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German Pages 334 [340] Year 1923
Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Erste Plenarsitzung
Erste Sitzung der I. Abteilung
Zweite Sitzung der I. Abteilung
Erste Sitzung der II. Abteilung
Zweite Sitzung der zweiten Abteilung
Erste Sitzung der III. Abteilung
Zweite Sitzung der 111. Abteilung
Zweite Plenarversammlung
Drucksachen des Ä. 3.=$. 1922
Verhandlungen des
Zwetunddreißigsten
Deutschen Iunstentags (Bamberg)
Herausgcgeben von
dem Schriftführer-Amt der ständigen Deputation.
Berlin und Leipzig 1922
Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de GruyterLcCo. vormals G. I. Göschen'sche Verlagshandlung — I. Guttentag, Verlags buchhandlung — Georg Reimer — Karl I. Trübner — Veit & Comp.
Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter & Co., Berlin W iü und Leipzig
Handelsgesetzbuch (ohne Seerecht)
Mit den ergänzenden Vorschriften des bürgerlichen Gesetzbuchs und einem Anhang, enthaltend das Einführungsgesetz, das Depot
gesetz und die Bestimmungen über Vörsentermin- und Differenz geschäfte nebst Erläuterungen. Begründet von F. Litthaner. Neubearbeitet von Dr.
A. Moffe
Geh. Justizrat, OberlandeSgerichtSrat a. D. und otb. Hon.-Profeffor. Sechzehnte Rufloge
Unter Mitwirkung von Friedrich Caro, GerichtSasseffor in Berlin
1920. Oktav. Preis: Grundzahl 10 (Guttentagsche Sammlung Deutscher Reichsgesetze Nr. 4.)
Zivilprozeßordnung und GerichtSverfassungSgesetz nebst Anhang, enthaltend Entlastungsgesetze mit Anmerkungen unter besonderer Berücksichtigung der Entscheidungen des Reichsgerichts
Begonnen von Dr.
R. Sydow.
Fortgeführt von
L. Busch, ReichSgerichtSrat jetzt zugl. mit Dr. W. Krantz, LandgertchtSrat Siebzehnte vermehrte Rufloge
1922. Groß-Oktav. Preis: Grundzahl 15 (Guttentagsche Sammlung Deutscher RelchSgesetze Nr. 11.)
Reichsgesetz, betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung Systematische Darstellung und Kommentar nebst Entwürfen von Gesellschaftsverträgen und praktischer Anleitung für die Negisterführung von
Lndolf Parifins und Dr. Hans Crüger Se6»ste, umgeardeitete Ruflage von
Dr. Hans Crüger und Dr. Adolf CreeelinS 1922. Groß-Oktav. Preis: Grundzahl 8, Einband Hl. 3
Die EnlwertungSziffer, mit der die Grundzahlen zu multiplizieren sind, beträgt im Oktober 1922: 1 10
Verhandlungen de»
Zweiunddreißigsten
Deutschen Iuristentags (Bamberg) Herausgegeben
von
dem Schriftführer-Amt der ständigen Deputation.
Berlin und Leipzig 1922
Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruhter & Eo. oormal» «. I. Söschen'sche Verlag-handlung — I. Suttentag, Berlage buchhandlang — Seorg Reimer — Karl I. Trübner — BeU & Tomp.
Inhaltsverzeichnis. Erste Plenarsitzung Ansprache des Vorsitzenden Begrüßungsansprachen Antwort des Vorsitzenden Bildung der Abteilungen Tagesordnung der zweiten Plenarsitzung
Erste Sitzung der I. Abteilung (für öffentliches Recht) Verhandlungen über das Thema: Empfiehlt es sich, in die Reichsverfassung neue Vorschriften über die Grenzen zwischen Gesetz und Rechtsverordnung auf nehmen? Vortrag des Berichterstatters, Geh. gustizrat Prof. Dr T r i e p e l Vortrag des Mtberichterstatters, Geh. Legationsrat vrPoetzsch ..................................... Diskussion Leitsätze der Berichterstatter Zweite Sitzung der I. Abteilung Verhandlungen über das Thema: Inwieweit entsprechen die sogenannten Sanktionen dem Versailler Vertrag und dem Völkerrecht? Vortrag des Berichterstatters, Geheimrat Prof. Dr Meurer Vortrag des Mitberichterstatters, Iustizminister a. D. DrKlein Diskussion Leitsätze
Erste Sitzung der II. Abteilung (für bürgerliches Recht) Verhandlungen über das Thema: Sind die Arbeitsgerichte und ähnliche Spruchgerichte den ordentlichen Gerichten anzugliedern? Vortrag des Berichterstatters, Kammergerichtsrat Dr Levin Vortrag des Mitberichterstatters, Rechtsanwalt Dr E r n st W o l ff Diskussion Leitsätze der Berichterstatter Zweite Sitzung der II. Abteilung Verhandlungen über das Thema: Die Stellung des unehelichen Kindes und seiner Mutter auf dem Gebiete des Familien- und Erbrechts. Vortrag des Berichterstatters, Landesgerichtsrat Dr Fall mann . . Vortrag des Mitberichterstatters, Gebeimrat Prof. DrPappenheim
Sette 1—-10 1— Z 4— 6 7, 8 9, 10 10 11—57
11—35 35—52 52, 53 54—57
58—98
59—65 65—71 71—94 94—98
99—149
99—133 133—145 145—148 148—149 150—229
150—179
179—182
IV Seile
Diskussion Beschlüsse Verhandlungen über das Thema: Empfiehlt sich die Einführung der Mobiliarhypothek? .... Vortrag des Berichterstatters, Prof. De (Seilet Vortrag des Mitberichterstatters, Rechtsanwalt Dr Melchior Diskussion
Erste Sitzung -er III. Abteilung (für Steuer- und Wirtschaftsrecht) Verhandlungen über das Thema: Empfiehlt es sich, im Interesse des Rechtsschutzes des Steuer pflichtigen die durch die Reichsabgabenordnung eingeführten Befugnisse der Finanzämter einzuschranken? Vortrag des Berichterstatters, Senatspräsident Dr S t r u tz . . Vortrag des Mitberichterstatters, Rechtsanwalt DrFürnrohr Diskussion Beschlüsse Zweite Sitzung der III. Abteilung Verhandlungen über das Thema: gn welcher rechtlichen Form ist die Beteiligung der Arbeitnehmer am Kapital und am Gewinn des Unternehmens möglich? Vortrag des Berichterstatters, Prof. DrKaskel Vortrag des Mitberichterstatters, Prof. Dr Ehrenzweig Diskussion und Beschlüsse Leitsätze der Berichterstatter ...................................................... Zweite Plenarversammlung Wahl der Mitglieder der Ständigen Deputation Berichte über die Verhandlungen und Beschlüsse der Abtei lungen Beschlüsse der Plenarversammlung ................ Schlußworte
182—185 226—229
185—226 185—203 203—225 225—226
230—262
230—248 248—255 255—257 257—262 263— 300
263—282 282—295 295—298 298—300 301—330 301—302
302—326 326—327 327—330
Erste Plenarsitzung des
sweiunbbreifcigften deutschen Juriftentags im
Kaisersaale der Residenz zu Bamberg
am
Montag, den 12. September 1921.
Erzellenz Dr. Klein-Wier» eröffnet die Sitzung im Auftrage der stän digen Deputation um 9 Uhr 25 Min. vorm. und schlägt der Versamm lung vor, Herrn Geh. Justizrat Prof. D. Dr. Kahl-Berlin durch Zuruf zum Vorsitzenden des Juristentags zu wählen. Die Versammlung beschließt in diesem Sinne. Geh. Justizrat Prof. D. Dr. Kahl übernimmt den Vorsitz und begrüßt die Versammlung mit folgender Ansprache:
Durch die soeben vollzogene Wahl haben Sie mir eine hohe Ehre erwiesen und großes Vertrauen geschenkt. Ich nehme die Wahl mit dem herzlichsten Danke an, nicht als Vorrecht, sondern als Dienst an unserer gemeinsamen Sache. Der Verantwortlichkeit bin ich mir voll bewußt und will mich bemühen, die Geschäfte gerecht und förderlich zu führen, wobei ich auf Ihrer Aller freundliche Mitwirkung rechnen muß. Hochansehnliche Versammlung! Indem ich hiermit den Vorsitz des 32. deutschen Juristentags übernehme, scheint es mir ziemlich Md ge wiß auch in Ihrem Sinne gehandelt, daß ich sogleich einige Worte hin zufüge, die der allgemeinen Lage des Vaterlandes und den gemein samen Empfindungen der Stunde Rechnung tragen. Neun Jahre sind vergangen seit dem letzten, dem unvergeßlichen zweiten Juristenlage von Wien in den Septembertagen 1912. Wir wollten uns 1914 in Düsseldorf wieder versammeln. Es ist nicht mehr dazu gekommen. Unerhörtes ist inzwischen geschehen. Ein Weltbeben hat die europäische Staatenordnung aus den Fugen geworfen, hat heilige Rechte zerrissen, uralte Besitzstände verändert, Throne ge stürzt, Millionen von Menschenleben vernichtet, uns wahrhaft in eine 82. DJI. 2. i
2
Erste Plenarsitzung
neue Umwelt versetzt, eine Welt des Gärens und Entbehrens, des Streitens und Leidens, des Vergehens und Entstehens. Hier ist nicht Ort und
Stunde, vom Weltkriege zu reden, von seinen Ursachen,
seiner Schuld, seinem Verlaufe, seinem Ende.
Die Rückwirkung der
ungeheuren Geschehnisse allein aus unsere eigene kleine Welt empfinden
wir in unserer Seele unmittelbar, wenn wir mit tiefer Erschütterung
allein daran uns erinnern, daß 1889 der 20. deutsche Juristentag in der deutschen Stadt Strastburg, 1898 der 24. in der deutschen Stadt
Posen, 1910 der 30. in der deutschen Stadt Danzig versammelt war. Heute und hier aber ist Ort und Stunde, dast wir die Vorfrage uns
stellen: hat dieses Beben auch unser Werk vernichtet oder sind wir berufen, mit doppelter Kraft, mit neuem Mute, mit gesteigertem Ver-
antwortlichkeitsbewusttsein es wieder in die Hand nehmen? Wir Alle
werden darauf mit einem entschlossenen „Ja" antworten.
Die große
Teilnahme am 32. Juristentage hat dieses Ja schon gesprochen, diese
glänzende Versammlung es besiegelt.
Kein Kulturgut hat so schwer gelitten wie das Recht: durch den Krieg wie durch den Frieden, durch Revolution und Bürgerkrieg, durch
die zu tausend Verbrechen ausgepeitschten Leidenschaften, durch brüchig gewordene Organisationen der Rechtsverwirklichung, durch Hemmungen
der Rechtswissenschaft, ja durch Inhalt und Überhast einer sich über
stürzenden wirtschaftlichen Gesetzgebung selbst. aus tausend
Wunden.
So blutet unser Recht
Geht aber das Recht zu
Grunde,
so
geht
die Menschheit unter. Darum sind wir deutsche Juristen berufen, jetzt eben in geschlossener Einheit zur Stelle zu sein.
Manche hatten erwartet, es hätte schon früher geschehen müssen. Es war nicht möglich. Richt während des Krieges; denn jeder stand an seinem Platze, die vaterländische Pflicht zu erfüllen. Richt während der
3 Jahre der Staatsumwälzung.
Die ständige Deputation, der Sie
in Wien die Zwischenleitung des Juristentags anvertrauten, hat die
Frage seiner Einberufung oft erwogen. Verkehrsschwierigkeiten, innere Unruhen, viele andere Hemmungen haben sich immer wieder in den Weg gestellt.
Run endlich ist es geglückt.
Run aber auch die Hand
an den Pflug!
Große Aufgaben warten unser. Richt neue Probleme allein aus den schon bisher von uns gepflegten Rechtsgebieten, auch ganz neue Gebiete selbst.
Rur schüchtern hat der deutsche Juristentag bisher
das öffentliche
Recht im
engeren
Sinne betreten.
Die
Schranken,
die er sich hierin gezogen hatte, sind durch die Wucht der Ereignisse gefallen. Roch weniger als vorher lassen sich die scharfen Grenzlinien
Erste Plenarsitzung zwischen privatem und öffentlichem
3 Fällt
aufrecht erhalten.
Rechte
aber die Schranke zum öffentlichen Rechte, dann notwendig auch die, die
er sich bisher, fast möchte ich sagen mit Keuschheit, zur Politik gezogen
hat.
Unvermeidlich werden deren Gedankenkreise und Methoden in Denn auch Recht und
unsere juristischen Verhandlungen eindringen.
Politik sind nicht mehr in der bisherigen Schärfe zu trennen.
Da sei
denn gleich von Anfang an als Norm und gewissermaßen als Gelöbnis der Zukunft der Satz an die Spitze gestellt:
Parteipolitik.
Niemals' trete
sie trennend
Politik, aber niemals
unter uns.
Die
Politik
immer nur im Dienste des Rechtes, das Recht nie die Magd der
Politik!
Unsere Eesamtstellung zur neuen Zeit darf keine andere sein
als die, eine Kerntruppe zu sein zum Wiederaufbau des Vaterlandes
mit
den
Mitteln
des
Rechtes.
Mit
der
Findung
Gedanken allein wäre diese Aufgabe nicht zu lösen.
gesetzgeberischer Wiederaufbau
heißt, die Majestät des Rechtes wieder zum Leben wecken, sie wieder herstellen, wo seine Autorität erschüttert wurde, heißt, mit rücksichts
losem Wahrheitssinn die Krankheiten und
Gebrechen des gesamten
Rechtswesens aufdecken, aber auch mit gleicher Wahrhaftigkeit allen
tendenziösen Angriffen auf unsere Rechtspflege entgegentreten.
Mit
einem Wort: inmitten einer zusammengebrochenen Rechtswelt müssen
wir den Glauben an die Ewigkeitsgeltung von Recht und Gerechtigkeit als ehernen Felsen wieder aufrichten, allezeit aufrecht,
tapfer,
un
beirrt, unabhängig nach innen und von außen. In diesem Geiste begrüße ich den 32. deutschen Juristentag und
glaube dessen gewiß zu sein, mit solchen ernsten Gedanken und Ent schlüssen nur das zum Ausdrucke gebracht zu haben, was Sie selbst
bei dem erstmaligen Zusammentritt nach den Kriegsstürmen bewegt. Ich erkläre die Tagung für eröffnet. Kraft des mir satzungsmäßig zustehenden Rechtes, die Präsidenten, die als Stellvertreter des Vorsitzenden eintreten sollen, zu bestimmen, ernenne ich als Stellvertreter des Vorsitzenden:
1. Herrn Oberlandesgerichtspräsidenten Exzellenz v. Marth-Bamberg, 2. Herrn Justizminister a. D. Erzellenz Dr. Klein-Wien, 3. Herrn Kammergerichtspräsidenten Dr. v.
4. Herrn Rechtsanwalt
Geh.
Justizrat
Staff-Berlin,
Dietz-Bamberg;
ferner als Schriftführer:
1. Herrn Rechtsanwalt Dr. Ernst Wolff-Berlin, 2. Herrn Amtsrichter Trautner-Bamberg,
4
Erste Plenarsitzung 3. Herrn Referendar Behringer-Bamberg, 4. Herrn Finanzprokuraturs-Konzipienten Dr.
Schima-Wien.
Der Vorsitzende gedenkt der seit dem letzten deutschen Juristentag des Jahres 1912 aus dem Leben geschiedenen hervorragenden Mit glieder des Juristentags. Die Versammlung erhebt sich von den Sitzen. Im Namen der bayerischen Staatsregierung begrüßt sodann Herr Staatsrat Dr. Meyer-München die Versammlung, namentlich die zahl reich erschienenen österreichischen Stammesbrüder, mit einer von warmem
vaterländischen Geiste getragenen Ansprache. Die Ausführunggen des Vertreters der bayerischen Justizverwaltung gingen aus von dem Sahe des bayerischen Altmeisters der Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Kreittmayr: „Gegen sicher und überzeugtes Gewissen darf niemals gehandelt werden." Hieran anknüpfend wies er auf die überragende Bedeutung der charalterstarken Persönlichkeit für Rechtskunde und Rechtspflege, auf die Gefahr einer zu häufigen Korrektur richterlicher Urteile durch das der Öffentlichkeit entzogene Gnadenverfahren, über haupt auf die Notwendigkeit vollkommener Unabhängigkeit des Richter standes und auf die Wichtigkeit einer über den Parteien stehenden, ohne Überhastung arbeitenden Gesetzgebung für den Bestand des Staates hin. Er erinnerte an den rühmlichen Platz, den Bamberg in der deutschen Rechtsgeschichte einnehme, und daran, daß Bamberg in Zeiten schwerer politischer Gefahr der bayerischen Regierung Heim und Schutz gewährt habe. Er wies aus die Schranken hin, durch die der Versailler Friedensvertrag das deutsche Recht einenge, und schloß, indem er den Beratungen den besten Erfolg wünschte, mit den leb haften Beifall auslösenden Worten: Deutsches Recht wird Deutschland dereinst auch wieder zu Macht und Ansehen bringen. Hierauf ergriff Herr Reichsjustizminister Dr. Schiffer das Wort. Davon ausgehend, daß es nicht Zweck der Tagung sein könne, um die Vergangenheit zu klagen, sondern nutzbringende Arbeit für die Zukunft zu leisten, besprach er in großen Zügen die wichtigsten Fragen, die z. Zt. das deutsche Rechtsleben bewegen. Der Richter müsse zwar Diener des Gesetzes sein, aber nicht sein Sklave. Er müsse in stolzer Freiheit dem Geiste des Gesetzes gerecht zu werden suchen. Das höchst« der Gesetze sei die Verfassung. Darum habe es ihn mit besonderer Genugtuung erfüllt, daß ihm aus dem Richter stande überzeugende Versicherungen furchtloser, unparteiischer Ver fassungstreue zugegangen seien. Freilich erschöpfe auch die Verfassung nicht alle Fragen, die an den Richter herantreten. Immer werde
Erste Plenarsitzung
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gegenüber dem Rechte noch ein selbständiges Rechtsbewußtsein wirksam
sein.
Er weise es mit Entschiedenheit zurück, wenn die nie ganz zu
vermeidende Diskrepanz zwischen Rechtsbewußtsein und positivem Rechte dazu ausgebeutet werde, den Richter der Parteilichkeit oder der Un
fähigkeit zu zeihen.
Was die Handhabung des Gnadenrechts anlange,
so stimme er mit dem Vorredner dahin überein, daß sie nicht nur
den Geboten der Menschlichkeit, sondern auch der Aufrechterhaltung der
Autorität
Staates
des
dienen müsse.
Die Harmonie zwischen
Recht und Rechtsbewußtsein mittels Ersatzes des rechtsgelehrten Richters
durch den Laien herbeiführen zu wollen, erscheine ihm allerdings als ein vollkommen untaugliches Mittel; richtig erscheine ihm vielmehr, durch
Zusammenwirken von Richter und Laien das Verständnis für die Aufgaben des Richters zu fördern. Das wichtigste Problem sei für den
Richter z. Zt. die wirtschaftliche Umformung. mit
hier
den
machen.
nach
dürfe man
Darüber
des Richters selbst vergessen. weder
Freiheit
die
des
die er zur Erfüllung
Der Richter müsse sich
drängenden
Gestaltung
freilich
vertraut
Entwicklungen
nicht die
wirtschaftliche
Lage
Ein proletarisierter Richterstand könne
noch
Geistes
die
Achtung
soziale
besitzen,
seiner schweren Aufgaben unbedingt brauche.
Dem Richter müsse seine Ausgabe aber auch dadurch erleichtert werden,
daß aufgeräumt werde mit dem Übermaß von Gesetzen, das es ihm z.
Zt.
erschwere,
nach
großen
Gesichtspunkten
zu
Unser
urteilen.
ganzes Rechtswesen, so schloßt der Reichsjustizminister, bedürfe zu einer gesunden Weiterentwicklung des festen Zusammenhanges
der heißen
Liebe zum Volke mit der Rücksicht auf Wesen und Autorität des
Staates. Nach dem Reichsjustizminister sprach der preußische Ministerial
direktor Dr. Fritze-Berlin, der die Wünsche und Grüße des preußischen Justizministers überbrachte. rückständigen
angeblich
Juristen
deutschen Juristentag eine Frage,
nämlich
die
Zuziehung
der
Er wies darauf hin, daß die
50
Jahren
die
jetzt
die
Gemüter
zu
den
Strafgerichten,
gerade
Laien
jahenden Sinne beantwortet haben.
vor
auf
dem
bewege, im
be
Mit nachdrücklichster Entschieden
heit verteidigte er das Richtertum gegen die leichtfertigen Anwürfe,
denen es in der letzten Zeit in stets steigendem Maße ausgesetzt ge wesen sei.
Das Richtertum werde sich aber dadurch nicht verbittern
lassen und nach wie vor dafür sich einsetzen, daß Recht auch Recht
bleibe. Von der Versammlung lebhaft begrüßt, ergriff sodann der öster reichische Ministerialrat Kadecka-Wien das Wort und über-
Erste Plenarsitzung
6
brachte Grütze aus Österreich.
landes
es möge
mit,
Er brachte als Wunsch^ seines Heimat
ein reger Austausch
der
Gedanken zwischen
Österreich und Deutschland von der Bamberger Juristentagung aus
gehen; vor allem aber möge sich, wie bei den Juristen so auch in der MIgemeinheit, immer mehr der Gedanke durchsetzen, datz nicht Eenutz und Geld, sondern Arbeit und sittliches Verantwortungsgefühl die deutschen Völker nach oben führe. Oberbürgerm ei st er Wächter-Bamberg hietz di« Ver
sammlung im Namen Bambergs herzlich willkommen. Er hob hervor,
datz auch die Stürme der Revolution an dem gesunden Sinne für Ordnung und Biederkeit bei der Einwohnerschaft Bambergs nichts
geändert haben. Er erinnerte daran, datz in Bamberg die neue bayerische Verfassung zustande gekommen sei, und gab dem Wunsche Ausdruck, die Verhandlungen des Juristentags möchten eingedenk des an den
Wänden des Saales stehenden Spruches: ,,Non mihi, sed populo"
zu einem frischen Quell für die Erstarkung von Gesetz und Recht
werden. I. Staatsanwalt Dr. Leeb-München dankte der Ver sammlung für den Nachdruck, mit dem sie sich für die vom Deutschen Richterbund seit langem angestrebten Ziele eingesetzt habe. Der deutsche
Richter
sei
trotz
Matz zu messen.
aller
Verleumdung
nicht
gewohnt,
mit
zweierlei
Seine Unabhängigkeit müsse ihm um des Volkes
willen gewahrt bleiben, solle nicht Recht und Staat zusammenbrechen.
Nachdem
noch
Justizrat Kurlbaum-Leipzig für die
Rechtsanwaltschaft und Geheimer Justizrat Drost-Köln für
den deutschen Notarverein die Bereitschaft der Anwaltschaft und der Notare, sich rückhaltlos in den Dienst der hohen Bestrebungen des Juristentags zu stellen, versichert hatten, schlotz Geheimrat vr. Kahl, der
mit
Schlagfertigkeit,
Tiefgründigkeit,
und
männlichem Ernste
sonnigem Humor die Verhandlungen geleitet und aus die einzelnen
Ansprachen erwidert hatte, die Begrützung mit folgenden Worten:
Ich darf das Ganze zusammenfassen. Wir begrüßen in dem ganzen die Verkörperung, die Grundbedingung unserer Arbeitsleistung, den
harmonischen Zusammenhang von Theorie und von Praris.
Dieser
Zusammenhang war von Anfang an stiftungsgemätz ein Grundgesetz unserer gesamten Tätigkeit. In diesem Zusammenarbeiten von Theorie und Praris haben wir von Anfang an die Quelle unserer Kraft ge spürt; dieser Zusammenhang, diese geistige Doppelspur leuchtet aus jedem unserer Beschlüsse hervor, und aus ihm hat auch immer die Bedeutung, wenn ich so sagen darf, die Autorität des deutschen
Erste Plenarsitzung Juristentags beruht. Daß sich innerhalb Standesvereinigungen wie Richterverein, verein zusammenschließen, hat sein gutes Wert. Daß sich dieser Zusammenschluß
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des deutschen Juristentags Anwaltsverein und Notar Recht und bedeutet großen von Theorie und Praris
innerhalb des deutschen Juristentags vollzogen hat, hat nicht bloß rechtliche und wissenschaftliche Bedeutung, sondern das war eine natio nale Tatsache und eine nationale Tat. Der Juristentag kann nicht einen Jnteressenstandpunkt vertreten, sondern nur das Ganze des Juristen standes. Ohne Eifersucht, ja mit Freude begrüßen wir den deutschen
Juristenbund, wenn auch die Ausgaben verschieden sind. Wir wollen Theorie und Praris in den Dienst der Gesetzgebung gestellt wissen.
Welchen hervorragenden Anteil die Anwälte und — ich darf das in demselben Atemzuge zusammenfassen — die Notare hieran haben, bedarf keiner weiteren Ausführung. Kein Juristentag, an dem nicht
hervorragende Anwälte glänzende Rechtsgutachten geliefert haben; An wälte waren jederzeit Schriftführer aus den Juristentagen und haben so das dornenvollste Amt geführt. In diesen Augenblick kann ich eine Erinnerung nicht zurückdrängen. Vor 21 Jahren hatte ich die Ehre, einem der hervorragendsten Vertreter des Anwaltstandes, Justiz rat Wilke, den Ehrendoktor überreichen zu dürfen; ich durfte dies dem bescheidenen Manne am Abend vorher nicht mitteilen, da er
sich sonst der Vollstreckung durch die Flucht entzogen haben würde. Ich erinnere nur daran, wie alt die Beziehungen zwischen Juristentag,
Anwaltverein und Notarverein sind. Ich erinnere daran, daß wir ihnen unsere besten Wünsche für die Zukunft mitgaben, und wenn ich recht unterrichtet bin, hat eben jetzt der 10. deutsche Notartag.getagt. Wir unsererseits verwandeln Ihre Begrüßung in Glückwünsche, die wir Ihnen zu Ihrer Vergangenheit und für Ihre Zukunft darbieten. Abschließend erlauben Sie mir nochmals zu betonen, daß die beiden Hauptfragen des Tages, Rechtspflege und Richter, so viel berührt worden sind, daß sie von selbst in den Mittelgrund der Probleme getreten sind. Ich möchte nur folgendes feststellen: ich
würde als Sprecher des Juristentags glauben, eine Pflicht zu ver säumen, wenn ich nicht die erste uns gebotene Gelegenheit benützte,
um dem ganzen deutschen Richterstand Anerkennung und Vertrauen auszusprechen; wir weisen alle verallgemeinerten, nicht im einzelnen genau begründeten Vorwürfe gegen die Erhabenheit, Lauterkeit und Gerechtigkeit der deutschen Rechtspflege entschieden zurück. Wir mahnen das ganze Volk, die alte deutsche Achtung vor dem Richterspruch nicht zu vergessen und zu verlieren. Der Richterspruch kann niemals allen
Erste Plenarsitzung
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Teilen gefallen. Er kann Fehlspruch sein, aus Irrtum beruhen. Jede, auch nur die geringste Spur einer Rechtsbeugung würde keinen schärferen Verurteile! finden als den deutschen Juristentag. Aber was ich wieder hole: woran wir nicht rütteln lassen, das sind die Fundamente, das ist die Grundlage der Unabhängigkeit der Gerichte, die llnabsetzbarkeit der lebenslänglich angestellten richterlichen Beamten, das ist der Glaube an die Gerechtigkeit, an die unbeugsame und unerschütterliche Unbestech lichkeit unseres deutschen Richterstandes. Gewiß, wir wollen uns an gelegen sein lassen, einen Richterstand zu erziehen, der — und das dürfen vor allem wir Rechtslehrer uns gesagt sein lassen — volles Verständnis hat für die neue Zeit, einen Richterstand, der vor allem auch einen tiefen geistigen Einblick in die sozialen Seilen des Lebens hat und der, um mich den Worten des Reichsjustizministers anzu schließen, volles Verständnis für die wirtschaftlichen Verhältnisse hat, um die Erscheinungen auf wirtschaftlichem Gebiete richtig zu würdigen. Das wollen wir Rechtslehrer vor der Öffentlichkeit versprechen. Aber wir wollen auch dem deutschen Richterstand, der in schwerster Zeit des Vaterlandes in vorbildlicher Pflichttreue und Charakterstärke des Rechtes gewaltet hat und heute noch waltet, bei der ersten Gelegenheit Dank und Vertrauen ausgesprochen haben. Indem ich noch einmal allen Herren, die uns begrüßt haben, den herzlichsten Dank ausspreche, erkläre ich die Begrüßung für ge schlossen. Im Einverständnis mit der Versammlung wurde nunmehr Punkt 4 der Tagesordnung vorweggenommen.
Auf Antrag des Vorsitzenden beschloß die Versammlung: 1. Der geschäftsführende Ausschuß der ständigen Deputation des deutschen Juristenlags wird beauftragt, den Entwurf eines neuen Statuts des deutschen Juristentags auszuarbeiten und nach Genehmi gung durch die ständige Deputation dem nächsten deutschen Juristentage oorzulegen.
2. Der geschäftsführende Ausschuß erhält das Recht, zum Zwecke der Ausarbeitung des Statutenentwurfs Mitglieder hinzuzuziehen, und zwar auch solche, die nicht Mitglieder der ständigen Deputation sind. 3. Die Mitglieder des deutschen Juristentags werden ausge
fordert, Wünsche bezüglich der neuen Statuten dem Schriftführer der ständigen Deputation binnen 3 Monaten mitzuteilen.
Zu Punkt 3 der Tagesordnung teilte der Vorsitzende mit, daß es wegen der Zeitverhältnisse nicht möglich gewesen sei, dem Juristen tage gedruckte Gutachten vorzulegen, daß man sich vielmehr mit der
Erste Plenarsitzung
9
Vorlegung gedruckter Thesen habe begnügen müssen, die an die Mit
glieder zur Verteilung gelangen. Es wurden sodann auf Vorschlag des Vorsitzenden drei Ab teilungen gebildet und zwar: eine öffentlich-rechtliche, eine privatrecht liche, sowie eine steuer- und wirtschaftsrechtliche, mit den folgenden Beratungsgegenständen: A. für die öffentlich-rechtliche Abteilung: 1. Empfiehlt es sich, in die Reichsverfassung neue Vorschriften über die Grenzen zwischen Gesetz und Rechtsverordnung aufzunehmen? Berichterstatter: Geheimer Justizrat Professor Dr. Triepel-Berlin. Mitberichterstatter: Geh. Legationsrat Dr. Poehsch-Berlin. 2. Inwieweit entsprechen die sogenannten Sanktionen dem Ver sailler Vertrag und dem Völkerrechte? Berichterstatter: Geheimer Hosrat Professor Dr. Meurer-Würzburg.
Mitberichterstatter: Justizminister a. D. Dr. Klein-Wien. 3. Die Strafbemessung nach dem neuesten Entwurf eines Straf gesetzbuchs für das Deutsche Reich. Berichterstatter: Professor Dr. Kohlrausch-Berlin. Mitberichterstatter: Professor Dr. Graf Gleispach-Wien. B. für die prioatrechtliche Abteilung: 4. Sind die Arbeitsgerichte und ähnliche Spruchbehörden den ordentlichen Gerichten anzugliedern? Berichterstatter: Kammergerichtsrat Dr. Levin-Berlin. Mitberichterstatter: Rechtsanwalt Dr. Ernst Wolff-Berlin. 5. Die Stellung des unehelichen Kindes und seiner Mutter aus dem Gebiete des Familien- und Erbrechts. Berichterstatter: Landesgerichtsrat beim Jugendgericht Dr. Fallmann-Wien. Mitberichterstatter: Geh. Justizrat Professor Dr. Pappenheim-Kiel. 6. Empfiehlt sich die Einführung der Mobiliarhypothek? Berichterstatter: Rechtsanwalt Professor Dr. Eeiler-Mannheim. Mitberichterstatter: Rechtsanwalt Dr. Melchior-Hamburg.
C. für die steuer- und wirtschaftsrechtliche Abteilung: 7. Empfiehlt es sich im Interesse des Rechtsschutzes des Steuer pflichtigen, die durch die Reichsabgabenordnung eingeführten Befugnisse der Finanzämter einzuschränken? Berichterstatter: Senatspräsident am Reichsfinanzhof Dr. StrutzMünchen.
10
Erste Plenarsitzung i
Mitberichterstatter: Rechtsanwalt Dr. Fürnrohr-München. 8. In welcher rechtlichen Form ist die Beteiligung der Arbeit nehmer am Capital und am Gewinn des Unternehmens möglich? Berichterstatter: Professor Dr. Kaskel-Berlin.
Mitberichterstatter: Professor Ehrenzweig-Graz. Zu Punkt 5 der Tagesordnung teilt der Vorsitzende mit, daß wegen der Zeitverhältnisse der bisherigen Übung, dem Juristentag eine Übersicht über die Rechtsentwicklung in Deutschland und Öster reich feit der letzten Tagung vorzulegen, nicht habe entsprochen werden können. Die ständige Deputation werde erwägen, ob und in welcher Meise nachträglich ein solcher Bericht geschaffen werden könne. Der Vorsitzende beruft sodann: 1. für Mittwoch, den 14. September 1921, 1/211 Uhr vormittags,
in die Zentralsäle des evang. Vereinshauses eine Versammlung der Vertrauensmänner zum Zwecke der Feststellung der gemäß § 10 der Satzung der Plenarversammlung vorzuschlagenden Liste der Mitglieder der ständigen Deputation des deutschen Juristentags; 2. auf 11 Uhr vormittags die zweite Plenarversammlung mit
folgender Tagesordnung: I. etwaige geschäftliche Mitteilungen, II. Mahl der ständigen Deputation des deutschen Juristentags, III. Berichte aus den Abteilungen, IV. Beratung der etwa aus den Abteilungen dem Plenum über wiesenen Gegenstände, V. Schluß des 32. deutschen Juristentags. Der Vorsitzende schließt sodann die Plenarversammlung um 12 Uhr 10 Min. nachmittags und gibt bekannt, daß die Abteilungs sitzungen iy2 Stunden später beginnen.
€rfte Sitzung der I. Abteilung für öffentliches Recht am
den
Montag,
12.
September
1921.
Geh. Justizrat Prof. Dr. Zitelmann-Bonn eröffnete die Versamm
lung und leitete die Wahl des Vorsitzenden. Durch Zuruf wurden gewählt:
zum
Vorsitzenden:
Kammergerichtspräsident
Dr.
von
Staff,
Berlin, zum 1. Stellvertreter: Geh. Justizrat D. Dr. Kahl, Berlin,
zum 2. Stellvertreter:
I. Staatsanwalt Aull, München.
Zu Schriftführern wurden berufen:
Professor Dr. Nawiasky-München, Amtsrichter Guth-Bamberg, Assessor Dittmar-Bamberg. Der Vorsitzende erteilte dem Berichterstatter über das Thema:
„Empfiehlt es sich, in die Reichsverfassung neue Vorschriften über die
Grenzen zwischen Gesetz und Rechtsverordnung aufzunehmen?", Herrn Geh. Justizrat Prof. Dr. Triepel-Berlin, das Wort, der seine in der Anlage beigegebenen Leitsätze, wie folgt, begründete:
Die Frage, über die ich den Auftrag erhalten habe, Ihnen Bericht zu erstatten, liegt jenseits der Grenzen, die sich der Deutsche Juristentag bisher für seine Verhandlungen und Beschlußfassungen gesteckt hatte. Probleme
des
Staatsrechts sind bislang von den
Beratungen des
Juristentags grundsätzlich ausgeschlossen gewesen; nach unseren Statuten haben wir endlich die Aufgabe, die einheitliche Entwicklung auf den Ge
bieten des bürgerlichen Rechtes, des Prozesses, des Strafrechts und des inneren Verwaltungsrechts zu fördern. Warum sich diese Beschränkung in
unseren Tagen nicht mehr aufrechterhalten läßt, darüber hat sich der Herr Präsident in der Eröffnungssitzung des heutigen Vormittags bereits in vorzüglicher Weise ausgesprochen, und ich unterlasse es deshalb, mich dazu noch einmal zu äußern. Denn ich huldige dem Grundsätze, der in einem Reglement für das Akademische Konsistorium in
Kiel
12
Erste Sitzung der ersten Abteilung
aus dem Anfänge des vorigen Jahrhunderts kn drastischer Form nieder gelegt worden ist: „Schon einmal vorgetragene Gründe zu wieder
holen, ist nicht nur unnütz, sondern nachteilig, da dadurch nur
verschwendet und Ekel erregt wird."
Zeit
Ich beschränke mich darauf, an
dieser Stelle der freudigen Genugtuung Ausdruck zu geben, daß der
nunmehr ein ihm durch lange Überlieferung
Juristentag,
indem er
verschlossenes
Gebiet betritt, uns Staatsrechtslehrern die immer er
sehnte Gelegenheit verschafft, uns über bedeutende Gegenstände, die uns innerlich bewegen, vor einem großen, aus hervorragenden Männern
der Theorie und der Praxis bestehenden Forum auszusprechen. Dieser einen persönlichen Bemerkung bitte ich eine zweite anschliehen
zu dürfen. Der Herr Präsident hat heute morgen die ernste Mahnung
an uns gerichtet, bei der
Behandlung
staatsrechtlicher Frage!», die
ja ohne Heranziehung politischer Werturteile niemals gelöst werden
können, wenigstens die Parteipolitik aus dem Spiele zu lassen.
Diese
Aufforderung war notwendig, und sie läßt sich, wie ich glaube, erfüllen.
Ich für meinen Teil verspreche Ihnen jedenfalls, daß ich mich nach Kräften an sie halten werde.
Und nun sofort in medias res! 1. Die Frage, die uns gestellt worden ist, lautet: „Empfiehlt es sich, in die Reichsverfassung neue Vorschriften über
die Grenzen zwischen
Gesetz und
Rechtsverordnung
aufzunehmen?" Also nicht das ganze Problem des Rechtsverord nungsrechts soll aufgerollt, insbesondere nicht die Verteilung von Ver
ordnungsrechten
zwischen bestimmten
Organen oder das
Verhältnis
zwischen Reichs- und Landeszuständigkeit in Beziehung auf das Ver
ordnungsrecht soll erörtert werden. Vielmehr handelt es sich augenschein lich nur um die Bestimmung des Sachgebiets, das der Gesetzgebung einerseits, der Verordnung anderseits zugewiesen oder in Zukunst zuzu
weisen ist. Dabei läßt es aber der Wortlaut des Themas, offenbar mit Absicht, zunächst noch offen, ob die Verfassung über die Grenze zwischen Gesetz und Rechtsverordnung überhaupt schon Vorschriften ent hält, so daß deren Abänderung in Frage gezogen werden könnte, oder ob sie vielleicht eine scharfe Grenze zwischen jenen nicht gezogen
hat, so daß es in Frage käme, diese Lücke durch eine Ergänzung der Verfassung zu schließen.
Es ist deshalb erforderlich, vorerst über
das geltende Verfassungsrecht Klarheit zu gewinnen.
13
Erste Sitzung der ersten Abteilung
Die Weimarische Reichsverfassung geht stillschweigend von dem Gegensatze der Rechtsverordnungen und der Verwaltungs
verordnungen aus, der sich in der vorrevolutionären Wissenschaft zwar nicht eine ausschließliche, aber doch eine fast völlige Herrschaft erobert hatte. Nach der gewöhnlichen Ansicht sind Rechtsverordnungen
Verbot
solche Anordnungen der Obrigkeit, die sich mit Gebot oder
oder Erlaubnis unmittelbar an die Untertanen, oder wenn man diesen
Ausdruck nicht liebt, an die Staatsbürger als solche wenden.
Und
zwar begründen sie, genau wie das Gesetz und nur durch die Form von ihm verschieden,
neues objektives Recht. Sie schaffen Rechtssähe.
Die Verwaltungsverordnung dagegen richtet sich an die Verwaltung des Staates, an Behörden und Beamte. Sie läßt keine Neuen Rechts
sätze entstehen, sondern macht nur das aus dem bestehenden Rechte fließende subjektive Recht auf Gehorsam der Verwaltungsorgane gel tend.
Ich mache kein Hehl daraus, daß ich gegen die innerliche Be
rechtigung
dieses
Gegensatzes immer
die
stärksten Bedenken gehabt
habe. Er geht meiner Ansicht nach von einem zu engen Begriffe des
Rechtssatzes aus; ich habe niemals einzusehen vermocht, warum nicht auch in den für den Organismus der Staatsverwaltung bestimmten
Verordnungen echte Rechtssähe enthalten sein können.
Aber ich ver
meide es, bei dieser theoretischen Streitfrage Halt zu machen.
Denn
es unterliegt keinem Zweifel, daß die Reichsverfassung von 1919 bei
der Regelung des Verordnungsrechts von jener Erundanschauung be
herrscht worden ist. Ebenso unzweifelhaft ist ein zweites. Im Gegensatze zu dem Ent
würfe, der der Nationalversammlung vorgelegt worden war, hat der
Verfassungsausschuß und ihm folgend die Nationalversammlung selber lediglich das Recht zum Erlasse von V erwaltungsverordnungen in einer allgemeinen Weise geregelt.
Nach Art. 77 hat im Zweifel,
d. h. wenn die Gesetze nicht im einzelnen Falle etwas anderes be stimmen, die Reichsregierung die Zuständigkeit zum Erlässe von Aus
führungsverordnungen. Aber diese Verordnungen dürfen nichts anderes als „Verwaltungsvorschriften" sein,
und wenn die Ausführung der
Reichsgesehe den Landesbehörden zusteht, so bedarf die Reichsregierung für ihre Verwaltungsverordnungen der Zustimmung des Reichsrats. Ein
allgemeines Recht zum Erlasse von Rechtsverordnungen hat da
gegen die Verfassung mit voller Absicht niemandem, weder der Reichs regierung, noch dem Reichspräsidenten, noch einer andern Stelle ein geräumt.
Das geht nicht nur aus dem
Wortlaute des
Art. 77
14 und
Erste Sitzung der ersten Abteilung
daraus,
daß die
Verfassung
der
Rechtsverordnuntz als
einer
allgemeinen Einrichtung nirgends Erwähnung tut, mit Sicherheit hervor, sondern es ist auch während der Beratungen über den Entwurf zu wiederholten Malen mit der größten Bestimmtheit ausdrücklich erklärt
worden.
Nur
auf
Gebieten
einzelnen
unmittelbar
besteht
kraft
der Verfassung eine Befugnis, bestimmte Materien im Wege der Ver ordnung zu regeln.
Nach Art. 88 darf die Reichsregierung mit Zu
stimmung des Reichsrats im Bereiche des Poft- und Telegraphen wesens Verordnungen geben, in denen Grundsätze und Gebühren für
die Benutzung der Verkehrseinrichtungen festgesetzt werden.
Das Ent
sprechende gilt nach Art. 91 für Verordnungen über den Bau,
den
Betrieb und den Verkehr der Eisenbahnen. Endlich ermöglicht es der
Art. 48 mit seinen weitgehenden Klauseln über den Ausnahmezustand,
daß der Reichspräsident, der die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen „Maßnahmen" treffen darf, in beträcht lichem
Umfänge Normen
mit Rechtsinhalt für die Bürger erläßt.
Im übrigen aber schreibt die Verfassung für die Entstehung neuen gemeinverbindlichen Reichsrechts grundsätzlich bett Weg der Gesetz gebung vor. Soll dieser Weg im einzelnen Falle verlassen werden, so muß das Gesetz eine besondere Ermächtigung zum Erlasse
einer
Verordnung erteilen. Jede Rechtsverordnung muß sich also dem Grund
sätze nach auf ein« „spezielle Delegation" stützen können, wie man mit einem vielleicht nicht ganz korrekten Kunstausdrucke zu sagen
pflegt. Das ist der geltende Rechtszustand, den ich in den ersten beiden
Sätzen des Ihnen vorgelegten Entwurfs einer Entschließung zusammen gefaßt habe. „Die Reichsverfassung vom 11. August 1919 hat
es,
von wenigen
91)
abgesehen,
Ausnahmen
mit
(Artikel
Vorbedacht
48,
88,
unterlassen,
der Reichsregierung oder einer andern Stelle
ein allgemeines Recht zum Erlasse von Rechts-
verordnungenzugeben. EineErmächtigungzum Erlasse solcher Verordnungen kann daher immer nur aus einer besonderen gesetzlichen Bestim mung hergeleitet werden."
Erste Sitzung der ersten Abteilung
15
2.
Mir haben, wie ich meine, feine Veranlassung, an diesem Rechts zustande zu rütteln. Denn zu den vornehmsten Forderungen konstitu tionellen Staatsrechts gehört diese, daß gemeingültige Rechtssätze in aller Regel ttt die Form eines Gesetzes gekleidet, d. h. von der Volks vertretung beschlossen oder doch mitbeschlossen werden sollen. Es ent spricht dies dem vom modernen Staate anerkannten, übrigens von
der germanischen Rechtsbildung immer, nur in der Übergangsperiode des Absolutismus nicht befriedigten Interesse, daß das Recht den Rechtsunterworfenen nicht als ein ihnen fremder Wille gegenübertreten, datz vielmehr im Rechte stets ein Stück des Volkswillens selbst enthalten sein soll. Eine republikanische Verfassung befriedigt dieses Interesse
noch mehr als jede andere. Es versteht sich in der Republik beinahe von selbst, daß neues Recht grundsätzlich durch einen Beschlich des Parlamentes oder auch unmittelbar durch einen Volksbeschlutz ge schaffen werden mutz. Ich schlage deshalb im Leitsatz I Abs. 2 vor, datz wir uns dahin aussprechen: „Es ist weder erforderlichnoch wünschenswert,
datz dieser Rechtszustand verändert werde. Für die Setzung neuen Rechts, das die Bürger des Reichs unmittelbar verpflichten soll, mutz die Form des Gesetzes die Regel, die Form der Ver ordnung die Ausnahme bleiben." Dem Interesse des Volks an Beteiligung an der Rechtsschöpfung steht freilich ein anderes, gleichfalls beachtenswertes Interesse gegenüber: das Interesse an der Leichtigkeit und Anpassungsfähigkeit der Rechts bildung. Es verlangt in jedem grötzeren Staatswesen seine Befriedi
gung, vor allem dann, wenn der Strom des sozialen Lebens schnell daherslutet, und wenn Verfassung, Geschäftsordnung und Parteizer klüftung in der Volksvertretung den Prozetz parlamentarischer Gesetz gebung schwerfällig gestalten. Obwohl der konstitutionelle Staat jenes Interesse immer nur als ein sekundäres wertet, so hat er es doch überall, wenn auch in zeitlich und örtlich sehr verschiedener Stärke,
berücksichtigt. Das geschieht eben durch die Anerkennung der Verordnung. Vielleicht kann ein Bundesstaat, wie das Deutsche Reich, der Rechts verordnung eher entraten als ein Einheits- und ein Einzelstaat. Aber völlig kann er sie doch nicht entbehren, zumal dann nicht, wenn sein
politisches Leben so stark, wie das durch die Weimarer
Verfassung
16
Erste Sitzung der ersten Abteilung
geschehen, in eine unitarische Richtung gedrängt worden ist. Ich habe dieser Überzeugung unter IV
Satz 1 meiner Leitsätze Ausdruck
ge
geben. „Es muß anerkannt werden, daß Rechtsver ordnungen in einem großen Staatswesen nicht
ganz zu entbehren sind."
Die große Frage ist nur die: in welchem Umfange
hat
unsere Verfassung jenes Interesse an einer leichten und beweglichen Rechtsbildung gegenüber
der Forderung der Rechtsgenossen an Be
teiligung an der Rechtsehung anerkannt? Überläßt sie es dem Gesetz geber, die beiden Interessen im einzelnen Falle nach vollkommen
ungebundenem Ermessen gegeneinander abzuwägen? Und was ist de lege ferenda darüber zu sagen? Über eines werden wir uns leicht verständigen: es muß zulässig
sein, daß die allgemeinen, grundsätzlichen Gedanken eines Gesetzes für die Anwendung in der Praxis des täglichen Lebens durch Aus
führungsverordnungen in kleinere Münze umgewechselt werden. Wollte man die Ausführungsverordnung verbieten, so würde man die Volksvertretung in ungebührlicher Weise mit einer Fülle von Kleinarbeit
belasten und die Ersetze zu riesenhaften Ungetümen anwachsen lassen.
Die Reichsverfassung schweigt sich zwar über Ausführungsverordnungen, soweit sie Rechtsverordnungen sind, vollständig aus. Aber man
darf ohne weiteres annehmen, und nimmt auch ohne weiteres an, daß
sich die neue Verfassung nicht so weit von dem uns gewohnten Rechts zustande habe entfernen wollen, daß sie gesetzliche Ermächtigungen zum
Erlasse von Ausführungsverordnungen habe verbieten wollen.
Aber
freilich, es trifft auch auf die Ausführungsverordnung die allgemeine Regel zu, daß sie immer eine besondere gesetzliche Ermächti
gung zur Voraussetzung hat. Man hat dies als einen Mangel bezeichnet und hat den Wunsch
ausgesprochen, man möge zu Gunsten der Reichsregierung oder des Reichspräsidenten in die Verfassung die allgemeine Ermächtigung zum Erlasse von Ausführungsverordnungen aufnehmen. Ich kann in dem
Schweigen der Verfassung einen wirklichen Mangel nicht erblicken.
Auch die Bismarcksche Verfassung kannte nach der Ansicht, die
sich
in der Wissenschaft die Vorherrschaft erobert und schließlich auch in der
Praxis des Bundesrats durchgesetzt hat, ein allgemeines Recht zu Aus
führungsverordnungen nicht, und man ist damit ganz gut ausgekommen.
Erste Sitzung der ersten Abteilung
17
Vernünftiger Weise wird sich ja jedes Gesetz über die Zulässigkeit einer Ausführungsverordnung und darüber, wer sie erlassen solle, aus sprechen, und wenn es dies nicht tut, gibt es eben zu erkennen, daß
es für irgend eine Ergänzung seiner Normen keinen Spielraum lassen, daß es eine Angelegenheit erschöpfend geregelt haben wolle. Ich würde also die von anderer Seite geforderte generelle Verfassungsvorschrift zwar nicht gerade für schädlich, - aber auch nicht für notwendig halten. Sie hätte höchstens den Vorteil, daß sie angäbe, welche Stelle im Zweifel das Recht zu Ausführungsverordnungen besitze. Aber doch auch
nur: im Zweifel. Denn selbstverständlich müßte sie mit der Klausel: „soweit die Gesetze nicht etwas anderes bestimmen" versehen werden,
damit das einzelne Gesetz die Möglichkeit hätte, entweder eine Er gänzung seiner selbst durch Verordnungen zu verbieten oder das Ver
ordnungsrecht auch auf andere Stellen zu übertragen. Damit wäre aber im Grunde nichts anderes ausgedrückt, als was sich aus dem geltenden Rechte von selbst ergibt. Ich versuche dies in Leitsatz! Abs.3 folgender maßen auszudrücken:
„Eine neue Verfassungsbestimmung, die der Reichsregierung ein über die Grenze des Art. 77 hinausgehendes Recht zum Erlasse von Aussührungs-(Rechts-)Verordnungen verleihen würde, wäre zwar unschädlich, ist aber nicht not wendig. Denn sie müßte mit der Einschränkung versehen werden, daß das Gesetz nach Bedarf die Ermächtigung auch versagen oder einer an deren Stelle — dem Reichspräsidenten, dem Reichsrate, einer Reichsbehörde oder den Landesregierungen — erteilen könne. Das entspricht jedoch bereits dem geltenden Rechte." 3. Wenn ich hoffen darf, mit meinen bisherigen Ausführungen auf keinen starken Widerspruch zu stoßen, so kann ich nicht ganz das Gleiche
erwarten in bezug auf einen Satz meiner Thesen unter I, den ich bisher absichtlich übergangen habe. Es ist der dritte Satz in Absatz 1 von Ziffer I.
„Das Gesetz kann die Ermächtigung nur im Dienste begrenzter Zwecke für ein bestimmtes Lebensverhältnis erteilen." 82. DJT. 2.
18
Erste Sitzung der ersten Abteilung
Auf diesen Sah lege ich das allergrößte Gewicht.
Der alte R o e n n e hatte in den ersten Auflagen seines großen preußischen Staatsrechts und in seinem Lehrbuche des deutschen Reichs staatsrechts die Ansicht verfochten, daß es einem einfachen Gesetze über haupt unmöglich sei, Gegenstände, die „an sich" auf den Weg der Gesetz gebung gehören, auf den Verordnungsweg zu schieben. Nur traft ver fassungsgesetzlicher Ermächtigung könne dies geschehen. Er hat von allen Seiten Widerspruch erfahren, und mit Recht. Weder die alte preußische Verfassung, noch die Bismarcksche Reichsversassung enthielt ein allge meines Verbot für Gesetzgeber, die Regelung einer Angelegen heit an seiner Statt einem andem zu überlassen, d. h. für einen andern ein Rechtsverordnungsrecht zu begründen. Auch in der Weimarer Verfassung ist ein solches allgemeines Verbot nicht zu entdecken, und bei den Beratungen im Verfassungsausschusse und im Plenum der Nationalversammlung ist von Verordnungen traft Spezialdelegation so oft gesprochen worden, daß an ihrer Zulässigkeit nicht zu zweifeln ist. Aber vielleicht steckte doch in der Doktrin Roennes ein Körnchen oder sogar ein recht großes Korn Wahrheit. Sollten denn wirklich dem Gesetzgeber für die Begründung von Verordnungsrechten schlechterdings keine Schranken gezogen sein? Sollte er hier ein völlig ungebundenes Ermessen besitzen? Auffälligerweise hat sich die deutsche Wissenschaft diese Frage bisher kaum gestellt. Soweit sie aber eine Antwort darauf bereit hält, wird diese» ohne viel Besinnen so gegeben: der Gesetzgeber ist allmächtig. Er kann bestimmen, was er will. Er kann folglich auch selbstherrlich darüber entscheiden, wie weit er den Rahmen seiner Regeln spannen will. Er kann eine Angelegenheit erschöpfend regeln; er kann aber auch Blankette ausstellen, deren Ausfüllung er einem anderen überläßt. Und wenn es dies vermag, so muß er auch in der Lage sein, einem anderen die selbständige Normierung einer ganzen Angelegenheit zu überlassen. Nur in zwei Fällen, so gibt man zu, ist der Gesetzgeber bei der Austeilung von Derordnungsrechten nicht frei. Erstlich, wenn die Ver fassung für die Regelung einer Materie ausdrücklich den Weg der Gesetz gebung fordert. So kann z. B. nach der heutigen Reichsverfassung die Aufnahme reichsfremden Gebiets in das Reich (Art. 2) oder die Änderung des Gebiets- und Länderbestandes innerhalb des Reichs (Art. 18) oder der Erlaß einer Reichsamnestie (Art. 49) oder die Feststellung des Haushaltsplans (Art. 85) nicht durch Reichsgesetz einer Verordnung überlassen werden, weil hier überall die Verfassung
Erste Sitzung der ersten Abteilung den Erlaß eines formellen Reichsgesetzes verlangt.
19 Zweitens darf die
Delegation eines Verordnungsrechts nicht stattfinden, wenn dadurch die
verfassungsmäßigen Zuständigkeitsgrenzen zwischen dem Reiche und den Einzelstaaten verschoben werden würden. Wenn z. B. das Reich nach
Art. 10 der Weimarer Verfassung im Wege der Gesetzgebung
über
gewisse Dinge, wie etwa über die Rechte und Pflichten der Religions
gesellschaften oder über
das Schulwesen,
nur „Grundsätze" ausstellen
darf, so ist damit gemeint, daß die nähere Regelung solcher Angelegen heiten im Rahmen der Grundsätze der L a n d e s gesetzgebung zustehe.
Ein Reichsgesetz dürfte also nicht die genauere Ausgestaltung der von
ihm auf jenen Gebieten festgelegten Grundsätze einer Rechtsverordnung des Reiches übertragen.
Allein dies beides sind nur formelle Schranken für die Delegation von Verordnungsrechten.
Materielle Schranken gibt es nach der herr
schenden Lehre für den Gesetzgeber nicht. S e y d e I hat einmal erklärt,
ein Reichsgesetz könne sich auf den einzigen Satz beschränken, daß eine ganze Rechtsmaterie, etwa das Notariatswesen, im Wege der Ver
ordnung ihre Regelung finden solle, und es sei nicht verfassungswidrig, wenn ein Reichsgesetz über die Zivilehe die Regelung der Ehegerichts
barkeit, des ehegerichtlichen Verfahrens und sogar des materiellen Ehe rechts der
„Jeder
Verordnung
eines
Organs
der
Reichsgewalt
überließe!
nur mögliche Gegenstand der Gesetzgebung kann dem Ver
ordnungswege überwiesen werden", heißt es bei Schulze.
Und ähn
lich hat sich eine ganze Anzahl anderer Rechtslehrer ausgesprochen.
Freilich wenn wir bei den Schriftstellern lesen, daß sich die Delegation von Verordnungsrechten aus „bestimmte Verhältnisse", auf „gewisse Tat
bestandseinheiten" beziehe, daß sie „in bestimmtem Umfange", „an
bestimmten
Punkten" erfolge, so
könnten wir auf die Vermutung
kommen, daß mit solchen Wendungen auf irgend eine sachliche Grenze der Verordnungsdelegation hingedeutet werden solle.
Wie wenig das
indessen zutrifft, ergibt sich z. B. daraus, daß L a b a n d, der gleich falls die Ermächtigung zum Erlasse von Verordnungen als die
Er
laubnis zur Setzung „gewisser Rechtsregeln" beschreibt, die Ausführungen Seydels, die ich soeben erwähnte, ausdrücklich als „sehr treffend"
bezeichnet.
Man sieht also:
wie
Roenne dem
einfachen Gesetze
die
Macht zu einer Delegation von Verordnungsrechten gänzlich absprach, so fällt die herrschende Lehre in das entgegengesetzte (Extrem. Das Gesetz
kann der Verordnung alles überlassen, es kann nach Belieben zu ihren Gunsten abdanken.
20
Erste Sitzung der ersten Abteilung Ich will nicht untersuchen, ob diese Theorie für das ehemalige
Reichs- oder preuhische Staatsrecht zutraf.
Ich glaube es nicht.
Sie
mag immerhin passen für einen Staat, der die Eierschalen des Absolu
tismus noch nicht abgeworfen hat.
Sie mag auch richtig
sein
für
einen Staat, der zwischen Verfassungs- und einfachen Gesetzen keinen
Unterschied kennt. Sie ist aber nicht richtig für einen Staat, der die Souveränetät des Gesetzgebers unter die Souveränetät einer Verfassung gebeugt hat. Sie ist jedenfalls nicht richtig für das heutige Deutsche
Reich unter der Verfassung von Weimar. Man mache sich nur einmal die Folgerungen klar, zu denen die
landläufige Ansicht führen mutz.
Wenn es richtig wäre, datz ein ein
faches Reichsgefeh das Notariatswesen oder das formelle und materielle
Eherecht der Regelung durch Verordnung überweisen könne, warum sollte es ihr nicht auch das ganze bürgerliche Recht, das
Strafrecht,
das
Arbeits-, Handels-, Eewerberecht überlassen dürfen? Ja, welches Hinder nis bestände dann für den Reichsgesetzgeber, mit einem Federstriche an
zuordnen, datz alles, was in den umfänglichen Katalogen der Artikel
6, 7, 8 und 9 der Verfassung als Gegenstand der Gesetzgebung auf
gezählt worden ist, durch Verordnungen irgend eines Reichsorgans oder der Landesregierungen zu regeln fei?
Das fctitn doch wohl nicht im
Sinne der Reichsverfassung liegen! Die herrschende Lehre, in deren Banne ich mich selbst — wie ich
bekennen mutz — noch vor kurzem befunden habe, steht und fällt mit dem Satze, datz jeder Gesetzgeber tun könne, was er
wolle.
Dieser
Satz, der wahrscheinlich niemals richtig, der aber gewitzlich niemals echt deutsches Recht gewesen, der auf romanischem Boden gewachsen und im
Widersprüche zu den besten Überlieferungen germanischen Rechtsgeistes bei uns eingeführt worden ist, dieser Satz mutz jedenfalls
in dem
selben Augenblicke falsch werden, in dem der „Gesetzgeber" selber zum Geschöpf einer höheren Rechtsordnung gemacht, das Gesetz in verfassungs-
mätzige Schranken gebannt, der Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetze proklamiert worden ist. Ist dies der Fall, dann
ist
auch
Regelung,
die
die
Frage erlaubt und geboten, ob
der
Gesetzgeber eine
vorzunehmen seine verfassungsmätzige Ausgabe ist,
einem anderen überlassen darf, und wenn ja, ob ihm dies in vollem oder in begrenztem Umfange gestattet ist.
Die Verfassung von Weimar ist das Werk eines Volkes,
sich für
souverän
erklärt und das
sich in seinem
Grundgesetz
das als
die oberste Quelle aller Gewalten bezeichnet hat. Ob wir dies als eine
21
Erste Sitzung der ersten Abteilung
erwünschte oder als eine unerwünschte Begebenheit ansehen, ist völlig
gleichgültig.
Es ist jedenfalls die geschichtliche Tatsache, von der
bei
der Auslegung der Verfassung auszugehen ist. Die Staatsgewalt nun, die als ideell dem Volke zustehend betrachtet wird, ist von ihm durch die Verfassung in bestimmten Richtungen auf bestimmte Organe über
tragen worden.
Das Recht zur Gesetzgebung, d. h. zur Rechtsetzung,
hat mit geringen Ausnahmen der Reichstag erhalt«!». Ein Staatsorgan aber,
dem die Verfassung
eine Kompetenz zuweist,
gehalten, diese Kompetenz auch selber auszuüben.
ist im
Zweifel
Es kann sie nicht
eigenmächtig auf ein anderes Subjekt übertragen. Run ist ja allerdings die sogenannte Delegation von Verordnungsrechtrn keine volle Über
tragung der gesetzgebenden Gewalt. Der Gesetzgeber entäußert sich dabei nicht seiner eigenen Zuständigkeit. Er bleibt nicht nur in
die „Delegation" zu widerrufen, sondern er
der Lage,
Zeit
kann auch jeder
selber die Regelung vornehmen, die er dem „Delagatar" gestattet hat.
Aber das ist doch nur ein geringer Unterschied. Denn jedenfalls ist,
so
lange die Ermächtigung währt,
der Inhaber des Verordnungs
rechts befugt, an Stelle des Gesetzgebers tätig zu werden,
und
praktisch hat das keine andere Wirkung als eine echte Delegation. Zieht man aus solchen Erwägungen die strenge Folgerung, so mutz
man mit Roenne ein« Delegation von Verordnungsrechten durch ein ein faches Gesetz überhaupt für unmöglich erklären.
Man kommt dann
freilich in Verlegenheit, wenn es sich zeigt, datz ein starkes Bedürfnis des
praktischen
Lebens
Delegation nötigt.
den
Gesetzgeber
doch gelegentlich zu
solcher
Die Amerikaner, deren Verfassung genau wie
die unsrige auf dem Grundsätze der Volkssouverünetüt aufgebaut ist,
haben den Gedanken, datz eine von der Verfassung übertragene Gewalt nicht
„subdelegiert" werden
könne,
in Ansehung
der
gesetzgebenden
Gewalt bis zum äutzersten durchgeführt. In der berühmten „sweeping
clause“ ber Unionsverfassung (I, 8, § 18) ist dem Kongresse die Kom
petenz beigelegt worden, alle Rechtssätze, die zur Ausführung der ihm übertragenen Gewalten, also insbesondere der gesetzgebenden Gewalt,
notwendig und geeignet sind, selbst zu erlassen. Damit ist nach richtiger
Auslegung sogar das Ausführungsverordnungsrecht in die Hand des Kongresses gelegt und der Kongreß infolgedessen mit einer ungeheuren
Fülle von Detailgesetzgebung belastet worden.
Es gilt als unzulässig,
daß der Kongreß seine rechtsehende Gewalt auch nur in untergeord neten Punkten einer Regierungs- oder Verwaltungsstelle überläßt. Die Praxis seht sich darüber hinweg, sie mutz es tun, wenn sie sachgemäß
22
Erste Sitzung der ersten Abteilung
arbeiten will, und das führt dann zu Schwierigkeiten, deren man nur durch gewagte Auslegungskünste Herr zu, werden vermag. So hatte z. B. das Tarifgesetz von 1890 dem Präsidenten ein Recht zur Einführung von Retorsionszöllen übertragen, und ein Gesetz von 1897, das die Einfuhr von unreinem Tee untersagte, hatte dem Schatzsekretär das Recht gegeben, Normativbesttmmungen über Reinheit und Güte von Teesorten aufzustellen, deren Import gestattet jein solle. Beide Klauseln wurden als verfassungswidrig angefochten. Das Ober bundesgericht stellte sich in den interessanten Entscheidungen der Fälle Field gegen Clark und Buttfield gegen Stranahan auf den Standpunkt, daß dem Kongresse eine Delegation rechtsetzender Gewalt auf den Präsidenten oder einen Schatzsekretär unter allen Umständen ver boten sei; sie widerspreche einem der obersten Grundsätze des Verfässungssystems der Vereinigten Staaten. Allerdings erklärte das Gericht die beiden Gesetze für gültig. Aber es konnte dies nur mit der be fremdenden Behauptung begründen, daß die Gesetze der Exekutive nicht das Recht zur Gesetzgebung, d. h. zum Erlasse von Normen delegiert hatten, sondern nur das Recht, nach pflichtmäßigem Ermessen eine Voraussetzung zu schaffen, von der das Gesetz selber die Wirksamkeit seiner Normen abhängig gemacht habe. Kein Wunder, daß sich gegen solche gekünstelte Beweisführung zwei dissentierende Richter, darunter der Oberrichter Fuller, einer der ersten Juristen der Union, in energisches Worten aussprachen! Für sie unterlag es keinem Zweifel, daß jene Ge setze eine Delegation von Verordnungsrechten vorgenommen hätten, Md sie erklärten, daß eine solche auch in verhältnismäßig nebensächlichen Dingen von der Bundesverfassung schlechterdings nicht gestattet sei. Auch die Franzosen haben mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Auch für sie ist —- von einigen Außenseitern abgesehen — die Unübertragbarkeit der gesetzgebenden Gewalt Axiom. Gleichwohl arbeitet ihre Gesetzgebung, offenbar wieder notgedrungen, dauernd mit Ermächtigungen zum Erlasse von Verordnungen, die bisweilen über den Rahmen bloßer Ausführungsbestimmungen weit hinausgehen. Und die Theoretiker, die dies mit dem Prinzip in Einklang bringen wollen, müssen entweder zu gewundenen Erklärungen greifen oder eine Wand lung der ursprünglichen Verfassung annehmen. Nun brauchen wir uns aber hier nicht den Kopf der Amerikaner oder der Franzosen zu zerbrechen. Für uns liegen die Dinge ja ein facher. Wir wissen, daß unsere Verfassung gesetzliche Ermächtigungen zum Erlasse von Verordnungen nicht schlechthin verbieten wollte. Wir
23
Erste Sitzung der ersten Abteilung haben aus den Grundlagen der
abzuleiten,
daß
es
dem
Verfassung also nur den einen Satz
Gesetzgeber nicht gestattet ist,
Er
solche
mächtigungen schrankenlos, nach Gutdünken zu erteilen.
Zu dieser Annahme nötigt uns noch etwas Anderes und vielleicht
wichtigeres.
Die Reichsverfassung hat an der
Reichsgesetzgebung in
gewisser Weise noch andere Organe, als den Reichstag, beteiligt: den
Reichspräsidenten, den Reichsrat und das Volk, genauer:
die Gesamtheit der stimmberechtigten Bürger. hat
die
Verfassung
ein
suspensives
Veto
Dem Reichspräsidenten gegen
Reichsgesehe
ein
geräumt; er kann das Volk zur Entscheidung über ein ihm mißfälliges Der Reichsrat kann gegen die vom Reichstage
Gesetz aufrufen.
be
schlossenen Gesetze Einspruch erheben, und es ist möglich, daß auch über
diesen Einspruch eine Volksabstimmung herbeigeführt wird.
Die Ver
fassung kennt aber auch die Einrichtung des sogenannten fakultativen Referendums.
daß
langen,
Die im Reichstage überstimmte Minderheit kann ver
die Verkündung
eines
Gesetzes
ausgesetzt werde,
u!nd
wenn das geschehen ist, so kann ein Zwanzigstel der Stimmberechtigten
begehren,
das Gesetz
daß
(Art. 73, 74).
einem
Volksentscheide unterbreitet werde
Gegen eine Rechtsverordnung sind jedoch alle diese Be
helfe unmöglich.
In demselben Augenblicke also, in dem ein
Gesetz
irgend einer Stelle die Ermächtigung erteilt, über eine Angelegenheit Verordnungen zu erlassen, wird dem Reichspräsidenten oder dem Reichs
rate oder beiden, jedenfalls aber dem Volke das Recht entzogen, sich gegen
eine
ihm
unerwünschte Rechtssatzung, die auf Grund der er
teilten Ermächtigung im Verordnungswege erfolgt, zur Wehr zu setzen.
Es kann nun offenbar nicht der Wille der Verfassung sein, daß das ein
fache
Gesetz die
ganz
unbeschränkte Möglichkeit haben
solle,
durch
Schaffung von Verordnungsrechten weitesten Umfangs jene Organe um
ihre verfassungsmäßigen Einspruchsrechte zu bringen!
Man wende nicht
ein, Reichspräsident und Reichsrat und Volk hätten doch das Recht, sich schon gegen das ihnen zu weitgehende Ermächtigungsgesetz zu wehren.
Gewiß haben sie das.
Aber darum handelt es sich nicht.
Es fragt
sich ja, ob überhaupt ein gewöhnliches Gesetz, auch mit Billigung aller
Personen, die bei ihm mitzureden haben, eine Ermächtigung gewähren kann, die in ihrem Ergebnisse dazu führt, die künftigen Träger jener Ämter
und künftige Generationen des Volkes
mundtot zu machen.
Und ich bestreite, daß dies ohne jede Einschränkung zulässig sei.
Man
kann diese Dinge unter der Herrschaft der neuen Verfassung mit ihrer
halb repräsentativ-, halb reindemokratischen Struktur nicht mit denselben
Erste Sitzung der ersten Abteilung
24
Augen ansehen, mit denen man zur Zeit der konstitutionellen Monarchie zu sehen gewohnt war. Es wird nützlich sein, auch hier einen Blick auf eine ausländische
Verfassung zu werfen, der wir manche Einrichtung abgeborgt habün. In der Schweizer Eidgenossenschaft, die wie das Deutsche
Reich das fakultative Referendum, wenn auch in etwas anderer Aus gestaltung besitzt, zweifelt man auf der einen Seite nicht daran, daß ein Bundesgesetz dem Bundesrate das Recht zum Erlasse von Rechts
verordnungen erteilen könne. Aber auf der andern Seite erklärt man
doch ausdrücklich, es entspreche nicht dem „Geiste" der Bundesverfassung, „daß sich die Bundesversammlung der gesetzgeberischen Lösung wich tiger
Fragen durch Delegation auf
(Burck Hardt.)
den Bundesrat entledige".
Wie ein anderer Schriftsteller,
Guhl, sich aus
drückt, soll die Bundesversammlung in erster Linie selbst rechtsetzend wirken; sie soll jedenfalls die Möglichkeit der Delegation ihres Gesetz
gebungsrechtes an den Bundesrat nicht dazu mißbrauchen, die Kontrolle
zu umgehen, die im fakultativen Referendum enthalten ist. Die Delegation zu Rechtsverordnungen ist nur dort statthaft, „wo die Bundesversammlung
nicht selbst die gleichen Resultate auf dem Wege der Gesetzgebung oder
Beschlußfassung erreichen kann".
Wenn bei Ausbruch des Weltkriegs
die Bundesversammlung durch Beschluß vom 3.
August 1914 dem
Bundesrate die unbeschränkte Vollmacht erteilte, alle Maßnahmen zu
treffen, die für die Behauptung der Sicherheit, der Integrität
und
der Neutralität der Schweiz und zur Wahrung des Kredits und der wirtschaftlichen Interessen des Landes erforderlich sein würden, so war dies eine Delegation, deren Weite man nur durch best Hinweis auf die außerordentlichen Verhältnisse der Zeit, auf eine ganz große Krisis
des Landes rechtfertigen zu können glaubte. Wenn ich nun nach alledem behaupte, daß auch nach der Weimarer
Verfassung der Gesetzgeber kein unbeschränktes Recht zur Austeilung
von Verordnungsrechten besitzt, wenn
ich
anderseits
annehme,
daß
unsere Verfassung solche Austeilung nicht völlig verbietet, so bin ich
verpflichtet, mich über das Maß auszusprechen, in dem sie die Dele
gation gestattet. Da muß ich nun sofort zugestehen, daß es außerordent lich schwierig ist, dieses Maß in einer eindeutigen kurzen Formel zu
bestimmen.
Ich habe in dem
Satze, auf den ich
Sie
hinzuweisen
mir vorhin erlaubte, den Versuch dazu gemacht (Leitsatz I, Abs. 1,
dritter Satz).
„Begrenzter Zweck" — „bestimmtes Lebensverhältnis".
Sie werden sagen, dies sei reichlich vag. Ich gebe das ohne weiteres
25
Erste Sitzung der ersten Abteilung
zu, aber es ist mir bis jetzt noch nicht gelungen, eine bessere Formu lierung, die gleichzeitig kurz und deutlich ist, zu finden.
Ich bemerke,
daß man auch in den Vereinigten Staaten und in der Schweiz trotz mehrfacher Bemühung bislang keine bessere gesunden hat.
Zur Auf
nahme in eine Verfassung eignet sich die meine jedenfalls nicht, und
ich habe mich deshalb auch in Leitsatz IV, Abs. ausgesprochen,
daß man, um etwaige
1
Satz 2
dagegen"
Zweifel auszuschließen, unser
Grundgesetz durch diesen oder einen ähnlichen Satz ergänze: „Der Umfang ihrer (der Rechts Verordnungen)
Zulässigkeit kann durch eine zureichende For mulierung in
einer geschriebenen
Verfassung
kaum abgegrenzt werden."
Es muß der Wissenschaft und der Praxis überlassen werden, den Raum näher zu bestimmen, innerhalb dessen sich der Gesetzgeber nach
freiem Ermessen zu bewegen hat.
Der Wissenschaft eröffnet sich hier
Wie man die Grenzen des freien Ermessens
eine ganz neue Aufgabe.
der Verwaltung untersucht hat, so wird man in Zukunft auch über
das freie Ermessen des Gesetzgebers Untersuchungen anzustellen haben. Und dies wird ebenso große Schwierigkeiten verursachen wie jenes. Ich glaube, daß meine Formel die zu suchenden Grenzen wenigstens
einigermaßen andeutet.
Der Verordnung ist "nur überlassen, was sich
als ein sachlich oder örtlich beschränkter Teil der dem Gesetzgeber ge
stellten Ausgabe darstellt.
Das Allgemeine gehört immer dem Gesetz;
der Verordnung gehört nur das Besondere, nur das, was nach der jeweiligen Staats- und Rechtsanschauung nicht eine ganze „Materie",
sondern bloß ein verhältnismäßig kleiner Ausschnitt aus einer solchen ist.
Damit ist schon gesagt, daß der Spielraum für das
gesetzgeberische
Ermessen zu verschiedenen Zeiten enger oder weiter abgesteckt sein kann.
Was gestern nur die einzelne Seite einer Angelegenheit war — etwa
den Verkehr mit Luftfahrzeugen —, kann heute eine große u'nd wich tige, selbständige Materie sein. Die Kompetenzklauseln der Verfassung geben da zuweilen einigen, freilich im ganzen doch nur unsicheren An
halt. Die Hauptsache ist: innerhalb jenes Spielraums waltet das Er
messen des Gesetzgebers. Eine Delegation von Verordnungsrechten aber, die sich nicht auf eine bestimmte einzelne Seite einer der Gesetzgebung
zugewiesenen Angelegenheit beschränkt oder die der Bestimmtheit über haupt ermangelt, ist eine Ermessensüberschreitung.
Sie ist verfassungs
widrig, und die Gerichte haben das Recht und die Pflicht, ihr die An-
26
Erste Sitzung der ersten Abteilung
erkennung zu versagen. Es ist zu wünschen, das; die Gerichte in diesem
Punkte von ihrem Rechte in Zukunft energisch Gebrauch machen.
Dem
habe ich in Leitsatz IV, Abs. 3, folgenden Ausdruck gegeben: „Die genauere Absteckung der Grenzen zwischen
Gesetz
und
Rechtsverordnung
ist der
schaft und der Praxis zu überlassen.
Wissen
Von den
an der Reichsgesetzgebung beteiligten Stellen
mutz erwartet werden, dah sie in Zukunft die
Verleihung mit der
von
Verordnungsrechten auf das
Verfassung verträgliche und auf das
unumgänglich
notwendige
Mah
beschränken,
von den Gerichten, dastsie das ihnen zu stehet de
Prüfungsrecht ohne Rücksicht handhaben/' 4. Mit meinen bisherigen Ausführungen befinde ich mich, wie ich zu meiner Freude sehe, mit dem Herrn Mitberichterstatter in allem Wesent
lichen im Einklänge.
In einer Beziehung gehen indessen unsere An
sichten auseinander. Der Herr Mitberichterstatter ist noch strenger als
ich. Er ist der Meinung, daß sich das Recht des Gesetzgebers darauf be
schränke, Delegationen zu — sagen wir es kurz — Ausführungs und Ergänzungsverordnungen zu erteilen. Ich glaube nicht, datz uns die Verfassung oder auch die Geschichte ihrer Entstehung dazu
nötigt, die Schranke so eng zu ziehen. Was die Entstehungsgeschichte an
langt, so scheint sie mir eher das Gegenteil zu beweisen. Denn man hat bei den Verhandlungen die Nichteinführung eines Notverordnungsrechts gerade mit dem Hinweise daraus gerechtfertigt, daß in Notfällen durch
Delegation eines Verordnungsrechts im Wege eines einfachen Reichs gesetzes rasch geholfen werden könne.
Ich bin aber auch
nicht
der
Meinung, daß es sich de lege ferenda rechtfertigen läßt, den Gesetz
geber in jener Weise einzuengen. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen es der kann,
Gesetzgeber
ganz berechtigter
Weise
der
Verwaltung überlassen
kleine Ausschnitte aus einem im übrigen von ihm selbst an
gebauten Gebiete durch Verordnungen zu regeln, — berechtigter Weise, weil er selbst nicht immer die Verhältnisse genügend übersieht, und weil
die Verwaltung besser als er in der Lage ist, die notwendigen Rechts
regeln den wechselnden Verhältnissen anzupassen. Das wird immer so sein
und ist bei uns immer so gewesen.
Nahrungsmittelgesetz,
das
Die Gewerbeordnung, das
Weingesetz, das Gesetz über den Verkehr
Erste Sitzung der ersten Abteilung
27
mit Kraftfahrzeugen und viele andere Gesetze polizeilichen Inhalts, neuerdings auch in einem fachlich vielleicht bedenklichen, rechtlich aber doch meist zulässigen Umfange die Steuergesetze, namentlich das Umsatzsteuergesetz, arbeiten mit solchen Delegationen. Entscheidend ist für
mich vor allem die Erwägung, daß die Beschränkung der Delegation auf Ausführungsnormen das Gesetz der Möglichkeit berauben würde, die Behörden zum Erlasse von Polizeiverordnungen zu er
mächtigen. Das spielte ja bisher für das Reichsrecht nicht ganz die selbe Rolle wie für das Landesrecht, war aber doch, wie die soeben angeführten Beispiele zeigen, auch bislang nicht gleichgültig und wird vermutlich in Zukunft wegen der neuen Regelung der Reichskompetenz auf polizeilichem Gebiete (Reichsverfassung Art. 9) von noch größerer Bedeutung werden. Ferner würde die Beschränkung der Delegation auf echte Ausführungsnormen den Gesetzgeber hindern, die öffentlichen Verbände mit dem Rechte zum Erlasse statutarischer Normen aus
zustatten, und dies wäre eine gerade in unserer Zeit unmögliche Folge. Ich habe mich aus diesen Gründen in Leitsatz IV, Abs. 2, auch de lege ferenda gegen jene Einschränkung in folgender Weise ausgesprochen: „Es empfiehlt sich nicht, in die Reichsver fassung die Bestimmung aufzunehmen, daß sich die Reichsgesetze mit Ermächtigungen zum Er lasse von Ausführungsnormen begnügen
müssen. Eine Einschränkung dieser Art würde den Gesetzgeber mehr als notwendig beengen. Sie würde in unerwünschter Weise verhindern, daß ein einfaches Reichsgesetz der Rechtsver ordnung die selbständige Regelung auch eines zeitlich oder sachlich eng begrenzten Lebens gebiets zuwiese, und sie würde jede ErmächtigungzumErlassepolizeilicherVerordnungen,
auch solcher von örtlichem Charakter, und zur
Setzung statutarischen Rechts durch öffentliche Verbände an die erschwerenden Formen einer Verfassungsänderung binden."
5. Mit um so größerer Entschiedenheit aber möchte ich den Gesetz geber in den Schranken gefesselt erhalten, in die ihn nach meiner Auffassung das geltende Verfassungsrecht gebannt hat. Ich wende
28
Erste Sitzung der ersten Abteilung
mich deshalb mit allem Nachdrucke gegen einen Vorschlag, den
der
Abgeordnete Schiffer und seine Fraktion in einem beim Reichstage
im Januar d. I. eingebrachten, bisher noch nicht erledigten Gesetzes antrag erhoben haben.
Darnach soll es in Zukunft möglich sein,
daß „Reichsgesetze", die nicht lediglich oder hauptsächlich leitende Grund sätze enthalten und auch nicht aus anderen Gründen von besonderer
Bedeutung sind, von einem Ausschüsse des Reichstags beschlossen wer
den
(Drucks.
Nr. 1382).
Das bedeutet,
in die Terminologie
des
Staatsrechts übersetzt, daß der zuständige Ausschuß ein Verord nungsrecht überwiesen erhalten soll. Und zwar ein Verordnungsrecht von ungeheurer Weite, durch eine ganz unbestimmt gehaltene Delegation.
Was sind „leitende Grundsätze", was sind Normen von „besonderer Bedeutung"?
Solche Delegationen öffnen der Willkür Tür und Tor.
Die Sache wird nicht besser, sondern schlimmer dadurch, daß die Ent
scheidung darüber, ob die Voraussetzungen des Gesetzes vorliegen, dem Ältestenräte des Reichstags in die Hand gespielt werden soll (§ 5). Der
Ältestenrat würde dadurch geradezu mit diktatorischer Gewalt ausgestattet werden! Daß die von dem Ausschüsse beschlossenen Gesetze, oder sagen wir lieber: Verordnungen, dem Reichstage vorgelegt und aus sein Ver
langen aufgehoben werden müssen, ist nach allen Erfahrungen, die wir mit der Verordnungspraris der letzten Jahre gemacht haben, kein ge
nügender Schutz. Umgekehrt — die Tatsache, daß das Publikum jeden
Augenblick mit der Möglichkeit der Aushebung eines „Ausschußgesetzes" durch den Reichstag rechnen müßte,
hervorgehoben hat,
würde,
wie Dove mit
die ohnehin herrschende Rechtsunsicherheit
Recht
emp
findlich steigern. Die Absicht des Antrags liegt ja auf der Hand.
Er will den
Reichstag, d. h. seine Vollversammlung, vor Überlastung bewahren. Gewiß ist das ein löbliches Unterfangen.
Aber ist dieser Zweck nur
durch dieses Mittel zu erreichen? Hat es nicht der Reichstag, der! Gesetzgeber, selbst in der Hand, seine Beschlüsse von unnötigem Ballast
frei zu halten, indem er alles Beiwerk, alle Einzelheiten durch Spezial-
delegation der Ausführungsverordnung überweist? Der Antrag bedeutet in meinen Augen eine ganz große Gefahr. Nicht nur, daß die Gründ
lichkeit der Gesetzgebung noch mehr als schon bisher hinter allen billigen Forderungen zurückbleiben
und daß die Massenproduktion von Rechts
normen vermutlich zunehmen würde.
Es liegt vor allem nahe,
daß
eine politische Körperschaft wie der Reichstag, genauer: sein Ältesten rat, nur Gesetzentwürfe von politischem Charakter als Entwürfe
29
Erste Sitzung der ersten Abteilung
von „besonderer Bedeutung" betrachten wird. Was nicht politisch auszu
münzen ist, wird dann von dem Ausschüsse erledigt werden.
Mit Recht
hat man gesagt, es könne sich ereignen, daß das ganze
Privatrecht
als eine Sache von nicht besonderer Bedeutung betrachtet und künftig
auf dem abkürzenden Wege der Ausschußverordnung geregelt werde
(Bühler).
Was wäre aber dann hier und auf anderen, von uns
Juristen für „bedeutsam" gehaltenen Gebieten die Folge? Das suspensive Beto des Reichspräsidenten, vor allem der Einspruch des Reichsrats und
die Anrufung eines Volksentscheids würden ausgeschaltet. Die Minorität wurde also völlig mundtot gemacht werden.
Die wichtigsten Dinge
würden hinter den verschlossenen Türen der Ausschußberatungszimmer
verhandelt, das Volk könnte mit den einschneidendsten Neuerungen aus
rechtlichem Felde völlig überrascht werden. Unlautere Einflüsse, nament lich von Interessenten und ihren Verbänden, könnten ohne rechtzeitige
Gegenwirkung sich geltend machen. Man wende nicht ein, daß doch auch
jetzt die Hauptarbeit des Reichstags in den Ausschüssen geleistet werde, und daß die unter Hochdruck stehenden Vollsitzungen des Reichstags
häufig
nur
Formsache
seien.
Die Hauptsache ist, daß der förmliche
Minderheiten zum mindesten die Mög
Weg der Gesetzgebung den
lichkeit gewährt, zu Morte zu kommen, ehe es zu spät ist, und daß nur der ordentliche Weg der Gesetzgebung eine rechtzeitige und gründ
liche Kritik bedenklicher Gesetzentwürfe verstattet. Vergessen wir schließlich nicht — was überhaupt für die ganze
Frage des Verordnungsrechts von hervorragender Bedeutung ist —, daß unsere Verfassung das System der parlamentarischen Re
gierung verwirklicht hat.
Unter diesem Systeme wird die Möglich
keit, gesetzgeberische Befugnisse durch Delegation aus eine Regierungs
stelle zu übertragen, immer leicht mißbraucht werden.
Denn die Re
gierung ist hier nichts anderes als das Geschöpf und das verkleinerte Ab
bild der Parlamentsmehrheit.
Die in der konstitutionellen Monarchie
überall wahrnehmbare Scheu, der Regierung weitgehende Vollmachten zum Erlasse von Verordnungen zu geben, hat hier ihren Sinn verloren. Legislative und Erekutive stehen hier nicht mehr in demselben Gegen
satze zueinander wie dort. Im Gegenteil, je öfter und je wahlloser die herrschend« Parlamentsmehrheit der Regierung Vollmachten zu Rechts
verordnungen erteilt, um so sicherer ist sie davor geschützt) daß die Minder
heit auf den Inhalt der Gesetze Einfluß gewinnt. Für Italien haben
berufene Kenner der dortigen Verhältnisse bezeugt, daß das parlamen tarische Regierungssystem eine übertriebene Austeilung von Verord-
Erste Sitzung der ersten Abteilung
30
nungsrechten begünstigt hat (Gmelin). In England lag dieselbe
Gefahr nahe, zumal dort der Gegensatz der politischen Parteien auf dem Hauptgebiete des Verordnungswesens, nämlich im Bereiche der inneren Verwaltung, seit langer Zeit keine beträchtliche Rolle mehr spielte, das Parlament sich also ohne Kämpfe zur Übertragung gesetzgeberischer Befugnisse auf die Regierung hätte entschließen können. Indes hat die Engländer ein gesunder Instinkt vor den Mißständen bewahrt,
die aus anderen Ländern mit parlamentarischer Regierungsweise berichtet werden. Allerdings ist die alte englische Tradition, nach der das Parlament die Gesetzgebung bis in alle Einzelheiten selbst wahrnehmen
mußte,
längst
vergessen.
Wie
die
Franzosen
ihre
„legislation
secondaire“, so haben die Engländer ihre „subordinate legislation". Das letzte Jahrhundert zeigt in den Parlamentsstatuten eine immer mehr anwachsende Zahl von Ermächtigungen zum Erlasse von Ver
ordnungen durch die Krone, meist durch die Minister (empowering clauses). Aber die überlieferte Abneigung des Engländers gegen alle Bürokratie hat hoch bewirkt, daß sich diese Ermächtigungen in normalen Zeitkäufen streng auf Ausführungs- und Ergänzungsoerord nungen beschränken, und daß gegen Mißbrauch des Verordnungs rechts allerhand besondere, parlamentarische und außerparlamentarische Kontrollen geschaffen worden sind. Eine Delegation von so unge heurem Umfange, wie sie in dem Anträge Schiffer enthalten ist, wäre in England unerhört und kaum während der Zeit eines Krieges denkbar. Aus allen diesen Gründen spreche ich mich gegen jede Verfassungs änderung aus, die das Recht des Gesetzgebers zur Verordnungsdelegation über das bisherige Maß erweitert, insbesondere also gegen den Antrag
Schiffer. Eine entsprechende Erklärung habe ich im Leitsatz III folgender Weise formuliert:
in
„Es empfiehlt sich nicht nur nicht, sondern ist mit Entschiedenheit zu bekämpfen der Vor schlag, durch eine Änderung der Verfassung die Beschlußfassung über Reichsgesehe von „nicht besonderer Bedeutung" an Stelle des Reichs tags seinen Ausschüssen zu übertragen und da mit zu deren Gunsten ein allgemeinesRechtsverordnungsrecht zu begründen. Der Vorschlag ist um so bedenklicher, als er die Entscheidung darüber, ob im einzelnen Falle der ordentliche
31
Exste Sitzung der ersten Abteilung
Weg der ®ejetjgebung verlassen werden soll, dem
Ältestenräte
des Reichstags in die Hand
geben will."
6. Mein unvergeßlicher Lehrer und Freund Binding schrieb mir in dem letzten Briese, den er kurz vor seinem Tode an mich richtete:
die Bekämpfung der
„Die nächste große Aufgabe ist
in ihrer Anmaßung gegen das Gesetz!"
Verordnung
Ich weiß nicht, ob das im
Sinne einer Aufforderung an mich gemeint war. Es hätte ihrer wahr
scheinlich nicht bedurft. Gleichwohl betrachte ich die Worte als ein teures Vermächtnis.
In der Tat ist
es
eines der dringendsten
Anliegen
unserer Zeit, gegen die Anmaßungen des Verordnungsrechts vorzugehen. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, daß wir nachgerade in der Überfülle eilfertig erlassener und ebenso eilfertig abgeänderter und er«
ergänzter, von den verschiedensten Stellen ohne Zusammenhang unter einander erlassener und sich daher leicht widersprechender Verordnungen
nachgerade ersticken.
Es ist ein Unfug ohnegleichen, daß ein
ganz
großer Teil alles Rechtes, das zur Zeit unser Leben beherrscht und von den Gerichten und Verwaltungsbehörden anzuwenden ist, auf Ver
ordnungen statt auf Gesetzen beruht. Und wie tief greifen diese Ver ordnungen in das Rechtsleben ein!
ordnungen,
die bis zu 100 000
Da finden wir ministerielle Ver
Mark Geldstrafe,
dreijähriges Ge
fängnis, Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte und Vermögenseinziehung
androhen — Verordnungen, die das Strafgesetzbuch durch Vorschriften über die Behandlung des Irrtums ergänzen — Verordnungen, die den
ordentlichen Rechtsweg auf wichtigen Gebieten ausschließen oder die ganz neue Gerichte einführen — Verordnungen, die dem Reiche, diesem großen
Schuldner, gestatten, sich privatrechtlicher Verpflichtungen gegen seine Bürger kurzer Hand zu entledigen — eine Verordnung, die die Auf
hebung der Höchstpreise für Häute, Felle und Leder dazu benutzt, um
auf den hierdurch entstandenen Wertzuwachs eine Abgabe zu legen,
die also eine ganz neue Steuer einführt! Durch sogenannte Richtlinien oder Leitsätze, die von der Praris leider nicht nur als unmaßgebliche
Anhaltspunkte, sondern als verbindliche Verordnungen angesehen werden, wird bestimmt, was als angemessene Entschädigung im Sinne der aus
Anlaß des Friedensvertrags erlassenen Enteignungsgesetze zu betrachten sei, und es wird damit über millionenwerte Ansprüche kurzerhand abge-
urteilt. Eine große Organisation, wie der vorläufige Reichswirtschafts-
Erste Sitzung der ersten Abteilung
32
rat, beruht auf einer Verordnung; ganze Wirtschaftsgebiete, wie z. B.
der gesamte Kompler der Eisenwirtschaft, sind durch Verordnung geregelt. Durch diese Verordnungen wird das bestehend« Eesetzesrecht fortdauernd durchlöchert.
setzen
Man kann ruhig behaupten, daß unser ganzes, auf Ge
beruhendes
Mietrecht,
Pachtrecht,
Arbeitsrecht,
Versicherungs
recht durch zahllose Verordnungen verstümmelt worden ist.
Dabei besteht ein großer übelstand darin, daß vielfach die Dele gationen zum Erlasse von Verordnungen durch wiederholte Subdele-
gationen an untere Stellen weitergeleitet werden: vom Bundesrat auf
den
Reichswirtschaftsminister und von diesem
auf
die Reichsfleisch
stelle, — von der Reichsregierung auf die Landeszentralbehörden, von
diesen auf Gemeindebehörden, — vom Bundesrat auf den Reichskanzler, von diesem auf einen Reichskommissar für Kohlenverteilung, von diesem auf örtliche Stellen. Mit jeder solchen Subdelegation wächst aber die
Fülle der Verordnungen lawinenartig an und erhöht sich die Gefahr,
daß die Grenzen der Delegation überschritten werden. Auch das richter liche Prüfungsrecht versagt hier sehr oft, einmal weil oft lange Zeit ver
geht, bis die Gerichte in die Lage kommen, über die Gültigkeit einer Ver ordnung zu entscheiden, und ferner, weil die Verordnungen oft die Ent
scheidung der Streitigkeiten über die geregelten Rechtsbeziehungen auf
nichtrichterliche
Behörden,
die
Mieteinigungsämter
die weder die nötigen Kenntnisse
usw.
übertragen,
noch auch die nötige Freiheit bv-
sitzen, um über die Gültigkeit von Verordnungen zu urteilen.
Mit
jeder Subdelegation vermindert sich aber auch die Möglichkeit kon stitutioneller Kontrolle. Viele Gesetze binden ja den Erlaß einer Ver ordnung an die Zustimmung eines kleinen Ausschusses des Reichstags
oder auch an die des Reichsrats. Das ist immerhin ein gewisser Schutz gegen Entgleisungen. Aber wenn sich die Verordnung beeilt, die Dele gation sofort in beträchtlichem Umfang an andere Stellen weiterzugeben,
so ist es mit jenem Schutze sofort wieder vorbei. Die Schuld
an diesem, allgemein als unerträglich angesehenen
Zustande liegt nur zum Teil bei den Behörden, die die Verordnungen erlassen, zum größeren Teile liegt sie bei dem Gesetzgeber, der in über
triebener, zum Teil geradezu verfassungswidriger Weise Verordnungs rechte in die Welt setzt.
Das Unglück hat mit dem Reichsgesetze vom
4. August 1914 angefangen, das dem Bundesrate die vielberufene,
ungeheuer weite Ermächtigung zum Erlasse von Verordnungen während der Kriegsdauer, die man damals als sehr kurz veranschlagte, in die Hand gab.
Das berüchtigte Reichsgesetz über eine vereinfachte Form
Erste Sitzung der ersten Abteilung
33
der Gesetzgebung vom 17. April 1919, das mit seinen beiden Nach-folgern seit dem 1. April d. I. gottlob zu den Toten geworfen ist,
hat das üble Beispiel nachgeahmt. Aber auch andere Gesetze haben sich gleich schuldig gemacht. Von den Gesetzen zur Ausführung des sogenannten Friedensvertrags von Versailles sehe ich ab. Sie sind zum Teil unter äußerem Zwange entstanden. Aber wenn es z. B. in dem Reichsgesetze gegen die Kapitalflucht heißt: „Der Reichsminister der
Finanzen ist ermächtigt, durch Verordnung Maßnahmen zur steuer lichen Erfassung geflüchteten oder versteckten Vermögens zu treffen", oder wenn das Anleihekreditgesetz vom 29. August 1919 sagt: „Der Reichsminister der Finanzen wird ermächtigt, die im § 2 bezeichnete Anleihe mit steuerlichen Vorteilen auszustatten", oder wenn das Reichssiedelungsgesetz bestimmt: „Der Reichsarbeitsminister ist ermächtigt . . . ., nähere Vorschriften, insbesondere (!) zur Ausführung dieses Gesetzes zu erlassen" —, so sind dies alles Delegationen, die teils viel zu weit, teils viel zu unbestimmt sind, um den verfassungsmäßigen Erfordernissen zu genügen. Man muß allerdings ehrlicher Weise zu geben, daß sich in neuester Zeit die Praris gebessert hat. Ein großes Verdienst hat sich hier der Reichsrat erworben, der neuerdings gegen Gesetze mit übertriebenen Verordnungsdelegationen schon im Vorberei
tungsstadium energisch Front macht. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich dem Herrn Mitberichterstatter einen starken Anteil an diesem
Verdienste zuspreche. Aber noch immer haben wir allen Anlaß, dem Träger der gesetzgebenden Gewalt eine Warnung zu erteilen. Ich habe dieser in Leitsatz II folgenden Ausdruck zu geben versucht: „Durch die außergewöhnlichen Verhältnisse der Kriegs-, der Revolutions- und der Über gangszeit veranlaßt, hat die Reichs gesetzgebung neuerdings Verordnungsrechte weit
über das früher gewohnte Maß hinaus ge schaffen. Die gesetzlichen Ermächtigungen leiden vielfach an Unbestimmtheit des Inhalts und an übertriebener Weite des Umfangs. Sie geben in unerwünschter Weise die Möglichkeit, die Ermächtigung an untergeordnete Stellen weiterzuleiten. Dem Ausmaße der Ermächti gung entsprechend, greifen die Verordnungen häufig tief in die wichtigsten Lebensverhält
nisse ein und nehmen an dem bestehenden Ge32. $gt. 3. 3
Erste Sitzung der ersten Abteilung
34
setzesrechte nicht nur im Bereiche d^s Verwal-
1 ungs -, sondern auch im Gebiete des bürger des
lichen,
Straf-,
des Prozeß-
richtsverfassungsrechts
des Ge-
und
Ver
eins ch neid en de
änderungen vor. Die Unmasse der in den letzten
Jahren ergangenen Verordnungen hat zu einer
Überfülle
verstreuten
Rechtsstoffs geführt.
und
unübersichtlichen
Alles dies bedeutet eine
Gefahr für die Sicherheit des Rechtsverkehrs,
aber auch für die Stetigkeit und Besonnenheit der
Rechtsentwicklung.
Gegen
Verord-
diese
nungsprarisist entschiedenerWiderspruchzu er
heb en."
Es mag sein, daß dieser Leitsatz etwas aus dem üblichen Stils der Beschlüsse des Juristentags herausfällt.
Aber es ist, glaube ich,
erwünscht und wird von weiten Kreisen des Volkes, namentlich aber
der Juristen begrüßt werden, wenn das Concilium}urisconsultorum Bambergense
gegen
die
herrschende
Verordnungspraris sein Ana
thema schleudert.
Ich bin am Schlüsse meiner Ausführungen. Obwohl ich, wie ich fürchte, Ihre Zeit über Gebühr in Anspruch genommen habe,
es mir doch nicht entfernt möglich gewesen, den großen um den es sich hier handelte, zu erschöpfen.
so ist
Gegenstand,
Ich habe manches nur
andeuten können, was breiterer Darlegung bedürftig und fähig gewesen wäre, was aber nur in einem umfänglichen Gutachten in der Art, wie
sie früher den Juristentagen vorgelegt wurden, hätte gründlicher behandelt werden können. Manches habe ich auch absichtlich beiseite gelassen, um die Erörterung nicht über alles Maß anschwellen zu lassen.
So ins
besondere di« Frage nach der Zulässigkeit organisatorischer Ver
ordnungen, nach der Zulässigkeit der Subdelegation von Ver ordnungsrechten, ferner die heikle Frage nach der inneren Berechtigung
des
Ausnahme-Verordnungsrechts des
Reichspräsidenten,
worüber sich allerlei sagen ließe. Sie werden aber, denke ich, mit mir darüber einverstanden sein, daß eine Besprechung dieses Gegenstandes
in den kritischen Tagen, die wir jetzt durchleben, besser
unterbleibt.
Wenn ich meine Leitsätze, um deren Annahme ich Sie
bitte,
in einem Sahe zusammenfassen darf, so ist es dieser: Es empfiehlt
35
Erste Sitzung der ersten Abteilung
sich nicht, die in der Reichsverfassung gezogenen Grenzen zwischen
Gesetz und Rechtsverordnung zu verschieben.
Die Verfassung hat dem
Verordnungsrechte, soweit es unentbehrlich ist, genügenden Raum ge
lassen.
Sie bietet andrerseits, vorausgesetzt, daß sie richtig ausgelegt
und angewendet wird, die erforderlichen Handhaben, um der Verord nung dort einen Damm entgegenzusehen, wo sie Schaden stiften, wo
sie namentlich der Klarheit und Stetigkeit der Rechlsentwicklung und der Freiheit des Bürgers gefährlich werden könnte.
Mitberichterstatter Geh. Legationsrat Dr. Poetzfch-Berlin: Wie Sie bereits aus den Leitsätzen ersehen haben, deckt sich meine Auffassung mit der des Herrn Vorredners ist den wesentlichen Punkten.
Mr sind insbesondere in dem Hauptpunkt einig, datz zwar ein gesetzlich ermächtigtes Verordnungsrecht nach der Verfassung möglich ist, das;
das Verordnungsrecht aber immer beschränkt sein muß auf den Dienst eines besonderen Zweckes und aus ein bestimmtes Lebensverhältnis.
Abweichend sind unsere Auffassungen in einem Punkte zweiter Ordnung. Ich folgere aus der Anerkennung des uns gemeinsamen Satzes, daß
notwendig jede zulässige Rechtsverordnung zur Ausführungsverordnung wird.
Zunächst möchte ich noch einige Worte über die Notwendigkeit der Beschränkung des Verordnungsrechts überhaupt sagen. Ich beschränke
mich auf einen skizzenhaften Umriß, muß aber doch eine captatio benevolentiae vorausschicken.
Mein Herr Vorredner hat schon gesagt, wie
mißlich es sei, Gründe zu wiederholen.
Da wir in unseren Leitsätzen
einig sind, läßt es sich indessen nicht vermeiden, daß ich auch gleiche Gründe vertrete.
Ich bitte es genügen zu lassen, wenn ich den und
jenen Gedanken noch in eine andere Beleuchtung stelle.
I. 1.
Wie die alte Reichsverfassung
die preußische und andere
Landesverfassungen, kennt auch die Weimarer Verfassung einen Gesetzes
begriff im Materiellen und im formellen Sinne.
Reichsgesetze werden vom Reichstage beschlossen", Bedeutung.
Der Satz:
„Die
hat eine doppelte
Er bezeichnet einmal den Weg der Gesetzgebung.
Nor
mierende Willensakte des Reiches, die auf diesem Wege zustande kommen,
sind formelle Gesetze.
Er stellt aber auch, und deshalb
wird dieser
Satz zum Eckstein der folgenden Ausführungen, die Forderung aus, daß die Rechtssätze, d. h. die Gesetze im
mate-
3*
36
Erste Sitzung der ersten Abteilung
Sinne,
riellen
vom Reichstage beschlossen werden.
Für Ausnahmen von diesem Grundsätze ist ein anderer Verfassungs satz
notwendig.
Dies gilt auch,
ordnungen möglich sein soll.
soweit der Erlaß von
In diesem
Rechtsver
Gedankengang liegt wohl
das Rönne'sche Wahrheitskorn, von dem gesprochen worden ist.
Ob
gleich sich das geschriebene Berfassungsrecht auf einzelne wenige Fälle
beschränkt, in denen ein Rechtsverordnungsrecht erteilt wird, kann doch kein Zweifel sein, daß di« Verfassung noch eineu weiteren, und zwar
den praktisch-wichtigsten Fall des Verordnungsrechts: das Verord nungsrecht auf Grund besonderer gesetzlicher Ermäch
tigung,
zugelassen hat.
Hierfür
Gründe.
sprechen folgende
Die
wenigsten Gesetze sind imstande, die Verhältnisse eines Lebensgebiets
bis in seine Einzelheiten und die durch örtliche und
zeitliche
Der-
schiedenheiteil gebotenen Abwandlungen zu übersehen und hierfür eine
gerechte Regelung zu finden. Deshalb ist es im Rechte aller Kultur
staaten eine Selbstverständlichkeit, daß die Gesetze durch weitere Ver
ordnungen ausgesührt und ergänzt werden. Schon unter der Herrschaft
der
alten
Reichsverfassung
Staatslebens
dazu
hatte diese
geführt,
Notwendigkeit
einen ungeschriebenen
des
verfassungs
rechtlichen Satz anzunehmen, wonach die gewöhnliche Gesetzgebung in der Lage war, zum Erlasse gewisser Rechtsverordnungen zu ermäch tigen.
Hätte die neue Verfassung einen solchen, für das
staatliche
Leben unentbehrlichen und von ihrer Vorgängerin bereits stillschweigend
anerkannten Satz nicht zulassen wollen, so hätte es hierfür einer be sonderen Bestimmung bedurft. fassung ist
Vorgänge
Das Schweigen der
stillschweigende Anerkennung. in
Weimarer Ver
Dies Ergebnis wird durch
ihrer Entstehungsgeschichte gestützt.
In
dem
Entwurf der Reichsverfassung war eine Bestimmung vorgesehen, wo
nach
die
Reichsregierung die zur
Ausführung
der Reichsgesetze er
forderlichen Verordnungen erlassen sollte und an einer anderen Stelle
war gesagt, daß sie zum Erlasse der Ausführungsverordnungen der Zu stimmung des Reichsrats bedürfe.
Sowohl bei den Beratungen im
Staatenausschuß wie in. der Nationalversammlung ist zum Ausdrucke gekommen, daß unter diesen von der Reichsregierung zu erlassenden
Ausführungsverordnungen, Rechtsverordnungen zu verstehen seien. Als
schließlich im
Derfassungsausschuß beschlossen wurde,
die Sätze über
das Rechtsverordnungsrecht nicht in die Verfassung aufzunehmen, da die Bestimmung des Verordnungsträgers der Regelung von Fall zu
Fall vorbehalten bleiben sollte, so war man sich doch
völlig
einig,
37
Erste Sitzung der ersten Abteilung
daß nun an Stelle der verfassungsmäßigen Ermächtigung die Ermäch
tigung durch dos einzelne Gesetz treten solle. Dieser Wille der National versammlung ist mittelbar auch in der Verfassungsurkunde selbst zum Ausdrucke gekommen. Indem in Artikel 179 davon ausgegangen wird,
daß die gesetzlichen Ermächtigungen zum Erlaß von Verordnungen, soweit sie in den bis zum Inkrafttreten der Reichsverfassung erlassenen Gesetzen enthalten sind, fortwirken sollen, wird ein durch ein einfaches Gesetz begründetes
Verordnungs-Recht als Quelle der Rechtssatzung
auch für die Zukunft anerkannt, und es kann hieraus geschlossen wer
den,
daß auch die Neubegründung
eines solchen Verordnungsrechts
dem Willen der Verfassung nicht widerspricht.
Die dem Artikel
68
der Reichsverfassung entnommene Regel: Rechtssätze werden vom
Reichstage beschlossen, ist also durch den ungeschriebenen ver fassungsrechtlichen Ausnahmesatz zu ergänzen. Rechtssätze können,
wenn ein Gesetz dazu ermächtigt, auch auf einem an deren
Wege
erlassen werden.
Das
wird
wohl allgemein
anerkannt. Zweifel besteht indessen darüber, in welchem Umfange die einfache
Gesetzgebung zu Verordnungsermächtigungen befugt ist. Kann die ein fache Gesetzgebung unbeschränkt den Verordnungsweg zulassen oder gilt jener ungeschriebene Verfassungssatz, der ausnahmsweise Verord-
nungsrecht zuläßt, nicht bloß mit einer gewissen Einschränkung? 2.
Dafür,
daß der Ermächtigung überhaupt Grenzen gezogen
sind, lassen sich drei Gründe anführen. Der erste liegt in der Stellung, die der formellen Gesetzgebung im System der Reichsverfassung zu
gewiesen ist. Die Rechtssätze müssen nach Artikel 68 der Reichsverfassung grundsätzlich den Weg der Gesetzgebung gehen.
Hierin liegt die
Verbürgung des Rechtsstaats. Damit dieser ein Grundrecht des
Volkes
enthaltende Verfassungssatz nicht preisgegeben wird, ist
es erforderlich,
daß die der einfachen
Gesetzgebung gestatteten Ab
weichungen immer nur vereinzelte Ausnahmen bleiben.
Würde die ein
fache Gesetzgebung die Abweichungen unbeschränkt zulassen können, so
bedeutete dies nichts Geringeres als die ihr zugestandene Fähigkeit, sich selbst aufheben und mit diesem Selbstmorde die verfassungsmäßig
verbürgte Grundlage des Rechtsstaats beseitigen zu können.
Sßeniger
scharf ausgeprägt hat dies auch schon unter der alten R. V. gegolten: deshalb auch schon damals die Lehre, daß die Rechtssätze
grund
sätzlich im Wege der Gesetzgebung erlassen werden müßten, oder der
die Einschränkung versteckt aussprechende Sah, daß für gewisse Rechts-
38
Erste Sitzung der ersten Abteilung
sätze die Form der Rechtsverordnung möglich sei, und schließlich die Forderung einer „Spezial"-Delegation, auf die später noch ein zugehen ist. Eine weftere Vertiefung des Problems hatte aber früher
geringeren praktischen Wert.
Die Gesetzgebung hielt sich mit ihren
Ermächtigungen sehr weise zurück. Auch konnten die in Frage kommen
den Gesetze im Notfälle als Verfassungsgesetze angesehen werden.
Es
ist nicht bekannt, daß in zweifelhaften Fällen im Bundesrate, worauf
es ja allein ankam, mehr als 14 Stimmen gegen die Ermächtigung
abgegeben worden sind.
Das gilt auch von dem weitgehenden
mächtigungsgesetz vom 4. Augnst 1914.
Er
Im allgemeinen konnten die
verbündeten Regierungen von ihrem Standpunkt aus nur einverstanden
sein, wenn der Reichstag auf seine Mitwirkung verzichtete. Gegen die Auffassung,
daß die grundsätzliche Einhaltung des normalen Gesetz
gebungsweges
verfassungsrechtlich
gefordert
sei,
kann
auch
nicht eingewandt werden, daß sie sich lediglich aus dem politischen
Gleichgewichte der an der Gesetzgebung beteiligten Kräfte ergebe. Dieser Einwand scheitert daran, daß nach positivem Rechte die Verfassung
den Grundsatz, daß die Gesetze von der Volksvertretung beschlossen werden sollen,
als ihren Bestandteil ausgenommen hat.
Wenn die
Grenzlinie zwischen Gesetz und Verordnung wirklich lediglich im Poli
tischen läge, so müßte man unterstellen, daß auch die Aufnahme des erwähnten Satzes in die Verfassung keine rechtliche, sondern nur eine
politische Bedeutung habe. Das ist unmöglich. Es wäre vielmehr auch
vom Rechtsstandpunkt aus unzulässig, daß die einfache Gesetzgebung an Stelle des mit peinlicher
Sorgfalt in der Reichsverfassung
ge
regelten Eesetzgebungsweges heute diesen und morgen jenen Weg vor
schriebe,
und daß die einfache Mehrheit des Reichstags,
um
sich
den Einflüssen einer starken Opposition zu entziehen, die verfassungs mäßige Eesetzgebungsmaschine stillegte und dafür einen von ihr zu sammengesetzten Ausschuß im Dunkeln arbeiten ließe.
Welche Aus
sichten eröffneten sich sonst für politisch bewegte Zeiten!
Auch
die
Rechte des Reichsrats und des Reichswirtschaftsrats verlören ihren
Alle diese Konsequenzen zeigen, daß im
verfassungsrechtlichen Schutz.
System der neuen Reichsversassung ein unbeschränktes Ermächtigungs recht
eine Unmöglichkeit ist. Eine Beschränkung des Ausnahmesatzes, der Ermächtigungen zu
läßt, ergibt sich zweitens aus der Begründung, auf die allein wir
ihn zurückführen konnten.
Denn wenn wir, obgleich die Verfassung
schweigt, die Anerkennung einer Ermächtigungsmöglichkeit aus eine un-
39
Erste Sitzung der ersten Abteilung
abweisliche Staatsnotwendigkeit zurückführten, jo kann diese Annahme doch auch nur soweit reichen, als sich die Notwendigkeit erstreckt.
Sie
ist vorhanden, soweit es sich darum handelt, die in den Gesetzen auf gestellten Rechtssätze der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der örtlichen Verhältnisse, des zeitlichen Wandels und außergewöhnlicher Umstände
elastisch anzupassen.
Die Notwendigkeit einer Ermächtigung ist aber
nicht gegeben, soweit die Rechtsgedanken bereits zur Zeit der Abfassung
des Gesetzes in eine feste Form gebracht werden können.
Dabei wird
vorausgesetzt, daß die Gesetze nicht zur Unzeit gemacht werden.
Denn
es liegt auf der Hand, datz ein vorzeitig eingebrachtes Gesetz vielfach noch mit unbestimmten Begriffen arbeiten mutz, die sich später
meiden lassen.
Ein Grund, der schon für sich allein
starke Überhastung der Gesetzgebung spricht.
Aufgabe
des
Gesetzes
die Ausstellung
von
ver
gegen ein« zu
Die Auffassung, datz die
Grundsätzen und allge
meinen Regeln, die Aufgabe der Verordnung die Bildung bestimmterer
Rechtssätze sei, ist dagegen nur bis zu einem gewissen Grade richtig. Denn es mutz auch die Aufgabe und das Ziel der Eesxtzgebung sein, jedes Lebensverhältnis so bestimmt als nur möglich zu regeln, und nur soweit die Mannigfaltigkeit und
der Wechsel der Autzenwelt dazu nötigt, ist die blotze Aufstellung all
gemeiner Normen zulässig. datz
hierdurch
die
Aber an jener Auffassung ist zutreffend,
grundsätzliche
Regelung
dem
Verordnungswege
immer entzogen ist. Wie sehr die Reichsoersassung davon ausgeht, datz
Grundsätze nur im formellen Gesetzgebungswege erlassen werden können, zeigen die Bestimmungen über die Kompetenzabgrenzung zwischen Reich
und Ländern in Art. 10 und 11 und über die Vorlage grundsätzlicher
Gesetzentwürfe beim Reichswirtschastsrat.
In beiden Fällen wird an
genommen, datz Rechtsverordnungen nicht in Frage kommen.
Schlietzlich müssen wir, das ist der dritte Grund, auch
aus
der bereits angezogenen Entstehungsgeschichte der Reichsverfassung eine Beschränkung des Ermächtigungsrechts entnehmen. Es ist bei den Ver
fassungsberatungen niemals davon die Rede gewesen, datz jeder beliebige Rechtsstoff durch ein einfaches Gesetz auf den Vxrordnungsweg ge
bracht werden könnte.
Der Ausgangspunkt für die Annahme einer
gesetzlichen Ermächtigung zum Erlasse von Verordnungen bildete vielmehr lediglich die Bestimmung über die Ausführungsverordnungen.
Man
war sich einig, datz die einzelnen Gesetze von Fall zu Fall zum Erlatz von Rechtsverordnungen zur Ausführung und Ergänzung der Gesetze
ermächtigen konnten.
40
Erste Sitzung der ersten Abteilung Als im Versassungsausschutz ein allgemeines Notverordnungsrecht
für entbehrlich gehalten worden ist, hat der Reichsminister allerdings erklärt, daß die Gesetzgebung ja von Fall zu Fall ermächtigen könne, hat sich aber nicht darüber ausgesprochen, in welchen Fällen dies durch
einfaches
Gesetz
geschehen könne,
änderndes Gesetz geschehen müsse.
in
welchem
es durch verfassungs
Da für das allgemeine Notverord
nungsrecht die Notwendigkeit eines Berfassungsgesetzes vom Ausschutz mit Recht unterstellt wurde, mutz man davon ausgehen, dah nach seiner Ansicht auch ein aus Anlatz eines besonderen Falles
erteiltes
Notverordnungsrecht der verfassungsändernden Mehrheit bedarf. 3.
Die zunächst für das
Bestehen
einer Beschränkung
ange
führten Gründe zeigen zugleich, in welcher Richtung die Beschränkung
liegt.
Der Grundsatz der R. D., datz die Rechtssätze von der Volks
vertretung beschlossen werden, soll der Sicherung des Volksrechts auf Rechtssicherheit dienen, und es ist deshalb, um es noch einmal zu wieder
holen, notwendig, datz die Rechtssphäre des einzelnen im Verhältnis zu seinem Nachbarn wie zur Staatsgewalt so fest als möglich bestimmt
und durch die Wirkung der formellen Gesetzeskraft den Eingriffen der
Verwaltung unzugänglich gemacht wird.
Nur soweit diese Forderung
sich nicht durchführen lätzt, sind Ausnahmen zulässig.
Deshalb wird
der Verwaltung ein Spielraum, ein Rahmen gelassen zur Ausführung
und Ergänzung. Es bleibt infolge des Spielraums zunächst zweifelhaft,
welcher von mehreren noch möglichen Rechtssätzen im Anwendungsfal! gelten soll. Ausführung ist die Wahl zwischen ihnen. Der Spielraum kann dadurch geschaffen werden, datz in das Gesetz unbestimmte, mehr
deutige Begriffe Aufnahme finden. Von einer Ausführung im engeren
Sinne wird man dabei sprechen, wenn die Verwaltung einen
vom
Gesetz unbestimmt gelassenen Begriff näher entwickelt, von einer Er
gänzung aber dann, wenn das auszuführende Gesetz selbst neben einem
allgemeinen Rechtssatz bereits Rechtssätze zu dessen Ausführung ent wickelt hat, so datz die ausführenden Verordnungssätze auf gleiche Stufe wie diese letzteren treten und sie ergänzen.
So hat, um ein Beispiel
für viele zu nennen, das Gesetz zur Ausführung des internationalen Opiumabkommens sich zunächst auf Opium,
Morphium und andere
ausdrücklich bezeichnete Mittel erstreckt, dann aber noch erklärt, datz die Bestimmungen des Gesetzes durch eine Verordnung ausgedehnt wer
den können auf jedes Alkaloid
des
Opiums, das nach
wissenschaft
licher Feststellung die gleichen schädigenden Wirkungen ausübt.
Wir
sehen hier, wie das Gesetz durch Verordnung ergänzt werden
kann,
41
Erste Sitzung der ersten Abteilung
und datz dadurch gleichzeitig ein in ihm enthaltener allgemeiner Begriff (das nach Wissenschaftlicher Feststellung gleich schädliche Alkaloid) näher
ausgesührt wird. Für das Verhältnis von Gesetz und Verordnung ist aber weiter von Bedeutung, daß unser Sprachschatz in sehr vielen Fällen
nicht
das Mittel hat, um die wegen eines örtlich oder zeitlich wandlungs
fähigen Lebensverhältnisses in Betracht kommenden verschiedenen Rechts
sätze mit einem Begriff und Ausdruck zu decken.
den
Ausführungs-Spielraum
mehrere Rechtssätze,
die das
lassenden
einen
An die Stelle des
Begriffs
treten
dann
zu ordnende Lebensverhältnis in ver
schiedener Weise regeln. Dies kann in doppelter Weise geschehen.
Die
Regierung kann ermächtigt werden, zur Regelung eines Lebensverhält nisses diesen oder jenen Rechtssatz zu erlassen.
Es ist
aber
auch
möglich, datz der erstere Rechtssatz in das Gesetz ausgenommen,
von
der formellen Gesetzeskraft aber dadurch ausgeschlossen wird, datz gleich zeitig die Regierung ermächtigt wird, einen anderen dem ersten wider
sprechenden Rechtssatz zu erlassen.
Aus diesem Widerspruch ergibt sich
die zunächst noch notwendige Unbestimmtheit.
Die Verwaltung hat
die Entscheidung, ob der Rechtssatz in der Fassung des Gesetzes oder
in der ihr in zweiter Linie überlassenen Bestimmung zur Anwendung
kommen soll.
Ein Beispiel wird
dies verdeutlichen.
Das genannte
Gesetz zur Ausführung des Opiumabkommens unterwirft die Herstellung
und den Handel mit gewissen Stoffen einer Konzessionspflicht.
Run
war die Frage, ob das Anwendungsgebiet des Gesetzes die Apotheken einschlietzen solle oder nicht.
Das Gesetz bestimmt zunächst, datz
die
Stoffe in den Apotheken ohne Erlaubnis hergestellt und abgegeben werden dürfen. Es ordnet aber weiter an, datz durch eine Verordnung
bestimmt werden darf, inwieweit die Konzessionspflicht auch für Apo
theken gilt.
So bleibt das Anwendungsgebiet des Gesetzes zunächst
ebenso in relativer Unbestimmtheit und für die Ausführung ein Spiel raum, als wenn etwa gesagt worden wäre: das Gesetz gilt für alle
Handeltreibenden und für die Apotheken, in denen sich ein Bedürfnis nach Kontrolle herausstellt; die näheren Bestimmungen hierüber er-
lätzt die Reichsregierung.
Die Bedeutung kontroverser Rechtssätze zur
Schaffung eines der Verordnung überlassenen Spielraums möchte ich besonders hervorheben.
Wenn nämlich die gegensätzlichen Rechtssätze
nicht in einem Gesetze enthalten sind, sondern die Notwendigkeit, den
Spielraum zu schassen, erst später hervortritt, so wird die
Ermäch
tigung zum Erlatz des abweichenden Satzes leicht als Ermächtigung
42
Erste Sitzung der ersten Abteilung
zum Erlaß einer selbständigen
Verordnung contra legem
angesehen
und hieraus irrigerweise weiter gefolgert, daß ganz allgemeine Ermäch
tigungen contra legem zulässig seien.
Auch die Ermächtigungen zur
Bewilligung von Ausnahmen und die sogenannten Härteparagraphen sind nur so zu verstehen, daß durch sie gewissen Begriffen des Ge
setzes zur Durchführung eines Rechtsgedankens, der ihrer starren Anwen dung widerstreitet, eine elastische Zone gegeben wird. Dabei muß aber
immer, wie etwa in § 108 der Reichsabgabenordnung, der zum Erlaß von Steuern ermächtigt, deutlich erkennbar bleiben, auf welche formell
Rechtssätze
gesetzliche
sich
die
Ausnahmeermächtigung
bezieht.
Eine
allgemeine Ermächtigung an einen Minister, nach Belieben von den in sein Ressort fallenden Gesetzen zu entbinden, wäre verfassungswidrig. Die
weitgehaltenen
Ausnahmeermächtigungen in den
Reichsgetreide
ordnungen streifen schon die Grenze des Zulässigen und sind nur er
weil
Beteiligten gehandhabt
träglich
gewesen,
wurden.
Für eine gewünschte Ermächtigung, die Reichsgetreideordnung
sie
in favorem der
nach Belieben und ohne Einschränkung abändern zu können, hielt der Reichsrat die Berfassungsmehrheit für erforderlich; der Reichstag lehnte
die Bestimmung ganz ab. 4.
Zu dem gleichen Ergebnis wird man auch auf einem anderen
Wege geführt, auf den, weil er den Zusammenhang zum bisherigen
Staatsrecht weist, noch etwas näher eingegangen werden soll. erwähnt, hat schon die herrschende Lehre unter der alten
Wie
Reichsver
fassung gefordert, daß die Ermächtigung zum Erlasse von Rechtsver
ordnungen eine „S p e z i a l" - Delegation sei. Entsprechend hat Preuß bei den Beratungen im Verfassungsausschuß erklärt, daß das Recht
zum Erlaß von Rechtsverordnungen immer nur im einzelnen Falle
Der Mitberichterstatter Koch hat
durch Gesetz delegiert werden könne.
von der Notwendigkeit einer „jedesmaligen" gesetzlichen Ermäch
tigung
gesprochen.
Was aber heißt „Spezial-Delegation" „im ein
zelnen Falle" und „jedesmalig"?
Diese Ausdrücke könnten den An
schein erwecken, als handle es sich nur darum, abzuwarten,
bis eine
besondere Veranlassung zur Delegation auftaucht, daß aber über die
Grenzen der im einzelnen Falle veranlaßten Delegation damit nichts
gesagt sei.
Der Grundsatz, daß zum Erlaß von Rechtsverordnungen
eine Spezial-Delegation erforderlich ist, sagt indessen nicht bloß, daß ein besonderes Gesetz hierfür notwendig ist, sondern auch — und das
ist seine wesentliche Bedeutung —, daß das besondere Gesetz nur für
einzelne
bestimmte
Fälle delegieren
kann.
Würde
ein
Gesetz,
aus
43
Erste Sitzung der ersten Abteilung
Anlatz eines Einzelfalles, aussprechen, datz das Verordnungsrecht der Regierung unbeschränkt für eine von ihr selbst nach Belieben gewählte
Anzahl von Fällen zulässig sei, so würde das Gesetz nicht mehr eine sondern eine allgemeine Ermächtigung,
Spezial-Delegation enthalten,
die von der Verfassung abgelehnt ist und deshalb auch nicht von einem
einfachen Gesetze gewährt werden kann.
Es ist deshalb in
unseren
Leitsätzen gesagt, datz die Delegation immer aus „ein bestimmtes Lebensverhältnis"
abgestellt sein müsse.
Laband redet
von
„einem bestimmten Kreis von Anordnungen". Es genügt nun aber in vielen Fällen nicht, datz das ermächtigende Gesetz ein oder mehrere Lebensverhältnisse blotz bezeichnet. Im Rechts
staat ist kein Lebensverhältnis denkbar, das nicht bereits eine Rechts
regelung gefunden hat und durch diese auch von einer formell-gesetzlichen Norm abhängig ist. Die neue Rechtssatzung, die im Verordnungswege
ergehen soll, hat es deshalb nicht blotz mit den Lebensverhältnissen an sich, sondern auch mit ihrem bereits vorhandenen Rechtsbestande
zu tun,
dessen grotzer Teil unter dem Schutze formeller Gesetzeskraft
steht. Es ist nun ein Doppeltes für die neue durch die Ermächtigung eingeführte Rechtssatzung möglich:
entweder
sie läßt
die
bisherigen
Rechtssätze mit formeller Gesetzeskraft unberührt und beschränkt sich
darauf, in ihnen angetroffene, der verschiedenen Anwendung fähige Be
griffe weiter zu entwickeln, was ohne weiteres zu einem engen Begriff der
Ausführungsverordnung
führt.
Oder in
Verbindung
mit dem
ermächtigenden Satz wird die hemmende Schranke der bisher bestehen
den formellen Gesetzeskraft beseitigt. In diesem Falle tritt also zu der eigentlichen Ermächtigung, Rechtsbegrifse zu entwickeln, ein besonderes Element hinzu: stehenden
Die
die Zerstörung formeller Gesetzeskraft an bereits be
Rechtssätzen.
Ermächtigungen,
die
bereits
erlassene
formelle Rechtssätze
lediglich weiter entwickeln sollen, ohne im formellen Rechtsbestand ab ändernd einzugreifen, können zur Ausführung eines ganzen Gesetzes, das möglicherweise eine Anzahl verschiedener Lebensverhältnisse und ihre Regelung umfatzt, erteilt werden. Der Grund hierfür liegt darin, datz innerhalb des Gesetzes bei jedem einzelnen.Lebensverhältnis der
Spielraum für das Verordnungsrecht noch dadurch besonders bestimmt
wird, datz die Verordnung nur dort eingreifen kann, wo
deutiger Begriff eine Ausführungssphäre gelassen hat.
ein mehr
Das bedeutet,
datz eine derartige Ermächtigung, auch wenn sie allgemein ausgesprochen wird, ihrer ganzen Natur nach sich in eine Anzahl Spezialermächtigungen
44
Erste Sitzung der ersten Abteilung
auflöst, die nur diesen oder jenen Begriff entwickeln und
das von ihm betroffene Lebensverhältnis beschränken.
sich auf
Deshalb ist es
im Rechtsstaate, wie es ja auch in der Weimarer
Verfassung
ur
sprünglich geplant war, an sich möglich, datz in der
Verfassung
für
alle Gesetze allgemeine Ermächtigungen zur Ausführung erteilt werden. Solche allgemein erklärten Ermächtigungen können aber nicht abändernd
in den formellgesetzlichen Rechtsbestand eingreifen. Weniger einfach ist die Lage bei denjenigen Ermächtigungen, die
es auch ermöglichen sollen, formelle Gesetzeskraft zu beseitigen.
Sie
würden, wenn sie nicht ausdrücklich und streng auf bestimmte Stellen verwiesen würden,
Bald würde hier,
die Rechtssicherheit aufheben.
bald da ein Einbruch in den Bestand der formellen möglich sein.
unter dem
Rechtsordnung
Eine allgemeine Unklarheit, welche Bestimmungen noch
Schutze der formellen
Gesetzeskraft
stehen,
welche nicht,
würde die Folge fein. Deshalb ist bei diesen Ermächtigungen erforder lich, daß die Stellen, an denen der Einbruch in die bisherige Rechts
ordnung erfolgen soll, besonders genau und
werden.
im einzelnen bestimmt
Die Verwendung eines allgemeinen Ausdrucks, der der Ver
waltung einen Spielraum lassen könnte, selbst zu entscheiden, welche
alten Rechtssätze sie der Gesetzeskraft entkleidet ansehen will, wie es
in den Ermächtigungen der Kriegs- und Übergangszeit geschehen ist, ist
nach
der
neuen
Verfassung
unzulässig.
Eine selbständige Ent
scheidung, ob und in welchem Umfange alte Rechtssätze des formellen Rechts aufzuheben sind, mutz der Verwaltung versagt fein.
Aus
der
beschränkten Ermächtigung folgt vielmehr notwendig die Unselbständig keit des Verordnungsrechts.
So sind wir auf das zurückgekommen,
was ich oben über die Bildung eines Ausführungsspielraums durch unausgesöhnte
Rechtssätze gesagt habe.
Während
bei
der Ermäch
tigung zur Ausführung im engeren Sinne das Vorhandensein unbe
stimmter Begriffe vorausgesetzt wird, dient im anderen Falle
die Zerstörung der formellen Gesetzeskraft erst dazu, überhaupt den Rahmen zu schaffen, den die Verord
nung ausfüllen soll. nicht
bestimmt
die
Würde die Ermächtigung in diesem Falle
Rechtssähe
bezeichnen,
die
abgeändert
werden
können, so würde sogar unsicher bleiben, wo die unbestimmten,
der
Verordnung zugänglichen und ihrer bedürftigen Stellen liegen.
Eine
soweit gehende Unbestimmtheit ist im Rechtsstaat unerträglich. 5.
Aus dem Gesagten ergibt sich,
daß das Verordnungsrecht
niemals ungebunden und unbeschränkt sein sann, sondern auf eine be-
Erste Sitzung 5er ersten Abteilung grenzte
Auswahl von Rechtssätzen beschränkt
ist,
45 wobei es
grund
sätzlich keinen Unterschied ausmacht, ob die Rechtssätze, zwischen denen
die Wahl bleibt, durch einen relativ unbestimmten Begriff bezeichnet oder in anderer Weise bestimmt werden. Keinen grundsätzlichen Unter
schied macht es auch,
ob die
Wahlmöglichkeit von vornherein
ge
geben oder erst durch ein späteres Gesetz geschaffen wird, und ob durch dieses spätere Gesetz ein unbestimmter Begriff eingeführt oder ausdrück
lich mehrere Rechtssähe zur Wahl gestellt werden, und ob die Rechts sätze neu zu dem Gesetz hinzutreten oder ob einer
von ihnen dem
bisherigen Gesetz schon angehörte und deshalb seiner formellen Gesetzes
kraft entkleidet werden mutz.
Wie es aber im letzteren
Falle not
wendig ist, daß der Rechtssatz des bereits bestehenden Gesetzes nügend bestimmt wird, so ist es auch notwendig, daß
ge
die neuen
Rechtssätze, die in Konkurrenz mit den alten treten, soweit als möglich bestimmt werden. Es ist unzulässig, daß die formelle Gesetzeskraft eines Rechtssatzes gebrochen wird, um an ihre Stelle die völlig freie Ent
scheidung der Verwaltung zu setzen. an einem Beispiel!
freiheit.
Verdeutlichen wir uns auch dies
Es besteht die formell-gesetzlich gesicherte Gewerbe
Wollte nun ein einfaches Reichsgesetz die Verwaltung un
beschränkt ermächtigen, nach ihrem Belieben in diese Freiheit einbrechen zu dürfen, so wäre dies natürlich unzulässig, weil es
die
Gewerbe
freiheit selbst in ihrem Wesen treffen würde, ohne durch Gesetz festzulegen,
was an ihre Stelle treten soll.
Es ist aber folgendes möglich.
In
einzelnen Landesteilen droht durch wilden Aufkauf von Getreide eine außerordentliche Teuerung.
Man tust nach gesetzlicher Abhilfe.
Nun
kann der Gesetzgeber nicht sagen: in Deutschland wird der Getreide
handel konzessionspflichtig gemacht. Denn die Not ist lokal beschränkt;
ja, selbst in den betroffenen Landestellen ist die Notwendigkeit eines
gesetzlichen Eingreifens noch nicht sicher. Aber es kann über Nacht not wendig werden.
Deshalb die Ermächtigung an die obersten Landes
behörden, zur Verhütung des wilden Aufkaufens und der dadurch be dingten Teuerung
den Getreidehandel konzessionspflichtig zu machen.
Hier wird die Bedeutung der Forderung offensichtlich, die in
dem
ersten Leitsätze hervorgehoben worden ist, daß die Ermächtigung im Dienste eng begrenzter Zwecke erfolgen müsse.
In den dem
öffent
lichen Rechte angehörenden Fällen, in denen die Ermächtigung zugleich die Aufstellung eines materiellen Rechtssatzes bedeutet, weil durch sie die Rechtssphäre zwischen Staat und Individuum neu abgegrenzt wird,
werden diese Rechtssätze durch di« Zweckbestimmung erst in der
not-
Erste Sitzung der ersten Abteilung
46
wendigen Weise konkretisiert.
In der wirtschaftlichen Gesetzgebung der
Kriegs- und Nachkriegszeit spielte diese Art der Ermächtigung eine autzerordentliche Rolle.
Ms Gegenbeispiel erwähne ich hier nochmals den
schon berührten Fall, daß der Reichsernährungsminister die Ermächtigung
erbat, die Getreideordnung nach seinem Gutdünken, also ohne die not wendige Einschränkung auf einen bestimmten Zweck, abändern zu können.
Bei einer solchen Ermächtigung wäre nicht nur im Dunkeln geblieben,
welche Rechtssätze der Getreideordnung der formellen Gesetzeskraft von vornherein entzogen waren, sondern auch welche Rechtssätze der Ernährungsminister in Abänderung der gesetzlichen Ordnung hätte erlassen
können. II. Das typische Beispiel der neueren Praris für eine den Rahmen
der Verfassung überschreitende Ermächtigung ist in den Gesetzen über die sogenannte einfache Gesetzgebung gegeben. In ihnen wurde die Er
mächtigung erteilt, „diejenigen gesetzlichen Matznahmen anzuordnen, die sich zur
Regelung
des
Übergangs
von der Kriegswirtschaft in die
Friedenswirtschaft als notwendig erweisen".
Hier unterblieb also die
Beschränkung auf ein bestimmtes Lebensgebiet, und es wurden weder die
jenigen Rechtssätze aus den früheren Gesetzen, die abänderungsfähig
werden sollten, bezeichnet, noch die neuen, gegebenenfalls an ihre Stelle
zu setzenden Normen irgendwie konkretisiert.
Jeder im bisherigen Ee-
setzesrecht ausgesprochene Rechtssatz konnte möglicherweise durch eine im
Verordnungswege erlassene Norm aufgehoben oder abgeändert werden. Der Schutz der formellen Gesetzeskraft war damit fast der Rechtsordnung entzogen.
gesamten
Trotzdem glaubte die Reichsregierung,
datz
ein einfaches Gesetz für die Ermächtigung genüge. Der Reichsrat hat da gegen wiederholt den verfassungsändernden Charakter derartiger weit
gehender Ermächtigungen betont, und auch der Reichstag hat es fchlietzlich, mindestens im Hinblick aus die bestehenden Zweifel, für geboten
erachtet, die verfassungsändernde Mehrheit für die Ermächtigung auf
zubringen.
zogenen
Andere Ermächtigungen, die sich offenbar nicht in den ge
Grenzen bewegen, sind
die Demobilmachungsermächtigungen
vom 12. und 27. November 1918 und die Ermächtigung nach der Ver ordnung vom 22. Mai 1916, bezw. 18. August 1917 über Kriegsmatznahmen zur Sicherung der Volksernährung. Datz die Demobilmachungs ermächtigung nicht mehr zu Recht besteht, ist kürzlich von Jakobi im Archiv des öffentlichen Rechts überzeugend auseinandergesetzt worden.
47
Erste Sitzung der ersten Abteilung
Bekanntlich hat auch der Reichstag der Reichsregierung nahe gelegt, von
dieser Ermächtigung
keinen
Gebrauch
mehr
die Verordnung über Kriegsmatznahmen zur
zu machen,
Auch
Sicherung der Volks
ernährung wird nicht mehr mit Recht angewandt. Sie beruht auf der
Subdelegation der im Ermächtigungsgesetz vom 4. August 1914 aus gesprochenen allgemeinen Ermächtigung, und ist, da hiernach nur Matz nahmen während der Kriegsdauer zulässig waren, mit Friedensschlutz erloschen.
AIs dritte allgemeine Ermächtigung kommt für die gesetz
geberische Praris zur Zeit die Ermächtigung aus Grund §
28 des
Aussührungsgesetzes zum Friedensvertrage vom 31. August 1919 in
Betracht, durch die die Reichsregierung ganz allgemein ermächtigt wird, mit Zustimmung des Reichsrats und eines von der Nationalversamm
lung gewählten Ausschusses Gesetzesmahnahmen anzuordnen, „die sich zur Ausführung des Friedensvertrages als notwendig und dringend
erweisen^.
Auf diesen Vorgang wird ganz besonders gern hingewiesen,
wenn die Möglichkeit eines allgemeinen und selbständigen Verordnungs
rechts auf Grund einfachen Gesetzes dargetan werden soll. Hier findet die weitgehende Ermächtigung ihre besondere Rechtfertigung indessen
im
Friedensvertragsrecht.
Es
handelt sich
nur
um gesetzliche Matz
nahmen, die während der Vertagung des Parlaments zur Ausführung
des Friedensvertrages notwendig und dringend sind. Soweit diese Not wendigkeit reicht, soweit ist eine aus dem Friedensvertrag folgende Pflicht des Reichs zur sofortigen gesetzlichen Matznahme anzunehmen, und damit der besondere Weg der Rechtssatzung auch verfassungsrechtlich begründet,
da den Verpflichtungen des Friedensvertrages das sonst geltende Ver-
sassungsrecht nach Artikel 179 weichen mutz. Die dargelegte Begrenzung hat die praktisch wichtige Folge, datz Gesetze mit dem Inhalte wie das Ermächtigungsgesetz vom 4. August
1914, die Demobilmachungsermächtigungen vom 12. und 27. November 1918, die Ermächtigung zur Sicherung der Volksernährung vom 22. Mai 1916 und 18. August 1917 oder die Ermächtigungsgesetze zur verein
fachten Gesetzgebung vom 17. April 1919, 3. August 1920 und 6. Fe bruar 1921 nicht als einfache, sondern nur als Verfassungsgesetze er lassen werden können. Da aber die beklagte Häufung der Verordnungen
und die durch weitgehendes Verordnungsrecht geschaffene Nechtsunsicher-
heit ganz besonders auf diese Gesetze und ihre Ermächtigungen zurück geht, scheinen mir bei richtiger Verfassungsauslegung in der Zukunft
die grötzten Stein« des Anstotzes beseitigt. Also: weildasVerordnungsrecht
nach der gegenwärtigen Verfassung
be-
48
Erste Sitzung der ersten Abteilung
reite genügend beschränkt ist, ist eine Verfassungsänderung
nicht notwendig.
Ich glaube auch, daß es nicht erforderlich ist,
die
hier entwickelten Grenzlinien in der Verfassung nochmals ausdrücklich, d. h. also in deklaratorischem Sinne, zu entwickeln. Bei der Notwendig keit dabei Begriffe zu verwenden, die staatsrechtlich vielleicht noch nicht
genügend abgeseilt sind, ist es zweckmäßiger, zunächst einmal auf die
Anerkennung jener Grenzen bei der Gesetzgebung, in der Wissenschaft
und
durch eine die
Gesetzgebung
Rechtsprechung
überwachenden
zu
bringen. Hiernach erwächst allerdings dem praktischen Juristen ebenso wie der Wissenschaft eine besondere Aufgabe.
Es bleibt dann nur
noch
der Appell an die gesetzgebenden Faktoren, auch den Erlaß von Ver
fassungsgesetzen zur Ermöglichung eines über die darge-
legten Grenzen hinausgehenden
allgemeinen
Verordnungs
rechts auf die dringendsten Fälle zu beschränken.
Andererseits ist
meines Erachtens jede Befürchtung unnötig, daß die gezogenen Grenz
linien die Gesetzgebung zu sehr einschränken. Auch bei der von uns ver tretenen Auffasskmg bleibt für das Rechtsverordnungsrecht noch ein außerordentlich weiter Spielraum übrig, und, wie die Erfahrung seit
Inkrafttreten der Reichsverfassung zeigt, wird in wirklich dringenden
Notfällen die versassungsändernde Mehrheit gegeben sein. Es ist deshalb auch nicht notwendig, durch eine Verfassungsänderung ein weitergehendes Verordnungsrecht zu ermöglichen, als es nach unserem
Dafürhalten zur Zeit der verfassungsrechtlichen Lage entspricht.
Mit besonderer Absicht habe ich mich bei meinen Ausführungen aus das Verordnungsrecht des Reichs beschränkt und verzichtet, das
Polizeiverordnungsrecht
der
Länder
in
die
Erörterung
hereinzuziehen. Die polizeiliche Exekutive ist den Ländern vorbehalten;
ein selbständiges Polizeiverordnungsrecht, welches sich lediglich aus dem Polizeiamt herleitet, ist int Reiche nicht gegeben. Hier können Polizei
verordnungen nur als Ausführungsverordnungen zu Reichsgesehen in Frage kommen. III.
So bleibt schließlich nur noch zu erörtern, ob nicht angesichts beklagter
Mißstände
im
Wege
der
formellen
Gesetz
gebung eine Erweiterung der Berordnungsbefugnis durch Verfassungs änderung wünschenswert ist, wobei der Begriff „Verordnung" auch auf die von einem Ausschüsse des Reichstags erlassenen Rechtssätze ange
wandt werden soll.
Es genügt, sich bei dieser Betrachtung zunächst
49
Erste Sitzung der ersten Abteilung
einmal aus eine Auseinandersetzung mit den zur Abänderung des Ar tikel 68 der Reichsoerfassung gestellten Anträgen der demokratischen Fraktion zu beschränken. Die>e Anträge gehen ebenfalls von der Auffasfung aus, daß ein einfaches Gesetz für die einem Reichstagsausschutz zu erteilende allgemeine Ermächtigung nicht genügen würde. Ihr Motiv liegt in der Überlastung des Parlaments, durch welche die Eesetz-
gebungsarbeit beeinträchtigt wird. Demgegenüber ist aber die Frage, vb die Teilung der gesetzgeberischen Aufgaben und die Überweisung gewisser Gesetzesvorlagen an ein Ausschutzverfahren nicht viel grötzere Nachteile zur Folge hat und ob es nicht zur Abhilfe der eingetretenen Schwierigkeiten tauglichere Mittel gibt. Ich möchte beides bejahen.
Um ein möglichst objektives Bild von der Geschäftslage und Ge schäftsbehandlung des Reichstags zu geben, darf ich zunächst ein paar Zählen nennen. Ich habe, um den Anteil der eigentlichen Gesetz
gebung des Reichstages an seinen Arbeiten festzustellen, auszählen lassen, wieviel Seiten der stenographischen Berichte auf die Verhand lungen über Gesetzentwürfe, wieviel auf andere Beratungen entfallen. Die Berechnung umfatzt den Zeitraum vom Zusammentritt des Reichs tags am 24. Juni 1920 bis zu seiner letzten Vertagung am 7. Juli d. I. Da entfallen 1120 Seiten auf Gesetze und Staatsverträge und 1390 Seiten auf die Haushaltsgesetze, das sind zusammen 2510 Seiten. Dem stehen gegenüber 1886 Seiten für Geschäftliches, Erklärungen der
Regierung und politische Erörterungen, Interpellationen und Anträge und Anfragen. Die Beratungen über Gesetzentwürfe und Staats verträge, ohne die Verhandlungen über die Haushaltsgesetze, haben hier nach also nur etwa den 4. Teil der Reichstagsberatungen ausgemacht. Die Beratungen der Haushaltsgesetze haben wegen der mit ihnen ver bundenen politischen Erörterungen einen grötzeren Zeitraum erfordert als die der übrigen Gesetzesvorlagen. Ja, selbst Haushaltsgesetze, andere Gesetze und Staatsverträge zusammen bilden nur etwa 59