Verkörperungen des Kollektiven: Wechselwirkungen von Literatur und Bildungsdiskursen seit dem 18. Jahrhundert 9783839443996

This volume examines the aesthetic reflection and institutional situatedness of individual and collective models of educ

167 81 2MB

German Pages 258 Year 2019

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Verkörperungen des Kollektiven: Wechselwirkungen von Literatur und Bildungsdiskursen seit dem 18. Jahrhundert
 9783839443996

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. Bildung Übung Disziplin
Das Ideal der Kalokagathie in Wielands Bildungsroman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen (mit einem Seitenblick auf Die Geschichte des Agathon)
Erziehungspolicey
Romantisches Üben
Ungebildetes Genie und auszubildender Körper
II. Staatsideologien
Der Körper im Kampf
Der Körper als gelenkte Funktionseinheit
Ornithologie im Dienste des Dritten Reiches in der Novelle Die Vogelwelt von Auschwitz Arno Surminskis
III. Kollektivitätsnarrative
Fassungsloses Reden und geselliges Missverstehen
»Braust der Sturm uns auch zugrund, fall’n wir doch zu guter Stund…«
Das Bildungs- und Erziehungsmodell des ›Bundes Neuland‹ in Paula von Preradovićs Essay Ein Jugendreich. Die Neuland- Schulsiedlung in Grinzing-Wien
Im Wendekreis der Repräsentation
Autorinnen und Autoren

Citation preview

Anna Dąbrowska, Daniela Doutch, Julia Martel, Alexander Weinstock (Hg.) Verkörperungen des Kollektiven

Lettre

Anna DĄbrowska, Daniela Doutch, Julia Martel, Alexander Weinstock (Hg.)

Verkörperungen des Kollektiven Wechselwirkungen von Literatur und Bildungsdiskursen seit dem 18. Jahrhundert

Gedruckt mit Unterstützung des Instituts für deutsche Sprache und Literatur I, des Rektorats und des Dezernat 9: Internationales der Universität zu Köln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Katharina Huber, Köln 2018, © Katharina Huber Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4399-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4399-6 https://doi.org/10.14361/9783839443996 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 7

I BILDUNG | ÜBUNG | DISZIPLIN Das Ideal der Kalokagathie in Wielands Bildungsroman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen (mit einem Seitenblick auf Die Geschichte des Agathon)

Maria Kłańska | 33 Erziehungspolicey. Überlegungen zu Schillers Dramenfragment Die Polizey

Anja Lemke | 49 Romantisches Üben. Die Lehrlinge zu Sais von Novalis

Philipp Weber | 63 Ungebildetes Genie und auszubildender Körper. Zur Körperlichkeit in Robert Schneiders Roman Schlafes Bruder

Agnieszka Sowa | 87

II STAATSIDEOLOGIEN Der Körper im Kampf. Nationenbildung und Cyborgs in Franz Schauweckers und Ernst Jüngers Darstellungen des Ersten Weltkrieges

Hans Esselborn | 109 Der Körper als gelenkte Funktionseinheit – Nationenbildung im Frankenburger Würfelspiel Eberhard Wolfgang Möllers

Joanna Szczukiewicz, Paweł Moskała | 129

Ornithologie im Dienste des Dritten Reiches in der Novelle Die Vogelwelt von Auschwitz Arno Surminskis

Anna Dąbrowska | 149

III KOLLEKTIVITÄTSNARRATIVE Fassungsloses Reden und geselliges Missverstehen. Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten

Alexander Weinstock | 171 »Braust der Sturm uns auch zugrund, fall’n wir doch zu guter Stund…« Zum Habitus der deutschen Turner im Turner-Liederbuch (1849)

Katarzyna Jaśtal | 197 Das Bildungs- und Erziehungsmodell des ›Bundes Neuland‹ in Paula von Preradovićs Essay Ein Jugendreich. Die Neuland-Schulsiedlung in Grinzing-Wien

Michael Sobczak | 213 Im Wendekreis der Repräsentation. Über Kollektivsubjekte und Subjektkollektive bei Daniel Defoe und Alexander Kluge

Metin Genç | 229 Autorinnen und Autoren | 251

Einleitung Anna Dąbrowska, Daniela Doutch, Julia Martel, Alexander Weinstock

Im Kreuzungspunkt der beiden großen Umstellungsprozesse, die sich im 18. Jahrhundert hinsichtlich der Weltauslegung und der Gesellschaftsstruktur beobachten lassen, steht, oder genauer, entsteht der Mensch. Die Übergänge von einer providentiell abgesicherten zu einer als kontingent erfahrenen Wirklichkeit sowie von einer stratifikatorischen zu einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft treffen sich in einem Verständnis des Menschen, der nicht länger als perfekt, sondern als perfektibel gedacht wird, der also nicht vollkommen ist, sich jedoch vervollkommnen kann.1 Diese gleichermaßen mögliche wie notwendige Vervollkommnung vollzieht sich statt in einer schicksalhaft determinierten, in einer als offen erfahrenen Zukunft, auf die vorzubereiten und damit deren Gestaltung zu übernehmen Aufgabe der Erziehung wird, die sich in Zusammenhang mit dem veränderten Menschenbild der Aufklärung »zu einem anthropologischen und ver-

1

Vgl. etwa Luhmann, Niklas: »Frühneuzeitliche Anthropologie. Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft«, in: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 162-234; Frick, Werner: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen: Niemeyer 1988.

8 | HerausgeberInnen

mittelt über dieses zum gesellschaftlichen Leitparadigma«2 wandelt. Gegenstand der Erziehung ist dabei das je einzelne Individuum, seine Vermittelbarkeit mit sozialen Zusammenhängen, aber auch das Hervorbringen und Formen solcher Zusammenhänge selbst. Zwei im 18. Jahrhundert in spezifischer Weise zusammenhängende Bereiche fokussieren, reflektieren und verhandeln diesen Konnex: Die Literatur, ihre Formen und Institutionen, die edukative Funktionen fest im Kern ihres Selbstverständnisses verankern, und der sie rahmende Kontext ästhetischer Debatten einerseits sowie die sich als Praxis professionalisierende, als humanwissenschaftliche Disziplin konsolidierende und dabei auf literarische und ästhetische Impulse zurückgreifende Pädagogik andererseits.3 Dies sei anhand einiger Schlaglichter verdeutlicht. Eine wesentliche Rolle kommt in dieser Hinsicht zunächst dem Theater zu, das sich über eine entsprechende funktionale Selbstverpflichtung auf vornehmlich diskursiver Ebene von einem Jahrmarktvergnügen mit zweifelhafter Reputation zu einer beispiellos wirkmächtigen Erziehungsinstitution wandelt, die gleichermaßen individuelle wie kollektive und kollektivie-

2

Pethes, Nicolas: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts, Göttingen: Wallstein 2007, S. 16.

3

Dass der Mensch im Rahmen der genannten Umstellungen gleichsam ›entsteht‹, und zwar als Gegenstand eines sich disziplinär verzweigenden Wissens, das seine psychologische Innenseite mit ihren Dynamiken, Handlungsmotivationen und (An-)Trieben ebenso entdeckt und diskursiviert, wie seine körperlichen Regungen und vor allem die dazwischen bestehenden Zusammenhänge, zeigt sich in beiden Bereichen: der sich zunehmend den seelisch auszulotenden Menschen zum Gegenstand nehmenden Literatur und der im Verbund der entstehenden Humanwissenschaften zu verortenden Pädagogik, vgl. etwa Kersting, Christa: Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Campes „Allgemeine Revision“ im Kontext der neuzeitlichen Wissenschaft, Weinheim: Deutscher StudienVerlag 1992; Ruppert, Rainer: Labor der Seele und der Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Berlin: Edition Sigma 1995; Heinz, Jutta: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung, Berlin/New York: de Gruyter 1996.

Einleitung | 9

rende Effekte zeitigen soll. In dieser »Schule der moralischen Welt«4 sollen nicht nur das Bewunderung auslösende und zur Nachahmung anregende, tugendhafte Betragen standhafter Helden und umgekehrt die Konsequenzen der Lasterhaftigkeit gezeigt werden,5 sondern ab der Jahrhundertmitte zunehmend auch die Auslotung psychologisch fundierter Motivations- und Handlungszusammenhänge, die über ihr affektives Potential als Übungsgelände für sozialverträgliche, stabile Selbst- und empathische Fremdverhältnisse fungieren sollen.6 Hier wie dort ist neben seiner erzieherischen Funktionalisierung die Verpflichtung des Theaters auf einen literarischen Text der zweite große gemeinsame Nenner dieser sich so als Einheit durchaus disparater poetologischer und wirkungsästhetischer Positionen über das Jahrhundert erstreckenden Reform des Theaters.7 Dieser Vorlage auf der Bühne einen körperlich-präsentischen Ausdruck zu verleihen, ist Aufgabe der hinsichtlich ihres Berufsverständnisses und ihrer Tätigkeit ebenfalls Gegenstand reformatorischer Bemühungen werdenden Schauspieler,8 die vor einem idealiter motorisch still gestellten, seine Blicke nur mehr und

4

Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie, in: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Herausgegeben von Wilfried Barner et al., hier: Band 6: Werke 1767-1769. Herausgegeben von Klaus Bohnen, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985, S. 181-694, hier: 2. Stück, S. 192.

5

Vgl. etwa Gottsched, Johann Christoph: Die Schauspiele, und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen, in: Ders.: Ausgewählte Werke, herausgegeben von P. M. Mitchell. Neunter Band, Zweiter Teil: Gesammelte Reden, bearbeitet von Rosemary Scholl, Berlin/New York: De Gruyter 1976, 492-500.

6

So etwa die für den breit geführten Theaterdiskurs der Aufklärung einflussreiche Mitleidsästhetik Lessings, wie er sie im Rahmen seiner Aristotelesauslegung und Katharsisaktualisierung in der Hamburgischen Dramaturgie vorstellt, vgl. G. E. Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 74. bis 79. Stück

7

Vgl. etwa Graf, Ruedi: Das Theater im Literaturstaat. Literarisches Theater auf dem Weg zur Bildungsmacht, Tübingen: Niemeyer 1992.

8

Vgl. im Kontext eines bis in die Gegenwart reichenden historischen Bogens Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 129-175.

10 | HerausgeberInnen

konzentriert auf das Geschehen richtenden Publikum agieren.9 Dieses Publikum soll so jedoch nicht nur individuell erzogen, sondern auch dergestalt kollektiviert werden, dass es in einer »Nation« aufgeht, die das Theater, in dem Anspruch, als »Nationaltheater« zu wirken, »nicht von der politischen Verfassung, sondern bloß von dem sittlichen Charakter«10 her stiften will. Individuelle und kollektive Erziehung sowie ihre Zusammenhänge sind jedoch nicht bloß Thema des Theaterdiskurses, sondern auch und vor allem der sich über eine Professionalisierung und Verfachlichung konsolidierenden Pädagogik, an deren Anfang der mit reformatorischem Selbstverständnis auftretende Philanthropismus steht.11 Wesentliche Impulse von Rousseau in gleichwohl modifizierter Form übernehmend,12 richtet sich die phi-

9

Einen sehr guten Einblick, dass dies realiter ganz anders aussah, gibt Hermann Korte/Hans-Joachim Jakob/Bastian Dewenter (Hg.): »Das böse Tier Theaterpublikum«. Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Eine Dokumentation, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2014.

10 G.E. Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 101.-104. Stück, S. 684. Gleichwohl dies beim ersten Versuch, den die Hamburger Entreprise in dieser Hinsicht darstellt, fehlschlägt und der »süße Traum« (ebd., S. 690) schnell wieder platzt, auch und gerade aufgrund des von Lessing am resignativen Schluss der Dramaturgie gescholtenen Publikums, wird dieser Anspruch in den Folgejahren noch verstärkt und führt ab Ende der 1770er Jahre zu ersten Umwandlungen von Hofzu Nationaltheatern, vgl. etwa Heßelmann, Peter: Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutschsprachiger Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750-1800), Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2002, S. 171197. 11 Zur Rolle, die ein Theater, wie es dessen Reform hervorgebracht hat, für die aufklärerische Reformpädagogik spielt vgl. Heckelmann, Heike: Schultheater und Reformpädagogik. Eine Quellenstudie zur reformpädagogischen Internatserziehung seit dem 18. Jahrhundert, Tübingen: Francke 2005, S. 11-124; Schäfer, Martin Jörg: Das Theater der Erziehung. Goethes »pädagogische Provinz« und die Vorgeschichten der Theatralisierung von Bildung, Bielefeld: transcript 2016, S. 127-169. 12 Vgl. etwa Düwell, Susanne: »›Gebietet ihm nie Etwas [...]. Er wisse nur, daß er schwach und daß ihr stark seyd‹. Institutionalisierung der Pädagogik und Rousseaurezeption im Philanthropismus«, in: Metin Genç/Christof Hamann

Einleitung | 11

lanthropistische Erziehung an eine im Erziehungsprozess zu entdeckende wie zu formende Individualität des Zöglings, dem dabei die Werte einer bürgerlichen13 Lebensweise dergestalt vermittelt werden sollen, dass er sich nützlich in entsprechende soziale Zusammenhänge einbringen können wird. Sie zielt mit anderen Worten darauf, »durch Kentnisse und Gewöhnung zu den Ständen des gesellschaftlichen Lebens gemeinnüzig die Jugend vorzubereiten!«14 Nicht nur verkörpert so, dem pädagogischen Anspruch nach, jeder einzelne Zögling schließlich die Tugenden und Normen, die diesem ›gesellschaftlichen Leben‹ zugrunde liegen, es wird umgekehrt seine eigene Körperlichkeit zur Voraussetzung einer entsprechend gelingenden Erziehung: »Die physische und moralische Erziehung hängen so unmittelbar zusammen, daß derjenige, der die erstere verabsäumt, darum allein schon in der andern nicht viel vorzügliches leisten wird.«15 Diese ›physische Erziehung‹ besteht zum einen in »Leibesübungen«16 und einer ausgeprägten, mit dem Unterricht idealiter in Zusammenhang stehenden, körperlichen Betätigung, zum anderen darin, dass die Zöglinge über diätetische Vorgaben und eine allen entbehrlichen Komfort meidende Lebensweise »abgehärtet und gestärkt werden«.17 Die Modellierung der kindlichen Disposition und die

(Hg.): Institutionen der Pädagogik. Studien zur Kultur- und Mediengeschichte ihrer ästhetischen Formierungen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, S. 87-109. 13 Vgl. Wolke, Christian Heinrich: »Von Vorbereitung zum bürgerlichen Leben durch die Erziehung«, in: Pädagogische Unterhandlungen, 4. Jahrgang 1780-82, 2. Quartal, S. 158-162. 14 [Anonym]: »Antwort im Namen des Instituts, auf die Anfrage im 2ten Briefe des Ungenanten«, in: Pädagogische Unterhandlungen, 4. Jahrgang 1780-82, 1. Quartal, S. 67-103, hier: S. 76. Hervorhebungen im Original. 15 Campe, Joachim Heinrich: »Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins«, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 1777/78, 1. Stück, S. 14-59, hier: S. 24. 16 Ebd., S. 38. 17 J. H. Campe: Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins, S. 33. Über das geschickte Zusammenspiel einer Rahmen- und Binnenhandlung thematisiert und propagiert dies in seinen dem Einzelnen wie der Gemeinschaft zu Gute kommenden Vorzügen der wohl bekannteste und auflagenstärkste Text philanthro-

12 | HerausgeberInnen

Herrichtung einer spezifischen Körperlichkeit als komplementäre Voraussetzungen zur Produktion einer bürgerlichen Lebensweise stehen im Zentrum der sich konsolidierenden Pädagogik und damit am Beginn eines sich ausdifferenzierenden Erziehungssystems. Und gleichwohl die philanthropistische Pädagogik schon nach einigen Jahrzehnten vom Bildungsideal des Neuhumanismus weitgehend verdrängt wird,18 bleibt der Gedanke eines notwendigen, zwischen Formierung und Disziplinierung stehenden, pädagogischen Zugriffs auf den Körper im Erziehungsdenken erhalten.19 Neben Theaterreform und Reformpädagogik verhandeln Fragen der Erziehung auch der von beiden Bereichen geprägte Roman und seine Poetik. Sie verlagern den Fokus dabei allerdings stärker und in einer biographischen Dimension auf Vervollkommnungsfähigkeit und -anspruch des ins darstellerische und epistemische Zentrum der Gattung rückenden Menschen. Dies zeigt sich ebenso einschlägig wie einflussreich etwa in Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman.20 Der hier auf die Darstellung der lückenlos kausal organisierten, inneren Geschichte seines Helden festgeschriebene Roman soll dezidiert erzieherisch wirken, der »Endzweck« des »Romandichter[s]« ist kein anderer als der, »durchs Vergnügen

pistischer Pädagogik: Joachim Heinrich Campes Dafoe-Adaption Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder (1779/80). 18 Vgl. Luhmann, Niklas: »Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft: Von der Philanthropie zum Neuhumanismus«, in: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 105-194. 19 Dass und wie der Körper zur Zielscheibe des Machtausübung und Wissensgenerierung verschränkenden, Ensembles von Techniken und Mechanismen der sogenannten Disziplin wird, hat bekanntlich Foucault vornehmlich anhand militärischer, medizinischer und schulischer Institutionen aufgezeigt, vgl. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. 20 Der Versuch über den Roman, so W. Frick: Providenz und Kontingenz, S. 326 »bündelt [...] die romanpoetologischen Reflexionen seiner Epoche.« Vgl. zum Einfluss des Dramas auf den Roman etwa Voßkamp, Wilhelm: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg, Stuttgart: Metzler 1973, S. 169-176.

Einleitung | 13

zu unterrichten«.21 Seine Aufgabe ist es jedoch, nicht nur den je individuellen Leser, sondern auch »das Herz und den Geist seines Volks zu bilden«, dessen »Besondernheiten« ebenso wie die »Sitten der Zeit«22 in den Roman einfließen sollen und der darüber, ähnlich dem Projekt des Nationaltheaters, dessen sittlich-habituelle Grundlagen nicht nur be-, sondern vor allem mit erschreibt. Der Roman selbst, in dessen Zentrum die innere Geschichte und damit die »Ausbildung« und »Formung des Charakters«23 steht, erweist sich über diese Möglichkeit der Darstellung eines biographischen Kontinuums als privilegierter, verdichteter Reflexions- und Verhandlungsort jenes Vervollkommnungsprozesses, der dem perfektiblen Individuum anheim gegeben ist.24 Und es ist dieser Prozess, der im Roman auf eine Formel gebracht wird, die wiederum nachhaltig und mit Bezug auf wenige, als idealtypisch hypostasierte Texte aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts dessen Gattungsverständnis prägt: »[M]ich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden«, das heißt, sich selbst eine spezifische »Bildung [...] zu geben«, ist bekanntlich Wilhelm Meisters »Wunsch« und »Absicht«25 und seine Lehrjah-

21 Blanckenburg, Friedrich von: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert, Stuttgart: Metzler 1965, S. 311. 22 Ebd., S. 291, XIII und XVIII. 23 Ebd., S. 321. Dass über diesen Formungsprozess des in ihm erzählten Lebens der Roman seine Form gewinnt, zeigt Campe, Rüdiger: »Form und Leben in der Theorie des Romans«, in: Armen Avanessian et al. (Hg.): Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Berlin/Zürich: diaphanes 2009, S. 193-211. 24 Vgl. Stanitzek, Georg: »Bildung und Roman als Momente bürgerlicher Kultur. Zur Frühgeschichte des deutschen ›Bildungsromans‹«, in: DVjs 62 (1988), S. 416-450. 25 Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Ders.: Sämtliche Werk. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel et al., hier: I. Abteilung: Sämtliche Werke Band 9: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Herausgegeben von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Unter Mitwirkung von Almuth Voßkamp, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992, S. 355-992, hier: S. 656f. Zu Goethes Bildungsbegriff und der Rolle, die das Theater dabei spielt vgl. Greiner, Bernhard: »Der Gedan-

14 | HerausgeberInnen

re gelten ebenso bekanntlich und stärker noch als Wielands Agathon, der Blanckenburgs Hauptreferenz ist, als Inbegriff des erst nachträglich diese Gattungsbezeichnung erhaltenden Bildungsromans. Der Bildungsbegriff wiederum, der sich um 1800 vom bis dato tendenziell synonym gebrauchten Begriff der Erziehung abgrenzt und, unter maßgeblichen Impulsen aus der und durch die Literatur, eine eigene Kontur gewinnt, vereint in seinem klassischen, das neuhumanistische Denken prägenden Verständnis, die harmonische Entfaltung der Anlagen des einzelnen Menschen mit einem darüber zugleich zu erreichenden Fortschritt der Menschheit insgesamt, verschränkt also individuelle und kollektive Entwicklung im Sinne einer möglichen Vervollkommnung.26 Gegenüber diesem als Idee und Ideal wirkmächtig bleibenden Verständnis setzt sich jedoch schon bald im sich zunehmend ausdifferenzierenden Erziehungssystem, das von dem sich seit dem 18. Jahrhundert abzeichnenden gesellschaftlichen Umwandlungsprozess funktionaler Differenzierung gleichermaßen hervorgebracht wird wie diesen Prozess mit bedingt, eine andere Auffassung dessen durch, was Bildung ist, welcher individuelle und soziale Wert ihr zukommt und wie sie zu erwerben ist: An die Stelle der Idee einer harmonischen Ausbildung individueller Anlagen rückt die berufliche Karriere, Bildung wird von einem biographiebegleitenden und -formenden Prozess zur Voraussetzung sozialer Mobilität, die auf Fähigkeiten und Qualifikationen beruht, die wiederum in den Institutionen des Bildungssystems zu erwerben sind, so dass das Verfügen oder Nicht-Verfügen über Bildung, das nicht zuletzt von schichtspezifischen und materiellen Faktoren abhängt, zum sozialen Differenzierungskriterium wird.27 Um 1900 hat sich schließlich das etwa hundert Jahre zuvor Kontur gewinnende und sich zunächst in Erziehungsoptimismus, Bildungsidealismus

ke der Bildung als Fluchtpunkt der deutschen Klassik. Natur und Theater: Goethes Wilhelm Meister«, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 48 (2007), S. 215-245. 26 Vgl. Voßkamp, Wilhelm: Der Roman des Lebens. Die Aktualität der Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman, Berlin: Berlin University Press 2009. 27 Vgl. zu dieser Entwicklung, dem Wandel des Bildungsbegriffs und seine institutionelle Einbettung im 19. Jahrhundert etwa Jeismann, Karl-Ernst (Hg.): Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Mobilisierung und Disziplinierung, Stuttgart: Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH 1989.

Einleitung | 15

und dem Wunsch nach nationaler Einheit niederschlagende Koordinatensystem deutlich verschoben, vor allem unter zunehmender Radikalisierung des letztgenannten Aspekts: Nach 1871 erfreut sich ein Ideal von vaterländischer Erziehung einer immer größeren Beliebtheit, im wilhelminischen Bildungssystem (1890-1914) dominiert ein konservativ-monarchischer pädagogischer Diskurs, den Zöglingen soll vor allem Respekt vor Militär und der Hohenzollerndynastie vermittelt werden. Die Erziehungsinstitutionen des Kaiserreichs stehen im Allgemeinen im Dienst der obrigkeitsstaatlichen Interessen, nicht zuletzt die Pädagogen selbst identifizieren sich oftmals mit dem imperialistischen Machtstaat: Viele von ihnen sind Verfechter des Flottenbaus und der Weltpolitik, was nicht ohne Einfluss auf die in der Schule vermittelten Inhalte bleibt. Im Zentrum dieser Inhalte steht so spätestens um 1900 nicht mehr neuhumanistische, sondern Realien- und Nationalbildung, was zugleich mit einer weiteren institutionellen Ausdifferenzierung innerhalb des Erziehungssystems einher geht, die auf einer breiteren Diskussion über die Reform des Schulwesens und die Beschlüsse dreier größerer Schulkonferenzen von 1873, 1890 und 1900 fußt.28

28 Diese institutionelle Ausdifferenzierung umfasst die Entstehung und Zunahme von Mittel- gegenüber den Volksschulen einerseits sowie die Durchbrechung des Zugangsmonopols zur Universität, das traditionell die humanistischen Gymnasien innehatten durch eine diesbezügliche Gleichstellung der Realgymnasien und Oberrealschulen. Vgl. für eine Übersicht zum Erziehungs- und Bildungswesen im Kaiserreich insgesamt Herrmann, Ulrich: »Pädagogisches Denken und Anfänge der Reformpädagogik«, in: Christa Berg et al. (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, hier: Band IV: 1870-1918. Von der Reichgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Herausgegeben von Christa Berg, München: Beck 1991, S. 147-178, hier: S. 147-163; Kuhlemann, FrankMichael, et al.: Schule, Hochschulen, Lehrer, in: Berg (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte IV, S. 179-313; Ullrich, Volker: Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871-1918, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 42011, S. 340-357. Eine »Umstellung der Bildungsinhalte von Neuhumanismus auf Nationalbildung« nach der Konferenz von 1890 konstatiert Dainat Holger: »Von Wilhelm Meister zu den wilhelminischen Schülern. Bildungs- und Schulromane im Kontext institutionalisierter Erziehung«, in: Eva Geulen/Nicolas Pethes (Hg.): Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Mo-

16 | HerausgeberInnen

Zugleich schließt das Schulwesen in einer militaristisch geprägten Perspektive auf den Körper des Zöglings in vielfacher Hinsicht an Körperbilder an, wie sie im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstehen. Historisch markieren insbesondere die Befreiungskriege gegen Napoleon den Beginn eines neuen Körperverständnisses, das nicht länger den tugendhaften bürgerlichen Mann adressiert, der für sich und die Seinen eine wirtschaftlich abgesicherte Existenz bereithält, sondern vielmehr den kämpfenden Körper des Verteidigers in den Fokus rückt. Mit der seit Beginn des 19. Jahrhunderts erfolgenden Entwicklung eines Konzepts von militärischer Männlichkeit geht das Postulat einer gezielten Abhärtung von Körper und Geist einher. Disziplinäre Eigenschaften wie Kraft, Ehre und Mut, die noch im 18. Jahrhundert als universal männlich gelten, beginnen nun als konstitutive Merkmale des deutschen Mannes und der deutschen Nation wahrgenommen zu werden. Auch der pädagogische Diskurs zur Zeit der deutschen Befreiungskriege greift die Problematik der Körperlichkeit auf, was den bürgerlichen Körpervorstellungen den Status einer nationalen Identität verleiht.29 Eine besondere Rolle kommt hier der deutschen Turnbewegung zu, die im 19. Jahrhundert einschneidende Veränderungen durchläuft: Sie nähert sich zunehmend militärischen Strukturen und damit einem streng kodifizierten System aus Übungen und Trainingseinheiten an, das als Erziehungsund Bildungsform den nationalen Kollektivkörper als einen automatisierten, Befehle ausführenden, vorbereitet. Derartige Prozesse sind allerdings nicht nur für Deutschland charakteristisch, sondern auch in vielen anderen europäischen Ländern vorhanden, auch wenn sie sich dort in der Regel erst etwas später beobachten lassen.30 Eine solche militärische Wahrnehmung des Körpers, seine allmähliche Instrumentalisierung und die damit verbundene Unterordnung des Individuums unter den Kollektivkörper der Nation, prägen schließlich das wilhelminische Bildungssystem. Anlage und Zustand der Erziehung im Kaiserreich sind jedoch auch Gegenstand einer durchaus breiten Kritik, die von literarischer wie pädago-

derne, Freiburg i.Br./Berlin/Wien: Rombach Verlag KG, S. 123-159, hier: S. 150f. 29 Vgl. Jaśtal, Katarzyna: Niemcy: naród i ciało (Deutsche: Nation und Körper), Kraków: Księgarnia Akademicka 2015, S. 15-19. 30 Vgl. ebd., S. 18ff.

Einleitung | 17

gischer Seite kommt.31 Zahlreiche ›Schulgeschichten‹ adressieren Strenge, Zwang und Drill sowie deren individualitätszersetzende, persönlichkeitsdeformierende Auswirkungen.32 Zugleich entstehen um 1900 reformpädagogische Bestrebungen, deren Kritik ebenfalls vornehmlich von der Schule als Institution ausgeht.33 Innerhalb der von mitunter sehr konträren politischen Einstellungen ihrer Akteure geprägten Reformpädagogik34 lassen sich wiederholt Bezugnahmen auf einschlägige Positionen des 18. Jahrhunderts beobachten, etwa ein Anknüpfen an das Denken Rousseaus, von dem z.B. die Prämisse übernommen wird, dass die Natur des Menschen ursprünglich gut und dem allein eine ›natürliche Erziehung‹ angemessen ist; der Überlegungen um 1800 modifizierend aufgreifende Versuch, die körperliche und geistige Seite des Menschen im Rahmen eines erneut ganzheitlichen Bildungsansatzes miteinander zu verbinden; oder ein Rekurs auf Schillers Projekt

31 Dass es hier mitunter zu einem engeren Austausch kam, zeigt sich besonders pointiert in Rainer Maria Rilkes Korrespondenz mit Ellen Key und seiner begeisterten Rezension ihres Jahrhundert des Kindes, vgl. Rilke, Rainer Maria: Das Jahrhundert des Kindes [Rezension], in: Ders.: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Herausgegeben vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth SieberRilke. Besorgt durch Ernst Zinn, hier: Band 10: Frühe Aufsätze, Frankfurt a.M.: Insel 1975, S. 584-592. 32 Vgl. etwa Mix, York-Gothart: Die Schulen der Nation. Bildungskritik in der Literatur der Moderne, Stuttgart u.a.: Metzler 1995. 33 Vgl. Böhm, Winfried: »Reformpädagogik – ein deutsches Syndrom?«, in: Maren Gronert/Alban Schraut (Hg.), Sicht-Weisen der Reformpädagogik, Würzburg: Ergon Verlag 2016, S. 25-39, hier: S. 27. Ihre zeitlichen Grenzen lassen sich schwerlich eindeutig festzulegen, aber eine mögliche Datierung dieser Reformpädagogik liegt zwischen 1890 und 1933, vgl. zu den Schwierigkeiten zeitlicher Verortung Dietrich, Ingrid: »Reformpädagogik – eine kritische Bestandsaufnahme«, in: Gronert/Schraut (Hg.): Sicht-Weisen der Reformpädagogik, S. 51-65, hier: S. 51; vgl zur Reformpädagogik außerdem einführend U. Herrmann: Pädagogisches Denken und Anfänge der Reformpädagogik, S. 163-171. 34 Es lassen sich sowohl völkisch-nationale als auch demokratische Tendenzen nachweisen, vgl. Heike Neuhäuser/Tobias Rülcker (Hg.): Demokratische Reformpädagogik, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2000.

18 | HerausgeberInnen

einer ästhetischen Erziehung im Kontext nationalpädagogischer Bestrebungen.35 Im Ersten Weltkrieg hingegen wird der Frontkampf zum Bildungsfaktor stilisiert, wobei die Körperlichkeit des Individuums oft für den nationalen Kollektivkörper zu opfern ist: Der Krieg wird – wenigstens anfänglich – als erfolgreiche Bewährungsprobe gegen eine ›Degenration‹ des Volkes dargestellt, und zwar vor allem im medizinischen Diskurs. Gesunde, tüchtige Körper der Soldaten, die pars pro toto den Volkskörper repräsentieren, sollen symbolisch beweisen, dass die Prognosen einer ›Entartung‹ des deutschen Volks unberechtigt waren.36 Die versehrten Körper, die hingegen realiter vielfach aus dem Krieg zurückkehren, rufen Entwicklungen in der Prothetik auf den Plan, die die unzähligen Verstümmelungen kosmetisch zu kaschieren, aber auch funktional zumindest partiell wieder herzustellen versuchen.37 Dabei hängt dieser Wunsch nach einer »Wiederherstellung des Körperschemas« u.a. mit einem gesellschaftlichen Nützlichkeitsanspruch zusammen: Prothesen dienen in dieser Hinsicht als »Vermittlungsinstanzen«, die eine weitestmögliche Wiedereingliederung der Kriegsversehrten in den »Funktionszusammenhang industrieller Produktion, ökonomischer Selbständigkeit und sozialer Handlungsfähigkeit« ermöglichen sollen.38

35 Vgl. Böhm: Reformpädagogik – ein deutsches Syndrom?, S. 31; Gretz, Daniela: »Remix 1918: Ästhetische Erziehung goes Nationalpädagogik. Zur pädagogischen Theorie Herman Nohls«, in: Geulen/Pethes (Hg.): Jenseits von Utopie und Entlarvung, S. 69-92. Gretz betont allerdings, dass die Reformpädagogik im deutschen Kontext zugleich »immer Erziehung zur emphatisch verstandenen nationalen Gemeinschaft« (ebd., S. 70) ist. 36 Vgl. Michl, Susanne: Im Dienste des »Volkskörpers«. Deutsche und französische Ärzte im Ersten Weltkrieg, Göttingen: Vandenhock & Ruprecht 2007, S. 65f. 37 Vgl. etwa den Handlungsstrang um die Figur des Lieutnants Jaretzki im dritten Teil von Hermann Brochs Schlafwandler-Trilogie. 38 Horn, Eva: »Prothesen. Der Mensch im Lichte des Maschinenbaus,« in: Annette Keck/Nicolas Pethes (Hg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder und Medienprojektionen, Bielefeld: transcript 2001, S. 193-210. Vgl. ausführlicher zur Bedeutung der Prothese in verschiedenen Diskursen, auch jenseits des Ersten

Einleitung | 19

In den Zwischenkriegsjahren gewinnen militärische und autoritäre Bildungskonzepte noch einmal zunehmend an Bedeutung. Nationalistische Pädagogik kippt vor allem in Folge binärer Oppositionen (z.B. gesund – entartet) und eines geschlossenen Kulturbegriffs ins Totalitäre. Paula Diehl betrachtet das ›Projekt Arier‹ als Grund und Ziel nationalsozialistischer Politik, die Kontingenz des Körpers zu eliminieren, wie es etwa durch die »Ausgrenzung von minderwertigen Rassen, Asozialen und Behinderten«39 oder die »NS-Reproduktions- und Erziehungspolitik«40 zum Vorschein kommt. Dabei beziehen sich die Nationalsozialisten auf die bereits früher vorhandene Idee des ›neuen Menschen‹ und modifizieren sie in ihrem Glauben an die Entstehung einer idealen arischen Gesellschaft vor allem biopolitisch. Allerdings macht sich nicht selten eine deutliche Kluft zwischen den idealisierten Bildern der SS-Männer und den realen deutschen Männern bemerkbar.41 Steht zur Zeit der Machtetablierung diese Utopie des ›neuen Menschen‹ im Vordergrund, ist zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges das Bild des Kämpfers ausschlaggebend.42 Für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sei schließlich auf zwei wesentliche Veränderungen hinsichtlich des Verständnisses des Körpers im Zusammenhang mit Fragen der Bildung einerseits sowie hinsichtlich der Ausdifferenzierung des Erziehungssystems andererseits hingewiesen. Der Mensch respektive der Organismus wird im Rahmen posthumanistischer und postessentialistischer Bildungskonzepte zunehmend als ein offenes und »rekonfigurierbares System« betrachtet.43 Diese Bildungskonzepte stellen eine rein biologisch gedachte, traditionelle Körperlichkeit infrage, lehnen die Vorstellung der Natur als unveränderbarer Entität ab und verweisen auf

Weltkrieges Harrasser, Karin: Prothesen. Figuren einer lädierten Moderne, Berlin: Vorwerk 8, 2016. 39 Diehl, Paula: Macht – Mythos – Utopie. Die Körperbilder der SS-Männer, Berlin: Akademie Verlag 2005, S. 21. 40 Ebd., S. 21. 41 Vgl. ebd., S. 22, 24, 31. 42 Vgl. Ebd., S. 26. 43 Weber, Jutta: Umkämpfte Bedeutungen. Naturkonzepte im Zeitalter der Technoscience, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 2003, S. 147, 200, 287, 290.

20 | HerausgeberInnen

maschinelle oder hybride Körpermodelle wie etwa Cyborgs sowie auf die Selbstorganisation der Subjekte.44 Im Falle des Erziehungssystems insgesamt lässt sich auf der anderen Seite beobachten, wie es sich dergestalt weiter ausdifferenziert, dass es sich zunehmend koextensiv mit dem Leben setzt. Seine Angebote und Formate richten sich gezielt an verschiedene Altersstufen und biographische Phasen, umfassen konstante Weiterbildungsmöglichkeiten ebenso wie sogenannte Bildungsreisen. Angesichts dessen und dem damit einher gehenden Unterlaufen der einst eigens eingeführten Unterscheidung von Erwachsenen und Kindern, ist spätestens hier nicht mehr länger von einem Erziehungs- sondern vielmehr von einem Bildungssystem zu sprechen. Es schlägt dabei allerdings insofern einen spezifischen Bogen zu seinen Anfängen, als dass sich hier Bildung als biographiebegleitender Prozess und als Karrierevehikel im Medium des Lebenslaufs miteinander verschränken. Das strukturelle Vorbild dieses Lebenslaufs aber liefert jene Romanform, die sich um 1800 herausbildet.45 Vor dem Hintergrund der hier skizzierten, in unterschiedlichen Gewichtungen und Konstellationen aufeinander bezogenen Zusammenhänge von

44 Vgl. J. Weber: Umkämpfte Bedeutungen. Im Falle des Cyborgs handelt es sich, so Donna Haraway, um »kybernetische Organismen, Hybride aus Maschine und Organismus, ebenso Geschöpfe der gesellschaftlichen Wirklichkeit wie der Fiktion.« (Haraway, Donna: »Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften«, übersetzt v. Fred Wolf, in: Dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, hrsg. u.a. v. Carmen Hammer und Immanuel Stieß, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 1995, S. 33-72, hier: S. 33.) Cyborgs finden, so argumentiert Haraway weiter, Eingang u.a. in die moderne Medizin, wo die Kombination von Mensch und Maschine an der Tagesordnung sei. Sie ruft im Rahmen ihres Manifests dementsprechend dazu auf, dass man die Verwischung der Grenze von Organismus und Maschine genießt und Verantwortung bei ihrer Konstruktion übernimmt, vgl. ebd., S. 34f. 45 Vgl. Luhmann, Niklas: »Erziehung als Formung des Lebenslaufs [1997]«, in:

Ders.: Schriften zur Pädagogik. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Dieter Lenzen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 260-277 und Ders.: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Herausgegeben von Dieter Lenzen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 82-101.

Einleitung | 21

Literatur, Erziehung, Menschen- und Nationenbildung, liegt der analytische Fokus der Beiträge des vorliegenden Bandes auf vornehmlich zwei Schwerpunkten: dem Aufkommen dieser Zusammenhänge und ihrer spezifischen Konstellation um 1800 sowie ihrer Aufnahme und Modifikation in oder angesichts von totalitären politischen Strukturen im 20. Jahrhundert. Als Ausgangspunkt beleuchtet Maria Kłańska mit ihrem Beitrag in diesem Band das antike Bildungsideal der »Kalokagathie« in Wielands Bildungsromanen Agathon und Aristipp. Im Sinne eines allumfassenden harmonischen Zusammenwirkens geistiger und körperlicher Vermögen des Individuums findet sich das antike Ideal im 18. Jahrhundert integriert in eine erstarkende Aufklärungsideologie, die mit den Wieland’schen Protagonisten eine Gradwanderung und letztlich das Austarieren der »goldenen Mitte« einer nicht bloß intellektuellen, sondern auch ethischen Bildung und Selbstbildung vorführt, die, wie der Beitrag zeigt, »nicht nur dem aufklärerischen Vernunftprinzip, sondern auch einer einschlägigen Lebensphase des Autors entspricht.« Anja Lemke nimmt die Lektüre von Friedrich Schillers Dramenfragment Die Polizey zum Anlass, um die harmonische Beziehung von Staat und Ästhetik, Institution und Individuum in Schillers Erziehungsprogramm neu zu befragen. Der Beitrag zeichnet nach, wie das ästhetische Programm Schillers, das sich in seiner späten Ausprägung durchaus zu einem »paradoxen Projekt einer Erziehung zur Freiheit« entwickelt, jener »Unübersichtlichkeit«, die um 1800 durch eine komplexer werdende Gesellschaft wie vor dem Hintergrund der Erfahrungen der französischen Revolution sichtbar geworden ist, ein ordnungsstiftendes und -erhaltendes Regulativ entgegenzusetzen versucht. Ziel des Beitrags ist es dabei, Schillers ästhetisches Ideal aber nicht ausschließlich im Horizont der »gouvernementalistischen Tendenzen seiner Zeit« aufscheinen zu lassen, sondern das Ästhetische vor der Folie des zunehmenden Kontingenzbewusstsein um 1800 immer auch als einen offenen Möglichkeitsraum zu lesen, den es fortdauernd zu bemessen gilt. Philipp Weber stellt mit seiner Lektüre des Romanfragments Die Lehrlinge zu Sais von Novalis ein »romantisches« Übungskonzept vor, das seine erzieherischen Mittel nicht wie der klassische Bildungsroman um ein einzelnes Bildungssubjekt herum ansiedelt, das sich innerhalb eines linearen Narrativs sukzessiv (weiter-)bildet. Vielmehr gilt es, eine Bildungslehre performativ in Szene zu setzen, die jenseits von Herrschaftslogiken die

22 | HerausgeberInnen

Übung »nicht als eine Kontrollform, sondern als Möglichkeitsbedingung eines Kontrollverlustes« entwickelt, der das freiheitliche Ich in einen spielerischen Umgang mit sich selbst setzt. Dieser im Romanfragment verhandelte Modus der Selbstdifferenz wird dabei zugleich auf eine Leserebene gehoben, wo schließlich die »poetisch organisierte Kontingenz zur Vervielfachung und Intensivierung von Lektüremöglichkeiten« führt. Die Schnittstelle von künstlerischem Genie und Körperlichkeit untersucht Agnieszka Sowa in ihrem Beitrag über den Roman Schlafes Bruder (1992) des österreichischen Schriftstellers Robert Schneider. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bilden die von geistigen wie körperlichen Entfremdungs- und Grenzerfahrungen gekennzeichneten Lebensstationen des Protagonisten Elias Alder, die er in seinem sozial rauen Umfeld aufgrund seiner körperlichen Gestalt und seines musikalischen Talents erfährt, und die ihn zu einer Außenseiterfigur stilisieren. In dem Fokus auf den künstlerischen Initationsprozess des Protagonisten, der von einer signifikant körperlichen Deformation begleitet wird, wirft Sowa einen genaueren Blick auf die Disziplinierung des Körpers als Korrelat und Garant eines künstlerischen Ausdrucks. Hans Esselborn geht in seinem Beitrag der Frage nach, inwiefern die literarischen Darstellungen des Ersten Weltkrieges im Roman ein Menschenbild herausschälen, das – anders als im klassischen Bildungsroman – nicht mehr auf eine geistige Vervollkommnung setzt, sondern im Kampf auf eine »Disziplinierung und Konditionierung des Körpers« abzielt, die zugleich zur Bedingung der Möglichkeit einer Nationenbildung wird. Anhand der Kriegsromane von Franz Schauwecker und Ernst Jünger zeigt Esselborn auf, dass der Frontkampf selbst zum ›Bildungsfaktor‹ wird, der nicht länger ein Individuum bildet, sondern über den Soldatenkörper eine Kampfmaschine entwickelt, die sich in ihrer »Symbiose von Krieger und Waffe« als Cyborg deuten lässt. Joanna Szczukiewicz und Paweł Moskała untersuchen in ihrem Beitrag das Thingspiel als nationalsozialistisches Theaterkonzept, das in Rückbesinnung auf das althochdeutsche Wort »thing« eine Gerichtssituation auf die Bühne bringt. Am Beispiel des damals sehr populären Frankenburger Würfelspiels (1936) von Eberhard Wolfgang Möller, das auf den Bauernaufstand in Oberösterreich 1625 rekurriert, analysieren Szczukiewicz und Moskała die Umschreibungsstrategien Möllers, die den historischen Bauernaufstand in »einen gerechten Freiheitskampf der Unterdrückten« natio-

Einleitung | 23

nalsozialistisch wenden. Dabei stellt die Analyse die Frage nach einer volksbildenden Körperlichkeit ins Zentrum, die im Frankenburger Würfelspiel als »eigentliche[r] Träger der NS-Ideologie« herausgestellt wird. Mit dem gezielten Blick auf ein biopolitisches Naturverständnis der NS-Ideologie lässt Anna Dąbrowska die »Vogelwelt« in der Novelle von Arno Surminski als eine »nationalsozialistische Projektionsfläche« lesbar werden und entgeht damit einer vorschnellen Dichotomie der Novelle in »idyllische Vogelwelt« und »brutale« KZ-Realität. Die Analyse der Vogelkörper, die teils präpariert und ausgestopft zu Schauobjekten der Forschung werden, während zahlreiche Vögel durch den Rauch der Krematorien verscheucht werden, lassen in der Novelle die vordergründige Naturliebe des Ornithologen als Bildungsinstrument einer nationalsozialistischen Ideologie deutlich werden, die als ambivalentes Naturverständnis eines biologisch legitimierten und machtpolitischen Kampfs ums Dasein entlarvt wird. Mit Blick auf die zwischenmenschlichen Beziehungen in Goethes Novellensammlung Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten widmet sich der Beitrag von Alexander Weinstock vor allem der Frage nach einer vom Politischen ins Soziale übergreifenden »Krise der Kommunikation«, die auf narrativer Ebene, durch den Kontrast eines ambivalenten Erzählprogramms in der Rahmenerzählung einerseits und einer auf Plausibilität und Verstehen setzenden Kommunikationsform in den Binnenerzählungen andererseits, überwindbar erscheint. Der Beitrag zeigt auf, wie soziale Interaktion in den Unterhaltungen her- und darstellbar wird über die »soziale Form des geselligen Zirkels und die literarische Form der Novellensammlung«. Anhand der exemplarischen Analyse eines Turner-Liederbuches aus dem Jahr 1849 kann Katarzyna Jaśtal zeigen, dass sich das pädagogische Konzept der deutschen Turnerbewegung im 19. Jahrhundert vor allem im Medium des Liedes formiert, das die Wiederholung körperlicher Übungen in eine Wiederholung von Sprache übersetzt. Im Rückgriff auf Pierre Bourdieus Begriff des Habitus, der die Wirkungen gesellschaftlicher Normierungsstrategien auf den physischen Körper zu fassen sucht, wird deutlich, dass die Turnpädagogen einen deutschen Habitus vermitteln wollten, der sich durch die Lieder in die Körper der männlichen Jugendlichen einschreiben soll, um »die Einheit der deutschen Nation« als kollektiven Körper entwickeln zu können. Michael Sobczak widmet seinen Aufsatz der kroatischen Schriftstellerin Paula von Preradović (1887–1951), die sich in ihrem 1937 erschienenen

24 | HerausgeberInnen

Essay Ein Jugendreich. Die Neuland-Schulsiedlung in Grinzing-Wien emphatisch mit dem Bildungs- und Erziehungsmodell des »Bundes Neuland« auseinandersetzt. Aus den Ausführungen Paula von Preradovićs kristallisiert Sobczak die wesentlichen Grundpfeiler eines neuen reformpädagogischen Ansatzes heraus, der nach dem Ersten Weltkrieg den Großstadtmenschen »gegen jede Art von Indoktrinierung immun« machen möchte, indem er ihn in seinem Erziehungsmodell einer Rückbesinnung auf religiöse Werte und die Naturverbundenheit des Menschen zuführt. Metin Genç adressiert in seinem Beitrag die komplexe Rolle der Literatur, die sie im gesellschaftlichen Kontext der stetigen Neubestimmung des Verhältnisses von Einzelnem und Kollektiv einnimmt. Der Mensch wird dabei systemtheoretisch als ein »Medium von Individualität« entwickelt, das sich selbst stets seiner eigenen Individualität gegenüber dem Kollektiv versichern muss. Anhand Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) wird das »Minimalkollektiv aus Robinson und Freitag« als die »Fiktion einer solitären Kollektivität« untersucht, die Alexander Kluge mit seinen Prosa-Miniaturen schließlich als »ein kollektiv-utopisches narratives Telos« enttarnt. Im Rahmen der seit 1987 bestehenden Senatspartnerschaft der Universität zu Köln mit der Jagiellonen-Universität in Krakau gibt es seit den 1990er Jahren auch eine rege Institutspartnerschaft zwischen dem Institut für Germanistik der Jagiellonen-Universität und dem Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln, vor deren Hintergrund im Februar 2017 in Köln eine Tagung zum Thema »Verkörperungen des Kollektiven. Bildungs- und Erziehungsmodelle vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart« stattgefunden hat. Im Anschluss an diese Tagung sind nun die hier versammelten Beiträge entstanden. Ohne konzeptuelle und finanzielle Unterstützung wäre dieser Band nicht zustande gekommen. Das Herausgeberteam dankt Prof. Dr. Anja Lemke, Dr. Habil. Katarzyna Jaśtal und Dr. Ingo Breuer für die Organisation der Tagung. Zudem gilt ein großer Dank dem Institut für deutsche Sprache und Literatur I, das den größten Teil der Druckkosten übernommen hat. Ebenso danken wir dem Rektorat und dem Dezernat 9: Internationales der Universität zu Köln, die ebenfalls diesen Sammelband in finanzieller Hinsicht großzügig unterstützt haben. Köln/Krakau, im Dezember 2018 Anna Dąbrowska, Daniela Doutch, Julia Martel, Alexander Weinstock

Einleitung | 25

LITERATUR [Anonym]: »Antwort im Namen des Instituts, auf die Anfrage im 2ten Briefe des Ungenanten«, in: Pädagogische Unterhandlungen, 4. Jahrgang 1780-82, 1. Quartal, S. 67-103. Blanckenburg, Friedrich von: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert, Stuttgart: Metzler 1965. Böhm, Winfried: »Reformpädagogik – ein deutsches Syndrom?«, in: Maren Gronert/Alban Schraut (Hg.): Sicht-Weisen der Reformpädagogik, Würzburg: Ergon Verlag 2016, S. 24-39. Campe, Joachim Heinrich: »Von der eigentlichen Absicht eines Philanthropins«, in: Pädagogische Unterhandlungen, 1. Jahrgang 1777/78, 1. Stück, S. 14-59. Campe, Rüdiger: »Form und Leben in der Theorie des Romans«, in: Armen Avanessian et al. (Hg.): Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Berlin/Zürich: diaphanes 2009, S. 193-211. Dainat, Holgert: »Von Wilhelm Meister zu den wilhelminischen Schülern. Bildungs- und Schulromane im Kontext institutionalisierter Erziehung«, in: Eva Geulen/Nicolas Pethes (Hg.): Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne, Freiburg i. Br./Berlin/Wien: Rombach, S. 123-159. Diehl, Paula: Macht – Mythos - Utopie. Die Körperbilder der SS-Männer, Berlin: Akademie Verlag 2005. Dietrich, Ingrid: »Reformpädagogik – eine kritische Bestandaufnahme«, in: Gronert/Schraut (Hg.): Sicht-Weisen der Reformpädagogik, S. 51-65. Düwell, Susanne: »›Gebietet ihm nie Etwas [...]. Er wisse nur, daß er schwach und daß ihr stark seyd‹. Institutionalisierung der Pädagogik und Rousseaurezeption im Philanthropismus«, in: Metin Genç/Christof Hamann (Hg.): Institutionen der Pädagogik. Studien zur Kultur- und Mediengeschichte ihrer ästhetischen Formierungen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, S. 87-109. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994.

26 | HerausgeberInnen

Frick, Werner: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen: Niemeyer 1988. Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Ders.: Sämtliche Werk. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel et al., hier: I. Abteilung: Sämtliche Werke Band 9: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Herausgegeben von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Unter Mitwirkung von Almuth Voßkamp, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992, S. 355-992. Gottsched, Johann Christoph: Die Schauspiele, und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen, in: Ders.: Ausgewählte Werke, herausgegeben von P. M. Mitchell. Neunter Band, Zweiter Teil: Gesammelte Reden, bearbeitet von Rosemary Scholl, Berlin/New York: De Gruyter 1976, 492-500. Graf, Ruedi: Das Theater im Literaturstaat. Literarisches Theater auf dem Weg zur Bildungsmacht, Tübingen: Niemeyer 1992. Greiner, Bernhard: »Der Gedanke der Bildung als Fluchtpunkt der deutschen Klassik. Natur und Theater: Goethes Wilhelm Meister«, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 48 (2007), S. 215-245. Gretz, Daniela: »Remix 1918: Ästhetische Erziehung goes Nationalpädagogik. Zur pädagogischen Theorie Herman Nohls«, in: Eva Geulen/Nicolas Pethes (Hg.): Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne, Freiburg i. Br./ Berlin/ Wien: Rombach, S. 69-92. Haraway, Donna: »Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften«, übersetzt v. Fred Wolf, in: Dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, hrsg. u.a. v. Carmen Hammer und Immanuel Stieß, Frankfurt a M: Campus Verlag 1995, S. 33-72. Harrasser, Karin: Prothesen. Figuren einer lädierten Moderne, Berlin: Vorwerk 8, 2016. Heckelmann, Heike: Schultheater und Reformpädagogik. Eine Quellenstudie zur reformpädagogischen Internatserziehung seit dem 18. Jahrhundert, Tübingen: Francke 2005.

Einleitung | 27

Heinz, Jutta: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung, Berlin/New York: de Gruyter 1996. Herrmann, Ulrich: »Pädagogisches Denken und Anfänge der Reformpädagogik«, in: Christa Berg et al. (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, hier: Band IV: 1870-1918. Von der Reichgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Herausgegeben von Christa Berg, München: Beck 1991, S. 147-178. Heßelmann, Peter: Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutschsprachiger Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (17501800), Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2002. Horn, Eva: »Prothesen. Der Mensch im Lichte des Maschinenbaus«, in: Annette Keck/Nicolas Pethes (Hg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder und Medienprojektionen, Bielefeld: transcript 2001, S. 193-210. Jaśtal, Katarzyna: Niemcy: naród i ciało (Deutsche: Nation und Körper), Kraków: Księgarnia Akademicka 2015. Jeismann, Karl-Ernst (Hg.): Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Mobilisierung und Disziplinierung, Stuttart: Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH 1989. Kersting, Christa: Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Campes »Allgemeine Revision« im Kontext der neuzeitlichen Wissenschaft, Weinheim: Deutscher Studien-Verlag 1992. Korte, Hermann/Hans-Joachim Jakob/Bastian Dewenter (Hg.): »Das böse Tier Theaterpublikum«. Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Eine Dokumentation, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2014. Kuhlemann, Frank-Michael, et al.: Schule, Hochschulen, Lehrer, in: Christa Berg et al. (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, hier: Band IV: 1870-1918. Von der Reichgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Herausgegeben von Christa Berg, München: Beck 1991, S. 179-313. Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie, in: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Herausgegeben von Wilfried Barner et al., hier: Band 6: Werke 1767-1769. Herausgegeben von Klaus Bohnen, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985, S. 181-694. Luhmann, Niklas: »Frühneuzeitliche Anthropologie. Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft«, in: Ders.: Gesell-

28 | HerausgeberInnen

schaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 162234. Luhmann, Niklas: »Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft: Von der Philanthropie zum Neuhumanismus«, in: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 105-194. Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Herausgegeben von Dieter Lenzen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Luhmann, Niklas: »Erziehung als Formung des Lebenslaufs [1997]«, in: Ders.: Schriften zur Pädagogik. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Dieter Lenzen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 260-277. Michl, Susanne: Im Dienste des »Volkskörpers«. Deutsche und französische Ärzte im Ersten Weltkrieg, Göttingen: Vandenhock & Ruprecht 2007. Mix, York-Gothart: Die Schulen der Nation. Bildungskritik in der Literatur der Moderne, Stuttgart u.a.: Metzler 1995. Neuhäuser, Heike/Tobias Rülcker (Hg.): Demokratische Reformpädagogik, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2000. Pethes, Nicolas: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts, Göttingen: Wallstein 2007. Ruppert, Rainer: Labor der Seele und der Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Berlin: Edition Sigma 1995. Schäfer, Martin Jörg: Das Theater der Erziehung. Goethes »pädagogische Provinz« und die Vorgeschichten der Theatralisierung von Bildung, Bielefeld: transcript 2016. Stanitzek, Georg: »Bildung und Roman als Momente bürgerlicher Kultur. Zur Frühgeschichte des deutschen ›Bildungsromans‹«, in: DVjs 62 (1988), S. 416-450. Ullrich, Volker: Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871-1918, Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1997. Voßkamp, Wilhelm: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg, Stuttgart: Metzler 1973. Voßkamp, Wilhelm: Der Roman des Lebens. Die Aktualität der Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman, Berlin: Berlin University Press 2009.

Einleitung | 29

Weber, Jutta: Umkämpfte Bedeutungen. Naturkonzepte im Zeitalter der Technoscience, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 2003. Wolke, Christian Heinrich: »Von Vorbereitung zum bürgerlichen Leben durch die Erziehung«, in: Pädagogische Unterhandlungen, 4. Jahrgang 1780-82, 2. Quartal, S. 158-162.

I Bildung | Übung | Disziplin

Das Ideal der Kalokagathie in Wielands Bildungsroman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen (mit einem Seitenblick auf Die Geschichte des Agathon) Maria Kłańska

Indem das deutsche 18. Jahrhundert das griechisch-römische, insbesondere klassische Altertum zum ästhetischen, ethischen und gesellschaftlichen Vorbild erhob, wurde u.a. das antike Ideal der Kalokagathie wiederbelebt, freilich nur als Wunschbild bzw. ästhetisches Leitbild. Nach dem Philosophischen Wörterbuch des Kröner-Verlages bedeutet das aus dem Griechischen stammende Wort Kalokagathie: »(griech. Schöngutheit), das von Plato so bezeichnete Bildungsideal der Griechen, die Einheit von Adel, Reichtum u. körperlich-geistiger Leistungsfähigkeit; vom dt. Idealismus als Inbegriff der guten körperlichen und geistigen Bildung aufgefaßt. Die K. war nicht ein ethisch-ästhetischer, sondern ein sozial-ethischer Begriff; denn der Kalokagathos (der zur K. erzogene Mensch) sollte sich der Gemeinschaft (der ←Polis) zur Verfügung stellen.«1

1

Schischkoff, Georgi (Hg.): Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart: Kröner 1991, 22. Aufl., S. 366.

34 | Maria Kłańska

Wie die Monographie des Krakauer Hellenisten Romuald Turasiewicz Studia nad pojęciem ›kalos kagathos‹2 (Studien zum Begriff ›kalos kagathos‹) detailliert ausführt, existierte diese Begrifflichkeit schon lange vor Plato, hatte verschiedene semantische Varianten und unterlag in verschiedenen Zeitaltern der griechischen Antike manchen Sinnverschiebungen. In der Historiographie überwiegt der gesellschaftliche bzw. politische Sinn des Terminus, in der Philosophie vornehmlich der ethische. Man verwendete den Begriff kaloskagathos (oft zusammengeschrieben) um die soziale Zugehörigkeit zum Adel bzw. zur entsprechend reichen, gebildeten Gesellschaftsschicht zu bezeichnen, die ein gewisses Niveau an Kultur und geselligem Schliff repräsentierte, sowie um Individuen zu erfassen, die hohe moralische Qualitäten aufwiesen. In einer engeren Bedeutung bezeichnete dieser Begriff in Bezug auf die militärische Sphäre einen mutigen, vorbildlichen Soldaten, und im ästhetischen Sinne die Schönheit, insbesondere der Gestalt.3 Im 5. und in einem geringeren Grade im 4. Jh. v. Chr. bezog sich diese Begrifflichkeit auf einen Angehörigen der höheren Gesellschaftsschichten, oft auf Wohlgeborene, z.B. alle Ritter (hippei), aber das war keine Voraussetzung. Auf jeden Fall handelte es es sich um Personen, die nicht auf die Notwendigkeit angewiesen waren, Geld zum Lebensunterhalt zu verdienen, und die sich eine bestimmte Lebensweise erlauben konnten. Eine wichtige Voraussetzung war laut Turasiewicz die Paideia, d.h. eine entsprechende Erziehung und Bildung. In den Komödien von Aristophanes sowie in Xenophons Denkwürdigkeiten des Sokrates umfasst sie die traditionelle gymnastisch-musikalische Bildung, die körperliche und geistige Kultur. Der endgültige Zweck solch einer Bildung ist die moralische Vollkommenheit, Kalokagathie oder Arete (wörtlich Tugend, jedoch in einer sehr umfassenden Bedeutung des Wortes). Die traditionelle Paideia umfasst die harmonische Entwicklung des Körpers (Soma), seine Schönheit eingeschlossen, und der Psyche, nicht so sehr als intellektuelle, sondern vor allem als ethische

2

Turasiewicz, Romuald: Studia nad pojęciem »kalos kagathos«, Warszawa/Kraków: Państwowe Wydawnictwo Naukowe, Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Jagiellońskiego: Prace historycznoliterackie, zeszyt 41, 1980.

3

Vgl. ebd., S. 7.

Das Ideal der Kalokagathie | 35

Vervollkommnung verstanden.4 Aus den Beispielen in der Monographie von Turasiewicz ersieht man, dass auch Frauen zur Kategorie der Kaloskagathoi gehören konnten. In den beiden großen griechischen Bildungsromanen Wielands, in Agathon (1766, letzte Fassung 1794) und in Aristipp (1801), ist dieses Bildungsideal geradezu das ideelle Gerüst und Kompositionsprinzip der Texte. In den folgenden Ausführungen sei es anhand des weniger bekannten Spätromans Aristipp und einige seiner Zeitgenossen untersucht und zum Schluss nur synthetisch mit dem berühmten ersten Bildungsroman Wielands verglichen. Den circa dreißig Jahre nach der Entstehung des Agathon veröffentlichten vierbändigen Briefroman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen nannte der Wieland-Biograph Friedrich Sengle »ein riesiges Bildungsgespräch«5. Die Briefform im Umfang von etwa 140 Briefen, von denen der Titelheld über die Hälfte an seine Freunde schreibt, in denen aber auch die Antworten von mehr als zehn Männern und der innigen Freundin des Philosophen, der schönen Hetäre Lais, angeführt werden, verleiht dem Werk den Charakter eines gewaltigen Dialogs. Darin erscheinen verschiedene Standpunkte als gleichberechtigt. Die beiden Romane spielen in fast derselben Zeit, wobei die Handlung des Aristipp umfassender ist und sich auf circa dreißig Jahre der Wirkung des Philosophen erstreckt. Aristipp tritt als Nebenfigur bereits im Agathon-Roman auf und spielt dort eine positive, wenngleich episodische Rolle. Allerdings ist Aristipp mehr als Agathon, dessen Name von Wieland lediglich aus einem sokratischen Dialog des Platon übernommen wurde, eine historisch erfassbare Gestalt, ein authentischer Philosoph, wiewohl keine Schriften von ihm überliefert worden sind.6 So fühlte sich der Verfasser meritorisch zwar der Geschichtsschreibung verpflichtet, aber anderseits handelt es sich bei ihm nach den Vorbildern

4

Ebd., S. 89-90. Den Fragen der Paideia ist das Standardwerk von Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. Ungekürzter photomechanischer Nachdruck, Berlin/New York: De Gruyter 1973, gewidmet.

5

Sengle, Friedrich: Wieland, Stuttgart: Metzler 1949, S. 504.

6

Vgl. Krokiewicz, Adam: Etyka Demokryta i hedonizm Arystypa, Warszawa: PAX 1960, S. 101, bzw. Döring, Klaus: Der Sokratesschüler Aristipp und die Kyrenaiker, Wiesbaden/Stuttgart: Akademie der Wissenschaften Mainz 1988, S. 5-6.

36 | Maria Kłańska

von Horaz, dessen Briefe er übersetzte, und Cicero um eine Ehrenrettung des als egoistischem Anhänger der Wollust verschrienen Philosophen. Sein Aristipp ist eine durchaus positive, ja vorbildliche Figur, ein getreuer Freund und ein Denker, der weiß, dass man sich auf die Anthropologie und subjektive Ästhetik beschränken muss, dass der Mensch weder im Ontologischen noch im Erkenntnistheoretischen zum objektiven Wissen kommen kann, und der vor allem durch die Übereinstimmung seines philosophischen Systems mit seinem Leben vorbildlich wirkt. Obwohl diese Entsagung ihr Urbild schon bei Agathon hat, unterscheidet sich seine Philosophie von der der Figur aus dem älteren Werk, denn im Zentrum der Weisheit Aristipps steht Hedone, das Vergnügen, ins Deutsche irreführend als Wollust übersetzt. Der wielandsche Aristipp vertritt die Philosophie der goldenen Mitte, der weisen Mäßigung, sein Prinzip ist, so angenehm zu leben wie nur möglich, wozu freilich sinnliche Freuden gehören, aber dabei darf man das Recht der Mitmenschen auf Glück nicht beeinträchtigen.7 Klaus Manger, dem Verfasser der aktuellen Monographie zu Aristipp, Klassizismus und Aufklärung. Das Beispiel des späten Wieland, ist durchaus zuzustimmen, wenn er darüber urteilt: »Der Roman erweist sich zusehends als philosophisches Instrumentarium, die ›Kunst zu leben‹ aus dem offenen Raum des Gesprächs heraus zu vertiefen. Die von Aristipp vertretene Philosophie ist das Thema, ohne daß wir bemerken oder erfahren, er habe sie irgendwann erlernt. Er vertritt sie von Natur aus. Sein Denken ist nicht etwa eine Seite seiner Persönlichkeit. Er ist sein Denken. Der Lernende aber ist, wenn überhaupt, der Leser.«8

Nichtsdestoweniger wird das Thema der Paideia, der Bildung und Selbstbildung, schließlich der Kalokagathie, in diesem Roman sogar direkter und umfassender als in der Geschichte des Agathon berührt. Der junge, circa zwanzigjährige Aristipp kommt aus der nordafrikanischen Stadt Kyrene

7

Vgl. Wieland, Christoph Martin: »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen«, in: Ders., Sämmtliche Werke, Bd. 33-36, Reprintausgabe Hamburg: Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur 1984, Buch 1, Brief 17 und 19, S. 194-197 und 204-206. Briefe an den Kyniker Antisthenes.

8

Manger, Klaus: Klassizismus und Aufklärung. Das Beispiel des späten Wieland, Frankfurt a.M.: Klostermann 1991, S. 136.

Das Ideal der Kalokagathie | 37

nach Griechenland, um seine Weltkenntnisse zu vervollständigen, und – vor allem –, um in Athen dem berühmten Sokrates zuzuhören. Er kommt allerdings mit einem vollständigen philosophischen System, das ihn nichts bestaunen lässt und welches zudem beinhaltet, sich nie von Emotionen so weit leiten zu lassen, dass sie zu vernunftwidrigen Handlungen führen. Bevor ich zu Beispielen dieser Haltung übergehe, sei erwähnt, dass viele andere junge Männer, die sich in diesem Roman zu Denkern oder aber Politikern oder Künstlern ausbilden, im Umkreis des Sokrates erscheinen, wobei wir es größtenteils mit historisch überlieferten Namen zu tun haben. Letzlich wird Aristipp selbst zu solch einem Lehrer der Weisheit. Er unterrichtet in Athen junge Männer aus gutem Hause, zudem wird ihm sein Landsmann und späterer Nachfolger Antipater aus Kyrene als Schüler nach Athen gesandt, und in der Zeit, in der er wieder in Kyrene lebt, wird ihm der Sohn seines Freundes Eurybates und der schönen Sklavin Droso, Lysanias, zur Erziehung geschickt. Nach mehr als zehn Jahren in Griechenland, die er größtenteils in Athen, aber auch auf Wanderungen auf den griechischen Inseln, in Korinth und Syrakus verbringt, siedelt sich Aristipp in seiner Heimat Kyrene an, gründet eine Familie durch die Heirat mit Kleone, der Schwester seines Freundes, des Malers und Dichters Kleonidas, und ist entschlossen, teils als Privatmann, teils, wo es nötig ist, als Lehrer der Weisheit zu fungieren. Nach der aufklärerischen Maxime des Weltbürgertums fühlt er sich aber keineswegs an seine Heimat gebunden, er sieht sich als solidarisch mit der ganzen Menschheit und wäre bereit, seinen Aufenthaltsort wieder zu wechseln, wenn es zur Gestaltung eines freien, harmonischen Lebens notwendig wäre. Im Roman nimmt der philosophische Diskurs viel Raum ein, besonders als Erörterung und zum Teil kommentierte Anführung der Dialoge in Platons Werken in Form von Dialogen der Romanfiguren. Das geschieht allerdings schon nach dem Tod des Sokrates, als Platon eine, wie Aristipp mit Wieland einschätzt, ziemlich willkürliche Wiedergabe der Gespräche zwischen Sokrates und seinen Schülern aufzuschreiben und zu verbreiten beginnt. Der ästhetische Diskurs gründet sich darüber hinaus auf Dialoge über häufig thematisierte, authentische und fiktive Kunstwerke und auf die körperliche Schönheit vor allem der Lais, aber auch einiger anderer Teilnehmer des Briefwechsels.

38 | Maria Kłańska

Manger untersucht den Roman auf einigen Ebenen und betitelt das erste seiner analytischen Kapitel »Der erotische Roman«9. Damit ist der Handlungsstrang der Liebe und schließlich Freundschaft zwischen Aristipp und der Hetäre Lais gemeint, den Wieland von der antiken Überlieferung übernimmt10 und dann weiter ausbaut und psychologisiert. In der Gestalt der Hetäre Lais erschafft Wieland eine edle Dirne, die Figur einer außerordentlich schönen und klugen Frau, die ohne Schuld, aber aus eigener Wahl in diesen Stand der Hetäre geraten ist. Man muss dabei bedenken, dass die antike Hetäre (griech. die Gefährtin)11 einen viel höheren sozialen und intellektuellen Status als eine Prostituierte hatte. Es handelte sich mehr um eine Frau, die Gefährtin der Männer bei Gelagen und intellektuellen Beschäftigungen war, für die damalige Zeit hoch gebildet, besonders in den schönen Künsten, die dem Mann sowohl das gesellige als auch das intellektuelle Leben verschönern sollte, und weniger aber doch auch um eine Frau, die mit diesen Männern sexuellen Verkehr pflegte. So war es auch bei verheirateten Männern sozial akzeptiert, dass sie sich eine Hetäre hielten.12 Der Protagonistin des Briefromans aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, der Hetäre Lais, die nicht nur durch ihre Schönheit und musischen Talente hervorsticht, sondern auch hochintellektuell ist und sich lebhaft für Philosophie interessiert, wird allerdings ein tragisches Ende zuteil. Sie hat lange nur das sinnliche Vergnügen und die Freundschaft gekannt. Als sie sich als alternde Frau in einen schönen Nichtsnutz verliebt, bringt er sie zu Fall und die Freunde vermuten, dass sie wie ihre Präfiguration Sappho Selbstmord verübt hat, um ihre Demütigung nicht zu erleben.13 Daraus lässt sich schließen, wie kritisch Wieland es bewertet, den sexuellen Bedürfnissen des Körpers nachzugeben, wenn es sich nicht um eine eheliche Verbindung handelt. Zu seiner Kalokagathie gehört zwar die Schönheit und Anmut des Körpers, aber dieser soll vom sittlichen Willen seines Trägers und vor allem von dessen Vernunft abhängig sein. Und doch bildete diese Frau den Mittelpunkt einer von Wieland erdachten, rokokohaft-antiken schönen Gesell-

9

Vgl. ebd., S. 113-126.

10 Vgl. A. Krokiewicz, Etyka Demokryta i hedonizm Arystypa, S. 132-134. 11 www.duden.de7rechtschreibung/Hetaere, Stand am 8.05.2017. 12 Vgl. R. Turasiewicz, Studia nad pojęciem »kalos kagathos«, S. 42. 13 Vgl. Chr. M. Wieland, Aristipp, Buch 3, Brief 33, S. 344.

Das Ideal der Kalokagathie | 39

schaft, die sich durch Urbanität, edle Sitten und geistig-musische Interessen auszeichnete.14 An dieser Stelle möchte ich an die ersten Begegnungen zwischen den Partnern anknüpfen, da dabei das Körperliche und Ästhetische stark zur Geltung kommt. Der junge Aristipp lernt die 18-jährige Lais im öffentlichen Bad in Korinth kennen, wohin er sich an einem Damenbadetag verirrt. Wie er seinem Freund Kleonidas gesteht, kam ihm dabei seine unschuldige Frechheit zugute, sodass er keine Scham, sondern Lust am Betrachten der Schönheit des menschlichen Körpers empfand. Die junge Unbekannte scheint von ihm genauso beeindruckt zu sein, da sie ihm zum Pfand ihrer auf so untypische Weise geschlossenen Bekanntschaft ihre goldene Haarlocke mit einer Perlenschnur zuschickt. Vom antiken Aristipp wurde die Äußerung überliefert, er habe Lais besessen, ohne von ihr besessen zu werden.15 Das gibt das Ende des Briefes von Aristipp an Kleonidas wieder: »[dass ich] große Ursache habe, zu hoffen, daß ich weder meinen Verstand noch meine Freyheit jemahls durch ein schönes Weib verlieren werde.«16 Die zweite Begegnung erfolgt nach zwei Jahren auf dem Landgut des Aristippschen Freundes Eurybates auf der Insel Ägina. Inmitten des anziehenden, ganz als locus amoenus gestalteten Gartens und Hauswesens von Lais schließen die beiden ein Freundschaftsbündnis im Zeichen der Grazien, die Wieland als Dienerinnen der Schönheitsgöttin in seinen Texten öfter würdigt. Während wir von Lais mehrere Beschreibungen ihrer Schönheit, so wie Aristipp sie wahrnimmt, besitzen, wobei konkret nur ihr blondes Haar genannt wird, ist es schwieriger, uns das Äußere Aristipps als ihres Gegenparts vorzustellen. Allerdings gibt anlässlich dieser zweiten Begegnung der Philosoph eine kurze Schilderung auch von sich selbst: »Es müßte einem Paar hochweiser Zottelbärte komisch genug vorgekommen seyn, wenn sie, hinter unsere Myrtenlaube verborgen, eine junge Dame wie Lais, und einen schwarzlockigen, wohl genährten Filosofen von zwey und zwanzig Jahren mit einer zwischen Pythagorischer Sofrosyne, Sokratischer Ironie und Aristofanischer

14 Zum Begriff der schönen Gesellschaft bei Wieland vgl. Jacobs, Jürgen: Der Roman der schönen Gesellschaft. Untersuchungen zu Wielands Erzählkunst, Köln 1965, Diss. Masch. 15 Vgl. A. Krokiewicz, Etyka Demokryta i hedonizm Arystypa, S. 132. 16 Chr.M. Wieland, Aristipp, Buch 1, Brief 3, S. 19.

40 | Maria Kłańska

Leichtfertigkeit leise hin- und herschwebenden Miene, in der ernstlichen Konferenz über diese Frage [d.i. Lais Zukunft – M.K.] hätte behorchen können.«17

Wie man aus diesem Zitat ersieht, erfolgt zwar die Liebesgeschichte zwischen schönen und verständigen Partnern, allerdings weiß der Philosoph zu relativieren und die Begegnung mit einiger Selbstironie wiederzugeben. Öfter werden im Kontext des ästhetischen Diskurses Kunstwerke, Skulpturen und Gemälde besprochen. So ist das erste Kunstwerk, auf das im Briefwechsel eingegangen wird, die sitzende Statue des Jupiter18 in Olympia, die Phidias gemeißelt hat. Aristipp kann einerseits seine Begeisterung nicht verbergen, andererseits aber versucht er zu erkunden, warum die Statue auf die Zuschauer einen so gewaltigen Eindruck macht, und er kommt zur Einsicht, dass dies an ihrer überdimensionalen Größe und an der Harmonie der Einzelteile liegt. Er kann sich also von seinem ersten Eindruck distanzieren und die Statue mit Abstand betrachten. Da Aristipp sich im Laufe der Handlung zu einem großen Kunstliebhaber entwickelt, nimmt die Beschreibung von Skulpturen und Gemälden im Roman viel Raum ein. Manchmal geht es wie bei dem olympischen Zeus um authentische Kunstwerke der Antike, an anderen Stellen sind es fiktive Künstler wie Kleonidas, die an der Handlung teilnehmen und ihre Werke schaffen. Besonders bei Skulpturen wird dabei die Problematik des schönen Körpers erörtert. Schon in den Anfangsteilen des Romans haben wir es mit der Bildsäule der berühmten Venus des Skopas zu tun, für die im Roman fiktiverweise die junge Lais Modell steht. Skopas setzt sich zum Ziel: »Meine Venus muß in sich selbst vollendet, muß (so zu sagen) eine reine Auflösung des Problems der Schönheit seyn; nicht das leiseste Mißverhältnis darf die vollkommne Symmetrie aller Theile und die höchste Einheit des Ganzen stören.«19 Er möchte daher Lais überreden, ihm nackt Modell zu stehen, allerdings ist sie dazu nicht bereit, höchstens würde sie ihm ihre schöne Sklavin zur Verfügung stellen. Aristipp kommt ihr zu Hilfe und meint, dass die Schönheit der Venus durch die Grazie gesteigert wird, und diese kommt dort zustande, wo nicht alles gezeigt wird. So verbindet sich bei Wieland die klassizistische Vorstellung Winckelmanns von der Symmetrie und

17 Ebd., Buch 1, Brief 14, S. 153. 18 Im Roman werden die römischen Götternamen verwendet. 19 Ebd., Buch 1, Brief 15, S. 183-184.

Das Ideal der Kalokagathie | 41

Harmonie als Voraussetzungen des Wirkens antiker Kunst mit seiner eigenen Vorstellung von der Bedeutung der Grazien, die als Dienerinnen der Venus für die Anmut stehen. Neben ästhetischer und sittlicher Schönheit spielte in der Konzeption der Kalokagathie die Gewandtheit des Körpers, die durch Gymnastik, Sport oder Tanz erreicht wird, eine wichtige Rolle. Ursprünglich war ja diese Konzeption mit den Tugenden eines Kriegers verbunden, die sportliche Vorbereitung machte einen Mann geeigneter fürs Kriegshandwerk. Davon bleibt in Wielands Romanen eigentlich nur die Komponente des Tanzes, die allerdings nur bei seinen Protagonistinnen und weiblichen Nebenfiguren entfaltet wird. Wie man z.B. aus den Arbeiten des Krakauer Philosophen Józef Lipiec wie Kalokagathia. Szkice z filozofii sportu20 ersieht, verbindet man noch heute die Idee der Olympischen Spiele, einer fairen Sportrivalität, mit der antiken Kalokagathie. Der wielandsche Aristipp steht der griechischen Begeisterung für diese Wettkämpfe allerdings recht kritisch gegenüber. Eine der ersten Stätten, die er nach seiner Ankunft in Griechenland besucht, ist Olympia während der Spiele. Er stellt in seinem Brief an Demokles aus Kyrene fest, dass die Bewunderung für solche Fähigkeiten in früheren, roheren Zeiten vielleicht zeitgemäß war, da diese einen Sinn hatten, solange man bei der Kriegsführung einfacher körperlicher Fähigkeiten bedurfte. In seiner Zeit sieht er dafür keine Berechtigung mehr: »Aber daß ein so gebildetes Volk wie die Griechen dermahlen sind, bei so gänzlich veränderter Lage der Sachen noch immer ein so großes Aufhebens von Geschicklichkeiten macht, die entweder ganz unbrauchbar, oder doch verhältnismäßig von sehr geringem Nutzen geworden sind; daß der Mensch, der zu Olympia öffentlich dargethan hat, daß er den stiermäßigsten Nacken, die stärksten Brustknochen und die derbeste Faust seiner Zeit besitze, oder mit jedem Hasen in die Wette laufen könne, für die höchste Zierde seiner Vaterstadt gehalten, und im Triumph eingehohlt, über alle seine Mitbürger hinaufgesetzt […] wird, […] – das ist doch wirklich so ungereimt, daß man es kaum seinen eigenen Augen zu glauben wagt.«21

20 Vgl. Lipiec, Józef: Z filozofii sportu, Warszawa/Kraków: Państwowe Wydawnictwo Naukowe 1988, bzw. Lipiec, Józef (Hg.): Sport, olimpizm, wartości, Kraków: Fall 1999. 21 Chr. M. Wieland, Aristipp, Buch 1, Brief 4, S. 22-23.

42 | Maria Kłańska

Nur an einer Stelle wird im Roman die sportliche Tüchtigkeit gelobt, und zwar nicht von Aristipp, sondern von seinem kyrenischen Freund Kleonidas, der seinen jungen Landsmann Antipater der aristippschen Obhut anvertraut, allerdings mit der Begründung, der schöne junge Mann (»[d]er schlanke schwarzäugige Jüngling mit den dunkeln um Stirn und Nacken herabhangenden Traubenlocken«) wäre bisher nur eine Hälfte von einem Menschen, da sein Kopf noch leer sei: »Bisher haben alle Arten von gymnastischen und andern Leibesübungen beynahe seine ganze Bildung ausgemacht. Er reitet wie ein Thrazier, läuft wie der schnellfüßige Achilles, weiß einen Wagen zu lenken wie der homerische Alcimedon, und im Ringen wird er selbst zu Ägina, der fruchtbaren Mutter so vieler öffentlich gekrönter Athleten, nicht viele finden, die er fürchten müßte.«22

Dieses Lob ist jedoch nur ein halbes, da Kleonidas die Tatsache betont, dass Antipater »noch unverstückelt und unverbildet« sei, so sollte es einen besonderen Anreiz für Aristipp darstellen, dessen Kopf zu füllen: »[U]nd mache dir ein Verdienst um Cyrene, uns dereinst in unserem jungen Athleten einen zweiten Milon an Weisheit wie an körperlicher Tüchtigkeit wiederzuschicken«.23 Es wird betont, dass der junge Mann von Natur aus beste Anlagen mitbringt, denn das ist die Voraussetzung dafür, dass Aristipp aus ihm einen harmonischen, vielseitig entwickelten Menschen machen kann. Auch Aristipp schreibt nach einiger Zeit seinem Freund über diese Art Schüler: »Jünglinge wie Er werden nicht gebildet, sondern bilden sich selbst, oder bringen vielmehr ihre schon voraus bestimmte Form mit sich auf die Welt; wie sie sind, sollen sie seyn; was sie werden, sollen sie werden. Was eine Pflanze bedarf, um sich zu entwickeln, Freyheit, Licht und angemessene Nahrung ist im Grunde alles, was solche Menschen zu ihrem Wachsthum und Gedeihen brauchen.« [Herv. i.O.]24

Auf jeden Fall wird hier die Kalokagathie als ein Zusammenspiel innerer und körperlicher Fähigkeiten und Kenntnisse dargestellt. Antipater ist zwar

22 Ebd, Buch 3, Brief 4, S. 58. 23 Ebd. 24 Ebd., Buch 3, Brief 6, S. 52-53.

Das Ideal der Kalokagathie | 43

der hervorragendste, aber nicht der einzige Schüler Aristipps,25 denn wie dieser in demselben Brief ausführlich darlegt, hat er, Aristipp, bereits in Athen eine Schule eröffnet, die nach dem Tod des Sokrates besonders nötig wurde. Dort soll Aristipp die Philosophie des Sokrates und wahrscheinlich noch stärker seine eigene Philosophie in möglichst kurzer Zeit den Eleven beibringen. In seiner Rechtfertigung, warum er für diesen Unterricht Geld nimmt, spricht Aristipp selbst den Begriff Kaloskagathos an: »Wie dem auch sey, seit dieser Begebenheit hat mir mehr als ein Athenier angelegen, seinem Sohn in allem, was ein Kalos Kagathos (wie man jetzt zu sagen pflegt), besonders ein künftiger Staatsmann und Demagog zu wissen nöthig habe, Unterricht zu ertheilen; und um nicht mit Zumutungen dieser Art zu sehr belästiget zu werden, habe ich ein für allemahl fünf hundert Drachmen zu meinem festgesetzten Preise gemacht.« [Herv. i.O.]26

Dieser Zug passt nicht sonderlich zum wielandschen Aristipp, der ein großzügiger Mann ist und eher als Sokrates imstande wäre, unentgeltlich zu unterrichten, aber der Autor übernimmt diese Nachricht aus antiken Quellen und lässt es ihn mit der Unfähigkeit seiner Zöglinge begründen, die bei großem Aufwand wenig Hoffnung auf gute Ergebnisse geben. Jedenfalls ist das Ziel der wohlhabenden Eltern, ihre Söhne zu Kaloikagathoi zu bilden, was sie durch Geburt und Reichtum offensichtlich noch nicht sind. Zu diesem Unterricht gehören Philosophie, Rhetorik sowie das Lernen urbaner, guter Sitten, jedoch keine sportliche Betätigung. Von Gymnastik als einem Teil der Paideia ist außer im Falle Antipaters nur im 4. Teil des Romans die Rede, und zwar in Bezug auf Platons Republik und ihre Kommentierung durch Aristipp in den Briefen an Eurybates. Da der Freund das Werk, das in Athen in Abschriften kursiert, noch nicht kennt, fasst es Aristipp für ihn in mehreren Briefen zusammen. Er wiederholt die Aussagen des weisen Sokrates etwas ironisch, da er überzeugt ist, dass diese nicht die echte Lehre des Sokrates wiedergeben, sondern Platons eigene Schwärmerei in den Mund des alten Denkers gelegt wurde.

25 Nach Krokiewicz soll er dann in Cyrene zusammen mit Aristipps Tochter Arete und seinem Mitschüler Aitiops Aristipps Schule und Lehre fortgesetzt haben, vgl. A. Krokiewicz: Etyka Demokryta i hedonizm Arystypa, S. 101. 26 Chr. M. Wieland, Aristipp, Buch 3, Brief 6, S. 72.

44 | Maria Kłańska

»Wohlan denn! was für eine Erziehung wollen wir also unsern Staatsbeschützern geben? Es dürfte schwer seyn, eine andere zu finden, als die schon längst erfundene, nämlich die Gymnastik für den Körper, die Musik (in der weitesten Bedeutung des Wortes) für die Seele. – Auf Musik und Gymnastik also schränkt sich auch in der Platonischen Stadt […] das ganze Erziehungswesen ein […].« [Herv. i.O.]27

Nach einem Kommentar zu Platons Einschränkung geistiger Bildung, geht Aristipp »zur Gymnastik oder Ausbildung, Übung und Angewöhnung des Körpers« [Herv. i.O.]28 über. Diese soll nach der Konzeption Platons erst nach dem anfänglichen Musikunterricht erfolgen. Unter Musik wird allerdings in der weitesten Bedeutung das ganze Gebiet der Künste verstanden, also der Dienst der Musen, wobei Platon besonderen Wert auf das Wort legt, und zwar nur in Bezug auf Wahrhaftigkeit oder Lügenhaftigkeit, so dass er z.B. Mythen und somit bestimmte Stellen selbst bei Homer aus der Paideia ausschließen möchte. Das kann freilich nicht die Billigung Aristipps erfahren. Dagegen findet Aristipp die Bemerkungen Platons zur Gymnastik, die einfach sein und mit schlichter Diät und Abstinenz verbunden werden soll, um die Tapferkeit und Ausdauer künftiger Soldaten hervorzubringen, richtig und einleuchtend, zweifelt aber, ob sich ein solches Programm in so verweichlichten Orten wie Syrakus, Korinth oder Athen anwenden ließe. Zu Platons Strenge in Anbetracht der Medizin bemerkt Aristipp spitz, dieser werde doch nicht alle Kranken zum Tode verurteilen, sondern manche begnadigen. Schließlich erläutert er den Gedanken Platons, man solle die Gymnastik nicht auf den Leib und die Musik nicht lediglich auf die Seele einschränken, denn sie bildeten eine Einheit, und wenn eine von ihnen nachhinke, wäre das Resultat der Erziehung ein verweichlichter bzw. ein roher Mensch.29 Das stimmt wohl mit den Vorstellungen des wielandschen Aristipps überein, der die Harmonie zwischen den verschiedenen Kräften des Körpers und des Geistes für unumgänglich hält. Insgesamt wird aber dem Sport und der Gymnastik in Wielands Altersroman wenig Aufmerksamkeit geschenkt, nicht viel mehr als in seinem 27 Ebd., Buch 4, Brief 5, S. 104. 28 Ebd., S. 111. 29 Vgl. Chr. M. Wieland, Aristipp, Buch 4, Brief 5, S. 104-108 sowie Platon:

Państwo. Ins Poln. übersetzt v. Władysław Witwicki, Warszawa: Państwowe Wydawnictwo Naukowe 1958, S: 142-144; sowie W. Jaeger; Paideia, S. 797825.

Das Ideal der Kalokagathie | 45

Agathon, um auf den versprochenen Vergleich der beiden griechischen Bildungsromane zu kommen. Im Falle der beiden Denker, des fiktiven Agathon und des nach einer historischen Vorlage gestalteten Aristipp, spielt die Bildung der Seele eine viel wichtigere Rolle als die des Körpers. Lediglich die Mädchenbildung wird als körperliche Ausbildung zum Tanz und zur Verschönerung des Körpers dargestellt, wozu sich die Künste des Gesangs und des Musizierens gesellen, allerdings betrifft das nur Mädchen, die später dem öffentlichen Vergnügen dienen sollen, und es wird von Lais stark beanstandet, da die Gesetzgeber nicht beachteten, dass die Seele kein Geschlecht habe und dass man auch die geistigen Bedürfnisse der Mädchen befriedigen solle.30 In beiden Romanen wird Wert auf die Schönheit und die Anmut des Körpers gelegt, Helden, die diese äußeren Merkmale besitzen, werden von ihren Mitmenschen aufmerksamer und oft aufgeschlossener behandelt. Lediglich auf die Ausbildung des Körpers wird eher wenig Wert gelegt. Dabei gibt es allerdings einen wichtigen Unterschied in der Behandlung der Sinnlichkeit in den beiden Romanen. Agathon liebt zwar alles Schöne, insofern er dessen geistige Natur voraussetzt, aber der Roman endet mit seiner Entsagung, er lebt als eine Art Adoptivsohn im Haushalt seines Freundes Archytas und verzichtet auf seine Liebe zur ehemaligen Hetäre Danae, die ebenfalls den Zölibat wählt. Bei Aristipp bestimmten schon die antiken Quellen, dass er kein Feind des sinnlichen Vergnügens sein wird. Aber natürlich hätte Wieland keinen vierbändigen Roman über ihn schreiben müssen, wenn ihn dieser Charakter nicht angesprochen hätte. Der wielandsche Protagonist sagt von sich, er könne genauso gut wie ein Stoiker als wie ein Sybarit leben, aber warum – so fragt er sich – solle er sich mehr einschränken, als es seine ökonomische Lage ihm gebiete.31 Er liebt Feste, Frohsinn, Geselligkeit, gründet schließlich selbst eine Familie und ist glücklich im Kreis seiner Liebsten. Ihm macht es nichts aus, dass Lais eine Hetäre ist, während Agathon nach der Nachricht, welche Profession seine Danae hat, aus Smyrna flieht. Die Geschichte des Agathon ist in ihrer ersten Fassung noch eine Frucht der Jugend und des Idealismus Wielands, der sich zwar zur Philosophie der goldenen Mitte bekennt, aber doch trotz seines Beharrens auf Synthese den Helden stark idealistisch belässt, in der zweiten Fas-

30 Vgl. Chr. M. Wieland, Aristipp, Buch 1, Brief 14, S. 157. 31 Vgl. ebd., Buch 1, Brief 17, S. 195f.

46 | Maria Kłańska

sung außerdem auch seine Lebensenttäuschungen zum Ausdruck bringt. Auch in Aristipp bekennt sich der Protagonist zur Harmonie und zur goldenen Mitte, aber diese goldene Mitte enthält in diesem Falle eine viel stärkere Bejahung des geselligen, kultivierten Lebens und somit auch des sinnlichen Genusses. Beide Romane stellen Hauptfiguren dar, die dem Leitbild der griechischen Kalokagathie nachstreben, aber beide Protagonisten tun dies auf eine Art und Weise, die darüber hinaus nicht nur dem aufklärerischen Vernunftprinzip, sondern auch einer einschlägigen Lebensphase des Autors entspricht.

LITERATUR Döring, Klaus: Der Sokratesschüler Aristipp und die Kyrenaiker, Wiesbaden/Stuttgart/Mainz: Akademie der Wissenschaften/Franz Steiner Verlag 1988. Jacobs, Jürgen: Der Roman der schönen Gesellschaft. Untersuchungen zu Wielands Erzählkunst, Köln: 1965, Diss. Masch. Jaeger, Werner: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. Ungekürzter photomechanischer Nachdruck, Berlin/New York: De Gruyter 1973. https://doi.org/10.1515/9783110842296 Krokiewicz, Adam: Etyka Demokryta i hedonizm Arystypa, Warszawa: PAX 1960. Lipiec, Józef: Z filozofii sportu, Warszawa/Kraków: Państwowe Wydawnictwo Naukowe 1988. Lipiec, Józef (Hg.): Sport, olimpizm, wartości, Kraków: Fall 1999. Manger, Klaus: Klassizismus und Aufklärung. Das Beispiel des späten Wieland, Frankfurt a.M.: Klostermann 1991. Platon: Państwo. Ins Poln. übersetzt v. Władysław Witwicki, Warszawa: Państwowe Wydawnictwo Naukowe 1958. Schischkoff, Georgi (Hg.): Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart: Kröner 1991. Sengle, Friedrich: Wieland, Stuttgart: Metzler 1949. https://doi.org/ 10.1007/978-3-476-99863-7 Turasiewicz, Romuald: Studia nad pojęciem »kalos kagathos«, Warszawa/Kraków: Państwowe Wydawnictwo Naukowe, Zeszyty Naukowe

Das Ideal der Kalokagathie | 47

Uniwersytetu Jagiellońskiego: Prace historycznoliterackie, zeszyt 41, 1980. Wieland, Christoph Martin: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, in: Ders., Sämmtliche Werke, Bd. 33-36., Reprintausgabe Hamburg: Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur 1984. Wieland, Christoph Martin: Die Geschichte des Agathon, in: Ders., Sämmtliche Werke, Bd. 1-3, Reprintausgabe Hamburg: Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur 1984.

Erziehungspolicey Überlegungen zu Schillers Dramenfragment Die Polizey1 Anja Lemke

1799 beginnt Friedrich Schiller mit der Arbeit an den Fragment gebliebenen Dramenentwürfen Die Polizey. Die Wahl des Sujets mag zunächst überraschen. Was interessiert eine der Leitfiguren der deutschen Klassik an dieser ordnungspolitischen Institution? Was an den Aufgaben der Policey in einem bürokratischen Rechtsstaat ist ästhetisch so relevant, dass man sie in den Mittepunkt eines Dramas stellt und in welcher Weise lassen sich die gesellschaftspolitischen Fragen, die bereits um 1800 mit der Institution der Policey verknüpft waren, mit Schillers theoretischen Überlegungen zur adäquaten Darstellung des Schönen zusammendenken? Der Missing Link zwischen der Ordnungsmacht Policey und den ästhetischen Reflexionen Schillers ist im Begriff der Erziehung zu suchen. Schillers Antwort auf die ihn in seinen ästhetischen Schriften immer wieder beschäftigende Frage nach der Relevanz der Kunst in der modernen Gesellschaft lautet in ganz unterschiedlichen Varianten immer wieder: Bildung und Erziehung. Dabei wird deutlich, dass diese Begriffe bei Schiller zwei einander widerstrebende Momente vereinigen sollen: Zum einen obliegt es der Kunst in Schillers

1

Vgl. für eine spanische und englische Übersetzung des Beitrags: »Policía de la educación. Reflexiones sobre el fragmento inacabado del drama de Friedrich Schiller Die Polizey // Educational Police. Reflections on Friedrich Schiller’s Theatrical Fragment Die Polizey«, in: Democracia & Felix Trautmann (Hg.): »We

protect

you

from

mismos«, Madrid 2018.

yourselves«

/ »Os

protegemos

de

vosotros

50 | Anja Lemke

Modell, den Menschen aus der Deformation, die aus der Fremdbestimmung durch gesellschaftliche Zwänge resultiert, zu befreien und ihm seine natürliche Ganzheitlichkeit zurückzuerstatten, auf der anderen Seite soll diese Freiheit nicht in Konflikt mit den Erfordernissen des modernen Staates stehen, sondern im Gegenteil, gilt es für Schiller durch die ästhetische Erziehung dem modernen Staat erst die Bürger zu schaffen, die er für seinen Erhalt benötigt. Diese Doppelfunktion, die Schillers ästhetisches Bildungsprogramm in die Spannung von Autonomie und Disziplinierung des Individuums setzt, wird im Polizey-Fragment anhand einer Ordnungsinstitution durchgespielt, die die Disziplinierungsfunktion der modernen Staatsmacht exemplarisch verkörpert. Schillers Beschäftigung mit dieser Institution fällt in die Zeit ihres entscheidenden Umbruchs. Während mit dem Begriff der ›Policey‹ vom 16. bis zum 18. Jahrhundert »ein Ensemble von Techniken der Regierungskunst«2 gemeint war, verengt sich die Funktion der Institution im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend auf die Funktion der Gefahrenabwehr. Schillers dramatische Entwürfe nehmen um 1800 noch einmal die vielfältigen Ordnungs-, Steuerungs- und Beobachtungsfunktionen der Institution in den Blick und befragen sie auf ihre Tauglichkeit, der entscheidenden Herausforderung der Zeit, um dem Umbruch von einer ständisch organisierten Gesellschaft zu einer modernen Massengesellschaft im Rahmen »neue[r] Konzepte zur gesellschaftlichen Regulierung«3 adäquat begegnen zu können. Auf rund 15 Seiten skizziert Schiller ein Trauerspiel und eine Komödie zu diesem auch um 1800 keinesfalls geläufigen Sujet. Nach dem gerade vollendeten Wallenstein ist dies sein zweiter Anlauf, eine dramatische Antwort auf die gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Umbrüche im Europa nach der französischen Revolution zu finden und die damit verbundenen Anforderungen an deren Neustrukturierung und -ordnung darstellerisch zu bewältigen. In Anlehnung an Louis-Sébastien Merciers vorrevolutionäre Großstadtbeschreibung Tableau de Paris (1781-1788) wählt Schiller die französische Hauptstadt als Mikrokosmos dieser Transformati-

2

Hahn, Torsten: »Großstadt und Menschenmenge. Zur Verarbeitung gouvernementaler Data in Schillers Die Polizey«, in: Tina-Karen Pusse (Hg.): Rhetoriken des Verschwindens, Würzburg 2008, S. 121-134, hier: S. 122.

3

Gamper, Michael: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765-1930, München 2007, S. 43.

Erziehungspolicey | 51

on. Anders als im Tableau wird der Blick auf die unterschiedlichen Milieus in Schillers Entwurf jedoch nicht durch einen erzählenden ›observateur‹ geöffnet, sondern es ist die Institution der Policey, die das ordnungsstiftende Zentrum der Darstellung bildet. Ziel ist es, die Komplexität moderner Gesellschaft auf die Bühne zu bringen, und die Policey bietet Schiller den Rahmen, der die neue Unübersichtlichkeit strukturieren soll. »Es ist eine ungeheure Maße von Handlung zu verarbeiten und zu verhindern, daß der Zuschauer durch die Mannichfaltigkeit der Begebenheiten und die Menge der Figuren nicht verwirrt wird. Ein leitender Faden muß da seyn, der sie alle verbindet, gleichsam eine Schnur an welche alles gereiht wird [...]. Die eigentliche Einheit ist die Polizey, die den Impuls giebt und zuletzt die Entwicklung bringt.«4

Das Organisationsprinzip für die Kartographierung der Stadt und die Klassifikation und Identifikation ihrer Bewohner, durch das der Dramenentwurf Ordnung in die neue Unübersichtlichkeit der Großstadt bringen will, wird den unterschiedlichen Steuerungstechniken und Ordnungsfunktionen der Policey entnommen. Entsprechend findet sich im Entwurf eine lange Liste, die die zentralen wohlfahrtsstaatlichen und sicherheitspolitischen Aufgabenbereiche der Institution zu umreißen sucht: »Die Geschäfte der Polizey sind 1. Für die Bedürfniße der Stadt so zu sorgen, daß das Notwendige nie fehle und daß der Kaufmann nicht willkürliche Preise setze. Sie muss also das Gewerb und die Industrie beleben, aber dem verderblichen Mißbrauch steuren. 2. Die öffentlichen Anstalten zur Gesundheit und Bequemlichkeit. 3. Die Sicherheit des Eigenthums und der Personen. Verhütend und rächend. 4. Maaßregeln gegen alle, die Gesellschaft störende,,Misbräuche. 5. Die Beschützung der Schwachen gegen die Bosheit und die Gewalt. 6. Wachsamkeit auf alles was verdächtig ist. 7. Reinigung der Sitten von öffentlichem Scandal. 8. Sie muß alles mit Leichtigkeit übersehen, und schnell nach allen Orten hin wirken können. Dazu dient die Abtheilung und Unterabtheilung, die Register, die Offizianten, die Kundschafter, die Angeber. 9. Sie wirkt als Macht und ist bewaffnet um ihre Beschlüße zu vollstrecken. 10. Sie muß oft geheimnisvolle

4

Schiller, Friedrich: Die Polizey, in: Ders.: Werke und Briefe, hg. von Herbert Kraft und Mirjam Springer, Bd. 10: Dramatischer Nachlass, Frankfurt am Main 2004, S. 87.

52 | Anja Lemke

Wege nehmen und kann auch nicht immer die Formen beobachten. 11. Sie muß oft das Ueble zulaßen, ja begünstigen und zuweilen ausüben, um das Gute zu thun, oder das größre Uebel zu entfernen.«5

Die Liste wirft ein eindrucksvolles Licht auf die wohlfahrstaatlichen, sicherheits- und biopolitischen Tätigkeitsfelder der Institution. Polizeiarbeit umfasst alle gesellschaftlichen Bereiche. Sie umfasst die »›Erkenntnis‹, wie ein gegebener Zustand des Gemeinwesens erhalten, gehoben und verbessert werden kann; sie verzeichnet sodann die ›Mittel‹ zur Bewahrung und Mehrung der ›physischen und moralischen Kräfte‹ eines Landes; und sie ist schließlich die Menge all der aktuellen Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, um ›das gesamte Vermögen des Staates durch gute innerliche Verfassungen zu erhalten und zu vergrößern‹«.6

Es geht um die Optimierung einer »sozialen Potenz«7 ebenso wie um die Wahrung der staatlichen Interessen und der mit ihr verbundenen ökonomischen Ziele. Von den ökonomischen Steuerungs- und Verteilungsfunktionen, über Hygiene, Eigentumssicherung und Ordnungserhalt bis hin zu umfassenden Kontroll- und Machtfunktionen und sanktionierter Willkür reicht der Einflussbereich der Policey um 1800. Diese Fülle an Aufgaben führt nun allerdings darstellerisch wieder zu dem gleichen Problem, mit dem sich Schiller angesichts der theatralen Darstellung der heterogenen Stadtbevölkerung konfrontiert sah: es wird unübersichtlich. Die dramatische Lösung, die der Trauerspielentwurf wählt, ist die Konzentration auf eine Metaebene, die gleichzeitig die Quintessenz der Polizeiarbeit deutlich macht: »Die Handlung wird im Audienzsaal des Polizeylieutenants eröffnet, welcher seine Kommis abhört und sich über alle Zweige des Polizeygeschäfts und durch alle Quartiere der großen Hauptstadt weitumfaßend verbreitet.«8 Statt die Aufgabenfülle der Policey im Ganzen dramatisch zu inszenieren, konzentriert sich Schiller auf den Rap-

5

Ebd., S. 89.

6

Vogl, Joseph: »Staatsbegehren. Zur Epoche der Policey«, in: DVjs Jg.74, 2000,

7

Ebd., S. 603.

8

F. Schiller: Die Polizey, S. 87.

Bd. 73, S. 600-626, hier: S. 607.

Erziehungspolicey | 53

port der einzelnen Polizeibeamten, um dem Zuschauer auf diese Weise möglichst rasch »mitten ins Getreibe der ungeheuren Stadt [zu] ver[setzen]«9, ohne ihn der Unübersichtlichkeit auszusetzen. Gleichzeitig enthüllt sich so das Kerngeschäft der Policey als Ordnungsmacht: Es geht um das umfassende Zusammentragen von Informationen über den einzelnen Bürger und, damit verbunden, um die möglichst effiziente Erfassung, Lenkung und Steuerung jener Einheit, die um 1800 gerade erst als staatlich relevante Ordnungsgröße entdeckt wird: die Bevölkerung. Diese Konzentration des Dramenentwurfs auf die umfängliche Erfassung und Herstellung der Bürger in Bezug auf die Ordnungsgröße ›Bevölkerung‹ zeigt, dass die Wahl des Sujets der Policey für Schiller nicht allein dramentheoretische Gründe hatte. Neben dem Versuch, über die Ordnungsinstitution der Policey einen dramatischen Zugriff auf das Phänomen der ›Masse‹ zu bekommen, steht der Aspekt der Formung und Herstellung der Bürger im Vordergrund, der sich nahtlos in Schillers ästhetisches Erziehungsprogramm einreiht, das er in seinen Grundzügen bereits 1784 in seiner Rede Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? entwickelt hat. Im Kern handelt es sich bei dem dort entworfenen Projekt einer ästhetischen Erziehung durch das Theater um ein anthropologisches Ausgleichsmodell, das das harmonische Gleichgewicht zwischen Verstand und Sinnlichkeit im Individuum wieder herstellen und dabei gleichzeitig die einzelnen Individuen miteinander zu einem harmonisch gesellschaftlichen Ganzen formen soll. Notwendig wird diese ästhetische Intervention in das anthropologische Gefüge, weil Schiller der Überzeugung ist, dass die moderne Gesellschaft die natürliche Harmonie durch die einseitigen Anforderungen an die Subjekte nachhaltig gestört hat. »Erschöpft von den höhern Anstrengungen des Geistes, ermattet von den einförmigen, oft niederdrückenden Geschäften des Berufs und von Sinnlichkeit gesättigt, mußte der Mensch eine Leerheit in seinem Wesen fühlen, die dem ewigen Trieb nach Tätigkeit zuwider war. Unsre Natur, gleich unfähig, länger im Zustand des Tiers fortzudauern, als die feinern Arbeiten des Verstands fortzusetzen, verlangte nach einem mittleren Zustand, der beide widersprechenden Enden vereinigte, die

9

Ebd.

54 | Anja Lemke

harte Spannung zu sanfter Harmonie herabstimmte [...]. Diesen Nutzen leistet überhaupt nur der ästhetische Sinn, oder das Gefühl für das Schöne.«“10

Allein das Theater, so wird Schiller nicht müde zu betonen, kann diese Deformation wieder ausgleichen und den Menschen erneut ins Gleichgewicht mit sich und seinen Mitmenschen setzen. Dabei geht es, und dies ist im Zusammenhang mit dem Polizey-Fragment der entscheidende Punkt, stets um Konfliktvermeidung statt um Konfliktlösung. Schillers ästhetisches Programm zielt wesentlich auf Innenlenkung, die die Gesetze als äußeren Zwang obsolet machen soll. Entsprechend vergleicht er die Wirkung der Kunst nicht mit dem Gesetz, sondern mit der Religion. »Gesetze hemmen nur Wirkungen, die den Zusammenhang der Gesellschaft auflösen – Religion befiehlt solche, die ihn inniger machen. Jene herrschen nur über die offenbaren Äußerungen des Willens, nur Taten sind ihnen untertan – diese setzt ihre Gerichtsbarkeit bis in die verborgensten Winkel des Herzens fort und verfolgt den Gedanken bis an die innerste Quelle.«11

In säkularen Zeiten wie diesen, so Schillers zentrale Schlussfolgerung, ist es Aufgabe der Kunst, diese moralische Erziehungsfunktion zu übernehmen, hat sie doch mit der Religion gemein, dass sie sich nicht »nur um verneinende Pflichten«12 dreht, zudem gegenüber Gesetz und Religion den Vorteil der Anschaulichkeit und lebendigen Bildlichkeit. Dieses ästhetische Programm einer moralischen Erziehung des Menschen zum harmonischen Ausgleich all seiner Kräfte, durch die die äußeren Gesetze als Konfliktregelungsmechanismen obsolet werden, deckt sich in vielerlei Hinsicht mit der zentralen Aufgabe, die im 18. Jahrhundert der Policey im Rahmen neuer gouvernementalistischer Strategien zugeschrieben wird: Auch sie zielt nicht mehr primär auf gewaltsame Unterdrückung und reine Machtdemonstration gegenüber dem Untertan, sondern soll durch unterstützende Maßnahmen eine Übereinstimmung zwischen dem Willen der

10 Schiller, Friedrich: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. V: Erzählungen. Theoretische Schriften, Darmstadt 1993, S. 821. 11 Ebd., S. 822. 12 Ebd.

Erziehungspolicey | 55

Einzelnen und den Staatszielen herbeiführen. Was Foucault unter dem Begriff der Gouvernementalität gefasst hat, meint eben jenen Wechsel von gewaltsamer Unterdrückung hin zu einer effektiven Lenkung und Unterstützung, mit dem Ziel, die Kräfte der Bevölkerung nicht länger zu behindern, sondern zu kanalisieren, zu steuern und dadurch verwertbar zu machen, indem der Wille dieser Bevölkerung durch unterstützende Erziehungsmaßnahmen in Übereinstimmung mit den Staatszielen gebracht wird. Solche Überlegungen finden wir in den Polizeiwissenschaften der Zeit etwa bei Justi ebenso wie bei Shaftesbury und Locke oder, ganz prominent, in den Texten zur Nationalökonomie bei Fichte und in den unterschiedlichen kulturkritischen, erziehungs- und staatstheoretischen Schriften Rousseaus: Immer geht es in diesen Entwürfen um den Zugriff auf das Innere der Menschen, um Erziehungsmaßnahmen, die den Einzelnen in Bereitschaft setzen, sich freiwillig und ohne Zwang mit seiner ganzen Kraft für das Gemeinwesen einzusetzen. Ziel ist eine innere Kultivierung, eine Versittlichung der Leidenschaften und Interessen der Einzelnen, um diese mit den Bestrebungen des Gemeinwesens in Übereinstimmung zu bringen, bevor sie mit diesem in Konflikt geraten und dann gewaltsam durch die Macht des Gesetzes wieder zur Ordnung gerufen werden müssen. Die Policey »übernimmt nun die Aufgaben positiver Intervention und Steuerung innerhalb der politischen Regierung«13, sie hat »die Aufgabe, die Menschen zu erfassen und zu lenken, bevor sie zu moralischen Personen und Rechtssubjekten werden.«14 In eben diesem Sinn geht es Schiller darum, »für die Verfassung Bürger zu erschaffen, ehe man den Bürgern eine Verfassung geben kann.«15 Nun ist der Schaubühnentext von 1784 also zu einer Zeit verfasst, als Schillers Ästhetik noch stark in einer frühaufklärerischen Tradition stand. Die Rede liegt noch vor Schillers intensiver Kant-Lektüre und man hört eher Lessing heraus – allzu deutlich geht es um ein Bildungsmodell, das von der Bühne herab belehren und moralisch bessern soll. Erst durch die KantLektüre und durch die Überlegungen zur Autonomie des Ästhetischen verkompliziert sich das Modell, das Schiller im Kern jedoch beibehält: Denn

13 J. Vogl: »Staatsbegehren«, S. 606. 14 M. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 58. 15 F. Schiller: Brief an den Augustenburger, 13. Juli 1793, Frankfurter Ausgabe, Bd. 8, S. 504.

56 | Anja Lemke

wenn man Erziehung im Rahmen der Kantischen Philosophie ernst nimmt, kann diese nur im paradoxen Projekt einer Erziehung zur Freiheit zu finden sein, d.h. einer Erziehung zum autonomen, selbstständigen Individuum. Kant selbst konstatiert in seinen Überlegungen zur Pädagogik: »Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich Freiheit bei dem Zwange?«16 Diese entscheidende Paradoxie der spätaufklärerischen Erziehung teilt Schiller mit allen Bildungstheoretikern der Zeit, es schlägt sich in Goethes Wilhelm Meister in der Spannung von Wilhelms Bildungsgang und der Lenkung durch die Turmgesellschaft ebenso nieder wie bei Moritz, Herder und Humboldt. Die Quintessenz dieser Auseinandersetzung mit dem Paradox einer Erziehung zur Freiheit findet sich bei Schiller in seinen Briefen über die Ästhetische Erziehung, die auf der einen Seite das Programm einer Harmonisierung von Individuum und Staat fortschreiben, auf der anderen Seite in der Rezeption des autonomen Kunstwerks jedoch auch die Möglichkeit sehen, einen Erfahrungsraum zu öffnen, der den Menschen erneut in den Nullzustand stellt und ihm dergestalt die unbestimmbare Fülle seiner Möglichkeiten zurückgibt, inklusive der Kontingenz, die mit solchen Möglichkeitsräumen verbunden ist. Die Paradoxie, Freiheit und Zwecklosigkeit der Kunst mit der geforderten Erziehung zur Harmonisierung in Einklang zu bringen, drückt sich prägnant in Schillers Überlegungen zum ästhetischen Zustand aus. »In dem ästhetischen Zustande ist der Mensch also Null […] die Schönheit gibt schlechterdings kein einziges Resultat weder für den Verstand noch für den Willen, sie führt keinen einzelnen, weder intellektuellen noch moralischen Zweck aus, sie findet keine einzige Wahrheit, hilft keine einzige Pflicht erfüllen und ist, mit einem Worte gleich ungeschickt, den Charakter zu gründen und den Kopf aufzuklären. Durch die ästhetische Kultur bleibt also der persönliche Wert eines Menschen oder seine Würde, insofern diese nur von ihm selbst abhängen kann, noch völlig unbestimmt, und es ist weiter nichts erreicht, als daß es ihm nunmehr von Natur wegen

16 Kant, Immanuel: Über Pädagogik, Werkausgabe Band XII, Frankfurt a.M., 1977, S. 691-761, hier: S. 711. Vgl. Luckner, Andreas: »Erziehung zur Freiheit. Immanuel Kant und die Pädagogik«, in: Pädagogik 55, 7-8 (Juli/August 2003), S. 72-76.

Erziehungspolicey | 57

möglich gemacht ist, aus sich selbst zu machen, was er will – daß ihm die Freiheit, zu sein, was er sein soll, vollkommen zurückgegeben ist.«17

Hier zeigt sich auf der einen Seite Schillers Versuch, die ästhetische Öffnung von Möglichkeitsräumen im Sinne der Autonomiedebatte zu garantieren, auf der anderen Seite steht die merkwürdige Übereinstimmung von ›wollen‹ und ›sollen‹, die anzeigt, dass diese Möglichkeitsräume nicht als Konflikträume zu denken sind. Blickt man nun auf das Polizey-Fragment, dann hat es zunächst den Anschein, als habe Schiller in dieser Konzeption das Problem der Erziehung zur Freiheit gänzlich zugunsten der Erziehungsseite gelöst und die Disziplinar- und Ordnungsfunktion ganz in den Vordergrund gestellt, ja mehr noch, der ästhetischen Seite der Erziehung scheint hier nur noch durch die Ästhetisierung der Policey selbst ein Ort eingeräumt zu werden, indem diese sowohl als darstellerisches Prinzip sowie als Gegenstand der Darstellung fungiert.18 Nun findet sich im Dramenentwurf neben der Institution der Policey eine weitere Ordnungsfigur, die zunächst der dramatischen Lösung im Wallenstein folgt, das unübersichtliche Geschehen entlang der Handlungen des ›großen Einzelnen‹ zu erzählen. Der Polizeileutnant »Argenson«, den Schiller nach dem gleichnamigen lieutenant géneral de police de la ville de Paris im absolutistischen Regime unter Louis XIV entworfen hat, personifiziert die Institution und tritt damit in gewisser Weise als Symbol der Souveränitätsmacht auf, gleichzeitig legt Schiller jedoch großen Wert darauf, dass er eben nicht nur »Chef der Polizey«19 sei, sondern auch als »Privatperson[] und als Mensch[]«20 gezeigt werden müsse. Durch die Figur selbst geht damit ein für das Publikum sichtbarer Riss zwischen Funktion in der Institution bzw. Symbol derselben auf der einen Seite und Privatperson auf

17 F. Schiller: Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 5, 21. Brief, S. 635. 18 Vgl. J. Vogl: »Staatsbegehren«, S. 618ff. und M. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 100f. 19 F. Schiller,: Die Polizey, S. 87. 20 Vgl. Schiller: Die Polizey, „Die Offizianten und selbst der Chef der Polizey müssen zum Theil auch als Privatpersonen und als Menschen in die Handlung verwickelt seyn.“ Ebd.

58 | Anja Lemke

der anderen: und diese beiden Seiten funktionieren ihrerseits nicht so harmonisch, wie sie das, gemäß des Modells der ästhetischen Bildung, die ja am Einzelnen ansetzt und diesen komplett mit dem Staat zur Deckung bringt, eigentlich sollte. Argenson ist vielmehr ›zweigeteilt‹: In der Institution ist er misstrauisch, er hat keinen »edeln Begriff von der menschlichen Natur«, er ist »ungläubiger gegen das Gute«, er achtet das »Individuum« nicht, es sei denn die »Ehre der Polizey«21 steht auf dem Spiel. Alles an Argenson als »Chef der Polizey« ist funktional: er agiert je nach Situation: pastoral, verständnisvoll, grausam, durchsetzungsstark etc. und dabei immer berechnend. Er ist ganz und gar Realpolitiker. So heißt es dann von einer Szene, in der Argenson mit einem Philosophen und einem Schriftsteller auftritt, sie enthalte »eine Gegeneinanderstellung des Idealen mit dem Realen. Ueberlegenheit des Realisten über den Theoretiker. Discussion der Frage, ob man die Wahrheit laut sagen dürfe.«22 Wenn der Polizeichef hier den Sieg davon trägt, ist klar, dass es sich nicht empfiehlt, die Wahrheit laut zu sagen, es ist aber ebenso klar, dass wir uns im Stück in einer Gesellschaftsform befinden, die vom Ideal des ästhetischen Staates, wie Schiller ihn in den Briefen zur ästhetischen Erziehung andenkt, weit entfernt ist. Und es stellt sich die Frage, ob der Entwurf analog zu dem dort entfalteten Erziehungskonzept über die Darstellung des geschlossenen Polizeistaats hinaus, Ansätze zur ästhetischen Bildung liefert. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Argenson bei Schiller im Fragment noch eine andere, kaum ausgeführte Seite bekommt: Er hat zwar keinen »edeln Begriff von der menschlichen Natur« und offenbar auch ein sehr funktionales Verhältnis zur Wahrheit, aber, so heißt es beiläufig, »er hat das Gefühl für das Schöne nicht verloren, und da, wo er es unzweideutig antrifft, wird er desto lebhafter davon gerührt. Er kommt in diesen Fall und huldigt der bewährten Tugend.«23 Die Szene wird nicht ausgearbeitet, es folgen nach einem Absatz weitere Ausführungen über den Privatmann Argenson, die ihn – auch hier wieder im Gegensatz zu seiner beruflichen Erscheinung – als einen, wie es im Text heißt, »ganz andern u. jovialischen, gefälligen Charakter

21 F. Schiller: Die Polizey, S. 87, 87-88 und S. 89. 22 Ebd., S. 89. 23 Ebd., S. 88.

Erziehungspolicey | 59

zeig[en]«24, der sich privat als achtenswerter und liebenswerter Mensch und angenehmer Gesellschafter präsentiert. Vor dem Hintergrund der Briefe über die ästhetische Erziehung ist dieser Ausschnitt aus dem Fragment nicht leicht zu deuten: Man kann so argumentieren, dass sich hier die gelungene wechselseitige Durchdringung von Ästhetik und Policey in der Person selbst noch einmal bestätigt: In Argenson kommen beide Funktionen zusammen, zeigen sich in ihrer wechselseitigen Bezogenheit und stehen damit wie ein Schlussstein über dem ganzen ästhetischen Erziehungsunternehmen. So heißt es etwa bei Michael Gamper: »Wird schon die Funktion der ›Polizey‹ als ›Einheit‹ in der ›Mannichfaltigkeit‹ charakterisiert, also mit der ›Schönheits‹-Definition der spätaufklärerischen Ästhetik gefasst, die auch noch für Schiller gilt, so wiederholt sich diese Eigenschaft im Chef der ganzen Organisation.«25 Man kann aber auch den Bruch zwischen den beiden Funktionsbereichen unterstreichen: Argenson scheint sowohl in Bezug auf Erkenntnis als auch auf Ethik im Zuge der Erfahrungen, die er gemacht hat, bereits stark durch das Realitätsprinzip geprägt: er orientiert sich nicht am Ideal, sondern sucht nach pragmatischen Lösungen. Nicht verlorengegangen ist aber das Gefühl für das Schöne: und hier wäre dann letztlich der Ort, an dem sich dieses Ideal in einem autonomen Raum doch gegen die Funktionalität der Polizeiarbeit würde behaupten müssen, und – nimmt man Ernst, was die Briefe über die ästhetische Erziehung über die Autonomie dieses Raumes sagen – in einer Weise, von der letztlich offen bleiben muss, ob sie mit den Regulierungsabsichten der Policey übereinstimmt oder aber ob sie sich gegen diese auflehnt, empört, sich entzieht, etc. Was hier für die zentrale Figur im Stück gilt, die auf der einen Seite Teil der vorgeführten gouvernementalistischen Strategie ist, gleichzeitig aber als ›Privatmann‹ sich offen hält für einen andersartigen Möglichkeitsbereich im Rahmen ästhetischer Erfahrung, würde dann gleichermaßen auch für die Zuschauer gelten, die ja ihrerseits im realen Staat Gegenstand der Polizeimaßnahmen sind, also als Bürger den im Stück ausgebreiteten diversen disziplinarischen und pastoralen Steuerungsmechanismen unterliegen, von ihnen durchsetzt sind, ohne sich dagegen wehren zu können, weil diese Maßnahmen nicht als ihr ›Gegner‹ sichtbar werden, sondern sie

24 Ebd. 25 M. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 100.

60 | Anja Lemke

vielmehr als Individuen erst herstellen. Diese Zuschauer sehen in der ästhetischen Verdopplung der Disziplinarmaßnahmen der Policey auch den staatlichen Umgang mit sich selbst und es ist die Frage, ob sie in diesem Prozess der theatralen Inszenierung eine Erfahrung mit dem Schönen machen, dergestalt, dass die Ästhetisierung im autonomen Raum der Kunst auch Distanzierungsmöglichkeiten, neue Räume und neues Handlungspotential öffnet, mit dem von Schiller selbst nicht intendierten Risiko, dass an einem bestimmten Punkt ›wollen‹ und ›sollen‹ doch einmal auseinanderfallen. Um es abschließend noch einmal zusammenzufassen: Es greift zu kurz, wenn man Schillers Ästhetik nur in den gouvernementalistischen Tendenzen seiner Zeit aufgehen lässt, so sicher sein ästhetisches Programm an diesen partizipiert. Es lässt sich durchaus plausibel zeigen, wie Schillers ästhetisches Erziehungsmodell sich mit den Lenkungs- und Disziplinierungsbemühungen der modernen Staatsmacht deckt, wie sie exemplarisch in der Policey der Zeit verkörpert wird. Diese gouvernementalistische Tendenz wird aber innerhalb des ästhetischen Modells selbst, möglicherweise gegen Schillers eigene Absicht, immer wieder gebrochen und unterlaufen, weil sie sich nicht mit dem zweiten zentralen Moment dieser Ästhetik verträgt, nämlich dem Moment der Freiheit und der Autonomie. Ästhetische Erfahrung öffnet Möglichkeitsbereiche, erzeugt also immer wieder die Kontingenz, die die Ästhetik gleichzeitig zu kontrollieren und zu steuern trachtet. Schillers Texte sind deutlich darum bemüht, diese Kontrolle über die Kontingenz zu behalten, können aber nicht umhin, sie gleichwohl auch immer wieder im Akt der Kontrolle und der Steuerung neu zu produzieren, so dass sich die ständige Rede über Einheit und Harmonie paradoxerweise im Text selbst nie zu einer argumentativen Einheit rundet und zu einer festen Position findet – in diesem Sinne sei noch einmal betont, dass der Text über den geschlossenen Raum der Moderne im Sinne des Polizeistaats eben doch Fragment geblieben ist.

LITERATUR Gamper, Michael: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765-1930, München 2007.

Erziehungspolicey | 61

Hahn, Torsten: »Großstadt und Menschenmenge. Zur Verarbeitung gouvernementaler Data in Schillers Die Polizey«, in: Tina-Karen Pusse (Hg.): Rhetoriken des Verschwindens, Würzburg 2008, S. 121-134. Kant, Immanuel: Über Pädagogik, in: Ders.: Werkausgabe, hg. von W. Weischedel, Band XII, Frankfurt a.M., 1977, S. 691-761. Lemke, Anja: »Policía de la educación. Reflexiones sobre el fragmento inacabado del drama de Friedrich Schiller Die Polizey // Educational Police. Reflections on Friedrich Schiller’s Theatrical Fragment Die Polizey«, in: Democracia & Felix Trautmann (Hg.): »We protect you from yourselves« / «Os protegemos de vosotros mismos«, Madrid: Brumaria 2018 Luckner, Andreas: «Erziehung zur Freiheit. Immanuel Kant und die Pädagogik«, in: Pädagogik 55, 7-8 (Juli/August 2003), S. 72-76. Schiller, Friedrich: Die Polizey, in: Ders.: Werke und Briefe, hg. von Herbert Kraft und Mirjam Springer, Bd. 10: Dramatischer Nachlass, Frankfurt am Main: DKV 2004, S. 85-102. Schiller, Friedrich: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. V: Erzählungen. Theoretische Schriften, Darmstadt 1993. Schiller, Friedrich: Brief an den Augustenburger, 13. Juli 1793, Frankfurter Ausgabe, hg. von Rolf-Peter Janz, Bd. 8, S. 504. Schiller, Friedrich: Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 5, 21. Brief, S. 635. Vogl, Joseph: »Staatsbegehren. Zur Epoche der Policey«, in: DVjs Jg.74, 2000, Bd. 73, S. 600-626.

Romantisches Üben Die Lehrlinge zu Sais von Novalis Philipp Weber

Die literarische Entfaltung von Bildung und Erziehung ereignet sich in der Epoche der Romantik vorrangig in Form des Romans, insbesondere des Bildungsromans.1 Hierbei ist die im Bildungsroman verhandelte Art des Zusammengangs von Form und Leben von großer Relevanz. Mit dem Roman nämlich, so der Anspruch seiner Theorien der Zeit, gelangt das Leben zu der ihm angemessenen Form und mit dem Leben findet der moderne Roman sein wesentliches Thema.2 So beabsichtigt der moderne Roman ausdrücklich die ›naturgemäße‹ Darstellung des Lebens oder um Novalis’ bekanntes Wort aufzugreifen: »Ein Roman ist ein Leben, als Buch«.3 Der

1

Das Konzept der Bildung als »etwas zugleich Höheres und mehr Innerliches« wurde im deutschsprachigen Raum nachhaltig von Wilhelm von Humboldt geprägt (vgl. von Humboldt, Wilhelm: »Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (1830-1835)«, in: Ders.: Werke, Bd. 3: Schriften zur Sprachphilosophie, hg.v. Andreas Flitner/Klaus Giel, Darmstadt 2010, S. 368-756, hier: S. 401). Vgl. hierzu auch: Bosse, Heinrich: Bildungsrevolution 1770–1830, Heidelberg 2012.

2

Vgl. hierzu ausführlich Campe, Rüdiger: »Form und Leben in der Theorie des Romans«, in: Armen Avanessian u.a. (Hg.): Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Berlin/Zürich 2009, S. 193-211, hier: S. 196f.

3

Novalis: Teplitzer Fragmente, in: Ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Stuttgart 1960-1977

64 | Philipp Weber

Bildungsroman erzählt in immer wieder neuen und aneinander sich ausbildenden Ansätzen die Geschichte des gelingenden Lebens aus einer bürgerlichen Perspektive.4 Die Frühromantik zeigt sich zunächst begeistert von der Konzeption des Bildungsromans (wobei der Begriff freilich erst später geprägt wird), für die in der Zeit Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre aus dem Jahr 1795 paradigmatischen Rang besitzt. Doch diese Begeisterung schlägt bald um, denn die Frühromantiker, namentlich Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg (genannt Novalis), registrieren die immanenten sowohl konzeptuellen als auch inhaltlichen Aporien des Zusammenschlusses von Form und Leben im Roman.5 Dies veranlasst die Romantiker

[= HKA], Bd. 2, im Folgenden werden Nachweise aus dieser Ausgabe unter Angabe der Bandnummer und Seitenzahl direkt im Text angegeben, S. 596-622, hier: S. 599. 4

Den impliziten Fokus aufs private, bürgerliche Glück hat Hegel wie folgt kommentiert: »Nun gilt es, ein Loch in diese Ordnung der Dinge hineinzustoßen, die Welt zu verändern, zu verbessern oder ihr zum Trotz sich wenigstens einen Himmel auf Erden herauszuschneiden: das Mädchen, wie es sein soll sich zu suchen, es zu finden und es nun den schlimmen Verwandten oder sonstigen Mißverhältnissen abzugewinnen, abzuerobern und abzutrotzen. Diese Kämpfe nun aber sind in der modernen Welt nichts Weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn« (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik II, in: Ders.: Werkausgabe, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1970, Bd. II, S. 220). Zum Verhältnis von Roman und Subjektivität vgl. Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes, hg. von Rainer Grübel, Frankfurt a.M. 1979; von Graevenitz, Gerhart: Die Setzung des Subjekts. Untersuchungen zur Romantheorie, Tübingen 1973; Szondi, Peter: Poetik und Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1974.

5

Die Begeisterung zeigt sich zunächst in Schlegels Rezension Über Goethes Meister (vgl. Schlegel, Friedrich: Über Goethes Meister, in: Ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. Ernst Behler, München 1967, Bd. 2, S. 126147, im Folgenden werden Nachweise aus dieser Ausgabe unter Angabe der Bandnummer und Seitenzahl direkt im Text angegeben). Der Umschlag hingegen zeigt sich in den Worten von Novalis aus seinem Brief an Ludwig Tieck: »Wenn die Litt[eratur] Zeit[ung] nicht so jämmerlich wäre, so hätt ich Lust gehabt eine Recension von Wilh[elm] Meist[ers] L[ehrjahren] einzuschicken – die

Romantisches Üben | 65

wiederum zu eigenen dichterischen Entwürfen, die sich vor allem an den bemerkten Aporien abarbeiten und dazu abweichende und gegensätzliche Narrative und Formentscheidungen erproben: So etwa Schlegels Romanfragment Lucinde, Novalis’ Fragment gebliebener Roman Heinrich von Ofterdingen und sein früherer, ebenfalls Fragment gebliebener Roman Die Lehrlinge zu Sais, der hier im Zentrum stehen soll.6 Die Kontraste der romantischen Romane zum Bildungsroman im Stile Goethes sind deutlich und zeichnen sich durch einen dreifachen Verzicht aus: den Verzicht auf nur ein einzelnes Bildungssubjekt, auf ein lineares Narrativ und schließlich auf ein sukzessives Bildungsmodell. Mit diesem dreifachen Verzicht unternimmt es der romantische Roman, den Zusammenhang von Leben, Form und Bildung in neuartiger Weise zu denken. Der Romanentwurf der Lehrlinge zu Sais bildet sich dergestalt nicht in der linearen Abfolge von Glück und Niederlage, dem ›Kassensturz‹ des Erlebten oder dergleichen aus, sondern er erprobt Alternativen, welche in besonderer Weise das Thema der Subjektivität adressieren. In der Forschung finden sich bereits unterschiedliche Ansätze, die Struktur, Aufbau und Inhalt des Romanfragments von Novalis zu systematisieren suchen.7 Im Folgenden soll dieser systematisierende und gesamtbetrachtende Zugriff jedoch in den Hintergrund treten, um die im Werk programmierte Bildungslehre in den Fokus zu rücken.8 Thematisch im Zent-

freylich das völlige Gegenstück zu Fridrichs Aufsatze sey[n]? würde. Soviel ich auch aus Meister gelernt habe und noch lerne, so odiös ist doch im Grunde das ganze Buch« (Novalis, Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse [= HKA IV], S. 323). Vgl. dazu auch Behler, Ernst: »Goethes Wilhelm Meister und die Romantheorie der Frühromantik«, in: Ders.: Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie 2, Paderborn u.a. 1993, S. 157-172. 6

D.i. Novalis: Die Lehrlinge zu Sais, in: HKA I, S. 79-112.

7

Siehe dazu den ausführlichen Überblick bei Uerlings, Herbert: Friedrich Hardenberg, genannt Novalis, Stuttgart 1991, S. 354ff.

8

Der Bildungslehre, die der Roman vorstellt, wird in der Forschung meist mit dem Verweis auf Modelle einer ›mystischen‹ Tradition versucht beizukommen. Vernachlässigt werden dabei die inhaltlichen sowie formalen Hinweise auf Praktiken, die der Text gibt bzw. selbst unternimmt. Damit wendet sich die folgende Argumentation von der in der Forschung ebenfalls gängigen Interpretation der Lehrlinge als Fortsetzung einer mystischen Emanationslehre im Sinne

66 | Philipp Weber

rum des zweiten Teils des Romanfragments steht nämlich eine romantische Bildungslehre, die selbst performativ im Text Anwendung findet und einen veränderten und erweiterten Selbstbezug präsentiert. Der Text stellt also nicht nur inhaltlich eine eigenständige Bildungslehre vor, er praktiziert sie darüber hinaus im Vorgang des Lesens mit den lesenden Rezipientinnen und Rezipienten. Übend soll sich hierbei inner- und außertextliche Subjektivität in einem prozessierenden und dynamischen Selbstbezug ausbilden. Will man das Bildungsmodell des Romanfragments, das dieses artikuliert, in seinem rigorosen poetischen und reflexiven Anspruch angemessen nachvollziehen, erweist sich die genaue Lektüre dieser Lehranweisung als unerlässlich.

TECHNIKEN DES SELBST Um sich den Konzepten der Bildung und der Übung in der angesprochenen Weise anzunähern, ist der Umweg über ein weiteres Konzept hilfreich, nämlich das der sogenannten Selbsttechnik. Der Terminus der Selbsttechnik ist hierbei im Sinne Michel Foucaults verstanden, wie er sich in dessen späten Schriften findet.9 Foucault verweist mit seiner Konzeption auf den

Plotins ab. So etwa zu finden bei Uerlings: »Plotin wird zum Kronzeugen für die Möglichkeit eines Weges in eine intelligible Welt, aus der die ganze Natur im geistig-seelischen Zusammenhang der in ihr wirksamen Kräfte und formenden Ideen begriffen und abgeleitet werden kann«. In: H. Uerlings: Novalis, S. 368. Der von Uerlings im Naturroman registrierten »Naturerkenntnis durch schöpferischen Nachvollzug in symbolischer Konstruktion« folgt die Argumentation hingegen, verzichtet dabei jedoch auf den ganzheitlichen Anspruch, den Uerlings unterstellt (ebd.). Vgl. zum Thema der Bildung in jüngster Zeit: Bettine Menke/Thomas Glaser (Hg.): Experimentalanordnungen der Bildung. Exteriorität – Theatralität – Literarizität, Paderborn 2014. 9

Vgl. dazu etwa Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M., 1983; Ders.: Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt a.M. 1986; Ders.: Die Sorge um sich, Frankfurt a.M. 1986; Ders.: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt a.M. 2007. Für eine Anwendung auf das Thema der Bildung vgl. auch: Menke, Bettine/Glaser,Thomas: Experimentalanordnungen der Bildung.

Romantisches Üben | 67

Umstand, dass Subjektivität sich historisch niemals völlig autonom und souverän selbst zu entwerfen vermag, sondern sich stattdessen in soziale und gouvernmentale Kontexte immer schon eingebunden findet, die im Gegenzug selbst formend und gestaltend auf sie einwirken. Damit widerspricht er nicht nur einer gängigen Lesart, sondern auch dem alltäglichen Selbstverständnis von Subjektivität. Nicht also ist die Vorstellung eines souveränen und autonomen Subjekts für Foucault von primärem Interesse, sondern das Subjekt ist beim ihm verstanden als eines, das Schemata einübt, mit denen es sich geltenden Herrschaftsstrukturen unterwirft.10 Die Technologien des Selbst wiederum versteht Foucault als residuale Möglichkeiten einer souveränen Lebenskunst. Es werden dazu die Prozesse und Techniken adressiert, mit denen das Selbst Sorge für das eigene Leben trägt, »die Wahl einer Lebensform, die Regulierung des eigenen Verhaltens, die Selbstzuweisung von Zielen und Mitteln«.11 Im Anschluss an die Überlegungen Foucaults fragt Christoph Menke danach, welche Möglichkeiten das Üben bietet, um einen veränderten Selbstbezug, d.h. einen Bezug jenseits von geltenden Herrschaftspraktiken, zu etablieren. Menke definiert die Praktiken der Übung dazu als »Medien der Herstellung und Erweiterung eines Selbstbezugs, Medien der Subjektivierung«.12 Dieser Selbstbezug folgt einer »Bewegung der Selbstüberschreitung«; das Ich verlässt dabei die gewohnte Subjektivierungsform, hinein in eine »ästhetische[] Freiheit«, in der es sich als ein Anderes erfährt.13 So findet im ästhetischen Zustand zunächst ein freies Wirken von

Exteriorität – Theatralität – Literarizität. Ein Aufriss, in: Dies. (Hg.): Experimentalanordnungen der Bildung, S. 7-25. 10 Vgl. Foucault, Michel: »Subjekt und Macht.« In: Ders.: Ästhetik der Existenz, S. 81-104, hier: S. 86. 11 Foucault, Michel: »Subjektivität und Wahrheit.« In: Ders.: Ästhetik der Existenz, S. 74-80, hier: S. 76. Es sei zumindest erwähnt, dass Foucault solche Praktiken historisch in der Antike realisiert sieht und diese den späteren, christlich geprägten Verhaltenskodizes gegenüberstellt. 12 Menke, Christoph: »Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz.« In: Axel Honneth/Martin Saar (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption: Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt a.M. 2004, S. 283-299, hier: S. 288. 13 Ebd., S. 298.

68 | Philipp Weber

Kräften statt, welches die soziale Praxis zu einem gewissen Maße aussetzen lässt: »Die ästhetische Erfahrung ist, daß es Freiheit von der praktischen Freiheit gibt, die nicht Unterwerfung unter fremde Übermacht ist, weil sie Freigabe zu einer anderen Entfaltung der eignen Kräfte ist«.14 Nur in Differenz zum Ich erfährt das Ich sich in Absehung der ihn bestimmenden Praktiken. Diese Freiheit bietet die Option der Über- oder besser ›Unterschreitung‹ des eingewöhnten Selbstbezugs und realisiert sich in der Weise als eine ästhetische Freiheit. Dies passiert in gewisser Weise unwillkürlich (also ›hinter dem Rücken‹ des Subjekts) und macht eine spielerische und nicht-intentionale Erfahrung aus. Diese nicht-intentionale Seite von Subjektivität ist in der Übung zur Handlung aufgefordert, denn »nur wer sich dem Zufall, dem lebendigen Spiel der Kräfte aussetzt, dem kann in seinem Handeln etwas wahrhaft glücken«.15 Menke zufolge kann ein Subjekt in der Übung sein gewöhnliches Handlungsschema verlassen, um sich in Differenz zu sich selbst zu erfahren: »Sich zu üben heißt, ein anderer zu werden«.16 Die Übung steht damit nicht länger unter der Ägide disziplinarischer Selbstverwaltung, sondern macht vielmehr ihr Gegenteil aus; sie ist freiheitlicher und spielerischer Umgang mit dem eigenen Selbst. Aus einer machtanalytischen Perspektive mag sich nun der Einwand ergeben, dass solche Praxis wiederum nur eine Spielart der Gouvernmentalität (und dazu womöglich gar eine umso perfidere) sei, doch Menke insistiert dagegen auf jenes Potenzial des Subjekts, welches die Erfahrung der eigenen Negativität (als der originären Wirkkraft des Geistes) ausmacht – als »Grund wie Abgrund seiner Subjektivität«.17 Indem das Subjekt sich in der Übung nicht länger als souveräne Instanz seiner selbst erfährt, sondern umgekehrt der innerste und unveräußerliche

14 Menke, Christoph: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 2008, S. 129. Kraft versteht Menke dabei als ein dialektisches Gegenmoment zu den menschlichen Vermögen, wobei erstere sich durch ästhetische Qualitäten auszeichnet, da sie »nicht wie ein Vermögen in Praktiken ausgeübt wird, sondern die sich verwirklicht; die nichts wiedererkennt und nichts repräsentiert, weil sie ›dunkel‹, unbewußt ist; einer Kraft nicht des Subjekts, sondern des Menschen im Unterschied zu sich selbst« (ebd., S. 9) 15 Ebd., S. 128. 16 Chr. Menke: »Zweierlei Übung«, S. 298. 17 Ebd., S. 68.

Romantisches Üben | 69

Kern der Negativität als Voraussetzung für jeden Selbstbezug begriffen werden kann, weiß es doch um die Möglichkeit einer freiheitlichen Entfaltung und Selbstgestaltung. Das bedeutet noch keine vollkommene Befreiung aus sämtlichen Herrschaftskontexten; will man aber die Möglichkeit eines Selbstbezugs jenseits einer Logik der Herrschaft irgend gelten lassen, so ist die Erfahrung der Negativität im Selbstbezug der hierfür einzig gangbare Weg. In der Hingabe an die spielerischen Prozesse in der Übung gelingt »ein Rückgang von der übend gebildeten Subjektivität in das Spiel dunkler Kräfte, aus dem und gegen das sie sich übend gebildet hat«.18 Begreift man die Übung in diesem Sinne als eine dialektische Erfahrung in Bezug auf das Selbst, d.h. sowohl in der Form eines autonomen Selbstbezugs als auch in der Erfahrung des Ich im Unterschied zu sich selbst, so erlaubt dies einen veränderten Zugriff auf das Konzept der Bildung: In der Übung, so lässt sich nunmehr folgern, bildet das Selbst sich im Rückbezug auf die Erfahrung der eigenen Freiheit aus, d.h. in der Erfahrung der Negativität als Voraussetzung des eigenen Ich. Abseits von gewohnten Herrschaftspraktiken bildet sich ein Subjekt als selbstbestimmt, wenn es neben jenem intentionalen Selbstbezug den Modus einer Selbstdifferenz bestehen lässt. Ein solches Modell von Bildung widerspricht rigoros jeder disziplinarischen und eingeübten Form von Bildung; sie ist im Gegenteil individuelle Befreiung von der eingewöhnten Bildung, welche üblicherweise durch die harmonische und sukzessive Akkumulation von Wissen und Erfahrung definiert ist. Kurz gefasst, es wäre Übung gegen das Eingeübte – oder Bildung gegen das Eingebildete. Zur besseren Unterscheidung von den vorherrschenden Formen werden diese reflexiven und antagonistischen Formen im Folgenden ›romantische‹ Bildung oder Übung genannt. Den Bezug zur Romantik rechtfertigt deren intensive Auseinandersetzung mit der Thematik, wie sie sich vor allem in den subjektphilosophischen Schriften der Frühromantik (im Hinblick auf die nicht-intentionale Seite von Subjektivität) finden lässt.19 Als Beispiel einer solchen intensiven Selbstthematisierung soll im Folgenden das Romanfragment Die Lehrlinge zu Sais im Zentrum stehen. Denn der Text von

18 Ebd., S. 69f. 19 Ausführlich wird dies in den Fichte-Studien thematisiert, vgl. Novalis: Philosophische Studien der Jahre 1795/96 (Fichte-Studien), in: HKA II, S. 104–296, bes. S. 105-127.

70 | Philipp Weber

Novalis artikuliert nicht nur eine eigene Übungslehre, er weist außerdem noch eine reflexive Poetik auf, in der sich performativ solche Übung vollzieht; die also die lesenden Rezipientinnen und Rezipienten immer schon teilhaben lässt an einer romantischen Form der Übung.

SPIEL DER AUFMERKSAMKEIT Der als Roman angelegte, Fragment gebliebene Text Die Lehrlinge zu Sais von Novalis wurde im Laufe des Jahres 1798 verfasst und verhandelt thematisch das Verhältnis von Natur- und Selbsterkenntnis.20 Entscheidend für den zeitlichen Entstehungskontext ist der Beginn der Freiberger Studien und des Enzyklopädie-Projekts, welches einen Nexus sämtlicher Wissenschaften anstrebt.21 Naturphilosophische Motive ebenso wie stilistische Innovationen prägen das Fragment, das darin sein hauptsächliches Kontrastmoment zur Poetik des Bildungsromans besitzt. Es begegnet mit den Lehrlingen zu Sais dergestalt ein Romanfragment, in dem mehrere Figur- und Sprecherinstanzen auftreten, deren Aussagen sich überlagern, reflektieren und einander widerstreiten. Die Gattung des Textes wird von Novalis als »ein ächt sinnbildlicher Naturroman« bezeichnet, die spezifische Naturkonzeption dient der formalen Organisation des Textes und ist zugleich narrativer Gegenstand.22 Die Gesprächsanordnung, die das Romanfragment wesentlich prägt, lässt sich als eine prismatisch vernetzte fassen, in welcher die einzelnen Aussagen sich verschalten und aufeinander verweisen. Dabei leitet keine

20 Vgl. zur Entstehungsgeschichte Kluckhohn, Paul/Samuel, Richard: »Einleitung der Herausgeber«, in: HKA I, S. 71-78. 21 Vgl. Novalis: Freiberger naturwissenschaftliche Studien 1798/99, in: HKA III, S. 3-203; Ders.: Das Allgemeine Brouillon (Materialien zur Enzyklopädistik 1798/99), in: Ebd. S. 207-478. Für eine Rekonstruktion der romantischen Enzyklopädie-Idee vgl. Hansen, Erk F.: Wissenschaftswahrnehmung und -umsetzung im Kontext der deutschen Frühromantik. Zeitgenössische Naturwissenschaft und Philosophie im Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis),
Frankfurt a.M. 1992; Maatsch, Jonas: »Naturgeschichte der Philosopheme«. Frühromantische Wissensordnungen im Kontext, Heidelberg 2008. 22 HKA IV, S. 323.

Romantisches Üben | 71

dominierende Erzählinstanz das Geschehen, sondern ein Stimmenpluralismus verwaltet den Gang der Erzählung.23Auch die Kapiteleinteilung erweist sich als ungewöhnlich für die Poetik des Bildungsromans, so macht das erste Kapitel »Der Lehrling« zwar noch die Bildungserfahrung eines einzelnen Subjekts aus, nachstehend schließt aber das Kapitel »die Natur« an, welches wiederum eine inhärente Ablösung der Erzählinstanz zur Folge hat.24 Die späteren Erzählinstanzen sabotieren jede eindeutige Identifizierungsoption, vielmehr geht es darum, vermeintliche Subjektivitätszuordnungen auf die Probe zu stellen und Gegenmodelle zu inszenieren. Das Romanfragment thematisiert im zweiten Kapitel fürderhin eine »Theorie der Natur«, die noch auf die Bildungskonzeption des gesamten Werks sich auswirkt.25 Bietet der Bildungsroman im Stile Goethes den vermeintlich gelungenen Zusammenschluss von Form und Leben, unternimmt der Naturroman von Novalis dazu einen programmatischen Gegenentwurf.26 Damit ist keiner Absetzung des reflexiven Subjekts das Wort geredet, vielmehr thematisiert und reflektiert das Romanfragment nachstehend den ontologischen Bruch, den moderne Subjektivität erfährt und der sie wesentlich ausmacht.27

23 Für eine ausführliche Analyse der Erzählstruktur, die jedoch selbst einräumen muss, letztlich unvollständig zu bleiben, vgl. Neubauer, John: Bifocal Vision. Novalis' Philosophy of Nature and Disease, Chapel Hill 1971, S. 113-127. Vgl. außerdem dazu: Daiber, Jürgen: Experimentalphysik des Geistes. Novalis und das romantische Experiment. Göttingen 2001; Kreuzer, Ingrid: »Novalis’ ›Die Lehrlinge zu Sais‹«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft (23) 1979, S. 276-308. Kreuzer konstatiert dabei eine »abstrakte Erzählkondition«, die »alles direkt Erzählte, was Handlung konstituieren würde, mit allen Mitteln aus[spare]« (ebd., S. 306). 24 HKA I, S. 79ff. 25 Ebd., S. 101. 26 Zu den anthropologischen Konsequenzen dieses Gegenentwurfs vgl.: Wellbery, David: »Die Enden des Menschen. Anthropologie und Einbildungskraft im Bildungsroman (Wieland, Goethe, Novalis)«, in: Karl Heinz Stierle (Hg.): Das Ende, Poetik und Hermeneutik XVI, München: Fink 1996, S. 600-639. 27 Manfred Frank spricht diesbezüglich von einem »romantischen Bruch« der Subjektivität (Frank, Manfred: »Das ›fragmentarische Universum‹ der Romantik«, in: Christiaan Lucas/Hart Nibbrig/Lucien Dällenbach (Hg.): Fragment und Tota-

72 | Philipp Weber

Im Text Die Lehrlinge zu Sais werden nacheinander stehend verschiedene Lehrmeinungen vorgetragen, die je in individueller Weise eine Theorie der Natur und der romantischen Bildung programmieren. Zu Beginn des zweiten Teils des Romanfragments wird die Übung eingeführt: »Es mag lange gedauert haben, ehe die Menschen darauf dachten, die mannichfachen Gegenstände ihrer Sinne mit einem gemeinschaftlichen Namen zu bezeichnen und sich entgegen zu setzen. Durch Uebung werden Entwickelungen befördert, und in allen Entwickelungen gehen Theilungen, Zergliederungen vor, die man bequem mit den Brechungen des Lichtstrahls vergleichen kann. So hat sich auch nur allmählich unser Innres in so mannichfaltige Kräfte zerspaltet, und mit fortdauernder Uebung wird auch diese Zerspaltung zunehmen. Vielleicht ist es nur krankhafte Anlage der späteren Menschen, wenn sie das Vermögen verlieren, diese zerstreuten Farben ihres Geistes wieder zu vermischen und nach Belieben den alten einfachen Naturstand herzustellen, oder neue, mannichfaltige Verbindungen unter ihnen zu bewirken.«28

In der kulturellen Entwicklung des Menschen stellt die Übung ein spätes Produkt dar. Die »späteren Menschen«, von denen die Rede ist, verfügen über kein einheitliches, naives und vormodernes Ich mehr und sind stattdessen vor die Wahl gestellt, entweder noch einmal zu versuchen, »den alten einfachen Naturstand herzustellen« oder aber »neue, mannichfaltige Verbindungen« im Innern zu erzeugen. Die Spaltung der Einheit des Ich ist

lität, Frankfurt a.M. 1984, S. 212-224, hier: S. 215). Der in der Forschung immer noch gängigen Annahme, im Tempel zu Sais ereigne sich eine nicht näher bestimmbare »›mystische Einheit‹ des höheren Ich« (hier etwa bei Mähl, Hans-Joachim: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis: Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Heidelberg 1965, S. 361), soll im Folgenden widersprochen werden. Zum Thema der Subjektivität in der Romantik, vgl. auch: Frank, Manfred: Das Problem ›Zeit‹ in der deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung, Paderborn 1990; Ders., Unendliche Annäherung; Rehme-Iffert, Birgit: Skepsis und Enthusiasmus. Friedrich Schlegels philosophischer Grundgedanke zwischen 1796 und 1805, Würzburg 2001. 28 HKA I, S. 82f.

Romantisches Üben | 73

Voraussetzung wiederum für die Möglichkeit der Übung, die indessen »Entwickelungen« von »Theilungen« und »Zergliederungen« bewirkt, »die man bequem mit den Brechungen des Lichtstrahls vergleichen kann«.29 Die Übung verursacht also weitere Teilungen und Differenzierungen, die nicht nur »die mannichfachen Gegenstände ihrer Sinne« betreffen, sondern auch zurückwirken auf das »Innre« des Subjekts, das »in so mannichfaltige Kräfte zerspaltet« wird. In der fortdauernden Übung nimmt diese »Zerspaltung« gar noch zu. Die Übung ist in den Lehrlingen zu Sais damit konzipiert als ein kulturelles Produkt, das vom disziplinierten, d.h. nicht mehr einheitlichen Subjekt hervorgebracht worden ist und den Prozess von Zerspaltung und Differenzierung (von Gegenständen der Anschauung wie des eigenen Selbst) begleitet. Die Zerspaltungen des Ich erzeugen eine Tiefenproduktion, welche ein reflexives Bewusstsein zur Voraussetzung hat: »Es ist ein geheimnißvoller Zug nach allen Seiten in unserm Innern, aus einem unendlich tiefen Mittelpunkt sich rings verbreitend«.30 Der Naturroman präsentiert die Übung gerade nicht als ein verwerfliches Produkt einer kulturellen Fehlentwicklung; im Gegenteil wird darin ein noch zu entdeckendes Potenzial ausgemacht. Das betrifft zunächst die menschliche Wahrnehmung: »Auf alles, was der Mensch vornimmt, muß er seine ungetheilte Aufmerksamkeit oder sein Ich richten, sagte endlich der Eine, und wenn er dieses gethan hat, so entstehn bald Gedanken, oder eine neuen Art von Wahrnehmungen, die nichts als zarte Bewegungen eines färbenden oder klappernden Stifts, oder wunderliche Zusammenziehungen und Figurationen einer elastischen Flüssigkeit zu seyn scheinen. Sie ver-

29 Die hier formulierte Spaltung des Ich findet sich in Novalis’ Fichte-Studien eingehend thematisiert. Sie macht den wesentlichen Inhalt seiner ordo inversusLehre aus, die sich mit dem Gegensatz von Gefühl und Reflexion im Ich auseinandersetzt. Vgl. dazu Novalis: Philosophische Studien der Jahre 1795/96 (Fichte-Studien), in: HKA II, S. 104-296 sowie Frank, Manfred/Kurz, Gerhard: »Ordo inversus. Zu einer Reflexionsfigur bei Novalis, Hölderlin, Kleist und Kafka«, in: Herbert Anton u.a. (Hg.): Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel, Heidelberg 1977, S. 75-92. 30 HKA I, S. 85.

74 | Philipp Weber

breiten sich von dem Punkte, wo er den Eindruck fest stach, nach allen Seiten mit lebendiger Beweglichkeit, und nehmen sein Ich mit fort.«31

Die romantische Wahrnehmungstechnik ist beschrieben als eine der »ungetheilte[n] Aufmerksamkeit«, die zur Gedanken- und Wahrnehmungsproduktion dienen kann. Sie soll einen dezidierten Kategorienverlust im Menschen initiieren, denn sie »nehmen sein Ich mit fort«. Dies impliziert keine jubilatorische Verabschiedung des subjekthaften Menschen, stattdessen kann er »dieses Spiel oft gleich wieder vernichten, indem er seine Aufmerksamkeit wieder theilt oder nach Willkühr herumschweifen läßt«.32 Was die »Strahlen und Wirkungen« des Spiels der Aufmerksamkeit derweil zu erreichen vermögen, ist eine Erregung des »Ich nach allen Seiten«.33 In der Übung lernt das Subjekt ein »elastische[s] Medium« auszubilden, das neuartige Relationen mit den Objekten seiner Aufmerksamkeit ausgestaltet.34 Was damit in Aussicht gestellt wird, ist ein spielerischer und mimetischer Nexus von Subjekt und Objekt, mit dem das Ich in Differenz zu sich selbst tritt. Wesentliches Merkmal der Programmatik dieser romantischen Übungslehre ist das ›Spielerisch-Werden‹ der Aufmerksamkeit, durch welches das Ich sich in einem differenten existenziellen Modus erfährt, der als ein ästhetischer verstanden werden kann.35 Dieser Modus stellt eine eigene Erkennt-

31 Ebd., S. 96f. 32 Ebd., S. 97. 33 Ebd. 34 HKA I, S. 97. Das »elastische Medium« versteht Nicolas Pethes im Sinne szientifischer Prozessualität, womit wiederum auf den Gedanken der Autopoiesis verweisen ist (vgl. Pethes, Nicolas: »›In jenem elastischen Medium‹. Der Topos ›Prozessualität‹ in der Rhetorik der Wissenschaften seit 1800 (Novalis, Goethe, Bernard)«, in: Jürgen Fohrmann (Hg.): Rhetorik. Germanistische Symposien Berichtsbände, Stuttgart 2004, S. 131-151. 35 Vgl. zu den Aspekten des Zufälligen, die das ›Spielerisch-Werden‹ der Aufmerksamkeit impliziert Bomski, Franziska: »Zwischen Mathematik und Märchen. Die Darstellung des Zufalls und ihre erkenntnistheoretische Funktion bei Novalis«, in: Astrid Bauereisen u.a. (Hg.): Kunst und Wissen. Beziehungen zwischen Ästhetik und Erkenntnistheorie im 18. und 19. Jahrhundert, Würzburg 2009, S. 163-192; Weber, Philipp: »Sonderbare Conjuncturen des Zufalls. Zu

Romantisches Üben | 75

nisfunktion vor, die zugleich auf die wortgeschichtliche Herkunft des ›Ästhetischen‹ (d.i. Αἴσθησις als das wahrnehmende Erkennen) verweist und dem Ich eine abweichende Selbsterfahrung an die Seite stellt.

DAS ANDERE DER NATUR Die romantische Übungslehre bleibt aber nicht bei der alleinigen Sensation eines Objekts stehen, sondern will von hier aus auf den gesamten Prozess der Gedankenbildung wirken: »Es ließe sich jedoch auch denken, daß wir überhaupt erst uns mannichfach im Denken müßten geübt haben, ehe wir uns an dem innern Zusammenhang unsers Körpers versuchen und seinen Verstand zum Verständniß der Natur gebrauchen könnten, und da wäre freylich nichts natürlicher, als alle möglichen Bewegungen des Denkens hervorzubringen und eine Fertigkeit in diesem Geschäft, so wie eine Leichtigkeit zu erwerben, von Einer zur Andern überzugehen und sie mannichfach zu verbinden und zu zerlegen.«36

Es soll eine »Leichtigkeit« antrainiert werden, mit der zwischen den einzelnen Gedanken hin- und herzuwechseln ist, um diese in Wechselwirkung zueinander treten zu lassen. Bemerkenswert ist dabei die Bezugnahme auf den eigenen »Körper«, der als Ort eines »innern Zusammenhang[s]« verstanden ist – und damit als Organismus37 – und dem ein eigener »Verstand«

Natur und Bildung bei Friedrich Schiller und Novalis«, in: Athenäum 23 (2013), S. 155-166. Die Funktion des Zufalls kann hier nicht eigens thematisiert werden; der Kontrast etwa zum Modell Schillers (und dessen Freiheitskonzeption) ließe sich aber insbesondere hieran verdeutlichen. 36 Ebd., S. 98. 37 Der Organismus ist eines der zentralen Konzepte, mit denen die Romantik den Zusammenhang von Form und Leben zu erfassen sucht. Zum romantischen Konzept des Organismus vgl. die Ausführungen Schlegels in seinem Gespräch über die Poesie Schlegel, Friedrich: Das Gespräch über die Poesie, in: KFSA 2, S. 284-351, hier: S. 337. Vgl. auch: Blümle, Claudia/Schäfer, Armin: »Organismus und Kunstwerk. Zur Einführung«, in: Dies. (Hg.): Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaft, Berlin/Zürich 2007, S. 9-25.

76 | Philipp Weber

zugesprochen wird:38 Die unwillkürlichen Bewegungen und Kraftanstrengungen, die dem Körper eigen sind und die sich als »natürliche« fortlaufend an und in ihm verwirklichen, sollen als Anleitung dienen, um in der Weise »Bewegungen des Denkens hervorzubringen«. Der Körper soll vom Geist als ein freiheitlicher Entwurf seiner selbst verstanden werden, weil an und in ihm natürliche, unwillkürliche Bewegungen statthaben und er dennoch materieller ›Träger‹ des Subjekts ist. Eine Hingabe an unwillkürliche geistige Kräfte ist bei Novalis zusammengedacht mit den Kräften und Bewegungen, die der Körper hervorbringt. Er stellt keinen Antagonismus zum Geist dar, sondern ist leibliches Beispiel anderer Kraftentfaltung, die doch dem Ich zuzurechnen ist und ohne die es nicht Ich wäre. Es ist damit nicht nur der Körper als ein Träger unwillkürlicher und dennoch eigenaktiver Bewegungen verstanden, sondern mehr noch sollen diese in den gedanklichen Vollzug integriert werden. Der spielerische Umgang, der die romantische Übung auszeichnet, beginnt somit bei der Wahrnehmung und der Aufmerksamkeit, fokussiert daneben die Funktionsweise des Körpers und versucht schließlich, hiervon Rückschlüsse auf die Möglichkeiten und Potenziale des Denkens zu ziehen. Ein solcher spielerischer Selbstentwurf sollte indes nicht als ein Vorbote jener späteren »Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen« verstanden werden, wie Gilles Deleuze die spätkapitalistischen, noch immer gegenwärtigen Kontrollgesellschaften bestimmt.39 Zunächst scheint eine gewisse thematische Nähe zur Erziehungs- und Bildungslehre der Zeit um 1800 tatsächlich zu bestehen: So hat Anja Lemke in Bezug auf Friedrich Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen bereits darauf hingewiesen, dass ein solcher freiheitlicher und spielerischer Umgang mit dem Selbst wiederum als Indiz für »Produktivitätssteigerung des Gesellschaftlichen Ganzen« verstanden werden kann, wie sie »die gegenwärtigen Kon-

38 Ein solch positives, ›synthetisches‹ Konzept des Verstandes wird von Friedrich Schlegel erstmals theoretisch ausformuliert und der kantischen Vernunftauffassung gegenübergestellt (vgl. KFSA 12, S. 5ff.). 39 Deleuze, Gilles: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaft«, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 2010, S. 11-17, hier: S. 12

Romantisches Üben | 77

trollgesellschaften« auszeichnet.40 Sie sieht dafür die »verführerische Verbindung von kreativer Freiheit und der ästhetischen Erschließung von Möglichkeitsbereichen auf der einen und ihrer störungsfreien Verwertbarkeit auf der anderen Seite« als maßgeblich an.41 Wenngleich wohl die Bildungslehre Schillers (wie auch die der Romantik) Effekte erzeugen mag, die in der Gegenwart vom unternehmerischen Selbst erneut zum Einsatz kommen, so bleibt wenigstens zu bemerken, dass die so grundlegende wie abgründige Freiheitserfahrung, die im Zentrum der Schriften steht, wenig mit der späteren (markt-)liberalen gemein hat. Und auch die Erfahrung eines »ganzen Menschen«42 im ästhetischen Spiel, wie sie bei Schiller programmatisch sich findet und von der auch der Text von Novalis sicher beeindruckt ist, erweist sich als inkompatibel mit jenem »Identitätszwang [...] zum NichtIdentischen«, der die kapitalistische Gegenwart auszeichnet.43 Durch den praktischen Vollzug der erlernten, romantischen Selbsttechniken wird schließlich die Möglichkeit in Aussicht gestellt, über das bloße Erkennen von Strukturen hinaus eigene Formationen spielerisch zu erzeugen: »Zu dem Ende müßte man alle Eindrücke aufmerksam betrachten, das dadurch entstehende Gedankenspiel ebenfalls genau bemercken, und sollten dadurch abermals neue Gedanken entstehn, auch diesen zusehn, um so allmählich ihren Mechanismus zu erfahren und durch eine oftmalige Wiederholung die mit jedem Eindruck beständig verbundnen Bewegungen von den übrigen unterscheiden und behalten zu lernen.«44

Das »Gedankenspiel« vermag es, unwillkürliche »neue Gedanken entstehn« zu lassen, die sich dem bewussten Zugriff des Ich entziehen. In einer Be40 Lemke, Anja: »Ästhetische Erziehung als Arbeit am Selbst. Schillers Bildungsprogramm aus der Perspektive postfordistischer Kontrollgesellschaften«, in: Menke/Glaser (Hg.): Experimentalanordnungen der Bildung, S.131-146, hier: S. 145. 41 Ebd. 42 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe

von Briefen, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. von Wolfgang Riedel, Bd. V, München 2004, S. 570-669, hier: S. 618. 43 Vogl, Joseph: Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2010, S. 137. 44 HKA I, S. 98.

78 | Philipp Weber

obachtung zweiter Ordnung wiederum gilt es, auch »allmählich ihren Mechanismus zu erfahren« und im wiederholten Training diese einzustudieren und »behalten zu lernen«.45 Dieser Prozess ist explizit als mechanischer klassifiziert, zugleich erschöpft er sich aber nicht in der Struktur von Kausalverhältnissen, sondern wirkt darüber hinaus noch autopoietisch.46 Die Gedankenbildung wird nicht nur unwillkürlich ausgeübt, sondern die einzelnen Gedanken sollen fort weg noch sich selbst generisch weiterentwickeln:47

45 Eine vergleichbare Übungslehre sieht Eckart Förster in den Arbeiten Goethes bereits konzipiert, die bei Letzterem durch die spinozistisch geprägte Technik der scientia intuitiva bestimmt ist. Hierbei werden ebenfalls gedankliche Reihen fortgebildet, wie sie bei botanischen Studien nützlich sind: »Wie bei der mathematischen Reihe muss ich auch bei der Folge der Phänomene die Übergänge in Gedanken nachbilden, muss innerlich gestaltend nachvollziehen, wie jeder Teil aus einem vorherigen Zustand hervorgegangen und in den nachfolgenden übergegangen ist. Dann muss ich – und damit wird der diskursive Verstand intuitiv, die Anschauung eine einzelne – alle Übergänge zugleich im Geiste vergegenwärtigen, muss wie die Idee (Formel) an allen Stellen zugleich sein, um deren Wirksamkeit zu erkennen. […] Das erfordert Übung – und vor allem vollständige Reihen, an denen es geübt werden kann« (Förster, Eckhart: Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, Frankfurt a.M. 2011, S. 263). Zur Thematik der Reihenbildung bei Goethe, vgl. Geulen, Eva: »Funktionen von Reihenbildung in Goethes Morphologie«, in: Menke/Glaser (Hg.): Experimentalanordnungen der Bildung, S. 209-222. 46 Die Romantik zeichnet sich, wie Joseph Vogl gezeigt hat, nicht zuletzt durch ein autopoietisches (Gesellschafts-)Modell aus (vgl. Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Berlin/Zürich 2002, S. 287), das hier auch auf die geistige Bildung angewendet ist. 47 Ein Argument für den Grund des Antriebs dieser Generierungen mag Novalis bei Frans Hemsterhuis gefunden haben, wo es heißt: »Das wunderbarste, das ewige Phänomen, ist das eigene Daseyn. Das grösseste Geheimniß ist der Mensch sich selbst – Die Auflösung dieser unendlichen Aufgabe, in der That, ist die Weltgeschichte – Die Geschichte der Philosophie, oder der Wissenschaft im Großen, der Litteratur als Substanz, enthält die Versuche der idealen Auflösung dieses idealen Problems – dieser gedachten Idee“ [HKA II, S. 361 (hier in der Übersetzung von Novalis)].

Romantisches Üben | 79

»Hätte man dann nur erst einige Bewegungen, als Buchstaben der Natur, herausgebracht, so würde das Dechiffrieren immer leichter von statten gehn, und die Macht über die Gedankenerzeugung und Bewegung den Beobachter in Stand setzen, auch ohne vorhergegangenen wircklichen Eindruck, Naturgedanken hervorzubringen und Naturcompositionen zu entwerfen, und dann wäre der Endzweck erreicht.«48

In der »Gedankenerzeugung« ist selbst die Wahrnehmung eines Objekts der Natur keine notwendige Bedingung für die spielerische Produktion mehr, die »Bewegungen« lassen sich vielmehr aus den unwillkürlichen Strukturen des Ich selbst generieren. Die in Gang gesetzte Gedankenproduktion, wechselseitig vernetzt und selbstorganisiert, bedarf nicht länger des natürlichen »wircklichen Eindruck[s]«. »Endzweck« der in den Lehrlingen zu Sais thematisierten Übungslehre ist das unwillkürliche Erzeugen von »Naturcompositionen«. Die romantische Übung zielt damit auf die Generierung von Gedanken ab, die dem absichtsvollen Selbstbezug entzogen sind und dergestalt ›natürlich‹ sich vollziehen. Das Gedankenspiel selbst soll zur zweiten Natur des Ich werden. Damit ist keine bloß lapidare und unstrukturierte Gedankenproduktion in Aussicht gestellt. Der romantische Entwurf zielt stattdessen auf ein unbemerktes Potenzial der Übung; denn es ist die singuläre Technik der Übung, das Ich zu geistigen Produktionen zu innervieren, die seinem willkürlichen Selbstbezug entzogen sind.

48 HKA I, S. 98. Es wäre zu überlegen, inwiefern derlei »Naturgedanken« sich als kompatibel erweisen mit einem Konzept der inneren Natur, die in diesem Sinne zu verstehen wäre als nicht-identischer Teil des Ich. Juliane Rebentisch diskutiert ein solches Konzept innerer Natur in Anlehnung an Menke als Störung: »Innere Natur ist nicht einfach das Andere der Kultur. Ihre Erscheinung untersteht denn auch nicht dem Gesetz des Naturnotwendigen; es handelt sich bei den entsprechenden Bestrebungen vielmehr um ›nicht notwendige Begierden‹. Nicht nur sind diese selbst vielfach kulturell vermittelt, auch machen sie sich nur in der Kultur, nämlich am sozialisierten Subjekt, geltend. Aber sie tun dies negativ. Als Störung oder Unterbrechung seines Selbstverständnisses« (Rebentisch, Juliane: Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz, Frankfurt a.M. 2013, S. 59f.).

80 | Philipp Weber

ROMANTISCHES ÜBEN Was den romantischen Text Die Lehrlinge zu Sais in besonderer Weise als einen literarischen auszeichnet, ist sein performativer Einsatz, mit dem er sein Modell der Bildung Anwendung finden lässt. Konzipiert er auf inhaltlicher Ebene ein Bildungsmodell, das einen veränderten Selbstbezug erproben will, so weist er in seiner formalen Gestaltung unterschiedliche Techniken und ästhetische Entscheidungen auf, die mit diesem Selbstbezug in Korrespondenz stehen. Eine solche Korrespondenz präsentiert der Text bereits in seinem Aufbau: Ist der zweite Teil als »Die Natur« überschrieben, so weist dies auf die im Text explizierte Struktur der »Naturcompositionen« hin. Die »Buchstaben der Natur«, die im übenden Denken hervorgebracht werden sollen, stehen dergestalt in Kommunikation mit denen des buchstäblichen Texts, die wiederum der Kapitelüberschrift »Natur« unterstehen.49 Des Weiteren zeichnet sich der Text durch ein Arrangement unterschiedlicher Einheiten und Szenen der romantischen Übung und Bildung aus, die weder einen systematisierenden noch einen synthetisierenden Diskurs anvisieren, sondern auf unterschiedliche Weise das lesende Ich zu einem veränderten Selbstbezug herausfordern. Das lesende Ich rezipiert damit nicht nur in passiver Weise den Text, sondern muss sich auf einen spielerischen Zusammenhang einlassen – d.h. selbst »Mitbewegung« sein.50 Die Heterogenität und Inkohärenz der Sprecherpositionen des Romanentwurfs erlauben fürderhin keinerlei diegetische Absicherung: Die einzelnen Positionen werden nicht ineinander aufgelöst, keine letztlich gültige Ordnung falsifiziert die einzelnen Ansätze; sondern sie bleiben als sowohl mögliche wie unmögliche, also letztlich bloß kontingente stets in Frage gestellt. Diese interne Kontingenz, die das Romanfragment durchzieht und seine Poetik bestimmt, ragt schließlich über dieses hinaus, indem es die ihm inhärenten Perspektiven mit denen der Leserinnen und Leser kommunizieren lässt. Der Text nutzt seine poetisch organisierte Kontingenz zur Vervielfachung und Intensivierung von Lektüremöglichkeiten. Die Literarizität des Textes wird somit dezidiert als Form der Reflexivität eingesetzt, welche die inhaltliche Übungslehre performativ und damit praktisch werden lässt.

49 HKA I, S. 98 50 Ebd., S. 96.

Romantisches Üben | 81

Ist ein wesentliches Anliegen des Bildungsromans der gelingende Zusammenschluss von Leben und Form, verweigert das Romanfragment Die Lehrlinge zu Sais sich rigoros dieser Einheit. Bildung, in einem romantischen Sinne, meint nicht die Ausbildung zum reifen Subjekt, sondern bietet ein dazu kritisches Reflexionsmodell auf. Ein solches Modell findet nicht zur geschlossenen literarischen Form, die mit dem dargestellten Leben korrespondierte. Vielmehr setzt das romantische Modell auf die reflexiven Möglichkeiten der eigenen textlichen Gestalt, welche wiederum die lesende Subjektivität adressiert. Dass also das Fragment Die Lehrlinge zu Sais nicht die endgültige Form des Romans erhalten hat, mag auch an seinem ›übenden‹ Charakter liegen: Ist es nämlich ein Wesenszug der Übung, sich an bestehenden Widerständen abzuarbeiten und im offenen Austausch mit sich selbst zu verweilen, so verhindert die Thematisierung der Übung, die zugleich im Text praktiziert wird, den Abschluss zur vollendeten Romanform. Stattdessen erweist sich das Fragment als die der Übung angemessene literarische Form. Der Text Die Lehrlinge zu Sais intendiert schließlich auch kein bloß naives Einheitsdenken oder eine träumerische Naturutopie, sondern er unternimmt stattdessen den Versuch, einen Selbstbezug zu denken, der sich dem Zwang bloßer Selbstverwaltung entzieht. Gegen den souveränen Zugriff von Subjektivität im Denken erprobt die Romantik ein Modell, das Natur- und Selbsterkenntnis in einen zwanglosen Zusammenhang stellen will. Die Natur ist in diesem Sinne konzipiert als eine Instanz, die den Gegenentwurf der eigenen Autonomie, daneben aber auch ein Medium zur Entfaltung unwillkürlicher Kräfte (»Statt N[icht] I[ch] – Du«) vorstellt.51 Auf ein solches Medium ist Subjektivität angewiesen, um sich über sich selbst auf die Möglichkeit einer veränderten Selbstbildung hin zu informieren. Die präsentierten »Naturcompositionen« dienen dergestalt als Modelle einer veränderten Kraftentfaltung. Das romantische Konzept der Bildung unterläuft damit jenen Aspekt ›spielerischer Bildung‹, welcher »die faktische Gesteuertheit des Bildungsexperiments im Modus der autonomen zu verschleiern« trachtet.52 Denn die romantische Übungslehre präsentiert weder einen vermeintlich spielerischen, insgeheim aber disziplinarischen Zugriff aufs Subjekt, noch die kultivierte, spielerische Produktivität nachdis-

51 HKA III, S. 430. 52 B. Menke/T. Glaser: Ein Aufriss, S. 18.

82 | Philipp Weber

ziplinarischer Selbstkontrolle. Stattdessen eruiert sie Möglichkeiten, mit denen das übende Ich sich jenseits einer Logik der Herrschaft selbst erfahren lernt. Übung fungiert damit weder als Disziplinar- noch als Kontrollform, sondern vielmehr als Möglichkeitsbedingung eines Kontrollverlustes, ohne aber die Freiheitlichkeit des Ich dabei preiszugeben.

LITERATUR Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes, hg. von Rainer Grübel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979. Bettine Menke/Thomas Glaser (Hg.): Experimentalanordnungen der Bildung. Exteriorität – Theatralität – Literarizität, Paderborn: Fink 2014. Blümle, Claudia/Schäfer, Armin: »Organismus und Kunstwerk. Zur Einführung«, in: Dies. (Hg.): Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaft, Berlin/Zürich: Diaphanes 2007, S. 9-25. Bomski, Franziska: »Zwischen Mathematik und Märchen. Die Darstellung des Zufalls und ihre erkenntnistheoretische Funktion bei Novalis«, in: Astrid Bauereisen u.a. (Hg.): Kunst und Wissen. Beziehungen zwischen Ästhetik und Erkenntnistheorie im 18. und 19. Jahrhundert, Würzburg: Königshausen u. Neumann 2009, S. 163-192; Bosse, Heinrich: Bildungsrevolution 1770–1830, Heidelberg: Winter 2012. Campe, Rüdiger: »Form und Leben in der Theorie des Romans«, in: Armen Avanessian u.a. (Hg.): Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Berlin/Zürich: Diaphanes 2009, S. 193-211. Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin: Suhrkamp 2010. Daiber, Jürgen: Experimentalphysik des Geistes. Novalis und das romantische Experiment. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. Förster, Eckhart: Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, Frankfurt a.M.: Klostermann 2011. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. Foucault, Michel: Die Sorge um sich, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. Foucault, Michel: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007.

Romantisches Üben | 83

Frank, Manfred: »Das ›fragmentarische Universum‹ der Romantik«, in: Christiaan Lucas/Hart Nibbrig/Lucien Dällenbach (Hg.): Fragment und Totalität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 212-224. Frank, Manfred: Das Problem ›Zeit‹ in der deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung, Paderborn: Fink 1990. Frank, Manfred/Kurz, Gerhard: »Ordo inversus. Zu einer Reflexionsfigur bei Novalis, Hölderlin, Kleist und Kafka«, in: Herbert Anton u.a. (Hg.): Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel, Heidelberg: Winter 1977, S. 75-92. Geulen, Eva: »Funktionen von Reihenbildung in Goethes Morphologie«, in: Menke/Glaser (Hg.): Experimentalanordnungen der Bildung, S. 209-222. Hansen, Erk F.: Wissenschaftswahrnehmung und -umsetzung im Kontext der deutschen Frühromantik. Zeitgenössische Naturwissenschaft und Philosophie im Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis), 
Frankfurt a.M.: Peter Lang 1992. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik II, in: Ders.: Werkausgabe, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, Bd. II. Kreuzer, Ingrid: »Novalis’ ›Die Lehrlinge zu Sais‹«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft (23) 1979, S. 276-308. Lemke, Anja: »Ästhetische Erziehung als Arbeit am Selbst. Schillers Bildungsprogramm aus der Perspektive postfordistischer Kontrollgesellschaften«, in: Menke/Glaser (Hg.): Experimentalanordnungen der Bildung, S.131-146. Maatsch, Jonas: »Naturgeschichte der Philosopheme«. Frühromantische Wissensordnungen im Kontext, Heidelberg: Winter 2008. Mähl, Hans-Joachim: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis: Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Heidelberg: de Gruyter 1965. Menke, Christoph: »Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz.« In: Axel Honneth/Martin Saar (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption: Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 283-299.

84 | Philipp Weber

Menke, Christoph: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. Neubauer, John: Bifocal Vision. Novalis' Philosophy of Nature and Disease, Chapel Hill: Univ. of North Carolina 1971. Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Stuttgart: Kohlhammer 1960-1977. Pethes, Nicolas: »›In jenem elastischen Medium‹. Der Topos ›Prozessualität‹ in der Rhetorik der Wissenschaften seit 1800 (Novalis, Goethe, Bernard)«, in: Jürgen Fohrmann (Hg.): Rhetorik. Germanistische Symposien Berichtsbände, Stuttgart: Metzler 2004, S. 131-151. Rebentisch, Juliane: Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013. Rehme-Iffert, Birgit: Skepsis und Enthusiasmus. Friedrich Schlegels philosophischer Grundgedanke zwischen 1796 und 1805, Würzburg: Königshausen u. Neumann 2001. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. von Wolfgang Riedel, Bd. V, München: DTV 2004, S. 570-669. Schlegel, Friedrich: Über Goethes Meister, in: Ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. Ernst Behler, München: Schöningh 1967, Bd. 2, S. 126-147. Szondi, Peter: Poetik und Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. Uerlings, Herbert: Friedrich Hardenberg, genannt Novalis, Stuttgart: Metzler 1991. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03377-2 Vogl, Joseph: Das Gespenst des Kapitals, Berlin/Zürich: Diaphanes 2010, S. 137. Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Berlin/Zürich: Diaphanes 2002. von Graevenitz, Gerhart: Die Setzung des Subjekts. Untersuchungen zur Romantheorie, Tübingen: Niemeyer 1973. von Humboldt, Wilhelm: »Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (1830-1835)«, in: Ders.: Werke, Bd. 3: Schriften zur Sprachphilosophie, hg.v. Andreas Flitner/Klaus Giel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft S. 368-756.

Romantisches Üben | 85

Weber, Philipp: »Sonderbare Conjuncturen des Zufalls. Zu Natur und Bildung bei Friedrich Schiller und Novalis«, in: Athenäum 23 (2013), S. 155-166. Wellbery, David: »Die Enden des Menschen. Anthropologie und Einbildungskraft im Bildungsroman (Wieland, Goethe, Novalis)«, in: Karl Heinz Stierle (Hg.): Das Ende, Poetik und Hermeneutik XVI, München: Fink 1996, S. 600-639.

Ungebildetes Genie und auszubildender Körper Zur Körperlichkeit in Robert Schneiders Roman Schlafes Bruder Agnieszka Sowa

Dass der Körper zum Ende des 20. Jahrhunderts wieder verstärkt in den Fokus der Literatur gerückt ist, hat Claude Foucart folgendermaßen auf den Punkt gebracht: »Der Schriftsteller steht nicht vor einer Welt, die er nur zu verstehen hätte. [...] Der Mensch ist mit dem Körper, das heißt mit einem Schweigen konfrontiert, das er als Rätsel zu entziffern hat. [...] Vor allem muß er [der Schriftsteller, A.S.] mit allen Konsequenzen das Sprachlose in all seinen Tiefen und Abgründen, den Körper, als Thema der Literatur hervorheben, was natürlich dazu führt, die Ängste und Schmerzen des Menschen, eben seine Körperlichkeit, zur Sprache zu bringen.«1

Die Aspekte der Körperlichkeit, die sich hier kundtun, sind einerseits Entfremdung, andererseits aber Bedürfnis nach einer Auseinandersetzung bzw. Neuentdeckung. Der die Aufmerksamkeit auf sich ziehende Körper wird damit zu einem stummen Rätsel, das es in der Literatur zu explorieren und

1

Foucart, Claude: »Körper und Literatur«, in: Horst Albert Glaser (Hg.), Deutsche Literatur zwischen 1945-1995. Eine Sozialgeschichte, Bern/Stuttgart/Wien: Verlag Paul Haupt 1997, S. 655-671, hier: S. 669f.

88 | Agnieszka Sowa

zu entschlüsseln gilt, und das womöglich auch brisante Erkenntnisse über den Menschen offen legen kann, die ihm sonst unbewusst blieben. Der 1992 erschienene Roman von Robert Schneider, der das Leben einer fiktiven Figur, des verkannten Musik-Genies Elias Alder (1803-1825), nachzeichnet, setzt die Körperlichkeit des Protagonisten ins Zentrum, und gipfelt in seiner Entscheidung, Selbstmord – also Vernichtung des Körpers – durch Schlafentzug zu begehen, um die Liebe zu seiner Cousine Elsbeth zu beweisen, denn »wer liebt, schläft nicht«2. Alle wichtigsten Elemente seines Lebens: das Erwachen der musikalischen Begabung, die unerfüllte Liebe und der Freitod, werden eben durch ihre Verbindung mit der Körperlichkeit charakterisiert, der er einerseits wehrlos ausgeliefert ist, andererseits aber versucht er, das scheinbar fremde leibliche Element durch eine gewisse Askese bzw. Dressur in Zaum zu halten.

1. UMGEBUNG Elias’ schwere Geburt drückt schon seine Distanz zum Leben in der ihn in der Zukunft umgebenden Welt aus – er scheint sich dagegen zu sträuben, geboren zu werden: »als sperrte es [das Kind Elias, A.S.] sich gegen diese Welt, in die es aus freiem Willen nicht treten wollte.«3 Die Körperlichkeit ist auch das Element, das Elias von den engstirnigen Einwohnern des entlegenen Bergdorfs Eschberg unterscheidet: »Obwohl sein Schädel von guten Proportionen gemacht war – eine rare Auffälligkeit im Dorf -, verunstalteten die grellen Pupillen sogleich den Anblick dieses Gesichtes. Verglichen mit den gespenstischen Physionomien des Eschberger Menschengeschlechts muß man den Elias dennoch einen schönen Mann nennen [...].«4

Auffällig ist hier der Verweis auf die fehlende körperliche Schönheit der Lamparter und Alder (zweier das Dorf bewohnender Geschlechter), die mit

2

Schneider, Robert: Schlafes Bruder. Roman, Leipzig: Reclam 1995, S. 9.

3

Ebd., S. 14.

4

Ebd., S. 94.

ungebildetes Genie und auszubildender Körper | 89 »körperlichen Inzuchtschäden«5 erklärt wird. Der geniale Musiker lebt also unter Unschönen und wächst in der Atmosphäre einer allgegenwärtigen körperlichen Gewalt und Rohheit auf. Immer wieder werden die derben Sitten der Eschberger erwähnt. Elias’ Mutter will z.B. das andersartige Kind gar unmütterlich loswerden, wofür sie von ihrem Ehemann sofort ›ermahnt‹ wird: »Als sie ihrem Seff riet, es möchte durchaus eine Pfette vom morschen Dachgebälk zufällig auf den Jungen niederstürzen, oder das Kind könnte unglücklicherweise in der Emmer ertrinken, oder eine läufige Kuh möchte es zu Tode hornen, da schlug Seff ihr die Faust so gewaltig ins gottverreckte Maul, daß die Kinnlade auskegelte.«6

Die Kinder werden sowohl in der Schule7 als auch zu Hause geschlagen und zwar in dem Maße, dass sie nicht selten einen dauernden körperlichen Schaden davontragen. An der Gestalt von Elias’ Freund Peter, wird im Text die Gewaltspirale aufgezeigt. Der Junge wird von seinem Vater geschlagen und schindet infolgedessen die Tiere: »Peter blickt auf die Schwellung, beißt Fetzen von den Lippen und stellt sich vor, auf welche Weise der Vater umkommen wird. Dann wird ihm elend vor Schmerz. Warum soll er das Weh alleine tragen? Und er nimmt den Mauerbrocken, greift nach der Pfote und zerbricht der schnurrenden Katze das Bein. Er lauscht dem Geschrei des Tieres. Rührung kommt ihn an, und er bricht ihr das zweite Bein.«8

Die körperliche Gewalt ist auch in den sozialen Verhältnissen im Dorf präsent. Im Roman werden einige Szenen der rücksichtslosen, gewaltsamen Selbstjustiz gezeigt,9 wobei eben die Grausamkeit, mit der hier der Körper behandelt wird, im Vordergrund steht, was mit der Rolle des physischen Leidens bei der öffentlichen Bestrafung korrespondiert, deren konstanten Wesenskern, obwohl in einem anderen Kontext (der Folterpraktiken des

5

Ebd., S. 12.

6

Ebd., S. 41.

7

Vgl. ebd., S. 57.

8

Ebd., S. 73.

9

Vgl. ebd., S. 84, 101.

90 | Agnieszka Sowa

vorrevolutionären Frankreichs) Michel Foucault folgendermaßen zu erklären versuchte: »Der Schuldige hat seine Verurteilung und die Wahrheit des von ihm begangenen Verbrechens an den Tag zu bringen. Sein gezeigter, vorgeführter, ausgestellter, gemarterter Körper wird nun zum öffentlichen Träger eines bis dahin im Schatten gebliebenen Verfahrens; in ihm und an ihm muß der Akt der Justiz für alle sichtbar werden.«10

Die Zufügung körperlichen Schmerzes fungiert also im Text von Schneider als eine der wenigen Methoden der Erziehung, die darin besteht, zu bestrafen, und somit letztendlich die Selbstbehauptung eines Gewalttäters manifestiert. Es scheint, dass die physische Kluft zwischen Elias und seiner Umgebung eigentlich nur ihre geistige Dimension manifestiert.

2. AUTODIDAKT Elias hat trotz seiner einzigartigen musikalischen Begabung keine Möglichkeit, zum anerkannten Musiker zu werden. Hermann Schlößer unterstreicht: »Was immer er in seiner Kunst erreicht, muß einer feindlichen oder zumindest gleichgültigen Umgebung abgetrotzt werden.«11 Das Talent steckt zwar in ihm, bleibt aber verkannt, da die äußeren Umstände einer engstirnigen Welt seine volle Entwicklung verhindern – der Erzähler bezeichnet sich und seinesgleichen als »diese geborenen und doch zeitlebens ungeborenen Menschen.«12 Dieser Mangel an Entfaltungsmöglichkeiten wird als die grausame, beinahe sadistische Willkür Gottes gedeutet: »Gott

10 Foucault, Michel: »Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses«, übers. v. Walter Seitter, in: Ders., Die Hauptwerke. Mit einem Nachwort v. Axel Honneth/Martin Saar, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013, S. 701-1019, hier: S. 745. 11 Schlößer, Hermann: »›Wie kein Meister vor oder nach ihm...‹. Die Einzigartigkeit des Komponisten Elias Alder«, in: Rainer Moritz (Hg.), Über Schlafes Bruder. Materialien zu Robert Schneiders Roman, Leipzig: Reclam 1996, S. 79-91, hier: S. 82. 12 R. Schneider: Schlafes Bruder, S. 14.

ungebildetes Genie und auszubildender Körper | 91 schuf einen Musikanten, ohne daß dieser auch nur einen einzigen Takt auf Papier setzen durfte, denn er hatte das Notenhandwerk nie erlernen können, sosehr er sich danach gesehnt hatte.«13 Der fehlende Zugang zur musikalischen Ausbildung und die Tatsache, dass Elias nur auf seine autodidaktischen Versuche angewiesen war, sind das eigentliche Problem seiner Musiker-Existenz. Das kompositorische Talent, ohne Fähigkeit diese Kompositionen aufzuschreiben, scheint eine reine Verschwendung seitens der Natur bzw. Gottes zu sein.14 Er ist kein faules oder dummes Kind,15 später wird er sogar Lehrer; es wird ihm aber keine weitere Ausbildung gegönnt: »Mit vierzehn Jahren schulte Elias aus [...].«16. In seiner Umgebung gibt es auch kein Verständnis für den Sinn des längeren Lernens.17 Elias selbst wird sich dessen bewusst, dass er vernachlässigt wurde: »[Man habe] ihm nicht gestattet, in Feldberg das Notenhandwerk zu lernen. Die Liebe zur Musik habe er heimlich auskosten, habe wie ein Kirchendieb auf der Orgel sitzen müssen, in der stetigen Angst, es möchte ihn jemand entdecken. Wie oft habe er den verstorbenen Onkel Oskar angefleht, er möchte ihn in der Musik unterweisen. Auch dieses Begehren sei ihm unerfüllt geblieben.«18

Elias ist nicht im Stande den äußeren Umständen zu trotzen, »[hat] nie wirklich revoltiert«.19 Sein Genie wird keinen positiven Einfluss auf sein Leben haben und auch wenn immer wieder Chancen aufleuchten, so scheitert sein Leben letztendlich doch. Die erstaunlichen autodidaktischen Versuche des genialen Musikers resümiert Schlößer folgendermaßen : »Damit ist die wichtigste Feststellung über Alders Genialität getroffen: Der Komponist [...] kann sich in wenigen kreativen Schüben all das erobern, was andere in jahrelangen Studien erwerben müssen. Kenntnisse über Bau und Funktionsweise der Orgel fliegen ihm z.B. zu, während er das Instrument in geheimer Nachtarbeit zer-

13 Ebd., S. 13. 14 Vgl. ebd., S. 179. 15 Vgl. ebd., S. 56. 16 Ebd., S. 61. 17 Vgl. ebd., S. 57. 18 Ebd., S. 145. 19 Ebd., S. 95.

92 | Agnieszka Sowa

legt, reinigt, stimmt und neu zusammensetzt. Und aus dem ungeschickten Präludieren, Choralbegleiten, Postludieren des Onkels Oskar hört er die Grundlagen des kirchenmusikalischen Tonsatzes heraus.«20

Die fehlende Ausbildung wird also im Roman als eine hoffnungslose Situation, ein unüberwindliches Hindernis geschildert, das trotz des Talents nur in Ansätzen – dank der das menschliche Maß weit sprengenden Begabung – hin und wieder überwunden werden kann.

3. VERWANDLUNG Das zentrale Lebensereignis, Elias’ Verwandlung auf dem Stein, lässt sich als Initiation seines Lebens als Musiker lesen, Erich Hackl schreibt von »musikalischer Initiation«21. Die Erfahrung ist körperlich und schmerzhaft. Die neue Identität des musikalischen Genies ist mit den körperlichen Veränderungen verbunden, die zum Teil von dauerhaftem Charakter sind, zum Teil aber nach dem Erlebnis verschwinden. »Der kleine Körper fing an, sich zu verändern. Jäh traten die Augäpfel aus ihren Höhlen, ja stülpten sich über die Lider und dehnten sich bis unter die Augenbrauen. Und der Flaum seiner Brauen verklebte sich auf der tränenden Netzhaut. Die Pupillen flossen auseinander und quollen über das gesamte Weiß der Iris. Ihre natürliche Farbe, das melancholische Regengrün verschwand, und es trat ein gleißend ekelhaftes Gelb an ihre Stelle. [...] Dann bäumte sich das Rückgrat, der Bauch blähte auf, der Nabel wurde hart wie Horn, und Blut sickerte aus der längst verwachsenen Haut des Nabels. Das Gesicht des Kindes aber bot einen derart entsetzlichen Anblick, als lägen alle je gehörten Wehschreie des Menschen und der Kreatur in ihm eingegraben. [...] Nach der Reihe fielen dem Kind die Zähne ein, denn das Zahnfleisch schwand, und es ist unerklärlich, weshalb Elias nicht daran erstickt ist. Dann, ungeheuerlich, wurde ihm das Gliedchen stämmig, und das frühe Sperma rann mit Urin

20 H. Schlößer: ›Wie kein Meister vor oder nach ihm...‹. Die Einzigartigkeit des Komponisten Elias Alder, S. 85. 21 Hackl, Erich: »Laudatio auf Robert Schneider«, in: Rainer Moritz (Hg.), Über Schlafes Bruder. Materialien zu Robert Schneiders Roman, Leipzig: Reclam 1996, S. 48-55, hier: S. 50.

ungebildetes Genie und auszubildender Körper | 93 und dem Blut des Nabels [...] warm die Leistenbeugen hinab. Während des ganzen Geschehens verlor das Kind alle Exkremente des Körpers, vom Schweiß bis zum Kot in ungewöhnlich großen Mengen.«22

Die beschriebene Körperlichkeit deutet die heftigen Schmerzen nicht nur an, sondern macht die Prozesse der Destruktion des Körpers auch ganz explizit. Die Veränderungen sind allumfassend, beziehen sich auf jedes Körperteil. Es wird die Entsetzlichkeit des Geschehens hervorgehoben. Der Körper wird abstoßend. Elias verliert die Kontrolle über seine Körperfunktionen, die ihn in ihrer Eigenmächtigkeit nun zu vernichten drohen, er erlebt den symbolischen Tod und fängt ein neues Leben an. Diese Szene kann also im Kontext der Riten der Initiation gelesen werden, die u.a. von Mircea Eliade beschrieben wurden. Der symbolische Tod in den Initiationsriten vieler Völker ist auch mit der Zufügung des körperlichen Schmerzes verbunden. Das Schema der Initiation besteht nämlich aus den drei Phasen des Leidens, des Todes und der Wiedergeburt23 und ermöglicht dem Menschen die Einweihung in eine metaphysische Wirklichkeit, ist Offenbarung des Sacrums, des Todes und der Sexualität. Elias’ Faszination für den merkwürdigen Stein, »der ihn auf so unheimliche Art und Weise anzog«24, wird nicht weiter erläutert. Das Kind verhält sich, »als würde es von einer unbekannten Macht gerufen.«25. Das Hörwunder wird zwar mit Gott in Verbindung gesetzt, es ist aber nicht eindeutig, was für ein Gott das sein soll, weil ihm eine besondere Grausamkeit26 zugeschrieben wird. Die Berührung eines Felsens, eine haptische Erfahrung, ist durchaus körperlich. Seine Bedeutung in Schneiders Roman scheint sich in den von Eliade stammenden Begriff der Hierophanie, der Offenbarung des Heiligen in der profanen Welt, einzuschreiben, und genauer in ihre konkrete Form: die Kratophanie d.h. der Fels fungiert hier als Manifestation einer kraftvollen Macht, die die profane Welt und die Zer-

22 R. Schneider: Schlafes Bruder, S. 35. 23 Vgl. Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen,

übers.v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M./Leipzig: Insel Verlag 1998, S. 160170. 24 R. Schneider: Schlafes Bruder, S. 32. 25 Ebd. 26 Vgl. ebd., S. 37.

94 | Agnieszka Sowa

brechlichkeit des Menschen überschreitet.27 Das Geheimnisvolle des Steins im Roman wird dadurch unterstrichen, dass der Fels zum Schluss auf unerklärliche Weise verschwindet. Elias’ Kern der Erfahrung bildet »das Wunder seines Hörens«: »An diesem Nachmittag hörte der fünfjährige Elias das Universum tönen.«28 Interessant ist, dass ihn dieses Hörerlebnis schon wieder zum Körperlichen führt, als ob es das einzig Wichtige wäre, das es zu hören gilt: »Er sah das Summen seines eigenen Bluts, das Knistern der Haarbüschel in den Fäustchen. [...] Die Säfte des Magens glucksten und klackten schwer ineinander. Es gurrte in den Eingeweiden von einer unbeschreiblichen Vielfalt. Gase dehnten sich, zischten oder knallten auseinander, die Substanz seiner Knochen vibrierte, und selbst das Augenwasser zitterte vom dunklen Schlagen seines Herzens.«29

Es geht hier nicht nur um die Geheimnisse des eigenen Körpers, derer man sich bewusst wird, sondern auch um die Körper der anderen Menschen in der ganzen Welt, die eine rätselhafte Urverwandtschaft alles Lebendigen zu offenbaren scheinen: »In Strömen unvorstellbaren Ausmaßes prasselten die Wetter des Klanges und der Geräusche auf die Ohren des Elias nieder. Ein irres Durcheinander von Hunderten von Herzen hub an, ein Splittern von Knochen, ein Singen und Summen vom Blut ungezählter Adern, ein trockenes sprödes Kratzen, wenn sich Lippen schlossen, ein Brechen und Krachen zwischen den Zähnen, ein unglaubliches Getöne vom Schlucken, Gurgeln, Husten, Speuzen, Rotzen und Rülpsen, ein Glucksen von gallertigen Magensäften, ein lautes Platschen von Urin, ein Rauschen vom Haar der Tierfelle, ein dumpfes Schaben von Textilien auf Menschenhäuten, ein dünnes Singen, wenn Schweißtropfen verdampften, ein Gewetze von Muskeln, ein Geschrei von Blut, wenn Glieder von Tieren und Menschen stämmig wurden. Nicht zu reden vom

27 Vgl. Eliade, Mircea: Traktat o historii religii [Dt. Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte], übers.v. Jan Wierusz Kowalski, Warszawa: Wydawnictwo KR 2000, S. 235. 28 R. Schneider: Schlafes Bruder, S. 34. 29 Ebd., S. 36.

ungebildetes Genie und auszubildender Körper | 95 wahnhaften Chaos der Stimmen und Laute des Menschen und aller Kreatur auf und unter der Erde.«30

Die Geräusche werden potenziert und verursachen einen intensiven und schmerzenden Lärm, der den Knaben angreift. Die Gabe des Hörens bezieht sich in erster Linie auf die Wahrnehmung des Körperlichen, des Organischen. Elias wird durch diese Erfahrung in die Sinnlichkeit der Welt eingeführt und aus dieser Totalität der Integration mit dem Universum her soll sich sein Talent entwickeln. Auf der anderen Seite könnte man diese Passage auch als (Orchester-) Musik des Körpers deuten, die Vorbild der polyphonen Musik von Elias wird. Der Junge wird durch das Ereignis auf dem Stein nachhaltig stigmatisiert, indem sich die Farbe seiner Pupillen ändert, was einerseits seine Auserwählung unterstreicht,31 andererseits aber wirkt sein Körper dadurch unmenschlicher, sogar ›gespenstischer‹, der Grad der Andersartigkeit ist so groß, dass seine Identität angezweifelt wird. Die sonstigen, letztendlich zurückgetretenen Deformationen zeigen das Ausmaß der Zermalmung des Körpers, die er erfahren hat: »Nach dem furchtbaren Hörerlebnis traten die Deformationen am Leib des Kindes zurück. Die Augäpfel schwanden auf ihre ursprüngliche Größe, das Rückgrat glättete sich, die Verkrampfungen der Glieder entspannten. [...] Vom Hinterkopf war das Haar in großen Büscheln abgefallen, und die Zähne hatte er allesamt verloren. Der Makel währte aber nicht lang, denn bald zahnte der Mund, und die Zweiten wuchsen dem Kind überfrüh.«32

Die Veränderungen des Körpers nehmen eine konkrete Richtung an: Der Körper pubertiert viele Jahre zu früh: »Die gläserne Stimme hatte mutiert. [...] Das Organ des Kindes hatte sich zu einer volltönigen Baßstimme entwickelt. [...] Eine andere Veränderung zeigte sich darin,

30 Ebd., S. 37. 31 Vgl. Werner, Mark: »Schlafes Bruder – eine Heiligenlegende?«, in: Rainer Moritz (Hg.), Über Schlafes Bruder. Materialien zu Robert Schneiders Roman, Leipzig: Reclam 1996, S. 100-123, hier: S. 109. 32 R. Schneider: Schlafes Bruder, S. 39.

96 | Agnieszka Sowa

daß ihm an den Schläfen, auf der Oberlippe, am Kinn, in den Achselgruben und auf dem Geschlecht ein dünner Haarflaum gewachsen war. Der Körper des Elias Alder hatte pubertiert.«33

Dieses frühe Reifen zeigt einerseits, dass das Genie34 immer seinen Zeitgenossen voraus ist, andererseits aber versetzt es Elias in den Zustand des ständigen Konflikts mit der eigenen Körperlichkeit und macht ihn zur Zielscheibe des Spotts im kleinen Dorf.

4. KONFLIKT MIT DEM KÖRPER »Im Maße der Distanz zwischen dem Subjekt und seinem Körper steigert sich die Wirklichkeit des Leibes, er füllt das Bewußtsein mehr oder weniger aus. Zugleich steigert sich über die Realität des Leibes die der Welt: lästig werden die, die den Häßlichen oder sich dafür Haltenden auch nur ansehen, und lästig wird dem Ungeschickten ›alles‹, weil es ihm bis zur Vertracktheit Widerstand zu leisten scheint, als sei es ihm mißgünstig.«35

So problematisiert Hans Blumenberg die Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit, in einem der Selbstreflexion und Selbsterkenntnis des Menschen gewidmeten Aufsatz. In diesem Lichte könnte man vermuten, dass sich der Musiker seiner Körperlichkeit besonders stark bewusst werden sollte. Elias’ Körper wird nämlich von seiner Umgebung nicht akzeptiert, seine Mutter unternimmt viele erfolglose Versuche, die gelbe Farbe seiner Pupillen »mit verschiedentlichen Abreibungen, Aufgüssen und Umschlägen«36 ins frühere Grün zu verwandeln, die Folge sind »schwere Ver-

33 Ebd. 34 Die Bezeichnung ›Genie‹ wird ab und zu von dem Erzähler verwendet (vgl. ebd., S. 19; 150); Elias wird aber als eine Person dargestellt, die sich dessen nicht bewusst ist (vgl. ebd., S. 136). 35 Blumenberg, Hans: »Leib und Wirklichkeitsbewußtsein«, in: Ders., Beschreibung des Menschen, hg. v. Manfred Sommer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 656-776, hier: S. 680. 36 R. Schneider: Schlafes Bruder, S. 45.

ungebildetes Genie und auszubildender Körper | 97 brühungen«.37 Es wird ihm erneut körperlicher Schmerz zugefügt, um die Veränderung rückgängig zu machen. Eine seiner Grunderfahrungen ist der Konflikt mit dem erwachsenen Körper, den er als erst zehnjähriges Kind nicht akzeptieren kann: »Er hatte das Aussehen und die Stimme eines Mannes, aber die Größe eines zehnjährigen Kindes. Er wollte ein Kind sein, wollte reden können wie ein Kind.«38 Seine eigenen Versuche, etwas an der Körperlichkeit zu ändern, sind auch letztendlich schmerzhaft: »Er fing an, sich und seine Baßstimme zu hassen. Wenn er aber reden mußte [...], dann sprach er ohne Stimmton, hauchte und flüsterte, als litte er an stetiger Heiserkeit. Diese Art zu reden strengte ihn so sehr an, daß er schließlich Kopfgrimmen bekam davon.«39 Erneut wird hier der Körper zur Quelle des Leidens, er erweist sich aber auch als ein Gebiet, an dem man arbeiten kann, als Material zur künstlerischen (Nach-)Bearbeitung: »Wie das Wasser seinen Lieblingsstein geschliffen hatte, so schliff er jetzt an seiner Stimme.«40 Vor dem Hintergrund der foucaultschen Überlegungen kann man hier von einer Selbstdisziplinierung sprechen: »Gelehrig ist ein Körper, der unterworfen werden kann, der ausgenutzt werden kann, der umgeformt und vervollkommnet werden kann.«41 Diese Auffassung der Körperlichkeit, die man, wenn auch nur mühsam, doch modifizieren kann, wird auch an einer Passage des Romans ablesbar, die sich auf den Gang, bezieht. Diese Kunst ermöglicht Elias, seine Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen und korrespondiert mit seinem künstlerischen Genie: »Er brachte sich einen prätentiösen kurzschrittigen Gang bei, und daran schliff er mehr als ein Jahr. Die Art seines merkwürdigen Gehens war das einzige, nach außen sichtbare Aufbegehren gegen die rohtappige Bauernwelt, in die er niemals hatte treten wollen. Und ob er es nun ahnte oder nicht, das Gehen bildete getreulich die Welt seines musikalischen Denkens ab.«42

37 Ebd., S. 46. 38 Ebd., S. 53. 39 Ebd., S. 54. 40 Ebd., S. 55. 41 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 838. 42 R. Schneider: Schlafes Bruder, S. 94.

98 | Agnieszka Sowa

Die stets zum Scheitern verurteilte Arbeit an dem deformierten Körper wird durch die ambitionierte Arbeit an der Gangart ergänzt, die zugleich eine Differenz zwischen Elias und der Dorfgemeinschaft einzieht. Diese Art der Körperdisziplinierung erinnert an Foucaults Überlegung der Detailarbeit, deren Ursprung er im Christentum sieht: »Jedenfalls war das ›Detail‹ schon seit langem eine Kategorie der Theologie und der Askese; jedes Detail ist wichtig, weil in den Augen Gottes keine Unermeßlichkeit größer ist als ein Detail. Und weil nichts zu klein ist, als daß es nicht durch einen seiner einzelnen Willensentschlüsse gewollt worden wäre. In diese große Tradition der Erhabenheit des Details fügen sich alle Kleinlichkeiten der christlichen Erziehung, der Schul- oder Militärpädagogik und schließlich aller Formen der Dressur ohne weiteres ein. Für den disziplinierten Menschen ist wie für den wahren Gläubigen kein Detail gleichgültig – nicht so sehr, weil darin ein Sinn verborgen ist, sondern weil es der Macht, die es erfassen will, dazu Gelegenheit bietet.«43

Es scheint, dass die Selbstdisziplin, die kreative Arbeit an körperlichen Details zugleich den Eintritt in die Künstler-Identität darstellt. Es lässt sich geradezu eine Sakralisierung künstlerischer Tätigkeit herauslesen. Die Selbstdisziplin scheint hier ein Mittel gegen den Konflikt mit der eigenen Körperlichkeit zu sein.

5. REZEPTIVE UND PRODUKTIVE FÄHIGKEITEN DES KÖRPERS Die für den Text zentrale Begabung von Elias ist eigentlich eine Eigenschaft seines Körpers, obwohl Blumenberg erinnert: »Sehen und Hören spielen sich, soweit sie nicht überdeutlich schmerzhaft das Organ einschalten, jenseits der Grenzen des Leibes ab. Um sich das zu verdeutlichen, braucht man nur an den Unterschied der Fernraumsinne zum Riechen, Schmecken und Tasten zu denken.«44 Sowohl Elias’ rezeptive Fähigkeiten wie sein Gehör als auch seine produktiven wie Stimme und Orgelspiel sind aufs Engste mit dem Körper verbunden. In beiden Fällen geht es um eine 43 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 842. 44 H. Blumenberg: Leib und Wirklichkeitsbewußtsein, S. 738.

ungebildetes Genie und auszubildender Körper | 99 Begabung, die die durchschnittlichen Fähigkeiten eines Menschen weit überragt: z.B. ist Elias in der Lage, die von der Jahreszeit abhängigen Klangnuancen der Orgel zu unterscheiden,45 in den Hörfrequenzen der Tiere zu singen,46 oder fremde Stimmen zu imitieren.47 Alle Hörerlebnisse wirken auf ihn mit einer erschütternden, den ganzen Körper und Geist ergreifenden Intensität.48 Auch die Stimme überschreitet das Gewöhnliche: »Die Stimme verfügte über keine eigentliche Sprechmelodie, sie modulierte nicht, sondern pfiff als ewig gehaltener Ton.«49 Schon bei der Geburt sich zeigend, werden diese Eigenschaften durch Elias’ Verwandlung noch weiter intensiviert.50 Das Orgelspiel wird als eine extrem körperliche Tätigkeit geschildert, die sinnliche Erfahrungen verspricht.51 Das Spiel zerrt an den physischen und geistigen Kräften des Musikers, was durch den Gewichtsverlusts sichtbar wird. Die Musik vernichtet geradezu Elias‘ Körper: »Jetzt erst konnte man sehen, wie sehr dieses mehr als zweistündige Improvisieren an seiner körperlichen Substanz gezehrt hatte. Sein ohnehin karges Gesicht war grau wie Asche geworden, die Wangen eingefallen, die Backenknochen standen heraus und die Lippen waren ihm vertrocknet. Er hatte an Körpergewicht verloren.«52

Auch das Auditorium wird von seiner Musik somatisch beeinflusst.53 Zentral wird hier das Motiv des Herzschlags. Die Fähigkeit, den Herzschlag eines Menschen mit einem supranaturalen Gehör zu vernehmen – das Schlagen des lebendigen Herzens, das Leben selbst – scheint auch zu ermöglichen, den anderen Menschen zu steuern, indem sich der eigene Herzschlag mit dem des Anderen vermischt und seinen Rhythmus ändert. Die Musik wird unter starker Einbeziehung des Körpers produziert und wirkt sich auf

45 Vgl. R. Schneider: Schlafes Bruder, S. 64. 46 Vgl. ebd., S. 56. 47 Vgl. ebd., S. 58. 48 Vgl. ebd., S. 30f. 49 Ebd., S. 31. 50 Vgl. ebd., S. 42. 51 Vgl. ebd., S. 96, 181. 52 Ebd., S. 182. 53 Vgl. ebd., S. 178.

100 | Agnieszka Sowa

den menschlichen Leib aus, auf den des Musikers wie auch den des Zuhörers.

6. LIEBE UND KÖRPER Rainer Moritz bezeichnet das Herz als »die zentrale Vokabel des Textes«54, eine führende Rolle kommt ihm im Liebeskonzept zu: »Elsbeths Herzschlagen ging in Elias’ Herzschlagen [ein].«55 Die Verliebtheit wird als Übernahme von einem fremden Herzrhythmus dargestellt, das Herz ist zwar immer noch das eigene, aber der Rhythmus wird mit einem äußeren harmonisiert. Elias – im Gegensatz zu Elsbeth – scheint sich dessen bewusst zu sein: »Weißt du, daß unsere Herzen im selben Rhythmus schlagen? Weißt du, daß wir von derselben Art sind?«56 Der gemeinsame Herzrhythmus sollte auf eine gewisse Zugehörigkeit bzw. Ähnlichkeit hinweisen. »Was müssen die armen Menschen suchen und irren! [...] [U]nd wissen nicht, daß Gott ihnen einen Menschen von Ewigkeit her zugedacht hat. Einen Menschen, der dasselbe Herzschlagen trägt wie sie.«57 Der Herzrhythmus hat vor allem einen musikalischen Charakter, der Elias inspiriert: »[Ü]ber das Metrum von Elsbeths Herzschlagen [hatte er] prachtvolle Kathedralen aus Musik errichtet [...].«58 Die Liebe wird als etwas so konkret Hörbares und Konstantes dargestellt wie der unentbehrliche Puls des Lebens. In seiner Liebe für Elsbeth ist Elias gegen die Körperlichkeit eingestellt, er möchte sie asketisch sublimieren59 und daher das Sexuelle, das sich z.B. in einem erotischen Traum offenbart,60 ausschließen: »Und wenn Gott und die Heiligen ihm die Kraft dazu gäben, würde er sie sein Lebtag nicht be-

54 Moritz, Rainer: »Nichts Halbherziges. Schlafes Bruder: das (Un-)Erklärliche eines Erfolges«, in: Ders. (Hg.), Über Schlafes Bruder. Materialien zu Robert Schneiders Roman, Leipzig: Reclam 1996, S. 11-29, hier: S. 22. 55 R. Schneider: Schlafes Bruder, S. 78. 56 Ebd., S. 116. 57 Ebd., S. 118. 58 Ebd., S. 150f. 59 Vgl. H. Schlößer: ›Wie kein Meister vor oder nach ihm...‹, S. 87. 60 Vgl. R. Schneider: Schlafes Bruder, S. 111.

ungebildetes Genie und auszubildender Körper | 101 gehren. Er wolle ihr zeigen, daß die wahre Liebe nicht das Fleisch sucht, sondern sich ganz an die Seele verschenkt.«61 In den Anfängen seiner Liebe ist dieses Fehlen des Sexuellen und der Kampf dagegen noch ganz natürlich: »Wir müssen uns vor Augen bringen, daß unser Mann ein Kind von sieben Jahren liebte. Freilich, vorerst ohne irgendein erotisches Begehren, wenngleich ihn die Sehnsüchte des Körpers schon damals malträtierten. Darum suchte er Zerstreuung in der Arbeit [...].«62 Auch viel später, als seine Liebe vergangen und Elsbeth längst verheiratet ist, verdrängt er den Gedanken an tatsächliche Sexualität: »Mit schrecklicher Verzweiflung kultivierte er die Lüge in sich, Elsbeth sei noch unverheiratet, sei unberührt und bleibe es, bis die Zeit und Reife komme, wo er um ihre Hand anhalten würde.«63 Mit Moritz kann man festhalten: »Das Übersinnliche, mit dem der Roman jongliert, wird nicht durch Auswüchse einer enthemmten Sinnlichkeit beeinträchtigt.«64 Der geniale Künstler zeigt sich hier schon wieder als derjenige, der fähig ist, die blinde Energie seiner Leiblichkeit zu beherrschen. Letztendlich trifft Elias die Entscheidung, nicht mehr zu schlafen, weil man im Schlaf nicht liebt.65 Sein Selbstmord durch Schlafentzug66 ist zugleich eine grauenhafte Szene der Selbstzüchtigung, des mühsamen und schmerzhaften autoaggressiven Kampfes gegen den Schlaf und dadurch gegen den eigenen Körper. Der Verzicht auf die Nachtruhe kann zugleich die Angst vor dem Unbewussten bedeuten, das sich jeglicher Kontrolle entzieht.

61 Ebd., S. 108. 62 Ebd., S. 99. 63 Ebd., S. 160. 64 R. Moritz: Nichts Halbherziges. Schlafes Bruder: das (Un-)Erklärliche eines Erfolges, S. 29. 65 Vgl. R. Schneider: Schlafes Bruder, S. 191. 66 Vgl. ebd., S. 193-198.

102 | Agnieszka Sowa

7. DER KÖRPER GOTTES Elias wirft Gott die Schuld für »das Elend, die Sünde und den Schmerz«67 vor und macht Ihn auch für seine unglückliche Liebe verantwortlich.68 Unter dem Eindruck, dass sich Gott an seinem Unglück weide, möchte er sich an Gott rächen.69 Als eine Art Antwort auf Elias‘ Beschuldigungen kann man Gottes Erscheinung in leiblicher Gestalt eines Kindes betrachten, das man erst erkennen muss: »Elias blickte auf den [...] wehrlosen Körper des Kindes. Er sah, wie der Körper fror, und er sah, daß er vom Schrund verzehrt war. Dann entdeckte er am Körper ein geheimnisvolles Mal: Das Kind hatte keinen Nabel.«70 Mark Werner interpretiert diese Erscheinung: »Im Moment der Abwendung von Gott verstößt dieser ihn nicht, sondern gewährt ihm das Erlebnis der Theophanie, der Sichtbarwerdung Gottes. Die Theophanie betont erneut die Erwähltheit des Elias; dabei ist nicht von Belang, ob es sich um eine Halluzination oder eine objektiv reale Gotteserscheinung handelt, denn für Elias ist das Erlebnis Wirklichkeit und wird bestimmend für sein weiteres Leben.«71

Der Körper Gottes ist anziehend und unantastbar (vgl. das Noli me tangereMotiv in den bildenden Künsten), zugleich auch verletzlich und leidend. Die blutende Wunde ist so mit den Wunden Christi assoziierbar: »Unsäglich sehnte es ihn nach der Schönheit, welche aus den geheimnisvollen Kindsaugen strahlte, und er wollte wenigstens die bloßen Füßchen berühren dürfen. Als er aber die Hand ausstreckte, riß der Körper des Kindes auf. Der Mund öffnete sich qualvoll, wollte sprechen und vermochte es nicht. [...] Die Wunde hatte zu bluten begonnen. [...] Elias streckte die Hand noch einmal nach dem Kind, langsam und mit ungemein zärtlicher Geste. Wieder riß der Kindskörper auf, und wieder suchte sein Mund zu sprechen. Da ahnte Johannes Elias Alder, daß er das Kind nicht berühren durfte.«72

67 Ebd., S. 143. 68 Vgl. ebd., S. 144. 69 Vgl. ebd. 70 Ebd., S. 147. 71 M. Werner: Schlafes Bruder – eine Heiligenlegende?, S. 115. 72 R. Schneider: Schlafes Bruder, S. 148.

ungebildetes Genie und auszubildender Körper | 103 Die wichtigste Folge der göttlichen Erscheinung ist Elias’ Befreiung73 von der Liebe zu Elsbeth, zugleich auch die Wiederherstellung der ursprünglichen Pupillenfarbe. Obwohl Gott hier als ein scheinbar wehrloses Kind erscheint, kann man die Szene doch im Lichte des Versuchs von Rudolf Otto lesen, das Wesen des Heiligen zu erfassen: »[D]ie Kreatur, die vor ihm [dem Dämonisch-Göttlichen, A.S.] erzittert in demütigsten Verzagen, hat immer zugleich den Antrieb, sich zu ihm hinzuwenden, ja es irgendwie sich anzueignen. Das Mysterium ist ihm nicht bloß das Wunderbare, es ist ihm auch das Wundervolle.«74

Die Begegnung mit Gott ist bei Schneider vor allem eine Konfrontation mit seinem unberührbaren und verwundeten Körper, der anzieht (mysterium fascinans75 von Otto), aber durch seine seltsamen Wunden auch erschreckt (mysterium tremendum76).

8. FAZIT Man kann konstatieren, dass die Körperlichkeit zum Kern des Romans von Schneider gehört, wobei der Körper seinen rätselhaften Charakter nicht einbüßt. Der Protagonist scheint einerseits einer autonomen Körperlichkeit ausgeliefert zu sein, andererseits aber versucht er, sie mittels eiserner Selbstdisziplin zu zähmen, was eng mit seiner erwachenden Künstleridentität verbunden ist, die zugleich die Diskrepanz zwischen ihm und der Rohheit der Umgebung vergrößert, indem sie Elias elitäre Züge verleiht. Der Ausgangspunkt für die autodidaktischen Fortschritte des Genies ist seine Metamorphose auf dem Stein, seine schmerzhafte Initiation in die Welt der Musik. Das tönende Universum offenbart ihm die Geheimnisse der Klang-

73 Vgl. ebd., S. 149. 74 Vgl. Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen

und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau: Trewendt und Granier 1920, S. 39. 75 Vgl. ebd., S. 13-27. 76 Vgl. ebd., S. 39-51.

104 | Agnieszka Sowa

welt und weiht ihn in das organische Leben der ganzen Natur ein. Die Folge dieses einschneidenden Erlebnisses sind Veränderungen an Elias’ Leib, also die Steigerung seiner Andersartigkeit, die ihn in einen Spannungszustand zu seinem eigenen Körper versetzt, der sich in schmerzhafter Selbstdisziplin äußert. Zu zentralen Metaphern des Textes gehört das Herzschlagen, sowohl in der Liebe als auch in der Kunst wird die Übereinstimmung und Harmonie durch den gleichen Herzrhythmus versinnbildlicht: die Körper werden aufeinander abgestimmt. Da sich die Liebe auch durch Kontrolle über den Körper ausdrückt, wird das Sexuelle aus diesem Liebeskonzept verdrängt. Höhepunkt dieser Selbstdisziplin ist der schmerzhafte Tod durch Schlafentzug. Der Körper des Musikgenies, das eigentlich zu einem Liebesgenie werden wollte, muss der Kontrolle unterworfen werden. Auch Gott, der stumme Strippenzieher im Hintergrund, kann sich paradoxerweise erst in einer kindlichen Körperlichkeit offenbaren, die Anziehung und Abschreckung zugleich darstellt.

LITERATUR Blumenberg, Hans: »Leib und Wirklichkeitsbewußtsein«, in: Ders., Beschreibung des Menschen, hg. v. Manfred Sommer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 656-776. Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M./Leipzig: Insel Verlag 1998. Eliade, Mircea: Traktat o historii religii [Dt. Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte], übers. v. Jan Wierusz Kowalski, Warszawa: Wydawnictwo KR 2000. Foucart, Claude: »Körper und Literatur«, in: Horst Albert Glaser (Hg.), Deutsche Literatur zwischen 1945-1995. Eine Sozialgeschichte, Bern/Stuttgart/Wien: Verlag Paul Haupt 1997, S. 655-671. Foucault, Michel: »Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses«, übers. v. Walter Seitter, in: Ders., Die Hauptwerke. Mit einem Nachwort von Axel Honneth und Martin Saar, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013, S. 701-1019. Hackl, Erich: »Laudatio auf Robert Schneider«, in: Moritz, Über Schlafes Bruder (1996), S. 48-55.

ungebildetes Genie und auszubildender Körper | 105 Moritz, Rainer: »Nichts Halbherziges. Schlafes Bruder: das (Un-) Erklärliche eines Erfolges«, in: Ders., Über Schlafes Bruder (1996), S. 11-29. Moritz, Rainer (Hg.): Über Schlafes Bruder. Materialien zu Robert Schneiders Roman, Leipzig: Reclam 1996. Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau: Trewendt und Granier 1920. Schneider, Robert: Schlafes Bruder. Roman, Leipzig: Reclam 1995. Schlößer, Hermann: »›Wie kein Meister vor oder nach ihm...‹. Die Einzigartigkeit des Komponisten Elias Alder«, in: Moritz, Über Schlafes Bruder (1996), S. 79-91. Werner, Mark: »Schlafes Bruder – eine Heiligenlegende?«, in: Moritz, Über Schlafes Bruder (1996), S. 100-123.

II Staatsideologien

Der Körper im Kampf Nationenbildung und Cyborgs in Franz Schauweckers und Ernst Jüngers Darstellungen des Ersten Weltkrieges Hans Esselborn

Meine Untersuchung der Kriegstexte der beiden repräsentativen Schriftsteller des rechtsradikalen, sich als revolutionär verstehenden Nationalismus der Weimarer Republik,1 soll einen wenig beachteten, aber doch zentralen Aspekt hervorheben, der beim Krieg, speziell dem Frontkampf als ›Bildungsfaktor‹ zu beachten ist. Es geht dabei primär um Disziplinierung und Konditionierung des Körpers, nicht um soziale, emotionale und geistige

1

Für eine Parallelisierung von Jünger und Schauwecker vgl. Müller, HansHarald: Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik, Stuttgart 1986, S. 25-32. Zudem hebt Müller die Bedeutung von Schauweckers Aufbruch der Nation hervor: »[E]iner der exponiertesten Ideologen des Neuen Nationalismus«, »von dessen Konzeption fast alle seine nationalistischen Nachfolger gelernt haben.« (S. 297) Jünger hat für Schauweckers Der Feurige Weg 1926 ein Vorwort geschrieben und dessen Roman 1929 sehr positiv rezensiert, Schauwecker gibt im Stahlhelm 8, Nr. 21 von 1926 einen positiven Überblick über Jüngers Werk. Beide gehören zum festen Autorenkreis der Standarte, vgl. Fröschle, Ulrich: »Radikal im Denken, aber schlapp im Handeln«? Franz Schauweckers Aufbruch der Nation (1929), in: Schneider, Thomas F./Wagener, Hans (Hg.):Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum 1. Weltkrieg. Amsterdam/New York 2003, S. 261-298, hier: S. 270.

110 | Hans Esselborn

Bildung im Sinne des klassischen Bildungsromans. Zu lesen sind die Texte als Vorgeschichte und Vorwegnahme der Diktatur des Dritten Reiches. Im Kampf zielt die Modellierung oder Abrichtung des Körpers primär auf den einzelnen isolierten Kämpfer und dann auf die Primärgruppe der durchgängig hochgeschätzten Kameradschaft. Übertragen wird die Manipulation des individuellen Kriegers auf das Heer und schließlich im politischen Kontext dann auf die Nation, die in langer Tradition als mystischer sozialer Körper aufgefasst wird.2 So schreibt Jünger im politischen Artikel Schließt euch zusammen von 1926: »Um den Staat der Frontsoldaten geht der Kampf! Die Grundeigenschaften dieses Staates haben wir zusammengefaßt als national, sozial, wehrhaft und autoritativ […].«3 Dabei kann man von einer Sozialtechnologie sprechen, die als Disziplinierung schon immer bei der Armee als sogenannter Schule der Nation üblich war, aber entsprechend der fortscheitenden Industrialisierung und Technisierung im – Ersten Weltkrieg verschärft auftritt. Der Soldat steht allein und ausgesetzt im anonymen Geschosshagel wie der fremdbestimmte Arbeiter vor dem unerbittlichen Fließband.4 Die Erfahrung der permanenten Todesdrohung wird in den Kriegsdarstellungen immer wieder notiert, aber meist von Alltagsszenen und ideologischen Deutungen in den Hintergrund gedrängt.

2

Vgl. Koschorke, Albrecht u.a: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a.M. 2007 und Eksteins, Modris: Rites of Spring. The Great War and the Birth of the Modern Age. London u.a. 1989, S. 195: »The individual was not just a particle within a utilitarian association called society, the truly German individual was the nation, the embodiment of community. And the nation, in turn, was simply ›a higher human being.‹«

3

Jünger, Ernst: Politische Publizistik 1919 bis 1933, hg., komm. und mit einem Nachwort versehen v. Berggötz, Sven Olaf, Stuttgart 2001, S. 226.

4

Vgl. Schauwecker, Franz: Aufbruch der Nation, Berlin 1930: »War hier Krieg und Schlacht oder Fabrik und Streik?! Wuchsen hier Bäume oder Schornsteine, während über ihnen Granaten hinzogen mit Geheul von Fabriksirene und zerbarsten gleich Preßlufthammerschlägen in Maschinensälen und Arbeitermassen, die wie Soldaten aussahen, herumwimmelten, daß ihnen der Kopf schwindelte und die Seele herumkreiselte wie betrunken.« (S. 312) Der Roman wird fortan mit dem Kürzel Aufbruch und einfachen Seitenzahlen zitiert. Die enge Verbindung von Krieg und Industrie, die hier als Wahnbild erscheint, ist die Kernthese Ernst Jüngers für den Ersten Weltkrieg.

Der Körper im Kampf | 111

Eine Besonderheit der Darstellung des Ersten Weltkrieges ist es, dass sein Gegenstand anders als etwa beim Bildungsroman ein reales historisches Geschehen darstellt, so dass eine Konkurrenz mit der Geschichtsschreibung besteht. Die Zeitgenossen erwarten deshalb Authentizität und korrekte Wiedergabe der Ereignisse, obwohl die chaotischen und unübersichtlichen Vorgänge nur unzureichend aus der Sicht eines einzelnen, auch nicht eines Augenzeugen, dargestellt werden können, wie es – zumindest fiktional – die Regel bei der dominanten Icherzählung oder dem personalen Bericht ist. So gelingt der Text auch nicht als subjektives Erlebnis, wie es angestrebt und behauptet wird, sondern im Grunde nur als rückschauende Konstruktion und Setzung von Sinn, die dann nachträglich einen kohärenten Zusammenhang schaffen sollen.5 Es geht beim Kampf als ›Bildungsfaktor‹ allein um die fundamentale Auswirkung des Frontgeschehens auf den Körper der Soldaten und die Folgerungen daraus. Manche Romane zeigen das Schema des Prüfungs- oder Erweckungsromans mit der anfänglichen Kriegsbegeisterung, dann der Desillusionierung durch die Wirklichkeit des Kampfes und schließlich der Konversion zu einer neuen ideologischen Deutung des Krieges, einhergehend mit der Verwandlung des Neulings in einen erprobten und automatisch handelnden Krieger. So konstatiert Jünger in seiner Rezension von Schauweckers Aufbruch der Nation die »Auffassung des Krieges als einer Prüfung, eines Weltgerichts«.6 Regelmäßig beschrieben wird die an der Front sofort beginnende Konditionierung und Selbstdisziplinierung durch die allgegenwärtigen Gefahren und die Regression auf die bedingten Reflexe des Überlebensinstinkts, konkret in der Körperbewegung des Duckens und Hinwerfens oder Losstürzens und Schießens. Aus diesen körperlichen Veränderungen ergeben sich dann die literarischen und politischen Konzepte der Autoren, die zu Wegbereitern der Nationalsozialisten wurden: ein durch Disziplinierung

5

Vgl. Horn, Eva: Erlebnis und Trauma. Die narrative Konstruktion des Ereignisses in Psychiatrie und Kriegsroman, in: Mülder-Bach, Inka (Hg.): Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges, Wien 2000, S. 131-162, hier: S. 140: »Jeder Diskurs, der über das Ereignis des Krieges ergehen soll, muß so dieses Ereignis konstruieren; er muß das Amorphe und Unüberschaubare des Kriegsgeschehens in eine Form der Ordnung, der Erzählung oder der Theorie überführen.«

6

E. Jünger: Publizistik, S. 519.

112 | Hans Esselborn

geeinter Volkskörper als Phantasma, der sich auf der Kameradschaft als Keimzelle aufbaut, wie es in den rechtradikalen Kriegsromanen von Beumelburg und Schauwecker beschworen wird, oder der ›Landsknecht‹, der zugleich eine ›organische Konstruktion‹ von Mensch und Technik, in heutiger Terminologie eine Art Cyborg ist,7 als neuer Typus des Kriegers in Ernst Jüngers verschiedenen Kriegsschriften. Es geht mir also um die anthropologischen und politischen Folgen der Konditionierung der soldatischen Körper durch die Materialschlacht und die Schlüsse daraus, nämlich eine Entindividualisierung und schließlich eine militaristische Diktatur mit Terror, Folter und Vernichtung. Davon kann man eine ideologische Dimension unterscheiden, nämlich die sogenannten Ideen von 1914, d.h. die Hoffnung auf eine neue Gemeinschaft, das Lob der Kameradschaft als positives Kriegserlebnis und schließlich die projektierte illusionäre Volksgemeinschaft des Dritten Reiches: »Endlich haben wir uns gefunden, wir, die wir uns so lange nacheinander gesehnt haben […]. Endlich ist es soweit! Da haben wir sie, die Eine, die Unlernbare, die Unverlierbare, die Einmalige, die Nation!« (Aufbruch, S. 220) Doch scheint diese ideologische Dimension auf die Handlung nur aufgesetzt und widersprüchlich.8 Ich werde zuerst die unzutreffende Einschätzung der Texte als Bildungs- und Entwicklungsromane zugunsten des Versuchs einer Definition des Kriegsromans kritisieren, dann die Körpererfahrungen und ihre Extrapolation in Franz Schauweckers Aufbruch der Nation (1929) und gelegentlich in Beumelburgs Die Gruppe Bosemüller (1930) beschreiben und schließlich Ernst Jüngers ›organische Konstruktion‹ des neuen Menschen als Kampfmaschine und ihre Verallgemeinerung für die moderne Gesell-

7

Vgl. Werber, Niels: Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltordnung. München 2007: »Bereits Jünger hat als Fluchtpunkt einer Dialektik von Züchtung und Konditionierung einen Cyborg vor Auge, eine MenschMaschine, eine technisch verstärkte ›organische Konstruktion‹.« (S. 263)

8

Schöning, Matthias arbeitet die Widersprüche zwischen der deprimierenden Fronterfahrung und der ideologischer Umdeutung heraus: »Sie interpretiert in Paratexten den Sinn des Krieges als Gemeinschaftsdienst, führt über weite Strecken aber eine Kriegsrealität vor Augen, für die alles andere als Gemeinschaftlichkeit kennzeichnend ist.« Ders.: Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914-1933, Göttingen 2009, hier: S. 294.

Der Körper im Kampf | 113

schaft in den Stahlgewittern (1920), den Kriegsessays und im Großessay Der Arbeiter (1932) entwickeln.

SIND DIE KRIEGSROMANE BILDUNGS- ODER PRÜFUNGSROMANE? Viele Forscher rechnen die nationalistischen Kriegsromane etwas leichtfertig zu den Erziehungs- oder Bildungsromanen. Während Müller von Schauweckers Aufbruch der Nation als »Initiations- und Erziehungsroman« und von einem »Konversionserlebnis« spricht,9 schreibt Fröschle vom »Bildungs- und Entwicklungsroman«,10 aber auch richtiger von Umbau und Zurichtung der Soldaten. Horn spricht von einem Bildungsprozess, der aber nur darin gipfelt, dass die Hauptfigur Leutnant wird. Diese Verwechslung von Kriegs- und Bildungsroman ist nur möglich, wenn man die Strukturen des Bildungs- und Entwicklungsromans nicht ernst nimmt und der Selbsteinschätzung der nationalistischen Autoren übernimmt, welche natürlich diese angesehene Romanform kennen und sich ihr Prestige zu Nutze machen wollen.11 So sagt Beumelburgs Hauptfigur Siewers »jetzt bin ich kein Kind mehr« und am Schluss wird er zum Offizierslehrgang geschickt mit den Worten: »Sie sind mit ihren siebzehn Jahren früh zum Manne geworden.«12 Die entscheidenden Stationen sind dabei zwei unreflektierte, spontane und isolierte Aktionen zur Eroberung eines Maschinengewehrs und zur Rettung eines Verwundeten. Zwar bietet der Entwicklungsroman ein logisches Schema, um die episodischen Kriegsabenteuer in eine scheinbar sinnvolle Reihenfolge zu bringen, aber die nationalistischen Autoren versuchen vergeblich, ihre politischen und ideologischen Folgerungen aus dem 9

H.-H. Müller: Krieg, S. 289.

10 U. Fröschle: Radikal im Denken, S. 289. 11 So übernimmt E. Horn: Erlebnis und Trauma, S. 144 kritiklos die zentrale These

Schauweckers: »Die Bildungsgeschichte Albrecht Urachs ist die allmähliche Entwicklung jener vielzitierten und paradoxen These […]: Wir mußten den Krieg verlieren, um die Nation zu gewinnen.« 12 Beumelburg, Werner: Die Gruppe Bosemüller. Der große Roman des Frontsol-

daten. Oldenburg/Berlin 1930, S. 278 bzw. 332. Fortan mit dem Kürzel Gruppe und Seitenzahlen zitiert.

114 | Hans Esselborn

Krieg, nämlich die Neubegründung der Nation, als Konsequenz einer individuellen Entwicklung der Hauptfigur erscheinen zu lassen. Damit soll deren grundlegende Veränderung nicht geleugnet werden, doch hat sie wenig mit einer typischen Bildung gemein. »Das Fronterlebnis erscheint als eine Art Initiationsritus, durch den die jungen Freiwilligen [...] von einem Allerweltszustand in einen anderen, besonderen und geheimnisvollen Zustand überführt werden.«13 Wenn die Hauptfiguren immer mehr zu Kampfmaschinen werden, die sich nur noch für das Frontgeschehen interessieren, dann kann man nur von einer einseitigen Veränderung sprechen, die durch die Front als Prüfung hervorgerufen und von plötzlichen Konversionen begleitet wird. »Der Mensch als Tier, als Automat, als Nummer, das ist der Endpunkt der Entwicklung, die Albrecht Urach und Siewers [die Hauptfiguren von Schauwecker und Beumelburg, H.E.] durchmachen.«14 Die tatsächlich dominante Fronterfahrung, nämlich die Regression auf Instinkte und die Abrichtung des Körpers bis zum vollständigen Umbau der Person wie bei Brechts Mann ist Mann, wird bei der Deutung als Erziehungsvorgang vernachlässigt, die nur zu ideologischen Positionen führt. Für den Bildungsroman kann man auf die Definition im neuen Reallexikon für Literaturwissenschaft zurückgreifen. In den Kriegsromanen fehlt zunächst die dort genannte »Selbstfindung und tatsächliche Integration in die Gesellschaft«,15 denn die Soldaten sind vollständig fremdbestimmt und an der Front ganz isoliert. Wenn in der Regel der Aufstieg zum Leutnant steht, dann in einer Armee, die abgrundtief von der Heimat getrennt ist. »Sie standen hier für sich allein da und für die kommende Nation, die nicht jenen dahinten in die Hände fallen durfte.« (Aufbruch, S. 225) Es fehlt in den Texten außer in Jüngers Sturm vollständig die geistig-künstlerische Dimension, und man kann nicht von einer teleologischen Struktur sprechen, sondern eher von einer ›Ketten‹- oder Episodenstruktur wie im Abenteuerroman. Die Allseitigkeit der gewünschten Entwicklung wie im Wilhelm Meister fehlt aber gerade bei der monomanischen Abrichtung der Helden zum Kampf. Weitere markante Unterschiede des Bildungs- zum Kriegsro-

13 Geissler, Rolf: Dekadenz und Heroismus. Zeitroman und völkisch-nationalsozialistische Literaturkritik, Stuttgart 1964, S. 77. 14 R. Geissler: Dekadenz, S. 89. 15 Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. Klaus Weimar, Bd. I,

Berlin/New York 1997, S. 230.

Der Körper im Kampf | 115

man, für den es übrigens keine Definition in den bekannten Lexika gibt, sind das Fehlen einer individuellen Entelechie infolge aktiver Bemühungen, besonders in Liebe und Beruf, die als Versuch und Irrtum strukturiert sind. Stattdessen findet eine bloße Radikalisierung in eine einzige Richtung statt, nämlich der Fähigkeit zum Kampf, ausgelöst von dem passiven Ertragen des Trommel- und Sperrfeuers als den Folgen des mechanisierten und industrialisierten Krieges. »In ihnen hat sich der ›Krieger‹ zu bewähren, dem stetigen Trommelfeuer hat er standzuhalten und so sein Heldentum in der Konfrontation von Mensch und Material zu verwirklichen.«16 Schauweckers paradoxer Schluss, der auch als Motto seinem Roman vorangestellt ist: »Wir mußten den Krieg verlieren, um die Nation zu gewinnen.« (Aufbruch, S. 402) beruht nicht auf dem Wesen und der Entwicklung Urachs zum Patrioten, sondern einerseits auf einer tiefgreifenden Verurteilung des Deutschlands vor dem Krieg, das die nationalen Belange nicht beachtet hat (vgl. Aufbruch, S. 217ff.) und andererseits einer Hochschätzung der Frontsoldaten, die aber alleine gelassen sind, durch die Erzählinstanz. In einem willkürlichen Akt der Umkehrung werden sie kontrafaktisch und hypostasierend zu Vorbildern einer ersehnten neuen Nation. Der »Entwurf einer geschlossenen und spirituell geeinten Nation« wird der Nachkriegszeit als »Aufgabe« zugewiesen.17 Schauwecker lässt seine Hauptfigur den ersten Kampf tatsächlich als Prüfung erleben (»Das war auch eine Prüfung, dachte Albrecht«, Aufbruch, S. 93) und seine Veränderung als körperliche Konversion erfahren: »Bei denen, die, wie Albrecht, es bewußt erlebten, war es eine tragische Haltung, die ihnen aus diesem Krieg erwuchs. Aber es war kein Sichfügen, sondern es war eine innere Erweckung im donnernden Stichflammenschlag der Granate, die nicht nur die Erde völlig umpflügte, sondern die zugleich ihre Herzen und Seelen umpflügte«. (Aufbruch, S. 227)

16 R. Geissler: Dekadenz, S. 85. 17 U. Fröschle: Radikal im Denken, S. 287. Vgl. Gollbach, Michael: Die Wiederkehr des Weltkrieges in der Literatur. Zu den Frontromanen der späten Zwanziger Jahre, Kronberg/Ts. 1978: »Da sich Einigkeit und Gemeinsamkeit nur an der Front und durch das Fronterlebnis gebildet und bewährt haben, wird aus dem Fronterlebnis die ausschließliche Legitimation für den Einigungsprozeß des Volkes abgeleitet.« (S. 243)

116 | Hans Esselborn

DER KÖRPER DES KRIEGERS UND DER NATION IN FRANZ SCHAUWECKERS AUFBRUCH DER NATION Die unmittelbare Wirkung des ungeheuren Lärms der Schlacht und der überwältigenden optischen Sensationen führt zur Reizüberflutung und schließlich zum Durchschlagen des Reizschutzes, das nach Freud die zahlreichen Kriegstraumata verursacht, die von der Psychologie und Psychiatrie intensiv erforscht worden sind.18 Die unmittelbare Wirkung der Regression auf den Körper ist ein häufiges Thema der Texte, was im Folgenden an Schauweckers Roman demonstriert werden soll: »Die furchtbaren Schläge der schweren Kaliber schossen schnurstracks hinab in ihre zuckenden Herzen und standen rüttelnd in ihren Knochen, daß sie selber von innen her zu kochen schienen. Das taumelnde Gewühl der Leuchtkugeln [...] fraß sich ihnen durch alle Nerven bis in die versteckteste Tiefe der Seele.« (Aufbruch, S. 173f.)

Häufig werden in den Romanen auch Nervenzusammenbrüche realistisch beschrieben und die Rolle des Körpers metaphernreich betont: »Taub und blind erkannte Albrecht den Füsilier Döring, der offenbar irrsinnig geworden war. [...] Er schrie sinnlose Worte, feuerrot im Gesicht, bückte sich besessen und schmiß sich vor, fuhr zurück und schlug ungeheuer vor, von einem donnernden Takt begleitet, von einem schütternden Rhythmus unwiderstehlich gepackt, mit wutvollen Bewegungen, als schlüge er eine gewaltige Pauke in einem nie vernommenen Orchester.« (Aufbruch, S. 255)

Weniger katastrophisch als alltäglich sind die Stresssymptome an der Front, besonders bei der ersten Begegnung mit dem Feind: »Das Herz wurde ihm ganz weiß und dünn und sang da in seiner Luftröhre durchdringend, und sein Blut irrte plötzlich so hastig und trunken, als wollte es heraus aus den

18 Vgl. Freuds zum Kriegstrauma z.B. in Jenseits des Lustprinzips und E. Horn: Erlebnis und Trauma, S. 140: »Das Verstummen, Erblinden und Ertauben, der Stupor und die Lähmungserscheinungen erscheinen als die typische Inszenierung der Bedingungen des Stellungskrieges.«

Der Körper im Kampf | 117

Adern und durch alle Poren herausspritzen. Da sah er zum ersten Mal den Feind.« (Aufbruch, S. 81) Diese Stressreaktion bereitet den Körper auf den Kampf vor und kann deshalb leicht in blinde, instinktive Bewegungen münden, die Schauwecker mit einem großen Aufgebot an Metaphern zu veranschaulichen sucht: »Sie waren alle wie rasend. Das Blut schoß durch ihre Körper wie ein Netz aus Sturzbächen zur Schneeschmelze. Ihr Gehirn brannte in einem eiskalten, überklaren Fieber. [...] Sie fühlten alles, was sie taten: Laden, Zielen, Schießen, Laden, Zielen Schießen. Sie irrten sich nie. Sie dachten mit dem Auge, mit dem Finger, mit dem Willen.« (Aufbruch, S. 85)

Der Automatismus des Kampfes, der hier hervorgehoben wird und der wie bei einem Tier rein instinktiv verläuft (vgl. Aufbruch, S. 358f), ist ein Topos der Beschreibungen des Nahkampfes. Er führt bei Jünger zum Konzept des Landsknechts als Kampfmaschine und ist eine Notwendigkeit des Überlebens, weil die Reflexion zu lange dauern würde:19 »Und in einem Hui waren alle Gedanken absolut weg, er war völlig entleert von Hirn, war nur noch ein Körper mit einem übermächtigen Willen im Kern, eine brennende Geißel aus Willen und Wut und Verachtung, einem unerträglichen Brand. Er begriff nicht mehr, als daß er herauskroch mit einem knatternden Instinkt, mit einer Seele, die plötzlich außen auf seiner Haut lag.« (Aufbruch, S, 224)20

Die ungesteuerte Bewegung des Körpers wird als befreiend empfunden, besonders nach dem Ausharren im stundenlangen Trommelfeuer im Schützengraben: »[E]ndlich, jetzt sind wir dran, jetzt können wir uns loslassen, uns entsichern und abbrennen endlich, los, los, was die Gewehre herhalten wollen […].« (Aufbruch, S. 202).21 Wichtig ist dabei die Verschmelzung

19 Vgl. M. Gollbach: Wiederkehr: »Nur dadurch, daß die Soldaten ›mit unfehlbarem Instinkt von gehetzten Tieren‹ (Aufbruch, S. 366) wie hypnotisiert und automatisch handeln, daß sie jede Reflexion als hinderlich abgetan haben, […] können sie die Herausforderung des Krieges bestehen.« (S. 147) 20 Vgl. Schauwecker: Aufbruch, S. 193: »Er war ein Automat.« 21 In Aufbruch werden die Waffen an einer Stelle als »Geschlechtsteile der Nation«

(S. 389) bezeichnet.

118 | Hans Esselborn

mit der Waffe, z.B. »da ging eine eisig bebende Ruhe von dieser exakten Waffe in sein klopfendes Herz über und ließ es nur innerlich erzittern.« (Aufbruch, S. 83), die dann bei Jünger zum zentralen Merkmal des modernen Kriegers wird. Wenn diese rein körperliche Reaktion an der Front habitualisiert wird, die über den militärischen Drill in Friedenszeiten weit hinausgeht, kann man von einem »grundlegenden Umbau des Menschen unter den Bedingungen der Materialschlacht«22 sprechen. Wie ist bei dieser Fokussierung auf den bloßen, individuellen Körper ein Übergang zu dem kollektiven Gebilde der Nation möglich, die ja angeblich durch den verlorenen Krieg gewonnen wurde, aber tatsächlich ein hypostasiertes Phantasma bleibt? Dies geht nur mit Taschenspielertricks und suggestiver Metaphorik. Letztlich beruht die Nation auf dem Opfer des Individuums: »Das eigene Leben verschwand vor dem der Nation, und wenn sie es auch nicht so aussprachen, so war es doch in Wirklichkeit so. Der Tod war weder eine Drohung noch eine Gleichgültigkeit – er war eine Gegebenheit […].« (Aufbruch, S. 263) In der medizinischen Metaphorik Schauweckers wird das entindividualisierte Ich zu einem verschwindend kleinen Teil des phantasierten kollektiven Körpers: »Er selbst floß wie ein Blutkörperchen im großen Strom der andern mit, zuckend und unruhig. Er trieb sich sozusagen im allgemeinen Kreislauf des Geschehens umher, scheinbar planlos und doch sinnvoll gelenkt von einem unsichtbaren Willen, den er selber nicht kannte und der selbst wiederum von einer andern Macht befohlen wurde.« (Aufbruch, S. 150)23

Der Verlust des Ich ist für die nationalrevolutionären Autoren gerade der Gewinn des Krieges. Entscheidend ist bei Schauwecker und noch stärker bei Beumelburg die viel beschworene Frontkameradschaft, welche zum vermittelnden Glied zwischen dem einzelnen Soldaten und der Nation wird: »Auf diese Weise wird die Kameradschaft zum Vorreiter und Wegbereiter

22 E. Horn: Erlebnis und Trauma, S. 139. 23 Ähnlich an anderer Stelle: »Sein Nachbar schoß vielleicht auf denselben Mann, der für sie nur ein Punkt war, ein Teilchen, ein Blutkörper in einem mächtigen Körper, ja, bei Gott, nur eine verlorene Zelle, auf die es nicht weiter ankam.« Aufbruch, S. 84.

Der Körper im Kampf | 119

der künftigen Volksgemeinschaft überhöht.«24 Siewers schreibt in einem Brief aus dem Lazarett: »Vielleicht ist die Kameradschaft nur der kleine sichtbare, für uns faßbare Teil des Ganzen. Denn, so sage ich mir, wie es bei uns ist, so ist es gewiß auch bei den andern, beim ganzen Heer, wir können es nur nicht sehen. Später aber, wenn wir zurückkommen, so werden wir einander gewiß sehn, und dann wird aus den vielen kleinen Kreisen der große Kreis, der das Ganze umfasst [nämlich die Nation, H.E.]«. (Gruppe, S. 263)

Bei Schauwecker nennt die Hauptfigur in einem dramatischen Moment des mörderischen Kampfes vor Verdun das angebliche Fazit des Kampfes: »[E]s ist uns viele Jahre mit Blut und Erde und Schweiß eingehämmert worden: wir sind nicht allein für uns, wir sind ein geschlossener, gewachsener Körper, eine Nation! Wir sind doch Kameraden! Kameraden! Da hast du das Wort und das Erlebnis.« (Aufbruch, S. 401)

DIE KAMPFMASCHINE: ERNST JÜNGERS KONSEQUENZ AUS DEM MECHANISCHEN KRIEG Bei Ernst Jünger werde ich mich auf die Aussagen zum soldatischen Körper in den Schriften zum Krieg von 1920 bis 1934 konzentrieren, da sich Jünger danach anderen Themen zuwendet. Schon in der einleitenden Szene der Stahlgewitter wird die plötzliche und anonyme Bedrohung der Körper durch einen Granateneinschlag, welcher automatische körperliche Reaktionen auslöst, als typisch für den Krieg beschrieben: »Wieder ertönte ein eigenartiges, nie gehörtes Flattern und Rauschen über uns und ertrank in polterndem Krachen. Ich wunderte mich, daß die Leute um mich sich zusammenduckten wie unter furchtbarer Drohung. [...] Der Krieg hatte seine Krallen gezeigt und die gemütliche Maske abgeworfen. Das war so rätselhaft, so unpersön-

24 Wieland, Klaus: Politische Reflexionen im Kriegsroman der Weimarer Republik. In: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik, Bd. 16 (2013/14), S. 115-144, hier: S. 135.

120 | Hans Esselborn

lich. Kaum, daß man an den Feind dachte, dies geheimnisvolle, tückische Wesen irgendwo dahinten.«25

Eine paradigmatische, fast metaphysische Szene des Grauens ist die Katastrophe im Granatentrichter, deren Kern schon im originalen Tagebuch Jüngers zu finden ist: »Im selben Moment pfiff es wieder in der Luft, jeder hatte das Empfinden: Die kommt hierher, dann gab es einen furchtbaren Knall. Die Granate war mitten unter uns geschlagen. Ein furchtbares, nicht mehr menschliches Gebrüll erscholl aus vielen Kehlen. Das unsägliche Grauen wurde noch durch ein intensives rosa Licht erhöht, das von der Maschinen-Gewehr-Munition herrührte, in welche die Granate eingeschlagen war. Dieses Licht zeigte den schwelenden Qualm des Einschlages und eine Reihe sich wälzender Körper, außerdem die nach allen Seiten auseinanderstiebenden Überlebenden.«26

Bemerkenswert ist, dass Jünger im Roman seine Reaktion infolge der Reizüberforderung notiert, die im Tagebuch nur angedeutet ist: »Ich will nicht verheimlichen, daß ich zunächst, wie alle anderen, nach einem Augenblick starren Entsetzens aufsprang und planlos in die Nacht rannte.« (Stahlgewitter, S. 504f.) Noch deutlicher wird im weiteren Verlauf dann sein Nervenzusammenbruch aus beiläufigem Anlass beschrieben: »Diese Beobachtung gab mir den Rest. Ich warf mich zu Boden und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus, während die Leute düster um mich herumstanden.« (Stahlgewitter, S. 506f.) Eine andere Art der Regression zu instinktmäßigem und automatischem Handeln, dieses Mal aber als aktive und lustvolle Bewegung, wird später im Verlauf der großen Schlacht beschrieben. »Der Erfolg hatte Angriffsgeist und Draufgängertum jedes Einzelnen zur Weißglut entfacht. Von der

25 1. Fassung von 1920, zit. nach der historisch-kritischen Ausgabe Jünger, Ernst: In Stahlgewittern, hg. v. Helmuth Kiesel, Stuttgart 2013, S. 28f. 26 Jünger, Ernst: Kriegstagebuch 1914-1918, hg. v. Helmuth Kiesel, Stuttgart

2010, Eintrag vom 19.II.18, S. 373. In der 1. und letzten Fassung der Stahlgewitter wird die Bewegung der Schwerverwundeten, erinnernd an das Haupt der versteinernden Medusa, ähnlich beschrieben, vgl. E. Jünger: Stahlgewitter, S. 504f.

Der Körper im Kampf | 121

Führung einheitlicher Verbände war keine Rede mehr. Trotzdem kannte jeder Mann nur noch eine Parole: ›Vor!‹ Jeder rannte geradeaus los.« (Stahlgewitter, S. 528f.)27 Während in den Stahlgewittern das instinktmäßige, fast tierische Reagieren betont wird, entwickelt Jünger in dem Essay Der Kampf als inneres Erlebnis die Figur des Landsknechts als eines dem mechanischen und industrialisierten Kampf angemessenen Kriegers, dessen Körper wie eine unsensible Kampfmaschine automatisch agiert und reagiert. Auch hier überdeckt die Metaphorik ungelöste Fragen und Widersprüche wie bei Schauwecker: »Es war eine ganz neue Rasse, verkörperte Energie und mit höchster Wucht geladen. Geschmeidige, hagere, sehnige Körper, markante Gesichter, Augen, in tausend Schrecken unterm Helm versteinert. Sie waren Überwinder, eingestellt auf den Kampf in seiner gräßlichsten Form. [...] Jongleure des Todes, Meister des Sprengstoffes und der Flamme, prächtige Raubtiere, schnellten sie durch die Gräben. Im Augenblick der Begegnung waren sie der Inbegriff des Kampfhaftesten, was die Welt tragen konnte, die schärfste Versammlung des Körpers, der Intelligenz, des Willens und der Sinne.«28

Hier deutet sich die Synthese von Technik und Trieb bereits an, die dann im Arbeiter zum Konzept der menschlichen Kampfmaschine weiterentwickelt

27 Vgl. auch Jünger, Ernst: Feuer und Blut, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1, Stuttgart 1980, S. 441-538, hier: S. 491: »Keiner ist mehr bei klarem Verstand. Keiner denkt mehr, und doch werden alle Handlungen von einer höheren Vernunft von außen her, irgendwie gedacht. Das ist auch notwendig, denn wer wollte sich hier noch verständigen oder Befehle geben?« 28 Jünger, Ernst: Der Kampf als inneres Erlebnis, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd.

7, Stuttgart 1980, S. 11-104, hier: S. 37. Dieser Essay wird fortan mit der Kürzel Kampf und einfachen Seitenzahlen zitiert. Vgl. die Symbiose von Körper und Maschine bei Segeberg, Harro: Regressive Modernisierung, in: Ders. (Hg.): Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes ›Arbeit‹ in der deutschen Literatur (1770-1930), Tübingen 1991, S. 337-378, insbesondere S. 356f.: »Die Mechanisierung des Menschen zur Kampfmaschine wird hier nicht abgelehnt, sondern perfektioniert und zu einer von allen retardierenden Faktoren entschlackten reinen Funktionalität entstofflicht.«

122 | Hans Esselborn

wird, verstanden als Cyborg mit der Verschmelzung von Körper und Waffe. Schon in der Erzählung Feuer und Blut, welche die Frühjahrsoffensive 1918 als Grundmodell des neuen Kampfes beschreibt, erscheinen die Frontsoldaten in ihrer Aktion als triebhafte Kampfmaschinen. »Bis in die Selbstwahrnehmung seiner Figuren hinein will Jünger zeigen, daß seine Elite-Kämpfer gerade als erhitzte Kämpfernaturen mit der Eises-Kälte einer maschinenhaften Präzision höherer Ordnung handeln können.«29 Bemerkenswert ist die deutliche Abgrenzung vom traditionellen Bildungs- und Erziehungskonzept, denn es wird zwar der Krieg als »große Schule« bezeichnet (Kampf, S. 73, erinnernd an die fragwürdige Bezeichnung der Armee als ›Schule der Nation‹), aber die entscheidende Metaphorik zeigt, dass der Mensch durch den Krieg nicht erzogen, sondern produziert wird. »Der Stil der Materialschlacht und des Grabenkampfes, der rücksichtsloser, wilder, brutaler ausgefochten wurde als je ein anderer, erzeugte Männer, wie sie bisher die Welt nie gesehen hatte.« (Kampf, S. 37) Jünger liebt dafür auch die Bildlichkeit des Schmiedens: »Der Krieg Vater aller Dinge ist auch der unsere; er hat uns gehämmert, gemeißelt und gehärtet zu dem, was wir sind.« (Kampf, S. 11) Der Autor spielt auch mit der Zweideutigkeit des Wortes ›(er-)zeugen‹: »Der Krieg ist unser Vater, er hat uns gezeugt im glühenden Schoß der Kampfgräben als ein neues Geschlecht, und wir erkennen mit Stolz unsere Herrschaft an.«30 Im Kampf als inneres Erlebnis finden sich auch Hinweise auf einen übergeordneten Organismus, einerseits die kämpferische Primärgruppe der Kameradschaft: »Wir sind Kameraden, wie nur Soldaten es sein können, durch Tat, Blut und Gesinnung zu einem Körper und einem Willen verwachsen.« (Kampf, S. 99); andererseits das Heer als phantasmatischer Großkörper ähnlich wie bei Schauwecker: »Das merkt man, wenn man als Zelle im Körper eines Heeres lebt.« (Kampf, S. 92) Der Cyborg als ›organische Konstruktion‹ wird ausdrücklich im späteren Großessay Der Arbeiter von 1932 entwickelt. Die ›Gestalt‹ des ›Arbeiters‹ (beide Begriffe werden von Jünger radikal umgeprägt, man könnte sagen mythisiert) kann als die verallgemeinerte Form des Frontsoldaten verstanden werden: »Eines der ersten Beispiele für den Repräsentanten des ak-

29 H. Segeberg: Modernisierung, S. 358. 30 E. Jünger: Publizistik, S. 185.

Der Körper im Kampf | 123

tiven Typus verkörpert der namenlose Soldat.«31 Der Frontsoldat ist der Prototyp »solcher organischer Konstruktionen, in denen dieselbe metaphysische Macht, dieselbe Gestalt, die als Technik die Materie mobilisiert, sich nunmehr auch die organischen Einheiten [d.h. die Menschen, H.E.] zu unterstellen beginnt. So betrachteten wir die Auslese, die über den eintönigen Gang der Materialschlachten hindurch auf den Kampfprozeß Einfluß gewinnt [...].« (Arbeiter, S. 123)

Die menschliche Kampfmaschine beruht einerseits auf der Symbiose von Krieger und Waffe, die kennzeichnend für die ›Fürsten der Gräben‹ ist: »[W]ir streiften bereits den Begriff der organischen Konstruktion, die sich in Bezug auf den Typus äußert als enge und widerspruchslose Verschmelzung des Menschen mit den Werkzeugen, die ihm zur Verfügung stehen.« (Arbeiter, S. 171) Andererseits wird die Technik für den konditionierten Frontkämpfer zur zweiten Natur.32 Genau dies ist der Sinn der ›organischen Konstruktion‹, wie sie im Arbeiter definiert wird: „[D]ie Technik wird Organ und tritt als selbständige Macht zurück in demselben Maße, in dem sie an Perfektion und damit an Selbstverständlichkeit gewinnt.« (Arbeiter, S.

31 Jünger, Ernst: Der Arbeiter, in: Ders.: Sämtliche Werke Bd. 8, Stuttgart 1981, S. 9-318, hier: S. 157. Dieses Werk wird fortan mit dem Kürzel Arbeiter und einfachen Seitenzahlen zitiert. Vgl. Wünsch, Marianne: Ernst Jüngers Der Arbeiter. Grundpositionen und Probleme, in: Hagstedt, Lutz (Hg.): Ernst Jünger. PolitikMythos-Kunst, Berlin/New York 2004, S. 459-476, insbesondere S. 465f.: »Laut Jünger tritt nun die neue Gestalt des ›Arbeiters‹ erstmals mit dem ›Frontsoldaten‹ in die Geschichte ein, wie er sich gemäß Jüngers Kriegsbüchern im Verlaufe des Ersten Weltkriegs entwickelt hätte, um in seiner höchsten Ausprägung im Stoßtruppführer zu kulminieren. [...] Wenn aber Jüngers Lieblingstyp von Krieger, die fast schon gefühlsfreie, unter allen Bedingungen funktionsfähige Kampfmaschine, erst Ausbildung der – und Modell für die neue – ›Gestalt‹ des ›Arbeiters‹ ist, dann hat Jünger zugleich endlich die aposteriorische Sinngebung des Krieges geschafft.« 32 »Wenn sein Sturmtruppenkämpfer im Wettlauf über die Trichterfelder ‚tanzt’, so hat er seine natürliche Grazie wiedergewonnen, weil er sich die Disziplinierung zur Kampfmaschine gleichsam als neue Natur aneignet.« H. Segeberg: Modernisierung, S. 372.

124 | Hans Esselborn

190) Die gezielte Verwandlung des Kämpfers in eine emotionslose Kampfmaschine durch Schocks, wie sie der Nahkampf mit sich bringt, wird im Essay Über den Schmerz von 1934 entwickelt.33 Die journalistischen Artikel der zwanziger Jahre, in denen Jünger immer radikaler für einen neuen revolutionären Nationalismus wirbt, feiern unisono den Frontsoldaten als neue Elite und fordern ihn als Vorbild für die Nation und den Staat nach der nationalistischen Revolution. Damit wird die schon beschriebene cyborgartige Figur des Landsknechts für die Gesellschaft verallgemeinert. So »gehört es heute zu den Aufgaben der Nation, daß sie sich nicht mehr nach individuellem Muster, sondern als Repräsentanten der Gestalt des Arbeiters begreift.« (Arbeiter, S. 201) Im Essay Der Arbeiter ist Arbeit zum allumfassenden Begriff menschlichen Lebens geworden, nämlich als disziplinierte Tätigkeit nach dem Vorbild der Kriegsarbeit der Frontsoldaten: »Arbeit ist das Tempo der Faust, der Gedanken, des Herzens, das Leben bei Tage und Nacht, die Wissenschaft, die Liebe, die Kunst, der Glaube, der Kultus, der Krieg.« (Arbeiter, S. 72) Jünger entwickelt also progressiv im Roman und in den Essays das Konzept des Kriegers als Kampfmaschine, in seinen politischen Schriften der Zwischenkriegszeit als Kern der erst neu zu schaffenden Nation, dann im Arbeiter als Typus einer planetarischen, industriellen Zivilisation. Schauwecker fordert als Wunschziel und Paradox die Nation, die von den Frontkämpfern erst nach ihrem Vorbild geschaffen werden müsste, nämlich aufgrund ihrer körperlichen Kriegserfahrungen und des Stachels der Niederlage.34 Der Kampf konditioniert bei beiden den Soldaten zur Regression auf bedingte Reflexe, so dass er für eine militaristische und autoritäre Dik-

33 Vgl. Koschorke, Albrecht: Der Traumatiker als Faschist. Ernst Jüngers Essay Über den Schmerz, in: Inka Mülder-Bach (Hg.), Modernität und Trauma, S. 211-227, insbesondere S. 217: »Der Essay Über den Schmerz ist eine Streitschrift für die Unempfindlichkeit, für das Heraustreten des Bewußtseins aus seiner Bindung an den kreatürlichen Leib, für dessen Neutralisation als Instrument und Präparat.« 34 Vgl. Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt a.M. 1983, insbe-

sondere S. 750: »[D]ie deutschen Kriegsopfer waren sinnlos. Doch diese Sinnlosigkeit muß überwunden werden, weil man es will. Man überwindet sie, indem man fordert, daß es einen Sinn geben muß – und wenn man ihn persönlich mit Gewalt herbeiführt.«

Der Körper im Kampf | 125

tatur wie die des Dritten Reiches geeignet wird. »Der Staat als Machtinstrument funktioniert auf die gleiche Weise wie der soldatische Körper; erst nach langen Kämpfen gegen alles den eigenen Produktionen nicht Entsprechende kann eine starke wehrhafte und einige Nation bestehen.«35 In der Metaphorik des 18. Jahrhunderts wird der Krieger zum Rädchen geformt, das nur als Teil der übergreifenden Maschinerie des Staates funktioniert, ganz im Gegensatz zum selbstverantwortlichen und reflektierenden Individuum des Bildungsromans.

LITERATUR Amberger, Waltraud: Männer, Krieger, Abenteurer. Der Entwurf des ›soldatischen Mannes‹ in Kriegsromanen über den Ersten und Zweiten Weltkrieg, Frankfurt a.M.: Rita G. Fischer-Verlag 1984. Beumelburg, Werner: Die Gruppe Bosemüller. Der große Roman des Frontsoldaten. Oldenburg/Berlin: Stalling-Verlag 1930. Eksteins, Modris: Rites of Spring. The Great War and the Birth of the Modern Age. London u.a.: Bantam Press 1989. Fröschle, Ulrich: »Radikal im Denken, aber schlapp im Handeln«? Franz Schauweckers Aufbruch der Nation (1929), in: Schneider, Thomas F./Wagener, Hans (Hg.): Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum 1. Weltkrieg. Amsterdam/New York: rodopi 2003, S. 261-298. Geissler, Rolf: Dekadenz und Heroismus. Zeitroman und völkischnationalsozialistische Literaturkritik, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1964. https://doi.org/10.1524/9783486703740 Gollbach, Michael: Die Wiederkehr des Weltkrieges in der Literatur. Zu den Frontromanen der späten Zwanziger Jahre, Kronberg/Ts.: Scriptor 1978. Horn, Eva: Erlebnis und Trauma. Die narrative Konstruktion des Ereignisses in Psychiatrie und Kriegsroman, in: Mülder-Bach, Inka (Hg.): Mo-

35 Amberger, Waltraud: Männer, Krieger, Abenteurer. Der Entwurf des ›soldatischen Mannes‹ in Kriegsromanen über den Ersten und Zweiten Weltkrieg, Frankfurt a.M. 1984, S. 146.

126 | Hans Esselborn

dernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges, Wien: WUV-Universitätsverlag 2000, S. 131-161. Jünger, Ernst: Feuer und Blut, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1. Stuttgart: Klett-Cotta 1978, S. 439-537. Jünger, Ernst: Der Kampf als inneres Erlebnis, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 7, Stuttgart: Klett-Cotta 1980, S. 11-103. Jünger, Ernst: Der Arbeiter, in: Ders.: Sämtliche Werke Bd. 8, Stuttgart: Klett-Cotta 1981, S. 9-318. Jünger, Ernst: Politische Publizistik 1919 bis 1933, hg., komm. und mit einem Nachwort versehen v. Berggötz, Sven Olaf, Stuttgart: Klett-Cotta 2001. Jünger, Ernst: Kriegstagebuch 1914-1918, hg. v. Helmuth Kiesel, Stuttgart: Klett-Cotta 2010. Jünger, Ernst: In Stahlgewittern, hg. v. Helmuth Kiesel, Stuttgart: KlettCotta 2013. Schauwecker, Franz: Aufbruch der Nation, Berlin: Frundsberg-Verlag 1930. Koschorke, Albrecht u.a: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2007. Koschorke, Albrecht: Der Traumatiker als Faschist. Ernst Jüngers Essay Über den Schmerz, in: Inka Mülder-Bach (Hg.): Modernität und Trauma, Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges, Wien: WUVUniversitätsverlag 2000, S. 211-227. Müller, Hans-Harald: Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik, Stuttgart: Metzler 1986. https://doi.org/ 10.1007/978-3-476-03231-7 Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. Klaus Weimar, Bd. I, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1997. Schöning, Matthias: Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914-1933, Göttingen: Vndenhoeck & Ruprecht 2009. Segeberg, Harro: Regressive Modernisierung, in: Ders. (Hg.): Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes ›Arbeit‹ in der deutschen Literatur (1770-1930), Tübingen (Niemeyer) 1991, S. 337-378. Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983.

Der Körper im Kampf | 127

Werber, Niels: Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltordnung. München: Hanser 2007. Wieland, Klaus: Politische Reflexionen im Kriegsroman der Weimarer Republik, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik, Bd. 16 (2013/14), S. 115-144. Wünsch, Marianne: Ernst Jüngers Der Arbeiter. Grundpositionen und Probleme, in: Hagstedt, Lutz (Hg.): Ernst Jünger. Politik-Mythos-Kunst, Berlin/New York: Walter de Gruyter 2004, S. 459-476.

Der Körper als gelenkte Funktionseinheit Nationenbildung im Frankenburger Würfelspiel Eberhard Wolfgang Möllers Joanna Szczukiewicz/Paweł Moskała

THINGSPIEL ALS NATIONALSOZIALISTISCHES THEATERKONZEPT Direkt nach Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 wird der gesamte Kulturbereich von den Nationalsozialisten zentralisiert und durch das am 13. März 1933 errichtete Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda überwacht. Unter der Leitung von Joseph Goebbels kontrolliert man Presse, Film, Literatur, bildende Kunst und nicht zuletzt Theater, dem eine besondere Stellung in der Kulturpolitik des Dritten Reiches zugeschrieben wird,1 denn »keine Art der Beeinflussung [...] ist so gewaltig und nachhaltig wirksam wie die durch die Darstellung eines Stückes auf der

1

Die Sonderstellung des Theaters propagieren bereits in den 30er Jahren viele Wegbereiter des Kulturestablishments des (frühen) Dritten Reiches, so etwa der Theaterwissenschaftler Carl Niessen, der Reichsdramaturg Rainer Schlösser, der Leiter der Theaterabteilung im RMfVP und der Präsident der Reichstheaterkammer Otto Laubinger, der Geschäftsführende Vorsitzende des Reichsbundes zur Förderung der Freilichtspiele Karl Wilhelm Gerst und nicht zuletzt der Schriftsteller Eberhard Wolfgang Möller. Vgl. Ketelsen, Uwe-K.: »Völkische Nationenbildung: Das Thingspiel«, in: Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik und Literatur 2 (2004), S. 31-33, hier: S. 31.

130 | Joanna Szczukiewicz, Paweł Moskała

Bühne«2 – konstatiert der Vertreter der NS-Kulturgemeinde Friedrich Billerbeck-Gentz.3 Ein neues Zeitalter der deutschen Theatergeschichte verkündet am 8. Mai 1933 kein anderer als Goebbels mit den Worten: »Wir Nationalsozialisten werden Volk und Bühne wieder zusammenbringen, wir werden das Theater der Fünfzig- und Hunderttausend schaffen, wir werden auch den letzten Volksgenossen in den Bann der dramatischen Kunst ziehen und ihn durch sie immer von neuem für die großen Gegenstände des völkischen Lebens begeistern«.4

Als genuine Theaterkonzeption des Nationalsozialismus wurde häufig das Thingspiel betrachtet. Die Bezeichnung dieser Theaterform geht auf das althochdeutsche Wort ›thing‹ oder ›ding‹ zurück, das gleichviel wie Gerichtsverhandlung oder Streitsache bedeutete.5 Dem römischen Historiker Tacitus zufolge bestimmte diese Form der Volks- und Gerichtsversammlung die germanische Rechtsprechung, die von freien Repräsentanten des Volkes getragen wurde. Die Volksvertreter versammelten sich auf einem dafür bestimmten Ort unter freiem Himmel, d.i. der Thingstätte, um über anfallende juristische Fälle zu richten.6 Das nationalsozialistische Theaterkonzept des Thingspiels greift auf diese rechtlich-politischen Zusammenkünfte freier Männer zurück, die die

2

Billerbeck-Gentz, Friedrich: Die Ausschaltung des Liberalismus am deutschen Theater. Deutsche Kultur-Wacht, 28. Oktober 1933, zit. nach: Wulf, Joseph: Theater und Film im Dritten Reich, Gütersloh: Sigbert Mohn Verlag 1964, S. 146.

3

Die Nationalsozialistische Kulturgemeinde (NSKG) wurde 1934 gegründet, entstand aus dem Reichsverband Deutsche Bühne und dem Kampfbund für deutsche Kultur, diente der Überwachung des Kunstlebens, vgl. Gimmel, Jürgen: Die politische Organisation kulturellen Ressentiments. Der »Kampfbund für deutsche Kultur« und das bürgerliche Unbehagen an der Moderne, Münster u.a.: Lit 2001, S. 110.

4

Heiber, Helmut (Hg.): Goebbels-Reden, Bd. 1, Düsseldorf: Droste Verlag 1971, S. 41.

5

Vgl. Pfeifer, Wolfgang: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Bd. 1, Berlin: Akademie Verlag 1993, S. 227.

6

Vgl. Tacitus: Dialogus, Agricola, Germania, London: William Heinemann 1914, S. 278ff.

Der Körper als gelenkte Funktionseinheit | 131

höchste Instanz im Strafverfahren darstellen.7 Die auf dem Gerichtskonzept aufbauende Theaterform ist nicht monolithisch. Neben der germanischen Tradition aktualisiert sie auch Elemente der griechischen Tragödie, der mittelalterlichen Mysterienspiele und des proletarischen Theaters der Weimarer Republik.8 Das Thingspiel, dessen Bezeichnung auf einen Vorschlag des Leiters des Theaterwissenschaftlichen Instituts in Köln Carl Niessen vom Juli 1933 zurückgeht, verhandelt das Bühnenstück als Gesamtkunstwerk, in dem die räumliche Ebene, musikalische Gestaltung und Handlung zu einer Einheit werden. 9 Kennzeichnende Elemente des Thingspiels sind die Adressierung an ein Massenpublikum, Freilufttheater-Architektur im Sinne eines im Freien errichteten Amphitheaters, Aufmärsche und ritualisierte Bewegungsabläufe, sportlich-akrobatische Darbietung sowie Einbeziehung von Chor und Landschaft in das Geschehen.10

SONDERSTELLUNG DES FRANKENBURGER WÜRFELSPIELS IM THINGSPIELPROJEKT Nach dem intensiven Beginn der Thingspielbewegung im Jahre 1933 erlebt das von der Kulturführung proklamierte nationale Massentheater im Freien schnell einen erheblichen Bedeutungsrückgang. Den Grund dafür erkennt Goebbels im Mangel an treuen NS-Dichtern und distanziert sich von der

7

Vgl. Reichl, Johannes M.: Das Thingspiel. Über den Versuch eines nationalsozialistischen Lehrstück-Theaters (Euringen – Heynicke – Möller). Mit einem Anhang über Bert Brecht, Frankfurt am Main: Verlag Dr. Mißlbeck 1988, S. 6.

8

Vgl. Stephan, Inge: »Literatur im Dritten Reich«, in: J.B. Metzler: Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart: J.B. Metzler 2013, S. 437-454, hier: S. 443.

9

Vgl. Hopster, Norbert: »Das »Dritte Reich«. Gesamtkunstwerk oder ästhetisch inszenierte Ganzheit?«, in: Hans Günther (Hg.), Gesamtkunstwerk: zwischen Synästhesie und Mythos, Bielefeld: Aisthesis Verlag 1994, S. 241-258, hier: S. 248.

10 Vgl. Bochow, Jörg: »Thingspiel«, in: Gerd Koch/Marianne Streisand (Hg.), Wörterbuch der Theaterpädagogik, Uckerland: Schribi Verlag 2003, 337-342, hier: S. 337.

132 | Joanna Szczukiewicz, Paweł Moskała

einst eingepflanzten Idee des Theaters »der Hundert und Fünfzigtausend«.11 Bis auf Richard Euringers Deutsche Passion (1933) und Kurt Heyneckes Neurode (1934) erregen lange Zeit keine weiteren Thingspiele ein größeres Aufsehen. Erst 1936 unternimmt Goebbels einen erneuten Versuch, das Thingspiel auf die Bühne zu bringen. Den Anlass dafür liefern die Olympischen Sommerspiele 1936 und die geplante Einweihung der DietrichEckart-Freilichtbühne in Berlin.12 Für die Ausführung des erwünschten Thingspielprojekts wählt Goebbels den Parteidichter Eberhard Wolfgang Möller, den er bereits 1935 mit dem ›Nationalen Buchpreis‹ auszeichnete.13 Einige Tage nach der Uraufführung des Thingspiels Das Frankenburger Würfelspiel berichtet die Presse:

»Im Rahmen der XI. Olympischen Spiele Berlin 1936 fanden eine Reihe künstlerischer Veranstaltungen statt, unter denen besonders die Uraufführung von Eberhard Wolfgang Möllers [ …]

Frankenburger Würfelspiel auf der Dietrich Eckart-

Freilichtbühne hervorragte. Die Dietrich Eckart-Freilichtbühne war auf dem Reichssportfeld in einer Talschlucht nach klassischem griechischem Vorbild als offenes Amphitheater angelegt worden und bietet rund 20 000 Menschen Platz. Das Schauspiel Möllers, das eigens für diese Bühne geschrieben worden war, stellte einen ersten Versuch dar, ein Drama der Volksgemeinschaft zu schaffen. Die größte deutsche Freilichtbühne bietet einen weiten Raum zur Entfaltung großer Menschenmassen und gewährleistet trotz ihrer Größe durch eine ausgedehnte Mikrophon- und Lautsprech-Anlage das Verständnis jedes gesprochenen Wortes auf allen Zuschauerplätzen«.14

11 Vgl. Rischbieter, Henning: »Teil I: NS-Theaterpolitik«, in: Ders. (Hg.), Theater im »Dritten Reich«: Theaterpolitik, Spielplanstruktur, NS-Dramatik, SeelzeVerlber: Kallmeyer 2000, S. 13-94, hier: S. 41. 12 Vgl. Bumm, Peter: Drama und Theater der Konservativen Revolution, München: Diss. Univ. München 1971, S. 196. 13 Vgl. Busch, Stephan: »Und gestern, da hörte uns Deutschland«. NS-Autoren in der Bundesrepublik, Würzburg: Königshausen & Neumann 1998, S. 149. 14 Das Archiv vom August 1936, zit. nach Toepser-Ziegert, Gabriele (Hg.): Zeitgeschichtliche Sammlung 101/8/29/Nr. 698, in: NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit. Edition und Dokumentation Bd. 4/I: 1936, München u.a.: Saur 1993, S. 743.

Der Körper als gelenkte Funktionseinheit | 133

Das Thingspiel15 erweist sich als eine Erfolgsinitiative und erringt internationalen Ruhm. Neben Rezensionen in deutschsprachigen Zeitungen erfreut sich Möllers Stück eines besonderen Interesses im niederländischen, französischen und englischen Raum.16 Den eigentlichen Erfolg dieses Thingspiels sucht man durch die überwältigende Auswirkung der Inszenierung

15 Sobald man 25 Jahre nach dem Ende der Thingspielbewegung erste Forschungsfragen zu dieser Theaterform formuliert, wird schnell deutlich, dass Das Frankenburger Würfelspiel einen der zentralen Bezugspunkte herstellt. Von dem breiten Rezeptionsspektrum des Frankenburger Würfelspiels berichtet als erster Hennig Eichberg (Eichberg, Hennig: »Thing-, Fest- und Weihespiele in Nationalsozialismus, Arbeiterkultur und Olympismus«, in: Ders. et al.: Massenspiele, NS-Thingspiel, Arbeiterweihespiel und olympisches Zeremoniell, Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1997, S. 19-159), indem er Rezensionen in inund ausländischen Medien analysiert. In weiteren Studien, wie etwa von Hannelore Wolff (Wolff, Hannelore: Volksabstimmung auf der Bühne? Das Massentheater als Mittel politischer Agitation, Frankfurt a.M.: Lang 1985) und aktueller Frank Bodesohn (Bodesohn, Frank: Literatur als Propagandainstrument des NS-Regimes, Hamburg: Diplomica 2014) wird das Augenmerk auf die ideologische Ausrichtung dieses Massenspiels gerichtet. Wolff sucht nach Richtlinien für das Thingspiel und sieht die Mythenbildung als Grundlage politischer Wirksamkeit dieser Texte. Am Beispiel des Frankenburger Würfelspiels hebt sie die Bedeutung des historischen Stoffes hervor und macht ihn zum Spiegelbild ihrer Mythentheorie. Frank Bodesohn betrachtet ebenfalls das Thingspiel als Bestandteil der Propagandaliteratur der NS-Zeit und versteht Das Frankenburger Würfelspiel als eine »Umdeutung historischen Freiheitskampfes«. (F. Bodesohn: Literatur als Propagandainstrument des NS-Regimes, S. 77.) Für Johannes M. Reichl hingegen (vgl. J.M. Reichl: Das Thingspiel) bildet der Stoff nur einen Ausgangspunkt zum Verständnis des Thingspiels als Lehrstück. Die agitatorische und belehrende Funktion dieser Theaterform liegt für ihn besonders in Maßnahmen, die zur Herausbildung einer einheitlichen Volksgemeinschaft führen. Darunter stellt er vor allem die Figuren und den Chor in den Vordergrund, die er als Motoren für die Verbreitung der nationalsozialistischen Lehre betrachtet. 16 Vgl. H. Eichberg: »Thing-, Fest- und Weihespiele in Nationalsozialismus, Arbeiterkultur und Olympismus«, S. 51f.

134 | Joanna Szczukiewicz, Paweł Moskała

auf das Publikum zu erklären, denn Das Frankenburger Würfelspiel wird noch, wie kein anderes Thingstück, über fünfzig Mal aufgeführt.17

ZUM TEXTINHALT In seinem Text rekurriert Möller auf ein historisches Ereignis: den als ›Frankenburger Würfelspiel‹ bezeichneten Beginn des Bauernkrieges in Oberösterreich im Jahre 1625.18 Zum Auslöser dieses blutigen Bauernaufstandes wurde der Versuch, das protestantische Frankenburg zum katholischen Glauben zu bekehren. Möller fokussiert sich auf den Schlusspunkt der brutalen Auseinandersetzung, die durch die grausame Bestrafung der Rebellen berühmt werden sollte: Nachdem der bayrische Statthalter Graf Adam von Herbersdorf die 36 Rädelsführer zum Tode verurteilt hatte, entschied er sich, die Hälfte der Verurteilten freizulassen. Die Betroffenen sollten paarweise um ihr Leben würfeln, die Gewinner kamen mit dem Leben davon. In seinem Thingspiel greift Möller den historischen Fall der juristischen Ungerechtigkeit auf, ohne auf die realen Details einzugehen. Den Bauernaufstand deutet er als einen gerechten Freiheitskampf der Unterdrückten, der der Übermacht und Willkür des Adels entgegenwirkt. Sein Thingspiel wurde zu einer auf der Bühne erfolgenden Neuauflage der Gerichtsverhandlung, mit der die Gerechtigkeit wiederhergestellt werden sollte. Zum

17 Ebd., S. 52. 18 Im Gegensatz zu anderen Thingspielen wie etwa Deutsche Passion 1933 oder Totentanz Richard Euringers, wo auf aktuelle Ereignisse eingegangen wird, wählt Möller einen historischen Stoff zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Der Grund für diesen Themenwandel resultiert aus Furcht der Reichsregierung vor »dramatischem Edelkitsch« (Wolff: Volksabstimmung auf der Bühne?, S. 198.) als mögliche Folge der Stoffverengung auf aktuelle Ereignisse, die auf längere Sicht einen negativen Einfluss auf das Ansehen der nationalsozialistischen Bewegung ausüben könnte. Der Schriftsteller selbst begründet diesen Themenwechsel mit mangelnden Interpretationen von historischen Stoffen in Hinblick auf die rassistischen Erkenntnisse der NS-Zeit (vgl. J.M. Reichl: Das Thingspiel. Über den Versuch eines nationalsozialistischen Lehrstück-Theaters, S. 94).

Der Körper als gelenkte Funktionseinheit | 135

Angeklagten wird der österreichische Kaiser Ferdinand II., der als Staatsoberhaupt des Mordes an dem Bauernvolk bezichtigt wird.19 Möller lässt sieben Richter über seinen Fall entscheiden und gliedert die Gerichtsverhandlung in zehn Auftritte. Den Strafprozess eröffnen drei Anklagereden, nach denen Kaiser Ferdinand II. und seine Räte (Larmormanini, Caraffa, Maximilian von Bayern und Bayerns Landregierender Adam von Herbersdorf) verhört werden. Das österreichische Staatsoberhaupt besteht auf seine Unschuld an der Bluttat und schiebt stattdessen die Schuld seinen Räten zu, die ihn dazu veranlasst hätten: »Fragt meine Räte doch! Wenn ich mich irrte, / sie irrten nie. Sie haben mich geleitet.«20 Ähnlich wie Ferdinand II. weisen Larmormaini, Caraffa und Maximilian von Bayern die Vorwürfe zurück. Der Letztere empfiehlt Bayerns Regierenden, Adam von Herbersdorf, zu verhören, der schließlich das Bauernvolk als den eigentlichen Schuldigen sieht: »Also erhebe ich die Klage / gegen dreihunderttausend Bauern Oberösterreichs. / Ich klage sie des Ungehorsams an.«21 Herbersdorf erklärt in seiner Aussage den organisierten Bauernaufstand zum Hauptgrund des arrangierten Todesspieles. Angesichts dieser Vorwürfe lassen die Richter das Bauernvolk post mortem vors Gericht bringen und übergeben ihm das Wort. Als einer der Rädelsführer die Angeklagten zu belehren versucht,22 entflammt ein Streit und Herr von Herbersdorf entscheidet, das Würfelspiel erneut beginnen zu lassen. Als die letzten Bauern ums Überleben ringen und die Niederlage unabwendbar scheint, taucht eine Gestalt in schwarzer Rüstung auf, die die Angeklagten zum Würfelduell fordert. Im Spiel gegen die Landesherren würfelt der Unbekannte, als »Unendlichkeit«23 bezeichnet, und deklassiert die Unterdrücker. Das Bauernvolk wird befreit und es verbreitet sich die Nachricht von der Entstehung eines neuen Geschlechts; so heißt es am Ende des Stückes: »über den Äckern und blutigen Feldern / grünt ein neues Geschlecht, unüberwindlich und groß«.24

19 Vgl. Möller, Wolfgang, E.: Das Frankenburger Würfelspiel, Berlin: Theaterverlag Albert Langen/Georg Müller 1936, S. 6 und 9. 20 Ebd., S. 12. 21 Ebd., S. 18. 22 Vgl. ebd., S. 47. 23 Ebd., S. 62. 24 Ebd., S. 64.

136 | Joanna Szczukiewicz, Paweł Moskała

KÖRPERLICHKEIT UND ERZIEHUNG DES VOLKES IM FRANKENBURGER WÜRFELSPIEL Seitdem man in der Forschung ein steigendes wissenschaftliches Interesse an der Bedeutung des Körpers in der NS-Politik verzeichnet,25 erscheint es folgerichtig, die Fragestellung der Körperlichkeit als den eigentlichen Träger der NS-Ideologie im Frankenburger Würfelspiel in den Mittelpunkt der Überlegungen zu rücken. Es stellt sich die Frage, wie der Einsatz der volksbildenden Körperlichkeit im Stück gewisse Reaktionen und Emotionen beim Publikum auslösen soll und die einzelnen Körper durch ihre Einbeziehung in das Geschehen zum Volkskörper werden lässt. Für die Einsicht in die einschlägige Problematik erscheint es hilfreich, auf den Schlüsselbegrifft des Textes, nämlich den für die nationalsozialistische Lehre zentralen Begriff der Volksgemeinschaft, verstanden als »Ausgang und Ziel der Weltanschauung und Staatsordnung des Nationalsozialismus«26, zu verweisen. Diesen Begriff spiegelt Das Frankenburger Würfelspiel bereits in der ersten Strophe des Vorspruchs wider, wo nicht an eine Einzelperson, sondern an das Wir-Gefühl appelliert wird: »Zum hohen Ruhme Gottes und im Namen / des Volks der Deutschen, dessen Stimme spricht: / ihr tausende, die hier zusammenkamen, hört dieses Spiel, das Spiel ist und Gericht.«27 Es wird überdies wahrnehmbar, dass das Volk an den Stellen, an denen im Stück sein Urteil verlangt wird, durch seine nationale Physis präsentiert sein soll – im Prolog soll seine Stimme hörbar werden, in weiteren Szenen sein Mund. So heißt es: »euer Mund verurteilt und verzeiht«28. Der kollektive Singular (»Stimme«, »Mund« statt »Stimmen«, »Münder«) impliziert zwar, dass das Volk körperlich präsent ist, offenbart allerdings zugleich auch die reale Stimmlosigkeit der einzelnen Vertreter des Volkes, da der NS-Ideologie zufolge die Stimme in aller Öffentlichkeit 25 Vgl. Kaschuba, Wolfgang: »Die Nation als Körper. Zur symbolischen Konstruktion ›nationaler‹ Alltagswelt«, in: Helmut Berding (Hg.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995, S. 291-299. 26 Brockhaus, Friedrich Arnold (Hg.): Der Volksbrockhaus A-Z, Leipzig: Brockhaus 1941, S. 741. 27 E.W. Möller: Das Frankenburger Würfelspiel, S. 7. 28 Ebd.

Der Körper als gelenkte Funktionseinheit | 137

nur dann wahrnehmbar wird, wenn sie nach den geltenden Richtlinien einheitlich ist. Es ist nicht verwunderlich, dass man im NS-Theater das Gefühl der Einheit zu induzieren versucht. Bemerkenswert in diesem Kontext ist eine symbolische Aufhebung sozialer Schranken, die das Gefühl der Verbundenheit und des gemeinsamen Schicksals noch bekräftigen soll: »Er [Gott, J.S./P.M.] ruft die Zeiten auf zu seinen Zeugen / und setzt die Völker selbst zu Richtern ein«.29 Die ideologische und zugleich utopische Überwindung der gesellschaftlichen Ungleichheit setzt die Umkehrung von gesellschaftlichen Rollen voraus, infolgedessen die »Mächtigen« sich demütig ihrem Schicksal ergeben müssen und die »Unterdrückten« zu Klägern werden.30 Demzufolge wird das Figurenpersonal des Thingspiels nicht mehr sozial strukturiert und avanciert zum Raum, in dem die gesellschaftlichen Grenzen nicht mehr gelten und alle sich zum Wohl der Gemeinschaft kollektiven Regeln unterwerfen. Die Gleichstellung der Menschen zu einer Einheit verursacht in erster Linie einen Verlust an Autonomie und Selbstbestimmung, was explizit folgendermaßen zum Ausdruck gebracht wird: »Alle / sind schuld, wenn einer schuldig ist, und einer / tat nur, was alle taten«31. Die herangezogenen Zitate dokumentieren, dass das Wir-Gefühl im Frankenburger Würfelspiel mit einer situationsgerechten Anrede an die Allgemeinheit ausgelöst wird. Die Einheit konstituiert man des Weiteren durch die Einbeziehung der Landschaft ins Geschehen. Einerseits erfolgt dies durch die Verengung der Perspektive (»Die Horizonte erzittern / Es hängen die Wolken voll Regen«32), andererseits durch eine bildhafte Annäherung ländlicher und städtischer Landschaften (»Da stehen betend die Bauern / Es rudert Wind im Getreide / und still auf verlassener Weide / hocken die Vögel. Es schauern / selbst in den Städten die Städter«33). Überdies wird das Gemeinschaftsgefühl durch eine Neudefinition des Verhältnisses zwischen Darstellern und Zuschauern wahrnehmbar. Die Letzteren befinden sich nämlich in einem im Freien errichteten Gerichtssaal und nehmen aktiv am historischen Gerichtsverfahren teil, was die Aufhebung

29 Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 41. 32 Ebd., S. 21. 33 Ebd.

138 | Joanna Szczukiewicz, Paweł Moskała

der Zeitkategorie offenkundig macht. Die Mitwirkung des Publikums am szenischen Geschehen wird u.a. in den Bühnenanweisungen arrangiert. So sind beispielsweise die an unterschiedlichen Stellen des Stückes angedeuteten Fanfarenstöße und Trommelschläge als eine Anregung zur emotionalen Anteilnahme der Zuschauer (u.a. Aufregung, Freude oder Wut) durch körperliche Reaktionen zu verstehen.34 Darauf verweisen die Regieanweisungen im dritten Auftritt: »Die Fanfarenstöße haben die Szene in eine allgemeine Aufregung versetzt. Wie in der Erwartung eines Ungeheuerlichen nehmen alle in Eile ihre Plätze ein dergestalt, daß die Gruppen das Bild einer strengen Ordnung bieten. Gleichsam unterirdisch beginnen ringsum die Sturmglocken zu läuten«.35 Die Zuschauer sollen die Handlung mit ihrem eigenen Körper erfahren, der – an Paula Diehl anknüpfend – gestaltbar und transformierbar sei,36 wobei die Topografie des Bühnenstücks umgedeutet wird. Durch das Thingspiel kommt es zur Mobilisierung und Disziplinierung des Körpers der Zuschauer, ergo laut der nationalsozialistischen Zielsetzung zur Mobilisierung und Disziplinierung der Volksgemeinschaft. Möllers Stück vermittelt keine für die NS-Propaganda typische Konzentration auf die Darstellung gegensätzlicher Körperbilder (»Juden« und »Erbkranke« vs. »Arier«), sondern unternimmt den Versuch der Verschmelzung einzelner Körper zu einer Ganzheit: »Vor allem in den SZ-Inszenierungen und Massenveranstaltungen sollte die Volksgemeinschaft an symbolischer, ästhetischer, sinnlicher und visueller Ausdruckskraft gewinnen. Dort sollten sie erlebbar und die einzelnen Körper als ein einziger Volkskörper vereinigt werden.«37 So soll auch das hier zur Debatte stehende Bühnenstück das politische Leben ästhetisieren und einen Transformationsprozess der Körper der Zuschauer induzieren, aus denen im Zuge der Handlung selbst organisierender und regulierender Volkskörper entsteht. In der körperlichen Wahrnehmung von sich selbst und den anderen Körpern ist man nicht nur körpergebunden, sondern auch massengebunden: »Tausend Stimmen, Herr, / die uns erin-

34 Vgl. ebd., S. 20, 22f., 30. 35 Ebd., S. 22. 36 Diehl, Paula: »Körperbilder und Körperpraxen im Nationalsozialismus«, in: Dies. (Hg.), Körper im Nationalsozialismus: Bilder und Praxen, München: W. Fink Verlag 2006, S. 9-32, hier: S. 17. 37 Ebd., S. 19.

Der Körper als gelenkte Funktionseinheit | 139

nern, daß wir handeln müssen«38. Im verstärkten Massenerlebnis wird der Mensch durch das Theater geformt, denn mit der Erfahrung des Individuums als Element eines ganzheitlichen Prozesses versuchen die Nationalsozialisten, »die individuelle Wahrnehmung zu strukturieren, bestimmte Bilder kollektiv durchzusetzen«39 und dadurch den Zuschauer für die Zwecke der NS-Politik zu gewinnen. Die Internalisierung von Körpersprache hebt den Bereich der Individualität auf und spricht den Bereich der Identität an, wobei Selbstbild zum Kollektivbild modifiziert und im Sinne der NSIdeologie das Element des Pädagogischen vermittelt wird. Der Körper wird somit zur Projektionsfläche für die Umsetzung der NS-Ideale, für die die kollektive Einheit auch biologisch prädeterminiert ist. Dementsprechend soll sich der Mann als ein für die Volksgemeinschaft opferungsbereiter Krieger sehen: »So soll’s auch gelten Leib und Blut. / O Herr, verleih uns Heldenmut.«40 Diese Prämisse ist eine Widerspiegelung dessen, was Hitler in seiner Ideologie der körperlichen Erziehung zu vermitteln versucht. Der Vergleich scheint umso plausibler, je mehr man sich die Organisation der Hitlerjugend vor Augen führt, in der der Nachwuchs körperlich und ideologisch geschult wird, um ihn auf den Kriegsdienst langfristig vorzubereiten. Darüber hinaus soll sich der Mann auch als Familienvater behaupten, denn um ihn versammeln sich die Kinder in den Stuben.41 Die soziale Position der Frau wird hingegen durch ihre Fertilität bestimmt: »Was ein Mann / in seiner Wut vernichtet, muß die Frau / aus ihrem Schoß zurück ins Leben bringen.«42 Durch das Thingspiel wird den Frauen die Rolle der Mutter aufgedrängt, die sich auf das Gebären und Großziehen der Kinder beschränkt. Der Autor wertet allerdings ihre Bedeutung für die ganze Gemeinschaft auf und artikuliert deren Schieflage, wenn ihnen aufgrund des kaiserlichen Vorgehens »der Säugling von den Brüsten [gerissen wurde, J.S./P.M.]« und sie »den Tod zu wiegen« hatten.43 Das Thingspiel spricht einerseits die biologischen Faktoren an und verwendet andererseits die für die NS-Propaganda charakteristischen Merkma-

38 E.W. Möller: Das Frankenburger Würfelspiel, S. 24. 39 P. Diehl: »Körperbilder und Körperpraxen im Nationalsozialismus«, S. 11. 40 E.W. Möller: Das Frankenburger Würfelspiel, S. 24. 41 Vgl. ebd., S. 21. 42 Ebd., S. 52. 43 Vgl. ebd., 10.

140 | Joanna Szczukiewicz, Paweł Moskała

le, wie Blut, Leib und Boden. So kommt z.B. wiederholt im Frankenburger Würfelspiel das Wort Blut vor und hebt zusammen mit der Vision eines gesunden Körpers die Bedeutung einer einheitlichen Rasse hervor: »Von allem Joch und Tyrannei / und aller großen Schinderei / mach uns, o lieber Herrgott, frei / weil’s gilt die Seel und auch das Gut / so soll’s auch gelten Leib und Blut.«44 Der Hauptideologe der NSDAP, Alfred Rosenberg, betont, dass die Gesundheit des Blutes die Voraussetzung für jede große Leistung sei und deshalb das größte Ziel einer Innen- und Außenpolitik die Erhaltung und Stärkung dieses Blutes sein müsse.45 Die Blutideologie definiert die Zugehörigkeit zur Rasse und wird im zweiten Auftritt explizit durch den vom Menschen »ererbten Boden«46 verstärkt. Paula Diehl konstatiert, dass das Konzept des Volkskörpers auf der einen Seite die Eingliederung der Individuen in die Volksgemeinschaft und auf der anderen eine rassenbiologische Reinheit und Homogenität des gesamten Volkes voraussetzt.47 Mit all diesen Symbolen entwirft Möllers Theater einen neuen Massenkörper, der infolge einer Transformation entsteht und den Bereich der Erziehung einer Gemeinschaft beeinflusst: »Wir sind nicht Kinder und nicht Bettler mehr, / wir sind ein neues Volk, ein neues Heer, / und wehe denen, welche uns betrogen. / Wir sind ein Wille und wir sind ein Schrei / und kein Versprechen kann uns mehr entzweien.«48 Aufgrund der Transformation modelliert das Theater individuelle Wahrnehmungsmuster und regt gewisse Identifikationsmechanismen an. So übernimmt das Theater nicht nur die Kontrolle über den einzelnen Körper, sondern auch über die Gefühle, denn Gernot Böhme zufolge lässt sich der menschliche Körper nicht einfach sachlich neutral, sondern viel mehr affektiv wahrnehmen,49 sodass die massenhafte Anwesenheit der anderen den individuellen Körper einstimmt. Nicht ohne Grund wird im Frankenburger Würfelspiel die kollektive

44 Ebd., S. 24. 45 Vgl. Rosenberg, Alfred: Blut und Ehre, München: Zentralverlag der NSDAP 1934, S. 242. 46 E.W. Möller: Das Frankenburger Würfelspiel, S. 19. 47 Vgl. P. Diehl: »Körperbilder und Körperpraxen im Nationalsozialismus«, S. 13. 48 E.W. Möller: Das Frankenburger Würfelspiel, S. 58. 49 Vgl. Böhme, Gernot: Theorie des Bildes, München: Fink 1992, S. 122.

Der Körper als gelenkte Funktionseinheit | 141

Wahrnehmung zum Maßstab: »Die Menge schweigt bestürzt und hoffnungslos.«50 Von großem Belange, um die Gefühlslage des Publikums zu formen, sind jene Bemühungen, das Geschehen im Thingspiel zu ästhetisieren. Das soll allein mit der eigentlichen Thematik des Bühnenstücks erreicht werden, welches das Gefühl der Gerechtigkeit wiederherzustellen versucht, infolge dessen ein neues Volk als (utopische) Vision und Ziel der NS-Politik entsteht; ein Volk, auf das Lamormainis Worte nicht mehr anwendbar sind: »Ihr Blut [des Volkes, J.S./P.M.], vergossen, war nicht wert genug, / ihr Fleisch nicht wertvoll, um auf den Altären / der Reinigung als wohlgefälliges Opfer / zum Himmel, der verfinsterte, zu qualmen.«51 Die Stimmung des Publikums wird des Weiteren durch die musikalische Ebene der Aufführung gestaltet. Seit der Entstehung des 1920 von Ernst Krieck, dem führenden nationalsozialistischen Erziehungswissenschaftler, geprägten pädagogischen Konzepts der musischen Erziehung wird der Musik eine besondere Rolle in der Aneignung der sozialen Regeln und Umgangsformen in der NS-Zeit zugesprochen. Das Ziel der musischen Erziehung sei, wie es 1934 Georg Götsch in seinem Festvortrag anlässlich der 4. Jahrestagung der Gesellschaft der Freunde des Musikheims in Frankfurt/Oder formulierte, »[d]ie Weckung und Stärkung und Ausreifung dieses inneren Bewegungssinnes, dieses Dynamos im Menschen«,52 der zur besseren »Volksgesundheit«53 führt. Krieck erweitert in seinen Ausführungen diesen Gedanken und nennt die durch die musische Erziehung hervorgerufene »Bewegtheit des ganzen Menschen«54 eine Notwendigkeit zur Entfaltung der Wehrhaftigkeit, die »durch die Formgewalt der rhythmischen Künste«55 zustande kommt. Betrachtet man Kriecks Musikpädagogik als Maßnahme zur Bil-

50 E.W. Möller: Das Frankenburger Würfelspiel, S. 30. 51 Ebd., S. 14. 52 Götsch, Georg: »Musische Erziehung, eine deutsche Aufgabe«, Festvortrag anläßlich der 4. Jahrestagung der Gesellschaft der Freunde des Musikheims in Frankfurt/Oder, 1934, Archiv der Jugendbewegung Burg Ludwigstein, Nachlass Georg Götsch (N62 –135), S. 1, zit. nach http://musikheim.net/wp-content/ uploads/2012/06/Musische-Erziehung.pdf vom 5.01.2018. 53 Ebd., S. 3. 54 Ebd., S. 1. 55 Krieck, Ernst: Musische Erziehung, Leipzig: Armanen Verlag 1933, S. 1.

142 | Joanna Szczukiewicz, Paweł Moskała

dung eines homogenen Volkskörpers, so wird es im Frankenburger Würfelspiel deutlich, dass der Leib als Instrument, mit dem man die Zuschauer politisch stimmen kann, zu betrachten ist. Wie in anderen dramatischen Formen, so auch im Thingspiel wird der Musik und jeglicher Form rhythmischer Gestaltung eine besondere Stellung eingeräumt. Auf den Zusammenhang zwischen musikalischer Inszenierung des Körpers und deren Rolle in den volksbildenden Prozessen verweist bereits Matthias Warstat in seinem Beitrag Gleichheit – Mitwirkung – Teilhabe: Theatrale Gemeinschaftskonzepte vor und nach 68. Was Warstat als »Synchronisierung der Körper«56 im Zuge der rhythmischen Nachahmung des Chores bezeichnet, ist eine theoretische Repräsentation dessen, was Möller im Frankenburger Würfelspiel in seiner Chorästhetik beschreibt: »Der Chor hat die Aufgabe, in den Höhepunkten der Szenen die natürlichen Spielpausen mit lyrischen Betrachtungen über den tiefen Sinn des Ganzen auszufüllen. Er muss sich als Vertreter einer außenstehenden höheren Instanz gänzlich von den übrigen Faktoren des Spiels unterscheiden. Er darf auf keinen Fall die Zahl der dramatischen Figuren erweitern, sondern muß das Bindeglied zwischen den Zuschauern und den szenischen Vorgängen sein [...]. Seine Funktion ist [...] eine lyrischmusikalische.«57

Die Umsetzung der angeführten Postulate erfolgt bei Möller sowohl mit strukturellen als auch inhaltlichen Mitteln. Bis auf die Würfelszene erfüllen Chorauftritte eine handlungsgliedernde Funktion, wobei es eine klare Grenze zwischen den am Geschehen Beteiligten und der außenstehenden Chorinstanz gibt. Nur an wenigen Stellen wird das Bühnengeschehen durch Chorauftritte unterbrochen. Betrachtet man die Schlussszene genauer, so wird es deutlich, dass das letzte Wort des Stückes (»Und stirbst [Gott, J.S./P.M.] damit wir leben«58) dem Chor gehört und er somit als tragendes Element des Thingspiels gedeutet werden kann. Durch seine Unparteilich-

56 Vgl. Warstat, Matthias: »Gleichheit – Mitwirkung – Teilhabe: Theatrale Gemeinschaftskonzepte vor und nach 68«, in: Friedemann Kreuder/Michael Bachman (Hg.), Politik mit dem Körper. Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968, Bielefeld: transcript 2009, S. 13-26, hier: S. 18. 57 E.W. Möller: Das Frankenburger Würfelspiel, S. 6. 58 Ebd., S. 63.

Der Körper als gelenkte Funktionseinheit | 143

keit sollte der Chor von dem Publikum als Vorbild wahrgenommen werden, denn laut Warstat war es wichtig, »dass sich der Zuschauer an den Rhythmus der Chöre gewöhnte, diesen allmählich adaptierte, körperlich mitvollzog und auf diese Weise nach und nach an der Gesamtbewegung partizipierte«59. Die Animierung zur gemeinsamen Feier erfolgt im Frankenburger Würfelspiel auf zweierlei Weise: Auf der verbalen Ebene wird der tonangebende Chor zum Wegweiser der zu erreichenden Gefühlslage, auf der nonverbalen Ebene hingegen projiziert der Chor die entsprechenden Körperhaltungen und Verhaltensweisen, die im Zuge der erlebten Hochspannung von den Zuschauern nachgeahmt werden sollten. So sollen die Zuschauer zum Ende des zweiten und vierten Auftrittes mit den emotional gefärbten Ausdrücken wie »ängstlich heulen die Hunde«60, »Die Horizonte erzittern«61, »Es schauern […] die Städter«62, »die dämmernden Wälder klirren«63 in einen Zustand der Ungewissheit bzw. Unruhe versetzt werden. Auf der nonverbalen Ebene animiert der Chorkörper die Zuschauer zu entsprechenden Körperbewegungen und vermittelt entweder durch musikalische Anregungen wie Fanfarenstöße bzw. Trommelschläge64 oder durch die in den Regieanweisungen erwähnten Köperhaltungen (u. a. absolute Stille, Ordnung, Aufregung)65 die erwünschten Reaktionen des Publikums. Laut Reichl »lag die Bedeutung des Chores […] vor allem in seiner affektiven Wirkung«66, denn – wie Warstat pointiert – »[h]at man […] die homogenen, aktiven und dominanten Körper des Chores […] in sich aufgenommen, dann ist man

59 M. Warstat: »Gleichheit – Mitwirkung – Teilhabe: Theatrale Gemeinschaftskonzepte vor und nach 68«, S. 18. 60 E.W. Möller: Das Frankenburger Würfelspiel, S. 6. 61 Ebd., S. 21. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 28. 64 Vgl. ebd., S. 20, 22f., 30 u.a. 65 Vgl. ebd., S. 23, 30, 41, 48 u.a. 66 Vgl. J.M. Reichl: Das Thingspiel. Über den Versuch eines nationalsozialistischen Lehrstück-Theaters, S. 100.

144 | Joanna Szczukiewicz, Paweł Moskała

auch eingenommen für die politischen, sozialen und sonstigen Besetzungen, die mit diesen inszenierten Körpern verbunden sind.«67

RESÜMEE Die symbolische »Machtergreifung« auf der Bühne, die in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Konzept einer neuen Dramaturgie ihren Anfang nimmt, stellt den Versuch dar, das Theater als Träger der nationalsozialistischen Ideologie zu etablieren. Die Frage nach einem einheitlichen deutschen Nationaltheater, das einerseits als Bildungs- und Unterhaltungsinstitution, andererseits als ideologisch-normierter Werteträger gelten sollte,68 versucht man anhand der Theaterform der Thingspiele zu beantworten. Betrachtet man den Weg zur Diktatur als ein Zusammenspiel von Disziplin, Gemeinschaft und Handeln, so führt dieser Weg durch gezielte Bewegungsabläufe des Körpers. Es ist ein Prozess, in dem ein kollektives körperliches Training zum Nährboden für die Entwicklung eines geistigen Gemenischaftskörpers wird und die Grundlage des gemeinsamen Handelns bildet. Auch bei Möller ist der durch die Körperlichkeit definierte Volkswerdungsprozess dreistufig zu verstehen, wobei die einzelnen Etappen synchron verlaufen. Die Herausbildung einer einheitlichen Körperbewegung, die im Frankenburger Würfelspiel durch Wiederholen und Nachahmen erreicht wird, bildet den ersten Schritt zur politischen Vereinnahmung des Körpers. Der Körper sowie die Nation werden bei Möller als plastisches Gebilde verstanden, das sich in einer Massenveranstaltung formen lässt. Von großem Belange sind die im Stück verwendeten Ausdrücke und initiierten Handlungen, die darauf abzielen, die Zuschauer zu synchronisieren und durch rhythmisches Aufsagen in eine bestimmte Dynamik zu bringen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Rolle der Chorinstanz im Frankenburger Würfelspiel hervorzuheben. Die erwünschte Einstimmung des Publikums realisiert der Chor durch zwei Handlungsmuster: einerseits durch sei-

67 M. Warstat: »Gleichheit – Mitwirkung – Teilhabe: Theatrale Gemeinschaftskonzepte vor und nach 68«, S. 18. 68 Vgl. Brunsbach, Anja: Theaterkultur im Nationalsozialismus, Bochum: Gesamthochschule/Diplomarbeit 2002, S. 122.

Der Körper als gelenkte Funktionseinheit | 145

ne »lyrischen Betrachtungen über den tieferen Sinn des Ganzen«, was des Öfteren auf den Körper bezogen wird (»heulen«, »erzittern«, »beten«) und somit bestimmte körperliche Reaktionen zu formen versucht, andererseits durch seine in den Regieanweisungen beschriebenen Verhaltensweisen (»lautlose Stille«, »Ordnung«, »Aufregung«, »Fanfarenstoß«), wobei der Chor zum Spiegelbild des Publikums erhoben wird. Das Formen der Zuschauer zu einer homogenen Masse durch die Mobilisierung des Körpers und die aktive Teilnahme am Geschehen ermöglichen die Herausbildung und Festigung des Volksgemeinschaftsgefühls, das – an Ketelsen anknüpfend – »eine transgesellschaftliche Fundierung gesellschaftlicher Strukturen«69 zu gewährleisten vermag und damit die Grundlage der nationalsozialistischen Erziehung darstellt. Die Stimme und der Mund, die bei Möller für das Mitspracherecht des Volkes stehen und in der Literatur mit Affektivität und Wahrheit korrelieren,70 lassen die symbolische Betrachtung der Körperlichkeit als ideologischen Werteträger bestätigen. Der wiederholte Apell im Frankenburger Würfelspiel an die Masse, die durch ihre Sprechorgane definiert wird, suggeriert zwar dem Volk eine scheinbare Mitbestimmung, kaschiert aber die reale Stimmlosigkeit der Bevölkerung. Herz und Hand, stellvertretend für Gefühl und Macht,71 sind weitere Beispiele für die Instrumentalisierung des Körpers zum Herausbilden der Massensuggestion. Die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls war eine Voraussetzung für die Animierung des Volkes zum gemeinsamen Handeln und zur aktiven Teilnahme am politischen Leben. Möller evoziert in seinem Bühnenstück den genauen Handlungsbereich der Zuschauer, indem er auf die biologische Darstellung des Körpers und die daraus resultierende soziale Rolle eingeht. Dank der Körperlichkeit wird somit die soziale Prägung des Blickes im Thingspiel bestimmt: Der Mann wird zum tapferen Krieger ausgebildet, die Frau hingegen widmet sich dem Häuslichen und erfüllt ihre Pflicht als Mutter. Betrachtet man die Darstellung der Körperlichkeit in Möllers Thingspiel, so kann der Körper dank seiner Beschaffenheit als nationenbildendes

69 Vgl. U-K. Ketelsen: Völkische Nationenbildung: Das Thingspiel, S. 31. 70 Butzer, Günter/Jacok, Joachim (Hg.): Metzler Lexikon Literarischer Symbole, Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2012, S. 428. 71 Ebd., S. 172.

146 | Joanna Szczukiewicz, Paweł Moskała

Moment und das Theater dank seiner Erziehungsfunktion und nicht zuletzt seines breiten Präsentationsspektrums als Hoffnungsträger einer nach dem nationalsozialistischen Konzept geregelten Gesellschaft wahrgenommen werden. Dieses Konzept sollte nicht nur das NS-Theater, sondern auch die NS-Pädagogik bestimmen.

LITERATUR Annuß, Evelyn: »Chor und Geschlecht im nationalsozialistischen Theater«, in: Martin Weidinger (Hg.), Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen, Bielefeld: transcript Verlag 2012, S. 167-180. https://doi.org/10.14361/transcript.9783839418024.167 Bochow, Jörg: »Thingspiel«, in: Gerd Koch/Marianne Streisand (Hg.), Wörterbuch der Theaterpädagogik, Uckerland: Schribi Verlag 2003, S. 337-342. https://doi.org/10.1007/s12054-004-0011-9 Bodesohn, Frank: Literatur als Propagandainstrument des NS-Regimes, Hamburg: Diplomica 2014. Böhme, Gernot: Theorie des Bildes, München: Fink 1992. Brockhaus, Friedrich Arnold (Hg.): Der Volksbrockhaus A-Z, Leipzig: Brockhaus 1941. Brunsbach, Anja: Theaterkultur im Nationalsozialismus, Bochum: Gesamthochschule/Diplomarbeit 2002. Bumm; Peter: Drama und Theater der Konservativen Revolution, München: Diss. Univ. München 1971. Butzer, Günter/Jacok, Joachim (Hg.): Metzler Lexikon Literarischer Symbole, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2012. https://doi.org/10.1007/9783-476-05302-2 Busch, Stephan: »Und gestern, da hörte uns Deutschland«. NS-Autoren in der Bundesrepublik, Würzburg: Königshausen & Neumann 1998. https://doi.org/10.1515/arbi.1999.17.3.359 Diehl, Paula: »Körperbilder und Körperpraxen im Nationalsozialismus«, in: Dies. (Hg.), Körper im Nationalsozialismus: Bilder und Praxen, München: W. Fink Verlag 2006, S. 9-32. Eichberg, Hennig: »Thing-, Fest- und Weihespiele in Nationalsozialismus, Arbeiterkultur und Olympismus«, in: Ders. et al.: Massenspiele, NS-

Der Körper als gelenkte Funktionseinheit | 147

Thingspiel, Arbeiterweihespiel und olympisches Zeremoniell, Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1997, S. 19-159. https://doi.org/10.2307/404899 Gimmel, Jürgen: Die politische Organisation kulturellen Ressentiments. Der »Kampfbund für deutsche Kultur« und das bürgerliche Unbehagen an der Moderne, Münster u.a.: Lit 2001. Götsch, Georg: »Musische Erziehung, eine deutsche Aufgabe«, Festvortrag anläßlich der 4. Jahrestagung der Gesellschaft der Freunde des Musikheims in Frankfurt/Oder, 1934, Archiv der Jugendbewegung Burg Ludwigstein, Nachlass Georg Götsch (N62 –135), S. 1, zit. nach http://musikheim.net/wp-content/uploads/2012/06/MusischeErziehung.pdf vom 5.01.2018. Heiber, Helmut (Hg.): Goebbels-Reden, Bd. 1, Düsseldorf: Droste Verlag 1971. Hopster, Norbert: »Das »Dritte Reich«. Gesamtkunstwerk oder ästhetisch inszenierte Ganzheit?«, in: Hans Günther (Hg.), Gesamtkunstwerk: zwischen Synästhesie und Mythos, Bielefeld: Aisthesis Verlag 1994, S. 241-258. Kaschuba, Wolfgang: »Die Nation als Körper. Zur symbolischen Konstruktion ›nationaler‹ Alltagswelt«, in: Helmut Berding (Hg.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995, S. 291-299. Ketelsen, Uwe-K.: »Völkische Nationenbildung: Das Thingspiel«, in: Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik und Literatur 2 (2004), S. 3133. Krieck, Ernst: Musische Erziehung, Leipzig: Armanen Verlag 1933. Möller, Wolfgang, E.: Das Frankenburger Würfelspiel, Berlin: Theaterverlag Albert Langen/Georg Müller 1936. Pfeifer, Wolfgang: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Bd. 1, Berlin: Akademie Verlag 1993. Reichl, Johannes M.: Das Thingspiel. Über den Versuch eines nationalsozialistischen Lehrstück-Theaters (Euringer – Heynicke – Möller). Mit einem Anhang über Bert Brecht, Frankfurt am Main: Verlag Dr. Mißlbeck 1988. Rischbieter, Henning: »Teil I: NS-Theaterpolitik«, in: Henning Rischbieter (Hg.), Theater im »Dritten Reich«: Theaterpolitik, Spielplanstruktur,

148 | Joanna Szczukiewicz, Paweł Moskała

NS-Dramatik, Seelze-Verlber: Kallmeyer 2000, S. 13-94. https://doi.org/10.2307/3738588 Rosenberg, Alfred: Blut und Ehre, München: Zentralverlag der NSDAP 1934. Stephan, Inge: »Literatur im Dritten Reich«, in: Metzler: Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart: J.B. Metzler 2013, S. 437-454. Tacitus: Dialogus, Agricola, Germania, London: William Heinemann 1914. Toepser-Ziegert, Gabriele (Hg.): Zeitgeschichtliche Sammlung 101/8/29/Nr. 698, in: NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit. Edition und Dokumentation Bd. 4/I: 1936, München u.a.: Saur 1993. Warstat, Matthias: »Gleichheit – Mitwirkung – Teilhabe: Theatrale Gemeinschaftskonzepte vor und nach 68«, in: Friedemann Kreuder/Michael Bachman (Hg.), Politik mit dem Körper. Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968, Bielefeld: transcript 2009. https://doi.org/10.14361/9783839412237 Wolff, Hannelore: Volksabstimmung auf der Bühne? Das Massentheater als Mittel politischer Agitation, Frankfurt a.M.: Lang 1985. Wulf, Joseph: Theater und Film im Dritten Reich, Gütersloh: Sigbert Mohn Verlag 1964.

Ornithologie im Dienste des Dritten Reiches in der Novelle Die Vogelwelt von Auschwitz Arno Surminskis Anna Dąbrowska

In der Novelle Die Vogelwelt von Auschwitz (2008) stehen zwei Protagonisten im Vordergrund: der polnische Häftling Marek und der deutsche Ornithologe Hans Grote. Hinter der zweiten Figur verbirgt sich eine historische Gestalt, und zwar Günther Niethammer (1908-1974).1 Dieser war als SSMann im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau tätig. Im Lager sowie in seiner Umgebung untersuchte er die Vogelfauna. Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet er in polnische Haft, wurde aber schon 1949 entlassen und

1

Demnächst erscheint in einem Tagungsband der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien mein folgender Artikel: »Das literarische Bild Günther Niethammers in der Novelle Die Vogelwelt von Auschwitz (2008) Arno Surminskis und im Roman Der Vogelsammler von Auschwitz (2009) Hamid Sadrs«. Außerdem sind unter meiner Betreuung zwei Bachelorarbeiten über die Novelle Surminskis entstanden: Stelmach, Anna: Das Bild der Opfer und Täter in der Novelle »Die Vogelwelt von Auschwitz« von Arno Surminski und Kilijańska, Patrycja: Das Bild des Lagers und des Zweiten Weltkrieges in der Novelle »Die Vogelwelt von Auschwitz« (2008) von Arno Surminski. Die Studentinnen lasen meine noch nicht veröffentlichten Artikel während ihrer Arbeit.

150 | Anna Dąbrowska

durfte nach Deutschland zurückkehren, wo er eine wissenschaftliche Karriere machte.2 Im literarischen Text Surminskis arbeitet Grote an einer wissenschaftlichen Studie über die Vögel im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und in umliegenden Dörfern, die Marek mit Illustrationen ausgestaltet. Die Liebe Grotes zur Natur und insbesondere zur Vogelwelt wird von Marek bzw. dem Erzähler an vielen Stellen formuliert: »[E]r liebte Beethoven und die Vogelwelt«3; »Er liebt die Vögel, und ich [Marek, A.D.] liebe die Kunst« (VA 26); »Grote schwärmte von Stifter und Ganghofer. Wir Deutschen lieben die Natur über alles, sagte er« (VA 90); »Wie liebevoll er von den Kindern sprach! Wie behutsam er mit den Vögeln umging!« (VA 101); »Ja, zu den Vögeln sind sie [also die Deutschen] gut.« (VA 55) Darüber hinaus ist zu bemerken, dass manche Rezensenten der Novelle bzw. Literaturwissenschaftler die Opposition heile Welt der Natur – brutale menschliche Wirklichkeit im KZ hervorheben. Dies ist z.B. in den folgenden Passagen sichtbar: »Surminski setzt Kontraste. Die frühlingshafte Idylle, die Freude am Erwachen des Frühlings und daneben die Einäscherung menschlicher Lebensläufe. Der süßlich verwesende Geruch legt sich wie

2

Vgl. Nowak, Eugeniusz: Wissenschaftler in turbulenten Zeiten. Erinnerungen an Ornithologen, Naturschützer und andere Naturkundler (= Die Neue BrehmBücherei 676), Hohenwarsleben: Westarp-Wiss. 2010, S. 69-82. Ansonsten wird Niethammer u.a. in folgenden Arbeiten anderer Autoren erwähnt oder beschrieben: Bilio, Martin: »50 Jahre vdbiol. Die Festansprache. Der amnestische Phӧnix«, in: biologenheute (vdbiol), 5/6 (2004), S. 03-09; Bilio, Martin: »Auf infernalen Spuren«, in: biologenheute (vdbiol), 5/6 (2005), S. 10-15; Niemann, Derek: Birds in a Cage, London: Short Books 2012; Bilio, Martin: »Nachwort eines Biologen«, in: Arno Surminski, Die Vogelwelt von Auschwitz. Eine Novelle, München: LangenMüller 2008, S. 189-191; Dąbrowska, Anna: »Der historische Hintergrund des Romans ›Der Vogelsammler von Auschwitz‹ (2009) von Hamid Sadr im Lichte der Korrespondenz mit ausgewählten Museen«, in: Jahrbuch des Wissenschaftlichen Zentrums der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien, 8 (2017), S. 235-251. Zu anderen Quellen vgl. die Literatur auf Wikipedia.

3

Surminski, Arno: Die Vogelwelt von Auschwitz. Eine Novelle. München: LangenMüller 2008, S. 161. Im fortlaufenden Text weisen die Abkürzungen VA und die Seitennummern in runden Klammern auf diese Ausgabe hin.

Ornithologie im Dienste des Dritten Reiches | 151

ein Schleier über den Duft des Flieders. / Auschwitz-Birkenau, ein Ort wo Vögel zwitschern, ein Ort, wo keinem Vogel ein Haar gekrümmt wird« 4; »Hans Grote wird zum lachenden Familienvater, der keinem Vogel etwas zu Leide tun kann«5;; »Das Konzentrationslager Auschwitz mit seiner monströsen Mordmaschine Birkenau als Paradies – freilich nicht für Menschen, – für die ist’s die Hölle –, aber für Vögel«6; »Er [Surminski, A.D.] nutzt – wie schon im Titel – auch den sich anbietenden und Aufmerksamkeit heischenden Gegensatz von beschaulicher Natur und Tod, von feinfühligem Interesse für Vögel einerseits und Morden andererseits«7; »Die Vogelwelt, wo […] ein SS-Mann, und der Häftling, der Maler, die Vögel untersuchen, ist die Welt der Freiheit und Humanität, die andere Welt ist die inhumane Wirklichkeit des Vernichtungslagers Auschwitz.«8 Ist es aber wirklich so, dass Grote ausschließlich ein Naturliebhaber genannt werden kann und die Vogelwelt nur als eine Idylle in der Novelle erscheint? Meiner Meinung ist die Naturproblematik in der Novelle viel komplexer. Die Opposition vollkommene, unangetastete Natur – brutale menschliche Wirklichkeit im KZ ist an manchen Textstellen zwar deutlich präsent,9 doch man sollte andere, in dieses Schema nicht passende Elemente nicht ausblenden. Wenn man die Vögel in der Novelle genauer untersucht, kommt man zum Schluss, dass ihre Wahrnehmung mit der nationalsozialis-

4

Levin, Soraya: Die Vogelwelt von Auschwitz – von Arno Surminski. http:// www.zukunft-braucht-erinnerung.de/die-vogelwelt-von-auschwitz-surminski/ vom 29.11.2017.

5

Ebd.

6

Raab, Harald: Himmel und Hölle. Beispiel für die kafkaeske Welt des Schreckens in Auschwitz, http://www.mittelbayerische.de/kultur/buecher/buchbespre chun/himmel-und-hoelle-21860-art209497.html vom 29.11.2017.

7

Kettner, Fabian: Vom Heimat-Roman zur Auschwitz-Novelle. Arno Surminski erweitert sein Repertoire, http://www.rote-ruhr-uni.com/cms/IMG/pdf/Surmin ski_Die_Vogelwelt_von_Auschwitz.pdf vom 29.11.2017.

8

Brazauskienė, Nijolė: Grenzsituation im Leben des KZ-Häftlings in Ernst Wiecherts Der Totenwald und Arno Surminskis Die Vogelwelt von Auschwitz, https://vb.vdu.lt/object/elaba:1763157/1763157.pdf , S 4f. vom 29.11.2017.

9

In der Novelle fallen in der Tat Worte wie »Vogelparadies« (VA 47) und »Idylle« (VA 39). Die Analyse der ganzen Novelle zeigt aber, dass man ihre Bedeutung keinesfalls verabsolutieren sollte.

152 | Anna Dąbrowska

tischen Ideologie eng verbunden ist: Die Vogelwelt wird von Grote – trotz seiner ornithologischen Leidenschaft – instrumental behandelt und bildet eine nationalsozialistische Projektionsfläche. Im Mittelpunkt des vorliegenden Artikels steht die Frage, wie Surminski den Zusammenhang der Ornithologie bzw. der Körperlichkeit von Vögeln mit der Bildung und Ideologie im Dritten Reich schildert. Bevor diese Frage beantwortet werden kann, gilt es zunächst die folgenden Aspekte der Naturproblematik im Dritten Reich zu beleuchten: Biologie, Eindeutschung der von den Nationalsozialisten eroberten Gebiete (u.a. im Sinne der Landschaften), Tierschutz und schließlich menschliche Körperteile als Exponate bzw. Objekte der Rassenuntersuchung. Außerdem wird die historische Bedeutung der Taxidermie angedeutet.

AUSGEWÄHLTE ASPEKTE DER NATURPROBLEMATIK IM DRITTEN REICH Unter dem braunen Regime wurde angenommen, dass man mithilfe der Biologie nationalsozialistisch-ideologische Grundsätze, Gesetzgebung sowie die praktische Politik legitimieren könne. Der Nationalsozialismus galt als politisch angewandte Biologie. Seine Anhänger prophezeiten ihm den ewigen Bestand, und zwar mit der Begründung, dass er die erste auf Wissenschaft basierende Weltanschauung sei. Das Konzept der ganzheitlichen Naturauffassung wurde auf den Organizismus und die Lehre von den Lebensgesetzen übertragen. Laut den Nationalsozialisten waren Körperteile nur im Gesamtzusammenhang des Organismus sinnvoll, also dann, wenn sie darin einen festen Platz einnahmen und eine bestimmte Funktion erfüllten. Man nahm den Staat als einen Organismus wahr, von dem faulende Körperteile – also z.B. Individuen, die die für sie vorgesehene Rolle nicht spielen wollten – entfernt werden sollten. Die Biologen wurden zu Volksaufklärern und Volkserziehern.10 Änne Bäumer-Schleinkofer weist darauf hin, dass man

10 Bäumer-Schleinkofer, Änne: »Staatlicher Mißbrauch von Wissenschaft: Biologie im Dritten Reich«, in: Robert Rosner/Gerhard Pohl (Hg.), Tagungsband zur Vortragstagung Naturwissenschaften und Politik. Brennpunkte im 20. Jahrhundert. Science and Politics Issues that have shaped the 20. Century. Arbeitsgrup-

Ornithologie im Dienste des Dritten Reiches | 153

mit biologischen Gesetzen sogar den Krieg rechtfertigen wollte: »Im Sinne des (mißverstandenen) popularisierten Darwinismus wird Kampf ums Dasein aufgefaßt als Leben ist Kampf, woraus sich dann folgerichtig die Notwendigkeit des Wehrdienstes und indirekt der Kriegsführung ableiten läßt.«11 Als die Nationalsozialisten polnische Gebiete besetzten, strebten sie ihre Neuordnung an. Sie hielten sie für veränderungsbedürftig und glaubten, dass nur ihre Eindeutschung eine entsprechende Grundlage für die Expansion der deutschen Rasse sein könne. Aus dem Artikel »Lebensgemeinschaft von Volk und Raum: Zur nationalsozialistischen Raum- und Landschaftsplanung in den eroberten Ostgebieten« von Klaus Fehn erfährt man Folgendes über das Vorhaben der Nationalsozialisten: »Dem inneren tschechisch besiedelten Böhmen und Mähren sollte zunächst eine völkische Sonderstellung zugestanden werden; auf längere Sicht galt es aber, dieses ›mitteleuropäische Zentralgebiet‹ einzudeutschen. Für Westpolen bestanden von Anfang an derartige Pläne. Die Überlegungen zu Ostpolen und Sowjetunion wurden mehrfach modifiziert, ohne je einen derartig hohen Bearbeitungsstand zu erreichen wie diejenigen zu Westpolen. Sie waren insgesamt vage und widersprachen sich in wesentlichen Punkten. Zunächst sollten die ›eingegliederten Ostgebiete‹ in ein deutsches Land mit deutscher Bevölkerung und deutscher Kulturlandschaft umgewandelt werden und das Generalgouvernement unter deutscher Oberherrschaft polnisch besiedelt bleiben, wobei die aus den eingedeutschten westpolnischen Gebieten ausgewiesenen Polen zusätzlich aufzunehmen waren.« 12

pe Geschichte der Chemie, Linz: Gesellschaft österreichischer Chemiker 1999, S. 35-46, hier: S. 35-37. 11 Ebd., S. 46. 12 Fehn, Klaus: »Lebensgemeinschaft von Volk und Raum‹: Zur nationalsozialistischen Raum- und Landschaftsplanung in den eroberten Ostgebieten«, in: Joachim Radkau/Frank Uekötter (Hg.), Naturschutz und Nationalsozialismus, Frankfurt/New York: Campus Verlag 2003, S. 207-224, hier: S. 208-209. Welche Rolle Auschwitz und die Eingliederung Westpolens im Germanisierungskonzept spielte, erläutert Sybille Steinbacher in ihrer Studie »Musterstadt« Auschwitz: Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien, München: Saur 2000.

154 | Anna Dąbrowska

Man sollte den deutschen Geist auf eroberten Territorien verbreiten, damit der fremde Boden allmählich zum eigenen wird. Der Deutsche soll deswegen gewillt sein, seine neue Heimat zu verteidigen.13 Klaus Fehn zitiert einen führenden Vertreter der Landschaftspflege – Heinrich Wiepking-Jürgensmann –, laut dem es gesunde und kranke Landschaften gebe. Seiner Meinung nach unterscheiden sich die Landschaften der Deutschen weitgehend von denen der Polen und Russen. Dazu äußert er sich wie folgt: »Sie [die Landschaft, A.D.] zeigt uns in unerbittlicher Strenge, ob ein Volk aufbauend und Teil der göttlichen Schöpfungskraft ist, oder ob das Volk den zerstörenden Kräften zugerechnet werden muß. So unterscheiden sich auch die Landschaften der Deutschen in all ihren Wesensarten von denen der Polen und Russen wie die Völker selbst. Die Morde und Grausamkeiten der ostischen Völker sind messerscharf eingefurcht in den Fratzen ihrer Herkommenslandschaften. Je verwahrloster und verkommener, je ausgeräumter eine Landschaft ist, umso größer ist die Verbrechenshäufigkeit.«14

Demnach war es für die Nationalsozialisten eine Herausforderung, den Boden im Osten einzudeutschen, damit das deutsche Blut sich dort durchsetzen kann. Die Nationalsozialisten schenkten jedoch nicht nur den Landschaften, sondern auch dem Tierschutz viel Beachtung.15 Miriam Zerbel äußert sich dazu wie folgt: »Im Tierschutzgedanken sahen die Nationalsozialisten einen urdeutschen Wesenszug. Deshalb darf es nicht verwundern, daß sie eine entsprechende Einschätzung aus dem Kaiserreich freudig übernahmen, weil sie perfekt in ihre Ideologie paßte, nämlich: der Tierschutz als Grad-

13 Vgl. ebd., S. 207. Vgl. »Regeln für die Gestaltung der Landschaft« aus dem Jahre 1942. 14 Wiepking-Jürgensmann, Heinrich zit. nach Fehn: Ebd., S. 213. 15 Zum Vogelschutz vgl.: Dirscherl, Stefan: Tier- und Naturschutz im Nationalsozialismus. Gesetzgebung, Ideologie und Praxis, Göttingen: V&R unipress 2012, S. 151-157.

Ornithologie im Dienste des Dritten Reiches | 155

messer für die sittliche Reife eines Volkes.«16 Das Gesetzgebungswerk zum Gesamtkomplex des Naturschutzes hatte eine bedeutende propagandistische Wirkung und war kaum mit Kosten verbunden. Mithilfe des Tierschutzgedankens wollte man Antisemitismus verbreiten: Das jüdische rituelle Schlachten wurde als Tierquälerei eingestuft und verboten.17 In der Tat war es jedoch schwierig, Interessen des Tierschutzes, der Landwirtschaft und der wissenschaftlichen Forschung in Übereinstimmung zu bringen. Wie inkonsequent man vorging, veranschaulicht das folgende Beispiel: Zuerst erklärte sich Hermann Göring zum Vorreiter für ein generelles Verbot von Tierversuchen. Drei Wochen später änderte er aber seine Meinung und äußerte schwerste Bedenken gegen die grundsätzliche Strafbarkeit der wissenschaftlichen Tierversuche.18 Auch Hitler war zunächst für ein generelles Verbot von Tierversuchen, »rückte aber im Interesse der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Forschung wie auch unter dem Eindruck, dass die antivivisektionistischen Ziele der Popularität der NSDAP abträglich waren, wieder davon ab.«19 Schließlich gewannen

16 Zerbel, Miriam: »Tiere schützen, weil Tiere nützen«, in: Johannes Bilstein/Matthias Winzen (Hg.), Das Tier in mir. Die animalischen Ebenbilder des Menschen, Köln: König 2002, S. 43-55, hier: S. 53. 17 Vgl. Klueting, Edeltraud: »Die gesetzlichen Regelungen der nationalsozialistischen Reichsregierung für den Tierschutz, den Naturschutz und den Umweltschutz«, in: Radkau/Uekötter (Hg.), Naturschutz und Nationalsozialismus (2003), S. 77-105, hier: S. 77, 80-82. Bei der Darstellung ihrer Ansichten, die hier präsentiert werden sollten, beruft sie sich auf folgende Arbeiten: Eberstein, Winfried C. J.: Das Tierschutzrecht in Deutschland bis zum Erlaß des ReichsTierschutzgesetzes vom 24. November 1933, Frankfurt am Main/Berlin/Bern u.a.: Peter Lang 1999; Schweiger, Peter: »Alter Wein in neuen Schläuchen«. Der Streit um den wissenschaftlichen Tierversuch in Deutschland 1900-1935, Diss. Göttingen 1993 und: Lorz, Albert: »Die Entwicklung des deutschen Tierschutzrechts«, in: Ursula M. Händel (Hg.), Tierschutz, Testfall unserer Menschlichkeit, Frankfurt am Main: Fischer 1984. 18 Vgl. E. Klueting: »Die gesetzlichen Regelungen der nationalsozialistischen Reichsregierung für den Tierschutz, den Naturschutz und den Umweltschutz«, S. 83f. 19 Ebd., S. 84.

156 | Anna Dąbrowska

Interessen der Wissenschaft und Landwirtschaft die Oberhand, sodass es kein generelles Verbot von Tierversuchen gab.20 Zuerst entwickelte sich der Tierschutz sowie die Natur- und Umweltschutzgesetzgebung des NS-Staates dynamisch. Den ersten Wendepunkt bildete aber das Jahr 1936, als Göring sich zur Erfüllung des Vierjahresplanes verpflichtete:21 Die Frage des Naturschutzes verlor damals an Bedeutung. Der zweite Wendepunkt wird auf das Jahr 1941 datiert. Die Schädigung der natürlichen Ressourcen war schon so deutlich, dass Entwürfe für ein Wasser- und Waldgesetz erarbeitet wurden. Wegen des Kriegs war ihre Realisierung jedoch unmöglich. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der NS-Staat im Rahmen der Kriegsvorbereitungen und der Kriegsführung sich natürliche Ressourcen trotz der ausgebauten Gesetzgebung faktisch skrupellos zunutze machte.22 Der Umgang mit der Natur im Dritten Reich war also in der Tat nicht konsequent, auch wenn zu betonen ist, dass die mit der Natur verbundene Gesetzgebung – wenigstens in der Theorie – durchaus fortschrittlich war. Dies lässt sich dagegen keinesfalls über die Gesetzgebung zu Menschenrechten im Dritten Reich sagen.23 Aufmerksamkeit sollte jetzt solchen Fällen geschenkt werden, in denen der menschliche Körper seiner Integrität beraubt wurde: Bestimmte menschliche Körperteile der Vertreter fremder Rassen, wie z.B. die Schädel, dienten den Nationalsozialisten zur Markierung der Grenze zwischen dem Eigenen und Fremden. Aufschluss über eine solche Behandlung des menschlichen Körpers geben etwa die Materialien der Abteilung für Archäologische Biologie und Anthropologie im Naturhistorischen Museum Wien:

20 Vgl. ebd., S. 85. 21 Der Vierjahresplan setzte voraus, dass die deutsche Armee einsatzfähig und die deutsche Wirtschaft in vier Jahren kriegsfähig sein sollte. Deswegen rückte der Aufbau einer Autarkieindustrie in den Vordergrund. Vgl. Spoerer, Mark/Streb, Jochen: Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, München: Oldenbourg 2013, S. 157. 22 Vgl. E. Klueting: »Die gesetzlichen Regelungen der nationalsozialistischen Reichsregierung für den Tierschutz, den Naturschutz und den Umweltschutz«, S. 103-105. 23 Vgl. z.B. die Aufhebung der Bürgerrechte in der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933.

Ornithologie im Dienste des Dritten Reiches | 157

»1942 erwarb die Abteilung vom Anatomischen Institut der Universität Posen (Lehrstuhl Prof. Dr. Hermann Voss) 29 Schädel und Gipsabgüsse von Juden, sowie 15 Schädel von Polen als Schauobjekte. Die Schädel und Gipsabgüsse von Juden stammen von jüdischen KZ-Opfern, bei den Schädeln von Polen handelt es sich um polnische Widerstandskämpfer.«24

Das Schicksal der nach Wien gebrachten »Schauobjekte« wird von Margit Berner (Naturhistorisches Museum Wien) folgendermaßen beschrieben: »Erst 1990 wurden die Totenmasken und Schädel der jüdischen KZ-Häftlinge aus Posen im Bestand aufgefunden und der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien übergeben, die die Krania bestattete und die Totenmasken, die nach Entscheidung der IKG nicht zu bestatten sind, dem Jüdischen Museum der Stadt Wien überantwortete. Die 17 angekauften Schädel polnischer Widerstandskämpfer verblieben in der Abteilung. Sie wurden schließlich im Jahr 2000 der polnischen Botschaft in Wien übergeben.«25

Im Dritten Reich gab es außer solchen sensiblen Sammlungen auch Ausstellungen von naturwissenschaftlichen Objekten (z.B. von ausgestopften Tieren), die das Wissen von den eroberten Gebieten verbreiten sollten. Im Artikel »Das Ende der Trophäen. Eine kurze Geschichte präparierter Tiere in der Kunst« stellt Petra Lange-Berndt fest: »Historisch betrachtet steht die Technik der Taxidermie, das Konservieren und Aufstellen von Häuten in

24 Teschler-Nicola, Maria/Berner, Margit: Die Anthropologische Abteilung des Naturhistorischen Museums in der NS-Zeit; Berichte und Dokumentation von Forschungs- und Sammlungsaktivitäten 1938-1945 [Abteilung für Archäologische

Biologie

und

Anthropologie

Naturhistorisches

Museum

Wien],

http://www.nhm-wien.ac.at/jart/prj3/nhm/data/uploads/mitarbeiter_dokumente/ berner/Senatsber.pdf, S. 5-6 vom 29.11.2017. 25 Berner, Margit: »»Die haben uns behandelt wie Gegenstände.« Anthropologische Untersuchungen an jüdischen Häftlingen im Wiener Stadion während des Nationalsozialismus«, in: Margit Berner/Anette Hoffmann/Britta Lange (Hg.), Sensible Sammlungen. Aus dem anthropologischen Depot. Hamburg: Philo Fine Arts 2011, S. 147-167, hier: S. 164. Die Angaben aus dieser und der zuletzt zitierten Quelle divergieren leicht (was z. B. die Anzahl der Schädel von polnischen Widerstandskämpfern anbelangt).

158 | Anna Dąbrowska

lebendig wirkenden Posen, in Zusammenhang mit kolonialen Interessen der Expedition, Ausbeutung, Klassifikation und Neuordnung der Welt.«26 Die Autorin äußert sich zwar nicht über das Dritte Reich, aber ihr Zitat scheint bedeutsam für die Untersuchung der Novelle von Surminski zu sein.

IDEOLOGIE, BILDUNG UND DIE VÖGEL IN DER NOVELLE SURMINSKIS. KÖRPER AUSLÖSCHEN ODER AUSSTELLEN? In der Novelle trägt die nationalsozialistische Gesinnung Grotes dazu bei, dass er die Natur im Sinne von einem Kampf um Dasein auffasst. Er hält sie nicht nur für das Schöne, sondern auch das Brutale. Darauf weist seine folgende Aussage hin: »Was die Natur uns bietet, ist kein romantisches Singspiel, sondern ein Kampf um Sein oder Nichtsein.« (VA 59) Laut ihm sind ihre grausamen Regeln, zu denen etwa das Recht nur des Stärksten aufs Überleben gehört, auf die Menschen übertragbar. Wenn Marek den Rauch aus dem Krematorium Birkenau sieht, fragt er Grote, ob man die in den Tod gehenden Menschen nicht umerziehen könne. Darauf erwidert ihm Grote: »Du kannst einer Katze nicht abgewöhnen, Vogelnester zu räubern, du kannst sie nur töten.« (VA 161) An dieser Stelle identifiziert er sich mit der nationalsozialistischen Ideologie: Er hält die Opfer aus dem Konzentrationslager für gefährliche Personen, die es zu eliminieren gilt. Die Berufung auf die Biologie ermöglicht ihm, das Massenverbrechen zu rechtfertigen. Die Verbindung der Vogelbeobachtung mit dem Krieg und Tod – die Ursula Hennigfeld konstatiert – wird in der folgenden Passage sichtbar, die aus einem Gespräch von Marek und Grote stammt:27 26 Lange-Berndt, Petra: »Das Ende der Trophäen. Eine kurze Geschichte präparierter Tiere in der Kunst«, in: Peter Noever (Hg.), Möbel als Trophäe. Furniture as Trophy. Wien: MAK/Nürnberg: Verlag für moderne Kunst 2009, S. 100-119, hier: S. 100. 27 Vgl. Hennigfeld, Ursula: »Im Krieg Federn lassen. Vogel-Metaphern in zeitgenössischen Kriegsromanen (Khadra, Scheuer, Surminski, Rothmann)«, in: Romanische Studien, Beihefte 4, 2018, S. 199-219, hier: S. 209f. Hennigfeld zitiert den letzten Abschnitt der demnächst angeführten Passage.

Ornithologie im Dienste des Dritten Reiches | 159

»Vor ihnen fiel ein Falke im Sturzflug vom Himmel. Stuka!, rief Marek. Waren unsere Stukas auch über Krakau? Sie haben Warschau bombardiert, das genügte ihnen. Ach, die vielen Gemeinsamkeiten der Vogelwelt mit der Welt des Krieges. Die Bombengeschwader flogen in Keilform wie die Wildgänse, Falken stürzten wie Sturzkampfbomber auf ihr Ziel, die Schwäne sangen wie die Luftsirenen…, die ganze Vogelwelt befand sich im Krieg.« (VA 44)

Aufgrund etwa dieses Zitats und der Gleichgültigkeit der Vögel gegenüber der menschlichen Tragödie im Konzentrationslager (»Und die Amseln haben sich so an die Menschen gewöhnt, dass sie flötend auf dem Galgen sitzen und den Mann betrachten, der unter ihnen hängt, dachte Marek. Was soll man von solchen Vögeln halten?« (VA 76)) ist sichtbar, dass man die Vogelwelt in der Novelle nicht idealisieren sollte. Darüber hinaus wird die Vogelwelt politisiert. Grote nimmt an, dass die von ihm beobachteten Vögel nun schon deutsch sind (vgl. VA 102). Seine nationalistische Gesinnung kommt in der folgenden Passage zum Ausdruck: »Die Störche seien auf keinen Fall Afrikaner, entschied er, sondern mit ihrem schwarz-weißen Gefieder echte Preußen.« (VA 103) An einer anderen Stelle ist von einem polnischen und preußischen Adler die Rede (vgl. VA 82), was im Zusammenhang mit den Wappen und der nationalen Zugehörigkeit steht. Den Vögeln werden nicht nur politische Bedeutungen verliehen, sondern sie werden auch in Liedern thematisiert (vgl. VA 101), sodass sie in die Sphäre der Politik, Kunst bzw. der Kultur übertragen werden. Man hat also den Eindruck, dass die lebendigen Vögel für Grote nicht ausreichend sind: Er will sie im Namen der Wissenschaft (z.B. im Zuge des Präparierens) oder der Kunst ›verarbeiten‹ bzw. ›veredeln‹.28

28 Die Darstellung der Tiere in der Kunst hat eine durchaus lange Tradition: Schon die Wände prähistorischer Höhlen sind durch Bilder der Tiere geschmückt. Somit zählen die Bilder der Tiere zu den ältesten Kunstwerken der Menschheit. Vgl. Petry, Michael: Nature Morte. Stillleben in der zeitgenössischen Kunst. München: Hirmer 2013, S. 178.

160 | Anna Dąbrowska

Grote tötet die Vögel im Konzentrationslager und der Umgebung, um sie auszustopfen und in deutschen Bildungsinstitutionen wie Museen sowie Schulen unterzubringen (vgl. VA 34). Sein Vorhaben wird u.a. im folgenden Zitat veranschaulicht: »Grote hoffte, eines der Tiere würde geschwächt zurückbleiben, sodass er es töten und präparieren könnte. Ein ausgestopfter Weißstorch auf dem Lehrerpult in der Schule seiner Kinder wäre doch eine Attraktion.« (VA 92) Seine Forschungen über die Vogelwelt von Auschwitz lösen Assoziationen mit dem Kolonialismus aus, im Zuge dessen man eroberte Gebiete zugänglich, nützlich machen wollte. Durch die wissenschaftliche Untersuchung bzw. Präsentation der ausgestopften Vögel aus Auschwitz sollte im Rahmen einer didaktischen Mission das Wissen über eroberte Gebiete vermittelt werden. Dies korrespondiert mit folgenden Aussagen des Ornithologen in der Novelle: »Ich konzentriere mich zunächst auf die Zugvögel, dann auf die Standvögel im Bereich des Lagers, um ein möglichst vollständiges Bild von der Vogelfauna dieses interessanten und noch ganz unbearbeiteten neuen deutschen Ostgebietes zu gewinnen« (VA 109); »Es ist ein ehrenvoller Auftrag, in dieser Gegend die Vogelpopulation zu erforschen. Das Land zwischen Sola und Weichsel gehört zum Deutschen Reich. Wir erforschen unsere Gebiete gründlich, auch in ornithologischer Hinsicht. Meine Aufgabe ist es, diesen weißen Fleck auf der deutschen Landkarte mit Leben zu erfüllen.« (VA 102) Anhand der Phrase »mit Leben zu erfüllen« und der bereits erwähnten Vorstellung von kranken Landschaften kann man vermuten, dass das Verbreiten des Wissens über Auschwitz und seine Gegend ein bedeutender Schritt zur Eindeutschung der ehemaligen polnischen Gebiete sein sollte. Im Namen der Wissenschaft und Bildung tötet und präpariert Grote die Vögel, wobei Marek Assoziationen mit dem Sezieren von Leichen hat (vgl. VA 54).29 Wenn der Ornithologe die Vögel vergiftet, denkt Marek: »Das wäre das erste Gift in Birkenau.« (VA 97) Höß verbietet zwar das Schießen an den Teichen, aber er tut es nur, damit Grote seine Untersuchungen in Ruhe durchführen kann und Monopol auf das Töten von Vögeln hat. Im

29 Allerdings steht die Feststellung Mareks: »Der Deutsche, mit dem ich die Vogelwelt erforsche, ist im Grunde ein anständiger Mensch, der keinen Vogel töten könnte.« (VA 130) im Widerspruch dazu.

Ornithologie im Dienste des Dritten Reiches | 161

Kommandantursonderbefehl steht nämlich: »Ich verbiete mit sofortiger Wirkung jedes Schießen an den Teichen. Lediglich der von mir beauftragte SS-Mann Hans Grote hat die Genehmigung, Vögel und Raubzeug abzuschießen.« (VA 79) Andere dürfen lediglich auf die Spatzen und Sperlinge schießen, da sie kein Gegenstand der wissenschaftlichen Arbeiten sind (vgl. VA 108). Das Vorgehen der Nationalsozialisten in der Novelle trägt schließlich dazu bei, dass die Vögel Birkenau meiden. Der Rauch aus den Krematorien stößt sie ab und verunmöglicht ihnen das Leben im Lager und in seiner Gegend. Wenn man »ihren Lebensraum auf den Kopf stellt« (VA 105), bleiben nur die den Tod symbolisierenden Krähen (vgl. VA 132).30 Laut Nijolė Brazauskienė hatten weder Menschen noch Vögel Rechte im Vernichtungslager: »[A]lle mussten vernichtet werden, nur die Krähen blieben da, weil sie das Unheil bedeuteten […]. Vögel brauchten die Harmonie der Natur, die die Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus zerstört hat.«31 Ebenfalls Ursula Hennigfeld berücksichtigt nicht nur den Kontrast zwischen den Vögeln und Häftlingen in bestimmten Kontexten, sondern auch eine Parallele zwischen ihrem Schicksal in manchen Situationen.32 Dass das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau schließlich doch kein Vogelparadies ist, wird zum Ende der Handlung deutlich. Die Lebensbedingungen für die Vögel in Auschwitz und Birkenau verschlechtern sich nämlich mit der Zeit drastisch, und zwar wegen der Krematorien. Die Nationalsozialisten deklarieren zwar ihre Naturliebe, aber sie tragen in der Tat zur Vernichtung der Natur bei. Surminski betont in seiner Novelle die Am-

30 Vgl. Opitz, Michael: Krähen überm Krematorium, http://www.deutschland radiokultur.de/kraehen-ueberm-krematorium.950.de.html?dram:article_id=1363 73 vom 29.11.2017. 31 N. Brazauskienė: Grenzsituation im Leben des KZ-Häftlings in Ernst Wiecherts Der Totenwald und Arno Surminskis Die Vogelwelt von Auschwitz, https://vb.vdu.lt/object/elaba:1763157/1763157.pdf , S. 54 vom 29.11.2017. 32 Vgl. U. Hennigfeld: »Im Krieg Federn lassen. Vogel-Metaphern in zeitgenössischen Kriegsromanen (Khadra, Scheuer, Surminski, Rothmann)«, S. 210. Die Autorin weist u.a. darauf hin, dass Marek mithilfe seiner Zeichnungen der Vögel auch das Schicksal der Häftlinge zum Ausdruck bringen möchte und dass er sich wie ein Vogel fühlt, dessen Überleben von Grote abhängig ist.

162 | Anna Dąbrowska

bivalenz in der Einstellung der Nationalsozialisten zur Natur. Sogar Marek bewertet die Vorgehensweise Grotes je nach Textstelle unterschiedlich. Bedeutend ist, dass der polnische Protagonist die von Grote getöteten Vögel einmal sogar beneidet. Um dies zu verstehen, muss man von der Gegenüberstellung die endgültige Auslöschung des Körpers der Häftlinge im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und das Verewigen der getöteten Vögel durch das Präparieren und ihre Zurschaustellung in Museen und Schulen ausgehen. Ursula Hennigfeld beschreibt die Zerstörung der Erinnerung wie folgt: »Die [Bilder der] Vögel stehen […] im Roman stellvertretend für das, was Marek nicht zeichnen darf, weil es der Zensur anheimfällt und aus der Wahrnehmung und Erinnerung ausgeschlossen werden soll. Damit verweist das Verbot, Leichen zu zeichnen, implizit auf die nationalsozialistische Vernichtungspolitik, zu der auch die Vernichtung der Erinnerung an die Ermordeten gehörte.«33

Häftlinge werden nach ihrem Tod verbrannt, sie hinterlassen keine materiellen Spuren, sie haben nicht einmal ein Grab. Auf diese Art und Weise verschwinden auch hässliche Vögel, die laut Grote ungeeignet für das Präparieren sind und verbrannt werden müssen. Der Ornithologe verwendet für seine wissenschaftlichen Ziele nämlich nur solche Vögel, die »ordentlich« (VA 33) ausschauen – um es mit ihm zu sagen. Seine Aufgabe besteht darin, diesen »ordentlichen« Vögeln wieder Schönheit im Zuge des Präparierens zu verleihen (vgl. VA 54, 56). Marek möchte nicht wie hässliche und kranke Vögel verschwinden. Seine Überlegungen über das Schicksal der Häftlinge und der Vögel werden wie folgt wiedergegeben: »Wenn sie die Teile [der Häftlinge im Rahmen der Rassenuntersuchungen oder der Menschenversuche A. D.] geprüft haben, kommen vier Häftlinge mit einer Rumpelkarre und fahren die Reste zum Krematorium […]. Da haben die Graureiher es besser, sie werden präpariert. Vermutlich sind die ägyptischen Mumien auch so gewickelt worden, dachte Marek. Danach überdauern sie dreitausend Jahre, und dieser Graureiher wird auch die Tausend Jahre überstehen, wenn ihn nicht vorher der Teufel holt.« (VA 54-55)

33 Ebd. S. 210.

Ornithologie im Dienste des Dritten Reiches | 163

Mareks Befürchtung, aus dem Leben spurlos und anonym zu scheiden, hat zur Folge, dass das Überdauern der Vogelkörper nach ihrem Tod – und ihre Präsentation in Museen und Schulen – ihm positiv erscheint. Der Gedanke der Figur aus ihrer Lage heraus mag plausibel erscheinen, aber steht in einem harten Kontrast zu der tatsächlichen Ausstellung menschlicher Schauobjekte und ihren ideologischen Implikationen. An dieser Stelle kann man sich die Frage stellen, welche Bedeutung der Vernichtung der Leiche von einem Feind34 zukommen mag. Romedio Schmitz-Esser stellt fest: »Die Zerstörung der Gebeine des Gegners gehört […] zu den gängigen Instrumentalisierungen des gegnerischen Leichnams […].«35 Wenn man über einen Leichnam disponiert, betont man seine vollkommene Verfügungsgewalt über den Toten. Diese Macht kommt besonders stark dann zum Ausdruck, wenn die Integrität des Leichnams zerstört wird.36 Die Vernichtung des Leichnams mag dazu mit einer damnatio memoriae (also mit bewusster Tilgung der Erinnerung an Personen oder Geschehnisse) einhergehen.37 In der Novelle soll der Körper der Häftlinge, die aus der Perspektive der Nationalsozialisten einer minderwertigen und feindlichen Rasse angehören, Arbeit leisten, wegen Arbeitsuntauglichkeit oder Ungehorsam eliminiert werden oder im Rahmen der Menschenversuche bzw. der Rassenuntersu-

34 Marek repräsentiert die feindliche Rasse aus der Perspektive der Nationalsozialisten. 35 Schmitz-Esser, Romedio: »Der tote Körper als Siegessymbol. Der Leichnam des

Gegners zwischen Legitimation und »damnatio memoriae««, in: Michaela Fahlenbock/Lukas Madersbacher/Ingo Schneider (Hg.), Inszenierung des Sieges – Sieg der Inszenierung. Interdisziplinäre Perspektiven., Innsbruck/Wien: Studien Verlag 2011, S. 23-30, hier: S. 23. 36 Vgl. ebd., S. 25. 37 Allerdings betont Romedio Schmitz-Esser, dass die Zerstörung des Leichnams

nicht unbedingt mit der Auslöschung der Erinnerung an den Toten einherzugehen braucht. Im Christentum etwa steht im Mittelpunkt die Erinnerung an eine Person, deren Leichnam nicht vorhanden ist. Vgl. ebd., S. 25. Beim Definieren von »damnatio memoriae« beruft sich Schmitz-Esser auf die Quelle: Von der Höh, Marc: »damnatio memoriae«, in: Nicolas Pethes/Jens Ruchatz (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Hamburg: Rowohlt 2001, S. 109.

164 | Anna Dąbrowska

chungen nützlich gemacht werden. Der Körper bzw. Leichnam der Häftlinge kann seiner Integrität beraubt werden, was z.B. in den folgenden Zitaten aus der Novelle Surminskis sichtbar wird »Einen Fachmann, der Mineralien sammele, gebe es schon, in der Anatomie würden auf seinen Befehl hin die Schädel verstorbener Häftlinge vermessen und seziert, um das Hirngewicht zu registrieren« (VA 14); »Jerzy kannte auch einen, der Zahngold sammelte, nicht für sich, sondern für die Herren in Berlin. Ein anderer kratzte die Knochen im Krematorium zusammen […]« (VA 34). Solche Behandlung der Körperlichkeit schließt die Würde und Individualität der Häftlinge aus, was Mareks Einstellung zum Schicksal der schönen, ausgestopften Vögel verstehen lässt.

SCHLUSSFOLGERUNGEN Auf der einen Seite bewahren die schönen, präparierten Vögel ihre äußere Integrität im Gegensatz zum Körper der getöteten Häftlinge, auf der anderen Seite verlieren viele Vögel ihr Leben im Konzentrationslager und seiner Umgebung oder sie müssen die Gegend wegen des Krematorienrauchs verlassen. Für Grote sind sie Objekte des wissenschaftlichen, politischen und kolonialen Diskurses. Abzulehnen ist aus diesem Grunde die pauschalisierende Behauptung, dass der Kontrast idyllische Vogelwelt – menschliches Leid in der Novelle Surminskis ausschlaggebend ist und konsequent vermittelt wird. Die Vögel werden von Grote vergiftet oder erschossen, wissenschaftlich untersucht sowie in den deutschen Schulen und Museen präsentiert. Die Novelle liefert keine direkte Antwort auf die Frage, was durch diese Bildungsinstitutionen erreicht werden sollte. Hypothetisch gesehen kann man jedoch vermuten, dass es dabei folgende Ziele gab: 1. Man wollte der Gesellschaft die (missverstandenen) darwinistischen Regeln vermitteln und sie zur Übertragung der brutalen Gesetze aus der Naturwelt auf das menschliche Leben ermutigen (was am Anfang des analytischen Teiles sichtbar ist) 2. Die Besucher der Bildungsinstitutionen sollten über neue deutsche Gebiete informiert werden, und zwar über ihre Flora und Fauna. Darauf weist das Zitat aus der Novelle über den weißen Fleck auf der deutschen Landkarte hin. Erwünscht war die Herausbildung des Gefühls von Identifizierung mit den eroberten Gebieten, welches mithilfe der Einrichtungen wie Schulen und Museen entwickelt oder gesteigert werden sollte.

Ornithologie im Dienste des Dritten Reiches | 165

3. Man wollte die Akzeptanz für die Eindeutschung dieser Gebiete stärken, was in der Aufforderung aus der Novelle zum Erfüllen der eroberten Gebiete mit Leben zum Ausdruck kommt, bzw. man wollte vielleicht sogar die Besucher der Museen zur Veränderung der ehemaligen polnischen Landschaften motivieren.

LITERATUR Bäumer-Schleinkofer, Änne: »Staatlicher Mißbrauch von Wissenschaft: Biologie im Dritten Reich«, in: Robert Rosner/Gerhard Pohl (Hg.), Tagungsband zur Vortragstagung Naturwissenschaften und Politik. Brennpunkte im 20. Jahrhundert. Science and Politics Issues that have shaped the 20. Century. Arbeitsgruppe Geschichte der Chemie, Linz: Gesellschaft österreichischer Chemiker 1999, S. 35-46. Berner, Margit: »›Die haben uns behandelt wie Gegenstände.‹ Anthropologische Untersuchungen an jüdischen Häftlingen im Wiener Stadion während des Nationalsozialismus«, in: Margit Berner/Anette Hoffmann/Britta Lange (Hg.), Sensible Sammlungen. Aus dem anthropologischen Depot, Hamburg: Philo Fine Arts 2011, S. 147-167. Bilio, Martin: »50 Jahre vdbiol. Die Festansprache. Der amnestische Phӧnix«, in: biologenheute (vdbiol), 5/6 (2004), S. 03-09. Bilio, Martin: »Auf infernalen Spuren«, in: biologenheute (vdbiol), 5/6 (2005), S. 10-15. Bilio, Martin: »Nachwort eines Biologen«, in: Arno Surminski, Die Vogelwelt von Auschwitz. Eine Novelle, München: LangenMüller 2008, S. 189-191. Brazauskienė, Nijolė: Grenzsituation im Leben des KZ-Häftlings in Ernst Wiecherts »Der Totenwald« und Arno Surminskis »Die Vogelwelt von Auschwitz«, https://vb.vdu.lt/object/elaba:1763157/1763157.pdf vom 29.11.2017. Dąbrowska, Anna: »Der historische Hintergrund des Romans ›Der Vogelsammler von Auschwitz‹ (2009) von Hamid Sadr im Lichte der Korrespondenz mit ausgewählten Museen«, in: Jahrbuch des Wissenschaftlichen Zentrums der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien, 8 (2017), S. 235-251.

166 | Anna Dąbrowska

Dirscherl, Stefan: Tier- und Naturschutz im Nationalsozialismus. Gesetzgebung, Ideologie und Praxis, Göttingen: V&R unipress 2012. Fehn, Klaus: »Lebensgemeinschaft von Volk und Raum: Zur nationalsozialistischen Raum- und Landschaftsplanung in den eroberten Ostgebieten«, in: Joachim Radkau/Frank Uekötter (Hg.), Naturschutz und Nationalsozialismus, Frankfurt/New York: Campus Verlag 2003, S. 207224, https://doi.org/10.2307/3985781. Hennigfeld, Ursula: »Im Krieg Federn lassen. Vogel-Metaphern in zeitgenössischen Kriegsromanen (Khadra, Scheuer, Surminski, Rothmann)«, in: Romanische Studien, Beihefte 4,2018, S. 199-219. Kettner, Fabian: Vom Heimat-Roman zur Auschwitz-Novelle. Arno Surminski erweitert sein Repertoire, http://www.rote-ruhr-uni.com/cms/ IMG/pdf/Surminski_Die_Vogelwelt_von_Auschwitz.pdf vom 29.11. 2017. Klueting, Edeltraud: »Die gesetzlichen Regelungen der nationalsozialistischen Reichsregierung für den Tierschutz, den Naturschutz und den Umweltschutz«, in: Joachim Radkau/Frank Uekötter (Hg.), Naturschutz und Nationalsozialismus (2003), S. 77-105, https://doi.org/10.2307/ 3985781. Lange-Berndt, Petra: »Das Ende der Trophäen. Eine kurze Geschichte präparierter Tiere in der Kunst«, in: Peter Noever (Hg.), Möbel als Trophäe. Furniture as Trophy. Wien: MAK/Nürnberg: Verlag für moderne Kunst 2009, S. 100-119. Levin, Soraya: Die Vogelwelt von Auschwitz – von Arno Surminski, http://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/die-vogelwelt-vonauschwitz-surminski/ vom 29.11.2017. Niemann, Derek: Birds in a Cage, London: Short Books 2012. Nowak, Eugeniusz: Wissenschaftler in turbulenten Zeiten. Erinnerungen an Ornithologen, Naturschützer und andere Naturkundler (= Die Neue Brehm-Bücherei 676), Hohenwarsleben: Westarp Wiss. 2010. Opitz, Michael: Krähen überm Krematorium, http://www.deutschland radiokultur.de/kraehen-ueberm-krematorium.950.de.html?dram:article_ id=136373 vom 29.11.2017. Petry, Michael: Nature Morte. Stillleben in der zeitgenössischen Kunst, München: Hirmer 2013. Raab, Harald: Himmel und Hölle. Beispiel für die kafkaeske Welt des Schreckens in Auschwitz, http://www.mittelbayerische.de/kultur/bue

Ornithologie im Dienste des Dritten Reiches | 167

cher/buchbesprechun/himmel-und-hoelle-21860-art209497.html vom 29.11.2017. Schmitz-Esser, Romedio: »Der tote Körper als Siegessymbol. Der Leichnam des Gegners zwischen Legitimation und ›damnatio memoriae‹«, in: Michaela Fahlenbock/Lukas Madersbacher/Ingo Schneider (Hg.), Inszenierung des Sieges – Sieg der Inszenierung. Interdisziplinäre Perspektiven, Innsbruck/Wien: Studien Verlag 2011, S. 23-30. Spoerer, Mark/Streb, Jochen: Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, München: Oldenbourg 2013. Surminski, Arno: Die Vogelwelt von Auschwitz. Eine Novelle. München: LangenMüller 2008. Teschler-Nicola, Maria/Berner, Margit: Die Anthropologische Abteilung des Naturhistorischen Museums in der NS-Zeit; Berichte und Dokumentation von Forschungs- und Sammlungsaktivitäten 1938-1945, Abteilung für Archäologische Biologie und Anthropologie Naturhistorisches Museum Wien, http://www.nhm-wien.ac.at/jart/prj3/nhm/data/ uploads/mitarbeiter_dokumente/berner/Senatsber.pdf vom 29.11.2017. Zerbel, Miriam: »Tiere schützen, weil Tiere nützen«, in: Johannes Bilstein/Matthias Winzen (Hg.), Das Tier in mir. Die animalischen Ebenbilder des Menschen, Köln: König 2002, S. 43-55.

III Kollektivitätsnarrative

Fassungsloses Reden und geselliges Missverstehen Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten Alexander Weinstock

Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten legen in einem Szenario der Flucht und der Vertreibung ihren Fokus auf den Zusammenhang zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Folgen der Französischen Revolution und des sich an sie anschließenden Ersten Koalitionskrieges. Sie thematisieren, wie der politische zu einem sozialen Missstand führt, in dessen Zentrum eine Krise der Kommunikation steht. Was dabei vor allem in der Rahmenhandlung der Novellensammlung diagnostiziert und in seinen Auswirkungen vorgeführt wird, ist ein gesellschaftlicher Zerfallsprozess, der sich in unmäßigem, affektgeleiteten und darüber sozial unverträglichen Verhalten und einem in Folge dessen unversöhnlichen Aufeinandertreffen antagonistischer politischer Positionen zeigt. Zugleich verhandelt der Text eine Möglichkeit, diesem Zerfall entgegenzuwirken, indem vor allem über das Erzählen und anschließende Diskutieren mehrdeutiger Geschichten das kommunikative Fundament sozialer Zusammenhänge stabilisiert wird. Dieses Verfahren konstituiert dabei nicht nur die Form des Textes als Novellensammlung, sondern auch Erzähler und Zuhörer als einen geselligen, verträglichen und kommunikativen Zirkel. Beide Aspekte stehen in engem Zusammenhang mit dem Veröffentlichungskontext der Unterhaltungen, der auch den Beginn der Zusammenarbeit und des Austauschs von Goethe und Schiller markiert. Nachdem im Folgenden zunächst wesentliche Punkte dieses Kontextes bezüglich der Unterhaltungen skizziert werden sollen, widmet sich eine ausführlichere Ana-

172 | Alexander Weinstock

lyse der dort entfalteten sozialen und kommunikativen Problematik sowie dem sich daran anschließenden, narrativen Lösungsansatz.

EINE »UNTERHALTUNG VON GANZ ENTGEGENGESETZTER ART« – SCHILLERS PROGRAMMATIK DER HOREN Die mit Ausnahme des sie beschließenden Märchens vom zeitgenössischen Publikum eher gering geschätzten Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten erscheinen sukzessive, über insgesamt sechs Stücke verteilt, im ersten Jahrgang der Horen von 1795.1 Sie stehen in enger Verbindung mit dem Selbstverständnis und der Programmatik der Zeitschrift, wie sie Schiller in der Einladungsschrift, die er an anvisierte Beiträger verschickt, und ihrer Ankündigung vorstellt.2

1

Die Entstehung der Unterhaltungen und ihre Rezeption sind in der Forschung bereits vielfach und ausführlich thematisiert worden. Es sei hier deshalb zur Vertiefung unter anderem verwiesen auf Stammen, Theo: »Johann Wolfgang von Goethe: ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹«, in: Ders.: Goethe und die politische Welt. Studien, Würzburg: Ergon 1999, S. 161-196, hier: S. 162-175; Blum, Lothar: »›In jenen unglücklichen Tagen...‹ Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten oder: Die Ambivalenz von Kunst und Gesellschaft«, in: Rüdiger Zymner (Hg.), Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Festschrift für Dietrich Weber, Köln: edition chōra 2000, S. 27-45, hier: S. 27-33; Reinhardt, Hartmut: »Ästhetische Geselligkeit. Goethes literarischer Dialog mit Schiller in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«, in: Peter-André Alt/Alexander Košenina/Hartmut Reinhardt und Wolfgang Riedel (Hg.), Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings, Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 311-341, hier: S. 312-324.

2

Goethes und Schillers Korrespondenz dreht sich in den ersten Monaten vielfach um Schillers Zeitschriftenprojekt und hebt überhaupt erst mit dessen »Wunsch« an, Goethe möge die Horen mit seinen »Beiträgen [...] beehren« – ein Wunsch, dem Goethe »mit Freuden und von ganzem Herzen« nachzukommen verspricht. (Schiller, Friedrich an Johann Wolfgang Goethe, 13. Juni 1794 und Goethe, Johann Wolfgang an Friedrich Schiller, 24. Juni 1794, in: Goethe, Johann Wolf-

Fassungsloses Reden und geselliges Missverstehen | 173

Die Horen verstehen sich als ein gemeinschaftliches Produkt: Sie sind das Ergebnis der sich zu einer »Sozietät«3 vereinigenden »vorzüglichsten Schriftsteller der Nation«, die nicht nur ihr je eigenes »Verdienst«, sondern, was in ökonomischer und gleichermaßen in Hinsicht auf den Wirkungsanspruch der Zeitschrift wichtig ist, auch »das vorher geteilt gewesene Publikum«4 zusammenführen. In diesem Kalkül des Herausgebers Schiller verknüpft sich der Erfolg auf dem literarischen Markt mit dem eigentlichen Anliegen der Zeitschrift, noch einer ganz anders gearteten Teilung als bloß separaten Leserschaften entgegen zu wirken. Das Erscheinen der Horen fällt, so diagnostiziert es Schiller, mitten in

gang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter, Band 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Herausgegeben von Manfred Beetz, München: Hanser 1990, S.11.) Tatsächlich verdanken die Unterhaltungen, glaubt man ihrem Autor, ihr Entstehen überhaupt nur dieser Anfrage Schillers, wie es Goethe 1829 in Zusammenhang mit der Herausgabe des gemeinsamen Briefwechsels betont: »Hätt es ihm [Schiller – AW] nicht an Manuscript zu den Horen [...] gefehlt, ich hätte die Unterhaltungen der Ausgewanderten nicht geschrieben«. (Goethe, Johan Wolfgang an Ch[ristoph] L[udwig] F[riedrich] Schultz, 10.1.1829, in: Ders.: Sämtliche Werk. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. II. Abteilung: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Herausgegeben von Karl Eibl et al., hier Band 38: Die letzten Jahre. Briefe, Tagebücher und Gespräche von 1823 bis zu Goethes Tod. Teil II: Vom Dornburger Aufenthalt 1828 bis zum Tode. Herausgegeben von Horst Fleig, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993, S. 80-83, hier: S. 83.) 3

Schiller, Friedrich: Ankündigung. Die Horen, eine Monatschrift, von einer Gesellschaft verfasst und herausgegeben von Schiller, in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs und des SchillerNationalmuseums herausgegeben von Julius Petersen und Herman Schneider. Zweiundzwanzigster Band: Vermischte Schriften. Herausgegeben von Herbert Meyer, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1958, S. 106-109, hier: S. 109. Im Folgenden mit Seitenzahl direkt im Text zitiert als Ankündigung.

4

Schiller, Friedrich: Die Horen. Einladung zur Mitarbeit, in: NA 22, S. 103-105, hier S. 103f. Im Folgenden mit Seitenzahl direkt im Text zitiert als Einladung.

174 | Alexander Weinstock

»eine[...] Zeit, wo das Geräusch des Kriegs das Vaterland ängstiget, wo der Kampf politischer Meinungen und Interessen diesen Krieg beinahe in jedem Zirkel erneuert und nur allzu oft Musen und Grazien daraus verscheucht, wo weder in den Gesprächen noch in den Schriften des Tages vor diesem allverfolgenden Dämon der Staatskritik Rettung ist«. (Ankündigung, 106)

Es sind die Folgen der Französischen Revolution, die sich als Kriegshandlungen jenseits des militärischen Konflikts auch in der alltäglichen Interaktion niederschlagen und zu tiefen Rissen im sozialen Gefüge geführt haben. Die Horen sind nun als dezidierte Reaktion auf diese politische Krise und, genauer noch, auf ihre gesellschaftlichen Konsequenzen konzipiert. Angesichts der zunehmend zutage tretenden Beschädigung des Sozialen, verschreiben sie sich »dem stillen Bau besserer Begriffe, reinerer Grundsätze und edlerer Sitten, von dem zuletzt alle wahre Verbesserung des gesellschaftlichen Zustandes abhängt«. (Ankündigung, 106f.) Diese ›Verbesserung‹ soll dort ansetzen, wo die wachsende Instabilität und Gefährdung ›des gesellschaftlichen Zustandes‹ am unmittelbarsten erfahren wird und zugleich, weil sie an dessen Fundament rührt, besonders schwer wiegt: in den ›Gesprächen‹ und ›Schriften des Tages‹.5 Auf sie versuchen die Horen Einfluss zu nehmen. Allerdings nicht, indem sie tagespolitisch Stellung beziehen und für diese oder jene Position werben, sondern im Gegenteil, indem sie »sich über das Lieblingsthema des Tages ein strenges Stillschweigen auferlegen« und dezidiert ausschließen, was den »politischen Tumult« weiter befeuern könnte: Alles, »was mit einem unreinen Parteigeist gestempelt ist«, wird aus den Horen »verbannt«, die Zeitschrift will stattdessen ihre Leser »zu einer Unterhaltung von ganz entgegengesetzter Art ein[laden].« (Ankündigung 106) Anstelle der so konfliktbegünstigenden, weil selbst von Konflikt geprägten, politischen Aktualität, widmet

5

Dass sich die Thematisierung und Problematisierung von Gespräch und Gesprächskultur insbesondere in Folge kriegerischer Auseinandersetzungen beobachten lässt, skizziert Fauser, Markus: Das Gespräch im 18. Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeit in Deutschland, Stuttgart: M&P Verlag für Wissenschaft und Forschung 1991, S. 9. Im Falle der Horen und Goethes Unterhaltungen zeigt sich jedoch, wie eine solche Problematisierung nicht erst im Anschluss an Kriegserfahrungen anhebt – so Fauser –, sondern mit dieser Erfahrung recht unmittelbar einhergeht.

Fassungsloses Reden und geselliges Missverstehen | 175

sie sich Philosophie, Geschichte und Literatur, und will damit tatsächlich weit mehr als, wie es die Ankündigung verheißt, »eine fröhliche Zerstreuung gewähren«: (Ankündigung, 106) Sie setzt auf Themen, die nicht nur soziale Interaktion in Gang halten sollen, sondern denen dabei zugleich die Aufgabe zukommt, eine Wirkung im Sinne der angestrebten gesellschaftlichen Verbesserung zu entfalten, nicht zuletzt, weil ihre Behandlung in der Zeitschrift selbst auf Dialog und Diskussion statt Disput hin angelegt ist: »Man widmet sich der schönen Welt zum Unterricht und zur Bildung, und der gelehrten zu einer freien Forschung der Wahrheit und zu einem fruchtbaren Umtausch der Ideen«. (Einladung, 103) Die dem Selbstverständnis der Zeitschrift entsprechende und über ihre thematische Ausrichtung anvisierte ›Verbesserung des gesellschaftlichen Zustandes‹ soll in letzter Konsequenz dazu beitragen, ein »Ideal[] veredelter Menschheit« und damit »wahre Humanität zu befördern.« (Ankündigung, 106) Dazu aber, und das rückt diesen buchstäblich idealistischen Anspruch in einen unmittelbaren Kontakt mit den konkreten »Zeitumstände[n]«, (Ankündigung, 106) muss sich das große Verbesserungsprojekt der Horen vor dem Hintergrund des diagnostizierten Krisenzusammenhangs zunächst als ein umfassendes Vereinigungsprojekt behaupten: nicht nur der Schriftsteller und ihrer Leserschaften, sondern auch und vor allem der zerrissenen gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Horen zielen dementsprechend darauf, »die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen.«6 (Ankündigung, 106)

6

Dieses Vereinigungsprojekt erstreckt sich auch auf den thematischen Fokus der Zeitschrift selbst, die Kunst und Wissenschaft miteinander in Dialog setzen will, um so zur »Aufhebung der Scheidewand beizutragen, welche die s c h ö n e Welt von der g e l e h r te n zum Nachteile beider trennt«. (Ankündigung, S. 107.) Dass die »vorgeblich unpolitischen Horen« eigentlich »einen latent politischen Zweck [verfolgen]«, betont auch Kiefer, Sascha: »›Gesellige Bildung‹. Ein Ideal des Rokoko und seine Fortschreibung in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795)«, in: Matthias Luserke/Reiner Marx/ Reiner Wild (Hg.), Literatur und Kultur des Rokoko, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 235-249, hier: S. 236. Kiefer liest das Horen-Programm sowohl im Bezug auf dessen »Geselligkeitsideal« als auch auf eine darin enthaltene »zeitkritische Komponente« in der Tradition des Rokoko, betont allerdings, dass sich die Zeitkritik in der Zeitschrift, vor dem Hintergrund eines »radikalisierten politischen

176 | Alexander Weinstock

Innerhalb dieses Koordinatensystems, der Diagnose einer soziopolitischen Krise und einem Lösungsansatz, der über eine Kanalisierung der ›Gespräche‹ und ›Schriften des Tages‹ verläuft, bewegen sich, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll, die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten.7 Dabei wird der Fokus auf den spezifischen Akzentverlagerungen liegen, die Goethes Text vornimmt: seiner ausführlicheren, literarischen Analyse der Krise hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen, und das heißt hier nichts weniger als ihrer gesellschaftszersetzenden Folgen sowie des Versuchs ihrer Überwindung im Zeichen einer Gesprächs- und Erzählkultur, die noch vor allen Bildungs- und Veredelungsansprüchen über das Gespräch selbst dem sozialen Zerfall entgegenwirken will.

Spektrum[s]« (ebd., S. 235f.) und über die Betonung hier notwendiger Erziehungsleistungen der Kunst, verschärft. 7

Diese Koordinaten prägen auch und sicherlich noch expliziter Schillers wohl gewichtigsten eigenen Beitrag zu den Horen, die Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Goethes Unterhaltungen sind in der Forschung wiederholt und mit einigem Nachhall in mindestens kritischer Distanz sowohl zur Programmatik der Zeitschrift als auch zu den Briefen positioniert worden, vgl. besonders einschlägig Witte, Bernd: »Das Opfer der Schlange. Zur Auseinandersetzung Goethes mit Schiller in den ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹ und im ›Märchen‹«, in: Wilfried Barner/Eberhard Lämmert/Norbert Oellers (Hg.), Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik, Stuttgart: Cotta 1984, S. 461-484; Gaier, Ulrich: »Soziale Bildung gegen ästhetische Erziehung. Goethes Rahmen der ›Unterhaltungen‹ als satirische Antithese zu Schillers ›Ästhetischen Briefen‹ I-IX«, in: Helmut Bachmaier/Thomas Rentsch (Hg.), Poetische Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Philosophie in der Epoche Goethes und Hölderlins, Stuttgart: Klett-Cotta 1987, S. 207272. Dagegen hat ebenso angemessen nachdrücklich wie inhaltlich überzeugend H. Reinhardt: Ästhetische Geselligkeit argumentiert und die Unterhaltungen stattdessen als »einen komplementären Entwurf zu Schillers Ästhetik« (S. 328) gelesen. Ein gute, vielfach kommentierte Übersicht zu den verschiedenen, sich mitunter überaus konträr gegenüberstehenden Forschungsschwerpunkten und -positionen hinsichtlich der Unterhaltungen findet sich bei Biere, Florentine: Das andere Erzählen. Zur Poetik der Novelle 1800/1900, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, insbes. S. 69-81.

Fassungsloses Reden und geselliges Missverstehen | 177

»GANZ AUS DER FASSUNG GERATEN« – DIE PROBLEMDIAGNOSE DER UNTERHALTUNGEN Die Rahmenhandlung der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten berichtet von den Fluchterfahrungen einer deutschen Adelsfamilie. Sie muss in Folge des Einmarschs der französischen Revolutionstruppen zu Beginn der 1790er Jahre schlagartig Haus und Hof verlassen und wird über mehrere Monate Teil größerer, grenzenübergreifender Fluchtbewegungen, bis sie sich schließlich, in der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr, in der Nähe ihrer Heimat niederlässt – eine Hoffnung, die im Text selbst nicht mehr eingelöst wird. In diesem Szenario legt der Text seinen Fokus auf eine von Krieg und Vertreibung ausgelöste »allgemeine[] Verwirrung und Not«8 und stellt damit die unmittelbaren, zwischenmenschlichen Folgen einer kollektiv erfahrenen Extremsituation ins Zentrum. Angesichts einer »übereilten Flucht« UdA, 995), nicht nur der genannten Adelsfamilie, sondern auch einer »große[n] Anzahl französischer und deutscher Ausgewanderten« (UdA, 998), einer Anspannung ob der Verluste und Ungewissheiten sowie weiterer Beschwerlichkeiten, sind »die Menschen aus ihrer Fassung [gebracht]« (UdA, 996). Diese wiederholte Formel verweist auf die Probleme und Mängel individuellen Verhaltens ebenso wie auf ihre zwischenmenschlichen Auswirkungen und führt über diesen Zusammenhang zum Kern der gesellschaftlichen Krise, die die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten vor dem Hintergrund der Französischen Revolution thematisieren: den drohenden sozialen Zerfall in Folge eines durch die beispiellosen politischen Vorgänge,9 Flucht- und Verlusterfahrungen beschädigten, weil nicht mehr verstän-

8

Goethe, Johann Wolfgang: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in: Ders.: Sämtliche Werk. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel et al., hier: I. Abteilung: Sämtliche Werke Band 9: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Herausgegeben von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Unter Mitwirkung von Almuth Voßkamp, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992, S. 993-1119, hier: S. 998. Im Folgenden unter der Sigle UdA mit Seitenangabe direkt im Text zitiert.

9

Die Französische Revolution »ist ein Ereignis, das einen nicht restituierbaren Bruch mit dem Vorherigen darstellt«, , so etwa Geyer, Stefan: »Einbruch der

178 | Alexander Weinstock

digungs-, sondern provokationsorientierten, dissensfixierten Kommunikations- und Interaktionsverhaltens.10 Die Fassung, so heißt es zeitgenössisch in Adelungs Wörterbuch, bezeichnet im übertragenen Sinne den »Zustand der Seele, da sie sich ihrer deutlich bewußt ist, da sie ihre Gedanken und Worte in ihrer Gewalt hat, im Gegensatze der Zerstreuung oder einer starken Leidenschaft.«11 Tatsächlich sind es ›Zerstreuung‹ und ›starke Leidenschaften‹, die vielfach den ›Zustand‹ und das Agieren der ›Ausgewanderten‹ prägen: Es »war das Betragen eines jeden charakteristisch und auffallend. Das eine ließ sich durch eine falsche Furcht, durch ein unzeitiges Schrecken hinreißen; das andere gab einer unnötigen Sorge Raum«, (UdA, 995) konstatiert der Erzähler und ist mit dieser Einschätzung nicht allein. Auch die Figuren haben auf ihrer Flucht »zu solchen Betrachtungen Gelegenheit« (UdA, 999) und betreiben damit grundsätzlich bereits das, was dem späteren Erzählen des Abbé zu-

Zeit. Neuheiten im Geschicht-Roman Happels und in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«, in: IASL 42.1 (2017), S. 214-233, hier S. 224. 10 Dass die Unterhaltungen die sozialen Auswirkungen des politischen Umbruchs als eine gesellschaftszersetzende Krise der Geselligkeit darstellen, ist in der Forschung wiederholt thematisiert worden, vgl. u.a. Göttert, Karl-Heinz: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie, München: iudicium verlag 1988, S. 159f.; Ueding, Gert: »Gesprächsgesellschaft in Utopia. Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«, in: Ders.: Aufklärung über Rhetorik. Versuche über Beredsamkeit, ihre Theorie und praktische Bewährung, Tübingen: Niemeyer 1992, S. 125-137; Jöns, Dietrich: »Goethes »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«. Poetisch-poetologische Betrachtungen«, in: Rudi Schweigert (Hg.), Korrespondenzen. Festschrift für Joachim W. Storck aus Anlaß seines 75. Geburtstages, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 1999, S. 151-174, insbes. S. 153-157; Beck, Andreas: Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen. Goethe – Tieck – E.T.A. Hoffmann, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2008, S. 60-64 und 70-72. An eine solche Perspektive anschließend, sollen hier im Folgenden zunächst stärker Ursachen und Strukturen dieser Krise analysiert werden, wie sie das Zusammenspiel von politischer Spaltung und Fluchterfahrung bedingt. 11 Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 2: F-L. Zweyte vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig: Johann Gottlob Immanuel Breitkopf und Compagnie 1796, S. 54.

Fassungsloses Reden und geselliges Missverstehen | 179

grunde liegt: Die Beobachtung von menschlichem Verhalten in konkreten, außergewöhnlichen Situationen. Allen voran die Baronesse, das Oberhaupt der Familie, zieht allerdings aus den besonderen Beobachtungen allgemeine Schlussfolgerungen: »[D]er Leichtsinnige freut sich der Flucht wie einer Spazierfahrt und der Ungenügsame verlangt daß ihm auch noch als Bettler alles zu Diensten stehe. Wie selten daß uns die reine Tugend irgend eines Menschen erscheint, der wirklich für andere zu leben, für andere sich aufzuopfern getrieben wird.« (UdA, 999) Diese Bemerkung der Baronesse adressiert einen für die in den Unterhaltungen verhandelte Krise wesentlichen Zusammenhang: Die allgemeine Fassungslosigkeit betrifft nicht allein das Betragen des Einzelnen, sondern führt, weil sie es zwischen Unbeherrschtheit und Ungleichgewicht, Maßlosigkeit und Unangemessenheit aufgehen lässt, zu einer wechselseitigen Verstärkung von individueller Eigenheit und gesellschaftlicher Unverträglichkeit. Weil sie »sehen«, wie »meist die Ausgewanderten ihre Fehler und alberne Gewohnheiten mit sich in der Irre herumführen« und »von stolzen Anforderungen, Eitelkeit, Unmäßigkeit, Ungeduld, Eigensinn, Schiefheit im Urteil und der Lust ihrem Nebenmenschen tückisch etwas zu versetzen, überall hinbegleitet [werden]« (UdA, 998f.), erkennen die Familienmitglieder in der Fluchtsituation eine Bewährungsprobe für den sozialen Zusammenhalt, den die Auswirkungen der politischen Krise12 an seine Grenzen bringen. Umso notwendiger erscheint es ihnen daher, »in diesen Zeiten alle

12 Als Ursache für die soziale Krise wird von der Baronesse die schwer beschädigte politische Ordnung ausgemacht: »Die bürgerliche Verfassung, sagt sie: scheint wie ein Schiff zu sein, das eine große Anzahl Menschen, alte und junge, gesunde und kranke über ein gefährliches Wasser, auch selbst zu Zeiten des Sturms, hinüber bringt, nur in dem Augenblicke wenn das Schiff scheitert, sieht man wer schwimmen kann und selbst gute Schwimmer gehen unter solchen Umständen zu Grunde.« (UdA, 998) Vgl. zur Schifffahrtsmetapher und ihrer hier evozierten politischen Dimension T. Stammen: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, S. 179f. Ihre Spuren bei Goethe im Sinne einer Daseinsmetapher, nicht mit Bezug auf die Unterhaltungen, jedoch auf die späteren napoleonischen Kriege, auf biographische Erfahrungen respektive Stilisierungen sowie auf das Verhältnis von individueller Geschichte und Weltgeschichte, zeigt Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 52-64.

180 | Alexander Weinstock

Tugenden, besonders aber die Tugend der Unparteilichkeit und Verträglichkeit zu üben.« (UdA, 998) Zwischen dieser Einsicht und ihrer Umsetzung klafft allerdings auch und gerade im Familienverbund selbst eine größere Lücke. Der Text spielt hier stellvertretend im Kleinen durch, was die Gesellschaft insgesamt zu zersetzen droht, und zeigt auf, wie »aufgespannte[] Gemüter[]« (UdA, 995) die sozialen Bande zum Zerreißen bringen. Ein Schwinden der genannten sozialen Tugenden gepaart mit einer mangelnden Selbstbeherrschung führt hier dazu, dass sich der Krieg, dessen tatsächliche Zerstörung, Gewalt und Gefahr im ganzen Textverlauf präsent bleiben,13 auch und in dem Sinne, wie es Schillers Horen-Ankündigung diagnostiziert, in diesem familiären Zirkel ›erneuert‹. Dafür sorgt insbesondere der glühende Revolutionsanhänger Karl,14 der sich »der Heftigkeit seiner Neigungen [überließ]« und ohne

13 Dass das Erzählen innerhalb der Unterhaltungen einer Verdrängung des Krieges dient, und der Text selbst, wie auch Hermann und Dorothea ein Versuch ist, den realen Krieg »wegzuschreiben«, argumentiert Müller, Klaus-Detlef: »Den Krieg wegschreiben. Hermann und Dorothea und die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«, in: Markus Heilmann/Birgit Wägenbaur (Hg.), Ironische Propheten. Sprachbewußtsein und Humantität in der Literatur von Herder bis Heine. Studien für Jürgen Brummack zum 65. Geburtstag, Tübingen: Günter Narr Verlag 2001, S. 85-100, hier: S. 99. Allerdings ist wiederholt und zurecht darauf hingewiesen worden, dass sich diese Schrecken der kollabierten politischen Welt nicht durch Narration bändigen oder gänzlich verdrängen lassen, vgl. G. Ueding: Gesprächsgesellschaft in Utopia, S. 135; S. Geyer: Einbruch der Zeit, S. 225. Dabei handelt es sich, neben der Verlagerung der dieses Erzählen überhaupt notwendig machenden Katastrophe in eine menschengemachte, um die zweite entscheidende Modifikation der Formvorlage des Decamerone durch Goethe. 14 Allerdings nicht nur er: So muss sich etwa Luise, die im späteren Verlauf der Unterhaltungen oft schnippisch und frech auftretende älteste Tochter der Baronesse, von der »behauptet wurde, [...] bei dem ersten Schrecken ganz aus der Fassung geraten« und »in Zerstreuung« zu sein, gegen manchen »Scherz, der sich auf ihren Bräutigam bezog« zur Wehr setzen, was insofern eine Unsensibilität und Rücksichtslosigkeit ihres familiären Umfeldes anzeigt, als dass ihr Bräutigam »in täglicher Gefahr« (UdA, 996) auf Seiten der Alliierten kämpft und seine Rückkehr aus dem Krieg alles andere als selbstverständlich ist.

Fassungsloses Reden und geselliges Missverstehen | 181

Rücksicht auf die Ansichten, Sorgen und Ängste der übrigen Familienmitglieder, »durch ein unmäßiges Lob alles dessen, was bei den Neufranken Gutes oder Böses geschah« (UdA, 997), das Zusammenleben massiv belastet. Dabei ist weniger seine Sympathie für die Revolution das Problem, sondern, dass er sie »nicht in Gesprächen [verhehlte]« (UdA 997), dass er Situation und Umfeld nicht achtet und damit wesentliche Normen des Umgangs verletzt, die Kommunikation regulieren, Interaktion verträglich und beides aufrecht halten sollen. Die »Höflichkeit«, als »fürnehmste Tugend« in dieser Hinsicht, würde es Karl eigentlich gebieten, »mit Personen, gegen die man einige Achtung oder Consideration zu hegen Ursache hat, nicht seinen eigenen Neigungen nachzugehen« und sich stets bewusst zu halten, »ob nehmlich das, was man in ihrer Gesellschaft redet oder thut, ihnen gefallen oder verdrießlich seyn werde«.15 Stattdessen folgt er allein seinem »Eigensinn«, das heißt einer »Hartnäckigkeit, mit welcher ein Mensch seinem herrschenden Affecte nachhänget.«16 Solche Defizite im Umgang disqualifizieren jedoch nicht bloß den ›Eigensinnigen‹ selbst, sondern, was noch viel schlimmer ist, weil es soziale Konfliktbereitschaft befeuert, sie reproduzieren sich im Gegenüber und verstärken sich wechselseitig: Karl, der sich selbst nicht ›in der Gewalt‹ hat, bringt auch »die Andern [...] aus der Fassung« und das »umso mehr [...], als sie ihre Leiden durch die Schadenfreude eines Freundes und Verwandten verdoppelt nur um so schmerzlicher empfinden mussten.« (UdA, 997) Können daraus erwachsende Konflikte innerhalb der Familie durch das Agieren der Baronesse wiederholt entschärft werden, kommt es dort zur sozialen Katastrophe, wo der ›eigensinnige‹ Karl auf ein Gegen-

15 Art. Umgang, in: Johann Heinrich Zedlers grosses vollständiges UniversalLexicon aller Wissenschaften und Künste, Band 49, Vit-Vin, Halle und Leipzig: Johann Heinrich Zedler 1746, S. 966-971, hier: S. 967. 16 Ebd. Mit Bezug auf die Figur Karls macht Göttert in einem solchen Verhalten

»die zentralen Untugenden« (K.-H. Göttert: Kommunikationsideale, S. 160) eines Kommunikationsideals aus, wie es sich vor allem im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich ausgebildet hat und wie es demgegenüber etwa die Baronesse verkörpert. Vgl. dazu ausführlicher Luhmann, Niklas: »Interaktion in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert«, in: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 72-161.

182 | Alexander Weinstock

über trifft, dem es gleichermaßen an ›Unparteilichkeit‹ und ›Verträglichkeit‹ mangelt. So geschieht es, nachdem die französischen Truppen zunehmend zurückgedrängt werden und sich die Familie auf einem ihrer am Rhein gelegenen Güter niederlassen kann. Dort finden sich bald auch der Geheimrat von S. samt Familie ein, dessen Gattin eine langjährige und enge Freundin der Baronesse ist. Dass der als tüchtig, erfahren, verlässlich und grundsatztreu eingeführte Geheimrat schon bald in eine Auseinandersetzung mit Karl gerät, hängt mit seiner gleichermaßen überzeugten Anhängerschaft zum »alten System« (UdA, 1001) zusammen; dass diese Auseinandersetzung jedoch vollkommen eskaliert, liegt daran, dass auch er »manches mit hypochondrischem Gemüte betrachtete und mit Leidenschaften beurteilte.«17 (UdA, 1000) Im Streit dieser beiden »unmäßige[n] Menschen«, (UdA, 1001) den sie »fast gemeinschaftlich [...] eskalieren [...] lassen«18 und der auch nicht auf Beilegung, Konsensfindung oder eine sonstige Verständigung aus ist, kommt dementsprechend vieles zur Sprache, was »so manche gute Gesellschaft entzweit hätte«. (UdA, 1003) Der Konflikt, den einerseits der Geheimrat befeuert, indem er nicht aufhört, über die Position seines Gegenübers »zu spotten«, und in dem andererseits »Karl [...] sich im Zorn nicht mehr kannte« (UdA, 1003), gipfelt schließlich in wechselseitigen Vernichtungswünschen, die die politische Gegenposition, ihre Anhänger und – expliziter von Seiten Karls – auch das konkrete Gegenüber differenzund gnadenlos umfassen. Die Reproduktion des militärisch-politischen Konflikts19 auf zwischenmenschlicher Ebene durch die beiden aus der Fassung gebrachten und sich wechselseitig in ihrer Fassungslosigkeit antreibenden Kontrahenten führt schließlich zur »unwiderrufliche[n] Spaltung der Gesellschaft«:20 Der Geheimrat reist, »zum zweitenmal, und zwar durch einen Landsmann ver-

17 Spätestens hier zeigt sich, dass von einer »eindeutig parteilichen Erzählinstanz« (K.-D. Müller: Den Krieg wegschreiben, S. 95) in den Unterhaltungen nicht die Rede sein kann. 18 F. Biere: Das andere Erzählen, S. 78. 19 Nicht einmal die Baronesse vermag es, hier noch »einen Frieden«, oder »wenigstens einen Stillstand zuwege zu bringen« (UdA, 1003). 20 K.-D. Müller: Den Krieg wegschreiben, S. 96. In diesem Sinne auch S. Geyer: Einbruch der Zeit, S. 229.

Fassungsloses Reden und geselliges Missverstehen | 183

trieben«, (UdA, 1004) von jetzt auf gleich mit seiner Familie ab. Die als Freunde Angereisten machen sich als »Fremde[]« (UdA, 1004) erneut auf die Flucht, ohne dass sich der Geheimrat noch von irgendwem umstimmen lässt. Dieses Gefälle könnte nicht größer sein: Freundschaft, wie sie in den Unterhaltungen zwischen der Baronesse und der Geheimrätin besteht und sich in der Töchtergeneration fortzusetzen beginnt, ist Ergebnis eines Wandlungsprozesses, den sie als eine zwar selbst nicht notwendig gesellschaftskonstitutive, aber auf gesellschaftlicher Stabilität beruhende und damit auf diese Stabilität verweisende Sozialform im 17. und 18. Jahrhundert in der aristokratischen, in der Hof- und Salonkultur, das heißt aus soziologischer Sicht innerhalb der Oberschichten, durchläuft: von einer öffentlichen, letztlich zweckrationalen zu einer privaten, idealisierten Beziehung.21 Das Ideal im Blick, führt der Text jedoch nicht die »Vollendung angenehmer, glücksteigernder Sozialität« vor, sondern deren Ende: Anstelle einer weiteren Ausbreitung der Freundschaft als »Perfektionsform des Sozialen«22 sorgt der Streit zwischen Karl und dem Geheimrat für einen sozialen Zerfall, denn der von radikalisierten Positionen beherrschte »politische Diskurs« (UdA, 1000) bringt jeglichen Diskurs zum Erliegen und führt zu einem irreparablen kommunikativen Bruch. In Ausgang, Verlauf und Ergebnis dieser Auseinandersetzung verdichtet sich die an Schillers Ankündigung anschließende, in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten jedoch am stellvertretenden Einzelfall ausbuchstabierte Zeitdiagnose. Hier zeigt sich idealtypisch,23 wie in Folge der politischen Krise, die sich strukturell ins Soziale verlängert, die individuellen und das Individuum gesellschaftsfähig machenden, seine Fassung bestärkenden Regulationsmechanismen nicht mehr greifen;24 wie sich der Krieg

21 Vgl. N. Luhmann: Interaktion in Oberschichten, S. 145-150. 22 Ebd., S. 146 und 148. 23 Auf den Konstruktionscharakter der Konstellation, wie auch der Anlage des Textes ist wiederholt hingewiesen worden. T. Stammen: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, S. 181, spricht von einer »idealtypische[n] Konstruktion von politischen Extrempositionen«, G. Ueding: Gesprächsgesellschaft in Utopia, S. 127, liest den Text als »Experimentieranordnung«. 24 Mit Bezug auf Norbert Elias’ Prozeß der Zivilisation heißt es bei N. Luhmann: Interaktion in Oberschichten, S. 98: »Affektregulierung und Verfeinerung der

184 | Alexander Weinstock

so zwischenmenschlich und ausgerechnet bei denen fortsetzt, die selbst als Flüchtlinge seine Opfer geworden sind; und wie diese gesellschaftliche Dimension des Konflikts zu einer Krise des Gesprächs und der Interaktion führt, von deren Lösung nichts weniger als das Fortbestehen sozialer Zusammenhänge selbst abhängt. Hören die aus der Fassung gebrachten Menschen auf, miteinander zu reden, und zielt ihr Sprechen nur mehr darauf, das Gegenüber zum Schweigen zu bringen, auf seine Vernichtung und Vertreibung, sind solche Zusammenhänge nicht länger gegeben. Schließlich ist Kommunikation, so lässt sich aus systemtheoretischer Sicht formulieren, ein »alle Gesellschaft fundierende[r] Sachverhalt[]«25 und die gleichermaßen kommunikationsbasierte und -betreffende Fortführung der realen kriegerischen Zerstörung in den Unterhaltungen richtet sich schlussendlich gegen das Fundament selbst: Der Streit zwischen Karl und dem Geheimrat führt zu einem Ende der Kommunikation. Da sie sich jedoch schon aufgrund der Präsenz von Kommunikationsteilnehmern selbst reproduziert, muss ihr Abbruch mit dem Ende dieser Präsenz einhergehen: »Die Regel, es sei nicht möglich, nicht zu kommunizieren, gilt nur innerhalb von Interaktionssystemen unter Anwesenden [...]. Man wird Kommunikationen unterlassen, wenn Erreichen von Personen, Verständnis und Erfolg nicht ausreichend als gesichert erscheinen.«26 So geschieht es im Falle des Geheimrats, der sich, so sagte er, »aus einer Gesellschaft entfernen [muß], in der nichts, was sonst achtungswert schien, mehr geehrt wird.« (UdA, 1004)

Sitten, Dämpfung der Triebe, Raffinierung des psychologischen Blicks sind aber nicht in sich selbst erstrebenswert, sie sind Voraussetzung der Kontrollierbarkeit des Kommunikationsprozesses.« 25 Luhmann, Niklas: »Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation«, in: Ders.: Aufsätze und Reden. Herausgegeben von Oliver Jahraus, Stuttgart: Reclam 2001, S. 76-93, hier: S. 77. In diesem Sinne auch Ders.: »Was ist Kommunikation?«, in: Aufsätze und Reden, S. 94-110, hier: S. 96: »Kommunikation ist eine unausweichliche soziale Operation und zugleich eine Operation, die zwangsläufig in Gang gesetzt wird, wenn immer sich soziale Situationen bilden.« Vgl. die beiden Aufsätze für die wesentlichen Charakteristika des als autopoietische Selektionssynthese zu fassenden, luhmannschen Kommunikationsbegriffs. Auf ihn wird hier allerdings nur Bezug genommen, wo explizit darauf hingewiesen wird. 26 N. Luhmann, Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, S. 79.

Fassungsloses Reden und geselliges Missverstehen | 185

»VERWIRRUNGEN UND MISSVERSTÄNDNISSE« – DER LÖSUNGSANSATZ Die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten verhandeln jedoch nicht allein einen zeitgenössisch virulenten Problemzusammenhang – eine Radikalisierung des Diskurses und Beschädigung des Gesprächs als gesellschaftlichem Fundament in Folge des beispiellosen politischen Bruchs –, sondern auch, und hier ebenfalls einen Impuls der Horen-Ankündigung aufnehmend, einen Lösungsansatz, der von diesem kommunikativen Fundament seinen Ausgang nimmt – und auch nehmen muss, denn »nur Kommunikation kann Kommunikation kontrollieren und reparieren.«27 Eine von der Baronesse geforderte Restauration der Gesprächs- und Umgangsformen sowie eine vom bis dato noch kaum in Erscheinung getretenen Abbé mit einem Erzählprogramm verknüpfte Modifizierung ihrer Forderungen lassen sich mit genau diesen Zwecken verrechnen: Kontrolle respektive Reparatur. Sie verknüpfen dabei in je eigener Weise poetologische Aspekte mit kommunikativen Effekten, sind allerdings trotz ihrer Differenz nicht, wie es in der Forschung zuweilen geschieht, einander gegenüberzustellen oder gar gegeneinander auszuspielen, sondern, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll, im Sinne eines Voraussetzungsgefüges aufeinander zu beziehen.28 Angestoßen wird dies von der Baronesse, die, sonst so maßvoll auftretend und mäßigend wirkend, angesichts der Abreise selbst kurzzeitig die Fassung verliert.29 Weil es eine »unbeherrschte Rede« ist, die aufgrund des

27 N. Luhmann: Was ist Kommunikation, S. 101f. 28 Vgl. hinsichtlich einer antagonistischen Gegenüberstellung beider Erzählkon-

zepte F. Biere: Das andere Erzählen; den Bezug im Sinne einer Modifikation der Programmatik der Baronesse durch den Abbé lesen etwa A. Beck: Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen, und Zumbusch, Cornelia: Die Immunität der Klassik, Berlin: Suhrkamp 2011. 29 »[I]ch habe Sie noch niemals so von Verdruß und Leidenschaft überwältigt ge-

sehen als in diesem Augenblick«, (UdA, S. 1006) entfährt es dem Hofmeister in Reaktion auf die Schelte der Baronesse. Ihre erstaunliche Antwort: »Ich habe mich dieser Leidenschaft wenigstens nicht zu schämen.« (UdA, 1006) Offensichtlich legitimiert für sie der durch die Unbeherrschtheit der beiden Streiten-

186 | Alexander Weinstock

»Zusammenbruch[s] der sozialen Affektkontrolle«30 ihre Unverträglichkeit entfaltet, fordert sie, »indem sie sich zusammen nahm« (UdA, 1007), an genau diesem Bezug von Affekt und Kommunikation zu arbeiten und so den familiären Zirkel vor einem weiteren Zerfall zu bewahren. Die elementaren Konventionen des Umgangs in Erinnerung rufend, das heißt »im Namen der gemeinsten Höflichkeit« (UdA, 1008), legt sie die Parameter für eine neue Gesprächs- und Interaktionskultur fest, die angesichts der bisherigen Fassungslosigkeit und Unverträglichkeit im Zeichen »gesellige[r] Bildung« (UdA, 1008) sowie »gesellige[r] Schonung« (UdA, 1009) stehen muss. In den ebenso wünschenswerten wie notwendigen Zusammenkünften der Familie (vgl. UdA, 1009f.) soll sich so der höfliche Umgang mit einer Einübung von »sozialen Tugenden«31 verbinden. Die Geselligkeit aber, in der dies zusammenfällt, ist nicht länger der natürliche Trieb des Menschen, von dem die Aufklärung ausgegangen war.32 Geselligkeit, wie sie hier als Gegenkonzept zur fassungslosen Kommunikation idealtypisch,33 als Fix- und Orientierungspunkt von der Baronesse formuliert wird, stellt sich nicht von selbst ein, sondern muss kollektiv erarbeitet werden, indem jeder bereit ist, die eigenen Neigungen im Sinne der Sozialverträglichkeit zurückzustellen und »in Gesellschaft« seine »Eigenheiten auf[zu]opfern«. (UdA, 1007f.) Eine erfolgreiche Herstellung dieser Geselligkeit als Oberbegriff für ein Ensemble sozialer Beziehungen34 hängt

den verursachte Schaden – der Verlust der Freundin – die eigene Fassungslosigkeit. 30 C. Zumbusch: Die Immunität der Klassik, S. 303. Vgl. zu den Unterhaltungen insgesamt ebd., S. 300-319. 31 Ebd., S. 301. Es sind dies, so Zumbusch, die Tugenden »des Affektverzichts und der Entsagung [...], mit denen sich die Erzählgesellschaft vor der weiteren Ausbreitung der politischen Krise schützen will.« (Ebd., S. 301) Die dazu komplementäre kommunikationsregulative Komponente ist bereits im Begriff der Entsagung enthalten (vgl. ebd., S. 304.). 32 Vgl. M. Fauser: Das Gespräch im 18. Jahrhundert, S. 41-69. Vgl. mit Bezug auf die Unterhaltungen S. Kiefer: Gesellige Bildung, S. 240f. 33 Vgl. zur Geselligkeit als Ideal, wie es in Folge der Französischen Revolution aufgestellt wird, unter anderem in der Rede der Baronesse aus den Unterhaltungen M. Fauser: Das Gespräch im 18. Jahrhundert, S. 69-75. 34 Vgl. A. Beck: Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen, S. 60-64.

Fassungsloses Reden und geselliges Missverstehen | 187

neben der individuellen Affektkontrolle von einer thematischen Regulation und Kanalisierung ab, wobei beide Aspekte in engem Bezug zueinander stehen: Vermieden werden soll, was »den andern verdrießt und ihn aus der Fassung bringt« (UdA, 1008). Ganz im Sinne der Horen-Ankündigung verlangt die Baronesse daher, »daß wir, wenn wir beisammen sind, gänzlich alle Unterhaltung über das Interesse des Tages verbannen.« (UdA, 1009) Statt politischen schlägt sie, im Rahmen des den Familienmitgliedern Möglichen, wissenschaftliche, philosophische und literarische Themen vor (vgl. UdA, 1009f.), die »belehrende und aufmunternde Gespräche« anregen sollen und damit, auch hier der Horen-Ankündigung verwandt, weit mehr bezwecken, als »nur uns zu zerstreuen.« (UdA, 1009) Was die Geselligen einander erzählen, soll sie zugleich als Gesellige bilden. Dieser pädagogische Impetus ist fester Bestandteil der neu zu erarbeitenden Geselligkeit. Im Bewusstsein, dass sie nur das Ergebnis eines gemeinschaftlichen Verwirklichungs- und darin Ausdruck eines Schonungswillens35 sowie einer beständigen Selbstbeherrschung sein kann, und dass sich die Schäden nur aus der weiter am Laufen zu haltenden Interaktion werden beheben lassen, appelliert die Baronesse an ihren familiären Zirkel: »[B]ietet alle eure Kräfte auf lehrreich, nützlich und besonders gesellig zu sein« (UdA, 1010). Hier nun schaltet sich der Abbé ein, der als »Hausfreund« (UdA, 996) bisher nur am Rande, durch seinen stillschweigenden Widerspruch zu Karls Revolutionsbegeisterung, in Erscheinung getreten ist. Er verspricht ein dieser Situation angemessenes Gesprächsmaterial zu liefern und will dazu Auszüge aus einer selbst zusammengestellten »Sammlung« (UdA, 1013) zum Besten geben. Sie setzt sich aus dem Material des »gemeinen Leben[s]« zusammen und verbleibt dabei dezidiert auf der Ebene des Partikularen und der »Privatgeschichten« (UdA, 1013). In ihnen geht es um »die Empfindungen, wodurch Männer und Frauen verbunden oder entzweiet, glücklich oder unglücklich gemacht, öfters aber verwirrt als aufgeklärt werden.« (UdA, 1014) Zu dieser Verwirrung trägt nicht zuletzt bei, dass die Geschichten weniger kausal organisierte Entwicklungen und eine innere

35 »Rufen wir eine Amnestie aus« (UdA, 1009), schlägt die Baronesse vor, was vor allem ihrer Tochter Luise kaum zu gelingen mag, »sie konnte den Verdruß, ihre Gespielin verloren zu haben, nicht so bald vergessen« (UdA, 1010).

188 | Alexander Weinstock

Geschichte entfalten,36 sondern stattdessen von einzelnen, mitunter rätselhaften, nicht restlos erklärbaren, aber durchaus buchstäblich »geistreiche[n] Wendung[en]« (UdA, 1013) handeln und genau darüber der Krise des Umgangs und des Gesprächs entgegenwirken wollen. Dieses »gesellige Erzählprojekt«37 entfaltet sich vor allem im Umfeld der ersten vier Geschichten, die nicht allein vom Abbé, aber in ihrer Stoßrichtung durchaus von ihm vorgegeben, erzählt werden. Dementsprechend ist hier auch nicht ihre Qualität unter wie auch immer gearteten ästhetischen Maßstäben relevant,38 sondern die Erfüllung ihrer Funktion für den narrativen Rahmen, also den familiären Zirkel, der sich, indem er diese Geschichten hervorbringt, selbst als ein geselliger her- und idealiter auf Dauer stellt.39 Die soziale Form des geselligen Zirkels und die literarische Form der Novellensammlung konstituieren sich in den Unterhaltungen damit wechselseitig. Die sukzessive erzählten Binnengeschichten sind dabei nicht nur Gesprächsinhalt, sondern dienen dazu, das Gespräch als Gespräch herzustellen und in Gang zu halten. Gerade die dunklen Stellen, die fehlenden Glieder in der Verkettung von Ursachen und Wirkungen erweisen sich in dieser Hinsicht als Generator, regen sie doch wiederholt »die Gesellschaft [...] zu meinen und zu urteilen« (UdA, 1028) an. Kommunikation, die, so Luhmanns zentrale These, an und für sich schon unwahrscheinlich ist und deren Bedingungen in den Unterhaltungen zusätzlich erschwert sind, wird

36 Vgl. zu diesem auf Gattungsebene ›anderen‹ Erzählen der Novelle gegenüber der auf Kohärenz, kausaler Organisation und psychologischer Durchleuchtung beruhenden zeitgenössischen Romanpoetik F. Biere: Das andere Erzählen, S. 33-68. 37 A. Beck: Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen, S. 64. Vgl. zu diesem Erzählprojekt ausführlicher ebd., S. 64-70 und F. Biere: Das andere Erzählen, S. 100138. 38 Th. Stammen: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, S. 184 zufolge, besitzen die ersten vier Erzählungen »keinen eigenen Erkenntnis- oder Kunstwert.« 39 »Die Binnenerzählungen«, so A. Beck: Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen, S. 34, »dürfen nicht vom Rahmengespräche gelöst, sondern müssen wesentlich als dessen Vollzug verstanden werden: als in ihm statthabende zweckgerichtete Aktionen, die gerade nicht auf etwas außerhalb des Erzähldialogs, sondern auf diesen selbst, auf seine Fortführung, womöglich ad infinitum zielen.« [Hervorhebung im Original]

Fassungsloses Reden und geselliges Missverstehen | 189

hier also ermöglicht, das heißt wahrscheinlich gemacht, durch eine Unwahrscheinlichkeit in poetologischer Hinsicht.40 Und über diesen Abbau von kommunikativer durch poetologische Unwahrscheinlichkeit konstituiert sich der zuvor zerstrittene familiäre Zirkel als Gesprächsgemeinschaft,41 die als solche gerade stabilisiert, dass sie angesichts der nicht restlos deutbaren Geschichten kommunikativ »zwischen verschiedenen Wahrscheinlichkeiten schwanken muß« (UdA, 1030). Damit steht das Erzählprogramm des Abbé in denkbar großem Kontrast zu den Vorstellungen der Baronesse. Sie spricht sich dezidiert gegen ein Erzählen »nach der Weise der Tausend und Einen Nacht« aus, das »die Aufmerksamkeit, anstatt sie durch eine vernünftige Folge zu befriedigen, nur durch seltsame und keineswegs lobenswürdige Kunstgriffe aufzuspannen« (UdA, 1037) sucht. Ihr Autor Goethe hingegen kündigt Schiller an, just »wie die Erzählerin in der tausend und Einen Nacht zu verfahren«,42 und so geschieht es auch in den ersten vier Novellen. Die Rätselhaftigkeit und Mehrdeutigkeit, die diesem Erzählen eignet, ist in den Unterhaltungen kein Selbstzweck, sondern in einer spezifischen Weise auf eine Funktion bezogen, wie sie in Tausendundeine Nacht nahezu prototypisch konfiguriert und in den Unterhaltungen modifiziert wird: dem Aufhalten des drohenden Todes.43 Was für Scheherazade ganz leiblich-konkret gilt, verlagert

40 Unwahrscheinlich ist Kommunikation bei aller gesellschaftskonstitutiven Notwendigkeit vornehmlich aus drei Gründen: Was kommuniziert wird, muss verstanden werden, ist raumzeitlich gebunden und wird nicht notwendig von seinem Adressaten angenommen, vgl. N. Luhmann: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, S. 78-80. Vgl. zur poetologischen Unwahrscheinlichkeit der Novellen auch F. Biere: Das andere Erzählen, S. 132-138. 41 »Die Unwahrscheinlichkeiten des Kommunikationsprozesses und die Art, wie sie überwunden und in Wahrscheinlichkeiten transformiert werden, regeln deshalb den Aufbau sozialer Systeme.« (N. Luhmann: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, S. 79.) 42 Goethe an Schiller, 2. Dezember 1794, in: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, S. 42. 43 Vgl. Foucault, Michel: »Was ist ein Autor?«, in: Texte und Theorie der Autorschaft. Herausgegeben und kommentiert von Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez und Simone Winko, Stuttgart: Reclam 2000, S. 198-229, hier: S. 203f.

190 | Alexander Weinstock

sich in den Unterhaltungen auf eine, nicht nur in kausaler, sondern auch in räumlicher Hinsicht44 mit dem Krieg als einer solchen Gefahr für Leib und Leben verbundene, gesellschaftliche Dimension und ihren kommunikativen Kern: den Abbruch des Gesprächs. Das Erzählen des Abbé ist ein Verfahren, es wieder in Gang zu setzen und zu stabilisieren, indem es als wirkungsstarke »Anschlußvoraussetzung für weitere Kommunikation« auf eine (Er-)Klärungsnotwendigkeit produzierende kommunikative Ambivalenz setzt, in der »Verstehensschwierigkeiten«45, das heißt mögliches Nichtverstehen, als Stimuli das gemeinsame, gleichwohl unterschiedliche Positionen beinhaltende Gespräch der Ausgewanderten anregen.46 Gerade solche Schwierigkeiten, weil auf sie eigentlich mit »Rückfragen und Erläuterungen, in normaler, routinemäßiger Kommunikation über Kommunikation« reagiert wird, sind geeignet, eben diese notwendige Routine des Austauschs »ohne besondere psychische Aufladung«47 wieder herzustellen. Im in dieser Hinsicht zentralen Satz der Unterhaltungen bringt der Abbé dies selbst auf den Punkt: »Hätten Sie sich eigentlicher ausgedruckt, so hätten wir nicht gestritten«, echauffiert sich zunächst Luise, wobei das, was sie hier als Streit bezeichnet, in keinem Verhältnis zu den bisher geschilderten Auseinandersetzungen steht, sondern tatsächlich eine Folge von ›Rückfragen und Erläuterungen‹ aufgrund einer erklärungsbedürftigen Äußerung des Abbé ist, der ihr dementsprechend erwidert: »Aber auch nicht gesprochen. Verwirrungen und Missverständnisse sind die Quellen des tätigen Lebens und der Unterhaltung.« (UdA, 1058) Entscheidend ist jedoch nicht nur, was er hier sagt, sondern auch der Kontext seiner Äußerungen. Mit seiner uneigentlichen Antwort reagiert er auf die Forderungen der Baronesse nach »einer moralischen Erzählung« (UdA, 1057), denen er zunächst mit der Geschichte des Prokurators ent-

44 »Leider ward der schöne Genuß dieser reizenden Gegend oft durch den Donner der Kanonen gestört, den man, je nachdem der Wind sich drehte, aus der Ferne deutlicher oder undeutlicher vernahm.« (UdA, 1000) 45 N. Luhmann: Was ist Kommunikation, S. 95 und 99. 46 Vgl. zur gesprächsanregenden Wirkung des Missverstehens in den Unterhaltungen auch A. Beck: Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen, S. 130-132. 47 N. Luhmann: Was ist Kommunikation, S. 99.

Fassungsloses Reden und geselliges Missverstehen | 191

spricht.48 An deren Ende steht die Lektion einer freudigen Überwindung der Gewalt der Neigung und zwar im Modus der Entsagung. Als Exempel für die Möglichkeit dieser Überwindung und die moralische Befriedigung, die damit einhergeht, ist die Geschichte überaus vorbildlich, wie die Baronesse bekräftigt: »Man muß Ihren Prokurator loben [...], er ist zierlich, vernünftig, unterhaltend und unterrichtend; so sollten alle diejenigen sein, die uns von einer Verirrung abhalten oder davon zurück bringen wollen.« (UdA, 1057) Als Motor oder Stimulus für eine lebhafte Gesprächskultur ist sie jedoch eher ungeeignet. Dafür sorgen gerade ihre unterrichtende Absicht und ihre lückenlose Vernünftigkeit, die dieser kommunikativen Wirkung zuwider laufen. Denn das Gespräch über die Geschichte hat sich mit der Feststellung und Zustimmung zu ihrer moralischen und exemplarischen Qualität erschöpft. Von einem solchen Konsens mag die von der Baronesse anvisierte ›gesellige Bildung‹ ihren Ausgang nehmen, die ein im Zeichen von Mäßigung und Entsagung stehendes Sozialverhalten hervorbringen will. Damit dieser edukative Charakter, der das Zentrum ihrer poetologischen Forderungen ausmacht, jedoch seine Wirkungen zeitigen kann, ist angesichts der zuvor in den Unterhaltungen diagnostizierten und vorgeführten gesellschaftlichen Krise eine Reparatur der beschädigten Kommunikation notwendig: als Voraussetzung sozialer Zusammenhänge, die dann entsprechend auf eine Form verpflichtet werden können, und als Voraussetzung auch des tatsächlichen, davon angeregten Verhaltens.49 Es geht dabei also noch nicht um einen Konsens im Sinne der Baronesse, schließlich verweigert sich das vom Abbé angeregte Erzählen einem hermeneutischen unisono zugunsten einer Deutungspluralität, in der unterschiedliche Positionen und Erklärungsansätze nicht nur möglich sind, sondern auch aufeinander Bezug nehmen können.50 Erst wenn sich dieses kommunikative Fundament wieder stabilisiert hat, wenn wieder gesprochen und auch diskutiert werden kann, ohne dass damit in letzter Konsequenz auf einen Abbruch der Kommunikation hingearbeitet wird, kann sich der, um noch einmal auf den Be-

48 Vgl. zu den Vorstellungen der Baronesse und den in diesem Sinne erzählten Geschichten etwa F. Biere: Das andere Erzählen, S. 81-106. 49 Es wird, so Luhmann, »erst in einem solchen Netzwerk der Kommunikation erzeugt [...], was wir unter ›Handeln‹ verstehen.« (N. Luhmann: Was ist Kommunikation, S. 95.) 50 Vgl. F. Biere: Das andere Erzählen, S. 69-81.

192 | Alexander Weinstock

zug zur Horen-Ankündigung zu verweisen, ›veredelnde‹ Einfluss ›moralischer Geschichten‹ entfalten. Dabei handelt es sich keinesfalls um eine »Minimallösung«.51 Im Gegenteil: Die Unterhaltungen buchstabieren unter den verschärften Bedingungen der Flucht eine in Schillers Ankündigung gestellte Gesellschaftsdiagnose aus und setzen der sich so deutlicher zeigenden sozialen Krise den Versuch einer narrativ stimulierten Reparatur kommunikativer Schäden entgegen, die allein den stellvertretend in einem familiären Zirkel veranschaulichten Zerfallsprozess aufzuhalten im Stande ist. Der Erfolg dieses Versuchs zeigt sich nirgendwo deutlicher, als im Fall des zuvor so unverträglich und fassungslos agierenden Karls. Er ist aktiv an den Gesprächen und Diskussionen beteiligt, tritt selbst als Erzähler in Erscheinung und fordert schließlich, begleitet von einer kurzen Diskussion über das Verhältnis von Einbildungskraft und Kunstproduktion, den Abbé auf, »ein Märchen zu erzählen« (UdA, 1081), wie es die Unterhaltungen tatsächlich beschließt.52 Dieses Märchen trägt über seine Rezeption nicht nur den im Zusammenspiel von Rahmen- und Binnenerzählungen vorgeführten Gesprächsstimulus ambivalenter Kommunikation in die, folgt man Schillers Ankündigung, ebenfalls kommunikativ angespannte zeitgenössische Wirklichkeit,53 es führt von der narrativ vor ihrem Zerfall bewahrten Gesellschaft hin zur Narration einer umfassenden gesellschaftlichen Erneuerung, in der die »Kraft der Liebe« die Welt gerade nicht »beherrscht«, sondern »bildet« (UdA, 1111). Und es würde wohl nicht, wie es der Abbé ankündigt, »an nichts und an alles erriner[n]« (UdA, 1081), wenn dieses Märchen nicht auch auf

51 L. Blum: Die Ambivalenz von Kunst und Gesellschaft, S. 41. 52 Hierin zeigt sich, wie M. Fauser: Das Gespräch im 18. Jahrhundert, S. 71f. zurecht betont, »die politische Bedeutung des geselligen Erzählens: sie verwandelt den Umstürzler in den geselligen Menschen. Aus dem Revolutionär wird ein guter Gesellschafter«. 53 Andreas Beck hat anhand der zeitgenössischen Rezeption des Märchens und seinem Verhältnis zur Rahmenhandlung der Unterhaltungen sowie den dort hervorgebrachten Erzählungen ausführlich aufgezeigt, wie sich das Märchen in einem »pluralistisch-unabschließbaren Fluß der Interpretationen immer wieder neu konstelliert« und zwar über eine »interaktive gegenseitige Ergänzung der vielfältigen Deutungsversuche« als ein »Gemeinschaftswerk« (A. Beck: Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen S. 194-243, hier: S. 234).

Fassungsloses Reden und geselliges Missverstehen | 193

seinen eigenen Ausgangspunkt, das heißt auf den Beginn des Textes selbst und die Situation, die zu seinem Erzählen führt, verweisen würde: auf jene individuelle Unbeherrschtheit und Unverträglichkeit, die in der Rahmenhandlung der Unterhaltungen diagnostiziert, in ihren gesellschaftszersetzenden Folgen vorgeführt und zumindest im überschaubaren Zirkel der Familie überwunden wird. Sie zeigt sich am Schluss des Märchens, hervorgerufen durch einen von den Irrlichtern bewirkten Goldregen: »Begierig lief das Volk noch eine Zeitlang hin und wider, drängte und zerriß sich, auch noch da keine Goldstücke mehr herabfielen.« (UdA, 1114) Dieses in den letzten Zeilen des Märchens hervorbrechende Konfliktpotential verfestigt sich jedoch nicht, hier überdauert vielmehr das seine trennende Kluft buchstäblich überbrückende, erneuerte Gemeinwesen: »[B]is auf den heutigen Tag wimmelt die Brücke von Wanderern, und der Tempel ist der besuchteste auf der ganzen Erde.« (UdA, 1114)

LITERATUR Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 2: F-L. Zweyte vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig: Johann Gottlob Immanuel Breitkopf und Compagnie 1796. Beck, Andreas: Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen. Goethe – Tieck – E.T.A. Hoffmann, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2008. Biere, Florentine: Das andere Erzählen. Zur Poetik der Novelle 1800/1900, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012. Blum, Lothar: »›In jenen unglücklichen Tagen...‹ Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten oder: Die Ambivalenz von Kunst und Gesellschaft«, in: Rüdiger Zymner (Hg.), Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Festschrift für Dietrich Weber, Köln: edition chōra 2000, S. 27-45. Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Fauser, Markus: Das Gespräch im 18. Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeit in Deutschland, Stuttgart: M&P Verlag für Wissenschaft und Forschung 1991. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04158-6 Foucault, Michel: »Was ist ein Autor?«, in: Texte und Theorie der Autorschaft. Herausgegeben und kommentiert von Fotis Jannidis/Gerhard

194 | Alexander Weinstock

Lauer/Matias Martinez und Simone Winko, Stuttgart: Reclam 2000, S. 198-229. Gaier, Ulrich: »Soziale Bildung gegen ästhetische Erziehung. Goethes Rahmen der ›Unterhaltungen‹ als satirische Antithese zu Schillers ›Ästhetischen Briefen‹ I-IX«, in: Helmut Bachmaier/Thomas Rentsch (Hg.), Poetische Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Philosophie in der Epoche Goethes und Hölderlins, Stuttgart: KlettCotta 1987, S. 207-272. Geyer, Stefan: »Einbruch der Zeit. Neuheiten im Geschicht-Roman Happels und in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«, in: IASL 42.1 (2017), S. 214-233. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter, Band 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Herausgegeben von Manfred Beetz, München: Hanser 1990. Goethe, Johann Wolfgang: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in: Ders.: Sämtliche Werk. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Herausgegeben von Friedmar Apel et al., hier: I. Abteilung: Sämtliche Werke Band 9: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Herausgegeben von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Unter Mitwirkung von Almuth Voßkamp, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992, S. 993-1119. Goethe, Johan Wolfgang: Brief an Ch[ristoph] L[udwig] F[riedrich] Schultz, 10.1. 1829, in: Ders.: Sämtliche Werk. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. II. Abteilung: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Herausgegeben von Karl Eibl et al., hier: Band 38: Die letzten Jahre. Briefe, Tagebücher und Gespräche von 1823 bis zu Goethes Tod. Teil II: Vom Dornburger Aufenthalt 1828 bis zum Tode. Herausgegeben von Horst Fleig, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993, S. 80-83. Göttert, Karl-Heinz: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie, München: iudicium verlag 1988. Jöns, Dietrich: »Goethes ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹. Poetisch-poetologische Betrachtungen«, in: Rudi Schweigert (Hg.), Korrespondenzen. Festschrift für Joachim W. Storck aus Anlaß seines 75. Geburtstages, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 1999, S. 151-174.

Fassungsloses Reden und geselliges Missverstehen | 195

Kiefer, Sascha: »›Gesellige Bildung‹. Ein Ideal des Rokoko und seine Fortschreibung in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795)«, in: Matthias Luserke/Reiner Marx/ Reiner Wild (Hg.), Literatur und Kultur des Rokoko, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 235-249. Luhmann, Niklas: »Interaktion in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert«, in: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 72-161. Luhmann, Niklas: »Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation«, in: Ders.: Aufsätze und Reden. Herausgegeben von Oliver Jahraus, Stuttgart: Reclam 2001, S. 76-93. Luhmann, Niklas: »Was ist Kommunikation?«, in: Ders.: Aufsätze und Reden. Herausgegeben von Oliver Jahraus, Stuttgart: Reclam 2001, S. 94110. Müller, Klaus-Detlef: »Den Krieg wegschreiben. Hermann und Dorothea und die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«, in: Markus Heilmann/Birgit Wägenbaur (Hg.), Ironische Propheten. Sprachbewußtsein und Humantität in der Literatur von Herder bis Heine. Studien für Jürgen Brummack zum 65. Geburtstag, Tübingen: Günter Narr Verlag 2001, S. 85-100. Reinhardt, Hartmut: »Ästhetische Geselligkeit. Goethes literarischer Dialog mit Schiller in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«, in: Peter-André Alt/Alexander Košenina/Hartmut Reinhardt und Wolfgang Riedel (Hg.), Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings, Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 311-341. Schiller, Friedrich: Die Horen. Einladung zur Mitarbeit, in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs und des Schiller-Nationalmuseums herausgegeben von Julius Petersen und Herman Schneider. Zweiundzwanzigster Band: Vermischte Schriften. Herausgegeben von Herbert Meyer, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1958, S. 103-105. Schiller, Friedrich: Ankündigung. Die Horen, eine Monatschrift, von einer Gesellschaft verfasst und herausgegeben von Schiller, in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs und des Schiller-Nationalmuseums herausgegeben von Julius Petersen

196 | Alexander Weinstock

und Herman Schneider. Zweiundzwanzigster Band: Vermischte Schriften. Herausgegeben von Herbert Meyer, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1958, S. 106-109. Stammen, Theo: »Johann Wolfgang von Goethe: ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹«, in: Ders.: Goethe und die politische Welt. Studien, Würzburg: Ergon 1999, S. 161-196. Ueding, Gert: »Gesprächsgesellschaft in Utopia. Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«, in: Ders.: Aufklärung über Rhetorik. Versuche über Beredsamkeit, ihre Theorie und praktische Bewährung, Tübingen: Niemeyer 1992, S. 125-137. https://doi.org/10.1515/9783110948196.125 Witte, Bernd: »Das Opfer der Schlange. Zur Auseinandersetzung Goethes mit Schiller in den ›Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‹ und im ›Märchen‹«, in: Wilfried Barner/Eberhard Lämmert/Norbert Oellers (Hg.), Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik, Stuttgart: Cotta 1984, S. 461-484. Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Band 49, Vit-Vin, Halle und Leipzig: Johann Heinrich Zedler 1746. Zumbusch, Cornelia: Die Immunität der Klassik, Berlin: Suhrkamp 2011.

»Braust der Sturm uns auch zugrund, fall’n wir doch zu guter Stund…«1 Zum Habitus der deutschen Turner im Turner-Liederbuch (1849) Katarzyna Jaśtal

Im Zentrum des vorliegenden Beitrags steht ein schmaler, knapp 150 Seiten langer, anonym herausgegebener Band unter dem Titel Turner-Liederbuch aus dem Jahre 1849.2 Zu den herausragenden Merkmalen der darin zusammengestellten und mit Noten versehenen Texte gehören: Vereindeutigung der Aussagen, Simplifizierung intellektueller und ethischer Polyvalenzen durch Verwendung von schlichten Binäroppositionen vom Guten und Bösen, Tapferen und Feigen, Freund und Feind und überdies einfache Sprache und die stereotype Bildlichkeit. Es überrascht nicht, dass derartige im 19. Jahrhundert in pädagogischen Kontexten vielfach verwendete Publikationen in Vergessenheit gerieten. Sie wurden zwar als aufschlussreiche kulturwissenschaftliche Quellen im Zusammenhang der Arbeiten zu Nationa-

1

Sterben fürs Vaterland, in: Anonym: Turner-Liederbuch. Auswahl aus dem Liederkranz für die Turngemeinden des Vaterlandes, Stuttgart: Göpel o. J. [1849]. [3. Auflage], S. 119.

2

Vgl. ebd. Die Publikation wird den Benutzern als eine repräsentative Auswahl beliebtester Turnlieder angeboten. Auf ihre Beliebtheit verweisen sowohl die Verleger, die sich für die freundliche Aufnahme bedanken, als auch die Tatsache, dass in kurzer Zeit drei Auflagen erschienen. Vgl. ebd., S. III-IV, hier: S. III.

198 | Katarzyna Jaśtal

lismus bzw. Emotionsforschung angesprochen, bleiben allerdings bis heute wenig erforscht.3 In dem hier zur Verfügung stehenden Rahmen kann weder eine systematische Darstellung dieser Veröffentlichungsform schlechthin noch eine vollständige Erschließung des benannten repräsentativen Bandes vorgenommen werden. Durch seine Einbindung in den dazugehörigen kulturgeschichtlichen Kontext der deutschen Turnpädagogik des 19. Jahrhunderts versucht der vorliegende Beitrag zu zeigen, auf welche Art und Weise in derartigen weitverbreiteten Publikationen der Körper von Jugendlichen in nationale Zusammenhänge eingebunden wurde. Dabei behandelt mein Beitrag das pädagogische Konzept des Turnens ausschließlich in seinem deutschen Entstehungskontext, ohne zu vergessen, dass sich dieses Konzept in den vier letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts mit jeweils eigenen nationalen Schwerpunkten im ost-, mittel- und südeuropäischen Raum entfaltete.4

3

Trotz der hohen Anzahl der Publikationen zur Bedeutung der Turnbewegung für die Entwicklung des Nationalismus beschäftigen sich nur wenige unter ihnen mit dem Phänomen der Turnlieder. Hierzu wären insbesondere folgende zu nennen: Düding, Dieter: Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808–1847). Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung, München, Wien: Oldenbourg 1984. (Vgl. u.a. S. 94-96, 134, 278.) Krüger, Michael: »Sport, Habitus und Staatsbildung in Deutschland«, in: Anette Treibel/Helmut Kuzmics/Reinhard Blomert (Hg.), Zivilisationstheorie in der Bilanz: Beiträge zum 100. Geburtstag von Norbert Elias, Wiesbaden: Springer 2000, S. 211-220, bes. 215f. Heinemann, Angela Luise: »Turnen, Nation, Gesang und Gefühl – Das neue Konzept von Gemeinschaft bei den Berliner Turnern (1811-1820)«, in: Jahn-Report: 41. Ausgabe Dezember 2015, S. 21-26.

4

So gründeten nach dem Beispiel des tschechischen Turnvereins Sokol (1862) die Slowenen den Južni Sokol (1863), Polen den Sokół (1867 im österreichischen, 1885 im preußischen Teilungsgebiet), Kroaten den Hrvatski Sokol (1874), Bulgaren den Sokol (1879), Serben den Sokol (1891), Slowaken den Slovenský Sokol (1892 in den Vereinigten Staaten und 1918 in der Slowakei), Ukrainer den Sokił (1894). Die Gründung des Serbski Sokol erfolgte 1920. Die von diesen Bewegungen entfalteten Praktiken knüpften an die im Rahmen der deutschen

»Braust der Sturm uns auch zugrund…« | 199

Tragend für meine Betrachtung ist der von Pierre Bourdieu formulierte Begriff des Habitus5, mit dem der französische Theoretiker den Einfluss der gesellschaftlichen Normen auf den Körper der Individuen zu erfassen suchte. Mit dem Begriff Habitus definierte er die Gesamtheit von jedem Individuum in Folge von sozialer (und damit auch pädagogischer) Normierung einverleibten sozialen Denk- und Handlungsschemata, die in der Folge als inkorporierte Strukturen in Form von Wahrnehmungsdispositionen, Einstellungen, Bewegungsabläufen und Handlungen im Alltag auf vorrationaler Ebene abrufbar und reproduziert werden.6 Der von Bourdieu im Rahmen seiner Studien zu Verhaltensweisen von sozialen Schichten geprägte Begriff wird heute auch im Bereich der kulturwissenschaftlich orientierten Nationalismusforschung verwendet, welche die Nation nicht als ein natürlich gegebenes Kollektiv, sondern als ein in Folge von vielfältigen sozialen Praxen entstandenes Konstrukt analysiert. Im Rekurs auf die Bestimmungen Bourdieus werden hier Aspekte des nationalen Habitus untersucht. In diesem Rahmen wird sowohl danach gefragt, welche Verhaltens- und Wahrnehmungsschemata sowie körperliche Ausdrucksformen den Vertretern der jeweiligen Nation im Rahmen der Sozialisationsprozesse als national beigebracht werden, als auch danach, welche pädagogischen Praktiken hierzu beitragen. In diesen Rahmen gehört u.a. die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem pädagogischen Modell der Turnbewegung, zu dessen Ziel die Heranbildung der wehrhaften deutschen Jugend erklärt wurde.7 In seinem Kontext situiert sich eben jenes TurnLiederbuch von 1849.

Turnbewegung entwickelten an, wurden jedoch mit jeweils spezifischer nationaler Prägung fortgesetzt. 5

Vgl. Jurt, Joseph: Die Habitustheorie von Pierre Bourdieu, in: http://lithes.unigraz.at/lithes/beitraege10_03/jurt.pdf (14.01.2018).

6

Vgl. Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc: Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 173.

7

Die Beschäftigung mit der Bedeutung des Turnens hat eine lange wissenschaftliche Tradition. Stellvertretend für die einschlägigen Studien möchte ich neben der in der Anm. 3 angegebenen Arbeit Düdings auch die Publikationen von Langewiesche und Echternkamp nennen. Vgl. Langewiesche, Dieter: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München: C.H. Beck 2000; Echternkamp, Jörg: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770-

200 | Katarzyna Jaśtal

Die pädagogische Praxis des Turnens war eine Antwort auf die Herausforderungen der Befreiungskriege. Aus der Erkenntnis der Ursachen der militärischen Niederlage ging ein umfassendes Konzept der Nationalerziehung hervor, das u.a. von Johann Gottlieb Fichte in seinen wirkmächtigen Reden an die deutsche Nation 1806 entfaltet wurde. Insbesondere in der zweiten, dritten, zehnten und elften Rede8 postulierte er eine systematische Arbeit an den Körpern aller deutschen Heranwachsenden, um sie zu selbstlosen Verteidigern ihres Staates heranzubilden. Fichtes radikales Programm empfahl eine früh anzusetzende körperliche Ertüchtigung der männlichen Jugend, ohne dieses Konzept detailliert auszuführen. Die Verwirklichung eines solchen Erziehungsprogramms übernahm ab 1811 (ohne direkte Anknüpfung an Fichte) der durch sein nationales Engagement auffallende Hilfslehrer Friedrich Ludwig Jahn.

ZUM PÄDAGOGISCHEN PROGRAMM DES VATERLÄNDISCHEN TURNENS Das von Jahn als vaterländisches Turnen bezeichnete Programm der nationalen Gymnastik war in den Gedanken der spätaufklärerischen Pädagogik der (stark an den von Rousseau in Emile präsentierten Konzepten orientierten) sog. Philanthropen verankert. Von ihnen übernahm Jahn das dem bürgerlichen Leistungsprinzip verpflichtete Konzept der durch Fleiß und systematische Arbeit am Körper zu entwickelnden körperlichen und morali-

1840), Frankfurt a.M./New York: Campus 1998. Unter den einschlägigen Arbeiten, für die der Habitus-Begriff tragend geworden ist, seien hier neben dem Beitrag v. M. Krüger (vgl. Anm.3), die Arbeiten von Svenja Goltermann: Körper der Nation. Habitusformierung und die Politik des Turnens 1860-1890, Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 1998, und die ungedruckte Habilitationsschrift von Alkemeyer, Thomas: Zeichen, Körper und Bewegung. Aufführungen der Gesellschaft im Sport (Berlin 2000) genannt. 8

Vgl. Johann Gottlieb Fichte: »Reden an die deutsche Nation«, in: Ders.: Sämmtliche Werke, Band 7, Berlin Verlag von Veit und Com 1845/1846, S. 259-459, hier: S. 299, S. 410, S. 430.

»Braust der Sturm uns auch zugrund…« | 201

schen Gesundheit und die dazugehörigen methodischen Grundlagen. Haben die Philanthropen, wie u.a. Johann Bernhard Basedow, Christian Gotthilf Salzmann und Johann Gutsmuths den in allen Lebenslagen belastbaren, kraftvollen und gesunden Körper der männlichen Heranwachsenden als Schauplatz des Selbstverständnisses eines emanzipierten Bürgers betrachtet, so nationalisierte Jahn dieses Körperideal, indem er es zur Grundlage von pädagogischen Bestrebungen erklärte, deren Telos die Erhöhung des militärischen Potentials der deutschen Staaten war. Im Rahmen des von Jahn entwickelten paramilitärischen Systems sollten die männlichen Jugendlichen auf dem dazu eigens bestimmten Turnplatz laufen, springen, klettern, ihre Gewandtheit durch Geräteübungen erweitern und die erworbenen Fähigkeiten während gemeinsamer Kampfund Geländespiele und Fußwanderungen unter Beweis stellen. Es wäre dennoch falsch, anzunehmen, dass sich die Erwartungen der Erzieher damit erschöpften. Im 1816 herausgegebenen, zentralen Text der gymnastischen Bewegung, Die deutsche Turnkunst, zur Einrichtung der Turnplätze dargestellt, erklärte Jahn, dass die systematischen Übungen wesentlich zur Verinnerlichung der als national definierten Normen beitragen sollen, und reflektierte einschlägige pädagogische Verfahren und Ziele folgendermaßen: »Man kann es dem Turner, der eigentlich leibt und lebt und sich leibhaftig erweiset, nicht oft und nachdrücklich genug einschärfen, daß keiner den Adel des Leibes und der Seele mehr wahren müsse, denn gerade er. Am wenigsten darf er sich irgendeines Tugendgebots darum entheben, weil er leiblich tauglicher ist. Tugendsam und tüchtig, rein und ringfertig, keusch und kühn, wahrhaft und wehrhaft sei sein Wandel. Frisch, frey, fröhlich und fromm ist des Turners Reichtum.«9

In der eigentümlichen Sprache Jahns, der mit seinem alliterierenden Duktus und seltsamer Lexik an die wahren deutschen, d.i. die germanischen Texte anzuknüpfen glaubte, wird hier die mit den Leibesübungen verbundene Herausbildung eines Habitus anvisiert, den die Turnpädagogen als deutsch definierten. Es erscheint kennzeichnend und für die Gründungstexte der Bewegung repräsentativ, dass die als national definierten Kennzeichen nicht auf die Geburt innerhalb einer Ethnie zurückgeführt, sondern aus-

9

Jahn, Friedrich Ludwig/Eiselen, Ernst Wilhelm Bernhard: Die deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze, Berlin: Selbstverlag 1816, S. 233.

202 | Katarzyna Jaśtal

schließlich in der systematischen, gemeinsamen Praxis verankert wurden. Die Disziplinierung des Körpers erfolgte im Einklang mit der Realisierung des ethischen Imperativs der Tugendhaftigkeit, wobei die anzustrebenden Verhaltensschemata in der oben benannten berühmten Devise »Frisch, frey, fröhlich, fromm« gebündelt erschienen. Wie in der oben zitierten Passage postuliert, wird die auf die Entwicklung des einschlägigen Habitus abzielende pädagogische Praxis am Grundsatz potentiell unendlicher Wiederholungen nicht nur der Übungen, sondern auch ideologischer Inhalte ausgerichtet. Ein wichtiges Medium der Wiederholung waren die Turnlieder, welche die Vertreter der Bewegung als ihren genuinen Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte definierten, wobei sie insbesondere die Vorzüge der Textvorlagen und die starke Verbreitung dieser Lieder betonten.10 Seit der Etablierung des Turnens als obligatorischem Fach an allen deutschen Schulen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Turnlieder zum festen Bestandteil der Ausbildung der gesamten männlichen deutschen Jugend. Mit der Einsicht in die Bedeutung des Gesangs für die Gemeinschaftsstiftung und Mobilisierung der Emotionen haben die Pädagogen des 19. Jahrhunderts die Erkenntnisse der aktuellen musikwissenschaftlichen Studien vorweggenommen, welche belegen, dass die während des Chorsingens erlebte emotionale Synchronisation die Singenden solidarisiert und sie zu

10 Das wichtigste, gegen Ende des 19. Jh. verfasste Nachschlagewerk der Bewegung, das Encyklopädische Handbuch des gesamten Turnwesens, sprach von diesen »dichterischen Erzeugnissen der Turnkunst« folgendermaßen: »Man muß das Turnen in den Rahmen der Kulturgeschichte aufnehmen und darf in einer solchen auch von den dichterischen Erzeugnissen der Turnkunst sprechen. Die allgemeine Litteraturgeschichte berichtet nur wenig von der Turnliederdichtung […]. Und doch sind zeitweise einige […] liebliche Erscheinungen der Turnliederdichtung für das gesamte deutsche Volksleben von einschneidender Bedeutung gewesen und geworden«. Euler, Carl (Hg.): Encyklopädisches Handbuch des gesamten Turnwesens und der verwandten Gebiete, Wien-Leipzig: Verlag von Pichler’s Witwe & Sohn 1896, Bd. III, S. 275. (Zum Lemma Turnliederdichtung vgl. ebd., S. 274-283. Die Forderung des Nachschlagewerks, die zahlreichen Turnlieder als einen würdigen Forschungsgegenstand anzuerkennen, wird allemal durch die Verbreitungsstärke der Letzteren motiviert.

»Braust der Sturm uns auch zugrund…« | 203

einem gegenüber den in Liedern vermittelten Inhalten empfänglichen Kollektiv macht.11 Die Texte der Turnlieder waren oft Eigenerzeugnisse von Turnpädagogen, die mit ihren Entwürfen von Idealbildern auf ihre Zöglinge sowohl emotionssteuernd als auch bewusstseinsbildend einwirken wollten. Ihre Rezeption wurde wesentlich von der Gebrauchs- und Überlieferungsform des Turnliederbuchs determiniert, welche den Gesang der Turner regulierte und standardisierte.12

ARBEIT AM KOLLEKTIVEN KÖRPER Repräsentativ für diese Publikationsform steht im vorliegenden Beitrag das Turner-Liederbuch aus dem Jahre 1849. Dieser anonym herausgegebene und preiswerte Band mit den beliebtesten Liedern der Turnbewegung enthielt neben typischen Turnliedern auch Studenten-, Soldaten- bzw. Volkslieder sowie für den Singgebrauch bestimmte, mit Angaben zur musikalischen Aufführung versehene Gedichte aus der Zeit der Befreiungskriege, insbesondere von Theodor Körner und Max Schenkendorf. In diesem kleinen und dünnen, und damit auf Turnplätzen und Turnwanderungen leicht mitzuführenden Liederbuch wurden auf 149 Seiten 86 Liedtexte gesammelt. Das erste Drittel des Bandes, also die ersten 49 Seiten, füllen mehrere mit Noten und Singanweisungen ausgestattete und somit als Liedtexte ausgewiesene Beispiele der patriotischen Lyrik aus der Zeit der Befreiungskriege aus.13

11 Vgl. Kaiser, Jochen: »Singen in Gemeinschaft als ästhetische Kommunikation. Eine ethnographische Studie«, Berlin: Springer 2017. Vgl. S. 185-195, bes. S. 195. 12 Vgl. Jahn, Friedrich Ludwig: Über Wehrlieder, ohne Ort- und Verlagsangabe 1813, S. 3. 13 So enthält diese Liedersammlung u.a. Texte Des deutschen Vaterland und Wer ist ein deutscher Mann von E.M. Arndt, das Hermannslied eines unbekannten Verfassers, Reiters Morgenlied von W. Hauff, Der gute Kamerad von L. Uhland, Des Sängers Vaterland und Lützows wilde Jagd von Th. Körner, Wer ist ein deutscher Mann? von Hobach, Der Landsturm F. Rückerts, das Schlachtlied von F.K. Hiemer, Hermann von K.H. Hoffmann, das anonyme westfällische

204 | Katarzyna Jaśtal

Mehrere Incipits enthalten direkte Aufforderungen zum gemeinsamen Handeln. Dabei werden fünf Arten von körperlicher Aktivität genannt: die Übungen auf dem Turnplatz (»Frisch auf, ihr Turner!«, »Auf, ihr Brüder«14 Festmarsch; 1); bzw. »Auf Brüder!« Turnerleben; 62), Wandern, Singen (»Singt Brüder« Der Turner Bundeslied; 107), die Teilnahme an nationalen Feiern (»Sammelt euch, ihr Turngebrüder, um das heilige Panier. Schließt euch fest in Reih und Glieder«, Fahnenlied; 121) und Kämpfen (»Heraus ihr deutschen Jungen, zum grünen Waffensaal«; »Turner, auf zum Streite! Tretet in die Bahn!«, Festgesang; 56). Neben den an das Turnerkollektiv direkt appellierenden Liedern erfasst der Band auch solche, bei denen sich das kollektive Aussage-Subjekt durch ein Wir ausweist (vgl. z.B.: »Wer gleichet den Turnern uns frohen?«; »Im ernsten Kreise steh’n wir treu verbunden, die Brust geschwellt von hohem Tatendrang«, Die Freiheit unser Ziel; 120). Für das grundlegende Anliegen des angemahnten Kollektivs wird die Formung der Körper erklärt, welche vor der Folie des Leistungsprinzips als Arbeit dargestellt wird. Die angestrebten Leitwerte, Kraft und Stärke, erscheinen nicht als eingeborene (etwa ethnisch vorgegebene) Eigenschaften, sondern müssen gemäß der Argumentation der Lieder erturnt werden. Sie sind Voraussetzung für den kollektiven Erfolg, denn, so heißt es in einem der Lieder, »ohne körperliche Kraft und Stärke wird nichts Großes geschafft« (Festgesang; 56). Die Bezeichnung der turnerischen Leistung als »ein gutes Werk« bzw. »ein fröhliches Werk« (vgl. Turnziel; 53) betont das

Soldatenlied Zu Wesel auf der Schanz, das Weihelied von M. Claudius, Das Lied vom Rhein und Freiheit von Max Schenkendorf, das ohne Angabe vom Autor abgedruckte Unser Vaterland von L. Wächter, darüber hinaus das in den Commersbüchern des 19. Jh. oft aufgenommene Bundeslied der deutschen Freimaurer, dessen Vertonung Mozart zugeschrieben wurde, und das ebenso betitelte Studentenlied aus der Zeit der Befreiungskriege. Auf jenes Liedgut, welches auch in den Liedsammlungen für deutsche Soldaten des 19. Jahrhunderts einen festen Platz hatte, folgen im Band die eigentlichen Turnlieder, d.h. jene, die sich direkt auf die Praxis der körperlichen Übungen, Turnwanderungen und Turnfeste beziehen. 14 Anonym: Turn-Liederbuch (wie Anm. 1). Im Folgenden werden die Titel der im genannten Band versammelten Lieder im laufenden Text des Beitrags mit entsprechender Seitenzahl aus dem angeführten Turn-Liederbuch angegeben.

»Braust der Sturm uns auch zugrund…« | 205

Erhabene an den paramilitärischen Turnübungen und die Lust an der gemeinsamen Bewegung. Im pädagogischen Konzept der Turner nahmen die gemeinsam unternommenen Wanderungen eine wichtige Rolle ein, der die Bedeutung dieses Motivs im einschlägigen Liedrepertoire entspricht. Die geographische Ausdehnung dieser Turnfahrten wird mit dem traditionell zu Beginn mehrerer Turnliederbücher platzierten, auf das Konzept des großdeutschen Staates rekurrierenden Gedicht Ernst Moritz Arndts, Was ist des Deutschen Vaterland?15, benannt. Die in der Zeit der Befreiungskriege entstandenen Verse entfalten ihre rhetorische Wirkungskraft aus der Aneinanderreihung von Fragen: »Was ist des Teutschen Vaterland? Ist’s Preußenland? Ist’s Schwabenland? Ist’s, wo am Rhein die Rebe blüht? Ist’s, wo am Belt die Möwe zieht? O nein! nein! nein! Mein Vaterland muss größer sein!« (Was ist des Deutschen Vaterland; 6) 16

Schreitet der Liedtext die einzelnen deutschsprachigen Landschaften ab, so verneint er aber emphatisch am Ende jeder Strophe, dass das Vaterland des Deutschen auf eins dieser Gebiete beschränkt werden könne,17 um die lange Enumeratio-Reihe mit folgender Antwort auf die Titelfrage abzuschließen:

15 Die Melodie zu dem vor der Schlacht bei Leipzig 1813 von Arndt geschriebenen Gedicht komponierte der Jenaer Student und Burschenschafter Johannes Cotta 1815. 16 Zur Spitzenposition des Arndtschen Liedes im Liederrepertoire des nationalen Vereinslebens im 19. Jh. vgl. J. Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770-1840), S. 419. Das Lied wurde in Deutschland auch kritisch rezipiert. Zu seinen zahlreichen Parodien vgl. Nieberle, Sigrid: »Und Gott im Himmel Lieder singt: Zur prekären Rezeption von Ernst Moritz Arndts Des Deutschen Vaterland«, in: Arne Koch et. al (Hg.)/Ernst Moritz Arndt (17681860): Deutscher Nationalismus, Berlin: de Gruyter 2007, hier: S.123-124 u. S. 136. 17 Zur Zeit der Entstehung des Liedes (und der Turnbewegung) existierte Deutschland ja nicht als ein einheitlicher Nationalstaat. Die Landkarte der deutschspra-

206 | Katarzyna Jaśtal

» […] So weit die teutsche Zunge klingt Und Gott im Himmel Lieder singt, Das soll es sein!« (Was ist des Deutschen Vaterland; 6)18

Mit dem Lied, das die Zusammengehörigkeit aller Deutschsprechenden ungeachtet ihrer Abstammungsregion und die politische Einheit Deutschlands auf der Basis der Sprachgemeinschaft anmahnt, wird nicht nur der Referenzraum der Turnwanderungen ausgemessen, sondern auch ein Raum, auf den sich all ihre körperlichen Bemühungen zu beziehen hatten. Dass das Echo dieses Liedes in anderen Texten des Turner-Liederbuchs nachklingt, entspricht dem von Jahn angemahnten pädagogischen Grundsatz der fortwährenden Wiederholung der einzelnen Postulate.19 Die Turnlieder beziehen sich allerdings sehr häufig auf den primären Ort der Übungspraxis, den gemäß den von Jahn entworfenen Standards organisierten Raum des Turnplatzes. Sie zeigen ihn als einen Ort der Befrei-

chigen Gebiete bildete ein Mosaik aus kleineren und größeren Staaten und Fürstentümern. 18 Im Zusammenhang des vorliegenden Sammelbandes erscheint es bemerkenswert, dass fast gleichzeitig mit der Publikation des Turn-Liederbuches eine Polemik erschien, welche die Argumentation des Arndtschen Gedichtes durch eine Körperanalogie zu verdeutlichen versuchte. Ihr Autor, der Bonner Professor für Rhetorik, Johann Friedrich Ferdinand Delbrück, klagte über die Beliebtheit des Gedichtes. Dabei erklärte der Autor, dass die Kraft von Arndts Argumentation darauf beruhe, dass jedes von dem Autor erwähnte Gebiet als zwingend notwendig für ein gesundes Funktionieren des Staates dargestellt wird. Dabei übersetzt er Arndts lyrische Aussage in folgende holprige Verse: »Was ist des Geistes Körper doch? / Ist es der Kopf? Ist es der Fuß? / O nein, nein, nein! / Sein Körper muss noch größer sein!« Delbrück, Johann Friedrich Ferdinand: Das Volkslied Was ist des Deutschen Vaterland? Würdigung desselben von Ferdinand Delbrück. Nebst Zuschrift an E.M. Arndt, und Erwiederung von ihm, Bonn: bei Adolf Marcus 1846, S.5. 19 So heißt es z.B. »Bald ziehen wir am balt´schen Meer, jetzt an der Alpenhöhen, bald an der Elb`und Donau her, jetzt wo die Schiffe lastenschwer auf Rhein und Oder gehen« (Des Turners Wanderlied; 105) oder »Wie ist es so herrlich, das Land zu durchwandern, das Land von der Weichsel bis an den Rand!« (Wanderlied; 113).

»Braust der Sturm uns auch zugrund…« | 207

ung aus den Zwängen der bürgerlichen Gesellschaft und zugleich als Raum einer als erfreulich erlebten körperlichen Aktivität. Behaupten die Liedtexte, ein Turner beherrsche »vier Elemente« (Vaterlands Trost; 52), so belegen sie dies mit der Benennung ihrer kühnen raumgreifenden Bewegungen, die oftmals auf der Wirkungskraft rhetorischer Fragen aufbauen: »Wer klettert am Stangen und Tauen! Wer schwingt wie der Vogel von Ast zu Ast! Wer hat steigend den Gipfel der Bäume erfasst [...] Wer mögen die glücklich Klimmenden sein? Das ist Deutschlands rüstiger Turnerverein Was schickt sich dort zum gewagtesten Sprung, schnellt sich auf, die Höhn zu erreichen? Wen trägt über Gräben der mächtige Sprung? […] Wer mögen die wagenden Springer seyn? Das ist Deutschlands rüstiger Turnerverein Wer schreitet so freudig durch Feld und durch Wald? Da hemmen nicht Felsen noch Klüfte, nicht Regenschauer, nicht Sturmesgewalt. […] Das ist Deutschlands rüstiger Turnerverein.« (Deutschland Turnerverein; 75)

Die Vorstellung vom Kollektiv des »rüstigen Turnerverbandes«, das sich ungeachtet aller Hindernisse, »zäh, kühn und glücklich« im synchronen Baumklettern und Grabenspringen übt, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Zugleich aber ist es anzuerkennen, dass die dynamischen jambischen Verse ein attraktives Selbstbild, einer sich in den raumgreifenden, mit Leichtigkeit ausgeführten und zugleich unaufhaltsamen Bewegung übenden Gemeinschaft liefern. Auf eine für das Turnmodell charakteristische Art und Weise wird das den englischen Sport bestimmende Rivalitätsprinzip außer Acht gelassen. In dem hier gezeigten einheitlichen Kollektiv der Körper werden alle individuellen Begehren und Differenzen aufgehoben, so dass es die Einheit der deutschen Nation, als deren Kern sich die Turner begriffen, abbilden kann. Es wäre allerdings nicht richtig, das pädagogische Modell des Turnens ausschließlich mit der Vorstellung des militärischen Drills in Zusammen-

208 | Katarzyna Jaśtal

hang zu bringen. Friedrich Ludwig Jahn betonte in dem oben zitierten Hauptwerk ausdrücklich die Differenz zwischen der Turnerschaft und dem Militär.20 Zwar wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts das Turnmodell immer enger an die militärischen Bewegungsstrukturen angepasst, doch etliche Turnlieder konservierten das Bild der erfreulichen Jugendspiele, bei denen sich die Jugendlichen zuweilen freudig tummeln21 dürfen. Viel Gewicht wird aber auch auf die Affinität der Übenden zur synchronen Bewegung gelegt. So erscheinen die Turner »zu rennenden Reihen verbunden und jeder sucht folgend des Vormannes Spur, als wäre in Allen ein Wille nur […]«; (Der Turnverein; 108). Das so definierte Kollektiv wird als eine Entität geschildert, die die individuellen Bedürfnisse nach Aktivität und Geborgenheit gleichzeitig erfüllt (vgl.: »Frisch und rastlos in geschlossenen Gliedern ziehen wir, von Führern wohl bewacht«; Kampflied; 121).

VATERLANDSLIEBE, VITALITÄT UND TOD Ein weiteres wichtiges Merkmal des im Turn-Liederbuch als Resultat fortwährender Arbeit am Körper reflektierten Habitus, als dessen Konstante ein kühnes, selbstbewusstes und zielstrebiges Auftreten angegeben wurde und das im turnerischen Leitspruch »frisch, fromm, fröhlich, frei« einen entsprechenden Ausdruck fand, war die Bereitschaft zur affektiven Hingebung an die Gemeinschaft. Entsprechend dieser Erwartung postulieren die Lieder entweder Enthusiasmus oder feierliche Stimmung, was durch Hinweise zum Singmodus unterstrichen wird, denen zufolge die meisten Lieder in der Regel kräftig oder sehr kräftig bzw. allegro gesungen werden sollen. Mit diesen Modi wird die bedenkenlose Freude der Turner an Übungen etwa folgendermaßen vorgegeben: »Kaum glänzet von Himmel der junge Tag, so sind wir munt’re Turner auch wach. […] Zum Turnplatz schreiten wir munter fort, begrüßen mit Jubel den herrlichen Ort […]. O Turnerleben so schön!« (Turnerleben so schön!; 115). Die Rolle der Begeisterung wird durch hohe Frequenz der Lexik aus dem semantischen Umfeld des Feuers

20 So verlangte Jahn: »Jeder Turner muss zum Wehrmann reifen, ohne verdrillt zu werden«. F.L. Jahn: Die deutsche Turnkunst, hier: S. XVII. 21 Ebd., S. V.

»Braust der Sturm uns auch zugrund…« | 209

unterstrichen. So heißt es: »Uns flammt noch das Auge von männlicher Lust,/Uns glüht vom Freiheitshauche/Die freie, frohe Brust«, »Stark noch glüht unser Lied« (Vaterlandslied; 9), »die feurigen Blicke zum Lichte gewandt!« (Das Lied von den Frauen, 11). In den Kontext einer so verstandenen Emotionslenkung schreibt sich im Turner-Liederbuch auch die Verwendung der Körpermotive ein. Zu den dominanten, in nahezu jedem Lied vorliegenden Motiven gehören die als affektive Zentren des Körpers benannten Herz und Brust. Nahezu genauso oft wird der als gestählt und damit zugleich muskulös, hart und bewaffnet apostrophierte Arm erwähnt. So heißt es: »Mit Schwerten und mit Lanzen erproben wir den Arm«; (Wir ziehen zum fröhlichen Werke); 53, »im Klimmen da zeigt sich der kräftige Arm« (Turnerleben so schön; 115), »Arm im Streite brav und gut« (Vaterlandslied; 9). Seine Verlängerung, die Hand, wird in drei symbolischen Zusammenhängen thematisiert: Sie wird als ein »Schild des Vaterlandes«,22 als Garant der Kameradschaft der Turner23 und als Unterpfand ihres Treuegelübdes an das Vaterland24 genannt. Der in den Kontext des Kollektivs eingeschriebene Körper des Turners erscheint als Ressource für die ihm zugedachte Aufgabe der Verteidigung des Vaterlandes. Seine Gesundheit, Gewandtheit und Härte sind notwendige Bestandteile der Wehrhaftigkeit. Sie ist das Telos, auf das sich das Zelebrieren von Zugehörigkeit zu deutschen Landschaften, der Kameradschaft und der Einheit richtet. Die Erziehung zur Wehrhaftigkeit bedeutet aber auch die Erziehung zur Todesbereitschaft. Die Lieder, die mit einem überschwänglichen Preisen der Schönheit heimatlicher Landschaften, der brüderlichen Einheit unter den Übenden und dem Lob ihrer Vitalität und Gewandtheit beginnen, weisen eine starke Affinität zum Tode auf. Ihre Texte bewegen sich auf den Tod hin, den sie oft an der exponierten Stelle, nämlich in der letzten Strophe etwa folgendermaßen thematisieren: »Wir stärken nur nach alter Väter Sitte, den Leib zum Kampf auf Leben und auf Tod;

22 Vgl. z. B. »Du Herd unser Ahnen, dich schützt deutsche Hand« (Hermannslied; 10). 23 Wendungen wie: »Laßt und feiern Hand in Hand« (Festmarsch; 2). 24 Vgl. »Es sey die Hand, die wir zum Bunde reichten, der deutschen Treu und Einheit Unterpfand« (Festlied; 109).

210 | Katarzyna Jaśtal

und rufen’s laut aus unsr’es Herzens Mitte, hinaus, hinaus ins blutige Morgenroth!« (Der Turner Fahnenlied; 106)

Besonders prekär erscheint dabei die Verbindung zwischen der Anvisierung des Sterbens für die nationale Gemeinschaft mit dem Aspekt der Lust, wie sie u.a. im Festmarsch erfolgt: »Denn wir Turnen wollen werben nach der Väter Ruhm im Streit, daß für Recht und Volk zu sterben Jeder sey mit Lust bereit.« (Festmarsch; 112)

Die paradoxe Verbindung zwischen dem Lob der Vitalität und dem Lob des Todes wird auch in Versen beschrieben, die den Tod fürs Vaterland als das wahre Leben preisen: »Und kommt die Todeswunde, und brennt in uns’rer Brust, dann blüht auf unserem Munde erst rechte Lebenslust. « (Deutsch zu denken, deutsch zu handeln; 82)

In diesem Zusammenhang kann das pädagogische Modell des Turnens, das die Jugendlichen auf einen heroischen Tod vorbereitet und ihnen Teilnahme am Erhabenen ermöglicht, als eine sinnstiftende Tätigkeit gelobt werden: »Braust der Sturm uns auch zugrund, Fall’n wir doch zu guter Stund. Darum frei, Turnerei, Stets gepriesen sei.« (Sterben fürs Vaterland; 119)

Ein Rekurs auf die Turnliederbücher erlaubt aufschlussreiche Einsichten in die Prozesse der pädagogischen Formung des deutschen Habitus im 19. Jahrhundert. Das Singen der Turnlieder erfolgte während gemeinsamer Übungen, Wanderungen und Feste und diente der Stiftung der Turnergemeinschaft, der Vermittlung von Selbstbildern und Normen wie der Erzeugung von Emotionen. Die Autoren der Lieder erhoben keinen Anspruch auf

»Braust der Sturm uns auch zugrund…« | 211

eine hochqualitative künstlerische Darbietung, sondern konzentrierten sich auf den pädagogischen Aspekt. Ihre Texte operieren mit dem einbeziehenden pluralis auctoris (wir) und weisen eine hohe Frequenz von Wörtern mit relativ schwachem Bedeutungskern und stark entwickelter konnotativer Hülle auf. Neben den in der Vier-F-Formel gebündelten Epitheta gehören dazu insbesondere Wörter wie: Vaterland, Mut, das Höchste, das Heilige, Kampf, Krieg, Sterben, Tod. In einfachen Bildern und Rhythmen unter Verwendung von scheinbar unendlichen Wiederholungen von denselben Argumenten und Gemeinplätzen, entwerfen die Lieder das Konzept eines national definierten, deutschen Habitus, zu dessen Komponenten Dynamik, Heiterkeit, Gesundheit und Kraft zählen. Kontrapunktisch zu diesen Motiven wird fortwährend das Thema des mit Attributen des Heiligen bzw. Erhabenen ausgestatteten Heldentodes für das Vaterland reflektiert. Und damit wird das Prekäre des Erziehungsprojekts ›Turnen‹ im 19. Jahrhundert besonders deutlich: Die leibliche Erziehung durch Einschreibung der kollektiven Normen in die kindlichen und jugendlichen Körper macht aus den Letzteren austauschbare Ressourcen.

LITERATUR Anonym: Turner-Liederbuch. Auswahl aus dem Liederkranz für die Turngemeinden des Vaterlandes, Stuttgart: Göpel o. J. [1849]. [3. Auflage] Alkemeyer, Thomas: Zeichen, Körper und Bewegung. Aufführungen der Gesellschaft im Sport (Berlin: Lit 2000). Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc: Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. Delbrück, Johann Friedrich Ferdinand: Das Volkslied »Was ist des Deutschen Vaterland« Würdigung desselben von Ferdinand Delbrück. Nebst Zuschrift an E.M. Arndt, und Erwiederung von ihm, Bonn: bei Adolf Marcus 1846. Düding, Dieter: Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808–1847). Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung, München-Wien: Oldenbourg 1984. Echternkamp, Jörg: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (17701840), Frankfurt a.M./New York: Campus 1998.

212 | Katarzyna Jaśtal

Euler, Carl (Hg.): Encyklopädisches Handbuch des gesamten Turnwesens und der verwandten Gebiete, Wien und Leipzig: Verlag von Pichler’s Witwe & Sohn 1896. Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation, in: Ders.: Sämmtliche Werke, Band 7, Berlin: Verlag von Veit und Com1845/1846, S. 259-459. Goltermann, Svenja: Körper der Nation. Habitusformierung und die Politik des Turnens 1860-1890, Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 1998. https://doi.org/10.13109/9783666357893 Heinemann, Angela Luise: »Turnen, Nation, Gesang und Gefühl – Das neue Konzept von Gemeinschaft bei den Berliner Turnern (18111820)«, in: Jahn-Report: 41. Ausgabe Dezember 2015, S. 21-26. Jahn, Friedrich Ludwig/ Eiselen, Ernst Wilhelm Bernhard: Die deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze, Berlin: Selbstverlag 1816. Jahn, Friedrich Ludwig: Über Wehrlieder, ohne Ort- und Verlagsangabe 1813. Jurt, Joseph: Die Habitustheorie von Pierre Bourdieu, in: http://lithes.unigraz.at/lithes/beitraege10_03/jurt.pdf (14.01.2018). Kaiser, Jochen: »Singen in Gemeinschaft als ästhetische Kommunikation. Eine ethnographische Studie«, Berlin: Springer 2017. https://doi.org /10.1007/978-3-658-17711-9 Krüger, Michael: »Sport, Habitus und Staatsbildung in Deutschland«, in: Treibel, Anette/Kuzmics, Helmut/Blomert, Reinhard (Hg.), Zivilisationstheorie in der Bilanz: Beiträge zum 100. Geburtstag von Norbert Elias, Wiesbaden: Springer 2000, S. 211-220. https://doi.org /10.1007/978-3-663-11910-4 Langewiesche, Dieter: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München: C.H. Beck 2000. Nieberle. Sigrid: »Und Gott im Himmel Lieder singt: Zur prekären Rezeption von Ernst Moritz Arndts Des Deutschen Vaterland«, in: Arne Koch et. al (Hg.), Ernst Moritz Arndt (1768-1860): Deutscher Nationalismus, Berlin: de Gruyter 2007.

Das Bildungs- und Erziehungsmodell des ›Bundes Neuland‹ in Paula von Preradovićs Essay Ein Jugendreich. Die NeulandSchulsiedlung in Grinzing-Wien Michael Sobczak

Paula von Preradović (1887–1951) war eine Lyrikerin und Prosaistin. Sie ist heute vor allem als die Autorin der österreichischen Bundeshymne (Land der Berge, Land am Strome, 1947) bekannt. Die Enkelin des kroatischen Dichters Petar Preradović wuchs in der Hafenstadt Pola (Pula) an der Adria auf, verbrachte aber den größten Teil ihres Lebens in Wien. Neben zahlreichen Gedichten, einem Roman, drei Novellen, Fragmenten einer poetischen Autobiographie und einem Tagebuch hinterließ sie auch journalistische Texte. Ein Jugendreich. Die Neuland-Schulsiedlung in GrinzingWien ist ein Essay aus dem Jahr 1937.1 Er handelt von einer Schule, die 1927 von Mitgliedern des ›Bundes Neuland‹2, einer katholischen Bewe-

1

Im vorliegenden Beitrag beziehe ich mich auf meine Arbeit Das christliche Weltbild in der Prosa der österreichischen Dichterin Paula von Preradović, die 2016 im Verlag der Jagiellonen-Universität in Kraków (Wydawnictwo Uniwersytetu Jagiellońskiego) erschienen ist.

2

Der ›Bund Neuland‹ war ein katholischer Jugendverband in Österreich und wurde 1919 gegründet. Er setzte sich zum Ziel, einen modernen, selbstbewussten Katholizismus zu propagieren und die Jugend vor der Säkularisierung zu schützen. 1938 wurde er vom NS-Regime aufgelöst, zehn Jahre später jedoch reaktiviert. (vgl. Kapfhammer, Franz M.: Neuland. Erlebnis einer Jugendbewe-

214 | Michael Sobczak

gung, die für religiöse Erneuerung und soziale Gerechtigkeit eintrat, im 19. Wiener Gemeindebezirk Döbling gegründet wurde. Als die Schriftstellerin Mitte der Dreißigerjahre die neue Einrichtung sowie das an reformpädagogische Bildungs- und Erziehungsansätze anknüpfende Schulprojekt des ›Bundes Neuland‹ kennenlernte, war sie davon beeindruckt. Sie schrieb den Text Ein Jugendreich, um das neuartige Vorhaben zu popularisieren. Preradović setzt sich darin mit dem Phänomen der Neulandschule auseinander, wobei sie die Tätigkeit der Einrichtung in den ersten Jahren nach ihrer Entstehung reflektiert. Ihre subjektiven Betrachtungen stehen dabei im Mittelpunkt. Die vorliegende Untersuchung bildet einen Beitrag zur Erforschung der Darstellung des Bildungs- und Erziehungsmodells des ›Bundes Neuland‹ im Essay der österreichischen Autorin. Im Sinne der Sammelbandthematik soll dabei der Zusammenhang zwischen dem Erziehungsmodell des ›Bundes Neuland‹ und den reformpädagogischen Prinzipien, die sich in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts einer besonders großen Popularität erfreuten, verdeutlicht werden. Auffallend ist, dass die Theoretiker und Praktiker der ›Neuland‹-Pädagogik sich von Anfang an nicht nur auf die Fragen des Individuums beschränkten, sondern immer auch Überlegungen zur Gemeinschaftsbildung in den Blick nahmen, was die Analyse des von ihnen entwickelten Erziehungsmodells in dem vorliegenden Band umso bedeutender erscheinen lässt.

gung, Graz/Wien (u.a.) 1987, S. 179-233). Seine Mitglieder traten für soziale Gerechtigkeit ein, lehnten jedoch die Dogmatik des Sozialismus ab. Sie betonten ihre Verbundenheit mit der österreichischen Volkskultur und der Natur. Zu den wichtigsten programmatischen Grundsätzen gehörte das »Prinzip der Dreieinigkeit« (Selbstführung, Selbsterziehung und eigenständige Tätigkeit). Man entwickelte neue Formen der Religiosität, was u.a. zur Neugestaltung der Heiligen Messe führte und den Bund zu einem der Träger der »liturgischen Bewegung« in Österreich machte. Unter den Mitgliedern waren Jungen und Mädchen aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, vor allem aber aus der Mittelschicht. Vgl. Reinhold, Ludwig: »Die christlich inspirierten Jugendorganisationen in Österreich«, in: Isabella Ackerl, Rudolf Neck (Hg.): Geistiges Leben im Österreich der Ersten Republik. Auswahl der bei den Symposien in Wien vom 11. bis 13. November 1980 und am 27. und 28. Oktober 1982 gehaltenen Referate, Wien 1986, S. 313-330.

Das Bildungs- und Erziehungsmodell des ›Bundes Neuland‹ | 215

Das reformpädagogische Konzept, das verschiedene Ansätze zur Reform von Schule und Erziehung umfasst, bezieht sich auf den ganzen Menschen mit seinen physischen, sozialen, emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten.3 Die Reformpädagogen streben ein partnerschaftliches Zusammenleben der Kinder an, das letzteren ein Lernen in pädagogisch, sozialethisch und ästhetisch durchgestalteten Räumen sowie in anregungsreichen Lebens- und Lerngemeinschaften ermöglichen soll.4 Die reformpädagogische Erziehungsphilosophie geht u.a. auf das Gedankengut der Weimarer Klassik sowie auf die Lehren Johann Amos Comenius’, Jean-Jacques Rousseaus und Johann Heinrich Pestalozzis zurück. Sie strebt die gleichmäßige Förderung des Geistes und des Körpers an, um eine harmonische Entwicklung des Kindes zu gewährleisten. Damit verfolgt sie den Gedanken der Einheit beider Sphären – der Einheit des Menschen. Zum Ausgangspunkt ihrer Erwägungen nimmt Preradović den Besuch bei einer slowenischen Bauernfamilie in der Krain. Dabei stellt sie die vermeintliche Harmonie des Bauernlebens der Existenz des Stadtmenschen gegenüber, wie es aus folgender Passage hervorgeht: »Die Kinder unserer Städte standen mir plötzlich vor Augen, […] die Mietskasernen, in denen Armut nicht Beschränkung auf das Notwendigste ist, sondern schäbige, herzbeklemmende Dürftigkeit, Schmutz, Geschrei und Gedränge. Oder die Wohnungen wohlsituierter bürgerlicher Kreise, in denen sich Kitsch auf Kitsch häuft […]. Die Trennung von allem Naturhaften drohte mich an, […] die durch den Triumphzug der Technik immer mehr gesteigerte Zersplitterung des Lebens […]. Noch nie vielleicht war mir organische Lebensform so deutlich geworden, wie bei dem Besuch des kleinen, slowenischen Bauernhofes, noch nie hatte mich die Frage so brennend gepeinigt, wie die Zersplitterung des modernen kulturellen Lebens zur Einheit geführt, ihrer Ziellosigkeit ein Ziel gesetzt, einem in intellektuelle, wirt-

3

Vgl. Eichelberger, Harald/Laner, Christian/Kohlberg, Wolf Dieter/Stary, Edith/ Stary, Christian: Reformpädagogik goes eLearning: Neue Wege zur Selbstbestimmung von virtuellem Wissenstransfer und individualisiertem Wissenserwerb, München/Wien 2008, S. 19.

4

Vgl. ebd.

216 | Michael Sobczak

schaftliche und politische Unruhe hineingeborenen Geschlecht die zum Wachstum nötige Ruhe und Geborgenheit gegeben werden könnte.«5

Die Begriffe des ›Organischen‹ und des ›Unorganischen‹ werden von der Autorin häufig verwendet. Ersterer bezieht sich auf das Natürliche, Harmonische und in sich Geschlossene. Letzterer hingegen auf das Künstliche und das Störende – auf alles, was sich der natürlichen Ordnung widersetzt. Das Konzept des ›Organischen‹ hängt mit dem des ›Wachsenlassens‹ zusammen. Dabei handelt es sich um eines der wichtigsten Konzepte, die von der Reformpädagogik hervorgebracht wurden. Die schwedische Pädagogin Ellen Key vertritt die Ansicht, dass die Reformpädagogik sich vor allem die Förderung der Eigenaktivität der Heranwachsenden zum Ziel setzt.6 Sie lehnt autoritäre Erziehungsformen grundsätzlich ab und befürwortet die Entwicklung der Kinder gemäß ihren natürlichen Bedürfnissen.7 Laut Preradović spielt die Naturnähe für die ganzheitliche Entfaltung der Jüngsten eine wichtige Rolle. Zu den größten Problemen, mit denen vor allem die Bewohner der Großstädte konfrontiert werden, gehört jedoch – so die Schriftstellerin – die mit einer Abwendung von Gott einhergehende Materialisierung des Lebens, die eine metaphysische Krise verursacht. In der christlich-abendländischen Metaphysik wurde Gott nicht nur als der wichtigste Bezugspunkt für den Einzelnen, sondern auch als Fundament der Gesellschaftsordnung betrachtet. Er galt als der Ursprung und das Ziel des Lebens. Infolge der metaphysischen Krise zerbrach das Ordnungsgefüge, in dem die Menschen ihr Dasein als sinnerfüllt und Teil eines größeren Ganzen begreifen konnten. Das Entfremdungsphänomen sei – so Preradović – eine der Folgen der metaphysischen Krise. Es führe zur Zerstörung zwischenmenschlicher Beziehungen. Die Bande zwischen dem Großstadtbe-

5

von Preradović, Paula: Ein Jugendreich. Die Neuland-Schulsiedlung in Grinzing-Wien, Wien 1937, S. 5.

6

Vgl. Schmitz-Stuhlträger, Kerstin: »Das Recht auf christliche Erziehung im Kontext der Katholischen Schule. Eine kanonistische Untersuchung unter Berücksichtigung der weltlichen Rechtslage«, in: Kirchenrechtliche Bibliothek. Herausgegeben von Libero Gerosa, Ludger Müller, Band 12, Berlin (u.a.) 2009, S. 45-46.

7

Vgl. ebd.

Das Bildungs- und Erziehungsmodell des ›Bundes Neuland‹ | 217

wohner und der Natur würden durchtrennt, es käme zu einem Verlust des Form- und Ästhetikgefühls.8 Dennoch stehe es in der Macht des modernen Menschen, eine ›organische‹ – also naturnahe, denn auch so kann dieser Begriff verstanden werden – Existenz anzustreben, ohne das Leben in der Stadt aufzugeben. Preradović suchte nach solchen Möglichkeiten für sich und ihre Familie. In den Augen der Schriftstellerin verwirklichten die Lehrer der Neulandschule dieses Ideal, weshalb sie in ihrem Essay Folgendes feststellte: »[W]as du suchst, […] das suchen ja auch sie, die Gründer, Leiter und Mitarbeiter der Neulandschule […] und trachten es durch ihr Werk zu verwirklichen. Einen Regenbogen suchen sie zu spannen von dem verlorenen Paradies einfachen, wesenhaften Lebens in den Tumult der Großstadt-Kindheiten«.9 Etwas weiter bemerkt die Autorin: »Durch die neue katholische Schule das Bild des neuen Menschen formen zu helfen, das lag […] als Aufgabe […] vor jenen, die dereinst ausgezogen waren, durch das Leben der Gemeinschaft sich selbst aus dem Wirrsal der Zeit zu retten“.10 Die Schüler sollten eine »innerliche, wahrhaftige, religiöse Einstellung, wurzelnd in der lebendigen Liturgie der katholischen Kirche«11 aufbauen, denn gerade der Glaube ermögliche die Überwindung der Entwurzelung und Entfremdung, so die Autorin. Was die Schüler lernen sollen, sei »kein lobhungriges, unselbständiges, in unzählige, losgelöste Akte gegliedertes ›Bravsein‹, sondern grundlegend zentrale religiöse Haltung, die nicht äußerlich anhaftet, sondern den Kern des Menschen aufbaut«.12 Die Pädagogen und Mitglieder des ›Bundes Neuland‹ glaubten an einen »durchaus positiven Katholizismus, durch den alles Leben, auch das leibliche, auch das kindlich ungestüme, entfaltet wird, nicht unterdrückt«.13 In den Vordergrund rücken im Essay immer wieder die Lehrer, die aufopferungsvoll ihrer Arbeit nachgehen, obwohl sie – vor allem in den ersten Jahren nach der

8

Vgl. Vospernik, Reginald: Paula von Preradović. Leben und Werk, Wien 1960, S. 111.

9

P. v. Preradović: Ein Jugendreich, S. 5-6.

10 Ebd., S. 10-11. [Hervorhebungen im Original] 11 Ebd., S. 12. 12 Ebd. 13 Ebd.

218 | Michael Sobczak

Gründung der Schule – mit sehr bescheidenen Mitteln auskommen müssen. Die Schriftstellerin beschreibt die Pädagogen wie folgt: »Man fühlt, daß diese jungen Menschen immer als erstes Gegenüber Gott vor sich haben. […] Sie sind absolut wahrhaftig, ohne jedoch fanatisch zu sein. / Sie sind natürlich, rein und getreu. […] Sie sind jung und froh, trotzdem liegt auf ihren Stirnen ein unbeirrbarer Ernst. […] Man hat das Gefühl: obwohl es moderne Menschen sind, die modernsten vielleicht, die es gibt, solche, denen die Zukunft gehört, so kann die Zeit doch nicht an sie heran. Ihnen, deren Kindheit und früheste Jugend vom furchtbaren Geschehen des großen Krieges umflammt und umdüstert war, durfte durch Gottes Gnade ein Unversehrbares erwachen, das sie nun an die neue Generation weitergeben wollen: das wesenhafte Ich. Vielleicht ist das ihr größtes Geheimnis [...].«14

Der Erziehungswissenschaftler Karl Wolf, der in den Dreißigerjahren selbst als Lehrer an der Neulandschule tätig war, behauptet, dass die Pädagogen ein kameradschaftliches Lehrer-Schüler-Verhältnis aufbauen wollten.15 Man war sich dessen bewusst, dass jene wohlwollende Einstellung alle anvertrauten Schüler gleichmäßig erfassen und sich deshalb von einem Freundschaftsverhältnis, das von Natur aus partikulär und bevorzugend ist, unterscheiden musste.16 Keiner der Schüler durfte sich ausgeschlossen fühlen, deshalb sollte dieses Verhältnis »um einen Grad distanzierter als persönliche Freundschaft«17 sein. Jene Komponente des Bildungs- und Erziehungsmodells des ›Bundes Neuland‹ war in der damaligen Pädagogik innovativ. Der ›moderne Mensch‹, von dem im Text immer wieder die Rede ist, müsse – wenn auch nicht ohne kritische Distanz – den gesellschaftlichen, politischen und technologischen Veränderungen aufgeschlossen gegenübertreten. Er sei dazu verpflichtet, Einfluss auf die Gestaltung seiner Umgebung zu nehmen, um die Welt zu einem lebenswerten Ort zu machen. Mo-

14 Ebd., S. 17. 15 Vgl. Wolf, Karl: »Lectio Valedictoria: Rückschau und Ausblick«, in: Ders.: Biopädagogik. Reden, Aufsätze, Abhandlungen. Herausgegeben von Monika Rothbucher und Gerhard Zecha, Wien (u.a.) 2012, S. 9-19, hier: S. 13. 16 Vgl. ebd. 17 Ebd.

Das Bildungs- und Erziehungsmodell des ›Bundes Neuland‹ | 219

dernität sei nichts Naturgegebenes, sondern etwas, das vom Willen des Menschen abhängig sei. Er allein entscheide, in welche Richtung sich die Welt entwickelt.18 Den ›neuen Menschen‹ kennzeichne seine Besonnenheit, »Harmonisierung, Ruhigwerden, Stillesein im Wesenhaften. Das Wesenhafte darf als die Vollendung des wahren Menschentums und die Abkehr von aller Perversion verstanden werden […].«19 Der ›moderne Mensch‹ müsse gegen jede Art von Indoktrinierung immun sein. Er dürfe »nicht heraufbeschworen werden durch Diktat und Uniformierung, nicht durch blinde Flucht in das Alte und nicht durch Zerstörung des Alten«.20 Kinder und Jugendliche sollten zu ›neuen, modernen Menschen‹ an Orten, wie der Neulandschule erzogen werden. Davon zeugt folgende Passage: »[A]n Stätten, wie diese, […] werden ihre neuen Gesichter am ehesten sich bilden dürfen. In Häusern wie dieses hier, wo reinen Herzens Gott gedient wird […]; wo nicht gelogen wird, nicht geprahlt und nicht geschmäht; wo jeder sein wahres Wesen aufzubauen sucht […] und dem Nächsten in Treue dient; wo man der Welt und der Zeit offen ist, ohne sich jedoch ihnen zu verschreiben; wo es keine Sentimentalität, keine Eitelkeit und keinen Kitsch gibt, aber große Liebe zu großer Kunst; wo man Gesundheit und Naturnähe will und den unseligen Haß der Klassen zu mildern trachtet; wo man das Vaterland über alles liebt und doch andere Völker um ihrer anderen Art willen nicht verachtet; wo man kultiviert ist ohne Hochmut und schlicht ohne Rüpelhaftigkeit […].«21

DIE NATURNÄHE ALS WICHTIGER BESTANDTEILDER ERZIEHUNG Bei der Planung und Gestaltung des Schulgebäudes wurde nichts dem Zufall überlassen. Die Lage in einem der Wiener Außenbezirke, in der Nähe der Grinzinger Weinberge und des Wienerwaldes, aber gleichzeitig mit Blick auf die Stadt, war von praktischer und symbolischer Bedeutung. Prer-

18 Vgl. P. v. Preradović: Ein Jugendreich, S. 20. 19 R. Vospernik: Paula von Preradović, S. 117. 20 P. v. Preradović: Ein Jugendreich, S. 20. 21 Ebd.

220 | Michael Sobczak

adović führt zur Lage und Architektur der Schule die Worte des steirischen Lehrers und Buchautors Franz Maria Kapfhammer an, der in seinem Beitrag für die Zeitschrift Neuland Folgendes schreibt: »Die Siedlung hat Landschaft um sich. Ihr Bau und ihr tägliches Leben fügt [sic!] sich in ihren natürlichen Rhythmus. Das gibt die Geborgenheit und Umschlossenheit, wie sie reifende [sic!] Menschen notwendig ist und wie sie die unorganische Großstadt nicht hat. […] Der Wald und die Aecker und Weingärten müssen die Siedlung behüten: Naturverbundenheit, die eine Erneuerungsschule nicht entbehren kann. Aber die Großstadt ist der Lebensboden der Kinder, in den sie wieder zurückkehren werden, freilich mit der Kraft neuer Menschen. So hoffen wir.«22

Da die Erziehung der Jugendlichen zum bewussten und aktiven Leben in der modernen Gesellschaft das eigentliche Ziel des Vorhabens sei, dürfe die Schule nicht außerhalb der Stadt liegen. »Das ist die große Probe der Schulsiedlung, ob sie zum Leben der Gegenwart erzieht und zur Gemeinschaft mit den Menschen außerhalb der Siedlung [...]«23, bemerkt Kapfhammer. Preradović hingegen äußert sich über die Rolle der landschaftlichen Umgebung wie folgt: »Wenige Dinge vermögen so sehr den Menschen zu formen, wie [...] immer wieder gesehene Landschaft. […] Werdenden Menschen, die täglich wieder diese Landschaft sehen, […] ist etwas sehr Wesentliches und Kostbares geschenkt. […] [W]o irgend künstlerische Veranlagung schlummert, dort wird durch dies tägliche Schauen gestillter Schönheit fruchtbare Saat gesät.«24

Die Schulsiedlung verfügte über einen Garten, der von den Jugendlichen gepflegt wurde. Sie arbeiteten auch in der Werkstatt, wo u.a. Kleinmöbel und andere Einrichtungsstücke für die Schule hergestellt wurden. Beiden Tätigkeitsbereichen maß man eine erzieherische Bedeutung bei. Die Schü-

22 Kapfhammer, Franz Maria: »Die Schulsiedlung«, in: »Neuland. Blätter jungkatholischer Erneuerungsbewegung«, 9. Jahrgang, Folge 3, März 1932, S. 49-53, hier: S. 52. [Hervorhebungen im Original] 23 Ebd. 24 P. v. Preradović: Ein Jugendreich, S. 16-17.

Das Bildungs- und Erziehungsmodell des ›Bundes Neuland‹ | 221

ler sollten für organisches Wachstum, Produktivität, gegenseitige Zusammenarbeit und Ästhetik sensibilisiert werden. In der Erziehung setzte man somit drei Schwerpunkte: die ›Besinnung auf das Ich‹ (Anregung zur Selbsterziehung und Selbständigkeit), die ›Besinnung auf das Du‹ (Festigung der Kameradschaft) und die ›Besinnung auf die Umgebung‹ (Produktionserziehung).25 Der ›neue Mensch‹ sollte aus der Einheit mit der Kirche einerseits und mit der Natur andererseits entstehen.26 Das Wandern und der Kontakt mit der Natur zogen eine Prägung der Lebensgestaltung der neuländischen Jugend nach sich, die auch in Kleidung (Schnürschuhe, Wanderkittel) und Haartracht zum Ausdruck kam.27 Jedes Jahr verbrachten die Schüler mit ihren Lehrern mehrere Wochen auf dem Land.28 Man veranstaltete Ausflüge. Ziel war es, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken und den Kontakt mit der Natur zu intensivieren. Das Wandern übernahm der Bund als Programmprinzip von der Jugendbewegung ›Wandervogel‹.29 Für die Neuländer ver-

25 Vgl. R. Vospernik: Paula von Preradović, S. 123. 26 Vgl. Gudrun Danzer/Christa Steinle (Hg.): Rudolf Szyszkowitz: 1905-1976, Wien (u.a.) 2006, S. 37. 27 Vgl. ebd. 28 Preradović beschreibt den Aufenthalt einer Gruppe junger Neuländerinnen auf der unbewohnten Burg Plankenstein bei Scheibbs in Niederösterreich im Juni 1925, also noch vor der Schulgründung. Zwölf Mädchen und ihre zwei Lehrerinnen, Anna Ehm und Josefa Grois, richteten sich ein Leben »nach dem Geiste Neulands« (P. v. Preradović: Ein Jugendreich, S. 7) ein, das durch »gemeinsames Gebet, gemeinsame Arbeit, wechselseitige Liebe und Duldung, beglücktes Leben in der Natur, herbe, stilvolle Gestaltung der Umwelt« (ebd.) geprägt war. 29 Die »Wandervogelbewegung« wurde 1901 in Steglitz bei Berlin von jungen Menschen gegründet, die nach einer neuen, unabhängigen, antibürgerlichen sowie von Einfachheit und Naturverbundenheit geprägten Lebensform suchten. Lagerleben, Wanderungen und Begeisterung für Volkskultur (Tanz und Musik) gingen mit der Ablehnung von Spießertum und Kommerz einher. Kritische Positionen gegenüber der Kultur der Weimarer Republik waren in der Bewegung keine Seltenheit. (vgl. Scriba, Arnulf: »Die Wandervogelbewegung«, in: LeMO – Lebendiges Museum Online, https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarerrepublik/alltagsleben/wandervogelbewegung.html vom 11.11.2014.)

222 | Michael Sobczak

anschaulichte es die Möglichkeit des Menschen, mit dem Göttlichen in Beziehung zu treten, indem er es in seiner Welt sieht und aufnimmt.30 Zwar lehnte man einen übertriebenen Individualismus ab, betonte jedoch die Selbständigkeit der Person. Eine derartige Auffassung des Verhältnisses von Person und Gemeinschaft findet man in den Lehren Romano Guardinis (1885-1968), der im deutschen katholischen Jugendmilieu aktiv war. Der Theologe vertrat die Meinung, dass Distanz für das Gelingen einer Gemeinschaft unabdingbar sei und eine christliche Gemeinschaft nie die Selbstaufgabe der Person fordern dürfe. Sie sei dazu verpflichtet, dem Geheimnis der Persönlichkeit mit Ehrfurcht zu begegnen. Der einzelne Mensch sei zwar Glied des Ganzen, doch als eigenständige, in sich ruhende Person sei er nie nur Glied.31 Der ›neue Mensch‹ müsse fähig sein, autonom zu denken und zu handeln sowie das Böse vom Guten zu unterscheiden.32

ZURÜCK ZU DEN URCHRISTLICHEN WERTEN Träger des ›Bundes Neuland‹ war der Mittelstand, doch die Schule nahm Kinder und Jugendliche aus allen gesellschaftlichen Schichten auf. Da man besonderen Wert auf eine klassenübergreifende Solidarität legte, spielte die Herkunft der Kandidaten keine Rolle. Die Erste Republik erlebte in jener Zeit immer wieder politische Unruhen, die aber – dank des Engagements der Lehrkörper – das Leben der Schule nicht beeinträchtigten. »Wir kennen in unseren Tagen leider viele Kategorien erbitterten Hasses. Groß ist neben Klassen- und Völkerhaß und dem Klassenkampf und -haß in seiner krassen Form aber auch das Mißtrauen und Abneigung der […] Gesellschaftsschichten«33, schreibt die Autorin. Sie führt weiter aus:

30 Vgl. Danzer/Steinle (Hg.): Rudolf Szyszkowitz, S. 37. 31 Vgl. Baumgartner, Alois: »Die Auswirkungen der liturgischen Bewegung auf Kirche und Katholizismus«, in: Anton Rauscher (Hg.): Religiös-kulturelle Bewegungen im deutschen Katholizismus seit 1800, Paderborn/Wien (u.a.) 1986, S. 121-136, hier: S. 129. 32 Vgl. R. Vospernik: Paula von Preradović, S. 117. 33 Preradović: Ein Jugendreich, S. 14.

Das Bildungs- und Erziehungsmodell des ›Bundes Neuland‹ | 223

»Wenn es gelingen könnte, […] eine Jugend emporzuführen, deren einheitlich modern geläuterter Geschmack, deren naturnahe Gewohnheiten den Söhnen und Töchtern verschiedener Kreise gemeinsam wäre, so würde dadurch nicht nur der Hebung des Kulturniveaus des ganzen Volkes ein Weg gewiesen, es würde mitgeholfen, durch verstehende Liebe die Schichten des Volkes einander näher zu bringen und trennende Mauern fortzuräumen […].« 34

Die »beschränkte, kleinmütige Gesittung«35, die »spießbürgerliche Geschmacklosigkeit«36 und »das generationenlange Verweilen im unproduktiven, überladenen, richtungslosen Unstil der Kleinbürgerlichkeit«37 wurden als ein Erbe der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts betrachtet und – als unvereinbar mit den Werten des ›Bundes Neuland‹ – bekämpft. Neben anderen katholischen Jugendorganisationen war der ›Bund Neuland‹ Teil der »liturgischen Bewegung«38 – der Wegbereiterin der Liturgiereform39 des Zweiten Vatikanischen Konzils.40 Schon in den Dreißigerjahren

34 Ebd. 35 Ebd., S. 13. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Die »liturgische Bewegung« existierte in der römisch-katholischen Kirche seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihr Ziel war die Erneuerung und Vertiefung des Verständnisses der Liturgie unter den Gläubigen. Neben der Heranziehung von Laien sowie der eucharistischen Frömmigkeit spielte die Liturgie, die aus der Begegnung mit dem benediktinischen Geist heraus rezipiert wurde, eine besondere Rolle. (vgl. Anton Rauscher (Hg.): Religiös-kulturelle Bewegungen im deutschen Katholizismus seit 1800, Paderborn/Wien [u.a.] 1986, S. 59-60.) Durch die Reformen unter den Päpsten Pius X. und Pius XII., vor allem aber durch das Dekret über die Liturgie des Zweiten Vatikanischen Konzils, fand die »liturgische Bewegung« ihre Bestätigung (aktive Einbindung der Laien in die Gestaltung der Liturgie, Kelchkommunion, Lektorendienste u.a.) (vgl. »Liturgische Bewegung«, in: kirchensite.de, http://kirchensite.de/aktuelles/kirche-von-abis-z/l/liturgische-bewegung vom 11.11.2014.). 39 Der wichtigste Grundsatz der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils war die bewusste, tätige und leicht zu vollziehende Teilnahme der Gläubigen (conscia, actuosa et facilis participatio fidelium) an den Gottesdiensten. Der

224 | Michael Sobczak

richtete man die Schulkapelle so ein, wie das in den meisten römischkatholischen Kirchen erst viel später getan wurde. Um allen Schülern und Lehrern eine bewusste und tätige Teilnahme an den Gottesdiensten zu ermöglichen, wurde die Kapelle »[…] nach dem Muster urchristlicher Kirchen erbaut, der steinerne Altartisch steht frei im Raum, der Priester zelebriert mit dem Gesicht zur Gemeinde; bei den Schulgottesdiensten umsteht die Kinderschar im Halbkreis die heilige Feier […]«.41 Der ›Bund Neuland‹ entwickelte sogar seine eigene Formensprache in der Sakralarchitektur, die durch Klarheit und Einfalt geprägt war.42 Man verzichtete auf überflüssige Dekoration, das Licht wurde zum wesentlichen Gestaltungselement. Der Altar stand immer im Mittelpunkt des Raums.43

EIN ZEITTYPISCHES BILDUNGS- UND ERZIEHUNGSMODELL Der Essay Ein Jugendreich beschreibt ein Bildungs- und Erziehungsmodell, das sich in der Zeit, in der es umgesetzt wurde, wachsender Popularität erfreute. Die Erziehungsphilosophie des ›Bundes Neuland‹ wurzelte in der

Priester feierte die Messe in der Sprache der Gläubigen, an einem neu errichteten »Volksaltar« – mit dem Gesicht zu Altar und Gemeinde gewandt (versus populum), anstatt wie vorher zur Apsis (versus apsidem). Infolge der Reform mussten die meisten Kirchen umgebaut werden, wobei oft die Altarschranken entfernt wurden. Manchmal verlegte man den Altar in die Mitte der Kirche, die Bänke wurden kreis- oder halbkreisförmig angeordnet. (vgl. Bieritz, KarlHeinrich: Liturgik, Berlin 2004, S. 517-536.) 40 Eine führende Rolle innerhalb der »liturgischen Bewegung« in Deutschland spielten die Jugendverbände »Bund Neudeutschland« und »Quickborn« (vgl. Ruppert

Godehard:

»Quickborn«,

in:

Historisches

Lexikon

http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44790

Bayerns,

vom 11.11.

2014.). 41 Preradović: Ein Jugendreich, S. 18. 42 Vgl. Danzer/Steinle (Hg.): Rudolf Szyszkowitz, S. 37. 43 Clemens Holzmeister, der Erbauer der Neulandschulsiedlung in Döbling, gilt als einer jener Architekten, die eine Kirchenarchitektur im Sinne jener Erneuerungsbestrebungen schufen. (vgl. ebd.)

Das Bildungs- und Erziehungsmodell des ›Bundes Neuland‹ | 225

reformpädagogischen Theorie. Ein harmonisches Zusammenleben, die Milderung sozialer und politischer Antagonismen, die Förderung klassenübergreifender Solidarität, das Eintreten gegen die Laster der bürgerlichen Welt, die Ablehnung jeglichen ideologischen Fanatismus, die Herausbildung einer selbständigen und tätigen Lebenshaltung sowie die Förderung eines modernen Katholizismus gehörten zu den wichtigsten Erziehungsprinzipien der Neulandschule. Trotz seines Entwicklungspotenzials hatte das Konzept aus verschiedenen Gründen auf das österreichische Schulwesen wenig Einfluss.44 Unter den Schülern und Mitgliedern der Bewegung fanden sich viele, die im antinationalsozialistischen Widerstand tätig waren und die nach 1945 das politische, gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Leben der Republik Österreich prägten. Zu den bekanntesten gehörten Joseph Ernst Mayer, Otto Mauer, Ida Friederike Görres, Felix Hurdes und Fritz Molden. Die Bildungs- und Erziehungstätigkeit des ›Bundes Neuland‹ wird bis heute fortgesetzt. In den Wiener Gemeindebezirken Döbling und Favoriten existieren drei Neuland-Schulzentren. Sie umfassen Kindergärten, Volksschulen, Mittelschulen, Gymnasien, Musikschulen, Tagesheime und Horte.45

LITERATUR Baumgartner, Alois: »Die Auswirkungen der liturgischen Bewegung auf Kirche und Katholizismus«, in: Anton Rauscher (Hg.): Religiöskulturelle Bewegungen im deutschen Katholizismus seit 1800, Paderborn/Wien (u.a.) 1986, S. 121-136. Bieritz, Karl-Heinrich: Liturgik, Berlin 2004, S. 517-536. Danzer, Gudrun/Steinle, Christa (Hg.): Rudolf Szyszkowitz: 1905-1976, Wien (u.a.) 2006. Eichelbeger, Harald/Laner, Christian/Kohlberg, Wolf Dieter/Stary, Edith und Stary, Christian: Reformpädagogik goes eLearning: Neue Wege zur

44 Vgl. Engelbrecht, Helmut: Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs, Band 5: Von 1918 bis zur Gegenwart, Wien 1988, S. 124. 45 Vgl. Website der Neulandschulen, http://www.nls.at/vom 30.01.2017.

226 | Michael Sobczak

Selbstbestimmung von virtuellem Wissenstransfer und individualisiertem Wissenserwerb, München/Wien 2008. Engelbrecht, Helmut: Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs, Band 5: Von 1918 bis zur Gegenwart, Wien 1988. Godehard, Ruppert: »Quickborn«, in: Historisches Lexikon Bayerns, http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44790 vom 11.11.2014. Kapfhammer, Franz Maria: »Die Schulsiedlung«, in: Neuland. Blätter jungkatholischer Erneuerungsbewegung, 9. Jahrgang, Folge 3, März 1932, S. 49-53. Kapfhammer, Franz Maria: Neuland. Erlebnis einer Jugendbewegung, Graz (u.a.) 1987, S. 179-233. »Liturgische Bewegung«, in: kirchensite.de, http://kirchensite.de/aktuelles/ kirche-von-a-bis-z/l/liturgische-bewegung/ vom 11.11.2014. Preradović, Paula von: Ein Jugendreich. Die Neuland-Schulsiedlung in Grinzing-Wien, Wien 1937. Rauscher, Anton (Hg.): Religiös-kulturelle Bewegungen im deutschen Katholizismus seit 1800, Paderborn/Wien (u.a.) 1986, S. 47-98. Reinhold, Ludwig: »Die christlich inspirierten Jugendorganisationen in Österreich«, in: Isabella Ackerl, Rudolf Neck (Hg.): Geistiges Leben im Österreich der Ersten Republik. Auswahl der bei den Symposien in Wien vom 11. bis 13. November 1980 und am 27. und 28. Oktober 1982 gehaltenen Referate, Wien 1986, S. 313-330. Schmitz-Stuhlträger, Kerstin: »Das Recht auf christliche Erziehung im Kontext der Katholischen Schule. Eine kanonistische Untersuchung unter Berücksichtigung der weltlichen Rechtslage«, in: Kirchenrechtliche Bibliothek. Herausgegeben von Libero Gerosa und Ludger Müller, Band 12, Berlin (u.a.) 2009. Scriba, Arnulf: »Die Wandervogelbewegung«, in: LeMO – Lebendiges Museum Online, https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/ alltagsleben/wandervogelbewegung.html vom 11.11.2014. Vospernik, Reginald: Paula von Preradović. Leben und Werk, Dissertation, Wien 1960. Website der Neulandschulen, http://www.nls.at/ vom 30.01.2017.

Das Bildungs- und Erziehungsmodell des ›Bundes Neuland‹ | 227

Wolf, Karl: Lectio Valedictoria: »Rückschau und Ausblick«, in: Ders.: Biopädagogik. Reden, Aufsätze, Abhandlungen. Herausgegeben von Monika Rothbucher und Gerhard Zecha, Wien (u.a.) 2012, S. 9-19.

Im Wendekreis der Repräsentation Über Kollektivsubjekte und Subjektkollektive bei Daniel Defoe und Alexander Kluge Metin Genç

I. Literatur inkorporiert und dokumentiert nicht nur die Strategien, Rituale und Formeln, mit denen Einzelne zu individuellen Trägern von Kollektiven auserkoren werden. Sie ist auch in die Genese und Etablierung dieser Trägerschaft des Individuums und damit in die ständige (Neu-)Bestimmung des Verhältnisses von Einzelnem und Gruppe, Nation, Staat, Gesellschaft involviert. Noch im 19. Jahrhundert ist das mit der bürgerlichen Neuzeit eingeschleppte Dilemma der Literatur, sich im Spannungsfeld zwischen individualistischen und kollektivistischen Ideologien positionieren zu müssen, nicht im Geringsten weniger virulent. Hatte das 18. Jahrhundert noch die Differenz von Individuum und Gesellschaft aus dem anthropologischen und geschichtsphilosophischen Aufklärungsprojekt einer neuen Subjektivität abgeleitet, so erfährt das Subjekt im Zeitalter von Liberalismus und Kommunismus die gesteigerte Virulenz der Paradoxie, in einer Welt der Permanenz und Ubiquität von sozialen Instruktionen und Ordnungspostulaten sich selbst als Differenz zu eben diesen Instruktionen zu entwerfen und so das Individuelle seiner Individualität zuallererst behaupten zu müssen. Für den Menschen als einzige diskursive Referenz und kommunikative Adresse dieser Individualität ist das wiederum der Punkt, an dem er seine Medialität, sein grundlegendes Medium-Sein erfährt. Die Immanenz des Kollektiven verschärft das Problem nur noch, da sie die Medialität des Men-

230 | Metin Genç

schen mit Mannigfaltigkeit auflädt: Einerseits ist der Mensch Medium von Individualität, insofern der Einzelne dasjenige Element darstellt, das das Kollektiv mit irritativer Emergenz versorgt und das dieses bei Bedarf als seine Umwelt begreifen kann; andererseits ist der Diskurs angewiesen auf die Möglichkeit des Einzelmenschen, sich von seiner Individualität zu entfremden, damit der Einzelne überhaupt als Medium der Repräsentation von Kollektiven fungieren und Gesellschaft symbolisieren kann, ohne damit schon explizit auf Individualität als sozialen Wertkomplex verzichten zu müssen. Als »Menschmedium«1 muss der Einzelne daher funktionssynkretistisch gedacht werden. Diese Funktionen sind als Matrix in den einzelnen wie den sozialen Körper eingeschrieben in Form von Gesetzen, Prinzipien und kodierten Handlungen. Aufgrund des zirkulären Konstitutionsverhältnisses von Kollektivität ausagierendem Individuum einerseits und Individualität in soziale Realität überführender Gesellschaft andererseits muss jedes Vorhaben, einen der Konstitutionspole auszuklammern, als Zumutung erscheinen. Eine Strategie, dieses Problem zu umgehen, besteht darin, an beiden Polen Pluralität einzuführen, mit dem Ergebnis, dass das Kollektiv als »plurales Subjekt«2, das Individuum wiederum als plurales Selbst gedacht werden kann.3 Diese Entdifferenzierung durch Pluralisierung manifestiert sich insbesondere literarisch in jener das Kollektiv verkörpernden »Glanzstück-Version des Menschen«4, wie sie die Robinsonaden in Form von »Geschichte[n] des Menschen im Kleinen«5 auf die diskursive Bühne führen.

1

Faulstich, Werner: Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700-1830), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 62.

2

Gilbert, Margaret: »Plurale Subjekte: Ein Simmelscher Ansatz«, in: Zeitschrift

3

Vgl. Alkemeyer, Thomas/Bröckling, Ulrich: »Jenseits des Individuums«, in:

für Kulturphilosophie 9 (2015) H. 1, S. 121-142, hier: S. 140. Thomas Alkemeyer/Ulrich Bröckling/Tobias Peter (Hg.), Jenseits der Person. Zur Subjektivierung von Kollektiven, Bielefeld: transcript 2018, S. 17-32. 4

Luhmann, Niklas: »Individuum, Individualität, Individualismus«, in: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 149-258, hier: S. 179.

5

Wezel, Johann Carl: Robinson Krusoe. 2. Aufl., Berlin: Rütten u. Loening 1990, S. 9.

Im Wendekreis der Repräsentation | 231

Im Folgenden soll am Beispiel von Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) eine modellbildende Struktur der Verkörperung des Kollektivs durch das Individuum rekapituliert werden. Hieran schließt ein Abschnitt zu Alexander Kluges Dispensierung dieses Verkörperungsparadigmas an.

II. Eine zeitgenössisch bereits wirkmächtige und bis heute populäre ›Glanzstück-Version‹ des Menschen ist der autodiegetische Erzähler Robinson Crusoe im gleichnamigen, als Tagebuch konzipierten, vom Vorwort eines fiktiven Herausgebers und der resümierenden, quasi rezeptionsdidaktischen Leseransprache Robinsons eingeleiteten Roman von Daniel Defoe. Der Text ist in poetischer Hinsicht zeitlich wie konzeptuell der Prototyp der ›Robinsonade‹, jener in der Folge paradigmatischen literarischen Isolationskonstellation, in der der Einzelne als Inkorporation der sozialen Anleitung zur Selbstmodellierung figürlich wird. Defoes Robinson Crusoe kann in kulturpoetischer Hinsicht aber auch gelten als Gründungsakt(e) einer spezifisch konturierten literarischen Potenz, die Selbstdeutung des Einzelnen als Subjekt zu entwerfen und zur Schau zu stellen. Daher interessieren sich die Adaptionen des Stoffs in der Folge weniger für die fiktivautobiographische Tagebuchpoetik als vielmehr für das Selbstmanagement der Figur Robinson. Von hier läuft schließlich eine wichtige Linie der Wirkungsgeschichte des Romans in die Sphäre der bürgerlich-pädagogischen Produktion von Leitbildern gelungener Subjektentwicklung, etwa bei JeanJacques Rousseau (Émile [1762]), Joachim Heinrich Campe (Robinson der Jüngere [1779/80]) und Johann Carl Wezel (Robinson Krusoe [1779]).6 Die Rekapitulation von Plot und Setting des Romans kann sich an dieser Stelle auf das Wesentlichste, für das perspektivische Interesse Dienliche beschränken: Getrieben von der endogenen Unruhe bürgerlicher Adoleszenz und den Vorboten eines expansiven Merkantilismus, zieht es den naturalisierten Londoner Kaufmannssohn Crusoe in die kolonialen ›Wertschöpfungsparadiese‹ in Übersee. Nach Gefangenschaft und Bankrott wird Ro-

6

Vgl. zur Geschichte der zahlreichen Adaptionen im 18. Jahrhundert die Anthologie von Haken, Johann C. L.: Bibliothek der Robinsone. In zweckmässigen Auszügen, Berlin: Unger 1805ff.

232 | Metin Genç

binson schließlich Landbesitzer. Beim Unterfangen, zum Zwecke der Profitmaximierung für seine Plantagen Sklaven zu kaufen, erleidet er Schiffbruch und lebt zunächst 24 Jahre solitär und weitere Jahre mit seinem ›Diener‹ Freitag auf einer Insel, bevor er letztlich aufgrund glücklicher Fügungen, vor allem aber aufgrund providenziellen Kalküls, als wohlhabender Kolonialunternehmer zurückkehrt. Dabei stehen die Zeichen für die Behauptung von Individualität bei Crusoe nicht gut: Seine soziale Adresse, der Nachname Crusoe, ist Ergebnis einer verzerrenden (corruption) Anglisierung des autochthonen Familiennamens Kreuztnaer, wodurch bereits signalisiert ist, dass das Subjekt nominell gemäß dem Adressierungshabitus des übergeordneten Kollektivs registriert ist. Der Text lässt – durch eine Volte (oder Unsicherheit?) des autodiegetischen Erzählers – offen, ob diese Neubenennung, diese neue soziale Adresse genuin auf einen selbst- oder einen fremdreferentiellen Akt zurückgeht: »but by the usual corruption of words in England, we are now call’d, nay we call our selves and write our name Crusoe.«7 Die durch das Negationspartikel »nay« eingebrachte Korrektur, die Crusoe vornimmt, bringt gleich zu Beginn der Diegese die Hierarchie von Fremdbezeichnung und Selbstbezeichnung ins Spiel, in der das Individuum Robinson verortet wird. Zwischen Makrokollektiv ›Gesellschaft‹ und Mikrokollektiv ›Familie‹ aufgeteilt, bleibt ihm darüber hinaus aber auch ein individuierendes Funktionszeichen mittels Eigennamen verwehrt. Denn während der Nachname ›Crusoe‹ auf die Verankerung im Kollektiv der väterlichen Familie verweist, dient ihm der Familienname mütterlicherseits (Robinson) als Vorname, sodass eine Individuation über die Komposition von Allgemeinem (Familienname) und Besonderem (Vorname) auf der Ebene der namentlichen Signifikation ausbleibt. Wenn der fiktive Herausgeber in seinem Vorwort die Exzeptionalität des Individuums Robinson und seiner Geschichte hervorhebt: »If ever the story of any private man’s adventures in the world were worth making publick, […] the editor of this account will think this will be so«8, dann steht dagegen zumindest die Adressierung des ›private man‹ Robinson Crusoe als Kollektivsubjektivität.

7

Defoe, Daniel: Robinson Crusoe. Hg. von John J. Richetti, London: Penguin 2003, S. 5.

8

Ebd., S. 3.

Im Wendekreis der Repräsentation | 233

Die Faszination für Defoes fiktionales Tagebuch dieses Crusoe, das als »Inauguraltext für den neuzeitlichen Roman des Individuums«9 gelten kann, dürfte nicht allein zurückzuführen sein auf das Nebeneinander von exotistischer Spannungsstruktur und paratextuellen Beteuerungen, der vorliegende Text sei nicht-fiktional durch und durch und daher in allen Belangen belastbar. In hohem Maße anschlussfähig ist vielmehr die insulare Privatisierungskonstellation, in der der Einzelne sich angesichts der Isolationssituation mühevoll behaupten und zugleich aufgrund der Verfügbarkeit von Schrift (weniger mühevoll) als Subjekt des Erlebens beschreiben und dabei als erzählendes/berichtendes Subjekt entwerfen kann, dem es dann obliegt, dieses Erleben selbstreflexiv zu bilanzieren und zirkulär wieder in die Kalkulation des Mehrwerts künftiger eigener Handlungen einzuspeisen. Was sich bei Defoe als existenziell motivierte Steigerung der Sorge um das Selbst in Verbindung mit deren Buchführung qua diarischer Dokumentation inszeniert findet, diskutieren zeitgenössische Anthropologie und Geschichtsphilosophie in einem anderen semantischen Register. Die Diskurse der Aufklärung gehen dazu über, Individuum und Makrokollektiv in synchroner Interdependenz zu denken und zugleich beiden aufzuerlegen, diese Interdependenz nur insofern auch als Differenz zu behandeln, als bereits Möglichkeiten der Kompensation dieser Differenz bereitstehen, etwa in Form der prominenten Denkfigur der ›Perfektibilität‹.10 In ihr kulminiert die entscheidende Verquickung von Anthropologie und Geschichtsphilosophie, mit der das Problem der Subjektivität zumindest teilweise entschärft werden sollte. Weil Selbstbestimmung als Wesenszug des aufgeklärten bürgerlichen Subjekts wie auch die Steigerungsfähigkeit von Gesellschaft nunmehr als Prozess entworfen werden, bleibt die Utopie einer Einheit und Ganzheit, in der Individuum (das Besondere) und Gesellschaft (das Allgemeine) sich gleichermaßen aufgehoben finden, in die Zukunft ausgelagert,

9

Honold, Alexander: »Das Glück des Schiffbrüchigen«, in: Weimarer Beiträge 47 (2001) H. 2, S. 165-186, hier: S. 167.

10 »Betrachten wir nur die Welt; Sittlichkeit soll ihr Gesetz seyn, Sinnlichkeit das Mittel, Vollkommenheit ihr Zweck. […] Wie kann der Mensch, ist nun die Frage, diese Gesetze kennen lernen? Die Antwort gibt ihm die Natur«, heißt es etwa bei Eckartshausen, Karl von: Ueber die Perfektibilität des Menschengeschlechtes und die nahe Vollendung der Erwählten, Leipzig: Gräff 1797, S. 4 und 6.

234 | Metin Genç

gleichsam potentialisiert.11 Mit dieser Potentialität treten auch die Leistungen der Literatur auf den Plan, die eine Vielzahl Textkörper produziert, die sich nicht nur als Repräsentationen (Materialisierung), sondern auch als Akte der Gestaltung (Diskursivierung) dieser Potentialität begreifen. Der Versuch, dieses Gestaltungspotential der Potentialität epistemologisch zu fassen, führt schließlich in jenen Komplex aus Erkenntnistheorie und Kunstpraxis, der in der Disziplin der Ästhetik gebündelt wird. Selbstvervollkommnung bleibt als Kategorie allerdings zweifach problematisch, denn die Selbstvervollkommnung des Individuums ist nicht zu denken ohne die ständigen Irritationen, die es aus seiner kollektiven Umwelt erfährt und bearbeiten muss,12 und umgekehrt bleibt die Mimesis der Selbstvervollkommnung des Kollektivs (›Gattung Mensch‹, ›Menschengeschlecht‹, Staat, Nation, Kultur) vor dem Hintergrund der individuellen Formen von individueller Vervollkommnung darauf angewiesen, die Differenz Gesellschaftsroman/Subjektroman ästhetisch zu bearbeiten.13 Defoe umschifft diese Differenz handlungsstrukturell durch die Segmentierung der Inselzeit in zwei wesentliche Phasen: zunächst die 24jährige Phase der Individualisierung, die Defoe im Differenzschema ohne die andere Seite, die Seite des Intersubjektiven, im ersten Teil seines Romans absteckt. In diese Phase fällt primär die Gestaltung und Bewältigung

11 Vgl. hierzu und zum Individuum als »Parasit der Differenz von Allgemeinem und Besonderem« N. Luhmann: Individuum, S. 206-208. 12 Vgl. zur Begriffstradition von ›Selbstvervollkommnung‹ im Hinblick auf die Kompensationsgeschichte des erwähnten Irritationsproblems etwa Zöller, Günter: »Die Bestimmung der Bestimmung des Menschen bei Mendelssohn und Kant«, in: Volker Gerhardt/Rolf-Peter Horstmann/Ralph Schumacher (Hg.), Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen KantKongresses. Bd. 4, Berlin: De Gruyter 2001, S. 476-492. 13 Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (1731-1743) ist ein einschlägiges Beispiel für die Möglichkeiten der Literatur, die ›gesellschaftsexterne‹ Entfaltung von Kollektivpotentialen innerhalb der Differenz von Individuum und Gesellschaft durchzuspielen und durch die Pluralisierung von Isolationsbiographien ästhetische Komplexität zu generieren. Vgl. hierzu Stockinger, Ludwig: Ficta respublica. Gattungsgeschichtliche Untersuchungen zur utopischen Erzählung in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts, Berlin: De Gruyter 1981, S. 434–449.

Im Wendekreis der Repräsentation | 235

der Einsamkeit als Bewährungsprobe für die inkorporierten politischen Tugenden (territoriale Souveränität, oikos, Autonomie). Daran schließt – mit dem Auftauchen Freitags – die Phase der Kollektivierung an, die erst ansteht, nachdem Robinson – wie Karl Marx in Das Kapital zur Verkörperungsleistung der Robinsonaden für die politische Ökonomie schreibt – die Einheit der »Verschiedenheit seiner produktiven Funktionen« stabilisiert hat; die »Betätigungsformen desselben Robinson«14 sind dann bereits seine Bestätigungsformen. In der ersten ungleich längeren Phase verkörpert Robinson die Utopie/Paradoxie einer funktionalen Sozialstruktur ohne Sozialität, denn erst in ausreichender und langwieriger Distanz zu Sozialität können sich die Potentiale seiner Sozialisation effektiv entfalten: Die endogene Unruhe, die das Subjekt Robinson in die Ferne treibt, signalisiert zwar eine Präferenz für die Unsicherheit, für Variation und für das Neue im Gegensatz zum Festen, Sicheren, Beständigen – aber die langfristige Zeitperspektive der Einsamkeit, die Robinsons Dilemma, dass er es zum ersten Mal nur mit sich selbst zu tun hat, auf immerhin 24 Jahre streckt, stellt genau jenes Isolationsexil zur Verfügung, in dem einerseits kulturelles Wissen in Praktiken transformiert und andererseits durch Sozialisation determinierte Subjektbildung in die Entfaltung von Kollektivpotentialen überführt werden kann. In der zweiten Phase ist Robinson dagegen konzipiert als Blaupause der Entwicklungspotentiale bürgerlicher Subjektivität, die weniger im Hinblick auf die Isolationssituation als vielmehr hinsichtlich der kolonialistischmerkantilistischen Vereinnahmung im Zuge der Etablierung einer Verfügungsmacht über Territorien und Menschen, mit Sendungsbewusstsein ausgestattet ist. So ist die Konstellation ›Robinson/Freitag‹ Miniaturmodell und zugleich Chiffre für die neue globale Verteilungsordnung, in der das Kollektiv der ›zivilisierten‹ Europäer auf die Kollektive des ›wilden‹ Menschen trifft. Der teils willentliche, teils unwillkürliche Ausstieg aus der Gesellschaft führt Robinson in die Dichotomie von Kolonisator und zu bekehrenden, für Arbeitszwecke zu erziehenden Anderen. Das puritanisch organisierte kulturelle Archiv des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, das Robinson mit sich führt, erlaubt abseits der Diskurse und Kommunikation mit dem eigenen Kollektiv nicht nur erfolgreiche Selbstbehauptung. Es leistet

14 Marx, Karl: »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie« (Marx Engels Werke Bd. 23), Berlin: Dietz 1989, S. 91.

236 | Metin Genç

jenseits der Modi der Selbstidentifikation genau jene Selbstverstärkung, mit der bereits im Moment der Kollektivierung durch das Auftauchen Freitags die Hierarchie der Subjektverhältnisse markiert wird. So gerät etwa der Akt der Rettung des ›Wilden‹ aus den Händen von ›Kannibalen‹ rhetorisch zum Tauschgeschäft, in dem der Retter den Geretteten aus dessen Hand ›erwirbt‹: »I smil’d at him, and look’d pleasantly, and beckon’d to him to come still nearer; at length he came close to me, and then he kneel’d down again, kiss’d the ground, and laid his head upon the ground, and taking me by the foot, set my foot upon his head; this, it seems, was in token of being my slave forever.«15

Diese kleine Szene, dieser Austausch gemeinschaftsstiftender Mitteilungen, die im Medium des Körpers realisiert und im Zeichensystem der Gesten artikuliert werden, reiht die sozialen Komplexe Dankbarkeit, Demut, Reziprozität/Tausch und Unterwerfung (subjection) derart fließend aneinander, dass die Inbesitznahme des Anderen und seine sukzessive Missionierung und ›Erziehung‹, innerhalb der Diskurslogik des Romans als auf Gabe und Gegengabe beruhende merkantilistische Handlungspraxis ausgeflaggt werden können. Robinsons selbstlose Hilfe und Freitags (für Robinson höchst nützliches) ›selbstbestimmtes‹ Selbstlos-Werden bzw. SelbstLoswerden repräsentieren innerhalb der Argumentationslinien und Legitimationsregister, mit denen die zeitgenössische kollektive Rede die Unterwerfung des Anderen diskursiv begleitet, die entscheidende Erweiterung der Differenz von Kollektiv und Individuum in die Sphäre global organisierter Vergemeinschaftung. Das solchermaßen universalisierte Projekt der Subjektformierung, dessen exzeptionelles Produkt der fiktive Herausgeber in Robinson erkannt und, hinter jenem stehend, Defoe mit seiner Figur entworfen zu haben glaubt, aktualisiert dabei die für die anthropologische und geschichtsphilosophische Fundierung kollektiver Subjektivation entscheidende Differenz von Naturzustand und Zivilisation. Im europäischen Kontext hatte man sich an der Frage aufgehangen, ob der Naturzustand ein Zustand der Freiheit und Gleichheit oder diesbezüglich defizitär war bzw. ob umgekehrt komplexe und hochgradig regelungsbedürftige Gesellschaften Freiheit und Gleichheit überhaupt erst politisch

15 D. Defoe: Robinson Crusoe, S. 161.

Im Wendekreis der Repräsentation | 237

generieren konnten oder ob kollektiv eingehegte Freiheit und Gleichheit nur defekte, korrumpierte, imaginäre Versionen originärer Naturformen sein konnten. Die dabei kursierenden Schemata sahen für die Möglichkeit genuiner individuierender Privation nur die Entfremdung von Gesellschaft vor, kollektivierende Subjektivation hingegen war an die kategoriale (nicht kategorische) Exklusion von Individualität als Bedingung minimalen Gesellschafszusammenhangs gebunden. Vor diesem Hintergrund zeichnet Defoes Robinson Crusoe eine diskursive Lösung vor, die in der Folge Programm wird: »Der Naturzustand wird […] räumlich in die Ferne verlegt«16, in die fremden Naturräume der/des Anderen. Man verspricht sich von diesem Export eine Entlastung des zivilisierten Subjekts, das sich mit Verweis auf den kolonisierten ›Naturmenschen‹ nun einen anderen Naturzustand nach der Natur imaginieren kann. De- und reterritorialisiert wird mit dem Duo aus Robinson und Freitag neben dem Schema Natur/Zivilisation aber auch das Wechselverhältnis von Subjektformierung (Diskurse und Praktiken der Fremdzuschreibung, -bestimmung und -normierung von Subjektivität) und Subjektivierungsweisen (Formen der Selbstwahrnehmung, -gestaltung und -deutung eigenen Subjekt-Seins). Der ehemals lediglich mit der Kompensation von Selbstsorge beschäftigte Robinson mausert sich autodidaktisch zum pädagogischen Virtuosen und bringt so Subjektformierung und Subjektivierungsweise in ein konkretes Zusammenspiel: Aufgrund seiner formierenden Sozialisation und im Rückgriff auf das ›Erziehungsmedium‹ Freitag kann sich Robinson nun als Subjekt entwerfen, welches sich dem Projekt der formierenden Subjektivation verpflichtet sieht, das unterworfene Subjekt Freitag darin zu unterweisen, im Modus der Assimilation – bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der kategorischen Differenz von Herr und Sklave/Diener – seinen Platz im Kollektiv ›selbstbestimmt‹ einzunehmen.17 Die Bewährung des auf sich selbst gestellten Einzelnen auf einer Insel wird in dieser Volte zur Bewährung des globalpädagogischen Projekts, das Defoe als Erfolgsgeschichte präsentiert. Hierauf zielt Robinsons ›erfolgreiche‹ praktische Umsetzung des für Subjektformierung hegemonialen bürgerlichen Macht/Wissen-Komplexes gegenüber dem

16 N. Luhmann: Individuum, S. 195. 17 Vgl. Zizek, Boris: Probleme und Formationen des modernen Subjekts. Zu einer Theorie universaler Bezogenheiten, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012, S. 125f.

238 | Metin Genç

Vertreter jener Subjektkollektive, denen ein ›normales‹, vermeintlich ›natürlich‹ wie ›rational‹ verbrieftes ›Maß‹ an Unfreiheit und Ungleichheit ›zugemutet‹ wurde. Bezeichnend ist nicht zuletzt, dass der Wertkomplex Kollektivität in dieser Umsetzung eine Zeitstruktur erfährt: Während das Minimalkollektiv aus Robinson und Freitag im Augenblick seiner Genese unter den Vorzeichen des Präkollektivs ›Herr und Sklave‹ geformt wird – das erste Wort, das Freitag lernt, ist das Wort »Master«, das Robinson als seinen eigenen Namen einführt18 –, verkörpert es zugleich in nuce das Projekt und die Projektion einer künftigen Pankollektivität, für die durch hegemoniale Standardisierung und Homogenisierung lebensdienliche Subjektformierung und funktionale Subjektivierungsweisen in Kongruenz gebracht werden müssen.19 Und es ist nicht zu übersehen, weil in der narrativen Logik angelegt, dass die diskursive Macht über das Ausagieren dieser Kongruenz und über Sinnstiftung bei Robinson liegt, der – ganz Repräsentant des dominanten Diskurses – das Herrschaftsverhältnis zwischen dem global ›Werte schöpfenden‹ bürgerlichen Subjekt und den Kollektiven inferiorisierter Subjekte als Erziehungsverhältnis inszeniert.20 Zwar verkörpert Freitag in erster Linie Subjektdifferenz, aber eben nicht Individualdifferenz. Weil er nicht ›taugt‹ als Adresse einer »individuellen Eigenart des Einzel-

18 Vgl. D. Defoe: Robinson Crusoe, S. 163: »I likewise taught him to say Master, and then let him know that was to be my name«. Diese Neubenennung ist Programm für alle Individuen im ›neuen‹ Kollektiv: Während sich Robinson durch die Bezeichnung ›Herr‹ seines aus zwei Familiennamen zusammengesetzten autochthonen Namens entledigt, der ihn als Element von Kollektiven markiert und seine Individualität peripher gesetzt hatte, erfährt Freitag die Entkopplung von seinem ›alten‹ Kollektiv dadurch, dass sein autochthoner Name übergangen wird zugunsten eines Gedenksignifikanten, der den Moment der Rettung, Unterwerfung und Benennung Freitags durch den Repräsentanten des globalformierenden Kollektivs in die soziale Adresse des zu Formierenden einschreibt: »I made him know his name should be Friday, which was the day I sav’d his life; I called him so for the memory of the time« (ebd.). 19 Die hier vorgenommene Unterscheidung in Prä- und Pankollektive folgt den Kollektivkategorien in Hansen, Klaus P.: Kultur und Kulturwissenschaft. 4., vollst. überarb. Aufl., Tübingen: Francke 2011. 20 Vgl. Großklaus, Götz: Das Janusgesicht Europas. Zur Kritik des kolonialen Diskurses, Bielefeld: transcript 2017, S. 53f.

Im Wendekreis der Repräsentation | 239

nen«21, mithin Subjekt ohne Eigensinn ist, gelingen die Subjektivationsroutinen Robinsons, mit denen Freitags Körper und Bewusstsein zugerichtet werden, ohne Rückschläge.22 Das Heldenhafte, das Exzeptionelle, das Robinson verkörpert, gerät letztlich zum Abziehbild exemplarischer Kollektivität.

III. Die poetische Programmatik und Schreibweise Alexander Kluges, dessen hypertextuelle (i.S. G. Genettes) De- und Rekontextualisierungen des Robinson-Paradigmas im Folgenden beleuchtet werden sollen, lässt sich beschreiben als Assemblage von Kommunikationen, als Spiel mit dem diskursiven Wuchern, als Montagepraxis, die Ereignisse, Erfahrungen, Imaginationen und deren Diskursivierungen in Miniaturen verdichtet, recycelt und medienübergreifend in je neue Verweiskonstellationen bringt. Die Themennetze, in die diese Miniaturen eingewoben sind, bieten über Ähnlichkeiten und Abweichungen, Parallelen und Kontraste ein spezifisches Gravitationsverhältnis und konstellatives Arrangement, innerhalb dessen Kluge vor allem auf Kommunikationsnarration setzt, sei es in Form dialogischer Interaktion zwischen Figuren, sei es als textübergreifende kommunikative Interaktion mittels intertextueller Referenzen und Repliken zwischen den einzelnen Miniaturen. Dass dadurch erzeugte mikrostrukturelle Erzählgerüst – die Miniaturen haben oftmals nur den Umfang einer Seite – erweist sich als textuelle Logi(sti)k, die gezielt ohne eine erzählerische Metaposition auskommt. Der Verzicht auf ein solch organisierendes Zentrum eröffnet erst jene für die Texte Kluges typische textinterne Interaktionssphäre, in der histoire, narration und discours vervielfältigt, transformiert und in unter-

21 N. Luhmann: Individuum, S. 207. 22 »(F)or never man had a more faithful, sincere servant than Friday was to me; without passions, sullenness or design, perfectly oblig’d and engag’d« (D. Defoe: Robinson Crusoe, S. 165). Bis auf die Schilderung von Angst- und Ekelaffekten bleibt die Körperlichkeit Robinsons hingegen weitgehend ausgespart. Dagegen steht der extreme Einfall des Somatischen durch die Insel betretende Kannibalen. Repräsentative Verkörperung steht hier gegen wortwörtliche Einverleibung.

240 | Metin Genç

schiedlichen poetischen und diskursiven Organisationsstufen zu- und gegeneinandergestellt werden. Das einzelne Symbolsystem ›Text/Miniatur‹ wird so eingelagert in ein simuliertes Sozialsystem, in dem Kommunikationsanschlüsse in Form von je neuen Kopplungen unterschiedlicher Textsorten und Medien (Erzählungen, Berichte, Protokolle, Interviews, historiographische Schilderungen, Fotografien, Zeichnungen, Filmstills, historische Dokumente) stattfinden.23 Mithin ist das credo dieses literarischen Programms nicht, Gesamtschau zu leisten. Stattdessen erfolgt die Zusammenführung fiktionaler, faktualer und kontrafaktischer individueller und kollektiver Wahrnehmungen, Erlebnisse und ›Realitäten‹, um im literarischen Modus jene »solidarischen Erkenntnisverfahren«24 zu ermöglichen, mit denen Individuen und Kollektive letztlich in ein Privation und Gemeinwesen austarierendes Verhältnis gesetzt werden sollen. Literatur kommt dabei die Funktion zu, Erweiterungen, Ergänzungen, Gegenentwürfe zu den Outputs »kulturelle[r] Erfahrungsarbeit«25 zu präsentieren. Ihr eignet – und hier bewegt sich Kluge im Fahrwasser der Ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos – das Potential der Potentialität: »Die Wirklichkeit der Kunstwerke zeugt für die Möglichkeit des Möglichen«26. Damit gerät das Andere gesellschaftlicher Normierungsmechanismen, das Andere instrumenteller Vernunft, das Andere einer Subjektautonomie und Subjekterfahrung ordnenden Produktion des ›Kollektiven‹ in den Blick. Und zugleich öffnet dieses Andere die Perspektive auf die Spuren, die die ›Vergesellschaftlichung‹ und die Selbstregulation des Individuums im Subjekt hinterlassen. Wenn Literatur in diesem Zusammenhang als Plattform für jene »Gegenmacht«27

23 Vgl. zu Kluges operativer und systemischer Ästhetik ausführlich Genç, Metin: Ereigniszeit und Eigenzeit. Zur literarischen Ästhetik operativer Zeitlichkeit, Bielefeld: transcript 2016, S. 115-203. 24 Kluge, Alexander/Negt, Oskar: Geschichte und Eigensinn, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 2001, S. 113. 25 Kluge, Alexander: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975, S. 219. 26 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 200. 27 Negt, Oskar/Kluge, Alexander: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. 2. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 246.

Im Wendekreis der Repräsentation | 241

dienen soll, die auf der kritischen Beobachtung dieser Spuren und zugleich auf der Möglichkeit auch anderer Fluchtlinien des Verhältnisses von Einzelnem und Kollektiv beharrt, so bedarf es dazu eines ästhetischen Verfahrens, mit dem Realverhältnisse und potentielle/utopische Verhältnisse gleichermaßen zur Darstellung gebracht werden können: »Entweder erzählt die gesellschaftliche Geschichte ihren Real-Roman, ohne Rücksicht auf die Menschen, oder aber Menschen erzählen ihre Gegengeschichte. Das können sie aber nicht, es sei denn in den Komplexitätsgraden der Realität. Das fordert im wörtlichen Sinn den ›Kunstgegenstand‹, ein Aggregat von Kunstgegenständen.«28

Dieses Aggregat begegnet den Leser/-innen als variabler Verweiszusammenhang der Textminiaturen, organisiert in Form von Leitlinien, die sich mit anderen Linien (Miniaturen) kreuzen und dadurch neue Ausgangspunkte für die Erweiterung der Koordinaten jenes Erfahrungsraums bilden, der als Ergebnis der doppelten Praxis von individueller und sozialer Gestaltung und Geltung ästhetisch ›begehbar‹ wird. Im Miniaturenarrangement Kann ein Gemeinwesen ICH sagen? finden sich vielfach und vielfältig Reprisen des Robinson-Paradigmas, das auf den historischen Kollektivkomplex ›UDSSR‹ und auf dessen ideologische und politische Normensysteme der Präformierung von Subjekten appliziert wird. Den Auftakt bildet eine Miniatur, die sich wie eine Referenz auf die Krise kultureller Formen einer ›Pragmatik des Selbst‹ liest, die Michel Foucault an den kulturell normierten »Techniken und Technologien des Selbstverständnisses«29 beobachtet hatte: »[I]n Rußland […] fiel 1991 ein ganzes Gemeinwesen auseinander. Ein Kosmonaut, den Gorbatschow Monate zuvor zur Mir hinaufgesandt hatte, mit Reparaturen beschäftigt, noch immer Sowjetbürger (der Kosmos ist exterritorial, man verliert dort

28 Kluge, Alexander: »Die schärfste Ideologie; daß Realität sich auf ihren realistischen Charakter beruft«, in: Ders.: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik. Hg. v. Christian Schulte, Berlin: Vorwerk 8 1999, S. 127-134, hier: S. 134. 29 Foucault, Michel: Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 18.

242 | Metin Genç

keinen Status), landete im Januar 1992 in einer Wüste in Kasachstan ›wie in einem fremden Land‹. Der tüchtige Mann war verwirrt. Keine Kontinuität mehr zu den Anfängen 1917, die sein Großvater noch kannte, die Staatsbürgerschaft ein Irrtum. Kann ein Gemeinwesen ICH sagen?«30

Es ist bezeichnend, dass den Leser/-innen gleich im Einstieg eine zweifache Entkopplung von Kollektiv und dem individuellen Verhältnis zu diesem begegnet: Nicht nur ist das Repräsentationsverhältnis von technokratisch spezialisiertem Subjekt ›Kosmonaut‹ und dem für dessen Formung zuständigen sozialen und politischen Gebilde ›UDSSR‹ annulliert – auch steht kein für die aktuelle Konstellation taugliches Muster zur Verfügung, das individuelle Subjekterleben in Kommunikation und damit in kollektivsoziale Realität einzuspeisen: Der Kosmonaut selbst wird zum Signifikanten, dessen Kollektivsignifikat (in Form von Identitäten, Denkstrukturen, Imaginationsmustern, Handlungszielen, kollektiven Werten und Bedürfnissen) und dessen Kollektivreferent (Staat, Organisation, Nationengebilde, deren empirische Macht) temporalisiert und damit zu Elementen einer Vergangenheit werden. So wie semiotisch das Repräsentierende stets nicht Teil des Repräsentierten sein kann, so ist der Repräsentant des Kollektivs vom Gemeinwesen abgeschnitten, das bisher die hegemonialen ›Regime des Selbst‹ koordiniert hatte. Während Defoes Crusoe, der als Archetyp des robusten Subjekts, das seine Robustheit erst im Moment der Entkollektivierung unter Beweis zu stellen vermag, mit organisierender Kraft und industriellem Fleiß die Isolationskrise zur Chance umformt, verschiebt sich die Repräsentationsfunktion des Kosmonauten durch die Verflüchtigung des Kollektivs in ein regulatorisches Vakuum. Crusoe verkörpert und betont im Vorhof funktionaler Ausdifferenzierung die Möglichkeit einer Po(i)etik des Selbst qua kollektiv verbürgter skills. Der Kosmonaut hingegen verkörpert den subjektiven Bruch mit den kollektiven Einheitsfiktionen wie auch den Einbruch kollektiver Depression, weil für die verschieden komplexen Kollektivphänomene (ideologisches, politisches, Wissenskollektiv), die er nun repräsentiert, neue Denk- und Wissensstrukturen herangeführt werden müs-

30 Kluge, Alexander: »Kann ein Gemeinwesen ICH sagen? / Tschernobyl«, in: Ders.: Die Lücke, die der Teufel läßt. Im Umfeld des neuen Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 105-193, hier: S. 105. Der Text wird im Folgenden nachgewiesen mit Sigle (K) und Seitenangabe.

Im Wendekreis der Repräsentation | 243

sen, die jenseits dessen liegen, was in ihm als Möglichkeit des Weltverlaufs interiorisiert vorliegt. Die situative und kontextuelle Verschiebung, dessen Opfer das hochspezialisierte Individuum wird, führt angesichts des Bruchs in der Zeitdimension des Kollektivs (»Keine Kontinuität mehr zu den Anfängen von 1917 […] Staatsbürgerschaft ein Irrtum«) dazu, dass auf Gedächtnisstrukturen ausgerichtete Realitätssetzungen herangeführt werden müssen, um den Umschlag von der ›Präsenz des Kollektivs‹ zu dessen ›Entgegenwärtigung‹ begreifbar zu machen. Es bedarf zuallererst devianter kultureller (individueller und kollektiver) Formen (Zeichen, Symbole, Redeweisen, Meinungen, ideelle Objektivierungen, Institutionen, Sinnmuster individuellen Erlebens) des In-Fassung-bringens, mit denen die Fassungslosigkeit des entkollektivierten Ichs kommunikativ Halt finden kann. Kluges kosmonautischer Robinson pendelt letztlich zwischen NichtOrten, gerät aus einer Exterritorialität (Kosmos) in die nächste (Wüste). Und es entspricht Kluges Kalkül, die Verarbeitung dieser Entfremdung, die Selbstregulation, die vor einer unwirklich anmutenden Herausforderung steht, nicht auszubuchstabieren, sondern – durch den Abbruch der Miniatur – einer narrativen Entfaltung gänzlich zu entziehen. Die Entkopplung vom Kollektiv, die zwecklose Bodenhaftung im nunmehr fremden Gebiet (Kasachstan), die Verarbeitung und Nichtverarbeitung von Erlebtem, die zirkuläre Dynamik von »Trennungsenergie und Wunschproduktion«, die »in das Innere der Menschen […] zurückgebogen ist«31 – all das wäre Material genug für ein insulares Tagebuch des fassungslosen sowjetischen Robinson, das einen Bericht über die organisierende Kraft des Kollektivs im Moment seines Verschwindens offenbaren könnte. Das Fassungsproblem artikuliert Kluge wiederum wenige Seiten später in einer anderen Miniatur über den Topos der Körperbildlichkeit, der durchsetzt ist mit Partikeln aus dem Repertoire des Diskurses über das Subjektmanagement jener Akteure, die in Organisationen inkorporiert sind. So findet sich in SOMA/SEMA: Der Geist im Gefängnis des Körpers die basale Differenz markiert, an der die neuzeitliche Hierarchie der Organisationsstufen des Gemeinwesens sich klassisch orientiert und die sie als Insignie einer Fassung und Bestimmung des Politischen tradiert: dem Unterschied zwischen den Körpern der Einzelnen (Unterbau) und dem Körper des Kollektivs (Überbau). Für beide Körperformen spielt Kluge in diesem Text un-

31 A. Kluge/O. Negt: Geschichte und Eigensinn, S. 680.

244 | Metin Genç

terschiedliche organizistische, systemische und anatomische Modelle durch, deren Repräsentationsleistung vor dem Hintergrund einer Hermeneutik des ›Selbst‹ zur Sprache kommt: Der Chef des KGB – unheilbar an Krebs erkrankt und an den Prozessen der organischen Zersetzung leidend – verzweifelt an der Notwendigkeit, das Soziale, die Organisation, das Kollektiv, das er führt, erst über den Einsatz von Körpern in performativen Akten erzeugen und am Leben erhalten zu müssen. Die »Körper der Gesamtorganisation« wiederum sind durch unterschiedliche Virulenzbedingungen und praxeologische Settings homogenisiert, »bestehen aus Seilschaften, unsichtbaren Beziehungsnetzen, Richtlinien und Zuständigkeitsregeln, Observanzen.« (K 112) Sie changieren somit zwischen zwei Seinsweisen: Zum einen sind sie kulturelle Artefakte, in die sich das subjektivierende Kollektiv mittels Praktiken, Verständnissen und Erinnerungen eingeschrieben hat; sie sind aber zugleich »Gehäuse« (K 111), in denen der Eigensinn und Eigenanteil des Einzelnen, die Individualität seiner Körperlichkeit, die Möglichkeit kontingenter und devianter Vollzüge kollektiver Praktiken aufbewahrt sind. »Einige

dieser

Körper

[…]

entsprechen

dem

Organisationsprinzip

des

CHITINPANZERS (äußere feste Kruste, weiches Innenleben, wie bei einem Insekt), andere folgen der SKELETTBAUWEISE (Leben, aufgehängt an Knochen). Das Problem sind die Nahtstellen, die Membranen« (K 112).

Die metaphorische Bildlichkeit nährt Analogieschlüsse. Sie bedient sich nicht nur einer Organisationssemantik, sondern auch eines organizistischen Verständnisses der po(i)etischen Kraft von Sprache. Der Symbolkomplex, den Kluge seinem nüchtern berichtenden Erzähler in die Feder gibt, zitiert die rhetorische Tradition der politischen Somatisierung des Staatsgebildes als übergeordnetem Individualkörper.32 Bei Kluge wird der Körper (Soma) aber auch zur Kontaktfläche des Intersubjektivität organisierenden Zeichens (Sema). An dieser Kontaktfläche, die als Membran gerade durch ihre Permeabilität, ihre Negation der Möglichkeit, Soma gegen Sema abzuschirmen, charakterisiert ist, erscheint das politische Kollektiv als System

32 Vgl. etwa Därmann, Iris: »Die Maske des Staates«, in: Mihran Dabag/Kristin Platt (Hg.), Die Machbarkeit der Welt. Wie der Mensch sich selbst als Subjekt der Geschichte entdeckt, München: Fink 2006, S. 72-92.

Im Wendekreis der Repräsentation | 245

von Verkörperungskulturen, als kulturhistorisch mit Wert aufgeladene individuelle und überindividuelle Verweisungsmatrix. Jenseits ihrer Funktion als regulative Denkfigur des Politischen gerät so die »Verpanzerung« des bereits kollektiv eingespannten subjektiven Körpers zum Vexierbild der Erosion politischer, ideologischer und kommunikativer Machtverhältnisse. Der Aussicht auf das Ruinöse, auf das der Körper des KGB-Chefs und der Körper des Gemeinwesens zusteuern, stellt Kluge die Notwendigkeit der Dekonstruktion von Kollektivsymbolik gegenüber – in diese Richtung zielt seine (ohne Haltbedingung konzipierte) Gegenproduktion von anderen Existenzen, Verkörperungen und Repräsentationen. Die Annäherung an diese geschieht, ohne pointilistisch dem Individuum oder dem Kollektiv ein Primat zuzusprechen. Gemäß dem poetischen Stimulans einer operativen Ästhetik werden die in den Miniaturen exponierten Subjekt-, Kollektiv- und Symbolkonstellationen bei Kluge nicht zu naturalistischen Explikationen verdichtet, sondern mehrmals in anderen Miniaturen aufgegriffen und divers entfaltet, was die Symbolizität des politischen Körpers etwa in andere soziale und historische Dimensionen verlängert. So bleibt auch in der längeren Miniatur Im Gefängnis der Natur/Sozialistische Robinsonisten von 1942 der gemeinsame Referenzbereich die Verkörperung des Ideologischen, Politischen, Sozialen, nun zudem mit expliziter Referenz auf das kulturelle Narrativ der Robinsonschen Isolation, das nicht nur im Titel aufgerufen wird: Die jüdische Sowjetkommisarin Diana Leibowitz – Studium der politischen Ökonomie, »[z]u den Beispielen dieser Ökonomie gehört die Geschichte von Robinson« (K 117) – strandet 1941 nach deutschem Beschuss mit anderen Seeleuten auf einer Insel im Eismeer. Ein Jahr später erfolgt die Rettung von der Insel durch den ideologischen und politischen Feind, der in Person eines Gerichtsoffiziers (»junge[r] Nationalsozialist«, »im Zivilberuf Journalist«) an Informationen über den Überlebenskampf und an Antworten auf die Frage, »[w]ie bewährt sich die bolschewistische Weltanschauung im Ernstfall? Auf einer einsamen Insel?« (K 118f.) interessiert ist. Weil die Exzeptionalität des Ereignisses bei beiden Akteuren gleichermaßen auf Anschlüsse hoffen darf – sie ist »kommunikativ ausgehungert«, er will das Geschehen wie »Romane abfragen« – bleibt das »Verhältnis von Freund und Feind« (K 119f.) partiell instabil. Im Wechsel von erzählendem Bericht und Verhörprotokoll verschränkt Kluge die Symbolizität und Performativität ideologischer Sprachhandlungen und Semantiken mit den Maßverhält-

246 | Metin Genç

nissen und Friktionen des Sozialen. Letztere erfährt die Kommissarin angesichts des »Ernstfalls«, in den die Repräsentanten des Sozialismus geraten, und den sie in Beziehung zum paradigmatischen Narrativ insularer Bewährung setzt: »Das Eigentum, nicht die Solidarität, wirkt stärker. Das ist für Robinson, den Vertreter des kapitalistischen Prinzips, einfacher: eine Höhle bauen, eine Ziege sich aneignen, den Sklaven Freitag sich aneignen. Und dann, im Besitz alles dessen, was ich begehre, großmütig sein, die Herrschaft in zivilisatorisch ansprechender Form ausüben.« (K 120)

Dagegen steht die von Gewaltverhältnissen und »Drohgesten der verzweifelten Robinsonisten gegeneinander« durchzogene, nur durch Gewaltandrohung organisierbare, zuletzt aus zwölf Überlebenden bestehende »verlorene Gesellschaft« auf der Eismeerinsel. Selbst ein Sklave wie Freitag hätte lediglich die Eigentumskonflikte vor dem Hintergrund von Besitzindividualismus intensiviert: »Den müßten Sie auf alle 12 verteilen« (K 121). Derart ist die kollektive Legitimität der ideologischen Sinnstiftung des Sozialismus nicht mehr über die Beschaffenheit der wirklichen Welt belegt. Die Wechselfälle der menschlichen Natur, die mit der Inselisolation in die Perspektive des Exzeptionellen geraten, stellen nicht nur die Repräsentationen des sozialistischen Tauschverhältnisses von »menschlichen Eigenschaften gegen menschliche Eigenschaften« (K 121) zur Disposition, sie legen bei Kluge zuallererst die Attraktivität der modellbildenden Komponenten des Robinson-Paradigmas frei.33 Die zweifache Existenzweise der ›quasi-robinsonadischen‹ Geschehnisse auf der Eismeerinsel – als Erlebniskomplex und als Erzählgehalt – verweist mithin auf jenen Übergang, an dem die Staats-, Insel- und Subjektutopie auf ihre Funktion als Medium von Erzählprozessen verdichtet wird, ihre politisch-regulative Ordnungsleistung einbüßt und nicht utopisch auserzählt wird als Biographie der Keimzellen des Kollektivs, die – sich selbst (re-)kultivierend – auf der Kompensation aller Kompliziertheiten durch inkorporierte Kenntnisse, Praktiken und Bedürfnisse beharren: »Der Kampf ums Überleben auf einer Insel des Polarkreises schien tatenarm« (K

33 Vgl. Fohrmann, Jürgen: Abenteuer und Bürgertum. Zur Geschichte der deutschen Robinsonaden im 18. Jahrhundert, Stuttgart: Metzler 1981, S. 49.

Im Wendekreis der Repräsentation | 247

120), weshalb die »Gefangenen […] spezialisiert [wurden] auf Seemannsgeschichten (sie erfanden, um die nördlichen Nächte durch Tröstung zu beleben, Lügenmärchen über Erlebnisse, tragische Verstrickungen, Taten in der Einsamkeit […])« (K 121). Kluges Rekontextualisierungen der Defoeschen Fiktion einer solitären Kollektivität artikulieren die Einsicht, dass ein kollektiv-utopisches narratives Telos gegenüber der »vollständige[n] Anerkennung der Bewegungsgesetze der in einem Menschen zusammenstoßenden Kräfte«34 hilflos versagen muss.35 Als modellbildendes Narrativ, auf das sich bezog und bezieht, wer ›Glanzstück-Versionen‹ des Individuums für Subjektformierungen benötigt(e),36 bleibt die paradigmatische Fiktion Defoes wirkmächtig. Sie zirkuliert als narrative Chiffre für das Providenzielle, für die Vermessung der Subjektordnung und für die vermeintliche innere Rationalität des wechselseitigen Repräsentationsverhältnisses zwischen Individuum und Kollektiv. Die poetologische Strategie, die Kluge dagegen ins Feld führt, setzt darauf, dieses Verhältnis aus seiner Schleife herauszuführen und dessen ›Autorität‹ und die Vorstellung vom präformierten homo compensator letztlich durch Überdeterminierung, durch Entfaltung innerhalb des Robinson-Paradigmas selbst, zu dispensieren.

LITERATUR Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Alkemeyer, Thomas/Bröckling, Ulrich: »Jenseits des Individuums«, in: Thomas Alkemeyer/Ulrich Bröckling/Tobias Peter (Hg.), Jenseits der Person. Zur Subjektivierung von Kollektiven, Bielefeld: transcript 2018, S. 17-32.

34 A. Kluge/O. Negt: Geschichte und Eigensinn, S. 55. 35 Vgl. hierzu auch Kluge, Alexander/Pauval, Vincent: »›Einen Robinson gibt es eigentlich nur zu zweit‹«, in: Alexander Kluge-Jahrbuch Bd. 4 (2017), S. 115125. 36 Vgl. Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. 2. Aufl., Zürich: Diaphanes 2004, S. 189f.

248 | Metin Genç

Därmann, Iris: »Die Maske des Staates«, in: Mihran Dabag/Kristin Platt (Hg.), Die Machbarkeit der Welt. Wie der Mensch sich selbst als Subjekt der Geschichte entdeckt, München: Fink 2006, S. 72-92. Defoe, Daniel: Robinson Crusoe. Hg. v. John J. Richetti, London: Penguin 2003. Eckartshausen, Karl von: Ueber die Perfektibilität des Menschengeschlechtes und die nahe Vollendung der Erwählten, Leipzig: Gräff 1797. Faulstich, Werner: Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700-1830), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. Fohrmann, Jürgen: Abenteuer und Bürgertum. Zur Geschichte der deutschen Robinsonaden im 18. Jahrhundert, Stuttgart: Metzler 1981. Foucault, Michel: Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. Genç, Metin: Ereigniszeit und Eigenzeit. Zur literarischen Ästhetik operativer Zeitlichkeit, Bielefeld: transcript 2016. Gilbert, Margaret: »Plurale Subjekte: Ein Simmelscher Ansatz«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 9 (2015) H. 1, S. 121-142. Großklaus, Götz: Das Janusgesicht Europas. Zur Kritik des kolonialen Diskurses, Bielefeld: transcript 2017. Haken, Johann C. L.: Bibliothek der Robinsone. In zweckmässigen Auszügen, Berlin: Unger 1805ff. Hansen, Klaus P.: Kultur und Kulturwissenschaft. 4., vollst. überarb. Aufl., Tübingen: Francke 2011. Honold, Alexander: »Das Glück des Schiffbrüchigen«, in: Weimarer Beiträge 47 (2001) H. 2, S. 165-186. Kluge, Alexander: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975. Kluge, Alexander: »Die schärfste Ideologie; daß Realität sich auf ihren realistischen Charakter beruft«, in: Ders.: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik. Hg. v. Christian Schulte, Berlin: Vorwerk 8 1999, S. 127-134. Kluge, Alexander: »Kann ein Gemeinwesen ICH sagen? / Tschernobyl«, in: Ders.: Die Lücke, die der Teufel läßt. Im Umfeld des neuen Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 105-193. Kluge, Alexander/Negt, Oskar: Geschichte und Eigensinn, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 2001.

Im Wendekreis der Repräsentation | 249

Kluge, Alexander/Pauval, Vincent: »›Einen Robinson gibt es eigentlich nur zu zweit‹«, in: Alexander Kluge-Jahrbuch Bd. 4 (2017), S. 115-125. Luhmann, Niklas: »Individuum, Individualität, Individualismus«, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 149-258. Marx, Karl: »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie« (Marx Engels Werke Bd. 23), Berlin: Dietz 1989. Negt, Oskar/Kluge, Alexander: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. 2. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. Stockinger, Ludwig: Ficta respublica. Gattungsgeschichtliche Untersuchungen zur utopischen Erzählung in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts, Berlin: De Gruyter 1981. https://doi.org/10.1515/ 9783111632681 Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. 2. Aufl., Zürich: Diaphanes 2004. Wezel, Johann Carl: Robinson Krusoe. 2. Aufl., Berlin: Rütten u. Loening 1990. Zizek, Boris: Probleme und Formationen des modernen Subjekts. Zu einer Theorie universaler Bezogenheiten, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19279-6 Zöller, Günter: »Die Bestimmung der Bestimmung des Menschen bei Mendelssohn und Kant«, in: Volker Gerhardt/Rolf-Peter Horstmann/Ralph Schumacher (Hg.), Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Bd. 4, Berlin: De Gruyter 2001, S. 476492.

Autorinnen und Autoren

Dąbrowska, Anna, arbeitet am Institut für Germanische Philologie an der Jagiellonen-Universität Krakau. Sie hat dort das Studium abgeschlossen und mit einer Dissertation über Interkulturalität im Schaffen Soma Morgensterns promoviert. Sie war zudem Ernst-Mach- und Franz-WerfelStipendiatin in Wien sowie wissenschaftliche Betreuerin der ÖsterreichBibliothek in Krakau. Zurzeit arbeitet sie an ihrer Habilitation über iranische Autoren, die in Deutschland und Österreich leben und auf Deutsch schreiben. Doutch, Daniela, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Literatur der Moderne sowie Literatur und Medien (insbesondere Fotografie). Promotion zu Hermann Brochs Romantrilogie Die Schlafwandler. Zuletzt erschienen: Spurenlese(n) im digitalen Zeitalter: Das imaginäre Fotoalbum und die Wahrheit der Bilder in Marcel Beyers Roman Spione (2000). In: Volker C. Dörr/Rolf J. Goebel (Hg.): Literatur in der Medienkonkurrenz. Medientranspositionen 1800 – 1900 – 2000. Bielefeld: Aisthesis 2018, S. 67-81. Esselborn, Hans, lehrte als Professor seit 1987 Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Köln, Institut für deutsche Sprache und Literatur I, 2008-2011an der Jagiellonen-Universität Krakau; war Gastprofessor in Lawrence (Kansas), Nancy, Paris und Lyon. Spezialgebiete: Aufklärung und Jean Paul, Klassische Moderne: Expressionismus und Weimarer Republik, Literatur und Film, Interkulturelle Aspekte, Literatur und Naturwissenschaft bzw. Technik (Science Fiction).

252 | Verkörperungen des Kollektiven

Genç, Metin, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich ästhetischer Zeittheorien, der Kultur- und Mediengeschichte und umfassen insgesamt den Konnex von Wissen(schaft) und Literatur. Publikationen u.a.: »Ereigniszeit und Eigenzeit«, als Herausgeber: »Kriminographien«, »Institutionen der Pädagogik«. Jaśtal, Katarzyna, unterrichtet an der Jagiellonen-Universität Krakau. Studium der Germanistik in Krakau, Freiburg im Breisgau, Wien. Promovierte mit der Arbeit Erzählte Zeiträume. Kindheit in der Habsburger Monarchie in den Autobiographien von E. Canetti, M. Sperber, G. v. Rezzori. Herausgeberschaft von Aufsätzen zur österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts sowie von Bänden zur Transkulturalität: Grenzgänge und Grenzgänger in der österreichischen Literatur (2004), Transkulturelle Perspektiven (2009). Habilitierte dank dem Humboldtstipendium mit dem Buch Körperkonstruktionen in der frühen Prosa Heinrich Heines (2009). Aktuell beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit der Briefkultur des 19. Jahrhunderts (Mitherausgeberschaft des Bandes Gesprächsspiele und Ideenmagazine. Heinrich von Kleist und die Briefkultur um 1800 (2013) und Körper und Nation (Monographie Niemcy: naród i ciało, 2015). Kłańska, Maria, ist o. Professorin, Leiterin des Lehrstuhls Deutsche Literatur am Institut für Germanische Philologie der Jagiellonen-Universität Krakau, Humboldt-Stipendiatin, Herder-Preisträgerin sowie Benefizientin der Stiftung für Polnische Wissenschaft. Sie hat u.a. die Monographien Problemfeld Galizien in deutschsprachiger Prosa zwischen 1846 und 1914 (1985; verb. Neuauflage Böhlau 1991), Aus dem Schtelt in die Welt 17721938 (Böhlau 1994) und über Rose Ausländer Między pamięcią a wyobraźnią (Zwischen Erinnerung und Einbildungskraft, poln., ATUT 2015) verfasst. Ihre Publikationen betreffen vor allem die österreichische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Galizien und die Bukowina in der deutschsprachigen Literatur, jüdische Kultur und Geschichte in Osteuropa, das Nachleben der Bibel und der Antike in der Literatur sowie die norwegische Literatur. Lemke, Anja, ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität zu Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte innerhalb der

Autorinnen und Autoren | 253

deutschsprachigen Literatur im europäischen Kontext vom 18.-21. Jh. sind Literatur und Wissen; Literaturtheorie, Rhetorik, Ästhetik; Literatur und andere Künste; Affektsemiotiken. Von 2011-2014 war sie Sprecherin des DFG-Netzwerks »Kunst und Arbeit«, seit 2015 leitet sie gemeinsam mit dem Anneliese-Maier-Forschungspreisträger Prof. Dr. Niklaus Largier, UC Berkeley, ein Forschungsprojekt zu »Figurations of Possibility from late medieval religious philosophy to modern thought and literature«. Veröffentlichungen u.a. Konstellation ohne Sterne. Zur geschichtlichen Zäsur bei Martin Heidegger und Paul Celan, (München: Fink 2002), Gedächtnisräume des Selbst. Walter Benjamins Berliner Kindheit um Neunzehnhundert (Würzburg: K&N, 2. Aufl. 2008) und als Mitglied eines Autorenkollektivs Art Works. Ästhetik des Postfordismus (Berlin: b_books 2017). Martel, Julia, Studium der Germanistik und Philosophie (Universität zu Köln), arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Sprache und Literatur I an der Universität zu Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Ästhetik, Literatur und Wissen und die Literatur der Moderne. Promotion zu einer Ästhetik der Kraft in der Moderne. Moskała, Paweł, studierte bis 2006 Germanistik an der JagiellonenUniversität Krakau und promovierte 2010 mit der Studie Facetten der Vergänglichkeit in der Lyrik Hermann Hesses (2012) ebenda. Seit 2011 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanische Philologie an der Jagiellonen-Universität Krakau. Seine Forschungsschwerpunkte sind die deutschsprachige Lyrik des 20. Jahrhunderts, Fremdsprachen- und Literaturdidaktik sowie konsekutives Dolmetschen. Sobczak, Michael, Dr. phil, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanische Philologie der Jagiellonen-Universität Krakau. Studium der Germanistik in Krakau (2004-2009). Dissertation zum Thema: Das christliche Weltbild in der Prosa der österreichischen Dichterin Paula von Preradović (Krakau 2016). Publikationen zur österreichischen Prosa des 19. und 20. Jahrhunderts, zur deutschen Gegenwartsliteratur, zur deutschsprachigen Galizien-Literatur sowie zu Klaus Buhlerts Hörspielfassung des Romans Ulysses von James Joyce. Zuletzt erschienen: Thomas Bernhard – ein ›Übertreibungskünstler‹? Das Drama »Heldenplatz« und die öffentliche

254 | Verkörperungen des Kollektiven

Meinung in Österreich, in: Kamilla Najdek, Krzysztof Tkaczyk, Anna Wołkowicz (Hg.): Bernhard-Colloquium/Warszawa 2018, S. 19-29. Sowa, Agnieszka, Dr. phil, Studium der Germanistik und der Polnischen Philologie (Komparatistik) an der Jagiellonen-Universität Krakau, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanische Philologie der Jagiellonen-Universität. Sie hat 2013 über Marienmotive in der deutschsprachigen Literatur nach 1918 promoviert. Forschungsschwerpunkte: Biblische Motive in der deutschsprachigen Literatur, Bezüge zwischen Religion und Literatur. Autorin der Monographie: Marienmotive in der deutschsprachigen Literatur nach 1918. Kraków: WUJ 2013. Szczukiewicz, Joanna, studierte bis 2017 Germanistik an der JagiellonenUniversität Krakau und graduierte mit der Studie zu Funktionen des epistolaren Schreibens in den Briefen Alexander von Humboldts an Karl August Varnhagen von Ense. Zweimalige Stipendiatin des Erasmus-Programms an der Universität Leipzig und der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn. Seit Oktober 2017 Doktorandin an der JagiellonenUniversität im Fachbereich Neuere Deutsche Literatur. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Briefkultur des 18. und 19. Jahrhunderts und Deutsch als Fremdsprache. Weber, Philipp, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum; er hat Germanistik, Geschichte und Philosophie in Münster, Berlin und Paris studiert und wurde 2016 an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. Forschungsschwerpunkte: Poetologien des Wissens, Romantheorie, europäische Romantik, Literatur und Philosophie. Ausgewählte Publikationen: Hundert Jahre »transzendentale Obdachlosigkeit«. Georg Lukács‘ ›Theorie des Romans‹ neu gelesen (Mhg. 2018); Kosmos und Subjektivität in der Frühromantik (2017); Kosmos und Kontingenz. Eine Gegengeschichte (Mhg. 2016). Weinstock, Alexander, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Sprache und Literatur I an der Universität zu Köln. Im Fall Semester 2015 war er Visiting Scholar am Institute of European Studies an der UC Berkeley. Abschluss des Promotionsverfahrens im Winter 2018,

Autorinnen und Autoren | 255

Thema der Dissertationsschrift: Das Maß und die Nützlichkeit. Zum Verhältnis von Theater und Erziehung im 18. Jahrhundert. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur des 18. Jahrhunderts, Theatertheorie und -geschichte, Lyrik des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart.

Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur März 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Götz Großklaus

Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9

Elisabeth Bronfen

Hollywood und das Projekt Amerika Essays zum kulturellen Imaginären einer Nation Januar 2018, 300 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4025-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4025-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Literaturwissenschaft Yves Bizeul, Stephanie Wodianka (Hg.)

Mythos und Tabula rasa Narrationen und Denkformen der totalen Auslöschung und des absoluten Neuanfangs März 2018, 178 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3984-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3984-5

Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)

Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt. Zur Theorie von Interkulturalität 2017, 204 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3818-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3818-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de