstützten. 22 Die Anspielung auf Fahrradwege steht für die Politik der PRO in Buenos Aires, die sich auf sichtbare (und oberflächliche) städtische Themen konzentriert (Vogt 2014).

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Summa summarum ist eine – auch über den Fall des Parque Indoamericano hinaus – etablierte Nichtpolitik im Bereich Wohnen zu konstatieren. Darüber hinaus lässt sich dies mithilfe eines xenophoben Framings („wir können nicht auch noch für Migrant*innen Wohnungen schaffen“) erfolgreich rechtfertigen (vgl. auch Grimson/Caggiano 2012: 76). Mauricio Macris doppeldeutige Wahlkampagne „Vos sos bienvenido“ (Du bist willkommen) 2011 – ein Jahr nach der Räumung des Parks – zeigt, dass sich die Regierung im diskursiven Umgang mit Migrant*innen bestätigt sah und dabei mit Zuspruch seitens der Bevölkerung rechnete. Rassistische Rahmungen haben sich im Sinne einer „öffentlichen Arena“ (Cefaï 2005) also als anschlussfähig an die Öffentlichkeit erwiesen.23 Die Wahlen im Juli 2011 gewann Macri mit 65% der Stimmen deutlich (2007: 47%). Justizialisierung von Protesten, Nicht-Justizialisierung von Polizeigewalt Die Justizialisierung von Armut und Protest im Rahmen der Parkbesetzung begann im Zuge der Verhandlungen in der Casa Rosada. Auch wenn sich die von beiden Regierungsebenen angekündigten sozialen Sanktionen im Fall zukünftiger Besetzungen bislang nicht durchsetzen ließen, setzte sich die Protestkriminalisierung im Rahmen der gerichtlichen Behandlung der Usurpation fort. Mit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, die Besetzung als Strafdelikt zu behandeln, wurden andere juristische Instanzen und Formen der Gerichtbarkeit ausgeschlossen.24 Diese Entscheidung ist auf die ursprüngliche Begründung der Richterin Nazar für die Räumung zurückzuführen (CELS 2013: 46). Mit der strafrechtlichen Handhabung ließen sich Personen für das Delikt verantwortlich machen, und die Stadtregierung erstattete Anzeige gegen sechs Repräsentant*innen von Bewegungen, wovon vier Personen in Beziehung mit der Zentralregierung stehen und zwei Personen sich autonomen Bewegungen zurechnen.25 Die Allgemeine Staatsanwaltschaft der Stadt begründete die Anklage wie folgt: Dass diese

23 Auf den Wahlplakaten waren ausschließlich weiße Argentinier*innen abgebildet, meist zwischen 25 und 35 Jahren (vgl. Foto 6). Zudem erfolgte eine sprachliche Ausgrenzung von ethnischen Gruppen durch das vor allem in den Ländern der La-PlataRegion (Argentinien, Uruguay, Paraguay) gebräuchliche voseo. In Peru und Bolivien, woher viele Einwanderer stammen, ist das voseo nur teilweise verbreitet. Wissenschaftler*innen kritisierten die Kampagne vehement (Brawer/Campelo 2011; Caggiano u. a. 2012). 24 Der Strafgerichtshof, der die Interessen der Stadtregierung teilt (Interview CELS), ordnete auf Antrag der Staatsanwälte an, mit den Untersuchungen fortzufahren. 25 Richterin Salas, Nazars Nachfolgerin, sah kein Delikt und wollte das Verfahren einstellen. Daraufhin gingen die Staatsanwälte in Berufung, und das Berufungsgericht gab ihnen statt.

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Personen in den offiziellen Verhandlungen vertreten waren, beweise ihr Kontrollvermögen über die Besetzer und darin sehe man Anzeichen, dass es sich um organisierte Punteros handle, die eine „Achse des Drogenhandels und des informellen Wohnungsmarktes“ aufbauen wollten. Von diesen Angeklagten wurden letztlich diejenigen freigesprochenen, die mit der nationalen Regierung verflochten sind. Die zwei unabhängigen Vertreter, Diosnel Perez (FPDS) und Tano Nardulli (CCC) waren hingegen bis Ende 2013, also für einen Zeitraum von drei Jahren, angeklagt. Im Februar 2014 wurde zudem eine Wiederaufnahme des Falls in Erwägung gezogen. Dass kein Vergehen nachgewiesen werden kann, stellt für die Personen also keine Absicherung dar, nicht doch irgendwann verurteilt zu werden, wie deren Anwalt der Graswurzelorganisation Liberpueblo (~ Befreites Volk) etwa zwei Jahre nach der Besetzung betonte. Proteste und Besetzungen werden also kriminalisiert und durch die Aufrechterhaltung von Anklagen gegen Aktivist*innen wird politischer Druck erzeugt und eine „Disziplinierung“ versucht. Die Bewegungsakteur*innen werden so in ihrem Handeln geschwächt, denn weitere Aktionen bergen die Gefahr einer Festnahme und damit einer Gefängnisstrafe. Dieses Vorgehen der Justiz stellt eine in Argentinien übliche und zunehmend eingesetzte Repressionsstrategie dar (vgl. auch CELS 2013): „Ein bestehendes Verfahrens mit Anwälten und Papieren ist eine subtilere und somit sehr nützliche Form der Repression, wenn es nicht notwendig ist, einzusperren, zu schlagen, festzunehmen oder zu töten. Wenn es notwendig ist, festzunehmen, zu töten oder einzusperren machen sie es. Aber wenn sie subtiler sein können, versuchen sie subtiler zu sein.“ (BI2 45, Anwalt Liberpueblo)

Justizialisierungen als Praxis staatlicher Repression sind eine gängige Strategie insbesondere seit den berüchtigten Polizeimorden an Dario Santillán und Maximiliano Kosteki im Jahr 2002 (unter Präsident Duhalde), die für starke Empörung in der Öffentlichkeit sorgten. Liberpueblo zufolge gibt es in Argentinien gegenwärtig mehr als 5.000 Prozesse gegen Bewegungsmitglieder. Der Anwalt von Liberpueblo erläuterte im Interview, dass in einem Land wie Argentinien, wo in Fällen eindeutiger Repression mit starken Solidaritätsbekundungen zu rechnen sei, andere Formen des Handelns juristischer und staatlicher Akteur*innen angewendet werden (vgl. Svampa/Pereyra 2009) (vgl. Kapitel 3). Kampagnen von Bewegungen gegen die Kriminalisierung von Aktivist*innen wie im Fall des Parque Indoamericano erregen durch die Verlagerung auf einen wenig

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sichtbaren place folglich eine vergleichsweise geringe öffentliche Aufmerksamkeit (vgl. dazu Nicholls/Beaumont/Miller 2013). In der empirischen Analyse wurde deutlich, dass viele Personen innerhalb der Justiz die Auflösung von Besetzungen positiv einordnen: So beurteilte Gisela Candarle, Mitglied des Richterrats der Stadt Buenos Aires, im Kontext der Räumung einer besetzten Pension in San Telmo 2012 die gewaltsame Räumung des Parque Indoamericano sogar als eine Art Best Practice im Umgang mit Besetzungen. Denn dort „bewies sich die Bedeutung einer eindeutigen Haltung und einer verbal unbeirrten Message der Institutionen. Als sich die Kabinettschefs von Stadt und Bund einstimmig und kategorisch an die Gemeinschaft wendeten, war die Besetzung beendet” (Candarle 2012). Gleichzeitig ist bis heute wenig Bereitschaft zur Aufklärung der Morde und Körperverletzungen zu konstatieren. Im Gegenteil, Richter Otero wird eine bewusste Behinderung unterstellt. Konkret kritisiert zum Beispiel die NGO CELS die „Geheimnistuerei der Strafjustiz, da die Autopsie erschwert wurde; der Aufruf, den Barras Bravas nachzugehen, wurde nur begrenzt befolgt und das den Besetzer*innen zugefügte Leid wurde als leichte Kränkung eingestuft“ (CELS 2012: 235f.). So wurde im Februar 2012 das Verfahren gegen die 41 Polizisten (33 Stadtpolizei, 8 Bundespolizei) sowie 4 Bundeskommissare und die Richterin Nazar eingestellt, trotz der Vorlage eines fundierten Berichtes der Bundesstaatsanwaltschaft (2011), der eindeutige Indizien enthält, dass die Stadtpolizei die Morde verursachte. Diesem, von Staatsanwalt Sandro Abraldes verantworteten, Bericht zufolge wird angenommen, dass Einheiten der städtischen Polizei die normalerweise genutzte Gummimunition teilweise durch scharfe Munition ausgetauscht hatten. Dies verweist auf die Räume begrenzter Staatlichkeit in Argentinien (vgl. Braig/Stanley 2008). In der medialen Berichterstattung zu dem Verfahren und dem Bericht der Bundestaatsanwaltschaft fällt auf, dass sich Clarín und La Nación auf die Perspektive des zuständigen Richters Otero konzentrierten, der öffentlichkeitswirksam vorwiegend „starke Fehler seitens der Staatsanwaltschaft“ kommunizierte. Auch innerhalb der Polizei bestehen keine Bemühungen, die Morde aufzuklären. Die Stadtregierung verweigert bislang interne Nachforschungen (CELS 2013). Erst auf Einspruch der Anwält*innen der Ermordeten gegen die Einstellung des Verfahrens bestimmte die Kriminalkammer im Mai 2013, das Verfahren wieder aufzunehmen. Das Urteil von Richter Oteros wurde für nichtig erklärt, und mit Mónica Berdión de Crudo übernahm eine neue Richterin den Fall. Diese Behinderung der Aufklärung ist weniger als Sonderfall, sondern als gängige Praxis der Justiz einzuordnen. Damit handelte die Justiz im vorliegen-

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den Konfliktfall nicht als Kontrollorgan, sondern als Unterstützerin der Exekutive.26 Eine Justizialisierung von Protesten als Praktiken der Disziplinierung hat sich also weiter verstetigt, trotz der Eskalationen im Parque Indoamericano. Gleichzeitig wurde die Justizialisierung der Polizeigewalt behindert. Durch die Verlagerung des Themas in den Bereich der Justiz wird das Wohnungsproblem bzw. die Menschenrechtsverletzung unsichtbar in der öffentlichen Debatte gemacht. Diese place-Strategie hatte eine Depolitisierung des Kampfs um das Recht auf Wohnen zur Folge, denn Protest wird vom politischen zum juristischen Thema. Auf diese Weise werden die Möglichkeiten für ein öffentliches Austragen von Konflikten weiter reduziert (Rancière 2001). Diese Entwicklung ist freilich nicht allein auf die Besetzung des Parque Indoamericano zurückzuführen. Hier wurde die Tendenz jedoch besonders sichtbar, die vor dem Hintergrund der konservativen legalistischen Tradition in Argentinien zu betrachten ist, in der die Judikative weniger eine aktive politische Rolle spielt, sondern auf eine strikte Interpretation der Gesetze beharrt wird (Fernández Wagner 2012: 124). Order and control – Revitalisierung von öffentlichem Raum Die Revitalisierungsstrategie um den Park – als einzige proaktive post-KonfliktMaßnahme der Stadtregierung – fügt sich ebenfalls in eine Logik von Ordnung und Kontrolle im Rahmen des Masterframes um Sicherheit und Sanktion ein. Im März 2011 präsentierte der städtische Minister für Umwelt und Öffentlichen Raum, Diego Santilli, dem die Verantwortung für den Park übertragen wurde, einen Plan zur Aufwertung des Parks. Dies veranschaulicht, wie das Wohnungsdefizit als die eigentliche Ursache des Konflikts ignoriert wurde. Stattdessen wurde die Aufmerksamkeit auf die Revitalisierung des öffentlichen Raums gelenkt, eine stadtentwicklungspolitische Strategie, die auch in anderen Zusammenhängen oder Städten zu beobachten ist (vgl. Foto 7). Die Revitalisierung des Parks lässt sich als Versuch interpretieren, die symbolische Bedeutung des Ortes zu transformieren und durch eine neue Nutzung und Ästhetik potenziellen zukünftigen Besetzungen vorzubeugen. Zudem bringen die durchgeführten Maßnahmen die Delegitimierung der Besetzung und die klientelistische Grundausrichtung städtischer Politik zum Ausdruck. Beispielsweise erschweren die neue Umzäunung und der weit entfernte Eingang inzwischen die Nutzung des Parks durch die Bewohner*innen der Villa 20. Überdies wurde im Zuge dessen die Übereinstimmung der Stadtregierung mit der gewaltbereiten und xenophoben Haltung mancher Anwohner*innen offen zum Ausdruck gebracht. So unterstrich Minister Santilli gegenüber den Medien: „Wir haben uns entschieden, in diesem Teil die Arbeit zu beginnen, da dort die Viertel 26 Dies zeigt auch der Mordfall des Aktivisten Mariano Fereyra 2010 (CELS 2013).

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angrenzen, wo die Nachbar*innen das stärkste Engagement für den Indoamericano bewiesen haben. Sie haben im kritischsten Moment die Verteidigung des Parks ergriffen und verdienen unsere Anerkennung.“ (Página 12 2011a)27 In ihren Studien zeigt die Anthropologin María Carman (2011) auf, wie umweltbezogene Rhetoriken genutzt werden, um sozialräumliche Verdrängung zu rechtfertigen, eine Tendenz, die sie als „Fallen der Natur“, beschreibt. Im alltäglichen „Krieg um Raum“ (ebd.) eignet sich die Schaffung von Grünflächen und Parks demnach dazu, die Unterdrückung sozialer Nöte zu rechtfertigen. In dieser Weise werden Natur und Umwelt als leere Signifikanten in Rahmungen gegen soziale Aspekte eingesetzt, und es gelingt, den Umweltschutz als neutralen Wert über das Soziale zu stellen.28 Obendrein fügt sich diese Rhetorik zur Vermeidung neuer Besetzungen und zur Ästhetisierung des Orts in das diskriminierende Ziel der Militärdiktatur ein, Buenos Aires in eine „weiße Stadt“ zu verwandeln (Cosacov/Perelman 2011), was seinerzeit die Schaffung mehrerer Parks in südlichen Stadtteilen nach sich zog (vgl. Kapitel 7). Korrespondierend mit der Strategie zur Aufwertung des Parks war die Stadtregierung zum Erhebungszeitpunkt dabei, einen Masterplan für angrenzende Kommunen zu erarbeiten, der auf „Begrünung“ fokussiert. Überdies passt sich die Parkrevitalisierung in die aktuell zu beobachtende Stadtentwicklungsstrategie ein, die auf eine fortschreitende Revitalisierung des Südens außerhalb bereits gentrifizierter Gebiete abzielt:29 Cluster-Politik, Leuchtturmprojekte in La Boca und Barracas (Philharmonie, Design Zentrum), die geplante Verlagerung des Rathauses nach Constitución und die 2013 begonnene Entwicklung eines zweiten Busbahnhofs für Buenos Aires in Villa Soldati. Die Stadtentwicklung hat schon lange das große Potenzial für neue Infrastrukturen, Wohnen und wirtschaftliche Aktivitäten vor Augen, das eine Entwicklung der südlichen Stadtteile freilegen würde (Gorelik 2004: 235). Der Leiter für Planung des Ministeriums für Stadtentwicklung verwies im Interview diesbezüglich auf strategische Anpassungen, die im Kontext der Ereignisse im Parque Indoamericano zu sehen seien: Während bislang auf eine Entwicklung des zentrumsnahen Südens (San Telmo, Barracas etc.) gesetzt wurde, die nach und nach auf die peripheren Ge27 Wenngleich anzumerken ist, dass die Bedürfnisse dieser Anwohner*innen auch nicht reflektiert wurden. 28 Hier lässt sich zum Beispiel auf die Debatte um die nahe des Puerto Madero gelegene Villa Rodrigo Bueno verweisen. In diesem Fall wurde der Naturschutz als Grund herangezogen, um für die Beseitigung einer informellen Siedlung zu argumentieren, was mit der Behauptung einher geht, dass eine Räumung auch die Umweltgefahren reduziert, denen Besetzer*innen ausgesetzt sind (Carman 2006). 29 In diesem Zusammenhang vermutete die in der Villa 20 aktive Bewegung FOL, dass die sofortige Parkräumung aus Sorge um den Pharma-Industriepark initiiert wurde.

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biete abstrahlen sollte, werde nun eine stärker dezentrale Entwicklung angestrebt. Es lässt sich die These formulieren, dass eine fortschreitende Verdrängung unterer Einkommensschichten dabei in Kauf genommen wird. Diskurskoalition II: Einforderung des Rechts auf Wohnen Schwacher Masterframe: Recht auf Stadt, Recht auf Demokratie Ein zweiter, etwas schwächerer Masterframe nimmt Bezug auf Menschenrechte, insbesondere das Recht auf Wohnen und das Recht auf Demokratie. Verschiedene Gruppen konzentrierten sich seit der Besetzung des Parque Indoamericano darauf, die Einforderung vom Grundrechten des demokratischen Rechtsstaates wieder stärker zu thematisieren: Das Recht auf Protest, auf Aufklärung der verursachten Morde und auf das versprochene Wohnungsprogramm. Kritisiert wird außerdem, dass durch staatliche Akteur*innen ein rassistischer Diskurs erzeugt wird. Einzelne Bewegungen, Menschenrechtsorganisationen und juristische Akteur*innen förderten diesen Masterframe. Statt den Besetzer*innen treten hierbei Bewegungen in den Vordergrund, die bereits mit wichtigen NGOs verflochten sind. Diskursive Eliten greifen diesen Masterframe allerdings nur bedingt auf. Stadt- und Bundesregierung problematisieren die genannten Aspekte entweder gar nicht oder haben konträre Vorstellungen, wie unter anderem das gerichtliche Verfahren gegen die Bewegungsvertreter*innen zeigt. Diskurspraktiken: schwache Mobilisierung, juristische Interventionen Missachtung von Rechten – Anhaltende Proteste Zwei Jahre nach der Besetzung blieb die Fragmentierung der Bewegungen und Organisationen unverändert, und viele Organisationen konkurrierten während und nach der Besetzung um neue Mitglieder. So lag zum Beispiel die Bewegung Tendencia Piquetera Revolucionaria TPR um die bolivianische Witwe des dritten Todesopfers im Dissens mit den Aktivist*innen der FPDS und CCC. Da die lokale FTV mit dem Ministerium für Soziale Entwicklung kooperierte und auf ein Wohnungsprogramm hoffte, verfolgte diese Organisation ebenfalls eher eine selbstbezogene Politik. Es entstand auch keine neue übergeordnete Dachbewegungen, beispielsweise um die zahlreichen Besetzer*innen bolivianischen Hintergrunds. Stattdessen war der bolivianischen Community wichtig, „nirgends aufzutauchen, nicht sichtbar werden“, wie zwei bolivianische Aktivisten (Casona de Flores) berichteten. Die zersplitterten Perspektiven der Organisationen setzten

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sich nach der Besetzung fort und somit konnte keine Handlungsmacht etabliert werden (vgl. Zitat im Anhang). Meinungsdiskrepanzen, wie die Besetzung zustande kam und wer sie wie zu vertreten hat, wirken sich bis heute aus. Dies spiegelt letztlich die zersplitterten Strukturen sozialer Organisationen in Buenos Aires wieder (Svampa/Pereyra 2009; Birle 2010). Einzelne Gruppen setzten ihre Proteste gegen die Kriminalisierung der Bewegung und für das Wohnungsprogramm fort; unterstützt durch Menschenrechtsorganisationen, andere NGOs, juristische Akteur*innen und Abgeordnete. Dies wird besonders anhand der Aktivitäten von FPDS, CCC und FOL deutlich. Aufgrund der Organisationskapazität und eines Kanons gemeinsamer Interessen gelang es diesen Bewegungen, koordinierte Aktionen durchzuführen. Neben Demonstrationen im Zuge der Protestkriminalisierung organisierten sie im März 2011 eine Versammlung und Pressekonferenz im Hotel Bauen. Des Weiteren fand ein Jahr nach der Besetzung ein Festakt statt, um an die drei Morde zu erinnern und erneut die versprochenen Wohnungen einzufordern.30 Diese Aktionen wurden durch Abgeordnete von Stadt- und Bundesparlament unterstützt. Es handelte sich jedoch nur um wenige Unterstützer*innen mit begrenztem Einfluss, so dass die lokalen Veranstaltungen nur bedingt öffentliche Aufmerksamkeit erregten. Präsenter waren in den Medien hingegen Gerüchte um weitere Besetzungen. Zudem gelang es den Bewegungen (im Unterschied zum Jahr 2001) nicht, die „weniger armen und ärmeren“ Schichten zum gemeinsamen Kampf um das Recht auf Wohnen zu vereinen. Im Gegenteil, das Framing der staatlichen Institutionen hat die Klüfte zwischen den marginalisierten Schichten eher vertieft. Genauso wie man nicht verständlich machen konnte, dass die Wohnungskrise die argentinische Gesellschaft insgesamt betrifft, werden auch die Todesopfer nicht einem gemeinsamen, äquivalenten „Volk“ zugeordnet, wie dieser Sprecher der CCC beklagte: „Wir haben es nicht geschafft, klarzumachen, dass die Toten und Ermordeten zu unserem Volk gehören.“ Es konnten also keine Netzwerke gegenhegemonialer Bewegungen etabliert werden, die ein gemeinsames, universelleres Ziel verfolgen (vgl. Laclau/Mouffe 2012; Purcell 2009b). Zumindest aktuell sorgen verschiedene Politiken dafür, dass keine gemeinsamen Artikulationen entstehen können. Wohnungspolitik – juristisch statt politisch Wie oben dargelegt, war der Staat nicht willens, das Recht auf Wohnen anzuerkennen und umzusetzen. Da es für die Bürger*innen wenig aussichtsreich ist, gegenüber der Stadtregierung den Anspruch auf eine Wohnung geltend zu machen, ist es eine gängige Praktik der Wohnungsbedürftigen, konkrete juristische Forde30 Beteiligt waren CCC, PCR, CEPA, PO, PTR, CTA, FOL u.a. (Hoy 2011).

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rungen zu stellen. Denn in Fällen wie der Besetzung des Parque Indoamericano hat sich der Staat den Personen verpflichtet, und „wenn sich der Staat in schlechtem Glauben verpflichtet oder falsch gehandelt hat, ist das sein Problem“ (Anwältin Allgemeine Verteidigung CABA). Auf diese Weise wird also versucht, staatliche Institutionen juristisch zur Bereitstellung von Wohnungen zu zwingen. Dennoch stößt die Allgemeine Verteidigung von Buenos Aires, die ein Jahr nach der Besetzung versuchte, die Erfüllung des Wohnungsplans zu unterstützen, auf diverse Probleme. Theoretisch wäre dies in Form einer juristischen „Kollektivaktion“ möglich. In der Praxis bestehen hier jedoch diverse Hürden. Es müsste sich eine möglichst große Gruppe von im zweiten Zensus (der unter Verschluss ist) erfassten Anspruchsberechtigten identifizieren lassen, die gemeinsam den Wohnungsplan einfordert. Aufgrund der Zersplitterung der sozialen Organisationen in Buenos Aires können sich deren Vertreter*innen nur schwer auf eine gemeinsame Vertretung ihrer Interessen einigen. Zudem würde die Umsetzung eine Auseinandersetzung mit der Bundesregierung beinhalten. Schließlich hält die Verteidigung eigentlich nur reaktive Befugnisse inne, d.h. sie darf nur agieren, wenn Bürger*innen an sie herantreten. Mit dieser juristischen Option geht einher, dass Landnahmen indirekt „gefördert“ werden, weil sie fast die einzige Möglichkeit darstellen, eine Wohnung zu erhalten: „Du besetzt, gehst Du vor Gericht, es gibt ein Urteil und Du hast eine Wohnung. Der Staat ist nicht fähig, andere Lösungen zu artikulieren.“ (BI7 39, Anwältin Allgemeine Verteidigung CABA) Dieses Vorgehen der Wohnungsbedürftigen lässt sich von Exekutive und Staatsanwaltschaft wiederum rechtlich und moralisch einfach delegitimieren. Daraus resultiert der prominente Frame, dass Besetzungen belohnt würden und dies die ungleiche Behandlung von Wohnungsbedürftigen befördere. Die Wohnungsnot in Buenos Aires würde so noch weiter verschärft, da neue Wohnungen nur noch für Klägergruppen reichten. In der Tat bleibt wenig Handlungsfreiraum für die städtische Wohnungspolitik, wenn gerichtliche Urteile, wie im Fall der in Brand gesetzten Villa El Cartón oder der Umsiedlung der Bewohner des Ríachuelo, erfüllt werden müssen.31 Anstatt das Versagen der Politik grundsätzlich zu thematisieren (vgl. auch die Konflikte in Peñalolén und um Hochhausbau), wird das vermeintlich unrechtmäßige

31 Villa El Cartón war eine informelle Siedlung mit ca. 500 Familien. Dort wurde 2007 Feuer gelegt und die komplette Siedlung zerstört. Auf diese Weise gelang es einer heterogenen Gruppe von Puenteros und wohnungsbedürftigen Familien, Sozialwohnungen von der Stadt einzufordern (Auyero/Lapegna/Poma 2009). Mit diesem in den Medien päsenten Fall wird in der Öffentlichkeit assoziiert, dass kriminelle Handlungen mit Sozialwohnungen belohnt werden.

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und unmoralische Handeln von Villeros als Rahmung reproduziert. Neben der Nachahmung durch andere benachteiligte Gruppen führen solche gerichtlichen Beschlüsse zu Konflikten mit benachbarten „Bürger*innen erster Klasse“ und anderen Wohnungssuchenden, insbesondere mit denen, die die Wohnungen ursprünglichen erhalten sollten.32 Die Wohnungspolitik kann als reaktiv resümiert werden, da fast ausschließlich als Reaktion auf juristische Urteile und Auflagen gebaut wird. Wohnungspolitik scheint also zunehmend durch die Judikative bestimmt zu werden. Eine Abstimmung mit den Bedürfnissen der Bevölkerung der betroffenen Viertel von Buenos Aires findet nicht statt. Stattdessen wird notdürftig hier und dort Abhilfe geleistet und – wie in Peñalolén – wohnungssuchende Gruppen gegeneinander ausgespielt (vgl. Zitat im Anhang). Die Einbettung der Besetzung des Parque Indoamericano in die alltäglichen Auseinandersetzungen im Kampf um Wohnen demonstriert aber auch, dass juristisch immer wieder Erfolge zu verzeichnen sind. Allerdings finden diese Aushandlungen weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, und die Unterstützung der Allgemeinen Verteidigung stößt gesellschaftlich insgesamt auf wenig Akzeptanz. Es lässt sich also eine Diskrepanz von juristischen Erfolgen für Wohnungssuchende und der öffentlichen Wahrnehmung konstatieren. D.h. die Akteur*innen der „Rechtskoalition“ sind nur bedingt in der Lage, den hegemonialen Diskurs, der von der Stadtregierung, der Staatsanwaltschaft erfolgreich reproduziert wird, grundsätzlich infrage zu stellen. Schließlich möchte ich auf das 2013 verabschiedete „Gesetz für gerechten Zugang zu Wohnen in der Provinz Buenos Aires“ verweisen, das für die zukünftige Entwicklung der Wohnungspolitik in Buenos Aires von großer Bedeutung sein könnte. Dieses Gesetz wurde von einem Netzwerk aus öffentlichen Einrichtungen und NGOs erarbeitet und steht im Zusammenhang mit der fundamentalen Wohnungskrise der Stadt, die die Besetzung des Parque Indoamericano sichtbar gemacht hat. Zunächst stoppte die Regierung der Provinz das Vorhaben, begleitet von einer empörten Berichterstattung in La Nación über die Verletzung von Eigentumsrechten. Das Wohnungsgesetz wurde aber schließlich verabschiedet und wird als Erfolg im Kampf um das Recht auf Wohnen gefeiert. Es verpflichtet die Entwickler von Luxusprojekten wie Gated Communities, Hypermärkten, privaten Clubs, Shopping Malls und Privatfriedhöfen dazu (die größer als 5.000 m² sind), 10% ihrer Grundfläche als Baugrundstücke für einkommensschwache 32 Beispielsweise wurden für die Umzusiedelnden des Riachuelos bestimmte Wohnungen von organisierten Gruppen besetzt, denen diese eigentlich versprochen wurden, worauf die Stadt mit sofortigen Räumungen reagierte. Dieses Beispiel verdeutlicht einmal mehr die Intransparenz und Ineffizienz städtischer Politiken.

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Gruppen zur Verfügung zu stellen. Außerdem berechtigt das Gesetz die Kommunen der Provinz dazu, brachliegende Grundstücke oder gestoppte Bauprojekte zu enteignen (CELS 2013: 46f.). Judikative: vorsichtigerer Umgang mit Räumungen Die Konsequenzen der voreiligen Räumungsanordnung der Strafrichterin Nazar, die sich als Fehlentscheidung entpuppte, lösten bei vielen juristischen Expert*innen und Richter*innen in Buenos Aires einen Schock aus. Beobachter*innen, etwa der Allgemeinen Verteidigung, sprechen von einem „ein Vor und ein Nach dem Park“ und bestätigen, dass seitdem vorsichtiger mit ähnlichen Fällen umgegangen wird (vgl. Zitat im Anhang). Es scheinen sich also innerhalb der argentinischen Judikative gewisse Lernprozesse abzuzeichnen. Zum Zeitpunkt der empirischen Erhebungen der vorliegenden Studie wurde ferner ein zu zeichnender Gerichtsbeschluss diskutiert, der „einen Standard oder ein modellartiges Handeln“ (Anwältin Allgemeine Verteidigung CABA) etablieren sollte. Ziel dieser Initiative ist es, zukünftig Situationen gewaltsamer Räumung zu vermeiden. Teilweise lassen sich also innerhalb der Judikative Strategien erkennen, die nach Auffassung vieler Beobachter*innen auch im Kontext des Parks zu sehen sind. Dennoch sind die Gestaltungsmöglichkeiten der juristischen Instanzen strukturell eingeschränkt. Sie können in das bestehende politische Gemengelage nur bedingt intervenieren, und wie die interviewte Anwältin der Allgemeinen Verteidigung betonte, geht es im Grunde „um Ressourcen der Bundesregierung, denn die Stadtregierung ist ganz klar nicht in der Lage, was auch immer für einen Ausweg aus dieser Situation zu formulieren.“

Z WISCHENFAZIT Die Ereignisse im Parque Indoamericano sind zu einem häufigen Bezugspunkt in der argentinischen Alltagswelt geworden, wodurch das Thema der Wohnungsnot in der Öffentlichkeit besonders sichtbar wurde. Diese vierte und letzte Fallanalyse zeigt jedoch, dass der behandelte Konflikt zwar die Sichtbarkeit der Wohnungsnot enorm erhöht hat, aber kaum eine grundsätzliche Veränderung der Situation für wohnungssuchende Gruppen nach sich gezogen hat. Zunächst lässt sich die Besetzung auf vier zentrale Auslöser zurückführen, die in Zusammenhang mit einer (Teil-)Abwesenheit des Staates stehen: 1) die wachsende Wohnungsnot in Buenos Aires, insbesondere im informellen Mietsektor, und die sozialräumliche Vernachlässigung der südlichen Stadtteile, 2) die Verunsicherung der betroffenen Mieter*innen durch die Ankündigung von Be-

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sitzurkunden, 3) Auseinandersetzungen zwischen Punteros und politischen Funktionären und 4) die Nutzung von Besetzungen als gängige Praxis „aufständischer“ Bürger*innen. Die spontane Besetzung des Parque Indoamericano im Dezember 2010 barg ein enormes Potenzial, um breite Vernetzungen zwischen sozialen Bewegungen zu generieren und ein gemeinsames politisches Interesse einzufordern. Die Rahmenanalyse bildet jedoch ab, wie es der Stadt- und Bundesregierung gelungen ist, dies weitgehend zu verhindern. Aufgrund ihrer schwachen sozialen Positionalität waren die Besetzer*innen kaum in der Lage, ihre Forderungen öffentlich zu machen. Stattdessen konnten die staatlichen Ebenen starke Frames positionieren und so an herrschende Masterframes anknüpfen. In diesem Kontext ließen sich Diskurskoalitionen um zwei sich verfestigende Masterframes herausarbeiten: „Sicherheit und Sanktion“ und „Recht auf Wohnen“. Gerade die staatlichen Institutionen bezogenen sich stark auf den Masterframe Sicherheit und Sanktion. Für die Stadtregierung lässt sich auf mehreren Ebenen zeigen, dass entsprechende Praktiken nicht nur fortgesetzt, sondern teilweise sogar verschärft wurden. Dies betrifft die Wohnungspolitik, den repressiven Umgang mit Besetzungen und deren Kriminalisierung, die ausbleibende Bereitschaft zur Konfliktaufklärung und die Fortsetzung xenophober Diskurse. Dass sich die einzige proaktive Maßnahme auf die Revitalisierung des Parks begrenzt, fügt sich ebenfalls in diese Diskurskoalition ein. Insgesamt griffen beide Regierungsebenen auf effektive politics of place zurück, um ihre Interessen durchzusetzen: Die Stadtregierung konnte nach dem Konflikt eine starke Präsenz im Park und überhaupt im Süden der Stadt etablieren, wobei ihre Strategien der Kontrollausübung kaum sichtbar wurden. In ähnlicher Weise erhöhte die Zentralregierung ihre Präsenz in besagten Stadtteilen, zum einen durch den Einsatz der Gendarmerie und zum anderen in Form von selektiven Wohnungsversprechen für dort ansässige soziale Organisationen. Dem Staat ist es also gelungen, seine Machtposition zu sichern, ohne auf die Forderung nach einem Ausweg aus der Wohnungskrise direkt einzugehen. Daneben beziehen sich andere Akteur*innen auf das Recht auf Wohnen. Eine Reihe von Bewegungen setzte Protestaktionen fort, und juristische Möglichkeiten zur Durchsetzung von Grundrechten wurden – unterstützt durch wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Organisationen – ausgeschöpft. Die sozialräumliche Positionalität der Protagonist*innen bleibt aber weiter geschwächt. In der Summe lässt sich kaum ein Umdenken oder die Abkehr von gängigen Handlungslogiken konstatieren. Die staatliche Präsenz reduzierte sich auf die Bereitstellung polizeilicher Sicherheit und auf kosmetische Maßnahmen im Park. Dem Ort wird eine neue gemeinschaftliche, naturbezogene Deutung verliehen,

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und es wird als Symbol des Wohnungskampfes nicht nur beseitigt, sondern zukünftige Landnahmen werden damit delegitimiert. Weitere Handlungen erfolgten in Form einer Justizialisierung, insbesondere einer Protestkriminalisierung. Bedingt lassen sich auf juristischem Wege auch soziale Rechte durchsetzen. Dieses Ergebnis ist auf eine Reihe von Gründen zurückzuführen: Zunächst ist die Präsenz des Staates vor Ort in Form von Patronagesystemen zu nennen. Beide Regierungsebenen verfügen über einflussreiche klientelistische Apparate, die das kollektive Handeln von sozialen Bewegungen beeinflussen und teilweise steuern. Auch darüber hinaus finden sich effektive Elemente der Kontrollausübung, sei es die Repression über den informellen Sektor oder der Gebrauch xenophober Rahmungen. Außerdem wird den Wohnungsbedürftigen wenig Bedeutung beigemessen. Im Unterschied zur „Mittelschicht“, der man sich als Argentinier/in zugehörig fühlt, werden diese Gruppen in den Augen der argentinischen Öffentlichkeit kaum als legitime Mitglieder der Gesellschaft betrachtet. Aufgrund der etablierten politischen Strukturen und der schwachen Positionalität der Wohnungssuchenden scheiterte nicht nur die Forderung nach Sozialprogrammen, sondern die räumlichen Dominierungsmechanismen haben sich weiter verfestigt. Gerade die subtile Repression von Protestierenden hat zugenommen, und die staatlichen Akteur*innen behalten die Kontrolle über Narrative um Protest und Besetzung. Des Weiteren veranschaulicht die Analyse die wachsende Bedeutung von juristischen Instanzen in der Wohnungspolitik von Buenos Aires. Allerdings werden diese rechtlichen Institutionen in der vorherrschenden legalistischen Vorstellung Argentiniens wenig als eigenständiger Akteur betrachtet. Insgesamt lassen sich die zu beobachtenden Praktiken in der Wohnungspolitik als zunehmende Entpolitisierung interpretieren. So wurden die wohnungspolitischen Handlungsmöglichkeiten unter Mauricio Macri nicht nur finanziell sowie durch Outsourcing erheblich reduziert, sondern auch wesentliche Verantwortungsbereiche in die Hände der Justiz gelegt, wodurch den Bürger*innen einerseits das Grundrecht auf Wohnen gesichert werden soll und sie andererseits in ihrem Kampf um die Einforderung dieses Rechts diszipliniert werden. Ferner gelingt es mithilfe eines spezifischen Framings, in der Öffentlichkeit einen Konsens für dieses Agieren zu etablieren.

12 Vergleich der urbanen Konflikte

E NTSCHEIDENDE B EDINGUNGSFAKTOREN Als Bedingungsebenen für urbane Konflikte sind – dies versucht dieses Buch deutlich zu machen – die konfliktauslösenden Faktoren, die internen Bedingungen der sozialen Bewegungen und Bürger*inneninitiativen, die political opportunity structures in den Städten bzw. Quartieren sowie die Interaktionsdynamiken der Akteur*innen relevant. Die bereits in Kapitel 7 verglichenen und resümierten political opportunity structures werden hier nicht noch einmal gesondert aufgegriffen, fließen jedoch als wichtiger Faktor in die Diskussion der Interaktionsdynamiken ein. Tabelle 21 enthält eine Gegenüberstellung der Einflussfaktoren und Auswirkungen aller Fallanalysen (vgl. auch Tabelle 1, Kapitel 6). Auslösende Faktoren Die Analyse der Konflikte und insbesondere deren Gegenüberstellung zeigt deutlich die Abhängigkeit der Handlungsimpulse von der sozialräumlichen Positionalität der widerständigen Gruppen. Roth und Rucht (2008) beschreiben einen Handlungsimpuls sozialer Bewegungen, wenn eine externe Problemlage, ein Teil der politischen Ordnung, in eine Subjektivierung, also ein persönlich empfundenes Unrecht übergeht und Menschen aktiv werden lässt (Rancière 2002: 46f.). Für die in diesem Buch untersuchten urbanen Konflikte können die Bedingungen dieses auslösenden Moments spezifiziert und ausdifferenziert werden. Interessant ist, dass trotz der unterschiedlichen Lagerung der Konflikte immer gewisse Aspekte zusammenfallen, die eine Mobilisierung auslösen: In allen Untersuchungsfällen sahen sich die Bürger*innen von drohenden oder sich bereits materialisierenden Veränderungen persönlich betroffen. Diese Veränderungen berühren ihre persönliche Identität, ihre Identifikation mit der unmittelbaren Lebensumgebung und ihre Lebensqualität. Im Fall der marginali-

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sierten Schichten geht die Betroffenheit freilich darüber hinaus. Hier führt die Transformation zu existenziellen ökonomischen Einschnitten, insbesondere in Form von akuter Wohnungsnot und Verdrängung. Des Weiteren kann man aus der Gegenüberstellung der Konfliktfälle ableiten, dass sich diese individuellen Bedrohungen immer in eine „objektiv“ wahrgenommene Problematik im Kontext von Stadtpolitik einbetten. Dabei handelt es sich in allen analysierten Fällen um die (post-)politischen Logiken des Regierens, die sich mehr oder weniger ausschließlich an wirtschaftlichen Interessen orientieren und unzureichende Möglichkeiten der politischen Teilhabe gewähren. Bedingt durch die sozialen Ungleichheiten, die die beforschten Gesellschaften auszeichnen, zeigen sich für sozial schwächere Gruppen dadurch wachsende Benachteiligungen und Diskriminierungen. Damit korrespondierend macht die Gegenüberstellung der Untersuchungsfälle deutlich, dass auch die Forderungen der sozialen Bewegungen unterschiedlich weit reichen. Während zum Beispiel in Vitacura mehr Partizipation in der Planung erstritten wurde, fordert man in Buenos Aires zudem eine effizientere und vertrauenswürdige Politik sowie eine Regulierung des Marktes. Im Süden von Buenos Aires und in Peñalolén wird vor dem Hintergrund von Gentrifizierung, Wohnungsnot und Unterdrückung zudem um ein Recht auf Stadt und einen tiefer greifenden politischen Wandel gekämpft. Ein weiterer wichtiger Befund der vorliegenden Studie ist, dass fallspezifische Bedingungen für ein Aktiv werden nötig sind, d.h. alle Gruppen verfügen über Voraussetzungen ganz unterschiedlicher Art, die die mehr oder weniger unmittelbare Mobilisierung überhaupt erst ermöglichen: In Peñalolén und im Süden von Buenos Aires handelt es sich um eine Protestkultur, die im kollektiven Gedächtnis verankert ist. Im Fall des Widerstands gegen Hochhäuser in Buenos Aires trifft dies teilweise auch zu bzw. wird die räumlich präsente Protestkultur anderer sozialer Gruppen im Sinne von Lefebvres (1991) Repräsentationsräumen erstmals selbst erprobt, auch wenn die Orientierung dieser Gruppen in Teilen abgelehnt wird. In Vitacura wurden die mobilisierenden Energien nicht durch eine kollektive Verankerung, sondern durch die Empörung über die Missachtung der bürgerlichen Interessen durch den lokalen Staat und die Unterschätzung der Kapazitäten dieser Elite des Landes ausgelöst. Interne Bedingungen: Sozialräumliche Positionalität und Handlungsstrategien Anhand der vier Fallanalysen ließen sich sechs Faktoren identifizieren, die im Rahmen der internen Bedingungen die sozialräumliche Positionalität (Sheppard 2002) der sozialen Organisationen in unterschiedlicher Weise beeinflussen. Zu-

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nächst zeigt der Vergleich, dass der sozialen Klasse, der die Akteur*innen von der Öffentlichkeit zugeordnet werden, eine zentrale Bedeutung zukommt. So fällt auf, dass der enorme Einfluss von Salvemos Vitacura in besonderer Weise an ihre Stellung in der Gesellschaft und damit an ihr ökonomisches, soziales, kulturelles und vor allem ihr symbolisches Kapital gebunden ist (vgl. Bourdieu 1983). Die Bewohner*innen von Vitacura werden in Santiago mit der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Elite des Landes assoziiert. Im Unterschied dazu zeigte die Analyse, dass die Pobladores in Peñalolén, die vielfach im informellen Sektor tätig sind, in sozialem Wohnungsbau leben und von Armut betroffen sind, als Bürger*innen zweiter Klasse wahrgenommen werden (vgl. Alvarez Rojas 2008). Entsprechend werden Bewegungen bzw. deren Vertreter*innen öffentlich wenig hervorgehoben und ihre Äußerungen nach Rancière eher als „Lärm“ betrachtet. Stattdessen reduzierte sich die Aufmerksamkeit in diesem Fall auf die Comunidad Ecológica. Die Initiativen in Buenos Aires, die sich auf das urbane Erbe beziehen, gehören zwar ökonomisch nur vereinzelt der Oberschicht an. Aber vor dem Hintergrund des „historisch-kulturellen Modells“ der Mittelschicht gelten sie als der Inbegriff der argentinischen Gesellschaft (Kessler 2002: 275ff). Vor dem Hintergrund, dass dieses Modell im Zuge der Verarmung vieler Angehöriger der Mittelschicht seit den 1990er Jahren eigentlich zusammengebrochen ist, ist dies ein interessantes Ergebnis. Es lässt sich also die These formulieren, dass die Existenz dieser Initiativen das Fortbestehen eines gemeinsamen ideologischen Kerns des kollektiven Fortschritts unter Beweis stellt. Aus diesem Grund stößt ihr Anliegen auf großes Gehör in der Öffentlichkeit. Die Kehrseite dieses argentinischen Inklusionsmodells bekommen die wohnungsbedürftigen marginalisierten Schichten in Buenos Aires zu spüren, die von dem Identitätsmodell ausgeschlossen sind (vgl. Adamovsky 2009). Oder wie eine Soziologin im Interview betonte: sie sind nicht „Teil des kollektiven Gedächtnisses“. Diese wenig gebildeten, von struktureller Armut betroffenen und im informellen Sektor tätigen Bevölkerungsteile, von denen sich mangels ihres kulturellen Kapitals auch die verarmte Mittelschicht abgrenzt (Kessler 2002: 275ff), gelten oftmals als Bürger*innen 3. Klasse und damit als Anteilslose (vgl. Cravino 2011). Diese Einordnungen sind im Kontext eines stark klassenbezogenen Verständnisses von Bürgerschaft in lateinamerikanischen Ländern zu sehen, in dem Individuen nicht als gleich betrachtet werden. Nach O’Donnell (2000) sind demokratische Institutionen in Lateinamerika rechtsstaatlich unzureichend unterfüttert, da es keine zivilrechtliche Gleichheit unabhängig vom sozioökonomischen Status gibt. Ein weiteres wichtiges Ergebnis dieser Arbeit ist, dass die Klassenzuordnung in engem Zusammenhang mit der ethnischen Zugehörigkeit steht. Daraus erga-

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ben sich für die untersuchten urbanen Konflikte teilweise besondere Dynamiken. So waren die Protestakteur*innen, die als Bürger*innen erster Klasse betitelt wurden (Fall A und C), durchweg weiß bzw. Nachfahren europäischer Einwanderer*innen. Im Unterschied dazu scheinen die indigenen Wurzeln oder der Migrationshintergrund vieler Pobladores (Fall B) deren gesellschaftliche Einordnung zu fixieren (vgl. Quijano 2010). Noch deutlicher wurde in der Analyse allerdings, wie die damit verbundene Diskriminierung die Handlungsfähigkeit im Konflikt beeinträchtigt. Wie entscheidend sich die Ethnizität auf das Potenzial auswirkt, soziale Forderungen zu platzieren, offenbarte die Analyse der Besetzung des Parque Indoamericano. Cravinos (2011) Verweis auf eine exkludierte dritter Klasse ist eng verwoben mit dem Umstand, dass dort – real und als Konstruktion in der öffentlichen Wahrnehmung – viele Immigrant*innen aus Nachbarstaaten (v.a. aus Bolivien, Paraguay, Peru) oder Argentinier*innen mit Migrationshintergrund involviert waren. Verbunden mit dem nationalistischen europäischen Identifikationsschema Argentiniens (vgl. Adamovsky 2009; Sutton 2008), das bei den Initiativen um das urbane Erbe als inkludierendes Merkmal bemerkenswerte Kapazitäten freisetzte, ist eine extreme Exklusion und Diskriminierung von Gruppen, die sich in dieses Schema nicht einfügen. Die Besetzer*innen waren während des Konflikts xenophoben Übergriffen und gewaltsamer Repression ausgesetzt. Ihre Bedürfnisse wurden als „Lärm“ (Rancière 2002) abgetan und mithilfe eines nationalistischen Framings erfolgreich delegitimiert. Über eine eigene Stimme verfügten die Wohnungsbedürftigen nicht. Daraus ist abzuleiten, dass Bewegungen, die sich aus ethnischen Minderheiten zusammensetzen, stark reduzierte Möglichkeiten haben, ihre Forderungen zu platzieren (vgl. auch Dzudzek/Müller 2013). Zentral sind drittens die symbolischen territorialen Ortszuschreibungen (vgl. Agnew 2011). Dieser Faktor ist in Verbindung mit den beiden bereits genannten Faktoren zu sehen, wie die Untersuchung zeigt. So ist mit dem Ort Vitacura ein hohes Prestige verknüpft. Hingegen sind die Verfechter*innen des urbanen Erbes nicht in den prestigeträchtigen Stadtgebieten von Buenos Aires angesiedelt, sondern in den traditionellen barrios der Mittelschicht. Aufgrund des hohen damit verbundenen Identifikationspotenzials ist anzunehmen, dass dies noch größeres öffentliches Interesse nach sich zieht, als das partikulare Problem einer elitären Oberschicht (im Sinne von „das ist einer von uns“). Besonders deutlich zeigte sich dieses räumliche Privileg in Caballito, das sich – wie der Sprecher einer Initiative hervorhob – „zum Glück als Synthese der Mittelschicht“ versteht, mit der sich „niemand streiten möchte“. Der Erfolg der dortigen Auseinandersetzungen hat nicht unwesentlich mit dem Image des Stadtteils zu tun (vgl. Azuela/Cosacov 2013). Um also nicht nur Aufmerksamkeit, sondern eine öffent-

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liche Arena für Forderungen zu schaffen (Cefaï 2005), ist auch die Verfügbarkeit über raumbezogene Kapitalien zentral. Peñalolén gilt hingegen als arm und eher gefährlich, so dass den Einwohner*innen der Kommune im stark segregierten Santiago weniger Bedeutung beigemessen wird (vgl. Alvarez Rojas 2008). Im Zuge der place-Zuschreibung kommt dem Süden von Buenos Aires ein weiterer Nachteil zu. Wie dargelegt wurde, gilt dieser seit jeher als arm und wird oftmals in den Medien missbraucht, um das Spektakel der „Armen gegen die Armen“ zu konsumieren (vgl. Vommaro/Cremonte 2012). Des Weiteren erwies sich in der Analyse das ökonomische Kapital der Bewegungen als relevant (vgl. Bourdieu 1983). Hier lassen sich klare Unterschiede zwischen den Fällen konstatieren: So profitierte Salvemos Vitacura von einer hohen finanziellen Ausstattung, was ihr eine besondere Stärke verlieh, da sie dadurch sehr flexibel agieren konnte. Über einen gewissen finanziellen Spielraum verfügen ferner einige Anti-Hochhausinitiativen und die Comunidad Ecológica, was im Rahmen des Referendums auch für den Rat der Sozialen Bewegungen von Peñalolén (CMSP) von Vorteil war. Den Mangel an finanziellen Ressourcen konnte der CMSP durch sein soziales Kapital kompensieren (v.a. effiziente heterogene Netzwerke). Die fehlende Ausstattung mit finanziellen Kapazitäten im Süden von Buenos Aires birgt neben der begrenzten Verhandlungsfähigkeit einen weiteren Nachteil: Durch Kooptierung ließen (und lassen) sich leicht Konkurrenzssituationen zwischen Gruppen erzeugen. In allen Fällen wurde überdies die zentrale Rolle von Wissen deutlich (vgl. Bourdieu 1983), womit (abgesehen von Fall D Parque Indoamericano) ein beeindruckender Prozess der Expertisierung und damit auch Emanzipierung verbunden war. In Vitacura ist diese Entwicklung möglicherweise noch am wenigsten stark ausgeprägt, da hier aufgrund der vertretenen Professionen von Beginn an eine fundierte technische Expertise vorherrschte. Aber die Bewegungen und Initiativen in Buenos Aires und Peñalolén entwickelten sich im Zuge der Auseinandersetzungen zu Fachkräften mit mittlerer bis hoher technischer Expertise in Sachen Stadtplanung, Planungsrecht, Denkmalschutz etc. (vgl. auch Tironi 2012, 2013; Bracco 2013). Bei den Verteidiger*innen des urbanen Erbes zeigte sich zudem, wie hilfreich spezifische Formen kulturellen Kapitals (Bourdieu 1983) sind, etwa ein ausgereiftes organisatorisches Wissen über das politische Tagesgeschäft, den Umgang mit den Medien und die Nutzung politischer Schlüsselkontakte. Ergänzend ist zu sagen, dass die Errungenschaften ein neues Selbstvertrauen im Umgang mit Konflikten etabliert haben. So kommentierte ein Aktivist aus Buenos Aires das lückenhafte Planungsgesetz mit: „Wer das Gesetz bricht, den werden wir bekämpfen, und wenn mir das Gesetz nichts nützt, werden wir es ändern“. Für die Wohnungssuchenden im Parque Indoamericano erwies es sich

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hingegen von großem Nachteil, ganz und gar auf die Expertise Anderer angewiesen zu sein. Gleichzeitig wird diese Unterstützung aufgrund eines umfassenden Misstrauens aber oft nicht angenommen (vgl. auch Geiger 2010). Hier sei jedoch auch auf die Besonderheit des Falls hingewiesen: Die Kurzzeitigkeit des Konflikts ließ nur reduzierte Lernprozesse zu. Insgesamt wurde die Dynamik und Relationalität des Faktors Wissen besonders deutlich (vgl. auch Tironi 2013). Um in der Verhandlung ernst genommen zu werden, wird Fachwissen vorausgesetzt, und es sind bestimmte Bildungsabschlüsse erforderlich, die die Expertise unter Beweis stellen. Ähnlich bedeutend und dynamisch wie das Wissen gestaltet sich der letzte entscheidende Faktor: die Netzwerke der Bürger*innen, eine im Rahmen von contentious politics vielfach untersuchte Bedingung (vgl. Routledge 2003; Della Porta/Tarrow 2005). Im vorliegenden Vergleich konnten einige Parallelen zwischen den Bewegungen offengelegt werden, die den Nutzen komplexer, skalenübergreifender Netzwerke, die unterschiedliche Funktionen erfüllen, aufzeigen (vgl. Nicholls 2009). Zudem lässt sich aus der Gegenüberstellung ableiten, dass je nach Zielstellung und sonstiger Kapitalausstattung unterschiedliche Netzwerke von Nöten sind. Deutlich wurde aber auch, dass der Aufbau hilfreicher Netzwerke gewisse Ressourcen auf anderen Ebenen voraussetzt. Gleichzeitig kann diese Herausbildung von Netzwerken durch verschiedene Mechanismen des divide and conquer erschwert bis unmöglich gemacht werden (vgl. Uitermark/Nicholls/Loopmans 2012). So handelte es sich im Fall von Salvemos Vitacura um eine moderat institutionalisierte Vernetzung, um einen Kern engagierter Einzelpersonen. Diese weak ties (Granovetter 1973) dienten vor allem dazu, Informationen zu streuen, und sie ermöglichten eine professionelle Aufgabenteilung sowie Nutzung von Kontakten zu Printmedien. Auf diese Weise konnte das Netzwerk sehr effizient agieren. Allerdings ist in diesem Fall auch der temporäre Charakter der Initiative zu berücksichtigen. In Peñalolén waren die PobladoresBewegungen hingegen in der Lage, sowohl von ihren vertrauensintensiven, lokalen Netzwerken als auch etwas loseren regionalen, nationalen und vereinzelt internationalen Beziehungen zu profitieren. Diese Kombination von Netzwerkfunktionen auf verschiedenen scales, die Nicholls (2009) basierend auf Granovetters strong and weak ties hervorhebt, erwies sich für die Interessen dortigen Bewegungen als besonders vorteilhaft. Dies ermöglichte auf lokaler Ebene, vertrauensvolle Räume für die Entwicklung von Strategien zu nutzen. Darüber hinaus befähigten die weak ties dazu, von zufälligen Anregungen und Inspirationen, der gegenseitigen Unterstützung für weitere Themen sowie einer kritischen Masse für Mobilisierungen zu profitieren. Zudem konnten sie mithilfe des Planungskonflikts den vorhandenen social movement space (vgl. Massey 2005; Ni-

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cholls 2009) weiter ausbauen. Im Grunde dienen die Netzwerke der Comunidad Ecológica ähnlichen Zwecken. Im Unterschied zu den Pobladores mobilisierten sie diese allerdings gezielt aufgrund des Planungskonflikts. Besonders hervorzuheben sind dabei stadtweite bzw. regionale Netzwerke zur gegenseitigen Beratung. Der Initiative ging es aus strategischen Gründen aber auch um die Netzwerkbildung per se, um sich als eine in Santiago und „auf der ganzen Welt anerkannte“ (Präsidentin der Comunidad) Bürger*innenorganisation präsentieren zu können. Mit diesem Ziel baute die Organisation lose Kontakte zu anderen Eco Villages weltweit auf. Für den Konflikt in Peñalolén erwiesen sich die komplexen Interessen und Strukturen der sozialen Organisationen als großer Vorteil. So ist das erfolgreiche Referendum unter anderem gerade auf die unterschiedlichen sozialen und kulturellen Eigenschaften der Netzwerke um die Pobladores und die Comunidad Ecológica zurückzuführen. Obwohl diese sich kaum abstimmen (wollten), wurde so ein gemeinsames, gegenhegemoniales Interesse verfolgt (vgl. dazu Purcell 2009b). Zumindest temporär lässt sich hier von einem klassenübergreifenden Kampf sprechen, ein Novum in Santiago. In ähnlicher Weise bauten die Initiativen zum Schutz des urbanen Erbes in Buenos Aires zunächst starke Bindungen auf Nachbarschaftsebene auf. Diese setzten sich aus jeweils einem kleinen Kern, der Strategien und Visionen kreiert, und einer gewissen Zahl von Unterstützer*innen um diesen Kern zusammen. Des Weiteren wurden losere regionale, vor allem stadtweite Netzwerke mit anderen Organisationen zur gegenseitigen Information und Beratung erarbeitet. Die Fallanalyse zeigte ebenfalls auf, wie das stadtweite Netzwerk zunehmend die jeweiligen Stärken der geographisch verteilten Organisationen nutzt und man sich bei (lokalen) Aktionen gegenseitig unterstützte. In diesem Fall wurde die Vernetzung durch aktive Vermittler*innen ferner enorm erleichtert. Vereinzelt pflegten die Organisationen auch nationale und internationale Kontakte, um sich auszutauschen (z.B. Graswurzelorganisationen um urbanes Erbe in Santiago und Buenos Aires). Aufgrund der dargelegten Bedingungen sowie gezielten Spaltungen überrascht es nicht, dass sich die Netzwerke der Wohnungsbedürftigen im Süden von Buenos Aires als äußerst schwach bezeichnen lassen. Zudem ließ die kurzzeitige Besetzung keine Möglichkeit, weitere Netzwerke zu etablieren. Die Beziehungen sind nicht nur sozial sehr homogen und konzentrieren sich auf die lokale Ebene, sondern sie zeichnen sich überdies durch starke Misstrauensverhältnisse aus. So veranschaulichte die Analyse, dass Bewegungsvertreter*innen nur vereinzelt von einer unabhängigen Beratung (z.B. NGOs für Menschenrechte) Gebrauch machten. Dies ist im Kontext der starken ideologischen Zersplitterung sozialer Bewegungen in Argentinien zu erklären (vgl. Svampa/Pereyra 2009).

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die sozialräumliche Positionalität von besonderer Bedeutung für den Verlauf der untersuchten Stadtentwicklungskonflikte in Santiago und Buenos Aires ist.1 Zudem erwies sich das Konzept als fruchtbar für eine systematische Analyse der internen Bedingungen der organisierten Bürger*innen. Vor allem die soziale Klassenzugehörigkeit und die damit verbundenen Mobilisierungspotentiale sind relevant. Je stärker Bewegungen in der Lage sind, eine kritische Masse mit dem Anliegen der Gruppe zu identifizieren, umso besser sind die Chancen, Forderungen zu platzieren und von der Öffentlichkeit und der Politik gehört zu werden. Eng damit verbunden sind für die hier diskutierten Konflikttypen die jeweiligen Ortszuschreibungen. Die ethnische Zugehörigkeit erweist sich des Weiteren als maßgeblich. Die anderen Komponenten (finanzielle Ressourcen, Wissen, Netzwerke) sind zentral, aber etwas nachgeordnet. So lässt sich eine mangelnde finanzielle Ausstattung durch ein wirkungsvolles Netzwerk kompensieren. Die drei ersten Faktoren hängen hingegen stärker von externen Zuschreibungen ab. Aus diesem Grund kommt politics of place eine wichtige Bedeutung zu. So findet ein gezieltes Framing nur dann Anerkennung in der Öffentlichkeit, wenn es die zugrunde liegenden ökonomischen und politischen Kräfte zulassen. Folglich sind die kulturellen Facetten, die in contentious politics jüngst verstärkt in den Mittelpunkt gerückt sind, gegenüber diesen traditionell betonten Kräften nicht zu überschätzen, wie auch Tarrow (2011) betont. Denn wie die Diskussion der Diskursdynamiken zeigte, ist nicht nur auf positive, sondern gerade im Fall des Parque Indoamericano auch auf erschwerende Bedingungen hinzuweisen (vgl. dazu auch Rucht/Roth 2008). Zum Ausdruck kommt die Bedeutung dieser Kombination von Faktoren in besonderer Weise anhand der Artikulationsfähigkeit der Organisationen und damit auch der Medienresonanz. Schwächer positionierte Gruppen können ihre Interessen oft nur schwer in der Öffentlichkeit äußern. Der CMSP in Peñalolén demonstrierte jedoch, dass es auch schwächeren Bewegungen gelingen kann, eigene Positionen medial zu platzieren. Eindrücklich ist, wie sich Salvemos Vitacura präsentieren konnte und welch dauerhaft hohe Medienpräsenz die Initiativen um urbanes Erbe inzwischen kennzeichnet. Diese Aspekte der sozialräumlichen Positionalität, deren Reflexion auch erste strategiebezogene Eindrücke lieferte, beeinflussen das eingesetzte formelle und informelle Repertoire der Organisationen. Dazu zählt die Nutzung von Kontakten zu Printmedien und sozialen Medien, die Einbindung von wissenschaftlichen und juristischen Expert*innen, Lobbyarbeit, Nachbarschaftsfeste, De1

Gender wäre unter Umständen ein weiterer relevanter Aspekt, der aber nicht näher untersucht werden konnte, auch weil bewegungsinterne Dynamiken weniger im Fokus der Untersuchung standen.

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monstrationen und Besetzungen. Die konkreten Ausprägungen dieses Handlungsrepertoires werden freilich von weiteren Eigenschaften der Bewegungen und beteiligten Aktivist*innen beeinflusst. So zeigte sich, dass in den Fällen, in denen Machtdifferenzen besonders ausgeprägt sind, viel stärker auf Demonstrationen im öffentlichen Raum zurückgegriffen wird, um diese Differenzen zu kompensieren. Dies ist auch international zu beobachten (vgl. Tarrow 2011). Interessant ist im internationalen Vergleich der urbanen Konflikte, dass in einigen Stadtteilen von Buenos Aires auch mittlere Einkommensgruppen relativ stark von diesen Demonstrationen Gebrauch machen. Hingegen fiel in Santiago auf, dass Initiativen wie die Comunidad Ecológica Mobilisierungen im öffentlichen Raum wesentlich zurückhaltender begegnen und eher Nachbarschaftsfeste u.ä. ausrichten. Dies lässt sich auf die verbreitete „Tabuisierung“ politischer Meinungsäußerung in der chilenischen Gesellschaft zurückführen (vgl. Greaves 2005; Silva 2004). Hierbei wird auch deutlich, dass sich eine Diskussion der „internen“ Bedingungen kaum von äußeren Zuschreibungen trennen lässt. Was die Gegenüberstellung der Rahmungsstrategien betrifft, zeigte sich letztlich, dass die widerständigen Gruppen viel häufiger als staatliche Akteur*innen auf legal verankerte Rechte Bezug nehmen, z.B. das Recht auf Wohnen. Dabei wurde in zwei Fällen mit dem Recht auf Identität argumentiert (Comunidad Ecológica und Anti-Hochhaus Gruppen). Weiterhin schlug sich im Framing das gewachsene Wissen der Bürger*innen in Form von expertisierenden Rahmungen nieder. Die Erörtertung der Vorgehensweise offenbarte ferner, welche Aufmerksamkeit darauf gerichtet wurde, dass sich das Framing am angestrebten Ziel und weniger den individuellen Interessen orientierte. Entsprechend hoben Mittelschichtsbewegungen in Fall B und C die besondere „Wirksamkeit“ von Rahmungen um Umwelt bzw. urbanes Erbe hervor. Man ist also auf eine mehr oder weniger ausgeprägte Universalisierung der Forderungen bedacht, auf deren Relevanz Laclau (2002) verweist. Selbst Initiativen, die sich für die Umsetzung ihrer Ziele explizit apolitisch gaben, was häufig damit kombiniert wurde, gezielt lokale, meist territorial gebundene Anwohner*inneninteressen zu unterstreichen, kamen nicht ohne eine gewisse Universalisierung aus. Die Bürger*innen platzieren also ihr Expert*innenwissen, ihre gesellschaftlichen Wertvorstellungen und ihre legalen Rechten und fordern auf dieser Basis ein tatsächlich wissenschaftlich begründetes Handeln der Politik ein. Sie treten also nicht nur als „Anwohner*innen“ oder Laien auf (vgl. auch Tironi 2013).

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Tabelle 21: Einflussfaktoren und Wirkungsweisen der Stadtentwicklungskonflikte Verdichtung Vitacura

Gentrifizierung Peñalolén

Hochhäuser Buenos Aires

Parque Indoamericano

Besitzurkunden  Verdrängung / Chance

Interaktionn

Political Opportunity Structures

Interne Bedingungen der Bewegungen

Auslöser

Einflussfaktoren Persönliche Betroffenheit

Lebensqualität beeinträchtigt

Enteignung, Verdrängung, Zerstörung Lebensform

Beeinträchtigt durch Hochhäuser, Gentrification

Problematik d. Stadtpolitik Fallspezif. Bedingungen Soziale Klasse Ethnische Zugehörigkeit

Flächennutzungsplan zu oft modifiziert

Gegen Gentrifizierung & soziale Unterdrückung Verankerte Widerstandskultur der Pobladores

Gegen marktbasierte Stadtentwicklung Routinen der Asambleas im kollektiven Gedächtnis

Bürger zweiter Klasse

„Die“ Mittelschicht

Bürger dritter Klasse

Weiß

Oft indigene Wurzeln

Weiß (Nachfahren europäischer Immigration)

Oft Migrationshintergrund (Hinterland, Nachbarstaaten)

Place

Elitäres Image

Teilweise stigmatisiert; arm-reich-Kontraste

Positives Image der Standorte

Standort stigmatisiert

Ökonom. Kapital

Sehr hoch

Niedrig/mittel

Wissen

Technische Expertise sehr ausgeprägt

Technische Expertise

Netzwerke

Professionell

Lokal, regional, national, international (social media)

Forderung

Technisch bis situativ

Gesellschaftlich

Rahmungslogik

Technisch, rechtlich

Strategien

Kontakt zu Medien, Jurist. Klagen, Einbindung Fachleute

Elite unterschätzt Chilenische Elite

Mittel Technische, parteipolit. Expertise, Medienwissen Lokal, regional, national, international; (social media) Technisch-situativ-gesellschaftlich Technisch, rechtlich Kontakt zu Medien, Jurist. Klagen, Schutzerlässe, Lobbying Abgeordnete „formelle“ Demos, Feste Sehr mächtig

Soziale Not, Wohnungsnot Besetzung als Protestform Informelle polit. Praktiken

Keines Wenig technische Expertise Lokal (häufig Misstrauen) Gesellschaftlich

Einfluss Private Kultur Politik & Planung GovernanceStrukturen Öffentlichkeit Bewegegungslandschaft Regierungstechniken Rahmungslogik Politik/Planung Institutionelle Unterstützung

Zentralistisch, keine Stadtregierung Eher positiv

Technisch, rechtlich Tw. Kontakt zu Medien, Jurist. Klagen, Einbindung Fachleute, Demos, Feste Sehr mächtig Technokratisch bis neopopulistisch, formell Zentralistisch, keine Stadtregierung Neutral

Positiv

Eher negativ

Beratend

Kooperativ

Sehr kooperativ

Gespalten, teils ablehnend

Eher autoritär

Autoritär + „kooperativ“

Eher autoritär

Stadt: autoritär, repressiv Bund: „kooperativ“

Medien

Mächtig Technokratisch, formell

Rechtlich, ästhetisierend Spontane Besetzung Demonstrationen Indirekt

Neopopulistisch, informell

Neopopulistisch, informell

Föderal, Stadtregierung

Föderal, Stadtregierung

Technisch, moralisch

Moralisch

Moralisch

Moralisch

Rechnungshof: stark

Rechnungshof: schwach

Progressive Richter, Öffentliche Institutionen

Progressive Richter, Öffentliche Institutionen

Pro Staat und Wirtschaft

Pro Staat und Wirtschaft

Oft wirtschaftsnah

Rassistische Berichterstattung

Auswirkungen Partizipation im Sinne des Gemeinwohls

Wachstum ist gut für alle

Sicherheit und Sanktion

Schwächung Technokratie und Wachstum

Recht auf Mitsprache / Recht auf Stadt

Schutz von urbanem Erbe

Recht auf Demokratie / Recht auf Wohnen (Stadt)

Besänftigung

Partizipationsangebote in Santiago

Mehr Information & Transparenz (E-Government)

Mehr Information & Transparenz; Ankündigungspolitik

Nicht-Politiken im Bereich Wohnen

Kontrolle wiederherstellen

Mehr Vorsicht (lokal) Aktive engagieren sich für Gemeinde

Business as usual (informelle politische Praktiken)

Business as usual (informelle politische Praktiken), rechtliche Spielräume nutzen, Wirtschaft walten lassen

Planungsgesetz partiell fixiert

Planungsgesetz verhindert

Modifikationen des Planungsgesetzes

Justizialisierung Proteste Nicht-Justizialisier. Polizei Control & Order: Sicherheit & Revitalisierung Park Neues Wohnungsgesetz in Provinz Buenos Aires indirekt gestützt

Mehr Rechte durch Partizipationsgesetz

Weniger Rechte durch Partizipationsgesetz

Widerstand

Initiative „ruht“

Lokalisierung von Politiken durch scale jumping

Schaffung + Abschaffung CPPHC, Ombudsperson und rechtl. Verteidiger für Erbe Eingriff über Legislative Justizialisierung

Place

Lokale Identität und bürgerliche Teilhabe

Gestärkte Identität

Neue Identität

Netzwerke

Vor allem lokal

Verstetigung MPL Vernetzung zw. Klassen Interskalare Vernetzung

Verstetigung von Initiativen Vernetzung untereinander

Netzwerke gestört, aber lokal autonome Prozesse

Wissen

Hoch, beraten andere tw.

Professionalisierung

Professionalisierung

Unverändert (gering)

Politisches / Positionalität

„polizeiliche“ Ordnung

Masterframes

Lebensqualität und Mitsprache

Institutionen

Ministerium für Sicherheit Eingriff über Legislative Justizialisierung Geschwächt (Xenophobie, Keile, Deutung des Parks)

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Interaktionsdynamiken Abschließend möchte ich einzelne Aspekte aufgreifen, die im Rahmen der durch die internen Bedingungen und political opportunity structures geprägten Interaktionen zwischen den Bewegungsakteur*innen und politischen Entscheidungsträger*innen aufgefallen sind. Folgende political opportunity structures beeinflussten das Verhalten der Regierungsebenen und die bürgerschaftlichen Gestaltungspotenziale insbesondere: Governance-Arrangements (u.a. Akteurskonstellationen, vertikale Koordinationsstrukturen, institutionelle Regelwerke) sowie die Kultur der Politik und Planung. Nicht zu vergessen sind des Weiteren die mächtigen Elitennetzwerke und deren mit den Standorten verbundene ökonomische Interessen (vgl. Kapitel 7). In allen Untersuchungsfällen stießen die Bewegungen und Initiativen auf eine in ihrem Selbstverständnis autoritäre Exekutive. Diese autoritäre Haltung und die diskutierten repressiven Tendenzen in den Konfliktfällen, stellen eine massive Kraft dar. Zugleich befördert sie jedoch einen entschiedenen Widerstand gegen das Agieren staatlicher Institutionen, wie sich für alle Fälle zeigte (vgl. McAdam/Tarrow/Tilly 2001). Es ist zu vermuten, dass sich die Regierungsebene aus diesem Grund häufig auch kooperativ gab (bzw. im Fall der Parkbesetzung erfolgte eine „Rollenteilung“). Dies wurde nicht selten von einem ausgeprägt populistischen Framing begleitet. Wie in den Fallstudien diskutiert wurde, deutet dies gerade im Umgang mit eher marginalisierten Gruppen auf neue Techniken des Regierens hin, die stärker von gouvernementalen Elementen der Konsensherstellung Gebrauch machen (v.a. die kommunale Regierung in Fall B und die Bundesebene in Fall D) (vgl. dazu Zibechi 2011). Damit wird der „Streithandel“ – nach Rancière (2002) ein Dispositiv der Demokratie – erschwert. Eine Kombination offen repressiver und konsensueller Elemente ist unter Umständen also besonders effektiv. Dies illustrierte besonders die Parkbesetzung Fall D, wo sich die Besetzer*innen kaum organisieren konnten. Hier wurde eine kritische Reaktion der Öffentlichkeit auf das repressive Agieren dadurch abgemildert, dass gleichzeitig eine kooperative Attitüde demonstriert wurde (vgl. auch Svampa/Pereyra 2009). Folgt man der Annahme verschiedener Protestzyklen (McAdam/Tarrow/Tilly 2001), kommt für diesen Fall hinzu, dass die Öffentlichkeit nach Jahren der Zugeständnisse an soziale Bewegungen aktuell womöglich wieder empfänglicher für „mehr Ordnung“ geworden ist. Hingegen fiel das öffentliche Urteil in den Fällen A und teilweise C wesentlich harscher aus, da sich die Exekutivebene gegenüber Salvemos Vitacura und den Anti-Hochhaus Initiativen in entscheidenden Momenten vor allem autoritär gab.

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Eine interessante Parallele, die sich hinsichtlich der Rahmungsstrategien der Regierungsebenen zeigt, ist, dass hier moralisierende Logiken im Kampf um die Besetzung leerer Signifikanten einen zentralen Platz einnehmen („diese Forderungen schaden dem Gemeinwohl“, „Die Stadt braucht mehr Wohnungen“, „was diese Organisationen tun, zerstört unsere Wirtschaft“ etc.). In verschiedenen Zusammenhängen ließ sich des Weiteren beobachten, dass Schuldzuweisungen im Framing ein häufiges Element darstellen. Dies hat den Nebeneffekt, dass so von den eigentlich relevanten Fragen und Ursachen abgelenkt wird. Bei der Parkbesetzung betrifft dies die Diskussion, was Zentral- und Stadtregierung unterscheidet, und welche Ebene die Verantwortung trägt. Dadurch lassen sich mögliche Gemeinsamkeiten verschleiern (vgl. auch Auyero/Lapegna/Poma 2009), ein Effekt, der beiden Ebenen zugute kommt. In Peñalolén war das Framing hingegen so gelagert, dass die Comunidad Ecológica als „Sündenbock“, der die Schuld für den fehlenden sozialen Wohnungsbau trägt, missbraucht wurde. Dies illustriert, wie hilfreich die NIMBY-Debatte für Politik und Planung sein kann, da auf diese Weise eine effiziente Ablenkung von Verursachern erfolgt und sich ein Akteur von vornherein delegitimieren lässt. Das Entstehen von Netzwerke zwischen Bewegungen wird dadurch erschwert. Es zeichnet sich also ab, dass die Argumente staatlicher Akteur*innen weniger wissenschaftlich sind, als das zentral platzierte Leitbild der expertenbasierten Technokratie zunächst vermuten ließe (vgl. auch Tironi 2013). Empirisch ist zu beobachten, dass wissenschaftliche Befunde (z.B. Wohnungsnot) genutzt werden, um politische Interessen auf populistische Weise als neutral und dem Gemeinwohl dienend zu platzieren (vgl. dazu Swyngedouw 2009), was sich in die postdemokratische Konstellation einfügt (Rancière 2002). Die staatlichen Institutionen treten also nicht nur mit quasi technokratischen Argumenten auf. Diese Beobachtung bestätigt auch die naheliegende Verknüpung von technokratischen und populistischen divide and conquer Techniken (vgl. Weyland 2003), die vor dem Hintergrund ihrer Gemeinsamkeiten, unter anderem die Entscheidungshoheit durch Wissen oder als Anführer des Volks zu beanspruchen, zu verstehen ist. Es kann auf Basis der empirischen Untersuchungen dieser Arbeit darauf hingewiesen werden, dass die autoritäre Haltung staatlicher Akteur*innen in Buenos Aires auf eine stärker institutionalisierte Kritik und öffentliche Kontrolle stößt. Progressiv orientierte Richter, deren Entscheidungen oft die Interessen der Stadtregierung durchkreuzen, spielen dabei eine wichtige Rolle (vgl. Azuela/Cosacov 2013). Damit werden Steuerungsdefizite und allgemeine Gesetzeslücken in Hinblick auf Wohnen und Stadtplanung kompensiert. Des Weiteren ist der Aufbau eines losen stadtweiten Netzwerkes für urbanes Erbe in Buenos Aires

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auf einige unterstützende öffentliche Instanzen zurückzuführen, die die Bürger*innen in Santiago nicht in vergleichbarer Weise nutzen können. Diese Instanzen schließen Teile des städtischen Justizsystems und einzelne Parlamentarier des Abgeordnetenhauses von Buenos Aires ein. Dabei wurde auch deutlich, dass dabei das individuelle Engagement der Vertreter*innen dieser Institutionen für die Effektivität entscheidend ist. Im Unterschied dazu griffen die in Santiago untersuchten Bewegungen und Initiativen weniger auf die Unterstützung öffentlich-staatlicher Organe, sondern ausschließlich auf Graswurzelorganisationen und andere konsolidierte Initiativen zurück. Vereinzelt stützten NGOs die Anliegen der Bewegungen mit institutionellen und ökonomischen Ressourcen. Diese besonderen Merkmale der Situation in Buenos Aires stehen im Zusammenhang mit einer im Vergleich zu Chile stärkeren politischen Verwaltungsebene (vgl. Kapitel 7). Die eigene Verfassung der autonomen Stadt unterstützt den Einsatz für Menschen- bzw. Bürgerrechte (vgl. auch Bracco 2013). Es lässt sich zudem die These aufstellen, dass die informellen Strukturen und der politische Dissens in Buenos Aires teilweise mehr Möglichkeiten der Intervention durch soziale Bewegungen liefern. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Arampatzi und Nicholls (2012) in einer Studie über soziale Bewegungen in Griechenland. Die Kommunen in Chile sind hingegen weniger durchlässig und empfänglich für politische Eingriffe. Dafür lassen sich unter anderem folgende Erklärungen anführen: 1) Es gibt keine gemeinsame metropolitane Verwaltungsebene, 2) der politisch schwachen Kommunalebene steht eine mächtige zentralstaatliche Ebene gegenüber, und 3) einflussreiche konsensorientierte technokratische Elitennetzwerke beherrschen den Stadtentwicklungsdiskurs. Die politischen Routinen sind wiederum weniger „unsauber“. Die Grenzen der Einflussnahme in beiden Ländern haben allerdings – zumindest bislang – statt längerfristigen eher singuläre institutionelle Effekten erzeugt. Freilich nicht überraschend, jedoch ob der Eindeutigkeit erwähnenswert ist, dass von greifbaren Einflussmöglichkeiten aufgrund der verankerten, sozialen Ungleichheiten vor allem obere Einkommensschichten profitieren können. Im Kontext von Elitennetzwerken und der privatwirtschaftlichen Selbstregulierungskräfte sei auch auf die Rolle der Medien für die Artikulation und Entwicklung der urbanen Konflikte hingewiesen, die – wie bereits Logan und Molotch (1987) betonten – weit mehr als ein Spiegelbild der öffentlichen Meinung darstellen. Die oligopolen Medienunternehmen in Chile erschweren es den Bewegungen, ihre Frames in großen Blättern zu platzieren. Salvemos Vitacura war dies nur aufgrund einer guten Ausstattung mit wichtigen Kapitalien möglich. In Argentinien sind die Medien zwar weniger vereinheitlicht, aber auch dort beeinflussen starke ökonomische Kräfte im Hintergrund, in welcher Weise Forderun-

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gen der Bewegungen reflektiert werden. Hinzu kommt die ausgeprägte politische Färbung der Debatten, entweder durch eine positive Haltung gegenüber der Zentralregierung oder der Stadtregierung. Somit werden in der Berichterstattung Proteste und Forderungen von Bewegungen häufig mit parteipolitischen Aktivitäten oder Interessen verflochten und damit ihre Legitimation in Frage gestellt. Generell erschweren diese Bedingungen das Agieren von Bewegungen gerade an Standorten, die besonders stark im Fokus der Immobilienentwicklung stehen. Dies trifft im Grunde für alle Fälle zu. Hier ist die Diskrepanz der Kräfte der Bewegungen und der Privatwirtschaft besonders ausgeprägt. Mit Blick auf die Interaktionsdynamiken in den Konfliktfällen lassen sich also folgende Aspekte resümieren: Zunächst nehmen konsensuelle (planungs-) politische Praktiken einen wichtigen Stellenwert ein. Dies kann neue Nischen der bürgerschaftlichen Einflussnahme eröffnen, obgleich durch die wachsende Verflechtung mit autoritären Praktiken aber auch eine Schwächung sozialer Bewegungen erzeugt werden kann. Verbunden damit sind des Weiteren kontraintuitiv zu beobachtende moralisierende Rahmungslogiken und populistische Handlungs- und Rahmungsstrategien des divide and conquer. Dabei machen die Akteur*innen der Stadtpolitik und -planung Gebrauch von schuldzuweisenden Elementen wie NIMBY-Vorwürfen oder der Instrumentalisierung von Grünflächen. Dieses diskursive Repertoire stellte für alle betroffenen Bewegungen eine Herausforderung dar; umso mehr, wenn sich die Medien durch starke ökonomische Verflechtungen auszeichnen. Gerade Fall C offenbarte, dass angesichts der vielschichtigeren Medienlandschaft in Argentinien mehr Möglichkeiten bestehen, dem Protest in der Presse Ausdruck zu verleihen. Ein weiterer Vorteil der argentinischen organisierten Bürger*innen ist die Unterstützung durch vermittelnde rechtsbezogene Instanzen. Hinsichtlich der lokalen Governance-Strukturen ist schließlich festzuhalten, dass die gemeinsame administrative Bezugsebene und die verankerten informellen Strukturen in Buenos Aires gewisse Gelegenheiten der demokratischen Intervention eröffnen. Damit verknüpft sind jedoch Risiken politischer Willkür, die für die Fälle aus Chile nicht in gleichem Maße zu befürchten sind.

G EGENÜBERSTELLUNG

DER

W IRKUNGSWEISEN

Veränderung von Masterframes In den behandelten Konflikten waren die widerständigen Gruppen – in Abhängigkeit der soeben diskutierten Einflussfaktoren – in unterschiedlichem Maße in

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der Lage, auf anerkannte Masterframes einzuwirken. Dabei ist zu betonen, dass die folgenden Erörterungen – den Annahmen von Laclau und Mouffe (2012) folgend – als Momentaufnahmen in einem kontingenten Prozess der diskursiven Fixierung zu verstehen sind (vgl. Tabelle 21). Für Vitacura lässt sich sagen, dass es gewisse Tendenzen gibt, die auf eine Verschiebung des Verständnisses von Stadtpolitik verweisen. So stärkte sich im Zuge der Auseinandersetzungen ein für Santiago relativ neuer Masterframe, der um mehr Lebensqualität (anstatt einer rein ökonomischen Tauschlogik) und wahre Mitsprache in der Stadt kreist. Gleichzeitig gelang es der dortigen Initiative, zwei für Santiago und Chile wesentliche Leitbilder zumindest temporär in Frage zu stellen. Zum einen das Paradigma der Technokratie und zum anderen die anerkannte, dem Gemeinwohl dienende Vorstellung einer vertikal und horizontal wachsenden Stadt. Dieses Aufbrechen anerkannter Leitbilder gelingt auch deshalb, weil die Forderungen landesweit präsenter Bürger*innen seitens lokaler Politik und technokratischer Elite bis zuletzt in autoritärer Weise abgeblockt wurden. Eine unauffällige Schließung des Diskurses war folglich nicht möglich. Indem sich die lokale Regierung die Rahmungen der Initiative aneignete und übernahm, kam es nach dem Referendum zu einer neuen diskursiven Fixierung. Durch die soziale Position der Gruppierung sieht sich der Staat in diesem Fall auch zu einem praktischen Umdenken gezwungen. Deutlich wird selbst hier, dass dieses Umdenken weniger auf einer Einsicht der Technokrat*innen beruht, als vielmehr darauf, dass sich die Repräsentant*innen des stadtpolitischen Establishments gezwungen sahen, sich an eine veränderte Lagerung öffentlicher Debatten anzupassen. Das Potenzial für ein gegenhegemoniales Projekt wurde indes nicht weiter aufgegriffen, da die Interessen dieser Bürger*innen befriedigt wurden; aber auch, weil kein Bruch mit der politischen Elite der chilenischen Gesellschaft erfolgen sollte. Hierin wird auch deutlich, dass das Hindernis eines radikaldemokratischen Prozesses in der in Chile und Argentinien anerkannten Ungleichheit der Mitglieder einer Gesellschaft besteht. In Peñalolén stießen wir hingegen auf zwei konkurrierende Masterframes. Auf der einen Seite handelt es sich um das seit dem Antritt von Claudio Orrego als Bürgermeister gepflegte Plädoyer für eine zivilgesellschaftliche Partizipation im Sinne des Gemeinwohls. Angelehnt an das Ideal einer kommunikativen Planung wird damit die Möglichkeit von Konsens und Inklusion suggeriert (vgl. Purcell 2009a; Hiller 2003). Diese Adaption ist als Reaktion des lokalen Staates auf die wachsende Skepsis gegenüber dem in Chile nach wie vor dominanten Paradigma einer autoritären und technokratischen Planung zu interpretieren (Tironi 2012; Keil 2009). Allerdings handelt es sich dabei nicht um das Ergebnis einer Interaktion mit den Bürger*innen oder der Einsicht der Technokrat*innen. Die

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Bürger*innen werden nicht als gleich anerkannt. Sondern gesellschaftliche Unterschiede werden „zugenäht“ (Hillier 2003), und es wird eine neue Rhetorik gewählt, um ein bereits definiertes Ziel umzusetzen. Auf diese Weise wird letztlich versucht, bestehende Macht- und Herrschaftsstrukturen zu stabilisieren. Eine radikaldemokratische Entscheidungsfindung, die unterschiedliche Interessen und damit Konflikte anerkennt, wird nicht zugelassen, wie das Vorgehen zum Referendum zeigte. Mit der Abstimmung selbst wird der demokratische Wille bewiesen und Framing okkupiert. Dies lässt sich mit Laclau und Mouffe (2012) auch als Kampf um die Besetzung leerer Signifikanten interpretieren. Eine Änderung politischer Überzeugungen geht damit kaum einher. Stattdessen werden in Peñalolén Routinen adaptiert und bewährte klientelistische Handlungsmuster beibehalten. Auf der anderen Seite hat im Zuge der Konfliktaustragung ein ähnlicher, aber vollkommen anderer Masterframe an Bedeutung gewonnen, nämlich die Forderung von Bewegungen nach einer wahren Teilhabe an der Stadtentwicklung. Eng damit verbunden ist das Recht, in der eigenen Kommune wohnen zu bleiben, also ein Recht auf die Stadt nach Lefebvre. Auf das innovativ wirkende Beteiligungsangebot der Kommune wird mit Widerstand reagiert. Die Bewegungen widersetzen sich also diesem Versuch der erneuten Fixierung einer neoliberalen Hegemonie. Mit dem Fortbestehen dieser beiden Masterframes lässt sich als wichtiges Ergebnis festhalten, dass zumindest über einen Moment hinaus ein agonistischer Konfliktraum ermöglicht wird, der im Sinne der radikalen Planung erforderlich ist. Gemeint ist damit nicht ein formell bestehender Raum, sondern einen Raum, der aufgrund von anzuerkennenden Interessenunterschieden nicht ignoriert werden kann und in dem Widerstand realisierbar ist. Mit den Widerständen gegen die Hochhausentwicklung in Buenos Aires wurde wie im Fall von Vitacura ein neues Leitbild der Stadtpolitik befördert. So sieht sich das Paradigma der deregulierten marktorientierten Stadtentwicklung einer wachsenden Kritik ausgesetzt. Bürger*innen fordern ein Recht auf urbanes Erbe und lokale Identität sowie eine aktive Mitbestimmung und ein Recht auf Stadt. Trotz hohen Drucks und partieller Errungenschaften hat die Bewegung aber bislang kein Umdenken der Politik erzwingen können. Denn zum einen spielt in diesem Fall die gesamtstädtische Ebene eine große Rolle und nicht nur eine Kommune, womit wesentlich stärkere ökonomische Kräfte verbunden sind. Zum anderen reicht die sozialräumliche Positionalität der Gruppierung nicht aus, um sich diesen politischen und ökonomischen Kräften entgegen zu setzen. Auffällig ist hier das autoritäre Agieren der Stadtregierung, wobei man sich kaum um partizipative Worthülsen bemüht. Es ist zu vermuten, dass dies mit der populistischen politischen Kultur der unternehmensnahen Stadtregierung zusammenhängt (vgl. Casullo 2012). Lediglich in der Planungsabteilung im Ministerium

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für Stadtentwicklung wird ein kommunikationsorientiertes Framing betont. Dennoch kommt es zu einer Vereinnahmung der Rahmungen, oder besser gesagt, der Errungenschaften der Initiativen durch den Staat. Ähnlich wie in Peñalolén hat dies zu parallel bestehenden Masterframes geführt, d.h. in Konkurrenz zum Paradigma des Wachstums hat sich ein neuer Masterframe um Recht auf Stadt und lokale Lebensqualität etabliert. Die andauernden Auseinandersetzungen erlauben wie für Konfliktfall B, einen agonistischen Konfliktraum zu identifizieren, der weitere demokratische Potenziale birgt: z.B. die Aufrechterhaltung des Widerstands, die Lenkung des Blicks auf grundsätzlichere Themen; allerdings auch Ermüdungserscheinungen und Professionalisierungsdruck, die mit dem Rückgang von emotionsgeladenen Mobilisierungen nach einer Weile einhergehen, eine Herausforderung, auf die auch Purcell (2013) verweist. Die Besetzung des Parque Indoamericano führte schließlich zur Festigung eines Masterframes um Sicherheit und Sanktion, ein Leitbild, das sich in die postdemokratische Stadt einfügt (vgl. Swyngedouw 2009) und im Fall von Santiago und noch stärker in Buenos Aires einer Unterdrückung marginalisierter Schichten dient. Man bemühte sich nicht einmal, diese Ablehnung der Marginalisierten zu „kaschieren“. Ihre Auflehnung wurde als bloßer „Lärm“ abgewiesen, was zu einer „Entsolidarisierung und Entpolitisierung von Ungleichheitsstrukturen“ beiträgt (Sauer 2007: 40; zitiert in Dzudzek/Müller 2013: 31). Dies ist auf die fehlende Anerkennung von Gleichheit sowie tief verankerte nationalistische Diskurse als gesellschaftliches Leitbild zurückzuführen (vgl. Sutton 2008). Mangelnde gegenhegemoniale Netzwerke erleichterten zudem, eine Politik der „harten Hand“ des Staates diskursiv zu fixieren. Parallel dazu wurde ein Masterframe um das Recht auf Wohnen / Recht auf Stadt gepflegt, der im Verlauf der Konfliktdynamik teilweise neue Kräfte entfalten konnte. Vielen Organisationen gelingt es also, Artikulationen zu identifizieren, die neue Masterframes platzieren und Äquivalenznetzwerke stützen. Wenn wir Demokratie als Weg und immerwährenden Kampf um die Idee und Praxis demokratischer Beteiligung und/oder als hegemoniales Projekt verstehen, wie dies diverse Theoretiker*innen immer wieder postulieren (z.B. Rancière 2002; Lefebvre 2009; Laclau/Mouffe 2012), dann könnte man auf der Basis der vorliegenden Studie formulieren, dass alle untersuchten Konfliktfälle von solchen „wahren“ demokratischen Momenten geprägt wurden. Über den Moment hinaus wurden in unterschiedlicher Weise auch emanzipatorische Dynamiken angestoßen (vgl. Rancière 2011). Der wesentliche Unterschied der Bewegungen besteht darin, in welcher Weise gegenhegemoniale Praktiken nach dem Konfliktereignis aufrechterhalten wurden. Am augenscheinlichsten sind hier zumindest für den Moment die für die Fälle B und C identifizierten agonistischen Konflikträume.

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Die hier vorliegende Möglichkeit einer geregelten Konfliktsituation – und damit lässt sich Mouffe’s Idee des Agonismus empirisch womöglich etwas greifbarer machen – ist letztlich an eine gewisse sozialräumliche Positionalität der Bewegungsakteur*innen gekoppelt. Die dadurch bestimmte Akzeptanz des „Gegner“ im Konflikt lässt sich als Voraussetzung (freilich keine Garantie!) betrachten, dass antagonistische Situationen (vgl. Fall D) vermieden werden können. Wandel politischer Praktiken Routinen des Regierens & Wiederherstellung der Ordnung Die wachsende Betonung der Partizipation schlug sich in allen Fällen mit Ausnahme der Besetzer*innen des Parque Indoamericano in der Verfügbarkeit von mehr Information und Transparenz nieder. Es ist als eine Verbesserung zu werten, dass wichtige Protokolle, Aufzeichnungen und andere Unterlagen im Internet verfügbar gemacht werden (E-Government). Im Zuge der Häufung von urbanen Konflikten in Santiago wurden dort inzwischen freiwillige Partizipationsverfahren geschaffen, hauptsächlich in einkommensstarken Stadtteilen. Folgt man dem Demokratieverständnis von Rancière (2002) könnte man dies auch als eine Form der „Besänftigung“, als Wiederherstellung der „polizeilichen“ Ordnung nach einem Konflikt interpretieren. Ein vergleichbares Interesse von staatlichen Akteur*innen und privaten Entwicklern an einer Vorbeugung von Konflikten in Buenos Aires war im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht zu beobachten. Alles in allem lassen die Routinen städtischen Regierens in den vier Fällen nur bedingt Anzeichen einer Stärkung von Demokratie erkennen (wenn dann eher in Chile als in Argentinien). Die Kommunalverwaltung von Vitacura agierte seit dem Referendum mit Bezug auf planerische Agenden zurückhaltend, zugleich engagieren sich ehemalige Mitglieder von Salvemos Vitacura inzwischen im Gemeinderat. In Peñalolén stehen weiterhin informelle Praktiken (inkl. politics of scale) auf der Tagesordnung. In Buenos Aires werden nach wie vor die rechtlichen Spielräume genutzt, um private Investoren möglichst frei walten zu lassen. Zudem griff man durch die Kündigung der Direktorin der CPPHC in die politics of networks der Bürger*inneninitiativen ein und reduzierte auf diese Weise deren Einfluss. In Caballito wurden auf lokaler Ebene teilweise auch Keile zwischen soziale Organisationen getrieben (politics of scale). Für den Fall des Parque Indoamericano kam es nach der Besetzung sogar zu einer weiteren Entdemokratisierung: durch Nicht-Politiken im Bereich Wohnen, wachsende Justizialisierung von Protesten bei gleichzeitiger Nicht-Justizialisierung von Polizeigewalt sowie control and order im öffentlichen Raum.

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Interessant ist, dass sich für alle Fälle (bis auf die Widerstände im Kontext von Hochhausbau und Erbe) konstatieren lässt, dass Grünflächen (Parks) im Verlauf der Konflikte zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen instrumentalisiert wurden. So stehen die jeweiligen Konflikte immer im Zusammenhang mit einer Revitalisierung bzw. Vergrößerung einer Parkfläche. In Vitacura wurde ein geplanter Park in der öffentlichen Kommunikation genutzt, um die Bevölkerung für weitergehende Anliegen der Kommunalverwaltung zu gewinnen. Und in Peñalolén sowie im Süden von Buenos Aires werden Grünflächen instrumentalisiert, um Landnahmen zu delegitimieren, indem mit Umwelt und Gemeinwohl als neutralem Wert argumentiert wird; mit dem Unterschied, dass der geplante Park in Peñalolén weiterhin von einer Landnahme besetzt ist, während im Parque Indoamericano unmittelbar die Revitalisierung in Angriff genommen wurde. Es erfolgt also eine Wiederherstellung der Ordnung durch politics of place über die „Natur“ (vgl. Carman 2011). Schließlich lässt sich festhalten, dass alle untersuchten Konflikte institutionelle Veränderungen nach sich zogen. Nach dem Referendum in Vitacura, dem ersten seit Chiles Rückkehr zur Demokratie, wurde ein lange erarbeitetes Partizipationsgesetz erlassen, das die Rechte der Bürger*innen auf Mitsprache erhöht. Interessanterweise wurde jedoch nach dem zweiten Referendum in Peñalolén ein weiteres Gesetz erlassen, das die Chancen der Bürger*innen auf eine direkte Demokratie wieder reduzierte. Auf den demokratischen Erfolg und eine politische Erstarkung der Kommunen wird also mit einem unmittelbaren Versuch der Eindämmung reagiert. Im Kontext des Widerstands gegen die Hochhausentwicklung in Buenos Aires zeigte sich, dass zahlreiche, kleinteilige Modifikationen des Planungsgesetzes durchgesetzt werden konnten. Umfassendere Modifikationen waren im städtischen Parlament nicht durchsetzbar. Nach der Besetzung des Parque Indoamericano wurde die Sicherheitspolitik sogar gestärkt, indem ein neues Ministeriums für Sicherheit ins Leben gerufen wurde. Wo besonders ausgeprägte Machtdifferenzen vorliegen, wurde also eine stärkere Entpolitisierung und Entsolidarisierung verfolgt (vgl. Rancière 2002; Swyngedouw 2011). Diese Ergebnisse zeigen, dass für eine Fortsetzung des demokratischen Prozesses eine stärkere Mitsprache, das Fortschreiben einer alternativen Agenda und damit letztlich ein andauerndes Einfordern demokratischer Mitbestimmungsrechte erforderlich ist. Gewandelte Positionalität und emanzipatorische Tendenzen Wie in den theoretischen Ausführungen hervorgehoben wurde, ist die sozialräumliche Positionalität relational und dynamisch. Bereits im Rahmen der Diskussion der internen Bedingungen kam zum Ausdruck, wie stark sich einzelne

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Bedingungen im Zuge der Auseinandersetzungen wandelten, dass sich Identitäten stets in Bewegung befinden. Konkret veranschaulicht der Fallvergleich, dass eine Professionalisierung und damit Emanzipierung der Initiativen und Bewegungen auf drei Ebenen stattfand: eine Wandlung zu Expert*innen, ein Aufbau horizontaler und vertikaler Netzwerke sowie gelebter Orte, und auf dieser Basis die Fähigkeit, eigene Strategien zu entwickeln. Aus der Analyse lässt sich außerdem schließen, dass damit eine Veränderung räumlicher und kollektiver Identitäten einhergegangen ist. Diese Professionalisierung ist schichtübergreifend zu beobachten, ähnlich wie in Tironis (2013) Analyse von Bürger*innenorganisationen in Santiago, wenn auch – wie in den einzelnen Fallstudien deutlich wurde – nicht alle sozialen Gruppen identische Erfolge erzielen. So zeigte die Analyse, dass sich Salvemos Vitacura sowie die befragten Initiativen in Buenos Aires und in Peñalolén (besonders die MPL) im Zuge der Konfliktaustragung zu Expert*innen wandelten, um in der Auseinandersetzung erfolgreich agieren zu können. Das Verhalten der Bürger*innen demonstriert, dass „nichttechnische“ Aspekte erst dann in Konfliktsituationen erfolgreich eingebracht werden können, wenn die Bürger*innen ihre fachliche Expertise bewiesen haben. Es galt also, die Barriere der Technokratie zu überwinden, wie auch Tironi (ebd.) folgert. Bürger*innen, die oft bereits über dem Thema nahe Kenntnisse oder Interessen verfügen (als Architekt*innen, Jurist*innen) hatten gar keine andere Möglichkeit, als sich zu Expert*innen weiterzuentwickeln, sei es für Stadtplanung, rechtliche Möglichkeiten sowie in Bezug auf parlamentarische Optionen zur Intervention, Öffentlichkeitsarbeit, Denkmalschutz, Wohnungspolitik oder Finanzierungsmodelle. Des Weiteren entstanden in den Fällen B und C (Peñalolén und urbanes Erbe in Buenos Aires) komplexe Netzwerke von Bewegungen und Initiativen, die sich über den unmittelbaren Konfliktfall hinausgehend weiter verstetigt haben. Dabei handelt es sich oft um einen kleinen Kreis von Bewegungsakteur*innen (teilweise institutionalisiert als Verein, Graswurzelorganisation), deren gemeinsamer Standort es erlaubt, ein enges und solidarisches Vertrauensverhältnis aufzubauen (vgl. Agnew 2011). Dies ist für die Entwicklung von teils heiklen Strategien unabdingbar. Ausgedehnt über weitere scales (weitere Stadtteile, die Metropolebene, landesweit, international) und places ist der Kern umgegeben von Sympathisierenden, anderen Bewegungskernen und Graswurzelorganisationen, die zu ähnlichen oder verknüpfbaren Themen arbeiten. Dies veranschaulicht beispielsweise der CMSP und dessen Netzwerk mit anderen Organisationen im Kontext von einem Recht auf die Stadt. Vereinzelt wurden klassenübergreifend gemeinsame Interessen verfolgt. Dies geschieht eher in Form von temporären Zweckkoalitionen oder eines pragmatischen Austauschs von Informationen, ist aber

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deswegen nicht minder relevant, wie der Planungskonflikt in Peñalolén zeigte. So ließ sich die Comunidad Ecológica in Peñalolén erst dann auf eine Kooperation mit der „Unterschicht“ ein, als ihre Existenz auf dem Spiel stand. Beide erreichten im Endeffekt aber das angestrebte Ziel. Hierbei fallen die Potenziale eines social movement space (Massey 2005), dessen spezifische places und Netzwerke verschiedene für Aktivist*innen notwendige Funktionen erfüllen (Nicholls 2009), mit temporären Äquivalenzbeziehungen zusammen (vgl. Purcell 2009b). In allen vier Fällen haben die Gruppen also gelernt, sich selbst zu helfen, sie werden von anderen Bewegungen und NGOs um Rat gebeten, und haben angefangen, auch über die unmittelbaren Konfliktfälle hinausgehende Politikansätze zu entwickeln. Anstatt in erster Linie nur zu reagieren, stehen zunehmend proaktive Strategien im Mittelpunkt: So versuchen die sozialen Organisationen in Peñalolén, vor allem die MPL, seit dem gewonnenen Referendum neue Politiken zu lokalisieren, wofür eigene Planentwürfe erstellt werden. Dabei werden dem scale jumping nach Smith (1992) folgend auch Forderungen an Adressaten auf anderen Skalen gerichtet. In ähnlicher Weise lässt sich für die Hochhausgegner*innen eine Routinierung hinsichtlich möglicher Eingriffe über die Legislative und das Justizwesen verfolgen, um ihre Forderungen umzusetzen. Für die Wohnungssuchenden besteht die proaktive Strategie seit jeher darin, Land oder leerstehende Gebäude zu besetzen. Um ihre Rechte über den Weg der Legislative und das Justizwesen auszuweiten, sind sie meist auf externe Unterstützer*innen angewiesen. Dabei veranschaulichen die argentinischen Fallstudien auch, wie durch den Verweis auf das Recht eine Politisierung entsteht. Dies zeigt, dass die Rolle der Justiz in der postdemokratischen Debatte unterbelichtet ist.

(R E -) POLITISIERUNG UND A NMERKUNGEN ZUR P OSTDEMOKRATIE Wie ist der identifizierte Wandel der Masterframes, der stadtpolitischen Routinen und der sozialräumliche Positionalität der Bewegungsakteur*innen nun im Kontext von demokratietheoretischen Überlegungen zu interpretieren und somit die zentrale Frage der Studie nach einer (Re-)Politisierung des Städtischen zu beantworten? Dafür wird abschließend diskutiert, inwieweit das Handeln der Akteur*innen als politisch betrachtet werden kann und welche Bedeutung dies für eine gesellschaftliche Politisierung hat. Im Rahmen der Diskussion von radikaler Demokratie wurden vier Elemente hergeleitet – Antagonismus, Verflechtung von Partikularismus und Universalis-

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mus, nichtessenzialisierbare Identitäten, das Prinzip der Gleichheit –, die für eine (Re-)Politisierung der Stadt von Bedeutung sind und die Frage betreffen, wann sich das Handeln von sozialen Bewegungen als politisch bezeichnen lässt (vgl. Kapitel 4). Auf dieser Basis zeigte die vorliegende Analyse, dass das Handeln von Bewegungsakteur*innen unterschiedliche Nuancen und Dynamiken der Politisierung enthalten kann. Die Analyse der Fälle legte offen, dass die Stärkung des Bewusstseins der Protestakteur*innen im Kontext von partikularen oder territorialen Interessen steht, die für die Organisationen zunächst entscheidend waren. Aus diesem Grund werden solche Konflikte von Vertreter*innen der Postpolitik und Postdemokratie oft als egoistisch oder pseudo-politisch kritisiert. Diese zunächst partikular bezogenen Widerstände legten jedoch in mehreren Fällen den Grundstein für ein weitergehendes politisches Interesse. So erfuhren viele sich erstmals engagierende Bürger*innen die Grenzen der „apolitischen Haltung“, die bis dahin Common Sense war (z.B. die sozialen Bewegungen in Peñalolén), und entwickelten einen Sinn und ein Interesse für Mitsprache, und forderten dieses Recht ein (z.B. SOS Caballito). Sie fingen also an, sich über das eigentliche Konfliktthema hinaus zu mobilisieren. Selbst wenn kein „Majoritär Werden“ angestrebt und ausschließlich partikulare Ziele verfolgt wurden, wurden dennoch über das lokale Interesse hinaus orts- und skalenrelevante politische Wirkungen erzielt. So lieferte Salvemos Vitacura im Sinne von travelling policies beispielsweise strategische Anregungen für andere Bewegungen. Dies bestätigt, dass die Auswirkungen sozialer Bewegungen häufig nicht der ursprünglichen Motivation entsprechen (vgl. Tilly 1999). Überdies bewahrheitete sich, dass sich das Wirken von lokalem Handeln nie auf die lokale Ebene begrenzt (vgl. Featherstone 2005). In der Summe hat sich die sozialräumliche Positionalität der involvierten Bewegungen und Bürger*inneninitiativen deutlich transformiert. In Vitacura haben sich im Zuge des Konfliktverlaufs nicht nur eine neue lokale Identität und ein Sinn für bürgerliche Teilhabe entwickelt. Die von der Initiative angetriebene Auseinandersetzung hat auch das öffentliche Bewusstsein um zivilgesellschaftliche Mitspracherechte in Santiago gestärkt und anderen Bewegungen konkrete strategische Anregungen geliefert. Neben einer hohen Identifizierung mit dem eigenen Wohnort zeigte sich in Caballito und anderen Quartieren von Buenos Aires im Kampf gegen die Hochhausentwicklung, dass man über den Konflikt erstmals ein Gefühl entwickelte, „was Demokratie eigentlich ist“. Die Protesterfahrung wurde nicht nur verinnerlicht, sondern die Subjektivierung wird fortgesetzt oder wie eine Interviewpartnerin sagte, „wer einmal angefangen hat, hört nie mehr auf“. Auch die Pobladores in Peñalolén haben eine umfassende Expertise generiert und bewiesen, dass sie im formellen Kontext von Stadtpolitik ernst

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zu nehmen sind. Gleichzeitig bauten sie zunehmend Fähigkeiten der Selbstverwaltung auf (vgl. Zibechi 2011). Aus dem neuen Wissen und den Erfolgen der Bewegungen entstand ein neues Vertrauen in autonomere Handlungsansätze (vgl. Souza 2006). Dabei fällt im Unterschied zu den Wohnungssuchenden im Süden von Buenos Aires auf, dass die Einforderung des Rechts auf Wohnen vor dem Hintergrund eines veränderten, gemeinsamen Verständnisses von Bürgerschaft nach dem Prinzip der Gleichheit erfolgte. Die unmittelbare soziale Not wurde also von der Forderung der Aufhebung ungleicher gesellschaftlicher Einordnungen begleitet. Im Fall des Parque Indoamericano waren die Gruppen aufgrund ihrer multiplen Benachteiligung hingegen nicht in der Lage das Prinzip der Gleichheit einzufordern (vgl. Laclau/Mouffe 2012). Dabei spielt zudem der in Argentinien ausgeprägte Antietatismus eine Rolle (vgl. dazu Geiger 2010). Insgesamt wurde ihre soziale Situiertheit empfindlich geschwächt und ihre anteilslose Position weiter gefestigt (vgl. Rancière 2002). Teilweise ließen sich dabei ferner, wie Swyngededouw 2011a formuliert, „Fantasien“ und Narrative der Eliten durchbrechen (wie in Vitacura, Peñalolén und beim Hochhauswiderstand in Buenos Aires). Allerdings wird dies nur im Fall der MPL in Peñalolén ernsthaft angegriffen, die sich als politische Bewegung deutlich nach außen abzugrenzen versucht, autonomieorientierte Bausteine pflegt, bürgerschaftliche Anerkennung fordert und Politiken entwickelt, die sich in den existierenden institutionellen Rahmen einbetten lassen. In Vitacura zeigte sich zunächst eine außergewöhnliche Zäsur, als Elite die Elite zu kritisieren, ein tatsächlicher politischer Bruch wurde aber vermieden, und ferner blieb man ganz betont im Technokratischen verhaftet. Schließlich wurde beim Vergleich der Untersuchungsfälle auch deutlich, dass die Forderungen der Initiativen und Bewegungen häufig in Konkurrenz zueinander stehen: sei es in direkter räumlicher Nähe wie in Fall B zwischen Wohnungssuchenden und oberen Einkommensgruppen, die auf ihre Privilegien beharren; oder wenn das Framing mancher Organisationen (Umwelt, Denkmalschutz als neutrale, anerkannte Visionen oder diskriminierende, rassistische Rahmungen) die sozialen Ansprüche von marginalisierten sozialen Bewegungen unterminiert (vgl. Carman 2006; 2011). Zudem werden soziale Ungleichheiten in den beforschten, von sozialer Spaltung gekennzeichneten Gesellschaften wenig kritisch gesehen, was die Gestaltungspotenziale begrenzt respektierter Gruppen (Arme, ethnische Minderheiten) stark einschränkt. Dies erschwert ein radikaldemokratisches Projekt und macht ein breites gegenhegemoniales Netzwerk unwahrscheinlicher. Allerdings war genau ein solches klassenübergreifendes Netzwerk im Rahmen des Gentrifizierungskonflikts in Santiago kurzzeitig zu beobachten. In diesem Fall fielen die Potenziale von social movement spaces

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und die Schaffung von temporären Äquivalenzbeziehungen zusammen. Momente dieser Art lassen sich mitunter als Schritt in Richtung mehr Gleichheit interpretieren, wie sich aus der verlagerten öffentlichen Wahrnehmung dieser Pobladores-Bewegung ableiten lässt (vgl. Laclau/Mouffe 2012). Die skizzierte Transformation der sozialräumlichen Positionalität ist im Kontext von Ansätzen radikaler Demokratie als eine Form der Emanzipierung zu verstehen. Aus radikaldemokratischer Perspektive ergibt sich aus dieser Emanzipierung, die wie dargelegt, eine umfassende Wissensgenerierung beinhaltet, jedoch auch die Frage, wie ein zunehmendes Verschmelzen der Grenzen zwischen Bürger*innen und (kritisierten) Technokrat*innen einzuordnen ist. Folgt man Rancière (2002) kann ein weiteres Agieren dieser Bewegungsakteur*innen dann keine demokratischen Momente mehr hervorrufen, da das Dispositiv des Nichtzugehörigseins tendenziell immer weniger gegeben ist. Damit erscheinen die Differenzprämisse des radikalen Demokratieansatzes und deren Anwendung in der Planung zu statisch und dichotomisch. Zugleich birgt die Differenzprämisse die Gefahr, dass durch die Annahme ontologisch verschiedener Identitäten Unterschiede zwischen sozialen Gruppen fixiert werden. So bestätigen die Fallanalysen dieser Arbeit, dass Laien nie nur Laien sind, sondern sie greifen technische Argumente und wissenschaftliches Wissen auf (vgl. Tironi 2013). Im Zuge dessen kommt es zu einer Expertisierung der Zivilgesellschaft. Die Ausgeschlossenen unterliegen also einer Dynamik und können sowohl technokratisch als auch politisch agieren. Dabei kann deren „Technokratisierung“ freilich konfliktoffene Auseinandersetzungen gefährden. Basierend auf den vorliegenden empirischen Ergebnissen ist aber zu betonen, dass sich die radikale Demokratie den komplexen politischen Kontexten, die in der empirischen Realität vorzufinden sind, stärker stellen sollte, zum Beispiel dem Politischen des Rechts, dem Politischen der Technokratie und spezifischen hegemonialen Ordnungen. Vor allem müssen die Relationalität der Subjekte und die Relationalität von Raum stärker zusammengedacht werden. Denkt man an das Konzept der social movement spaces und die Vorstellung von Äquivalenzbeziehungen, so ist es nicht nur sinnvoll, dass diese poststrukturalistischen Ansätze Raum mitdenken, sondern räumlichkeitsbezogene Elemente der contentious politics könnten weitere Differenzierungen ermöglichen. Wenn soziale Bewegungen in Netzwerke multipler Funktionen eingebettet sind, lassen sich nicht nur besondere Dynamiken erwarten, sondern es scheint auch wahrscheinlicher, dass Äquivalenzbeziehungen differenzierte und gleichzeitig äquivalente Interaktionen ermöglichen. Dies gilt ebenso für das Technokratische, wie die politischen und planerischen Rahmungsstrategien in den Fallstudien belegen. Auch Tironi (2013) kritisiert die Einschätzung, Technokratie per se als unpolitisch zu betrachten und hin-

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terfragt die Kritik der radikaldemokratischen Planungstheorie an der Expert*innendebatte und Technokratie in der Planung. Auf Basis der empirischen Wissensforschung hebt er hervor, dass Wissen komplexen Verflechtungen unterliegt und eine reine, rationale Expertendebatte somit nicht existiert. Denn erstens seien zahlreiche Elemente miteinander verwoben, so dass Akteur*innen in ihrer Argumentation nie eine ausschließlich technische oder nichttechnische Position einnähmen. Zweitens nutzten Wissenschaftler*innen und Technokrat*innen häufig Erfahrungswissen, d.h. sie agierten nicht notwendig rational und prinzipiell – andersdenkend. Schließlich ist Technologie immer mit Politik verwoben. Das Technokratische ist demzufolge nicht per se unpolitisch. Vor diesem Hintergrund sind stark formalisierte Definitionen des Politischen zu beanstanden und Positionen kritisch zu betrachten, die bestimmte zivilgesellschaftliche Aktivitäten aufgrund eines angenommenen „placebo activism“ von vornherein ablehnen (Marchart 2007, zitiert in Swyngedouw 2011a). Dies gilt auch für die Annahme, dass bestimmte Widerstände nur die postpolitische Ordnung festigen, da sie sich im Rahmen bestehender Ordnungen bewegten (oder sogar von dieser erzeugt würden), aber mit politischer Bedeutung aufgeladen seien (vgl. Swyngdouw 2011; Žižek 2002). Etwa versteht Swyngedouw (2011: 17) die Proteste lokaler sozialer Bewegungen als „colonization of the political by the social“. In diesem Kontext sei auf die Kritik der ethnographischen Forschung hingewiesen, dass die postdemokratische Debatte häufig in theoretischen Darlegungen verhaftet bleibt. Oft wird eine differenzierte Betrachtung in der empirischen Realität zu beobachtender Widerstände vernachlässigt und deren Potenziale, die Konsenspolitik aufzubrechen, unterschätzt (vgl. Paddison 2009). Solche Einschätzungen werden den vielseitigen, häufig widersprüchlichen Facetten des Widerstands, die wir in der empirischen Realität vorfinden, nicht gerecht (vgl. auch Featherstone/Korf 2012; Chatterton/Featherstone/Routledge 2013). Auch wenn man eventuell sagen kann, dass sich gerade die untersuchten Widerstände der Mittelschichten als „placebo politicalness“ bezeichnen lassen, verdeutlichen die Darlegungen im empirischen Teil dieser Studie, dass sich nicht schematisch unterscheiden lässt zwischen politisch „relevanten“ und politisch „unbedeutenden“ Handlungen von sozialen Bewegungen. Wir stoßen zudem nicht überall auf die hegemoniale Ordnung westlicher Gesellschaften, und auch in Buenos Aires und Santiago herrscht nicht die gleiche Ordnung vor, wie die diskutierten Regierungstechnologien offenlegten. In diesem Zusammenhang ist auch darauf zu verweisen, dass die Tendenz, städtische Politiken verallgemeinernd unter dem Dach des Postpolitischen zu vereinen, zur Vernachlässigung kontextspezifischer lokaler Ausprägungen führt (Beveridge/ Hüesker/Naumann 2014). Durchaus kann ein Vorgehen in Santiago herrschende

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Leitbilder des Politischen angreifen, während die gleiche Handhabe sich zum Beispiel in Berlin nur in der bestehenden hegemonialen Ordnung bewegen (und obige Kritik bestätigen) würde. Wenn man die tiefe Verankerung der neoliberalen Entpolitisierung in Santiago und die gravierenden sozialen Unterdrückungsmechanismen in Buenos Aires bedenkt, handelt es sich nicht um einen unwesentlichen Schritt, sich der polizeilichen Ordnung bewusst zu machen und gewisse Ressourcen zu bündeln, um sich dagegen aufzulehnen. Folglich legen die präsentierten Ergebnisse nahe, alle Formen der Mobilisierung so systematisch wie möglich zu analysieren, und theoretische statische Dichotomien zu meiden. Zweifellos lässt sich in allen Fällen also von einem demokratischen Moment sprechen, wenn der Antagonismus als Wesensmerkmal des Politischen gilt. Allerdings wurde oder wird die postpolitische oder mit Rancière die polizeiliche Ordnung über kurz oder lang wieder hergestellt. So wird eine (mehr oder weniger) zügige (Re-)Integration in das technokratische System betrieben, und die widerständigen Gruppen werden teilweise vereinnahmt oder ausgegrenzt. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass sie nicht in der Lage sind, dagegen aufzubegehren, oder aber sie haben ihre Interessen erreicht und/oder fügen sich als Expert*innen und Lobbyist*innen in die vorherrschenden technokratischen Logiken ein. Für Salvemos Vitacura wurde dies besonders deutlich: Die Initiative hat zwar den Staat in seine Schranken verwiesen, ihre Potenzial jedoch nicht weiter genutzt. Ähnlich verhält es sich mit der Comunidad Ecológica. Mit Blick auf das skizzierte Prüfraster der Emanzipierung lässt sich sagen, dass es zwar zu einer Verschränkung mit universellen Werten kommt. Das gegenhegemoniale Interesse ist jedoch bei den Bewegungen und Bürger*inneninitiativen unterschiedlich ausgeprägt und das Handeln der kollektiven Akteur*innen folgt teilweise nicht dem Prinzip der Gleichheit. In Peñalolén und Buenos Aires (Hochhausgegner) wurde ein agonistischer Konfliktraum, d.h. eine länger währende demokratische Situation radikaler Planung geschaffen. Aber die im Fall der Anti-Hochhausinitiativen diskutierte Routinierung veranschaulicht, dass die radikale Handlung schwierig aufrechtzuerhalten ist. Auch hier wird jedoch mit Rancière (2002) das Momenthafte des wahrhaft Politischen deutlich, auf das eine zwingende Wiederherstellung polizeilicher Ordnung nach einem Konflikt folgt. Ein langfristiges Etablieren von Agonismen im Sinne eines wahren demokratischen Interesses ist nur möglich, wenn die Bürger*innen ihr Handeln und ihre Rolle als Aktivist*innen permanent reflektieren, aufbrechen und weiterentwickeln.

13 (Re-)Politisierung durch urbane Konflikte? Ein Fazit

In dieser Studie standen urbane Konflikte in Santiago de Chile und Buenos Aires im Mittelpunkt des Interesses. Dazu wurde mithilfe einer umfangreichen empirischen Untersuchung der Wandel von Rahmungen und politischen Praktiken durch soziale Bewegungen und Bürger*inneninitiativen analysiert. Die Arbeit zielte darauf ab, anhand von insgesamt vier Konfliktfällen folgende Leitfragen zu beantworten: Inwieweit wirken sich urbane Konflikte auf stadtpolitische Arrangements aus, und tragen sie zu einer Emanzipierung und (Re-)Politisierung des Städtischen bei? Zur Klärung dieser übergeordneten Fragestellung wurden fünf Teilfragen im Rahmen der Arbeit diskutiert: 1) Welche Interessen vertreten die in die Konfliktfälle involvierten Akteur*innen und von welchen Strategien und Frames machen sie dabei Gebrauch? 2) Welche Rolle kommt dabei place-, skalen- und netzwerkbezogenen Bedingungen sowie der sozialräumlichen Positionalität der Bewegungsakteur*innen zu, und welche Unterschiede im Konfliktverlauf lassen sich auf dieser Basis zwischen den Gruppen identifizieren? 3) Welche Faktoren können für die Untersuchungsfälle als Auslöser von Konflikten identifiziert werden und welche political opportunity structures beeinflussen den Konfliktverlauf? 4) Welche Auswirkungen haben urbane Konflikte auf herrschende Diskurse und Machtverhältnisse, Räumlichkeiten sowie politische Praktiken und Institutionen in Santiago de Chile und Buenos Aires? 5) Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen zwischen den Untersuchungsfällen, und worauf lassen sich diese zurückführen? Theoretisches, methodologisches und empirisches Design Zur Beantwortung dieser Fragen wurde im ersten Teil der Arbeit eine konzeptuell-theoretische Basis erarbeitet: Zunächst standen dazu in Kapitel 2 methodo-

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logische Argumente aus der Bewegungsforschung im Vordergrund, mit denen die Bedingungsebenen und Wirkungsweisen sozialer Konflikte diskutiert wurden. Diese legten den Grundstein für das heuristische Analysegerüst der Studie (beschrieben in Kapitel 6). Darauf aufbauend wurden im Kapitel 3 Ansätze der Postdemokratie-Debatte vorgestellt und deren Übertragbarkeit auf urbane Phänomene in Lateinamerika erörtert. Dabei wurde herausgearbeitet, wie sich Rancières Überlegungen zur Praxis des Herstellens und Aufbrechens von „polizeilicher“ Ordnung für die Analyse und demokratische Einordnung stadtpolitischer Routinen eignen. In der Diskussion bestätigte sich der Mehrwert des Ansatzes für die empirische Analyse. Allerdings zeigte sich, dass es sich für lateinamerikanische Städte eher anbietet, von einer Entpolitisierung bzw. Entdemokratisierung zu sprechen; d.h. dass für eine kontextgerechte Anwendung der Theorie eine Anpassung des in Teilen statischen und abstrakten Politikverständnis vorgenommen werden sollte. In Kapitel 4 wurden emanzipationstheoretische Ansätze diskutiert. Zentral war hier das normative Konzept der radikalen Demokratie von Laclau und Mouffe, um den emanzipatorische Gehalt von politischen Handlungen einzuschätzen. Diese Diskussion (die ich im empirischen Teil auch erneut aufgriff) wurde durch hegemonie- und autonomietheoretische Überlegungen erweitert. Ziel war, das Handeln innerhalb und zwischen Bewegungen im Kontext von Macht- und Herrschaftsstrukturen zu verorten und dessen Relevanz für die (Re-)Produktion von demokratischen Strukturen bestimmen zu können. In Kapitel 5 konzentrierte ich mich auf die politischen Auseinandersetzungen in der Praxis und ging darauf ein, in welcher Weise räumliche Dimensionen den Verlauf und die politischen Wirkungen von urbanen Konflikten beeinflussen können. Als politik- und damit demokratierelevante Ebenen wurden neben sozialräumlicher Positionalität scales, places, territories und networks unterschieden. Aus der theoretischen Annahme, dass sich Räumlichkeiten in unterschiedlicher Weise durchdringen, erschloss sich für die empirischen Analysen, auf eine kontextgerechte Interpretation von räumlichen Faktoren und Effekten zu achten. Nach diesen theoretischen Erörterungen wurde in Kapitel 6 das ethnographisch orientierte Analysedesign dargelegt. Methodisches Kernelement war eine diskursive Rahmenanalyse nach Brand und Kolleg*innen, die mögliche Bedeutungsverschiebungen von gängigen Leitbildern und Routinen der Stadtpolitik durch urbane Konflikte aufdecken sollte. Rahmungen werden als übergeordnete Deutungsmuster der Wahrnehmung von Ereignissen in der Welt verstanden, die kollektive Akteur*innen in Aushandlungsprozessen strategisch nutzen. Dafür konnte auf circa 45 problemzentrierte Interviews, mehrere Gruppendiskussionen, Expert*inneninterviews und Beobachtungen sowie auf Material aus 125 Zeitungsartikeln zurückgegriffen werden.

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Im zweiten, empirischen Teil des Buchs wurden dem Analysegerüst folgend in Kapitel 7 zunächst die sozialen, politischen, ökonomischen Rahmenbedingungen in Santiago de Chile und Buenos Aires dargestellt. Daraus ließen sich wichtige Aussagen über die political opportunity structures in beiden Städten ableiten und zentrale Faktoren identifizieren, die die Möglichkeiten einer demokratischen Mitbestimmung beeinflussen. Die Analyse von vier Stadtentwicklungskonflikten (Kapitel 8-11) und deren Vergleich (Kapitel 12) sollte mögliche Zusammenhänge zwischen urbanen Konflikten und Emanzipations- und Repolitisierungsprozessen beleuchten; ein Thema, das im Kontext der noch jungen Demokratien in Chile und Argentinien besonders relevant ist. Der erste Fall (Konflik A Vitacura) behandelte zivilgesellschaftliche Mitsprache bei formalen Planungsprozessen (vor allem bauliche Verdichtung). Die Bürger*inneninitiative, die sich hier im Konfliktverlauf gründete, erzielte mit ihrem Widerstand einen Erfolg (Stopp und Revidierung der Planung), für den es in der chilenischen Stadtgeschichte bis dato kein Beispiel gab. Hauptinstrument der Initiative war die Organisation eines erfolgreichen Referendums gegen eine Modifikation des Flächennutzungsplans der Kommunalverwaltung. Im zweiten Fall in Santiago (Konflikt B Peñalolén) wurde der bürgerschaftliche Widerstand gegen Gentrifizierung untersucht. Auch hier waren Aktivist*innen und Bewegungen aus unterschiedlichsten Milieus mittels eines erfolgreichen Referendums in der Lage, sich gegen einen neuen Flächennutzungsplan der Kommunalverwaltung zur Wehr zu setzen. Im dritten Fall (Konflikt C) standen die wachsenden Proteste gegen Hochhausbau in Buenos Aires (v.a. in Caballito) im Mittelpunkt. Verschiedene Initiative haben mehrere Themen auf die Agenda der Stadtpolitik setzen können: die mangelnden bürgerlichen Mitbestimmungsrechte, die Relevanz des städtischen Erbes und die negativen Effekte einer rein marktorientierten Stadtpolitik. Im letzten Fall (Konflikt D) wurden die gesellschaftlichen Konflikte um die große Wohnungsnot in Buenos Aires thematisiert, die im Zusammenhang mit der Besetzung und gewaltsamen Räumung des Parque Indoamericano in das Bewusstsein der argentinischen Öffentlichkeit geraten sind. Zwar wurde im Zuge dieses Konflikts die Sichtbarkeit der Wohnungsnot enorm erhöht, grundsätzliche Verbesserungen der Situation am Wohnungsmarkt zog dies jedoch nicht nach sich. Ergebnisse: Bedingungsfaktoren, Wirkungen, Politisierung Welche Erkenntnisse lassen sich nun mit Blick auf die eingangs erneut aufgeworfenen Forschungsfragen aus diesen Untersuchungsfällen gewinnen? Vor allem: Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen zwischen den Untersuchungsfällen, und worauf lassen sich diese gegebenenfalls zurückführen?

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Hinsichtlich der political opportunity structures in beiden Städten ließen sich einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten. Gerade in Santiago hat die Militärdiktatur zu einer Schwächung der Zivilgesellschaft geführt. Die politischen Techniken und das Herrschaftsverständnis der Eliten sind dadurch noch immer stark geprägt, und in beiden Städten besteht ein technokratisch-autoritäres Politik- und Planungsverständnis. Bürger*innen besitzen daher nur wenige Möglichkeiten, auf formellem Wege Einfluss auf die Stadtpolitik und Stadtentwicklung zu nehmen. Dieses Verständnis wird insbesondere in Argentinien von klientelistischen politischen Programmen und populistisch-informellen Handlungsrepertoires flankiert. In beiden Städten existiert zudem ein sehr einflussreicher Bau- und Immobiliensektor, der vielfach mit Akteur*innen der Politik und der Medienindustrie verknüpft ist. Es ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend, dass durch Stadtplanung und Wohnungspolitik in beiden Städten (stärker in Chile) eine „Verlagerung“ unterer Einkommensschichten an den Stadtrand realisiert wurde. In Buenos Aires wird die daraus resultierende sozialräumliche Segregation durch ein starkes Wachstum des informellen Wohnungsmarktes zusätzlich verschärft. In beiden Städten sind damit die Milieu- und Klassenunterschiede viel stärker ausgeprägt, als dies in europäischen Städten für gewöhnlich der Fall ist. Eine wichtige Differenz der political opportunity structures besteht mit Blick auf die Stellung der Kommunen und Städte im staatlichen Institutionengefüge. Die Kommunen, aus denen sich Santiago zusammensetzt, sind aufgrund des ausgeprägten Zentralismus in Chile politisch schwach. Daraus resultiert auf horizontaler Ebene ein Koordinationsdefizit, welches auch im Zusammenhang mit einer fehlenden gesamtstädtischen Vision zu sehen ist. Die argentinische Hauptstadt und ihre Einwohner*innen sind hingegen durch die Autonomie der Stadt und eine eigene Verfassung mit weitreichenderen Handlungsmöglichkeiten ausgestattet. Allerdings wird auch hier einem gesamtstädtischen planerischen Leitbild nur relativ wenig Bedeutung beigemessen. Kennzeichnend ist für Chile außerdem mehr als für Argentinien eine schwache Zivilgesellschaft, die nicht ausschließlich auf die neoliberale Restrukturierung der chilenischen Gesellschaft der letzten zwei Dekaden zurückzuführen ist. Indes eröffnet ein aktueller Trend der (Re-)organisation neue Gestaltungsräume, wohingegen die aktive, aber zersplitterte Bewegungslandschaft in Argentinen insgesamt hemmend wirkt. Als Auslöser von urbanen Konflikten lassen sich drei Faktoren identifizieren, die zu einem Handlungsimpuls führen. Erstens, eine persönliche Betroffenheit durch eine lokalpolitische Entscheidung, etwa die Modifikation von Planung oder die Ankündigung der Verteilung von Besitzurkunden, und die individuell empfundene Lebensqualität und/oder Identität in irgendeiner Weise beeinträch-

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tigt. Diese bettet sich zweitens in eine bekannte soziale Problematik im Kontext von Stadtpolitik ein. Das kann zum Beispiel die marktorientierte Stadtentwicklung oder die Wohnungsnot sein. Drittens ließ sich feststellen, dass für ein Aktiv-werden fallspezifische Bedingungen nötig sind. Häufig handelt es sich dabei um Routinen, die im kollektiven Gedächtnis einer sozialen Gruppe verankert sind. Zur Veranschaulichung soll noch einmal ein Beispiel dienen: Im Fall (B) der Proteste gegen Gentrifizierung in Peñalolén lösten die unmittelbar drohenden negativen Effekte des neuen Flächennutzungsplans bei zivilgesellschaftlichen Organisation einen Handlungsimpuls aus. Dieser verfestigte sich durch die lokal zu beobachtende Gentrifizierung und die dadurch symbolisierte historische Unterdrückung. Das wollte eine neue Generation von Pobladores, deren Widerstandskultur sich im kollektiven Gedächtnis widerspiegelt, nicht mehr hinnehmen. Auf der Ebene der Interessen, Strategien und Frames der in die Konfliktfälle involvierten Gruppen können mehrere wichtige Befunde zusammenfassend angeführt werden. Die untersuchten Bewegungen verbindet, dass ihre Motive und Interessen im Konfliktverlauf einem Wandel unterlagen. Aktivist*innen und Initiativen traten zunächst in Erscheinung, um partikulare Interessen von Anwohner*innengruppe zu verfolgen. Im Zuge des Konfliktverlaufs waren erfolgreiche Bewegungen in der Lage, gesellschaftspolitisch relevante Themensetzungen (z.B. bürgerschaftliche Mitbestimmung, Umwelt- und Lebensqualität, Recht auf Wohnen) in ihre Strategien und Frames zu inkludieren. Dies führte zu einer breiteren Rezeption in der Öffentlichkeit und zur Mobilisierung von externen Expert*innen und Unterstützer*innen. Mit Blick auf die Anschlussfähigkeit der vorliegenden Studie an andere Forschungen lässt sich hieraus die These formulieren, dass allen Bewegungen bewusst ist, dass die Generalisierbarkeit von Bewegungsinteressen und -motiven ein zentrales Kriterium für den Erfolg von urbanen Bewegungen darstellt. Ein weiteres wichtiges Merkmal erfolgreicher Bewegungen ist auch die Generierung von Expert*innenwissen. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass fallübergreifend eine Aneignung von Fachwissen, eine „Expertisierung“ zu beobachten war (außer in Fall D). Ohne das Aneignen von Expert*innenwissen wäre es keiner der Bewegungen gelungen, sich erfolgreich in den untersuchten Konfliktfällen zu positionieren. Relevant sind des Weiteren ökonomisches Kapital und Netzwerke. Hier offenbarte sich aber eine stärkere Flexibilität. So waren die finanziellen Ressourcen im Protest gegen Hochhausbau begrenzt, aber die Akteur*innen konnten dies durch eine vorzügliche technische Expertise, fundierte Kenntnisse des politischen Alltagsgeschäfts und im Umgang mit Medien kompensieren. Des Weiteren greifen die Bewegungen in ihren Hand-

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lungen und ihrem Framing auf verschiedene Räumlichkeiten zurück, um ihre Forderungen erfolgreich durchzusetzen. Dazu zählen Netzwerke unterschiedlicher Funktionen auf verschiedenen Skalen: im Kiez, der Kommune, stadtweit, international. Auf dieser Basis werden konkrete Strategien aufgegriffen, vor allem die Kommunikation der Anliegen über verschiedene Medien, rechtliche Klagen, Schutzerlässe, Lobbyarbeit und nicht störende Demonstrationen. Für die Anwendung dieser Strategien sind jedoch politische, ökonomische, soziale und raumbezogene Ressourcen entscheidend. Diese wurden im Rahmen der sozialräumlichen Positionalität diskutiert. Hier zeigten sich zwischen den im Rahmen der vorliegenden Studie untersuchten Bewegungen sehr große Unterschiede. Bewegungen mit hohem ökonomischem, sozialem, kulturellem und symbolischem Kapital (Vicatura) stehen weitgehend kapitallosen Familien mit Migrationshintergrund und zersplitterten sozialen Bewegungen (Parque Indoamericano) gegenüber. Als besonders relevant erwiesen sich die folgenden Komponenten: Ausschlaggebend sind zunächst die soziale Klassenzugehörigkeit und das symbolische Kapital der Gruppe, damit sich eine kritische Masse mit Forderungen von Protestierenden identifiziert. Dadurch steigt die Chance, von Politik und Öffentlichkeit gehört zu werden. Eng damit verbunden sind symbolische Ortszuschreibungen und ferner die ethnische Zugehörigkeit. Besonders deutlich wird das anhand der Hochhausproteste in Buenos Aires: hier war die Mittelschicht betroffen, verstanden als „weiß“, als Nachfahren europäischer Einwanderer*innen, die man zudem in bestimmten Stadtteilen verortet. Diese Erkenntnis bestätigt sich noch einmal mehr, wenn man im Vergleich die Parkbesetzung hinzuzieht: Die mit Ranciere als Anteilslose zu bezeichnenden Akteur*innen sind exkludiert vom argentinischen Identifikationsmodell, häufig handelt es sich um Menschen mit Migrationshintergrund, die Stadtteile sind im kollektiven Gedächtnis arm, quasi nichtexistent. Im Rahmen der durch die political opportunity structures geprägten Interaktionsdynamiken lässt sich für alle Konflikte resümieren, dass die involvierten politischen Entscheidungsträger*innen an einer konfliktfreien Umsetzung von Planungen interessiert sind. Im Hintergrund stehen dabei immer ausgeprägte wirtschaftliche Interessen. Die Strategien und Frames staatlicher Akteur*innen beruhen auf einem elitenorientierten Verständnis von Politik, und die Logik der involvierten Stadtplaner*innen folgt einer starken Betonung von Expertentum und Wachstumsorientierung. Gerade in ärmeren Stadtteilen werden autoritär-repressive und konsensuelle Handlungselemente kombiniert, um offene Konflikte zu vermeiden. Interessanterweise ließ sich in drei von vier Fällen nachweisen, dass öffentliche Grünflächen instrumentalisiert werden, um eigene Interessen durchzusetzen. In ähnlicher Weise wird die NIMBY-Debatte genutzt, um Keile zwi-

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schen soziale Gruppen zu treiben. Ferner lässt sich kontraintuitiv feststellen, dass lokale und zentralstaatliche Regierungen insbesondere moralisierende Rahmungslogiken verwenden, während soziale Bewegungen in ihren Rahmungen hingegen rechtliche und wissenschaftliche Bezüge nutzen. Es lässt sich also eine Verknüpfung von technokratischen und populistischen Regierungstechniken beobachten. In der Auseinandersetzung wurde überdies deutlich, wie sich die sozialräumliche Positionalität der Aktivist*innen in der Art und Weise der institutionellen Unterstützung widerspiegelt: Beispielsweise reagierte der chilenische Rechnungshof im Fall A der reichen Bürgerinitiative klar unterstützend auf die Forderung des Referendums, im Fall B der Pobladores-Bewegung hingegen nur vage. Auch diese Gruppen machen in ihrem Agieren Gebrauch von verschiedenen Räumlichkeiten. Besonders prägnant ist beispielsweise der Einsatz von politics of scale in der diskursiven und praktischen Auseinandersetzung während der Parkbesetzung in Buenos Aires. Ferner bewahrheiteten sich im Städtevergleich in Buenos Aires spezifische zivilgesellschaftliche Interventionspotenziale durch die dort verfügbaren Institutionen, insbesondere öffentliche (juristische) Kontrollinstanzen und die eigene Verfassung, inkl. eines leichteren Zugangs zur Presse. Bis auf die Auseinandersetzung im Parque Indoamericano gelang es allen Bewegungen, bestehende Masterframes in der Stadtentwicklung in Frage zu stellen und neue Masterframes zu platzieren. So ist es gerade für Chile kein unerhebliches Ergebnis, bewährte planerische Interpretationsmuster um Technokratie und Wachstum in Frage zu stellen (Konflikt A). Weniger eindeutig festigten sich mit dem Postulieren von Partizipation im Sinne des Gemeinwohls einerseits und der Forderung nach wahrer Teilhabe aber auch Varianten eines Masterframes im Kontext von demokratischer Mitsprache (Konflikt B). In Konflikt C ließen sich auch zwei Masterframes aufdecken, (unbeirrter als in Chile) ein Wachstumsparadigma, das auf die Forderung nach Teilhabe und dem Schutz von urbanem Erbe stößt. Im Zuge von Konflikt D konnten die eigentlich entgegengesetzten Exekutiv-Ebenen zusammen ein Leitbild weiter schärfen, das sich mit Sicherheit und Sanktion umschreiben lässt. Inwieweit ist damit ein Wandel politischer Praktiken verbunden? Hier zeigt sich, dass sich die Tendenz der skizzierten Regierungstechniken im Rahmen der Auseinandersetzung im weiteren Zeitverlauf fortsetzte. Konstatieren lässt sich aber, dass unter Einsatz von politics of scale und place autoritäre vermehrt durch konsensuelle Regierungstechniken abgelöst werden. Nennen lassen sich beispielsweise subtile Justizialisierungen von Bewegungsmitgliedern, wie nach der Parkbesetzung in Buenos Aires. Bezeichnend ist etwa ferner, dass in Santiago nach dem Protest der elitären Bürgerinitiative ein Partizipationsgesetz verab-

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schiedet wurde, und nachdem auch „arme“ Bürger*innen ein Referendum „gewannen“, wurden die Rechte wieder reduziert. Repressive oder scheinbar partizipative Politiken wurden also teilweise zementiert. Wie Rancière postuliert, wird die polizeiliche Ordnung zwingend wieder hergestellt, und die Aktivist*innen werden wieder durch das technokratische System vereinnahmt. Sie haben entweder ihre Ziele erreicht oder können den Widerstand nicht aufrechterhalten und werden ausgegrenzt. Diesbezüglich offenbarte sich sein Demokratiekonzept sehr hilfreich für die Analyse. Insgesamt wird deutlich, dass Wandel im Sinne der Protestierenden nur dann erfolgt, wenn genügend Druck aufgebaut werden kann. Trotz diverser emanzipatorischer Potenziale, die die Studie aufdecken konnte, bestätigten sich in der Untersuchung die manifeste hegemoniale Verankerung sozialer Ungleichheiten und ein ausgeprägtes klassenbezogene Verständnis von Bürgerschaft. Chile und Argentinien sind technokratisch bzw. populistisch geprägte Staaten. Felder wie die Stadtentwicklung unterliegen in Einklang mit politischen Eliten den Selbstregulierungsprozessen des Marktes. Was lässt sich nun mit Bezug auf eine Emanzipierung und (Re-)Politisierung des Städtischen resümieren? Erachtet man Demokratie als immerwährenden Kampf, sind alle untersuchten Konflikte geprägt durch ein „demokratisches Moment“. Überdies wurden in unterschiedlicher Weise emanzipatorische Dynamiken bei den Protestakteur*innen und in der Öffentlichkeit in Gang gesetzt. Dabei stellt ein partikulares Interesse immer den Ausgangspunkt für ein universelleres politisches Interesse dar. Auf Ebene der sozialen Bewegungen lässt sich eine Emanzipation dahingehend feststellen, dass eine demokratische Bewusstwerdung erfolgte, die teilweise mit einem veränderten Bürgerschaftsverständnis und einem verstärkten Einfordern von Gleichheit einhergeht. Hinzu kommt eine Emanzipierung durch eine Expertisierung, was zugleich die Gradwanderung zwischen Technokratisierung und dem Politischen illustriert. Des Weiteren wurde die Rolle von nichtintendierten räumlichen Wirkungen nachgewiesen: Selbst im Falle partikularer und ausschließlich lokaler Interessen, werden place und scale politisch beeinflusst, wobei sich hinsichtlich der Kontinuität des Widerstands deutliche Unterschiede zeigen. Die Initiative in Vitacura achtete etwa tunlichst darauf, einen Bruch mit der politischen Elite zu vermeiden. Teilweise verstetigten sich klassenübergreifende Netzwerke, eine Voraussetzung für die Aufrechterhaltung politischen Handelns, und es fielen die Potenziale von social movement spaces und die Schaffung temporärer Äquivalenzbeziehungen zusammen. Aber auch wenn vorherrschende Leitbilder in Frage gestellt werden konnten, wurde deutlich, dass umfassende weitere Widerstände erforderlich sind, um die herrschenden Machtverhältnisse in Buenos Aires und Santiago wirklich anzugreifen. In zwei Fällen (Widerstand gegen Gentrification in Santiago und

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Hochhausbau Erbe in Buenos Aires) wurde über den Konfliktfall hinaus ein agonistischer Konfliktraum geschaffen, der eine andauernde Politisierung und Veränderungsdruck ermöglicht. Dies ist freilich auch abhängig von der Reichweite der Forderungen. Denn gerade die sozialen Bewegungen in Peñalolén verfolgen ein explizit gesellschaftliches Anliegen. In Bezug auf die Postdemokratie-Debatte ist anhand der Darlegungen schließlich kritisch zu resümieren, dass es nötig scheint, die Komplexität des Politischen in der empirischen Realität zu erkennen und kontextspezifisch zu betrachten. Zu nennen wäre beispielsweise das Politische des Rechts, das Politische der Technokratie und spezifische hegemoniale Ordnungen. Außerdem müssen postdemokratische Perspektiven stärker die Relationalität der Subjekte bzw. Nuancen der Nichtzugehörigkeit und die Relationalität von Raum berücksichtigen. Denkt man an das Konzept der social movement spaces und die Vorstellung von Äquivalenzbeziehungen, so ist es nicht nur sinnvoll, dass poststrukturalistische Ansätze Raum mitdenken, sondern räumlichkeitsbezogene Elemente der contentious politics können weitere Differenzierungen gestatten. Wenn Bewegungen etwa in Netzwerke multipler Funktionen eingebettet sind, lassen sich nicht nur besondere Dynamiken erwarten, sondern es ist auch wahrscheinlicher, dass Äquivalenzbeziehungen differenzierte und gleichzeitig äquivalente Interaktionen ermöglichen. Eine Überwindung der in dieser Arbeit diskutierten gesellschaftspolitischen Defizite in Argentinien und Chile erscheint gegebenenfalls über eine Fortführung von Widerständen seitens der Bürger*innen möglich; staatliche Institutionen fallen als reformerische Akteur*innen aus. Was diese Widerstände betrifft, so lassen sich auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Arbeit einige Hinweise ableiten: Organisationen sollten sich davor schützen, dass eine Vereinnahmung von Leitbildern und Errungenschaften durch Regierungsebenen erfolgt. Dieses Aufrechterhalten von Differenzen gilt sowohl für Bewegungen der Mittelschicht als auch für die der marginalisierten Schichten. Zugleich erscheint allerdings die Erkenntnis ausschlaggebend, dass diese Vereinnahmung im Grunde unvermeidbar ist und akzeptiert werden muss. Nur wenn dieser Prozess anerkannt wird, ist es möglich, eine widerständige Dynamik durch Hinterfragen dauerhaft aufrechtzuerhalten. Gerade für benachteiligte Gruppierungen erscheinen zudem Vorschläge hilfreich, die gleichzeitig Elemente der Autonomie pflegen und in der Interaktion mit staatlichen Institutionen das Einfordern von Interessen als gleichberechtigte Bürger*innen hervorheben (wie z.B. die MPL in Chile). Nur so lassen sich klassenbezogene bürgerschaftliche Verständnisse aufweichen. Dies gilt gerade für die Gruppierungen in Argentinien, wo durch antietatistische Haltungen von marginalisierten Bevölkerungsgruppen und populistische Traditionen

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die fragmentierten Sozialpolitiken der aktuellen Regierung ermöglicht werden. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie NGOs, rechtliche Instanzen und bestimmte staatliche Organisationen müssen dabei eine unterstützende Funktion einnehmen. Zudem sollten sich stärker positionalisierte Organisationen in der Pflicht sehen, ihre Anliegen nicht auf Kosten schwächerer Gruppierungen durchzusetzen, sondern unterstützend zu wirken, beispielsweise in Form von Beratungsangeboten. Aus der durchgeführten Studie lassen sich abschließend einige weiterführende Forschungsfragen ableiten, die vor dem Hintergrund der dargestellten gesellschaftspolitischen Konsequenzen auch für zukünftige Forschungen relevant sein könnten: Die Erhebungen in Argentinien zeigten auf, welch zentrale Bedeutung der richterlichen Ebene im geschwächten Staat zukommt. Daher halte ich es für relevant, Elemente der Judikative im Kontext postpolitischer Ordnungen systematischer zu berücksichtigen. Es gibt zwar raumbezogene legalistische Studien, aber in der Stadtforschung scheint die Rolle juristischer Institutionen und Akteur*innen generell und gerade im Rahmen der Untersuchung postpolitischer Konstellation bislang noch wenig abgedeckt zu sein. Des Weiteren lässt sich gerade auf der Basis der Analysen in Peñalolén ableiten, dass Studien über sozial divergierende Bewegungen, die ein gemeinsamer Bezugspunkt eint, neue Hinweise auf mögliche Synergien liefern könnten, was die Realisierung von überlappenden Forderungen betrifft. Hier sehe ich zum Beispiel Potenziale für die Beforschung von Widerständen gegen Gentrifizierung. Außerdem lassen sich auf diese Weise, wie sich in der vorliegenden Arbeit zeigte, weitere Regierungstechniken aufdecken, die sonst vielleicht nicht sichtbar wären. Diesbezüglich könnten auch Vergleichsstudien zwischen europäischen und lateinamerikanischen Städten neue Erkenntnisse über contentious politics liefern. Dies gilt auch, weil lateinamerikanische autonomietheoretische Konzepte um contentious politics Antworten auf Fragen liefern können, die man sich hierzulande stellt. Schließlich wäre es von Interesse, die Untersuchung strukturierender und handlungsbezogener Bedingungen verschiedener Räumlichkeiten fortzuführen und im Detail zu durchdringen (gerade in Lateinamerika, wo diese konzeptuelle Differenzierung bislang wenig Anwendung findet). So verdeutlichte die Analyse beispielsweise den Nutzen des scale-Konzepts, um räumliche Politiken in ihren Facetten erörtern zu können. Vor dem Hintergrund der untersuchten Besetzung des Parque Indoamericano könnte dabei ein Fokus auf migrantische soziale Bewegungen in Lateinamerika gesetzt werden.

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Anhang

E RGÄNZENDE Z ITATE

ZU DEN

F ALLSTUDIEN

Konflikt A Gestärkter Masterframe Lebensqualität und Mitsprache Das Juristische als nicht sichtbarer place: „Wenn Du [damit] vor Gericht gehst, ziehst Du es aus dem Bereich der Bürgerschaft, dem Bereich des Politischen, der großen Politik, meine ich, dem Interesse des Bürgers“ (SV1 87, Vertreter Salvemos Vitacura).

Lokales partikulares Interesse der Initiative: „Lebensqualität. Schöne Häuser. Nähe zu den Autobahnen, um Richtung Norden, Richtung Süden, zum Flughafen, zur Küste rauszufahren. Wir haben den Manquehue Berg, um Ausflüge zu machen. Wir haben den San Cristobal Berg, wo man bis zur Spitze steigen kann [...] Vitacura ist Lebensqualität. Daher ist es sehr wichtig, den residenziellen Charakter der Kommune aufrechtzuerhalten. Und sie nicht in eine Durchgangskommune zu verwandeln.“ (SV1 9, Vertreter Salvemos Vitacura) „Jeder Einzelne verteidigte seine Interessen sonst nichts. Es gab niemanden, der gesagt hat, hört zu, wir müssen die Institutionen demokratisieren und die Stadt ist ein Szenario der Partizipation. Nein, das war nicht der Diskurs.“ (SV5 43, Stadtplaner, Fak. für Architektur PUC)

Geschwächter Masterframe Technokratie und Wachstum Man sieht sich zu Anpassungen der Planungsvorstellungen gezwungen: „Das System, das wir hatten oder das wir derzeit haben, mit all seinen Defiziten, eignet sich viel besser für eine uninteressierte und uninformierte Bevölkerung. Jetzt muss sich

406 | P ROTESTBEWEGUNGEN UND S TADTPOLITIK das System bzw. das Partizipationssystem bewusst werden, dass die Bevölkerung viel interessierter und informierter ist und sie einbeziehen. Denn früher sagte man: ‚Sie haben den Hinweis nicht gesehen? Mensch, dass tut mir aber leid.’ Das geht heute nicht mehr, beim walk over [sic] verlieren; das kann man irgendwie nicht mehr machen. [...] Deswegen muss sich das System um diese Änderungen und die Konfliktvielfalt kümmern.“ (S17 65, Leiter für Studien CChC)

Anpassung an neues Leitbild und Widersprüche zwischen Ideal und Realität: „Wir kommen schon zu dem Schluss, dass die Leute in Vitacura keine hohen Häuser haben wollen, und hoch heißt hier 4 Stockwerke. Die Leute wollen die Gemeinschaft in Vitacura erhalten, was wir, abgesehen von den Außenbereichen, auch ein bisschen wollen: Wohnungen geringer Gebäudehöhe, viel Grünflächen, erhalten, was das barrio ausmacht, so wie früher als die Kinder zum Spielen rausgehen konnten, dass Du Deine Nachbar*innen kennst, dass man sich auf einem Platz begegnet, dass die Kinder mit dem Fahrrad raus können, dass der Autobestand gering ist. Und das ist absurd, meine ich, denn in Vitacura leben die Leute mit der höchsten Kaufkraft von Santiago. Hier haben alle ein Auto, jedes Familienmitglied hat ein Auto.“ (SV3 21, Leiterin Stadtplanung Vitacura)

Leitbild der „Flächenmetropole“ gerät zunehmend ins Wanken: „Wollen wir tatsächlich eine Stadt mit 150 Einwohner*innen pro ha, wie es der PRMS [metropolitaner Flächennutzungsplan] aus dem Jahr 1994 vorschlägt? Das ist im Grunde vergleichbar mit einigen Städten in Indien. Oder wollen wir eher ein amerikanisches, französisches Stadtmodell, oder – da alle Welt von Paris spricht, aber im Metropolraum von Paris ist die Dichte 30 Einwohner pro ha, und Santiago hat 75 – wollen wir wie Paris sein, dann müssen wir Santiago um das Doppelte wachsen lassen, die Leute müssen nach draußen ziehen. Oder sagen wir umgekehrt: [...] wenn wir mit Dichte wachsen, werden wir akzeptieren müssen, dass Hochhäuser gebaut werden. Denn auf irgendeine Weise muss ein allgemeiner Rahmen erreicht werden, der sagt, wie die Städte in Chile sein müssen.“ (S17 50, Leiter für Studien CChC)

Diskurspraktiken: Zögerliche Machttransformationen Der technische / „apolitische“ Charakter von Salvemos Vitacura: „Das Interessante ist hier, dass es nicht um eine politische Entscheidung ging. Oft dienen solche Positionen in Chile dem Politischen. Hier nicht. Denn Vitacura hat eine sehr homogene Wählerschaft. Allgemein ist sie rechtsgerichtet, durch und durch, die Rechte gewinnt immer! Also war das nicht ein Problem von Partei A gegen Partei B. Sondern die Diskussion hatte mit den Hochhäusern zu tun.“ (SV2 64, Unterstützerin Salvemos Vitacura)

Expertise als Voraussetzung dafür, ernstgenommen zu werden: „Ein weiteres essenzielles Element der Partizipation in Chile ist, über technische Kompetenzen zu verfügen. Denn über den Diskurs, ‚Du verstehst das Problem nicht’ wird der

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Autoritarismus ausgeführt. Also, je mehr technische Kompetenzen Du Dir aneignest, umso besser sind Deine Bedingungen für die politische Verhandlung.“ (S10 62, Architektin, Fak. für Architektur PUC)

Die Verwaltung hätte Bürger*innen mehr Aufmerksamkeit schenken müssen: „Hier müssen wir einsehen, dass die Gemeinde schlecht gelenkt hat, denn anstatt im entscheidenden Moment zu sagen, okay, stimmen wir uns ab, arbeiten wir zusammen [...], sagte die Bürgermeisterverwaltung hier: ‚Nein, es gibt keine Rücksprache, wir werden machen, was wir wollen, weil wir eine Einheit von Fachleuten sind, die selbstverständlich mehr weiß als die Anwohner.‘ Und das gewann immer mehr an Bedeutung bis es zur Anzeige beim Rechnungshof kam.“ (SV3 14, Leiterin der Stadtplanungsabteilung Vitacura)

Unbeirrte Fortsetzung wachstumsorientierter privatwirtschaftlicher Routinen: „Esteban González, Leiter für Studien von AGS Visión Immobilien, glaubt, dass Vitacura nach dem kategorischen Plebiszit dafür bestimmt ist, ein ‚lebendes Museum‘ zu sein. [...] Die Immobilienfirmen werden andere ‚pro-Entwicklung‘-Gebiete mit günstigeren Bedingungen suchen wie Las Condes, Lo Barnechea, und vielleicht auch Providencia‘.“ (Neira/ Ovalle 2009)

Teilweise plädieren Consultings inzwischen für mehr Partizipation: „Es ist erforderlich, dass Industrie und Staat anerkennen, dass zivilgesellschaftliche Partizipation da ist [...] und dass sie ein Input für die Gestaltung von Plänen und Projekten sein muss. Außerdem muss sie durch institutionelle Mechanismen kanalisiert werden. Das impliziert, die Modifikation von Gesetzeslücken zu beseitigen, die ermöglichen, sich über die Spielregeln hinwegzusetzen, Ermessenspielräume von öffentlichen Funktionären zu reduzieren und die Qualität der Projekte zu verbessern.“ (Ivan Poduje, PUC und Planungsbüro Atisba, http://www.adi-ag.cl/?p=959, 09.12.13)

Konflikt B Masterframe: Partizipation im Sinne des Gemeinwohls Die eigene Meinung muss sich dem Gemeinwohl unterordnen: „Es ist natürlich gut, seine Meinung zu äußern und all sowas, aber man muss sich informiert äußern und selbstverständlich kann jeder ein Recht einfordern, wenn es um sein Eigentum geht. Aber wenn wir überlegen, dass es ein Gemeinwohl gibt, da entsteht der Konflikt, und wo ist die Grenze, dass meine Meinung vielleicht weniger wert ist, als die der Gesamtheit.“ (SP7 118, Stadtplanerin Planungsbüro URBE)

Keine wahre Reflexion der Konflikte und wenig Bereitschaft zum Umdenken: „Die Planung hat sich auf jeden Fall verändert, aber leider zum Nachteil, denn im Endeffekt hat es zu einer Geheimnistuerei bei der Modifikation der Landnutzungspläne geführt,

408 | P ROTESTBEWEGUNGEN UND S TADTPOLITIK und das ist ein Rückschritt. Ich finde es bedauerlich, dass sich die Partizipationsprozesse letzten Endes in richtige Konflikte verwandelt haben und nicht in Partizipationsprozesse.“ (SP9 64, Direktorin Seremi MINVU)

Ablehnung von Mitsprache, da keine Erfahrung mit Interessengegensätzen: „In Chile haben wir noch keine Erfahrungen mit [...] Konflikten, die Ergebnisse liefern, die jeden einzelnen überzeugen, [...] dass alle etwas gewinnen im Sinne von „win win“. Ich glaube, weil es keine Erfahrungen damit gibt, ist das Misstrauen groß und dieses große Misstrauen verwandelt sich schnell in Prozesse, die keinen Ausweg zulassen.“ (S10 58, Architektin Fak. für Architektur PUC) „Dieses Problem hat mit der Geschichte und der Kultur in diesem Land zu tun. Aber es wandelt sich mit der Zeit.“ (S15 52, Stadtplaner Seremi MINVU)

Diskurspraktiken: oberflächliche Korrekturen Einflussreiche Elitennetzwerke erhalten informelle politische Praktiken aufrecht: „Dahinter stecken politische und ökonomische Entscheidungen. Es passte ihm nicht, die geplante Enteignung zu riskieren. Genauso wenig passte es ihm, sein Projekt Parque Peñalolén zu riskieren, ein Park wie der Central Park in den USA. Eine fette Sache, eine gigantische Grünfläche von 24 ha. Wo immer noch 300 Familien leben. Nie im Leben wird er das riskieren.“ (SP8 58, Sprecher/in Nuevo Chile) „Der Bürgermeister wollte, dass das Umweltministerium die EAE einfach bestätigt, ohne einen Pfennig dafür zu zahlen. Genau das taten sie. [...] Man kann sich einem Bürgermeister, der viele Abmachungen mit der Regierung hat, nicht widersetzen. Dieser Bürgermeister gehört nicht zur Opposition [...] und er pflegt eine enge Verbindung zur PiñeraRegierung. Das haben alle Referenten gesagt.“ (SP5 146, Sprecher Comunidad Ecológica)

CMSP/MPL und Comunidad Ecológica haben Sozialwohnungen verhindert: „Das hat in der Öffentlichkeit das Gefühl einer Revanche der Gebiete, die das „Nein“ gewonnen haben, hinterlassen, bzw. alle die das „Ja“ unterstützten, haben jetzt keine Wohnung; haben ihre Chance verpasst. Und das ist falsch, weil unsere Absicht ist, einen neuen Plan zu machen, auf Augenhöhe mit der Bürgerschaft.“ (SP8 99, Sprecher/in Nuevo Chile)

Neuer Masterframe: Ein Recht auf die Stadt Wahre Partizipation erfordert politische Anerkennung des Gegenübers: „[Partizipation] muss streng mit der Legitimität, die man dem Anderen als sozialem und politischem Akteur zuschreibt, verbunden sein. [...] Partizipation ist ein Konstrukt und kein Leitfaden, ein Rezept, das man anwendet. Sie wird konstruiert, wenn Du losgehst, den anderen kennenlernst, ihn einlädst, und Du musst annehmen, dass der andere eine Stimme und Rechte hat. [...] das ist eine politische Entscheidung und keine technischinstrumentelle. [...] Uns wird klar, dass Partizipation fundamental ist [...], aber es ist eine

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Sache, sich etwas bewusst zu machen, und eine andere, bereit zu sein, sie politisch aufzunehmen.“ (S10 34, Architektin Fak. für Architektur PUC)

Diskurspraktiken: Vernetzungen und neue Strategien Potenziale der entstandenen Vernetzung von Bewegungen in Peñalolén: „Das waren Organisationen, mit denen wir vorher nicht gearbeitet hatten und uns im Zuge dieses Prozesses annäherten und anfingen, unsere politischen Differenzen unseren strategischen und taktischen Konvergenzen unterzuordnen.“ (SP3 55, Sprecher MPL)

Aufrechterhaltung von Widerstand erfordert kontinuierlichen Einsatz: „Die Leute beruhigen sich zum Teil wieder und wir kommen nicht mehr vorwärts. Der Bürgermeister tritt überall auf, mit seinem ganzen Personal und die Leute kritisieren weniger, sehen den Kompromiss. Gleichzeitig macht der Bürgermeister Versprechungen und sagt ‚nein, das wird nicht passieren mit ihrem Haus, sie werden nicht kommen und den Verkauf fordern‘.“ (SP2 170, Sprecher MPL)

Emanzipation durch Bruch mit dem „Apolitischen“ im CMSP: „Nach und nach fingen die Leiter an zu verstehen, dass das eine politische Bewegung war. Es ging nicht nur um ein technisches Hilfsmittel wie den PRC, sondern es ging um die Immobilienfirmen, Gewinne, die Gemeindeverwaltung, die Concertación, Rechte; darum, uns als Bewegung zu positionieren.“ (SP8 135, Sprecher/in Nuevo Chile)

Emanzipation durch kollektive Lernprozesse im CMSP: „Wir wissen, dass Orrego die Anführer bezahlt, damit sie die Leute zu seinen Gunsten lenken, und zwar überall. In San Luis, und in der Landnahme von Peñalolén hat er auch ein Mädchen [...] In der Tat haben viele Leute, die mit uns arbeiten, dem Bürgermeister einmal vertraut. Viele Versprechungen von Grundstücken, Wohnungen, alles Mögliche. Am Ende, nichts, und heutzutage lernt die soziale Wohnungsbewegung, wenn sie dir das Land nicht kaufen, wird es nichts geben. [...] Deswegen wird heute mit dem Städtebauministerium der Kauf von Grundstücken verhandelt.“ (SP8 154, Sprecher/in Nuevo Chile)

Wandel der Positionalität durch Anwendung institutionalisierter Instrumentarien: „Früher waren die Bewegungen spontaner, informeller, und jetzt ist diese Unbedarftheit irgendwie vorbei, weil wir ein Referendum gewonnen haben. Wir haben das Spiel gewonnen, das er spielen wollte. Wir haben auf legitime Weise gewonnen. Im Rahmen der Gesetze. Die Ermächtigung der Bürger hat sich also bereits erhöht. Das ist nicht mehr nur Improvisation.“ (SP8 128-129, Sprecher/in Nuevo Chile)

Wandel der Positionalität durch technisches, juristisches und lokales Wissen: „Die sozialen Bewegungen sind weit gekommen. Sie entwickeln Vorschläge, kennen die Strukturen genau, sie wissen sehr gut, wo die Schwächen des Systems sind [...]. Fakt ist, dass sie sich in Einheiten der Immobilien- und Sozialentwicklung verwandelt haben und

410 | P ROTESTBEWEGUNGEN UND S TADTPOLITIK dadurch dass sie ihre eigenen Wohnungen bauen, haben sie das Rüstzeug, das Wissen erlangt, wie Politik funktioniert; [...] sie haben sich in politische Protagonisten verwandelt, wodurch sie heute sogar in der Lage sind, Dekrete zu entwerfen.“ (S2 38, Geograph INVI)

Große Skepsis gegenüber klassenübergreifenden Kooperationen: „Es gibt keine Bürgerbewegung, die hier einen gemeinsamen Nenner findet. [...] Es gibt Verfechter der Stadt, des barrios strenggenommen, die sich über ökonomische Unterschiede stellen [...] Aber wenn der Punkt kommt, Kollaborationen zu definieren, werden sie das mit der Klasse ähnlichen Einheiten tun. Defendamos la Ciudad wird nicht diese Kinder verteidigen, die ein Haus wollen. Sie werden diese Öko-Elitisten verteidigen, die Segregation wollen.“ (SP2 203, 205, Sprecher MPL) „Tatsächlich sind wir mit der Comunidad Ecológica im Gespräch, was ziemlich vielversprechend aussieht. Die gleichen Leute, die vor zwei Jahren eine Mauer bauen wollten, um die Armen nicht zu sehen, weil wir offenbar sehr hässlich sind [...] Aber wenn Du mich fragst, ob die Konvergenz zwischen Popularen und Bürger*innen erreicht wurde, nach meiner politischen Lesart fehlt dafür sehr sehr viel.“ (SP2 76-83, Sprecher MPL)

Potenzial von klassenübergreifenden Äquivalenznetzwerken (PRMS 100): „Würde sich die Diskussion vertiefen, würde man verstehen, dass auf diesen Flächen [...] in Wahrheit keine Sozialwohnungen gebaut werden können, weil die Preise so stark ansteigen werden. Die Pobladores-Bewegungen könnten das verstehen und die anderen [Bewegungen] könnten verstehen, dass sie es sich auch zur Aufgabe machen müssen, dass in der Stadt Flächen für Wohnungsbau gebraucht werden. Wie kann man also die beiden an einen Tisch bringen und Kräfte bündeln, anstatt dass sich die Bürgerbewegungen und die Pobladores-Bewegungen um ein Thema streiten? Die Gewinner sind schließlich die großen Immobilien- und Wirtschaftsinteressen, die ihre Spekulationsspiele treiben und zwischen denen Streit produzieren, die Widerstand leisten könnten.“ (S2 24, Geograph INVI)

Konträre strategische Repertoires von Pobladores und Comunidad Ecológica: „Die Pobladores aus Peñalolén sind sehr militant. Sie gehen auf die Straße, unterbrechen den Verkehr. Sie hängen sich von Brücken. Sie gehen zu den Gemeinderatssitzungen. Die Comunidad Ecológica wird sowas nicht tun. Sie bewegen sich viel in rechtlichen Dingen, mit Anwälten, mit Fachleuten, Architekten. Viele Briefe an den Bürgermeister. [...] Bis sie eingesehen haben, dass das Referendum kommen wird und es sie beträfe, wenn das JA gewinnen würde. Und da schlossen sie sich an.“ (SP8 88, Sprecher/in Nuevo Chile)

Scale Jumping – der Zentralstaat muss Verantwortung übernehmen: „Ich habe immer gesagt, dass der Streit gegen den PRC in Peñalolén nicht nur gegen Orregos Verwaltung ist, sondern gegen einen Staat, der sich nicht um die Gebiete kümmert, die von der Stadterweiterung betroffen sind, die Ausläufer des Gebirges, die Gebiete der Stadterneuerung.“ (Revista Planeo 2013)

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„Der Bürgermeister ist ein kleiner Feudalherr in der Kommune und mit dem Plan ist es so, als könnte er die Gemeinde zeichnen, aber der PRC ist kein unabhängiges Instrument der Raumordnung, es folgt Zonierungsprinzipien. Es bestimmt nicht, wie die Stadt zu bauen ist, sondern nur was an diesem oder jenem Ort sein kann. Es ist kein Instrument der Wohnungsentwicklung.“ (SP3 73, Sprecher MPL)

Konflikt C Neuer Masterframe: Recht auf urbanes Erbe und Identität Das urbane Erbe als politisches Konfliktfeld und die Rolle der sozialen Klasse: „Das urbane Erbe ist ein konfliktträchtiges Feld, denn hier geht es um Macht. Wer glaubt, dass Kultur nichts mit Politik zu tun hat, der versteht nicht. Da es also um Macht geht und die Durchsetzung einer fast hegemonialen Logik über eine andere Logik, gibt es selbstverständlich Konflikte.“ (BP10 3, Leiterin CPPHC, CABA) „Klar ist, dass Victoria Ocampo Eigentümerin des Hauses war, aber bei Alfonsina Storni [mittellose Schriftstellerin der Jahrhundertwende in Flores] ist das nicht klar, was auch mit dem sozialen Background zu tun hat. Klar ist, dass ein Petit Hotel in Recoleta schützenswert ist, aber dass das Haus eines Einwanderers schützenswert ist, ist nicht klar. Und das müssen wir aufbrechen.“ (BP10 17, Leiterin CPPHC, CABA)

Definitionsmacht der Bürger*innen über urbanes Erbe und politische Teilhabe: „Vor nicht all zu langer Zeit wurde das urbane Erbe als Thema für Spezialisten erachten, und in gewisser Weise auf Architekten begrenzt, dann kamen Archäologen und danach Historiker dazu. Aber die normalen Leute, der Anwohner hatte damit nicht viel zu tun.“ (BP10 2, Leiterin CPPHC, CABA) „Ich bin es, der hier wohnt, nicht Du, der baut. Ich habe Rechte erworben [als] ich entschieden habe, an diesem Ort zu wohnen. Ich will also gehört werden, vorschlagen und auch die Möglichkeit haben, zu entscheiden. Nicht nur, dass Du mir eine Stimme gibst, ich will auch mitentscheiden.“ (BP9 38, Vertreter SOS Caballito)

Kritik des neuen Dekans der FADU an freistehenden Hochhäusern: „Ich möchte die Aufmerksamkeit auf den enormen Schaden lenken, den die Ausbreitung der freistehenden Hochhäuser in Buenos Aires an Umwelt, Gesellschaft und der Stadt anrichtet. So wie dieses von den Entwicklern bevorzugte Format Verwendung findet, wird dadurch nur das städtische Gewebe ausgehöhlt und somit die Lebensqualität in der Stadt. [...] Es ist nicht wahr, dass mit den Türmen auf die Notwendigkeit zu verdichten reagiert wird. In einem Block mit gleich hohen, aneinander angrenzenden Gebäuden in Barrio Norte wohnen doppelt bis dreimal so viele Leute, als in einem der Blocks, wo diese großen Türme stehen. Und die Straßen sind freundlicher und sicherer, wenn sich Eingänge

412 | P ROTESTBEWEGUNGEN UND S TADTPOLITIK und Gewerbe aneinander reihen, als wenn sie diese meist ummauerten Festungen umgeben.“ (ARQ Clarin 2014, Dekan)

Reaktion auf den Dekan: Bürger*innen und Justiz gefährden Bauwirtschaft: „Es besteht die Gefahr, dass ein Projekt, das zu 100% dem Código entspricht, gestoppt wird, weil Nachbarn den Artikel des Dekans nutzen, um ihre Beanstandungen zu begründen. Wir sollten auch nicht vergessen, dass die Leute dazu neigen, alle möglichen größeren Gebäude als Türme zu bezeichnen.“ (ARQ Clarin 2014) [Meist werden sowohl Entre Medianeras (aneinander angrenzende Gebäude, ~ Blockrandbebauung) als auch freistehende Hochhäuser als „Torres“ bezeichnet.]

Diskurspraktiken: Vernetzungen und strategische Routinierung Mehr Effizienz durch Vernetzung / Routinierung: „Sie kommen zu unseren Aktionen, wir zu ihren. Sind es nur 10 Leute, passiert nichts, aber bei 50, Obacht! Die Aktion im Gran Rivadavia [früheres Kino]: 500 Leute! Da kam die Presse. Am Dienstag treffen sich alle NGOs wegen dem Gesetz 3056. Jede wird intern diskutieren, was sie für dessen Erhalt beisteuern kann. [...] Basta de Demoler hat die Fähigkeit, unglaubliche Zerstörungen zu verhindern, dafür bewundere ich sie. Sie bewundern uns, aufgrund unserer Fähigkeit, Gesetze zu schaffen und alle rechtlichen Dinge, die sie dann brauchen, um Bauprojekte zu stoppen. Und Proteger Barracas hat die Fähigkeit, die Struktur des barrios deutlich zu machen. Sie arbeiten viel mit lokaler Identität.“ (BP6 36, 32, Sprecher Salvar a Floresta) „Wir haben viele „Klonen“ in anderen barrios, wo wir beim ersten, zweiten Treffen dabei sind und dann lassen wir sie. [...] ‚Ich erklär Dir, wie man es macht, ich geb dir das Werkzeug in die Hand, ich helf dir die ersten zwei Male, dann geh Deinen eigenen Weg‘. [...] Wir waren fast in ganz Buenos Aires. Die Leute rufen an, wir erklären, was wir machen: Gesetzesvorschläge im Parlament, Schutzerlässe, Demonstrationen zum Haus des Richters.“ (BP13 58, Sprecher Proto Comuna Caballito) „Zu diesen öffentlichen Anhörungen gingen meist nun die Interessierten, die Entwickler eines Projektes. [...] Wir kümmern uns darum, dass die Anwohner aus dem barrio erfahren, wenn es ein Projekt gibt, damit sie hingehen. Wir gehen auch hin und ich spreche in fast jeder öffentlichen Anhörung, die mit dem Erbe zu tun hat.“ „In rechtlichen Dingen war die Beteiligung der Verteidigung sehr entscheidend. Bei vielen Schutzerlässen in Sachen Erbe und Urbanismus verwendeten die Richter die Empfehlungen der Verteidigung als Gutachten.“ (BP11 27; 39, Stellv. Verteidiger, Verteidigung des Volkes, CABA)

Professionalisierung – Erzeugung medialer Aufmerksamkeit: „Du brauchst die Kulisse, den Sprecher und eine klare Idee davon, was Du kommunizieren möchtest. Und dann besteht die Möglichkeit, dass die Dinge gut laufen. Denn dann ist

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es wahrscheinlich, dass sie dich im Fernsehen übertragen und am nächsten Tag dich der Minister anruft und sagt, ‚ist ja gut. Mach nicht noch mal so eine Aktion. Lass uns reden‘.“ (BP13 64, Sprecher Proto Comuna Caballito)

Langfristige Professionalisierung: „Wir rufen einen befreundeten Journalisten an und er kommt. Mit der Zeit erschöpft sich das, es müssen neue Handlungswege erfunden werden. Neue Strategien denken erfordert aber auch ein anderes Level von Energie, von Wissen, und hier eröffnet sich immer ein Bruch, den man vor Augen haben muss. Um weiter zu agieren, die Dinge auf intelligente Weise anzugehen, um Wirkung zu erzeugen und die Leute nicht zu langweilen.“ (BP12 20, Architekt, Basta de Demoler)

Logik des Immobilienmarkts als gemeinsame gegenhegemoniale Artikulation: „Die Logik des Immobilienmarktes ist genauso einfach wie alarmierend: Wenn es keine freien Flächen mehr gibt, um zu bauen, müssen sie geschaffen werden. Wie? Indem man über historische Gebäude baut oder sie ohne irgendwelche Kriterien modifiziert, denkmalwürdige Immobilien zerstört oder in Form von Räumungen wie die in Villa Lugano oder dem Parque Indoamericano.“ (Carpineta 2014) „Wir gehen [zu Demos für Arbeitsrechte], weil die Forderung die gleiche ist: Die mangelnde Kontrolle in der Bauwirtschaft. Es geht um schnelle Geschäfte und hohe Gewinne. Das Leben zählt nichts [...] Also triffst Du dort Organisationen, die diese Willkür beanstanden. [...] Inzwischen kennen wir uns, wir sind ein Teil davon, wie eine gemeinsame Basis, die bestehen bleibt. Wir wissen inzwischen, dass das was wir sagen nicht opportunistisch ist, sondern es gibt Konsequenzen, eine Kohärenz hinsichtlich unserer Forderungen.“ (BP9 103, SOS Caballito)

Fortsetzung kollektiver Raumproduktion in Caballito: „Diese Kulturzentren stammen aus der Zeit der Asambleas von 2001. Das hier ist also wie ein Abdruck ihrer Geschichte, ergänzt um das Neue, was im barrio passiert. Das summiert sich zu diesem sozialen Treiben.“ (BP9 17, Vertreter SOS Caballito)

Diskurspraktiken II: Business as usual Spiel zwischen Macrismus und Bürger*inneninitiativen statt Umdenken: „Der Baustopp unter Telerman [...], wo sich danach rausstellte, dass in 5 Stadtteilen 320km Rohre verlegt werden müssen, Projekte für 220 Mio. Pesos, die nie umgesetzt wurden. Die Schaffung einer speziellen Methode zur Einreichung von Bauerlaubnissen in diesen Stadtteilen, die danach vom Macrismus gekappt wurde. Die Schaffung eines Gesetzes, womit diese Sonderbedingungen auf die ganze Stadt ausgeweitet wurden. Die Abschaffung der Norm, die die Kontrollpflicht im Moment des Abrisses etabliert.“ (BP13 40, Sprecher Proto Comuna Caballito)

414 | P ROTESTBEWEGUNGEN UND S TADTPOLITIK

Dunkle Machenschaften erschweren Kampf um wahre Mitsprache: „Eine direktere Demokratie können nur die Bürger selbst erobern. [...] Die Politiker interessiert es nicht, wir sind eine Belästigung, sie wollen weder, dass wir [...] sie kontrollieren, noch dass sie Rechenschaft ablegen müssen. Sie sind sehr unsauber. Weil sie wissen, dass [...] dunkle Dinge dahinterstecken, weigern sie sich so, das Spiel zu öffnen.“ (BP12 81 Architekt/Sympathisant Basta de Demoler)

Konflikt D Diskurspraktiken (Diskurskoalition II): Konkurrierende Perspektiven sozialer Bewegungen setzen sich fort: „Es ist komplex, denn auch was die politischen Strategien angeht, den Park neu zu deuten, gibt es keine internen Abstimmungen. Es ist schwierig, Salvatierra ist gut angesehen und schlecht angesehen, es gibt viele verschiedene Meinungen über die Akteur*innen in diesem Park. [...] Sie war nicht organisiert, [...] sondern spontan. Danach gab es Leute, die die Repräsentation bestimmter Gruppen übernahmen. [...] Es gibt viele Widersprüche über das Auftreten dieser Akteur*innen. Ich weiß nicht, was korrekt oder inkorrekt ist, aber das Bild ist sehr komplex. Aber gut, das ist auch Teil der Realität der Organisationen, sie wussten den Prozess nicht für sich zu nutzen.“ (BI7 35, Anwältin Allgemeine Verteidigung CABA)

Juristische Wohnungspolitik: „Gerichtlich hat man mehr Halt. Denn der Staat hat sich diesen Personen verpflichtet. Sie sind gut oder schlecht, das weiß ich nicht, und dem Staat ist es auch egal. Was ich weiß ist, dass es eine Verpflichtung, ein Abkommen der Stadt mit Unterstützung der Bundesregierung gibt, das besagt, dass sie diesen Personen eine Wohnung geben werden. [...] Wenn sich der Staat in schlechtem Glauben verpflichtet oder falsch gehandelt hat, ist das sein Problem.“ (BI7 41, Anwältin Allgemeine Verteidigung CABA) „Der Staat funktioniert so: Sie nutzen die Krisen und versprechen hier und dort, und man schließt die Flicken wo möglich; ohne Planung, ohne an eine langfristige Politik, an Wohnungsbau oder an alternative Lösungen zu denken, nichts. Sie bauen Wohnungen, wenn sich der Richter einmischt, dass sie es machen müssen“ (BI7 43, Anwältin Allgemeine Verteidigung CABA)

Juristisches Umdenken bei Räumungen und begrenzte Einflussmöglichkeiten: „Es gibt ein Vor und ein Nach dem Park, in Bezug auf was der Konflikt zutage brachte, und weil man jetzt vorsichtiger mit Räumungen umgeht, das ist klar. Ich sage nicht, dass alle das ernst nahmen, aber die Folgen, insbesondere für die Richterin, die sich nicht im Geringsten vorstellen konnte, was passieren würde. Mir scheint, [...] wenn jetzt ein Fall

A NHANG

| 415

kommt, schauen die Richter genauer hin [...]. Und selbstverständlich möchte niemand für diese Situation verantwortlich sein.” (BI7 55, Anwältin Allgemeine Verteidigung CABA) „Das war ein Konflikt, den die Justiz in ihre gewohnten Formen übersetzt. Wenn wir geforderte Räumungen prüfen, ist es egal, ob es um 5.000 Personen oder um eine Wohnungskrise geht. Bislang wurde mit den unerfüllten Wohnungsplänen nichts unternommen. Fakt ist, alles ist wie früher. Die Leute werden dorthin zurückgekehrt sein, wo sie vorher gewohnt haben. Alles ist wie immer, bzw. es gab weder eine Antwort auf die Krise, noch auf das, was es bedeutet. Alles blieb unausgesprochen. Im Grunde geht es um Ressourcen der Bundesregierung, denn die Stadtregierung ist ganz klar nicht in der Lage, was auch immer für einen Ausweg aus dieser Situation zu formulieren.“ (BI7 31, Anwältin Allgemeine Verteidigung CABA)

416 | P ROTESTBEWEGUNGEN UND S TADTPOLITIK

A BKÜRZUNGSVERZEICHNIS Buenos Aires / Argentinien APH ACIJ

FOL FONAVI FOS

Area de Protección Histórica Asociación Civil por la Igualdad y la Justicia Banco Hipotecario de la Nación Consejo Asesor en Asuntos Patrimoniales Ciudad Autónoma de Buenos Aires Cámara Argentina de la Construcción Centro Argentino de Ingenieros Corporacion Buenos Aires Sur S.E. Corriente Clasista y Combativa Centro de Estudios Legales y Sociales Centros de Gestion Cámara Inmobiliaria Argentina Comisión Municipal de la Vivienda Comisión Especial de Patrimonio Arquitectónico y Paisajistico Consejo Profesional de Arquitectura y Urbanismo Comisión para la Preservación del Patrimonio Histórico Cultural porteño Código de Planeamiento Urbano Dirección General de Estadística y Censos Facultad de Arquitectura, Diseño y Urbanismo Frente de Organizaciones en Lucha Fondo Nacional de la Vivienda Factor de Ocupación del Suelo

FOT

Factor Ocupacion Territorial

FPDS FPV FTV

PRO PSA PUA

Frente Popular Darío Santillán Frente para la Victoría Federación Tierra, Vivienda y Habitat de la República Argentina Instituto de Investigación Gino Germani Instituto de Vivienda de la Ciudad Nuevos Asentamientos Urbanos Núcleos Habitacionales Transitorios Promoción Especial de Protección Patrimonial Propuesta Republicana Partido Socialista Auténtico Plan Urbano Ambiental

SCA UBA UCR UET

Sociedad Central de Arquitectos Universidad de Buenos Aires Unión Cívica Radical Unidad Especial Técnica de Patrimonio

BHN CAAP CABA Camarco CAI CBAS CCC CELS CGP CIA CMV CEPAP CPAU CPPHC CPU DGEyC FADU

IIGG IVC NAU NHT PEPP

Historisches Denkmalschutzgebiet Zivilgesellschaftlicher Verband für Gleichheit und Gerechtigkeit Nationale Hypothekenbank Beirat für Denkmalbelange Autonome Stadt Buenos Aires Argentinische Baukammer Argentinischer Verband der Ingenieure Gesellschaft Buenos Aires Süd Klassenkämpferische Strömung Zentrum f. rechtliche und soziale Studien Kommunalen Verwaltungseinheiten Argentinische Immobilienkammer Kommunale Wohnungskommission Sonderkommission für Architektonisches und Landschaftliches Erbe Berufsrats für Architektur und Urbanismus Kommission für das historisch-kulturelle Erbe von Buenos Aires Stadtplanungsgesetz Amt für Statistik und Zensus Fak. für Architektur, Design & Städtebau Front der Organisationen im Kampf Nationaler Wohnungsfonds Grundflächenzahl (Anteil der Grundstücksfläche, die überbaut werden darf) Geschossflächenzahl (Verhältnis Geschossfläche aller Vollgeschosse eines Gebäudes zur Baugrundstücksfläche) Populare Front Darío Santillán Front für den Sieg Argentinisches Bündnis für Boden und Wohnen Forschungsinstitut Gino Germani Städtisches Wohnungsinstitut Neue Landnahmen Temporär bereitgestellte Wohnungen Spezielle Denkmalschutzverordnung Republikanischer Vorschlag Authentische Sozialistische Partei Städtischer Umweltplan (Raumordnungsplan der Stadt Buenos Aires) Zentrale Gesellschaft für Architekten Universität Buenos Aires Radikale Bürgerunion Technische Sondereinheit für Urbanes Erbe

A NHANG

UGIS UOCRA UNGS UAC

Unidad de Intervención Social Unión Obrera de la Construcción de la República Argentina Universidad Nacional General Sarmiento Unidades de atención ciudadana

| 417

Einheit für Soziale Intervention Argentinische Gewerkschaft der Bauarbeiter Nationale Universität General Sarmiento Bürgerämter in Buenos Aires

Santiago / Chile ANDHA

Asociación Nacional de Deudores Habitacionales Chile Democrático CChC Cámera Chilena de la Construcción CIPER Centro de Investigación e Información Chile Periodística DC Democracia Cristiana DIA Declaración de Impacto Ambiental EAE Evaluación Ambiental Estratégica FAU Facultad de Arquitectura y Urbanismo, Universidad de Chile FENAPO Federación Nacional de Pobladores HIC Habitat International Coalition INVI Instituto de la Vivienda (Universidad de Chile) LOCM Ley Orgánica Constitucional para Municipalidades LGUC Ley General de Urbanismo y Construcción MINVU Ministerio de Vivienda y Urbanismo MOP Ministerio de Obras Públicas MPL Movimiento de Pobladores en Lucha MPST Movimiento Pueblo sin Techo MUA Movimiento Unitario de Allegados OGUC Pladeco PRC PRMS PUC Sepplat MPL SeLVIP SERVIU

Ordenanza General de Urbanismo y Construcción Plan de Desarrollo Comunal Plan Regulador Comunal Plan Regulador Metropolitano de Santiago Pontificia Universidad Católica de Chile Secretaría Popular de Planificación Territorial der MPL Secretaría Latinoamericana de Vivienda Popular Servicio de Vivienda y Urbanización Metropolitano

Demokratischer Nationaler Verband der Eigenheimverschuldeten Chiles Chilenische Baukammer Forschungs- und Journalistisches Informationszentrum Partei Christliche Demokratie Umweltverträglichkeitserklärung Strategisches Umweltgutachten Fakultät für Architektur und Städtebau, Universidad de Chile Nationales Bündnis der Pobladores Internationale NGO Wohnungsinstitut (Universidad de Chile) Verfassungsgesetz für Kommunen Nationales Raum- und Baugesetz Städtebauministerium Infrastrukturministerium Bewegung der Siedler im Kampf Bewegung Volk ohne Dach Einheitsbewegung der Familienangehörigen Nationale Bauordnung Kommunaler Entwicklungsplan Kommunaler Flächennutzungsplan Stadtregionaler Flächennutzungsplan Pontificia Universidad Católica de Chile Populares Sekretariat für Raumplanung der MPL Lateinamerikanisches Sekretariat für Populares Wohnen Amt für Wohnungen und Urbanisierung in der Metropolregion Santiago

418 | P ROTESTBEWEGUNGEN UND S TADTPOLITIK

I NTERVIEWS Person 1

Erhebung/ Dokument 2

UND

G RUPPENGESPRÄCHE

Funktion

Institution

Art der Institution

Datum

Santiago, Planungskonflikt in Vitacura SV1

Interview

Rechtsanwalt

Salvemos Vitacura

Bürgerinitiative

18.11.10

SV2

Interview

Journalistin

Salvemos Vitacura

Bürgerinitiative

16.11.10

SV3

Interview

Abteilungsleiterin

Kommune

14.04.11

SV4

Interview

Architekt

Consulting

12.12.11

SV5

Interview E

Stadtplaner

Universität

23.09.11

Sportverein in Peñalolén

Soziale Organisation

02.12.10

MPL; Kommunalrat Peñalolén (Partei Igualdad) (08-11) MPL: Corporación Educación al Poblar

Soziale Bewegung (und Partei)

12.11.10

Soziale Bewegung

04.04.11

Movimiento por la Justicia

Soziale Bewegung

13.11.10 22.11.10

Stadtplanung Kommune Vitacura Architekturbüro Figueroa Arquitectos PUC, Fakultät für Architektur

Santiago, Planungskonflikt in Peñalolén SP1

Interview

Sprecher

SP2

Interview

Sprecher

SP3

Interview

Sprecher

SP4

Interview

Sprecher

Interview

Sprecher und Anwohner

Comunidad Ecológica

Bürgerinitiative (territorial)

SP5 SP6

Interview

Sprecher

Ex-MUA, inzwischen Casa Digna

Soziale Organisation

09.04.11

SP7

Interview

Stadtplanerin

Stadtplanungsbüro Urbe

Consulting

08.04.11

SP8

Interview

Sprecher*innen /2 Studierende

Graswurzelorganisation

13.12.11

SP9

Interview

Direktorin

Ministerium

11.04.11

SP10

Interview

Wissenschaftl. Mitarbeiter + Aktivist

Nuevo Chile (inzwischen Fundación Chile) Seremi MINVU; bis 2010 Leiterin Stadtplanung Peñalolén Universidad Metropolitana de Ciencias d. l. Educación; MPL

Universität

09.05.11

SP11

Interview

Sprecher

Defendamos la Ciudad

Bürgerinitiative

12.12.11

SP12

Interview E

Architektin

Universidad Andès Bello

Universität

09.04.11

Santiago, übergreifend (Auskunft über beide Fälle) S1

Interview

Architekt

Stadtplanungsbüro Urbe

Consulting

15.11.10

S2

Interview E

Architekt, Geograph

Universidad de Chile, INVI

Universität

10.04.11

S10

Interview E

Architektin

PUC, Fak. f. Architektur

Universität

10.04.11

S14

Interview

Geschäftsführer

Paisaje Vivo, Consulting für Partizipation

Consulting

19.11.10

S15

Interview

Stadtplaner

Seremi MINVU

Ministerium

18.11.10

S16

Interview

Abteilungsleiter

Stadtentwicklung MINVU

Ministerium

08.12.10 16.11.10 16.11.10

S17

Interview

Leiter für Studien

CChC

Unternehmensverband

S18

Interview

Direktorin für Chile

Habitat International Coalition

NGO

1

2

Interviewkürzel: Der erste Buchstabe steht für die Stadt, der zweite Buchstabe für den Konfliktfall: SV Santiago/Vitacura, SP Santiago/Peñalolén, BP Buenos Aires/Patrimonio, BI Buenos Aires/Indoamericano. Fehlt der zweite Buchstabe, äußerte sich die interviewte Person zu beiden Fällen einer Stadt. Die Zahl entspricht der Auflistung aller geführten Interviews, d.h. auch denjenigen, die hier nicht aufgelistet sind. Das (E) steht für Expert*inneninterview.

A NHANG

| 419

Buenos Aires, Hochhäuser Gruppengespräch

Sprecher*innen

Salvar a Floresta

Bürgerinitiative

03.12.11

BP2

Interview

Leiter d. Planung (Geograph)

Min. für Stadtentwicklung, CABA

Ministerium

18.08.12

BP3

Interview

Architekt

SCA und CAAP

Unternehmensverband

09.08.12

Stadtparlament

08.08.12

BP1

BP4

Interview

Abgeordneter

Partido Socialista Auténtico PSA

BP5

Interview

Abgeordneter

Unión Cívica Radical UCR

Stadtparlament

13.08.12

BP6

Interview

Sprecher (Architekt, Planer)

Salvar a Floresta

Bürgerinitiative

03.12.11

BP7

Interview

Staatssekretär PRO

Min. f Öffentl. Raum,CABA bis 2011 Vorsitzender CEPAP

Ministerium

16.08.12

BP8

Interview

Sprecher (Architekt)

Proteger Barracas

Bürgerinitiative

17.12.12

BP9

Interview

Sprecher

S.O.S. Caballito

Bürgerinitiative

18.12.11

BP10

Interview

Leiterin (Anthropologin) Stellvertr. Verteidiger (Geograph)

Verteidigung des Volkes, CABA

Kommission (Stadt Buenos Aires) Behörde (Stadt Buenos Aires)

CPPHC

19.12.11

BP11

Interview

BP12

Interview

Architekt

Basta de Demoler

Bürgerinitiative

18.12.11

BP13

Interview

Aktivist (Kommunikationsexperte)

Proto Comuna Caballito

Bürgerinitiative

19.12.11

BP14

Interview

Sprecher

Basta de Demoler

Bürgerinitiative

19.12.11

BP15

Interview E

Soziologin, Expertin

UBA, Ciencias Sociales

Universität

24.11.11

BP16

Interview E

Soziologin, Expertin

Universität

29.11.11

BP17

Interview

Architektin

Consulting

01.12.11

BP18

Interview E

Stadtforscher

Universidad San Martín

Universität

25.11.11

BP19

Interview

Abgeordnete PRO

Parlament CABA; Vorsitzende Kommission für Stadtplanung

Stadtparlament

09.08.12

Interview

Wissenschaftl. Berater PRO, Architekt

Parlament CABA

Stadtparlament

15.08.12

BP20

UBA, Instituto de Investigación Gino Germani (IIGG) Fajre Consultores; ehem. Kulturministerin CABA

20.12.12

Buenos Aires, Parque Indoamericano BI1(G)

Gruppengespräch

Besetzer, Bewohner Villa 20

FOL, u.a. aktiv in Villa 20

Soziale Bewegung

18.05.11

BI2

Interview

Rechtsanwalt

Liberpueblo (vertritt angeklagte Aktivisten)

Graswurzelorganisation/Menschenrechte

17.08.12

IVC

Stadtverwaltung

16.08.12

FTV

Soziale Organisation

16.05.11

NGO (Menschenrechte)

18.08.12

BI3

Interview E

BI4

Interview

BI5 BI6 BI7 BI8 BI9 BI10 BI11 BI16

Stadtforscherin, Sozialarbeiterin Präsidentin Buenos Aires

Interview

Zwei Rechtsanwälte

CELS (vertritt Familie eines Todesopfers)

Interview

Sprecher und Mitglied

FPDS; Junta Vecinal Villa 20

Soziale Bewegung

22.11.11

Ministerium für Öffentliches

21.12.11

Interview

Juristin

Allgemeine Verteidigung CABA

Interview

Sprecher

CCC

Soziale Bewegung

29.11.11

Interview E

2 Wissenschaftler*innen

Gruppengespräch (Notizen) Gruppengespräch (Notizen) Interview

IIGG, UBA

Universität

17.08.12

Aktivist*innen (Bolivianer)

Casona de Flores

Graswurzelorganisation (Verbund)

15.08.12

Anwohnerin, gegen Besetzungen

Villa Soldati

Bürgerin

04.05.11

Architektin

Comision de Tierra / FTV

Staatl. Behörde/ Soziale Organis.

05.12.11

Urban Studies Karsten Michael Drohsel Das Erbe des Flanierens Der Souveneur – ein handlungsbezogenes Konzept für urbane Erinnerungsdiskurse Oktober 2015, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3030-5

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Susana Zapke, Stefan Schmidl (Hg.) Partituren der Städte Urbanes Bewusstsein und musikalischer Ausdruck

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Sebastian Schweer Skateboarding Zwischen urbaner Rebellion und neoliberalem Selbstentwurf

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