Verhandlungen des fünfunddreißigsten Deutschen Juristentages (Salzburg): Gutachten, Lieferung 2 [Reprint 2022 ed.] 9783112671405, 9783112671399

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Verhandlungen des fünfunddreißigsten Deutschen Juristentages (Salzburg): Gutachten, Lieferung 2 [Reprint 2022 ed.]
 9783112671405, 9783112671399

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis.
X. Gutachten des Herrn Universitätsprofessors Dr. Adolf Merkl, Wien, über die Frage
XI. Gutachten des Herrn Rechtsanwalts Prof. Dr. Sinzheimer, Frankfurt a. M., über das Thema
XII. Gutachten des Herrn Professors Dr. Heinrich Lehmann, Köln, über die Frage
XIII. Gutachten des Herrn Rechtsanwalts Dr. Max Alsberg, Berlin, über die Frage
XIV. Gutachten des Herrn Ministerialdirektors Prof. Dr. Herbert Dorn, Berlin, über die Frage
Eine Berichtigung des Herrn Geh. Justizrat Prof. Dr. v. Hippel, Göttingen, über die Frage
Druckfehlerberichtigung zu dem Gutachten von Dr. O. Lehnich

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Verhandlungen des

fünfunddreißigsten

Deutschen Zuristentages (Salzburg)

Herausgegeben von

dem Schriftführer-Ami der ständigen Deputation

Erfter Band:

(Gutachten) 2. Lieferung

Berlin und Leipzig 1928

Walter de Gruyter & Co. vormals G. I. Göschen'sche Verlagöhandlung — I. Guttentag, Verlags­ buchhandlung — Georg Reimer — Karl I. Trübner — Veit & Comp.

Inhaltsverzeichnis. Seite

X. Gutachten des Herrn Universitätsprofessors Dr. Adolf Merkl, Wien, über die Frage: Empfiehlt es sich, die bestehenden Grundsätze über die Be­ willigung der Einnahmen und Ausgaben für die Haus­ halte des Reiches und der Länder zu ändern?..................... 335

XL Gutachten des Herrn Rechtsanwalts Prof. Dr. Sinzheimer, Frankfurt a. M., über das Thema: Der strafrechtliche Schutz der Arbeitskraft................................ 360 XII. Gutachten des Herrn Professors Dr. Heinrich Lehmann, Köln, über die Frage: Empfiehlt sich eine grundsätzliche Änderung in der Be­ handlung von Ehestreitsachen nach Zuständigkeit und Ver­ fahren? ........................................................................................395

XIII. Gutachten des Herrn Rechtsanwalts Dr. Max Alsberg, Berlin, über die Frage:

Mit welchen Hauptzielen wird die Reform des Strafver­ fahrens in Aussicht zu nehmen sein?.....................................440 XIV. Gutachten des Herrn Ministerialdirektors Prof. Dr. Herbert Dorn, Berlin, über die Frage:

Empfiehlt es sich im Interesse einer geordneten Finanz­ wirtschaft, die bestehenden Grundsätze über die Bewilli­ gung der Einnahmen und Ausgaben für die Haushalte des Reiches und der Länder zu ändern?............................. 489

Eine Berichtigung des Herrn Geh. Justizrat Prof. Dr. v. Hippel, Göttingen, über die Frage:

Schuld und Rechtswidrigkeit.................................................... 565 Druckfehlerberichtigung zu dem Gutachten von Dr. O. Lehnich

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L. Gutachten des Herrn Universitätsprofessors Dr. Adolf Merkl-Wien über die Frage:

Empfiehlt es sich, die bestehenden Grundsätze über die Bewilligung der Einnahmen und Ausgaben für die Haushalte des Reiches und der Länder zu ändern? I.

Eine budgetpolitische Frage wie die vorliegende kann begründeter­ maßen nur auf Grund einer Untersuchung der Vorfrage beant­ wortet werden, ob und wie sich der Sinn und der Zweck des Budget­ rechtes mit der Rechtsstellung und dem gegenseitigen Verhältnis der an der Aufstellung des Staatshaushaltes beteiligten Faktoren, das sind das Parlament und die Regierung, geändert haben. Da die Rechtsstellung des Parlamentes und der Regierung und ins­ besondere deren gegenseitiges Verhältnis für die Staats- und Regierungsform bestimmend sind, gilt es mit anderen Worten die staatsformelle Bedingtheit und Bedeutung des Budgetrechtes auf­ zuhellen, um daraufhin die rechtspolitischen Folgerungen zu ge­ winnen, die sich etwa aus der derzeit in deutschen Landen be­ stehenden Staatsform für die positivrechtliche Gestaltung des Budgetrechtes ergeben. Unter dem Begriffe des Budgetrechtes im objektiven Sinn kann man die Summe der Rechtseinrichtungen begreifen, welche die Aufstellung eines Staatshaushaltsplanes betreffen. Unter dem Budgetrecht im subjektiven Sinn kann — wofern man in diesem Falle überhaupt mit dem Begriffe des subjektiven Rechtes operiert — 22*

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der Anteil verstanden werden, der bestimmten Organen an der Aufstellung des Staatshaushaltsplanes von Rechts wegen zusteht; vorzugsweise Pflegt man mit Budgetrecht im engeren Sinne den Anteil zu bezeichnen, der einen parlamentarischen Repräsentanten­ kollegium im Zuge der rechtsverbindlichen Aufstellung eines Staats­ haushaltsplanes zukommt. Dieser Anteil äußert sich zwar immer in Form eines zustimmenden Beschlusses, in der Regel in der Form eines Gesetzesbeschlusses, der rechtliche Inhalt dieses Beschlusses unterliegt jedoch einem beträchtlichen Wandel nach Zeit und Ort, und selbst die in einer bestimmten Staatsrechtsordnung feststehende Beteiligung eins Repräsentantenkollegiums erfährt nur zu oft — mangels hinlänglicher Klärung der Rechtslage im Wege der Rechts­ setzung — eine Mehrzahl rechtswissenschaftlicher Deutungen. Die Summe der Variationsmöglichkeiten, die dem positiven Rechte bei Gestaltung des parlamentarischen Anteiles an der Auf­ stellung des Staatshaushaltsplanes offen stehen, läßt sich vielleicht auf zwei Grundtypen zurückführen, die man etwa mit den Aus­ drücken „vollkommenes" und „unvollkommenes" oder „unbeschränk­ tes" und „beschränktes" Budgetrecht bezeichnen kann. Das Budget­ recht ist vollkommen oder unbeschränkt zu nennen, sofern und soweit der im freien Ermessen stehende zustimmende Beschluß des mit dem Budgetrecht ausgestatteten Kollegiums Bedingung (con­ ditio sine qua non) der im Staatshaushaltsplan vorgezeichneten finanziellen Maßnahmen ist. Unvollkommen oder beschränkt ist das Budgetrecht demgemäß dann, wenn und soweit eine finanzielle Maßnahme durch den sie betreffenden Beschluß des mit dem Budget­ rechte ausgestatteten Kollegiums nicht bedingt ist, oder positiv ausgedrückt, wenn die finanzielle Maßnahme auch mangels Zu­ stimmung des fraglichen Kollegiums zulässig ist. Auf dasselbe käme es hinaus, wenn und soweit das mit Budgetrecht ausgestattete Kollegium zu der Bewilligung des Haushaltsplanes oder wenigstens einzelner seiner Bestandteile verpflichtet ist — eine Rechtslage, die freilich das „Budgetrecht" beinahe sinnlos macht und daher wohl viel seltener, als üblicherweise angenommen wird, zurecht bestehen wird. Schon in diesem Zusammenhänge sei festgestellt, daß die positiv­ rechtliche Fassung des Budgetrechtes oft nicht erkennen läßt, worauf es sich erstreckt, wo insbesondere innerhalb eines und desselben Haus­ haltsplanes Grenzen zwischen den Gegenständen eines vollkommenen

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und eines unvollkommenen Budgetrechtes gelegen sind. Dieser unbefriedigende positivrechtliche Zustand erklärt sich Wohl einerseits daraus, daß sich der Gesetzgeber nicht voll bewußt ist, was normiert werden muß, um gewisse positivrechtliche Folgen zu erzielen, andererseits daraus, daß er sich auf die supplierende Tätigkeit der Rechtswissenschaft verläßt, die aber in diesem Gegenstände meist rechtspolitisch desorientiert ist. Es war offenbar ein Symptom monarchistischer Befangenheit, Wenninder konstitutionellen Monarchie das Budgetrecht im Zweifel meist als unvollkommen verstanden wurde und wird, denn eine solche Interpretation der budgetrecht­ lichen Kompetenznormen in den Verfassungen setzt den Anteil des Parlamentes an der Aufstellung des Budgets zugunsten des anderen daran beteiligten Faktors — Monarch oder Regierung — unter das positivrechtlich gegebene Maß zurück, mag nun dem Parlamente die Rechtspflicht imputiert werden, den Staatsvoranschlag entweder zur Gänze oder wenigstens in einem die rechtmäßigen Ausgaben decken­ den Umfang zu genehmigen, oder mag dem Monarchen oder seiner Regierung das Recht zugebilligt werden, den Staatshaushalt auch un­ bekümmert um die vom Parlamente eingenommene Haltung zu führen. Durch eine solche Interpretation kommt indes das Budgetrecht um seinen Sinn. Im Zweifel ist die das Budgetrecht statuierende Rechtsbestimmung als rechtlich relevant und das von ihr statuierte Budgetrecht als vollkommen zu erkennen. Der immanente Sinn einer Verfassungsbestimmung, die einer parlamentarischen Körper­ schaft die Kompetenz zur „Genehmigung" oder „Bewilligung" des Staatshaushaltes einräumt, ist der, die Führung des Staatshaus­ haltes von dieser Bewilligung abhängig zu machen; und es bedarf besonderer positivrechtlicher Einschränkungen der Ermächtigung zur Budgetbewilligung, wenn und soweit diese nicht den Sinn einer Be­ dingung der Führung des Staatshaushaltes haben soll. Gewiß ist es vom Standpunkt der Finanzgebarung mißlich, wenn diese auf Gnade und Ungnade der finanzpolitischen Gebelaune eines Parlamentes ausgeliefert sein soll, aber es muß positivrechtlich zum Ausdruck kommen, daß diese Folge des Budgetrechtes nicht beab­ sichtigt ist, wenn die Ausübung des parlamentarischen Budgetrechts nicht — so wie im Zweifel auch alle übrigen parlamentarischen Akte — einzig und allein durch das freie Ermessen des Parla­ mentes, genauer gesagt, der Parlamentsmehrheit bestimmt sein soll.

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II. Das parlamentarische Budgetrecht ist bekanntlich ein Glied in der Reihe der Rechtseinrichtungen, die eine Beeinflussung der Ver­ waltung von Seite der ihrer Idee nach in erster Linie zur Gesetz­ gebung berufenen Volksvertretung bezwecken und ermöglichen. Andere Rechtseinrichtungen derselben Art und Zweckbestimmung sind die politische Kontrolle des Parlamentes über die Regierung, deren einzelne herkömmliche Mittel das Jnterpellationsrecht, das Resolutionsrecht und das Enqueterecht sind, ferner die sogenannte rechtliche Kontrolle durch die Ministeranklage bei einem Staats­ gerichte, sodann die rechnungsmäßige Kontrolle im Wege einer Überprüfung der Finanzgebarung durch eine Rechnungskammer, endlich das sogenannte Vertrauensprinzip, das ist die politische und oft auch rechtliche oder wenigstens rechtlich gewährleistete Ein­ richtung, daß nur eine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene Regierung im Amte bleiben und die Verwaltung führen kann. Im Zusammenhalt mit diesen der Idee nach gleichgerichteten Einrichtungen charakterisiert das Budgetrecht die Staatsform der Verfassung, die dergleichen Einrichtungen aufzuweisen hat. Es sind Waffen des Parlamentes gegen oberste Regierungsorgane, sei es nun der Monarch, der Staatspräsident oder die Regierung; und sie finden als solche in der Monarchie wie in der Republik Verwendung, wo ein Parlament als Gegenspieler gegen die genannten Regierungs­ organe auf der eigenem Boden, der Verwaltung, auftritt. Die be­ sondere Art, wie die Verfassung diese parlamentarischen Handhaben in das Kräftespiel der obersten Staatsorgane einsetzt, charakterisiert unter anderen die konstitutionelle und die parlamentarische Monarchie, die Präsidentschafts- und die Parlamentsrepublik. Im besonderen ist die Gestaltung des Budgetrechtes für das parlamentarische System kennzeichnend. Das vollkommene Budgetrecht ist zwar nicht unter allen Umständen eine Bedingung, jedenfalls aber ein Erkenntnisgrund des parlamentarischen Systems. Besteht das parlamentarische System in der Herrschaft des sogenannten Ver­ trauensprinzipes, so ist das vollkommene Budgetrecht das ver­ breitetste, aber gewiß nicht das einzige rechtstechnische Mittel zur Verwirklichung des Vertrauensprinzipes. Die Wirkung des Budget­ rechtes als Gewähr einer dauernden Abhängigkeit der Regierung vom Parlamente erklärt sich bekanntlich daraus, daß die Regierung,

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die lediglich auf Grund einer Ermächtigung des Parlamentes den Staatshaushalt führen, insbesondere Abgaben eintreiben und die gesetzlichen Zahlungen leisten darf, spätestens in dem Zeitpunkt zum Rücktritt gezwungen ist, wo ihre Geschäftsführung nicht mehr durch eine solche Ermächtigung gedeckt ist. Hat ein Mißtrauens­ votum des Parlamentes nicht mit rechtlicher Notwendigkeit die Folge eines Ausscheidens der Regierung, so ist doch jedenfalls die Budget­ verweigerung das drastischeste „Consilium abeundi“ des Parla­ mentes an die Adresse der Regierung, auf das eine gegen alle Mißtrauensvoten taube Regierung hören muß, weil diese sei es nun aktive oder auch nur passive Haltung des Parlamentes die Regierung der Mittel zur Führung des Staatshaushaltes beraubt. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen erhellt der gute Sinn eines vollkommenen Budgetrechtes in parlamentarisch regierten Staaten. Denn die Kompetenz zur beliebigen Bewilligung und Verweigerung von Staatseinnahmen und Staatsausgaben sichert dem Parlamente unfehlbar einen mittelbaren Einfluß auf Be­ rufung und Abberufung und damit auf die Zusammensetzung der Regierung, wo ihr unmittelbar von Rechts wegen ein solcher Ein­ fluß nicht zusteht. Wenn eine solche Kompetenz als sinnlos hingestellt wird, so sieht man nur auf die nächstliegende Möglichkeit der Budget­ verweigerung, die sich aus einer solchen Kompetenz allerdings ergibt, und übersieht man ihre Funktion int Dienste des parlamentarischen Systems, als rechtliche Garantie der Parlamentsherrschaft. Das unbeschränkte Budgetrecht soll ja doch gar nicht dem Parlamente die Handhabe geben, notwendige Zahlungen unmöglich zu machen und dgl., kurz die Staatsmaschine stillzulegen; keine Parlaments­ mehrheit in einem parlamentarischen Staate, die Mehrheit bleiben will, wird jemals auf den Gedanken kommen, ihr Budgetrecht auf eine solche selbstmörderische Weise zu mißbrauchen, d. h. die Budgetbewilligung um jeden Preis jeder denkbaren Regierung zu verweigern. Die Möglichkeit der Budgetverweigerung soll nur als Pressionsmittel des Parlamentes gegenüber außerparlamentarischen Faktoren dienen, die es auf eine Budgetverweigerung ebensowenig wie das Parlament ankommen lassen können, soll einerseits das zur Berufung der Regierung zuständige Organ, normalerweise das Staatsoberhaupt, zu einer der Parlamentsmehrheit genehmen Personenauswahl und die Regierung selbst zu einer der Parlaments­ mehrheit genehmen Geschäftsführung auf dem Gebiete der Ver-

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Wallung motivieren. Die sozusagen „praktisch unmöglichen" Konse­ quenzen der rechtlichen Möglichkeit einer Budgetverweigerung können nicht für die Rechtswissenschaft bestimmend sein, diese Mög­ lichkeit zu leugnen, sondern sollen für die Staatspraxis bestimmend sein, diese Möglichkeit nicht wirklich werden zu lassen und somit den Willen jenes Faktors zu erfüllen, der über diese Möglichkeit verfügt, d. h. die Regierung dem Parlament gefügig machen. übrigens fehlt meist jeder positivrechtliche Anhaltspunkt für die beliebte Deutung des Budgetrechtes als Unzulässigkeit einer totalen oder auch nur partiellen Budgetverweigerung oder — positiv ge­ nommen — als Rechtspflicht zur Butgetbewilligung. Denn da auf die Budgetverweigerung keine Unrechtsfolge angedroht ist, entpuppt sich diese angeblich rechtliche Pflicht als sanktionslose Pflicht; das bedeutet aber, daß die vermeintliche Rechtspflicht nur als moralische oder politische Pflicht erkannt werden kann. Die schier unmögliche Möglichkeit der beliebigen Budgetverweigerung entspricht also in der Regel der positivrechtlichen Wirklichkeit. Und gerade dieser Inhalt des Budgetrechtes, die paradoxe Kompetenz des Parla­ mentes zur Budgetverweigerung ist mangels anderer positivrecht­ licher Sicherungen des Vertrauensprinzipes der einzige Erkenntnis­ grund der Herrschaft des parlamentarischen Systems, damit zugleich aber auch Voraussetzung des parlamentarisch regierten Staates. Wenn dagegen das Vertrauensprinzip in anderer Weise positiv­ rechtlich verankert, wenn es insbesondere unmittelbar in der Ver­ fassung ausgesprochen wird, wie namentlich in der gegenwärtigen deutschen und österreichischen Verfassung, dann verliert das Budget­ recht die Bedeutung des eigentlichen rechtlichen Tragpfeilers des parlamentarischen Systemes, kann es indes nach wie vor für dieses eine starke Stütze sein. Wenn z. B. die deutsche Reichsverfassung und noch entschiedener die österreichische Bundesverfassung durch eine ausdrückliche Kodifikation des Vertrauensprinzipes dem Willen des Parlamentes anheimstellen, wie lange eine Regierung im Amte bleiben kann, und damit materiell, wenn auch nicht formell, die Entlassung der Regierung in die Kompetenz des Parlamentes stellen, wenn die österreichische Verfassung überdies die Regierung durch Par­ lamentswahl berufen läßt, so sind mehr als hinlängliche verfassungs­ gesetzliche Garantien für die Herrschaft des parlamentarischen Regierungssystems gegeben und bedarf es zur rechtlichen Begrün­ dung dieses Regierungssystemes nicht erst des Umweges des Budget-

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rechtes. Damit ist dieses aber durchaus nicht überflüssig geworden. Im Gegenteil liegt jede Verstärkung des Budgetrechtes in der Richtung des parlamentarischen Systems, weil es die Abhängigkeit der Regierung vom Parlamente noch über das durch das Vertrauens­ prinzip gegebene Maß hinaus zu steigern geeignet ist. Nur wird bei einer ausdrücklichen positivrechtlichen Verankerung des Ver­ trauensprinzipes das Budgetrecht seiner sinngemäßen Zweckbestim­ mung wiedergegeben, das Parlament die Haushaltsführung und damit den Inhalt der Verwaltungstätigkeit mitbestimmen zu lassen. Durch diese seine Zweckbestimmung und durch Rechtseinrichtungen, die den Einfluß des Parlamentes auf die Haushaltsführung steigern, wird das Budgetrecht das Komplement des gerade auch im parlamentarischen Staat zur Herrschaft gelangten Prinzipes der gesetzmäßigenVerwaltung. Während dieses in seiner schärfsten Ausprägung, die es in der österreichischen Bundesverfassung erfahren hat, jede einzelne Verwaltungshandlung an die Bedingung einer Zulassung durch das Gesetz und damit durch das Parlament knüpft, macht das vollkommene Budgetrecht jede Verwaltungstätigkeit von der Genehmigung des für sie erforderlichen Geldaufwandes von feiten des Parlamentes abhängig. Das Vertrauensprinzip stellt in die Disposition des Parlamentes, w er die Verwaltung in einer dem Parlamente verantwortlichen Weise zu führen hat, das Legalitäts­ prinzip stellt in die Disposition des Parlamentes, ob und — bis zu einem gewissen Grade auch — wie eine Verwaltungstätigkeit ent­ faltet werden darf, das vollkommene Budgetrecht endlich stellt in die Disposition des Parlamentes, was die Verwaltungstätigkeit kosten darf. Beschränkt sich der im Vertrauensprinzip und Lega­ litätsprinzip verkörperte Einfluß des Parlamentes auf die Ver­ waltung eigentlich auf die Oberfläche der Verwaltung, so erlaubt das Budgetrecht dem Parlamente gewissermaßen in den Kern der Verwaltung vorzudringen. Der denkbare Einwand, daß das parlamentarische Regierungs­ system eher eine Abschwächung des parlamentarischen Budgetrechtes erlaube, als dessen Verschärfung bedinge, übersieht auch eine weitere Funktion, die das Budgetrecht im Dienste desselben demokra­ tischen Prinzipes versieht, das organisationstechnisch im parla­ mentarischen Regierungssystem verwirklicht ist. Allerdings ist die par­ lamentarische Regierung ein Exponent der Parlamentsmehrheit und als solcher vom Standpunkt der Parlamentsmehrheit durchschnittlich

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gewiß vertrauenswürdiger als die vom Monarchen eingesetzte und politisch dem Monarchen verantwortliche Regierung einer konstitutio­ nellen Monarchie. Diese Abhängigkeit läßt vom Standpunkt der Par­ lamentsmehrheit einen tieferen Einblick und Einfluß auf die Ge­ schäftsführung der Regierung vielleicht entbehrlich erscheinen, jeden­ falls entbehrlicher als in der konstitutionellen Monarchie, wo das Budgetrecht der Parlamentes ein Gegengewicht gegen die sonstige Abhängigkeit der Regierung vom Monarchen schafft. Wie aber in der konstitutionellen Monarchie das Budgetrecht des Parlamentes ein gewisses Gegengewicht gegen den überragenden Einfluß des Monarchen in der Verwaltung schafft, so stellt in der parlamen­ tarischen Republik dasselbe Budgetrecht ein gewisses Gegengewicht der Parlamentsminderheit gegen die Beherrschung der Verwaltung durch die Mehrheit her. Bei der Beurteilung der Bedeutung des Budgetrechtes im Systeme der parlamentarischen Einrichtungen darf nicht übersehen werden, daß das parlamentarische System nur ein organisationstechnisches Mittel der Demokratie ist und daß die Demokratie wiederum, weil sie nicht eine Volksherrschaft irrt Sinne der Herrschaft aller Volksgenossen sein kann, zwar eine Mehrheits­ herrschaft, aber gemildert durch Minderheitsschutz ist. Gerade ein radikales parlamentarisches Budgetrecht ist nun aber ein rechtliches Mittel, der parlamentarischen Minderheit Einblick und Einfluß auf die Geschäftsführung der Regierung zu verschaffen, die — als Exponent der Parlamentsmehrheit — der Minderheit naturgemäß fremd und vielleicht auch feindlich gegenübersteht, und damit die demokratische Forderung des Minderheitsschutzes zu erfüllen. Eine Mehrheit, deren Regierung nichts zu verbergen und keine Kontrolle zu scheuen hat und der undemokratische Diktaturgelüste fernliegen, wird die parlamentarische Minderheit, die von der Teilnahme an der parlamentarischen Regierung naturgemäß ausgeschlossen ist, durch das parlamentarische Budgetrecht doch beträchtlich die Regierungsgeschäfte mitbestimmen lassen. Wenngleich das parlamen­ tarische Budgetrecht formal auch von der Parlamentsmehrheit aus­ geübt, das Budget von der Mehrheit votiert wird, so hat sie dabei unter der Kontrolle der Opposition doch nicht annähernd die gleiche Bewegungsfreiheit wie bei der Schlußfassung über die Regierungs­ geschäfte in dem unter Ausschluß der Opposition beratenden und beschließenden Kabinett. Manche Maßnahme würde zwar vielleicht die Zustimmung des kontrollosen Kabinettes, aber nicht ebenso die

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Zustimmung der unter der Kritik der parlamentarischen Minderheit beschließenden Parlamentsmehrheit finden. Das Bewußtsein der latenten Kritik der Minderheit an der Geschäftsführung der Mehr­ heitsregierung wirkt auf die Ausnützung der Mehrheitsherrschaft retardierend und gegen deren Mißbrauch prophylaktisch. Nichts legt aber die Geschäftsführung der Mehrheit vor der Minderheit so bloß und gibt der Kritik der Minderheit so breite Angriffsflächen wie ein wirksames Budgetrecht. Ein unbeschränktes Budgetrecht be­ deutet die Bindung der Regierungsakte von finanzieller Tragweite an eine Vorsanktion der Parlamentsmehrheit und damit zugleich an eine weitgehende Mitbestimmung der Parlamentsminderheit — also an parlamentarische Einflußmöglichkeiten, die durch die Ein­ richtungen der politischen Kontrolle und durch das Vertrauens­ prinzip für sich allein noch nicht begründet sind. Damit bedeutet aber ein vollkommenes Budgetrecht eine Gewähr für Reinlichkeit und Maßhalten der Mehrheitsherrschaft, also für eine gesunde, durch demokratische Kontrolle und Minderheitsschutz vertiefte oder ge­ steigerte Demokratie. Vom Standpunkt des demokratisch-parlamentarischen Prinzipes aus, das sich die deutsche Reichsverfassung und die österreichische Bundesverfassung zu eigen gemacht haben und diese womöglich noch radikaler als jene verwirklicht hat, ist also ein möglichst voll­ kommenes Budgetrecht zu fordern. Dazu gehört weniger die Be­ dingtheit der Staatseinnahmen als vielmehr der Staatsaus­ gaben durch die Zustimmung des Parlamentes. Es erscheint zur Sicherung der Parlamentsherrschaft und des Minderheitsschutzes allerdings überflüssig, die laufenden, ohnehin schon gesetzlich fest­ gesetzten Staatseinnahmen, insbesondere Steuer- und Zollein­ nahmen, an die Bedingung der jährlichen parlamentarischen Be­ willigung zu knüpfen. Näher liegt das Erfordernis jährlicher parla­ mentarischer Bewilligung bei allen anderen Staatseinnahmen. Indes kann vom Standpunkt des demokratisch-parlamentarischen Prin­ zipes aus auf die Beeinflussung des Einnahmenbudgets — Anleihen selbstverständlich ausgenommen — ganz verzichtet werden, wenn nur das Budgetrecht hinsichtlich der Ausgabenseite radikal gestaltet ist. Die Bedenken, gesetzlich ein für allemal fixierte Ausgaben von der jährlichen parlamentarischen Bewilligung abhängig zu machen, werden in parlamentarischen Staaten, wo das Vertrauensprinzip nicht ausdrücklich in der Verfassung verankert ist, durch die Not-

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Wendigkeit zurückgedrängt, für die dauernde Übereinstimmung zwischen Mehrheitswille und Regierungspolitik anderweitige rechtliche Sicherungen zu fchaffen. Die denkbar wirksamste derartige Siche­ rung ist jedoch, wie bereits ausgeführt, die Kompetenz zur jährlichen Budgetbewilligung, namentlich aber zur Bewilligung der jährlichen Staatsausgaben. Wenn gesagt wird, daß die Annahme einer un­ beschränkten Kompetenz des Parlamentes zur Bewilligung und damit auch zur Verweigerung von Staatsausgaben juristisch sinnlos wäre, weil sie zu bestehenden rechtlichen Zahlungsverpflichtungen in Widerspruch stünde, so wird dabei übersehen, daß eine unbe­ schränkte Kompetenz zur Ausgabenbewilligung den rechtlichen Charakter der in unbefristeten Gesetzen statuierten Zahlungsver­ pflichtungen tocmbelt1). Diese Zahlungsverpflichtungen werden infolge einer Verfassungsbestimmung, die dem Parlamente die Kompetenz zur jährlichen Ausgabenbewilligung einräumt, aus un­ bedingten zu bedingten Verpflichtungen, die Finanzverwaltung ist unter diesen Umständen nur in dem Falle, daß die veranschlagten Ausgaben für die laufende Budgetperiode bewilligt sind, rechtlich in der Lage, die gesetzlich statuierten Zahlungen zu leisten; Gehalte der Staatsbeamten, Löhne der Staatsarbeiter usw. dürfen nur unter der Voraussetzung flüssig gemacht werden, daß diese Ausgaben für die fragliche Zeit parlamentarisch bewilligt sind. Man sage nicht, dies wäre eine praktisch unerträgliche Deutung des parlamentarischen Budgetrechtes. Gerade die praktische Unerträglichkeit einer solchen Folge der Budgetverweigerung schafft die erwünschte psychologische Nötigung der Verantwortlichen alles zu tun, damit rechtzeitig das Budget bewilligt werde. Die mindeste Konsequenz aus dem parla­ mentarischen System ist jedoch, daß wenigstens alle nicht durch ein besonderes formelles Gesetz gedeckten Ausgaben von der freien budgetgesetzlichen Bewilligung des Parlamentes abhängig gemacht werden. In diesen Fällen versieht überhaupt erst das Budgetgesetz die Funktion, für die fraglichen finanziellen Verwaltungsmaßnahmen die formelle gesetzliche Grundlage herzustellen und derart einem streng gefaßten Legalitätsprinzipe zu genügen. y Näher ist dieser Gedanke ausgeführt in meinem „Allgemeinen Ver­ waltungsrecht", S. 239ff. (Verlag Springer, Wien und Berlin, 1927).

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III.

Je strengere Fesseln das Budgetrecht des Parlamentes der finan­ ziellen Bewegungsfreiheit der Regierung anlegt, desto geringer ist die Chance, daß die tatsächliche Gebarung dem Voranschläge ent­ spricht, desto größer insbesondere die Wahrscheinlichkeit von Über­ schreitungen der genehmigten Ausgabensätze. Wenn dann immer wieder der vom Voranschlag abweichenden Gebarung, insbesondere aber wenn beträchtlichen Mehrausgaben durch die Genehmigung des jeweiligen Rechnungsabschlusses die Zustimmung des Parla­ mentes zuteil wird, so wird durch eine solche Gepflogenheit das parlamentarische Budgetrecht politisch entwertet, denn unter solchen Umständen wirkt das Budget nicht als verbindliche Norm, sondern nur wie eine Richtlinie, von der die Regierung aus den Gründen, die ihr triftig erscheinen, nach Ermessen abweichen mag. Eine Gesetzgebung, die das Budgetrecht als Hort einer geordneten Staats­ verwaltung hütet, tut gut, an der Erfahrungstatsache der Budget­ überschreitungen nicht blind vorbeizusehen, sondern sie in ihren Kalkül einzustellen und ihnen dabei nach Möglichkeit Grenzen zu setzen. Den budgetgesetzlichen Ansätzen von Ausgaben und Einnahmen kann vernünftigerweise nicht der Sinn starrer ziffermäßiger Fest­ setzungen, ja nicht einmal immer der Sinn von Höchst- oder Mindest­ beträgen beigelegt werden; selbst wo nicht ausdrücklich ein Bewegungs­ spielraum eingeräumt ist, muß er in einem allerdings nicht leicht faßbaren Umfang als eingeräumt gelten, da sich ein Programm der Haushaltsführung schlechterdings nicht eindeutig vorausbe­ rechnen läßt. Die Voranschlagsüberschreitungen sind dann wenig­ stens in jenem Umfange als rechtlich einwandfrei zu erkennen, als die Spannung zwischen dem genehmigten Voranschlag und dem genehmigten Rechnungsabschluß oder einem allenfalls eingebrachten und genehmigten Nachtragsetat beträgt. Indes hat dieses budgetäre Blankett das Mißliche an sich, daß der Spielraum der Finanzverwaltung nicht vorweg feststeht, sondern daß das zuständige Organ das Risiko der Überschreitung auf sich nehmen muß, ohne daß es feststeht, ob sie nachträglich parlamen­ tarisch ratchabiert werden wird. Daher empfiehlt es sich, von vorn­ herein im Budgetgesetz einen gewissen Spielraum für Mehraus­ gaben vorzusehen. Es dürfte freilich nicht, wie bei einer echten gesetz-

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lichen Latitüde, das zuständige Organ Wahlfreiheit zwischen den verschiedenen Beträgen erhalten, sondern es müßte die Abweichung von den im Budget festgesetzten Ziffern von erschwerenden Bedin­ gungen abhängig gemacht werden. Gerade diese bedingungsweise Tolerierung gewisser praktisch unvermeidlicher Budgetüberschrei­ tungen ist die beste, ja eine fast unvermeidliche Sicherung des parla­ mentarischen Budgetrechtes, da ansonsten das Parlament selbst uferlose unsachliche Budgetüberschreitungen hinnehmen muß. Die rechtliche Form dieser Toleranzformel könnte etwa die sein, daß im Budgetgesetz nicht vorgesehene Staatsausgaben von bestimmtem Ausmaße nur mit besonderer Zustimmung des Parlamentes oder etwa eines parlamentarischen Ausschusses zulässig sind. Damit sind indirekt Überschreitungen bis zu diesem Betrage in das Ermessen der Regierung oder einer sonstigen Verwaltungsstelle gestellt. Es könnten auch die Bedingungen zulässiger Überschreitungen je nach dem Gegenstände der Verwendung differenziert werden: etwa in der Weise, daß für budgetär vorgesehene Verwaltungszwecke größere finanzielle Bewegungsfreiheit offen gelassen wird als für völlig neu­ artige, daß je nach der Höhe des Mehraufwandes oder nach dem Verwaltungszweck die vorherige oder die nachträgliche Zustimmung des Plenums des Parlamentes oder eines Ausschusses vorausgesetzt wird u. dgl. mehr. Das Gegenstück von Sicherungen solcher Art gegen Überschrei­ tungen des parlamentarisch genehmigten Voranschlages von Seite der Regierung sind Sicherungen gegen die Störung des Haushalts­ planes der Regierung und damit des Gleichgewichtes der Staats­ finanzen von Seite des Parlamentes. Die Gesetzgebung pflegt sogar eher und entschiedener dem Parlamente als der Regierung Dämme gegen Ausgabensteigerungen entgegenzustellen. Tatsäch­ lich drohen dem Gleichgewichte der Staatsausgaben und Staats­ einnahmen von parlamentarischer Seite die größten Gefahren; das gegenseitige Hinauflizitieren der Parteien, der moralische Druck, den eine freigebige Minderheit auf die Mehrheit ausübt und dem aus Parteiopportunismus nachgegeben wird, können den besten Haushaltsplan über den Haufen werfen. Zwar hat das Verhältnis­ wahlrecht mit seinen großen Wahlkreisen, die das Verhältnis zwischen dem einzelnen Mandatar und „seiner" Wählerschaft lockern, nebst unleugbaren Nachteilen den Vorteil einer gewissen Sparsamkeit, weil der einzelne Mandatar nicht so leicht in die Zwangslage ver-

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setzt wird, Kirchturmsinteressen zu erfüllen. Die Versuchung zu Staatsausgaben, die in der Lage des Staatshaushaltes nicht ge­ rechtfertigt sind, bleibt trotzdem auch unter den geänderten Wahl­ rechtsverhältnissen bestehen. Dieser Versuchung wird hier und da durch Beschränkungen der parlamentarischen Initiative vorgebeugt. Vor allem Pflegt der Entwurf des Staatshaushaltsgesetzes aus­ schließlich auf dem Wege der Regierungsvorlage an das Parlament zu gelangen. Sodann Pflegen der Möglichkeit, die Ansätze der Staatsausgaben im Zuge der parlamentarischen Verhandlungen zu erhöhen, gewisse Schranken gesetzt zu werden. Endlich kommt es vor, daß die Initiative zu parlamentarischen Gesetzesanträgen, deren Erfüllung den Staatshaushalt belastet, von gewissen Be­ dingungen, namentlich von der Erstattung geeigneter Bedeckungs­ vorschläge abhängig gemacht ist. Solche Einrichtungen lassen sich vom Standpunkt des parlamentarischen Systems aus wohl nur damit rechtfertigen, daß sie der finanziellen Demagogie einer Minderheit einen Riegel vorschieben. Denn Demokratie bedeutet Herrschaft der Mehrheit bei gleichzeitigem Schutze der Minderheit. Unbeschränktes parlamentarisches Initiativrecht in finanziellen Dingen schließt aber die Gefahr in sich, daß die Minderheit durch demagogische Anträge die Mehrheit in ihre Gefolgschaft zwingt, daß mithin der Minderheitsschutz zur Minderheitsherrschaft ent­ artet. Freilich dürfen nur retardierende Momente gegen den Miß­ brauch des parlamentarischen Budgetrechtes aufgerichtet und darf nicht das Budgetrecht selbst durch dergleichen Einrichtungen auf­ gehoben werden. Die Initiative des Parlamentes zu seriösen An­ trägen unterbinden, wäre ein Attentat des Fiskalismus gegen das parlamentarische System. Sind auch die Finanzen eines Staates bei dessen Finanzverwaltung in besten Händen, so doch nicht des­ gleichen auch immer dessen kulturelle Aufgaben. Die Gestal­ tung des Budgetrechtes muß an der Einsicht orientiert sein, daß die staatliche Finanzwirtschaft nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel für die eigentlichen Zwecke des Staates ist.

IV. Das Budgetrecht des Deutschen Reiches und der deutschen Länder hat in dem ersten den Gegenstand betreffenden Gutachten gewiß eine so eingehende Würdigung von berufenster fachlicher

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Seite erfahren, daß ergänzende Ausführungen eines fernerstehenden Kritikers erübrigen dürften. Indes vermag vielleicht zur Lösung der gestellten legislativpolitischen Frage ein Einblick in die Regelung des Budgetrechtes in Österreich beizutragen, wo es eine eigentüm­ liche, z. T. sehr originelle Gestaltung erfahren hat. Wie überhaupt in der republikanischen Verfassung Österreichs, tritt auch in der Regelung des Budgetrechtes das parlamentarische Prinzip fast in Reinkultur hervor. Wenn neuestens eine Verfassungsnovelle den Einfluß des Parlamentes auf die Führung des Staatshaushaltes sogar noch verschärft hat, so war dies durchaus nicht Ausfluß eines politischen Doktrinarismus, sondern Erfüllung eines praktischen Bedürfnisses, ohne daß damit behauptet sein soll, daß die nunmehr bestehende Hemmung der finanziellen Bewegungsfreiheit der Regierung allseits Befriedigung ausgelöst habe. Schon die letzte Verfassung des Kaisertums Österreichs) hatte dem parlamentarischen Budgetrecht eine verhältnismäßig sehr radikale Gestalt gegeben. Es gehörten unter anderem zum Wirkungs­ kreise des Reichsrates „die Feststellung der Voranschläge des Staats­ haushaltes und insbesondere die jährliche Bewilligung der einzuhebenden Steuern, Abgaben und Gefälle; die Prüfung der Staatsrechnungsabfchlüsse und Resultate der Finanz­ gebarung, die Erteilung des Absolutoriums". (§ 11, alin. c des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung vom 21. Dezember 1867, RGBl. 141). Für die Entstehungszeit der altösterreichischen Verfassung eine sicherlich weitgehende Mitbestimmung des Parla­ mentes an der Führung des Staatshaushaltes durch die Regierung! Dieses weitgehende Budgetrecht des Parlamentes war jedoch dadurch entwertet, daß Kaiser und Regierung im bekannten § 14 desselben Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung eine Hand­ habe hatten, um sich in Form eines Notgesetzes, einer sogenannten kaiserlichen Verordnung, unter Ausschaltung des Parlamentes selbst das Budget zu bewilligen. In der zitierten Gesetzesstelle wird nämlich der Kaiser ermächtigt, wenn sich die dringende Notwendig­ keit solcher Anordnungen, zu welchen verfassungsmäßig die Zu­ stimmung des Reichsrates erforderlich ist, zu einer Zeit herausstellt, wo dieser nicht versammelt ist, diese unter Verantwortung des 2) Vgl.hiezuHans Kelsen, Österreichisches Staatsrecht, Tübingen 1923. Das österr. Budget und Budgetrecht von Wilhelm Neidl, Wien 1927.

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Gesamtministeriums selbst zu erlassen. Unter Inanspruchnahme dieser verfassungsgesetzlichen Ermächtigung wurde, wenn der parla­ mentarischen Erledigung des Finanzgesetzes Schwierigkeiten im Wege standen, dieses vom Kaiser durch Notgesetz erlassen — ver­ fassungsmäßig, wenn der Reichsrat nicht versammelt und mit dem Entwürfe des Budgetgesetzes noch nicht befaßt war, verfassungs­ widrig jedoch, wenn der versammelte Reichsrat, da er nicht zeit­ gerecht das Budgetgesetz verabschiedet hat, aufgelöst oder vertagt wurde, um die Voraussetzung für die Erlassung einer kaiserlichen Verordnung herzustellen; diese Absicht konnte nämlich durch die Auflösung oder Vertagung des Reichsrates nicht erreicht werden, denn es war zwar damit der Zeitpunkt eingetreten, daß der Reichs­ rat nicht versammelt war, aber doch nicht die zweite Bedingung der Verfassung erfüllt, daß sich die Notwendigkeit der gesetzgeberi­ schen Maßnahme, beispielsweise des Budgetgesetzes, zu einer Zeit „herausgestellt" hatte, wo der Reichsrat „nicht versammelt" war^ Die Republik Österreich räumte in der provisorischen Ver­ fassung (1918—1920) und auch in der Bundesverfassung (1920) samt deren Novellen und Ergänzungen dem Parlamente ausdrücklich kein so weit gespanntes Budgetrecht ein wie die Monarchie. Aber es kann doch wohl nur antiparlamentarische Befangenheit die Gesetzesrechtslage in der demokratisch-parlamentarischen Republik als eine Rückbildung hinter die Rechtslage, die in der konstitutio­ nellen Monarchie bestanden hat, auszulegen versuchen. Die gegenwärtige Rechtslage auf dem Gebiete des österreichischen Budgetrechtes wird durch die nachstehend skizzierten positivrecht­ lichen Anordnungen bestimmt-*): „Dem Nationalrat ist spätestens acht Wochen vor Ablauf des Finanzjahres von der Bundesregierung ein Voranschlag der Einnahmen und Ausgaben des Bundes für das folgende Finanzjahr vorzulegen" (Art. 51 BVG.). Gegen Beschlüsse des Nationalrates, die ein Gesetz über die Ge­ schäftsordnung des Nationalrates, die Auflösung des Nationalrates, die Bewilligung des Bundesvoranschlages, die Geneh­ migung des Rechnungsabschlusses, die Aufnahme oder Konver­ tierung von Bundesanleihen oder die Verfügung über Bundes­ vermögen betreffen, kann der Bundesrat keinen Einspruch erheben. 3) Vgl. hierzu auch: Hans Kelsen, Die Verfassungsgesetze der Repu­ blik Österreich, 5. Teil, Bundesverfassung, Franz Deuticke, Wien 1922; Ludwig Adamovich, Grundriß des österr. Staatsrechtes, Wien 1927. 35. DJT. 1.

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Diese Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates sind ohne weiteres zu beurkunden und kundzumachen" (Art. 42 Abs. 5 BVG.). Aus diesen Berfassungsbestimmungen ergibt sich vor allem, daß für die parla­ mentarische Genehmigung des Bundesvoranschlages die Gesetzes­ form erforderlich ist, daß das Finanzgesetz jedenfalls auf einer Regierungsvorlage beruhen muß, ferner daß die Regierung zu der Einbringung dieser Regierungsvorlage zu bestimmtem Termine — da das österreichische Budgetjahr mit dem Kalenderjahr zusammen­ fällt, Anfang November — verpflichtet ist. Da für die Beschlüsse der österreichischen Bundesregierung Stimmeneinhelligkeit voraus­ gesetzt ist, kann insbesondere auch der Bundesvoranschlag ohne Zu­ stimmung des Bundesfinanzministers nicht zustande kommen und nicht an den Nationalrat gelangen. Mit der verfassungsrechtlichen Verpflichtung der Regierung zur Gesetzesinitiative bezüglich des Bundesvorschlages ist die Initiative des Parlamentes in dieser Richtung ausgeschlossen. Die schwierigste juristische Auslegungsfrage, die die zitierten Be­ stimmungen aufgeben, ist die nach den Grenzen des parlamentarischen Budgetrechtes. Die geltende verfassungsgesetzliche Formulierung des Budgetrechtes ist um vieles knapper als die des zitierten Staats­ grundgesetzes, behält insbesondere dem Nationalrat nicht ausdrück­ lich die jährliche Steuerbewilligung vor. Dies erweckt den Schein, als ob im Vergleiche mit dem Rechtszustande in der Monarchie eine Einschränkung des Budgetrechtes erfolgt wäre. Auch ist das Ver­ trauensprinzip durch die Anordnung, daß der Bundespräsident die Bundesregierung oder den einzelnen Bundesminister des Amtes zu entheben hat, falls ihnen der Nationalrat das Vertrauen versagt (Art. 74 BVG.), so stark gesichert, daß es des Budgetrechtes gewiß nicht bedarf, um die parlamentarische Regierungsweise sicher­ zustellen. Aber gerade die unerhört radikale Verwirklichung des parlamentarischen Regierungssystems in der österreichischen Ver­ fassung schließt die Annahme aus, daß dessen traditioneller Bau­ stein — das Budgetrecht, und zwar in dessen unbeschränkter Ge­ stalt — fehle. Ein Parlament, das sich, wie der österreichische Natio­ nalrat, selbst versammelt, selbst vertagt, selbst durch Gesetz auflöst, das (im Verein mit der Ländervertretung) den Staatspräsidenten und überdies die Regierung wählt, das durch seinen Beschluß un­ mittelbar die Enthebung der Regierung herbeiführen kann, sollte kein unbeschränktes Budgetrecht haben? Die Verfassung hat

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in der Tat diese Folgerung aus dem parlamentarischen Systeme, wenngleich nicht ausdrücklich, so doch deutlich genug gezogen. Denn mangels einer ausdrücklichen Einschränkung kann die Kompetenz zur „Bewilligung des Bundesvoranschlages" nur den rechtlichen Sinn haben, daß die Genehmigung oder Ablehnung des Vor­ anschlages mit seiner ganzen Ausgaben- und Einnahmenseite im freien Ermessen des Nationalrates steht und daß diese Genehmigung Voraussetzung der Führung des Bundeshaushaltes ist. Wenn nach der Verfassung der Monarchie die Feststellung des Staats­ voranschlages und die jährliche Steuerbewilligung in die Zuständigkeit des Parlamentes fiel, nach der Verfassung der Re­ publik jedoch einfach die Bewilligung des Bundesvoranschlages Sache des Parlamentes ist, so ist der budgetäre Wirkungskreis eher erweitert als verengt. Denn die Bewilligung oder Genehmigung ist — zum Unterschied von der „Feststellung" — dem Wortsinne nach ein Akt, der in bezug auf die Frage des Ob nicht gebunden ist, also erfolgen kann oder auch nicht. Der Bundesvoranschlag, der uneingeschränkt dieser Bewilligung unterliegt, umfaßt aber auf der Einnahmenseite auch den Steuerertrag. Also ist, wie überhaupt die Führung des Staatshaushaltes auch die Steuererhebung durch die Bewilligung des Bundesvoranschlages in Form des Finanzgesetzes bedingt, zumal da die Verfassung jede Bestimmung darüber, was mangels der Bewilligung des Staatshaushaltes zu geschehen habe, insbesondere eine Ermächtigung, den Staatshaushalt in bestimmtem Rahmen fortzuführen, vermissen läßt. Steht auch die Initiative hinsichtlich des Bundesvoranschlages ausschließlich der Bundesregierung zu, so ist doch die Selbstbe­ stimmung des Nationalrates bei der Beratung und Abstimmung über den Entwurf des Budgetgesetzes in keiner Weise beschränkt. Es kann der Nationalrat wie überhaupt den Haushaltsplan, so ins­ besondere auch die Ansätze der Ausgaben nach freiem Ermessen ändern, insbesondere hinaufsetzen — zum Unterschiede von der Beschränkung der Initiative des Nationalrates durch das parla­ mentarisch genehmigte Budget, wovon noch die Rede sein wird. Der Bundesrat als die Vertretung der Länder beim Bunde hat nach der österreichischen Verfassung gegenüber den Budget­ gesetzesbeschlüssen des Nationalrates nicht nur kein Recht der Zu­ stimmung, sondern nicht einmal das ihm gegenüber den sonstigen 23*

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Gesetzesbeschlüssen des Volkshauses zukommende Einspruchsrecht (Art. 42 BVG.). Der Gesetzesbeschluß über den Bundeshaushalt gehört zu jenen Gesetzesbeschlüssen, die dem Bundesrate lediglich zur Kenntnisnahme übermittelt werden. Ein Volksentscheid über den Gesetzesbeschluß des Nationalrates wäre unter denselben Be­ dingungen wie jeder sonstige Volksentscheid möglich, ist aber um so unwahrscheinlicher, als das Referendum in Österreich noch niemals praktisch geworden ist. Der Bundespräsident endlich hat den Ge­ setzesbeschluß über den Bundeshaushalt unter denselben Bedin­ gungen wie jeden anderen Gesetzesbeschluß durch seine Unter­ schrift zu beurkunden, der Bundeskanzler, außerdem der Finanz­ minister ihn gegenzuzeichnen und endlich der Bundeskanzler ihn im Bundesgesetzblatte kundzumachen. Mangels anderweitiger Be­ stimmung im Finanzgesetze selbst tritt dieses Gesetz so wie im Zweifel jedes österreichische Bundesgesetz am Tage nach der Kund­ machung in Kraft. Damit ist es innerhalb gewisser Schranken, die noch aufzuzeigen sein werden, bindende Richtlinie für die Re­ gierung, zugleich aber auch in gewisser Beziehung Schranke für das Parlament geworden. Was zunächst diese Rechtsfolge der Budgetbewilligung betrifft, so besteht sie in einer eigentümlichen Beschränkung der parla­ mentarischen Gesetzesinitiative. „Anträge, nach welchen eine über den Bundesvoranschlag hinausgehende finanzielle Be­ lastung des Bundes eintreten würde, dürfen der geschäftsordnungs­ mäßigen Behandlung nur unterzogen werden, wenn sie zugleich Vorschläge darüber enthalten, wie der Mehraufwand zu decken ist. Ob dies zutrifft, entscheidet der Hauptausschuß nach freiem Ermessen. Er stellt Anträge ohne zulänglichen Bedeckungsvorschlag als zur parlamentarischen Verhandlung ungeeignet dem Antragsteller zurück. Werden Anträge, welche eine über den Bundesvoranschlag hinausgehende finanzielle Belastung des Bundes vorsehen oder bewirken, von einem Ausschüsse gestellt, so ist der Ausschußbericht vom Präsidenten vor Behandlung im Nationalrat dem Finanzund Budgetausschusse mit dem Auftrage zuzuweisen, eine gut­ achtliche Äußerung abzugeben. Der Präsident hat zugleich eine Frist festzustellen, innerhalb welcher diese Äußerung zu erstatten ist. Der Bericht des Ausschusses und die Äußerung des Finanz- und Budgetausschusses gelangen im Nationalrat unter einem zur Ver­ handlung," (§ 8 des Bundesgesetzes über die Geschäftsordnung des

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Nationalrates vom 19. November 1920, BGBl. 10). Diese Be­ stimmungen beengen einigermaßen das parlamentarische Initiativ­ recht, soweit es budgetäre Rückwirkungen haben kann. Verfassungs­ rechtlich ist diese Hemmung der parlamentarischen Initiative dadurch möglich, daß die Bestimmungen nur als Bedingungen oder Formen der Ausübung des parlamentarischen Initiativrechtes auftreten. Ein absoluter Ausschluß der parlamentarischen Initiative zu gesetz­ geberischen Maßnahmen, die Budgetüberschreitungen mit sich bringen müssen, wäre freilich im Wege der Geschäftsordnung nicht möglich, denn eine solche Bestimmung der Geschäftsordnung würde die verfassungsrechtliche Kompetenz zur Gesetzgebung, die selbst­ verständlich auch die Kompetenz zu direkten oder indirekten Ände­ rungen des Budgetgesetzes in sich schließt, zu ändern suchen. Viel einschneidender sind die Rechtswirkungen des Budget­ gesetzes für die Regierung. Für sie ist der parlamentarisch ge­ nehmigte Haushaltsplan Maß bei der Besorgung der Vollziehung, Schranke bei der Betätigung ihres durch die Summe aller anderen Gesetze offen gelassenen Ermessens. Vor allem diese — im einzelnen noch näher aufzuzeigende — Bindung der Regierung, die das Finanz­ gesetz herbeigeführt, schließt dessen übliche Deutung als „rein formelles Gesetz" — als das es ein Abusus der Gesetzesform wäre — aus und macht es zu einem — im Verhältnis zu sämtlichen die Regierung determinierenden Gesetzen — komplementären materiellen Gesetz. Die Republik Österreich hat bisher kein Gesetz nach dem Vorbild der Reichshaushaltsordnung, doch bieten dafür einige Bestimmungen Ersatz, die gelegentlich der großen Verwaltungsreform in das Ver­ waltungsentlastungsgesetz (Bundesgesetz vom 21. Juli 1925, BGBl. 277) ausgenommen worden sind. Der Art. 5 des zitierten Gesetzes bestimmt unter dem Titel „Gebarungs- und Verrechnungs­ wesen in der Bundesverwaltung" bezüglich der Gebarung vor allem: „Bindende Grundlage der Gebarung ist das Bundesfinanzgesetz. Bis zum Zustandekommen dieses Gesetzes sind die Bestimmungen des jeweiligen Ermächtigungsgesetzes über die Führung des Bundes­ haushaltes (Budgetprovisorium) maßgebend" (alin. VIII). Der Hauptzweck dieser Bestimmung ist wohl nicht so sehr der, die recht­ liche Bedeutung des Budgetgesetzes zu regeln, sondern die Praxis der Budgetprovisorien, mit denen die Republik die Monarchie be­ erbt hat, zu legalisieren. Wäre indes die Rechtmäßigkeit der Budget-

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Provisorien nicht schon aus der verfassungsgesetzlichen Kompetenz zur Budgetbewilligung abzuleiten — was immerhin fraglich ist —, durch einfaches Gesetz dürfte sie nicht begründet werden. Inhalt und Grenzen der mit dem Budgetgesetz erteilten Ermächtigung der Regierung zur Führung des Staatshaushaltes werden im Ent­ lastungsgesetz wie folgt umschrieben: „Die gesetzliche Genehmigung bezieht sich auf jeden im Bundesvoranschlag unter einem eigenen Ansatz (finanzgesetzlicher Ansatz) ausgewiesenen Betrag (Kredit)". — Die Kredite dürfen nur zu den im Bundesfinanzgesetz bezeichneten Zwecken verwendet werden, jedoch kann, sofern das Bundesfinanz­ gesetz nicht Gegenteiliges bestimmt, mit Zustimmung des Bundes­ ministeriums für Finanzen ein unabweislicher Mehraufwand bei einem finanzgesetzlichen Ansatz durch gänzliche oder teilweise Rück­ stellung eines anderen Kredits seine Deckung finden (finanzieller Ausgleich). Ein finanzieller Ausgleich zugunsten eines finanz­ gesetzlichen Ansatzes über nicht verrechenbare Ausgaben ist ausge­ schlossen. Die Übertragung von Kreditteilen unter den Zweck­ rubriken eines finanzgesetzlichen Ansatzes (Virement) ist im allge­ meinen zulässig. Eine solche Übertragung von Kreditteilen ist jedoch für die im freien Ermessen gelegenen Personalerfordernisse, für Amts- und Kanzleierfordernisse und für Investitionen an die Zustimmung des Bundesministers für Finanzen gebunden. Außer­ dem kann auch bei einzelnen Zweckrubriken eine Einschränkung des Virements zwischen dem zuständigen Bundesminister und dem Bundesminister für Finanzen vereinbart werden" (Art. 6 alin. IX—XI V.E.G.). Gegen Budgetüberschreitungen hat sich das Verwaltungs­ entlastungsgesetz ursprünglich mehr als tolerant verhalten: „XII. Die gesetzlich genehmigten Kredite bedeuten grundsätzlich unüberschreit­ bare Höchstbeträge. Unvermeidbare Überschreitungen bedürfen der vorherigen Zustimmung des Bundesministers für Finanzen, der hierüber dem Nationalrat periodisch Bericht zu erstatten hat. XIII. Bundesausgaben, die im Bundesfinanzgesetz oder in einem Sondergesetze nicht vorgesehen sind, bedürfen vor ihrem Vollzüge der verfassungsmäßigen Genehmigung, die vom Bundesminister für Finanzen einzuholen ist. Bei Gefahr im Verzüge kann mit Zustimmung des Bundesministers für Finanzen eine solche Bundes­ ausgabe sofort vollzogen und die verfassungsmäßige Genehmigung nachträglich eingeholt werden." Demnach waren und sind auch heute

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noch quantitative Überschreitungen der Ausgabensätze mit Zustimmung des Finanzministers ohne ziffernmäßige oder sach­ liche Begrenzung zulässig. Denn die Bezeichnung der Kredite als „grundsätzlich unüberschreitbare Höchstbeträge" ist eine rhetorische Phrase, wofern dieser Grundsatz mit Zustimmung des Finanz­ ministers beliebige Ausnahmen verträgt. Auch die Einschränkung der Zustimmung des Finanzministers auf „unvermeidbare" Über­ schreitungen beengt nicht die Ermessensfreiheit des Finanzministers, denn es gibt kein objektives Kriterium, sondern nur subjektive Mei­ nungen darüber, was vermeidbar und was unvermeidbar ist. Die vom Gesetze vorgeschriebene Vorlage der Berichte an den National­ rat gibt nur nachträglicher parlamentarischer Kritik Raum, kann aber die fragliche finanzielle Maßnahme niemals verhindern, denn die Berichte folgen sozusagen post festum. Viel bedenklicher als diese gesetzliche Zulassung ziffernmäßig und sachlich unbeschränkter quantitativer Mehrausgaben war es, daß das Verwaltungsentlastungsgesetz auch qualitative Überschreitun­ gensehr erleichtert hatte. Zwar war für qualitative Überschreitungen an Stelle der bei quantitativen Überschreitungen genügenden nach­ träglichen Berichterstattung an das Parlament grundsätzlich die vorgängige Einholung der parlamentarischen Genehmigung vorgeschrieben, doch konnte sie „bei Gefahr im Verzüge" durch eine — der augenblicklichen Kontrolle der Opposition naturgemäß entzogene — Genehmigung von Seite des Finanzministers ersetzt werden. Die Bedingung, an welche die Kompetenz des Finanzministers ge­ knüpft war, bedeutete selbstverständlich auch keine objektive Schranke, als welche allenfalls eine ziffernmäßige oder sachliche Begrenzung gewirkt haben würde, sondern die Abstellung auf die subjektive Auf­ fassung des Finanzministers über Zweckmäßigkeit und Dringlichkeit der Maßnahmen. Daß die parlamentarische Mitwirkung in diesem Falle zum Erfordernis der nachträglichen Zustimmung des Natio­ nalrates gesteigert war, mochte zwar die vorgängige Zustimmung des Finanzministers etwas riskanter machen, doch kam eine solche nachträgliche Zustimmung fast auf eine bloße Kenntnisnahme hinaus, da ja auch eine Verweigerung der Zustimmung zu der vom Finanzminister provisorisch gebilligten außerbudgetären Ausgabe diese nicht mehr ungeschehen machen konnte. Eine ungeheure außerbudgetäre Ausgabe zur Stützung der Postsparkasse und einer in Zahlungsschwierigkeiten geratenen

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Privatbank gaben jedoch den Anstoß zur Reform der in Rede stehenden Gesetzesbestimmung, die sogar für diese in der Finanz­ geschichte Österreichs einzig dastehenden Überschreitungen die formale rechtliche Handhabe geboten hatte. Ein Bundesver­ fassungsgesetz vom 29. Dezember 1926, BGBl. 7 aus 1927, betreffend Sicherung des Budgetrechtes des National­ rates, gab dem oben zitierten Art. 6, Punkt XU I des Verwaltungs­ entlastungsgesetzes nachstehende, gegenwärtig zu Recht bestehende Fassung: „Bundesausgaben, die im Bundesfinanzgesetz oder in einem Sondergesetz nicht vorgesehen sind, bedürfen vor ihrer Voll­ ziehung der verfassungsmäßigen Genehmigung des Nationalrates, die vom Bundesminister für Finanzen einzuholen ist. Bei Gefahr im Verzüge darf eine solche Bundesausgabe, sofern sie 1000000 S. nicht übersteigt, mit Zustimmung des Hauptausschusses vollzogen werden; die Genehmigung des Nationalrates ist nachträglich anzusprechen". Das heißt, qualitative Überschreitungen der im Bundesfinanzgesetz vorgesehenen Ausgaben sind derzeit über­ haupt nur noch mit vorgängiger parlamentarischer, niemals mit bloßer ministerieller Genehmigung zulässig. Nur die Höhe der unvorhergesehenen Ausgabe macht einen Unterschied in der Richtung, ob die einstweilige Zustimmung eines Parlaments­ ausschusses zur Vollziehung der Ausgabe genügt, oder ob hiezu die Zustimmung des Plenums erforderlich ist. Die nur teilweise Novellierung der erörterten Bestimmungen hat einen tiefen Unterschied in der Behandlung qualitativer und quantitativer Budgetüberschreitungen herbeigeführt, der sachlich wohl kaum zu rechtfertigen ist. Denn wenn die größte quantitative Budgetüberschreitung mit ministerieller Genehmigung zulässig ist, so ist insoweit das parlamentarische Budgetrecht für einen parla­ mentarischen Staat vielleicht allzusehr entwertet. Wenn anderer­ seits die geringste qualitative Ausgabenüberschreitung nur mit parlamentarischer Genehmigung zulässig ist, so heißt dies vielleicht allzusehr auf dem Schein des Parlamentarismus bestehen. Nament­ lich aber bedeutet eine engherzige Begrenzung der Mehrbeträge, die mit vorläufiger Zustimmung des Haupausschusses verausgabt werden dürfen, eine starke Beengung der finanziellen Bewegungs­ freiheit. Das Erfordernis, für den kleinsten sachlichen Mehraufwand die Zustimmung der Vollversammlung des Parlamentes einzuholen, vereitelt unter Umständen sachlich voll gerechtfertigte Mehrausgaben.

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Eine etwas liberalere Grenzziehung zwischen der Kompetenz des Plenums und des Ausschusses ist wohl auch dadurch gerechtfertigt, daß der Ausschuß infolge seiner Zusammensetzung nach dem Ver­ hältniswahlsystem doch nur ein Abbild des Plenums ist; bedenklich an einer zu weit gespannten budgetären Kompetenz des Haupt­ ausschusses ist nur, daß seine Verhandlungen geheim und, soweit er nicht anders beschließt, vertraulich sind (§ 12 Abs. 3 des Bundes­ gesetzes über die Geschäftsordnung des Nationalrates). Vorbe­ haltlich der Gewähr einer gewissen Publizität für die budgetären Akte des Hauptausschufses könnte wohl feine Kompetenz auf Kosten des Plenums erweitert werden. Der Grundgedanke, der in diesen im einzelnen gewiß verbefserungsfähigen gesetzlichen Be­ stimmungen zum Ausdruck kommt, ist jedoch richtig: Sicherung des parlamentarischen Budgetrechtes.

V. Die Folgerungen, die sich aus der demokratisch-parlamentari­ schen Regierungsweise für das parlamentarische Budgetrecht er­ geben, und die zum guten Teil vorbildliche Nutzanwendung dieser rechtspolitischen Leitgedanken in der österreichischen Rechtsordnung lassen sich in folgende Richtlinien zufammenfafsen:

1. Ein möglichst weitgespanntes Budgetrecht der parlamentari­ schen Körperschaften ist durch die radikale Durchführung der demo­ kratisch-parlamentarischen Regierungsweise nicht nur nicht über­ flüssig, sondern als Mittel der demokratischen Kontrolle der Ver­ waltung und der Beeinflussung der Verwaltung von Seite der Volksvertretung in erhöhtem Maße erwünscht. Dient das Budget­ recht auch nicht mehr der Sicherung der Mehrheitsherrschaft, falls diese durch die verfassungsrechtliche Verankerung des Vertrauens­ prinzipes gewährleistet ist, so der ebenso demokratischen Forderung des Minderheitsschutzes. Damit dient das Budgetrecht letzten Endes der Überparteilichkeit und der Reinlichkeit der Verwaltung. 2. Um diese Funktion zu erfüllen, muß zumindest die Bewilligung der im Voranschlag vorgesehenen Staatsausgaben im freien Er­ messen der Volksvertretung stehen und Bedingung der Führung des Staatshaushaltes durch die Regierung sein. Die Statuierung einer Pflicht des Parlamentes zur gänzlichen oder teilweisen Budgetbewilligung oder die Ermächtigung der Regierung zur Fort-

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führung des Staatshaushaltes im ex-!ex-Zustande sind Abschwä­ chungen des parlamentarischen Budgetrechtes und mithin vom Standpunkte des parlamentarischen Prinzipes aus abzulehnen. Wegen dieser Bedingtheit der Staatshaushaltsführung durch parlamentarische Ermächtigung empfiehlt es sich, die Zulässigkeit von Budgetprovisorien rechtlich sicherzustellen. 3. An der Vorbereitung des Budgets muß der Finanzminister entscheidenden Anteil haben, denn nur unter dieser Voraussetzung kann dem Chef der Finanzverwaltung billigerweise die starke Bin­ dung und Verantwortung auferlegt werden, die durch das Finanz­ gesetz begründet wird. Zu diesem Zwecke muß die Initiative zum Staatshaushaltsgesetze der Regierung vorbehalten werden; die Regierung muß allerdings, um Mißbräuchen dieser Sonderstellung vorzubeugen, verpflichtet werden, den Voranschlag zu einem be­ stimmten, die gewissenhafte Ausübung des Budgetrechtes ermög­ lichenden Termine dem Parlamente vorzulegen. Innerhalb der Regierung müßte, wofern nicht durch das Erfordernis der Ein­ stimmigkeit für Regierungsbeschlüsse ohnehin schon die Zustimmung des Finanzministers Voraussetzung für die Einbringung des Staats­ haushaltsgesetzes im Parlamente ist, eine Majorisierung des Finanz­ ministers bei der Schlußfassung des Staatshaushaltsplanes aus­ geschlossen werden. Ferner empfiehlt es sich durch die parlamen­ tarische Geschäftsordnung gewisse Schranken gegen Anträge auf Hinaufsetzung der Ausgabensätze aufzurichten. Endlich ist das Budgetgesetz von dem sonst sehr erwünschten Referendum auszu­ nehmen. 3. Der parlamentarisch genehmigte Haushaltsplan hat unter möglichst geringem Ermessensspielraum der Regierung als bindende Richtlinie für die Haushaltsführung zu dienen. Allfällige Budget­ überschreitungen auf der Ausgabenseite wären nicht der Regierung unter ihrer Verantwortung freizustellen, sondern von vornherein an rechtliche Schranken zu binden. Soll das Budgetrecht nicht ent­ wertet werden, so müssen einschneidende Ausgabenüberschreitungen an das Erfordernis vorgängiger parlamentarischer Zustimmung gebunden werden. Es empfiehlt sich hiebei zwischen quantitativen und qualitativen Überschreitungen zu differenzieren und zumindest die letztgenannten bis zu einem gewissen Höchstmaß an die Bedingung vorgängiger Genehmigung eines parlamentarischen Ausschusses, darüber hinaus an die Bedingung eines Nachtragsgesetzes zu knüpfen.

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Die ziffernmäßigen Fixierungen müßten sinnvollerweise in einer Proportion zum Gesamtbedarfe stehen, da das Ausmaß des all­ fälligen außerordentlichen Aufwandes durch den Umfang des etat­ mäßigen Aufwandes mitbestimmt ist. 4. Der parlamentarisch genehmigte Haushaltsplan hätte selbst für die Volksvertretung in dem Sinne Richtlinie zu sein, daß er die Initiative zu im Haushaltsplan nicht vorgesehenen Staatsausgaben erschwert. Die Einbringung von Gesetzentwürfen, die einen im genehmigten Haushaltsplan nicht vorgesehenen Aufwand verur­ sachen, wäre durch gleichzeitige ernst zu nehmende Bedeckungsvor­ schläge bedingt. Keinesfalls darf aber der Haushaltsplan für das Parlament als den Träger des Budgetrechtes den Charakter einer unverrückbaren, kulturhemmenden Rechtsschranke annehmen. Das Budgetrecht ist nur rechtstechnisches Mittel für höhere rechts­ politische Zwecke.

XI.

Gutachten des Herrn Rechtsanwalts Professor Dr. Sinzheimer-Frankfnrt a. M. über das Thema: Der strafrechtliche Schutz der Arbeitskraft. k Abgrenzung.

Die Frage nach der Arbeitsfähigkeit des Menschen hat einen doppelten Sinn. Man kann darunter die Erwerbsfähigkeit über­ haupt verstehen, d. h. die Fähigkeit durch Betätigung der Arbeits­ kraft irgendeinen Erwerb zu finden. Man kann darunter aber auch nur die Berufsfähigkeit verstehen, d. h. die Fähigkeit, durch Be­ tätigung der Arbeitskraft in einem bestimmten Berufe tätig zu sein. Bekanntlich wird in der deutschen Sozialversicherung der Be­ griff der Arbeitsfähigkeit in dem einen und anderen Sinne ge­ braucht. Während grundsätzlich die Krankenversicherung und die Angestelltenversicherung von der Arbeitsfähigkeit im Sinne der Be­ rufsfähigkeit ausgehen, liegt grundsätzlich der Invalidenversicherung, der Unfallversicherung und der Reichsversorgung der Begriff der Arbeitsfähigkeit im Sinne der Erwerbsfähigkeit sugtunbe1). In den folgenden Ausführungen ist von der Arbeitsfähigkeit im Sinne beider Begriffe auszugehen, so daß die Frage nach dem Schutz der Arbeitskraft stets die Frage nach dem Schutz der Erwerbs- und der Berufsfähigkeit ist. Diese Fragestellung ist von praktischer Bedeutung, weil die Beeinträchtigung der- Berufsfähigkeit nicht ’) Vgl. dazu „Grundzüge der deutschen Sozialversicherung" bearbeitet im Auftrage des Reichsarbeitsministeriums, 1922, S. 76 ff.

Der strafrechtliche Schutz der Arbeitskraft.

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notwendig mit einer Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit ver­ bunden ist. Aber wenn auch jede Arbeitsfähigkeit in Frage kommt, so kommt doch hier nicht die Arbeitsfähigkeit eines jeden in Betracht. Es kommt auf die Arbeit an, auf die sich die Arbeitsfähigkeit richtet. Das Arbeitsrecht unterscheidet abhängige und nicht abhängige Arbeit.2)3 Abhängige Arbeit leisten die Arbeitnehmer oder arbeit­ nehmerähnliche Personen2). Nichtabhängige Arbeit ist die Arbeit derjenigen Personen, die keine Arbeitnehmer oder arbeitnehmer­ ähnliche Personen sind. Der Begriff des Arbeitnehmers schließt den Begriff des Beamten in sich4).5 6 Er 7 erfordert nicht, daß ein Arbeitsvertrag besteht. Es genügt, daß ein Arbeitsverhältnis be­ steht, das nicht immer in einem Arbeitsvertrag begründet ist2). In folgendem wird ausschließlich die Arbeitsfähigkeit des Arbeit­ nehmers ins Auge gefaßt. Es geschieht dies, weil eine besondere Gefährlichkeit für die Arbeitsfähigkeit der Menschen durch seine Stellung als Arbeitnehmer gegeben ist. Mit Recht sagt darüber Lotmar2): „Bei der Leistung Arbeit ist der Schuldner, persönlich oder in Person eines Vertreters, vom Anfang bis zum Ende der Leistung mit ihr verwachsen, sie macht einen Teil seines Lebens aus, so daß jede Bestimmung der Arbeit, die das Recht ihr gibt, oder von den Parteien geben läßt — ob sie bei Tag oder bei Nacht, zu Wasser oder zu Land, daheim oder in der Fabrik, mit der Hand oder maschi­ nell, im Chor oder Solo zu verrichten ist —, unmittelbar den Arbeit­ nehmer ergreift. Seine Person oder die seines Gehilfen ist in den Vertragsvollzug verflochten und damit Anstrengungen, Unbilden oder Gefahren ausgesetzt, bieder sächlichen Leistungen fern zu bleiben pflegens." Es kommt die besondere Dringlichkeit des in Frage kommenden Rechtsgutes für den Arbeitnehmer hinzu. Der Arbeit2) Siehe darüber ausführlich Sinzheimer, Grundzüge des Arbeits­ rechts, 2. Aufl., S. 4 unter 2., S. 7 ff. 3) Vgl. Sinzheimer, a. a. O., S. 32ff. 4) Vgl. Sinzheimer, a. a. O., S. 36ff. 5) Vgl. Sinzheimer, a. a. O., S. 109ff., bes. S. 117, S.140ff. 6) Der Arbeitsvertrag nach dem PrivatrechtdesDeutschen Reiches I., S. 8, 9. 7) Allerdings beziehen sich die angeführten Worte Lotmars auf seinen Begriff des Arbeitsvertrages, der nicht nur ein Vertrag über abhängige Arbeit ist. Doch treffen sie zweifellos in besonderem Maße auf das Ar­ beitsverhältnis des Arbeitsnehmers zu.

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nehrner ist im Durchschnitt der Fälle auf die Verwertung seiner Arbeitskraft angewiesen. Andere Erwerbsquellen als seine Arbeits­ kraft hat er nicht. Und schließlich ist diese Umgrenzung begründet in der geschichtlichen Entwicklung des vorliegenden Themas. Seine Erörterung knüpft, wenn es auch nicht immer ausdrücklich voraus­ gesetzt wird, an die Lage des Arbeitnehmers, keineswegs allgemein an die Arbeitskraft eines jeden Menschen an. Wohl spricht Art. 157 Abs. I RV. allgemein von der Arbeitskraft. Doch läßt Art. 157 Abs. II, der von dem einheitlichen Arbeitsrecht spricht, welches das Reich schaffen soll, keinen Zweifel daran, daß unter dieser Arbeits­ kraft nur die Arbeitskraft des Arbeitnehmers verstanden ist. Mit alledem ist nicht gesagt, daß es außerhalb dieser Beschränkung einen Schutz der Arbeitskraft nicht gibt oder geben soll. Es ist damit nur gesagt, daß die vorliegende Betrachtung auf die Arbeitskraft des Arbeitnehmers zu konzentrieren ist. Es fragt sich schließlich in welchem Sinne der Schutz der Arbeits­ kraft in Betracht kommt. Die Arbeitskraft ist menschliche Lebens­ kraft, die sich in der Arbeit betätigt. An solche hat sie eine Konstitu­ tion und einen wirtschaftlichen Wert. Die Konstitution der Arbeits­ kraft ist in dem Geiste und Körper des Menschen begründet8). Der wirtschaftliche Wert der Arbeitskraft ergibt sich aus ihrer Bestimmung, der Befriedigung fremder Bedürfnisse zu dienen. Diesem natür­ lichen Grundtatbestand entsprechen die rechtlichen Tatbestände, die für den Schutz der Arbeitskraft maßgebend sind. Die Schädigung, gegen die sich der Schutz der Arbeitskraft richtet, ist eine körperliche oder wirtschaftliche Schädigung. Die körperliche Schädigung be­ einträchtigt oder zerstört die persönliche Grundlage der Arbeits­ kraft. Die wirtschaftliche Schädigung besteht in der Vorenthaltung des Gegenwertes für den Wert, der in der Betätigung der Arbeits­ kraft für einen anderen liegt. Wir sprechen im ersten Falle von einem Eingriff in die Arbeitskraft, im zweiten Falle von einer Ausbeutung der Arbeitskraft. In Wirklichkeit können beide Tat­ bestände Zusammentreffen, indem die Ausbeutung zugleich der Grund für einen Eingriff in die Arbeitskraft sein kann, wie dies z. B. bei einer gesundheitsschädigenden Überanstrengung des Arbeit­ nehmers zu gewinnsüchtigen Zwecken des Arbeitgebers der Fall ist. 8) Über Einzelheiten s. z. B. Herbert Herxheimer, Anatomische und physiologische Grundlagen der Arbeit, in dem Sammelwerk „Arbeits­ kunde", herausgegeben von Joh. Riedel, 1925, S. 99 ff.

Der strafrechtliche Schutz der Arbeitskraft.

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Aus beiden Tatbeständen ergibt sich ein doppeltes Schutzbedürfnis. Es richtet sich auf einen Schutz gegen die Verletzung und Ge­ fährdung der Arbeitskraft 9). Der Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung ist mithin der strafrechtliche Schutz der Erwerbs- und Be­ rufsfähigkeit des Arbeitnehmers gegen Eingriffe und SluSbeutung10).* II. Das geltende Recht.

A. Der Schutz gegen Eingriffe.

1. Verletzung.

Die Arbeitskraft ist als solche gegen Eingriffe, die zu einer Ver­ letzung führen, nicht geschützt. Deswegen ist die Arbeitskraft nach geltendem Recht doch nicht schutzlos. Die Arbeitskraft gehört der Persönlichkeit des Menschen an. Sie ist der „Inbegriff der phy­ sischen und geistigen Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der leben­ digen Persönlichkeit eines Menschen existieren. . . ." n). Ihre Be­ tätigung erfaßt nicht einen Teil des Menschen, der irgendwie im Menschen abzusondern wäre, sondern den ganzen Menschen, wie er leibt und lebt. Der arbeitende Mensch verwirklicht einen Zweck, „den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz be­ stimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß. Und diese Unterordnung ist kein vereinzelter Akt"12). Der Schutz der Arbeits­ kraft gegen verletzende Eingriffe ist daher in dem Schutz enthalten, den das geltende Recht in den Bestimmungen über die Verbrechen und Vergehen wider das Leben (§ 211 ff.) und die Körperverletzung 9) Es scheiden damit alle Fragen aus, die den oben angegebenen Gegen­ stand nicht berühren, wie die Frage nach der Bestrafung des Lohnkampfes, des Mißbrauchs der Abhängigkeit zu geschlechtlichen Zwecken usw. In den bisherigen Erörterungen wurde diese Grenze nicht immer eingehalten. 10) Eine wertvolle Grundlage für die folgenden Ausführungen bildet die Monographie von Rudolf Nevoigt, Der strafrechtliche Schutz der Arbeitskraft, 1927. Dort ist auch das rechtsvergleichende Material (S. 150ff.), sowie die einschlägige Literatur angegeben (IXff.). Auf diese Schrift ist für alle Einzelfragen zu verweisen. n) Karl Marx, Das Kapital, Volksausgabe I., S. 123. 12) Karl Marx, a. a. O., S. 134.

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(§ 223ff.) darbietet. Es ist nur zu prüfen, ob und wie die gelten­ den Bestimmungen dem Schutzbedürfnis der Arbeitskraft Rech­ nung tragen. a) Der Schutz der Arbeitskraft durch den Schutz gegen Körper­ verletzungen beschränkt sich nach § 223 BGB. auf körperliche Miß­ handlung und Gesundheitsbeschädigung. Körperliche Mißhand­ lung ist jedes „unangemessene Behandeln, das entweder das körper­ liche Wohlbefinden oder die körperliche Integrität beseitigt4*13).14 Gesundheitsbeschädigung ist „jede Hervorrufung eines patholo­ gischen Zustandes, der vom Ärztestandpunkt aus als Krankheit be­ zeichnet wird""). Die geistige Erkrankung steht der körperlichen Erkrankung gteid)15). Man darf deswegen annehmen, daß der strafrechtliche Begriff mit dem versicherungsrechtlichen Begriff der Krankheit üfceränftmimt16).17 b) Die Körperverletzung kann nicht nur durch ein Tun, sondern auch durch ein Unterlassen geschehen. Ein solches Unterlassen ist ins­ besondere durch die Nichtbeachtung der in § 618 BGB. dem Arbeit­ geber auferlegten Verpflichtungen gegeben. Hierbei kann die Zu­ stimmung des Verletzten die Strafbarkeit nicht ausschließen. Die Zustimmung kann in einem Verzicht des Arbeitnehmers auf die Einhaltung der Vorschrift des § 618 BGB. liegen. Ein solcher Ver­ zicht berührt die Rechtswidrigkeit des Eingriffs nicht, denn er ist nach § 619 BGB. ungültig"). Die Zustimmung kann auch in einer Einwilligung des Arbeitnehmers in den Eingriff selbst liegen. Auch diese Einwilligung schließt die Rechtswidrigkeit nicht aus. Man mag zu der strafrechtlichen Beurteilung der Einwilligung des Verletzten im allgemeinen stehen wie man toill18), jedenfalls ist eine Einwilligung des Arbeitnehmers in einen Eingriff in seine Arbeitskraft nur erklärlich, wenn er sich in einer solchen Notlage befindet, die seinen wahren Willen nicht zum Ausdruck kommen

13) Das Reichsstrafgesetzbuch, mit bes. Berücksichtigung der Recht­ sprechung des Reichsgerichts, erläutert von Ebermayer, Lobe, Rosen­ berg, 2. Ausl., 1922, zu § 223, S. 595 (im folgenden zitiert: RGKomm.). 14) RGKomm., S. 596 unter 5. 15) RGKomm., S. 596 unter 5. 16) Grundzüge der Deutschen Sozialversicherung, S. 73. 17) Vgl. dazu grundsätzlich Max Ernst Mayer, Der Allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts, 2. Ausl. 1923, S. 292. 18) Vgl. dazu im allgemeinen Max Ernst Mayer, a. a. O., S. 288ff. .und die weiter dort angegebene Literatur.

Der strafrechtliche Schutz der Arbeitskraft. läßt.

365

In einem solchen Fall hat das Reichsgericht mit Recht ent­

schieden, daß der Grundsatz „volenti non iit inpuria“ jedenfalls

dann nicht gelten kann, wenn die Einwilligung nach den Vor­ stellungen des täglichen Lebens nicht mehr als Ausfluß der wahren

inneren Willensmeinung

des

von der Tat

Betroffenen gellen

farm19).20 21 22 c) Eine besondere Beachtung verdient § 231 StGB.

Darnach

kann in allen Fällen der Körperverletzung auf Verlangen des Ver­ letzten neben der Strafe auf eine an denselben zu erlegende Buße

bis zum Betrage von 6000.— Mk. erkannt werden. Dieser Bußan­ spruch fällt für alle Arbeitnehmer weg, die eine Beschädigung ihrer

Arbeitskraft durch den Unternehmer in Betrieben erleiden, die der Gewerbeunfallversicherung, der Land- und der Seeunfallversiche­

rung unterliegen, wenn nicht strafrechtlich festgestellt worden ist, daß

der Unternehmer den Unfall vorsätzlich

herbeigeführt hat

(§§ 898ff., 1042, 1219 RVO.)29). Die Motive zu dem Gesetzent­ wurfs) rechtfertigen diesen Ausschluß der Ansprüche des Arbeit­

nehmers gegen den Unternehmer in folgender Weise: „Neben der Sicherung der Arbeiter gegen die wirtschaftlichen

Folgen der Unfälle verfolgt der Entwurf das Ziel, alle Streitig­ keiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitern über Entschädigungs­

ansprüche, welche den letzteren aus Unfällen erwachsen, zu

beseitigen, und zu dem Ende alle Entschädigungsansprüche, welche in Veranlassung eines Unfalls gegen den Arbeitgeber nach bisherigem Rechte erhoben werden konnten, aufzuheben.

Die Berechtigung hierzu liegt in dem Ersatz, welchen die Ar­ beiter für die ihnen nach dem bisher geltenden Rechte zu­

stehenden, in ihrer Realisierung

höchst

unsicheren

Entschä­

digungsansprüche dadurch erhalten sollen, daß ihnen für jeden aus einem Unfall entstehenden Schaden selbst in dem Falle

eigenen Verschuldens eine zwar begrenzte, aber vollkommen sichere Entschädigung gewährt wird"9-).

19) RGSt. 41, 396. 20) RGKomm., S. 624 zu 6. 21) Abgedruckt bei E. v. W oedt ke, Unfallversicherungsgesetz, Kommen­ tar, 5. Aufl., 1901, S. 504 ff. 22) Dieselbe Rechtslage besteht für Beamte, wenn sie im Dienst einen Betriebsunfall erleiden, vgl. z. B. die §§ 1,10 ff. des Unfallfürsorg egesetzes für Beamte und für Personen des Soldatenstandes vom 18. 6. 1901. 35. DJT. 1.

24

366

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d) Wenn hiernach die Bestimmungen über die Körperver­ letzung auch einen Schutz der Arbeitskraft in sich schließen, so ist doch die Verletzung der Arbeitskraft ohne Einfluß auf den Tatbestand der Körperverletzung. Dies zeigt sich besonders in der Ausgestaltung des § 224 StGB. Ist mit einer Körperverletzung eine Verletzung der Arbeitskraft verbunden, so qualifiziert die Ver­ letzung der Arbeitskraft die Körperverletzung an sich nicht. Auch wenn infolge der Körperverletzung eine dauernde Arbeitsunfähigkeit eintritt, liegt nur eine leichte Körperverletzung vor, wenn nicht § 223a gegeben ist oder einer der Fälle vorliegt, die § 224 besonders vorsieht. So kann nach geltendem Recht die erhebliche Schädigung der Schönheit eines Menschen mit Zuchthaus von 2 bis 10 Jahren bestraft werden, die Vernichtung seiner Arbeitskraft aber nur mit Geldstrafe oder Gefängnis bis zu 3 Jahren23 * *).24 25 2. Gefährdung.

Wichtiger noch als der Schutz gegen Eingriffe ist der Schutz gegen die Gefährdung der Arbeitskraft. Dieser Schutz kann durch die Aufstellung konkreter oder abstrakter Gefährdungsdelikte erfolgen. Das allgemeine Strafrecht kennt für die Arbeitskraft keinen be­ sonderen konkreten Gefahrenschutz. Nur indirekt ist die Arbeits­ kraft gegen konkrete Gefährdung in den §§ 321, 330 StGB, ge­ schützt 2*). Indessen ist dieser konkrete Gefahrenschutz in mehrfacher Weise beschränkt. Er hat nur die in den erwähnten Bestimmungen angeführten Veranstaltungen und Betriebe, insbesondere Berg­ werksbetriebe und Bauten im Auge. Er trifft in § 321 nur vor­ sätzliches Tun (im Falle des § 330 StGB, genügt Fahrlässigkeit)23). Und er wendet sich, wenigstens im § 321, nur gegen die Zerstörung oder Beschädigung vorhandener Einrichtungen, nicht auch gegen die Unterlassung geeigneter Maßnahmen zur Abwehr von Ge­ fahren. (RGBl. 211) in der Fassung der Gesetze vom 25. 10. 1922 (RGBl. I. 802), 18. 6. 1923 (RGBl. I. 385) und 12. 12. 1923 (RGBl. I. 1181). 23) So Nevoigt, a. a. O. in Übereinstimmung mit Löffler S. 36f. 24) Vgl. dazu im einzelnen die Ausführungen von Nevoigt, a. a. O., S. 42 ff. 25) Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, zu § 330 unter V.

Der strafrechtliche Schutz der Arbeitskraft.

367

Der Schwerpunkt des Gefahrenschutzes liegt daher nach geltendem Recht nicht in dem allgemeinen Straf­ recht, sondern in dem Arbeiterschutzrecht. Das Arbeiter­ schutzrecht enthält in seinen strafrechtlichen Bestimmungen die ab­ strakten Gefährdungsdelikte für den Schutz der Arbeitskraft. Das Wesen dieser Delikte besteht nicht darin, daß sie die Herbeiführung einer konkreten Gefahr unter Strafe stellen, sondern daß sie, ohne Rücksicht darauf, ob im Einzelfall eine wirkliche Gefahr für die Arbeitskraft entstanden ist, Handlungen unter Strafe stellen, die regelmäßig gefährlich sind, weil sie eine Gefahr enthalten können*2“). Der Arbeiterschutz, der hierbei in Betracht kommt, ist der Betriebs­ schutz und derArbeitszeitschutz. Jener regelt die Frage, welcheArbeitnehmer in bestimmten Betrieben beschäftigt werden dürfen und die Art und Weise, wie der Arbeitgeber seine Arbeitnehmer zu beschäftigen hat, um die mit dem Betrieb für die Arbeitskraft des Arbeitnehmers verbundenen Gefahren möglichst zu verringern. Dieser regelt die angemessene Verteilung von Arbeits- und Ruhe­ zeiten im Arbeitsverhältnis durch Beschränkung der zulässigen Beschäftigungszeit, um die durch die übermäßige Dauer der Arbeits­ zeit für die Arbeitskraft des Arbeitnehmers verbundenen Gefahren möglichst zu verringern. Betriebs- und Arbeitszeitschutz sind für Jugendliche und Frauen erhöht, um die besonderen Gefahren, die sich für Jugendliche und Frauen aus ihrer Beschäftigung ergeben können, möglichst zu verringern2'). Es handelt sich hier nur darum, einige Merkmale dieses Ge­ fahrenschutzes sestzuhalten: a) Der Arbeiterschutz ist heute kein allgemeiner Arbeitnehmer­ schutz. Der Betriebsschutz umfaßt im wesentlichen nur den Schutz der gewerblichen Arbeiter im Sinne des Titels VII der Gewerbe­ ordnung (§§ 120a ff.), also einschließlich der gewerblichen Lehrlinge, Betriebsbeamten, Werkmeister und Techniker. Umfassender ist der Arbeitszeitschutz, der für alle Arbeitnehmer (Arbeiter und An­ gestellte) gilt. Aber auch er nimmt bestimmte Arbeitnehmergruppen, so z. B. die in der Land- und Forstwirtschaft, sowie die in der Haus­ wirtschaft beschäftigten Arbeitnehmer, aus. Die landwirtschaftlichen Arbeitnehmer unterstehen einem öffentlich-rechtlichen Betriebs-

2°) Vgl. darüber grundsätzlich Max Ernst Mayer, a. a. £>., S. 129. 2’) Wegen der Einzelheiten sei auf Kaskel, Arbeitsrecht, 3. Ausl., verwiesen.

368

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schütz nur nach Maßgabe der Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaft,

welcher

ihr

angehört.

Arbeitgeber

landwirtschaftlichen Normalunfallverhütungsvorschriften

sind

Die auf

Einrichtung und Verwendung landwirtschaftlicher Maschinen be­

schränkt, enthalten dagegen keine Vorschriften über die sonstige

Einrichtung

der Betriebsmittel").

landwirtschaftlichen

und

Namentlich

hauswirtschaftlichen

besteht

für die

Arbeitnehmer

ein

Kinder- und Frauenschutz nicht"). b) Der Arbeiterschutz ist, abgesehen von seiner zivilrechtlichen

Wirkung, nicht nur Strafschutz.

Er ist neben dem Strafschutz durch

die Gewerbeaufsicht und polizeiliche Zwangsmittel gesichert. Gewerbeaufsicht ist durch § 139b GewO, geregelt.

Die

Sie hat sich

seit der Novelle zur GewO, vom 17. Juli 1878 ständig erweitert

und greift heute bereits, nach dem ihr insbesondere auch die Durch­

führung des Arbeitszeitschutzes untersteht, über das Bereich der gewerblichen Arbeit hinaus. Die Behörden der staatlichen Gewerbe­ aufsicht sind Landesbehörden.

Auf den Anregungen oder An­

ordnungen der Gewerbeaufsichtsbeamten liegt der Schwerpunkt

des Betriebsschutzes.

Nach § 120d GewO, sind die zuständigen

Polizeibehörden befugt, im Wege der Verfügung für einzelne Anlagen

die

Ausführung

derjenigen Maßnahmen

anzuordnen,

welche zur Durchführung der in §§ 120a bis 120c enthaltenen Grund­ sätze erforderlich und nach der Beschaffenheit der Anlage ausführ­

bar erscheinen.

Für den Erlaß solcher polizeilichen Verfügungen

sind in allen deutschen Ländern, mit Ausnahme von Bayern und

Hessen, die Gewerbeaufsichtsbeamten zuständig.

Die Funktion

") Kaskel, a. a. £>., S. 207 unter III. ") Die landwirtschaftliche Kinderarbeit ist in den letzten Jahren zurück­ gegangen. Nach der Betriebszählung vom 16. Juni 1925 waren am Zählungs­ tage in den landwirtschaftlichen Betrieben mit einer landwirtschaftlich be­ nutzten Fläche von 5 Ar bis 200 und mehr 390412 Personen unter 14 Jahren beruflich tätig. Der weitaus größte Teil der beschäftigten Kinder entfällt auf Familienangehörige. Von fremden Kindern wurden im Jahre 1925 nur noch 41024 festgestellt (Hanna Marcuse, Landwirtschaftliche Kinder­ arbeit, Soziale Praxis XXXVII Sp. 289ff., 313ff.). Mit Recht sieht Marcuse in diesem Rückgang der landwirtschaftlichen Kinderarbeit nur eine Übergangserscheinung: „Der Rückgang der landwirtschaftlichen Kinder­ arbeit hat keine notwendig fortschreitende Tendenz, es ist vielmehr durchaus möglich, daß sich die Zahl der beschäftigten Kinder wieder stark erhöht, wenn auch die Voraussetzungen dafür heute noch nicht vorhanden sind".

Der strafrechtliche Schutz der Arbeitskraft.

369

der staatlichen Gewerbeaufsicht wird in Deutschland gegenwärtig durch die Gewerbeaufsichtsämter, durch Gewerbeärzte, für die speziellen Verhältnisse des Bergbaus durch die Bergrevierbeamten bzw. Oberbergämter ausgeübt, während daneben auch die Polizei­ organe wesentliche Funktionen der staatlichen Aufsicht auszuüben haben. Aber dabei hat es nicht sein Bewenden. Neben diesen staatlichen Instanzen sind die Berufsgenossenschaften durch ihre technischen Aufsichtsbeamten und für bestimmte Sondergebiete die Dampfkessel-Überwachungsvereine tätig, so daß eine Einheitlichkeit im Aufbau der Arbeitsaufsicht heute keineswegs besteht 30). Be­ sondere Zwangsmittel des Arbeiterschutzes sind der Entlassungs­ zwang gegenüber Jugendlichen und Lehrlingen und die polizeiliche Einstellung des Betriebes (§ 106 Abs. 2, 144a GewO., § 147 Abs. 4 GewO.). Im übrigen stehen den Polizeibehörden die Mittel des allgemeinen Verwaltungszwanges zur Durchführung der Arbeiterfchutzvorschriften in gleichem Umfange zur Verfügung, wie zur Durchführung sonstiger polizeilicher Verfügungen. Maßgebend dafür ist das Landesrecht"). c) Die strafrechtliche Sicherung des Arbeiterschutzes ist in be­ sonderen Strafvorschriften enthalten (vgl. § 144aff. GewO.; § 11 ArbZV.). Neben dem Unternehmer haften die Betriebsleiter und Aufsichtspersonen (§ 151 GewO.). Die Höhe der Strafe ist verschieden (§§ 145, 146 Abs. 1 Ziff. 2, 147 Ziff. 4, 150a GewO.; §11 ArbZV.). Sie übersteigt in Hauptfällen die Übertretungs­ strafe nicht (§ 147 Ziff. 4 GewO.). Eine erhöhte Rückfallstrafe ist nur in Ausnahmefällen vorgesehen (§ 146 Ziff. 2 GewO.; § 11 Ms. 2 ArbZV.). Die Verjährungsfrist beträgt, abgesehen von dem Falle des § 146 Ziff. 2 GewO, und des § 11 ArbZV., drei Monate, von dem Tage an gerechnet, an welchem die mit Strafe bedrohten Handlungen begangen sind (§ 145 Abs. 2 GewO.)"). 80) „Das Ergebnis der historischen Entwicklung ist ein Nebeneinander der einzelnen Organe auf gleichen Arbeitsgebieten und daher weitgehende Doppelarbeit, die in der heutigen Zeit mit ihren Verlangen nach Rationali­ sierung der Verwaltung noch weniger angebracht erscheint als sie es vor dem Kriege ohnehin schon gewesen ist" (Soziale Praxis, 1928, Nr. 17). 31) Näheres bei Kaskel, a. a. O., S. 264. ") Über das Arbeitsstrafrecht im einzelnen s. Kaskel, a. a. O., S. 264ff. und die dort angegebene Literatur.

370

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B. Der Schutz gegen Ausbeutung. 1. Verletzung.

Das geltende Recht kennt keinen besonderen strafrechtlichen Schutz der Arbeitskraft gegen Ausbeutung. Doch schließen allge­ meine und besondere Bestimmungen des geltenden Rechts auch einen strafrechtlichen Schutz der Arbeitskraft in sich. a) Das allgemeine Strafrecht schützt mittelbar die Arbeits­ kraft in seinen Bestimmungen über die Erpressung (§ 253), den Betrug (§ 263) und den Wucher (§ 302aff.)33).34 35 Allerdings wird dies bei der Erpressung geleugnet. Der Vermögensvorteil, den § 253 voraussetzt, müsse stets aus einem fremden Vermögen geschöpft sein, zum Vermögen gehöre aber nicht die persönliche Arbeitskraft3*). Dieser Auffassung muß ent­ gegengetreten werden33). Die Arbeitskraft ist kein Vermögen, sondern eine Vermögensquelle36). Deswegen kann aber doch ihre erpresserische Ausbeutung zu einer Vermögensbeschädigung führen. Die Betätigung der Arbeitskraft führt zu einem Vermögensvorteil sowohl für den, der sie empfängt, als auch für den, der sie leistet. Der Vermögensvorteil der ersten Art ist das Arbeitsprodukt, der Vermögensvorteil der zweiten Art ist die Arbeitsvergütung. Wenn ein Arbeitnehmer im Sinne des § 253 dazu genötigt wird, ohne Ent­ gelt oder gegen unangemessenes Entgelt zu arbeiten, so empfängt der Arbeitgeber nicht nur einen Vermögensvorteil, sondern dem Arbeitnehmer wird auch ein solcher entzogen. Die Vermögens­ beschädigung des Arbeitnehmers besteht in dem Wegfall oder in der Schmälerung der Möglichkeit, eine anderweitige Arbeitsver­ gütung oder eine angemessene Arbeitsvergütung zu beziehen37). Zweifelhaft kann nur die Frage sein, wann der Vermögensvorteil des Arbeitgebers rechtswidrig ist. Nach der herrschenden Meinung38) 33) Über Einzelheiten s. Nevoigt, a. a. O., S. 61 ff., wo auch die nähere Literatur angegeben ist. 34) RGKomm. zu § 253, S. 697 oben. 35) So auch Nevoigt, a. a. O., S. 63ff., S. 83, allerdings mit anderer Begründung. 3fl) So vor allem Lotmar, a. a. O. I., S. 82ff. 37) Lotmar, a. a. O., I., S. 83, 84. 38) RGKomm. S. 700 unten.

Der strafrechtliche Schutz der Arbeitskraft.

371

ist ein Vermögensvorteil rechtswidrig, wenn kein adaequater ver­ kehrsmäßiger Zusammenhang zwischen der Nötigung und dem Vermögensvorteil besteht. Die Folgen, die sich aus dieser Auffassung für die Frage der Strafbarkeit des Lohnkampfes ergeben, sind hier nicht weiter zu verfolgen, weil hier nur die Ausbeutung der Arbeits­ kraft, nicht aber auch die Frage der strafrechtlichen Behandlung des Lohnkampfes zur Erörterung steht. Nur beiläufig sei erwähnt, daß sie die Bestrafung des Lohnkampfes unter dem Gesichtspunkt der Erpressung, wenn nicht außergewöhnliche Mittel in Frage kommen, ausschließt39). Daß eine Ausbeutung der Arbeitskraft durch Betrug er­ folgen kann, ist nicht bestritten. In diesem Falle hat das Reichs­ gericht ausdrücklich anerkannt, daß eine Vermögensbeschädigung durch einen Eingriff in die Erwerbsmöglichkeiten eines Arbeit­ nehmers erfolgen fann40). Es sagt ausdrücklich: „Wenn auch die Arbeitskraft einer Person einen aktiven Bestandteil ihres Vermögens im Rechtssinne nicht bildet, so steht diesem doch nicht entgegen, die Vereitelung oder Erschwerung der Möglichkeit, diese Kraft gegen angemessenes Aequivalent zu verwerten, d. h. in Geld oder Geldes­ wert umzusetzen, als eine solche Gefährdung des Vermögens zu betrachten, die einer Vermögensbeschädigung, wie sie zum Tat­ bestand des Betrugs erfordert wird, gleichzusetzen ist." Die unmittelbarste Berührung mit der Frage der Ausbeutung der Arbeitskraft hat der Tatbestand des Wuchers. Nach der herrschenden Auffassung 41) ist indessen der Geltungsbereich des Wuchers hinsichtlich der Ausbeutung der Arbeitskraft beschränkt. Nach geltendem Recht liegt eine wucherische Ausbeutung der Arbeitskraft nur vor, wenn es sich um den sogenannten Sachwucher nach § 302e handelt. Nur diese Bestimmung schließt auch den Lohn­ wucher in sich, weil sie auf Kreditgeschäfte nicht beschränkt und darum auf jedes Rechtsgeschäft, also auch den Arbeitsvertrag anwend­ bar ist. Die Versuche, den Lohnwucher schon nach § 302 a strafbar erscheinen zu lassen, müssen nach geltendem Recht als gescheitert angesehen werden42). Nach geltendem Recht ist der Lohnwucher 39) Wegen der näheren Begründung verweise ich auf meine „Grundzüge des Arbeitsrechts", 2. Aufl., S. 286 ff. 40) RGSt. 25, 371 ff., insb. S. 375. 41) Nevoigt, a. a. O., S. 96ff. 42) Siehe darüber im einzelnen Nevoigt a. a. O. Ich schließe mich

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nur strafbar, wenn er unter den in § 302 e angegebenen Voraus­ setzungen gewerbs- oder gewohnheitsmäßig begangen ist.

b) Die besonderen Bestimmungen, die sich gegen die Aus­ beutung der Arbeitskraft wenden, sind in dem Lohnschutz des gelten­ den Rechts enthalten. Der Lohnschutz umfaßt die Lohnregulierung und die Lohnsicherung. Beide Maßnahmen sind auf bestimmte Arbeitnehmergruppen, nämlich die gewerblichen Arbeiter und Heimarbeiter beschränkt. Die Lohnregulierung erfolgt heute in weitem Maße durch tarifvertragliche Regelung. Diese Lohnregulierung kommt hier nicht in Betracht, weil sie strafrechtlich nicht geschützt ist. Die Lohn­ regulierung, die hier ausschließlich in Betracht kommt, ist die nach den §§ 20ff. des Hausarbeitsgesetzes in der Neufassung der Bekannt­ machung vom 30. Juni 1923 für die Hausarbeiter vorgesehene Lohnregulierung. Nach § 20 Ziff. 3 haben die Fachausschüsse, deren fakultative Errichtung in § 19 vorgesehen ist, die Bestimmungen eines Tarifvertrags über die Entgelte als allgemein verbindlich zu genehmigen oder Mindestentgelte für Hausarbeiter festzusetzen, falls in ihren Bezirken den Hausarbeitern offenbar unzulängliche Entgelte gezahlt werden und eine Verständigung zur Herbeiführung zulänglicher Entgelte nicht erzielt worden ist. Als unzulängliche Entgelte sind „Arbeitsvergütungen anzusehen, die Heimarbeitern für bestimmte Arten von Heimarbeit unter Zugrundelegung einer normalen Arbeitszeit und einer vollwertigen und eingerichteten Arbeitskraft nicht den ortsüblichen Lohn zu erreichen ermöglichen oder die hinter den in anderen Bezirken mit ähnlichen wirtschaft­ lichen Verhältnissen für die gleiche Art bezahlten Löhnen zurück­ bleiben oder den in demselben Bezirk in Werkstätten und Fabriken gezahlten Löhnen für ähnliche Arbeit nachstehen" (§ 20 Abs. 2). Die endgültig genehmigten Bestimmungen eines Tarifvertrags über die Entgelte und die endgültig festgesetzten Bestimmungen über Mindestentgelte haben für den Bezirk des genehmigenden oder festsetzenden Fachausschusses oder Gesamtfachausschusses die Wirkung eines für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrags (§ 36). Die Einhaltung der hiernach getroffenen Lohnbestimmungen ist durch Buße gesichert, die der Fachausschuß festsetzt und nach den reichsder Begründung Nevoigts, mit der er diese Versuche zurückweist, durchaus an und nehme darauf Bezug.

Der strafrechtliche Schutz der Arbeitskraft.

373

rechtlichen Vorschriften für die Beitreibung öffentlicher Abgaben eingezogen wird. Die Buße darf das Fünffache des Minderbetrages nicht übersteigen. Sie darf das Zehnfache des Minderbetrages erreichen, wenn gegen den Gewerbetreibenden oder Zwischen­ meister bereits zweimal eine Buße festgesetzt worden ist. Durch die Zahlung der Buße wird der Anspruch auf Entgelt und Schadens­ ersatz nicht berührt (§ 37 ff.). Die Lohnbestimmungen werden nicht nur im Interesse der Heimarbeiter, sondern auch im öffentlichen Interesse getroffen. Ein Verzicht auf den festgesetzten Lohn durch den Heimarbeiter ist deswegen nicht als zulässig zu erachten, einerlei ob die Lohnbestimmung in einem als allgemein verbindlich ge­ nehmigten Tarifvertrag oder in einer Mindestentgeltfestsetzung getroffen worden ist43). Die Lohnsicherung unterscheidet sich von der Lohnregulierung dadurch, daß die Lohnregulierung eine Lohnvereinbarung ersetzt, die Lohnsicherung sie aber voraussetzt. Sie soll dem gewerblichen Arbeitnehmer (dazu gehört auch der Heimarbeiter, § 119b GewO.) den Lohn am Fälligkeitstage in der bedungenen Höhe ohne Abzug und Beeinträchtigung sichern44). Es kommt hier hauptsächlich das Druckverbot (§ 115 GewO.) mit seinen anschließenden Bestim­ mungen (§ 115a), sowie die Überschreitung der dem Arbeitgeber zustehenden Strafbefugnis (§ 134c Abs. 2 GewO.) in Betracht. Die dadurch dem Arbeitgeber auferlegten Verpflichtungen sind strafrechtlich gesichert (§§ 146 Abs. 1 Ziff. 1, 148 Abs. 1 Ziff. 13, 148 Abs. 1 Ziff. 11 GewO.)").

2. Gefährdung.

Ein Schutz gegen die Ausbeutung der Arbeitskraft durch eine Gefährdung der wirtschaftlichen Daseinsbedingungen der Arbeit­ nehmer ist in dem geltenden Recht nur vereinzelt enthalten. Hier­ her gehören hauptsächlich die Bestimmungen, die den Erlaß und den Inhalt der Arbeitsordnung sichern, sich auf Lohnbücher und 43) Damit findet die Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, die grundsätzlich einen Verzicht auf den Tariflohn zuläßt, eine gesetzliche Ein­ schränkung. 44) Einzelheiten bei Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, 2. Aufl., S. 183 ff. 4ß) Über den weiteren Anwendungsbrauch der Bestimmungen über das Druckverbot s. Sinzheimer, a. a. O., S. 186, Anm. 2.

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Lohnzettel beziehen, und in dem Verbot der geheimen Kennzeichnung eines Arbeitnehmers in dem Zeugnis, dem Arbeitsbuch, den Lohnbüchern und Arbeitszetteln (§§ 113 Abs. 3, 111 Abs. 3, 114 a Abs. 4 GewO.) enthalten sind"). Hierbei gelten besondere Vor­ schriften für die Heimarbeit, für den Bergbau und die Schiffahrt46 47).48 Alle diese Vorschriften wollen durch eine bestimmte formelle Ge­ staltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen die Gefahr einer Aus­ beutung der Arbeitskraft ausschalten.

III. Zur

Frage der Fortbildung des strafrechtlichen Schutzes der Arbeitskraft.

Daß die Arbeitskraft eines besonderen Schutzes bedarf, ist eine Anschauung, deren grundsätzliche Berechtigung heute kaum noch bestritten ist. Der Arbeitnehmer gibt mit seiner Arbeit nicht nur etwas, sondern sich selbst hin. Das Arbeitsverhältnis kann daher nicht nur als ein Schuldverhältnis geregelt werden, in dem Arbeit gegen Entgelt ausgetauscht wird, sondern es muß auch zugleich als ein Zustandsverhältnis behandelt werden, in dem sich die Persönlich­ keit des Arbeitnehmers befindet. Der Schutz der Arbeitskraft ist die rechtliche Maßnahme, in der das Recht der Persönlichkeit des Arbeitnehmers im Arbeitsverhältnis zum Ausdruck kommt. Er hat die Aufgabe, diejenigen Lebensgüter des Arbeitnehmers fremder Verfügungsmacht zu entziehen, die mit seiner physischen und wirtschaftlichen Existenz untrennbar verbunden sind. Wir be­ greifen heute kaum noch die Zeit, in der infolge einer einseitigen schuldrechtlichen Auffassung diese persönliche Seite des Arbeits­ verhältnisses übersehen werden konnte, so daß es einer sozialen Bewegung von weltgeschichtlichem Ausmaße bedurfte, um jenen natürlichen Tatbestand des Arbeitsverhältnisses zur Geltung zu bringen"). Auch darüber sollte kein Zweifel bestehen, daß es eine unserer höchsten Aufgaben ist, diesen Schutz zu steigern und zu erweitern. Wir lesen, daß im Jahre 1927 rund 1,29 Millionen Unfälle (275000 46) Im einzelnen Kaskel, a. a. O., S. 230ff. 47) Im einzelnen Kaskel, a. a. O., S. 235. 48) Es ist unverständlich, daß Kaskel auch noch in der neuesten Auflage seines „Arbeitsrechts" an der einseitigen schuldrechtlichen Auffassung des Arbeitsvertrags festhält (S. 82 ff., S. 83, S. 87).

Der strafrechtliche Schutz der Arbeitskraft.

375

mehr als 1926) gemeldet worden sind, daß einschließlich der Renten, die noch unter dem Namen ehemaliger deutscher Versicherungs­ träger gezahlt werden, insgesamt 1766890 Invalidenrenten laufen und 279 Millionen RM. als Entschädigungen durch die Berufs­ genossenschaften ausgezahlt worden finb49). Diese Zahlen sprechen deutlich genug für die lebendigen Opfer, die von Jahr zu Jahr von der Masse des Volkes im Dienste der Arbeit dargebracht werden. Gewiß werden das Leben und die Arbeit niemals gänzlich gefahrlos gestaltet werden können. Ein jeder Fortschritt hat nicht nur ein Gewinn-, sondern auch ein Verlustkonto. Aber wenn es eine Aufgabe gibt, die unserer Zeit gestellt ist, so ist es die, alle Mittel anzuwenden, um das menschliche Verlustkonto zu verringern. Nur wenn dies in steigendem Maße in jeder Weise geschieht, können wir die äußere Entwicklung des zivilisatorischen Lebens verantworten, auf die unsere Zeit so stolz ist, aber nur dann wirklich stolz sein kann, wenn ihr eine wachsende Sorge um die Wirkung auf den Menschen ent­ spricht, der sie erschafft. Die Frage ist, ob die Fortbildung des Schutzes der Arbeits­ kraft durch strafrechtliche Mittel erfolgen soll. Auf diese Frage ist in den folgenden Ausführungen eine Antwort zu geben. Wir gehen hierbei davon aus, daß nicht das Strafrecht allein dazu berufen ist, etwaige Lücken, die das geltende Schutzrecht aufweist, zu schließen. Es muß, wenn eine Lücke vorhanden ist, abgewogen werden, ob gerade der strafrechtliche Schutz der gebotene Schutz ist. Denn auf den wirksamsten, nicht unter allen Umständen auf den strafrechtlichen Schutz der Arbeitskraft kommt es an. Der straf­ rechtliche Schutz sollte nur in Betracht gezogen werden, wenn andere Mittel nicht zur Verfügung stehen, um den Schutzzweck zu er­ reichen. Dies entspricht auch der Stellung des Strafrechts überhaupt, das die ultima ratio des Rechts, sein letztes Mittel sein soll50). Wir gehen weiter davon aus, daß die soziale Gestalt des Arbeitnehmers heute eine andere ist als früher. Sie ist aus ihrer Isolierung heraus­ getreten und hat ein kollektives Gepräge empfangen. Damit hat der Arbeitnehmer eine Macht gewonnen, die er früher nicht hatte. Für den nicht organisierten Arbeiter ist der Staat die einzige Hilfe, 49) Soziale Praxis, 1928, S. 475ff. 60) So mit Recht vor allen v. Liszt, Lehrbuch, 6. Aufl. 1894, S. 65: „Die Strafe ist gerecht, wenn und soweit sie für die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung notwendig ist".

376

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auf die er rechnen kann. Der organisierte Arbeiter rechnet nicht nur mit der Hilfe des Staates, sondern vor allem auch mit der Hilfe der Koalition. Die Frage der Schutzbedürftigkeit der Arbeitskraft ist deswegen nicht mehr nur vom Standpunkte des einzelnen, iso­ lierten Arbeiters aus zu prüfen, sondern auch im Hinblick auf das Dasein und Wirken der kollektiven Machtkörper, die für den Arbeit­ nehmer bei der Gestaltung seiner Arbeitsbedingungen eintreten. Diese Erwägung kann dazu führen, in einzelnen Fällen den Schutz der Arbeitskraft weniger in bestimmten Schutzvorschriften als in der Festigung und Stärkung jener Machtkörper zu suchen. Schließlich gehen wir davon aus, daß die strafrechtlichen Möglichkeiten be­ schränkt sind. Das Strafrecht ist an die sozialen Lebensformen gebunden, die es als herrschende vorfindet. Die herrschenden sozialen Lebensformen sind das kapitalistische Wirtschaftssystem und das Lohnverhältnis. Sollen praktische Vorschläge für die Weiter­ führung der Gesetzgebung in nächster Zeit gemacht werden, so können es nur solche Vorschläge sein, die nicht von jenen Lebens­ formen absehen, sondern sie voraussetzen. Dies schließt an sich nicht aus, daß das Strafrecht auch gestaltend eingreift, indem es alte Wertungen beseitigt und neuen Wertungen die Bahn bricht. Doch wird sich zeigen, daß der Raum für eine solche Gestaltung auf unserem Gebiet nur äußerst beschränkt ist, so daß diejenigen enttäuscht sein werden, die übertriebene Erwartungen auf eine Förderung des Schutzes der Arbeitskraft durch das allgemeine Strafrecht hegen.

A. Der Schutz gegen Eingriffe.

1. Das geltende Recht schützt die Arbeitskraft als solche gegen Verletzungen nicht, gewährt aber auch der Arbeitskraft strafrecht­ lichen Schutz, indem es das Leben und den Körper gegen Eingriffe sichert. Die Frage ist zunächst, ob für die künftige Ausgestaltung des allgemeinen Strafrechts ein besonderer Tatbestand für den Schutz der Arbeitskraft durch Verletzung gefordert werden soll. Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob ein Schutzbe­ dürfnis der Arbeitskraft über die gegebenen Tatbestände der Tötung und Körperverletzung hinaus anerkannt werden kann. Dies wird bekanntlich von Anton Menger bejaht51). Menger meint, daß Ge-

61) Das Bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, 3. Ausl., 1904, S. 201. Menger bespricht allerdings nur die zivilrechtliche Rechtslage,

Der strafrechtliche Schutz der Arbeitskraft.

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sundheitsbeschädigung und Verletzung der Arbeitskraft nicht immer zusammenfallen, daß eine Verletzung der Gesundheit ohne eine Verletzung der Arbeitskraft, daß aber auch eine Verletzung der Arbeitskraft ohne eine Verletzung der Gesundheit möglich sei. Richtig ist, daß eine Gesundheitsverletzung ohne eine Ver­ letzung der Arbeitskraft möglich ist. Unrichtig ist es aber, daß eine Verletzung der Arbeitskraft ohne eine Verletzung der Gesundheit möglich ist. „So ist der Zungenkrebs gewiß eine fürchterliche Krank­ heit, aber die Arbeitskraft eines gewöhnlichen Tagelöhners wird dadurch lange Zeit nicht gestört werden. Umgekehrt kann ein Arbeiter durch Übermüdung, Einatmen von Staub und schlechter Luft und ähnlichen Schädlichkeiten seine Arbeitskraft lange Zeit verloren haben, bevor die Symptome einer Krankheit hervor­ treten." Wir können uns nicht denken, daß infolge der von Menger angeführten schädlichen Einwirkungen ein Verlust der Arbeitskraft eintreten kann, ohne daß mit diesem Verlust eine Gesundheits­ beschädigung verbunden ist. Und zwar gilt dies sowohl für die Er­ werbs- als auch für Berufsfähigkeit. Zum mindesten wird der Verlust der Arbeitskraft mit nervösen Störungen verbunden sein, die aber nach dem oben Gesagten (S. 364) bereits nach geltendem Recht unter den Krankheitsbegriff fallen. Ist dies aber richtig, so ist, soweit die Verletzung der Arbeitskraft in Frage steht, die Auf­ stellung eines eigenen Tatbestandes für sie nicht erforderlich62 * *). Man kann es deswegen billigen, daß der Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches neben § 259 einen besonderen Tatbestand für die Verletzung der Arbeitskraft nicht auf stellt63). 2. Dies schließt aber keineswegs aus, daß in den Tatbeständen der Körperverletzung ein besonderer strafrechtlicher Schutz der Arbeitskraft zum Ausdruck kommt. Es handelt sich in dieser Hinsicht hauptsächlich um § 224 StGB. Mit Recht wird gefordert, daß die Verletzung der Arbeitskraft unter die Straferhöhungsumstände der schweren Körperverletzung aber seine Ausführungen gelten ohne weiteres auch für die strafrechtliche Behandlung der Frage. 62) So schon mit treffender und ausführlicher Begründung Nevoigt, a. a. £)., S. 33 ff. ") Wenn im folgenden von dem „Entwurf" die Rede ist, so ist damit die Reichstagsvorlage des Entwurfs vom Jahre 1927 gemeint.

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ausgenommen wird. § 260 des Entwurfs trägt dieser Forderung nicht genügend Rechnung. Wohl enthält er im Hinblick auf einen verschärften Schutz der Arbeitskraft einen Fortschritt, da schwere Körperverletzung auch dann vorhanden sein soll, wenn der Verletzte im Gebrauch seines Körpers, seiner Sinne oder seiner Geisteskräfte für immer oder lange Zeit erheblich beeinträchtigt wird. Damit ist der Schutz der Arbeitskraft in weiterem Maße anerkannt, als dies bisher der Fall gewesen ist. Aber dieser Schutz reicht nicht aus. Nach dem Wortlaut des § 260 des Entwurfs kann die Berufsfähigkeit eines Menschen vernichtet und doch der Gebrauch seines Körpers usw. unbeeinträchtigt sein, weil die Erwerbsfähigkeit bestehen bleibt. Wenn man den Schutz der Arbeitskraft in dem doppelten Sinne auffaßt, wie dies hier geschieht (S. 360), so muß die Beeinträchtigung der Berufsfähigkeit der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit gleichstehen und schwere Körperverletzung vorliegen, einerlei ob der Verletzte nur in seiner Berufsfähigkeit oder auch in seiner Er­ werbsfähigkeit beeinträchtigt ist64 * *).65 * *Wenn * * * daher § 260 seinen Zweck erfüllen soll, so muß dieser umfassende Schutz der Arbeitskraft zum Ausdruck gelangen. Es soll nicht jede Beeinträchtigung getroffen werden. Es kann die Einschränkung bestehen bleiben, die § 260 des Entwurfs ins Auge faßt, indem er eine erhebliche Beein­ trächtigung fordert. Aber die erhebliche Beeinträchtigung der Be­ rufsfähigkeit muß genügen, um die Körperverletzung zu einer schweren zu machen66). Daß hierbei die Arbeitskraft ausdrücklich im Wortlaut des Tatbestandes der schweren Körperverletzung hervorgehoben werden und es nicht damit genug sein sollte, nur im allgemeinen von der körperlichen Beeinträchtigung usw. zu sprechen. 54) Dem trägt namentlich Art. 581 des Italienischen Vorentwurfs zu einem neuen Strafgesetzbuch (Sammlung deutscher Strafgesetzbücher, Nr. 48, Berlin, 1928) Rechnung, indem er bestimmt: Die Körperverletzung des Art. 581 „ist schwer und es tritt Gefängnis von drei bis zu sechs Jahren ein, wenn die Tat zur Folge hat: 1. eine das Leben des Verletzten gefährdende Krankheit oder eine Krankheit von langer Dauer oder die Unfähigkeit, der gewöhnlichen Beschäftigung für lange Zeitdauer nach» zugehen". 65) Der Geltungsbereich des § 260 des Entwurfs wird durch § 21 des Entwurfs insofern eingeengt, als die an die besondere Folge der Tat ge­ knüpfte Strafe den Täter nur trifft, wenn er die Folgen wenigstens fahr­ lässig herbeigeführt hat. Man muß aus prinzipiellen Gründen dieser Ein schränkung durchaus zustimmen.

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entspricht einer fozialpädagogischen Erwägung, auf die mit Recht bereits Nevoigt hingewiesen hat. Das Strafgesetzbuch soll die Arbeitskraft ausdrücklich in seine Werttafeln eingraben, damit die Scheu vor ihrer Verletzung gesteigert wird.

Ob es auch erforderlich ist, die fahrlässige Körperverletzung in derselben Weise zu verschärfen, kann zweifelhaft sein. Der für die fahrlässige Körperverletzung geltende und im § 268 des Entwurfs vor­ gesehene Strafrahmen ist an sich ausreichend, um bei entsprechender richterlicher Würdigung das Interesse an der Erhaltung der Arbeits­ kraft zur Geltung zu bringen. Man sollte aber den geltenden und den im Entwurf vorgesehenen Strafrahmen durch den Wegfall der Geldstrafe für den Fall einschränken, daß infolge der Fahrlässigkeit eine Beeinträchtigung der Arbeitskraft in dem für die schwere Körperverletzung vorgesehenen Sinn eingetreten ist66). Ein solcher Wegfall der Geldstrafe bei schwerer fahrlässiger Körperverletzung entspricht den erwähnten sozialpädagogischen Erwägungen.

3. Wir sahen (S. 366), daß das geltende Recht konkrete Gefähr­ dungsdelikte zum Schutze der Arbeitskraft nicht kennt, daß aber auf Grund der Arbeiterschutzgesetzgebung abstrakte Gefährdungsdelikte bestehen. Die Frage ist, ob für das allgemeine Strafrecht ein kon­ kretes Gefährdungsdelikt geschaffen werden soll, das den heute nur beschränkt bestehenden abstrakten Gefahrenschutz der Arbeiter­ schutzgesetzgebung verstärkt und ergänzt. In Betracht kommt ein allgemeiner Gefahrenschutz für alle Arbeitnehmer und ein besonderer Gefahrenschutz für einzelne Arbeitnehmergruppen.

a) Ansatzpunkte zu einem allgemeinen konkreten Gefahren­ schutz im allgemeinen Strafrecht liegen in den §§ 321, 330 StGB. (S. 366). Der Gedanke, der ihnen zugrundeliegt, ist in den §§ 233 und 241 des Entwurfs weiter ausgebaut. § 233 lautet: „Wer in Fabriken, Bergwerken oder anderen Betrieben oder an Maschinen eine dem Schutze des Lebens oder der Gesundheit von Menschen dienende Vorrichtung beschädigt, zerstört, be­ seitigt oder sonst unbrauchbar macht, außer Tätigkeit setzt oder vorschriftswidrig nicht oder nicht richtig anbringt oder nicht oder nicht richtig gebraucht und dadurch eine Gefahr für 56) Diese Differenzierung sieht auch Art. 592, Ziff. 2 des Italienischen Vorentwurfs vor.

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Menschenleben oder die Gefahr einer schweren Körperver­ letzung (§ 260 Abs. 1) herbeiführt, wird mit Gefängnis bestraft". Die Bestimmung des § 233 enthält dem geltenden Recht gegen­ über einen doppelten Fortschritt. Sie beschränkt sich nicht auf die in § 321 StGB, genannten Veranstaltungen oder Betriebe, ins­ besondere Bergwerksbetriebe, sondern sie bezieht sich allgemein auf alle Fabriken, alle anderen Betriebe und namentlich auch auf alle Maschinen. Sie stellt weiterhin nicht nur ein bestimmtes Tun (Zerstörung oder Beschädigung usw.), sondern auch bestimmte Unterlassungen unter Strafe, die für den Schutz der Arbeitskraft von besonderer Bedeutung sind. Sie bestraft nämlich auch den, der Schutzvorrichtungen vorschriftswidrig nicht oder nicht richtig anbringt oder nicht oder nicht richtig gebraucht. Durch diese Er­ weiterung ist § 233 des Entwurfs als eine wichtige, allgemeine Er­ gänzungsvorschrift für das gesamte Arbeiterschutzrecht anzusehen, weil hiernach mit einem Verstoß gegen Arbeiterschutzvorschriften stets auch die Begehung eines allgemeinen konkreten Gefährdungs­ delikts verbunden sein tönn67).

Indessen dürfen trotz dieser Erweiterung die Schranken des § 233 nicht übersehen werden. Eine Schranke ist zunächst die Be­ stimmung der Gefahr. Nur die Gefahr für Menschenleben oder die Gefahr einer schweren Körperverletzung soll berücksichtigt werden. § 233 des Entwurfs führt damit hinter den § 321 StGB, zurück, der die Gefahr viel weiter nimmt, indem er nicht nur von der Gefahr für das Leben, sondern auch von der Gefahr für die Gesundheit des Menschen ausgeht und damit ohne weiteres einen vollen Ge­ fahrenschutz für die Arbeitskraft in sich schließt. Eine weitere Schranke ist die Beschränkung des § 233 auf vorsätzliches Tun. Die dritte Schranke liegt darin, daß § 233 die strafbare Unterlassung nur daran knüpft, daß die Schutzvorrichtungen „vorschriftswidrig" nicht oder nicht richtig angebracht werden. § 233 setzt daher immer den Verstoß gegen bestimmte Arbeiterschutzverordnungen oder Arbeiterschutz­ verfügungen voraus. Er kann nicht eingreifen, soweit ein Arbeiter67) Abzulehnen sind die Ausführungen Rohmers im Anschluß an den früheren Entwurf eines neuen StGB. (NZfAR., 1921, S. 286 ff., 289): „Daß der nahe verwandte Fall der pflichtwidrigen Nichtintätigkeitsetzung ausscheiden soll, möchte zu billigen sein; der kriminelle Wille des Täters bei einer Handlung ist regelmäßig stärker als bei einer Unterlassung."

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schütz nicht besteht oder soweit er nicht zur Geltung gebracht ist. Er beschränkt sich darauf, ein Bestärkungsnnttel des geltenden Arbeiterschutzrechtes zu sein. Geht man auf diese Schranken ein, so kann es sich zunächst fragen, ob § 233 des Entwurfs auf vorsätzliches Tun beschränkt bleiben soll. Nevoigt verneint diese Frage. Er will auch die fahr­ lässige Begehung, wenn auch in minderem Maße, mit Strafe be­ legen 58). Ich sehe diese Erweiterung als überflüssig an. § 233 kommt hinsichtlich der in ihm vorgesehenen Unterlassungen stets nur zur Anwendung, wenn eine Arbeiterschutzbestimmung (vor­ sätzlich oder fahrlässig) verletzt ist. Insofern ist bei einer fahrlässigen Begehung des § 233 auf dem hier fraglichen Gebiet stets schon eine strafbare Handlung auf Grund des Arbeiterschutzrechts gegeben. Bei fahrlässiger Begehung des § 233 genügt die hiernach mögliche Bestrafung, besonders wenn man für eine Verschärfung der Arbeiter­ schutzstrafen eintritt, wie dies hier geschieht (S. 384)59). 68) S. 45. Nevoigtbefindetsich darin in Übereinstimmung mitMannheim, ArbR. 1925, S. 341. 69) Ein besonderes Bedenken gegen die von Nevoigt vorgeschlagene Erweiterung liegt auch in der Bestrafung des Arbeitnehmers bei fahrlässiger Begehung des § 233. Eine solche Bestrafung wäre nicht zu empfehlen. Man überlasse die Frage, ob für die Verletzung von Arbeiterschutzvorschriften auch Arbeitnehmer bestraft werden sollen, den einzelnen Arbeiterschutz­ vorschriften, wie dies bereits nach geltendem Recht nach § 150 a GewO., § 851 RVO. geschieht und in § 6 Abs. 4 des Entwurfs eines Arbeiterschutz­ gesetzes (37. Sonderheft zum Reichsarbeitsblatt) auch vorgesehen ist, ver­ meide es aber ein allgemeines Arbeiterschutzdelikt auch gegen Arbeitnehmer im allgemeinen Strafrecht aufzustellen. Die Gründe dafür ergeben sich aus einer privaten Auskunft, die ich hierüber von einem höheren Gewerbe­ aufsichtsbeamten erbeten habe. Er schreibt über die Bestrafung des Arbeit­ nehmers im Interesse des Arbeiterschutzes: „Verantwortlich für die Ver­ wendung des Arbeitnehmers ist in der Privatwirtschaft grundsätzlich der Arbeitgeber. Es fragt sich, ob auch der Arbeitnehmer für von ihm ver­ schuldete Beeinträchtigungen seiner eigenen Arbeitskraft oder der seiner Kollegen bestraft werden soll In einer Aussprache, die ich über diesen Punkt... hatte, waren wir uns einig, daß die Bestrafung des Arbeit­ nehmers wohl gelegentlich notwendig werden könne, allerdings immer die Gefahr in sich berge, daß ihre Anwendung zu sozialen Härten führt. Dann z. B. wenn zwar Verschulden des Arbeitnehmers vorliegt, dieses Ver­ schulden aber letzten Endes dem Arbeitgeber zur Last fällt, so ein Fort­ nehmen von Schutzvorrichtungen bei zu niedrigem Akkord, um auf höheren Lohn zu kommen, Hineingreifen in laufende Maschinen aus gleichem Grunde, psychische und physische Ermüdung infolge zu raschen Arbeitstempos oder 35. DIT. 1.

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Anders verhält es sich mit der weiteren Schranke, die § 233 nur eintreten läßt, wenn eine Gefahr für Menschenleben oder die Gefahr einer schweren Körperverletzung herbeigeführt worden ist. Es liegt für diese Einschränkung des Gefahrenschutzes dem § 321 des geltenden Rechts gegenüber kein Grund vor. Der Schutz der Arbeits­ kraft verlangt nicht nur den Schutz vor schwerer Körperverletzung, sondern den Schutz vor jeder Verletzung60 * *).* * * * * * * * *

Die Frage, um die es sich bei der kritischen Prüfung des § 233 hauptsächlich handelt, besteht darin, ob die Strafvorschrift des § 233 darauf beschränkt sein soll, daß ein „vorschriftswidriges" Verhalten, also eine Verletzung von Arbeiterschutzbestimmungen (s. o.) vor­ handen sein muß. Man kann daran denken, die Herbeiführung einer konkreten Gefährdung der Arbeitskraft allgemein ohne Rück­ sicht auf das Bestehen von Arbeiterschutzvorschriften unter Strafe zu steifen61). Der Weg zu einem solchen allgemeinen Gefährdungs­ delikt im allgemeinen Strafrecht wäre leicht zu finden. Man braucht nur die Verletzung des § 618 BGB. allgemein unter Strafe zu stellen. Man kann die Ansicht vertreten, daß durch ein solches all­ gemeines konkretes Gefährdungsdelikt die weiten Lücken, die das geltende Arbeiterschutzrecht aufweist, ausgefüllt werden können. Wenn ich trotzdem für die Ablehnung einer solchen Forderung eintrete, so geschieht dies nicht wegen der Bedenken, die sich aus der Frage nach der Rechtswidrigkeit der Gefährdung ergeben62). Die Rechtswidrigkeit der Gefährdung wäre immer dann gegeben, wenn es sich um eine „abnorme Gefahr" handeln würde, d. h. um zu langer Arbeitszeit. Dies alles sind Momente, die bei den heutigen Richtern nur selten auf wahres Verständnis stoßen werden und die darum m. E. zu dem Schluß führen müssen, lieber von einer Bestrafung des Arbeitnehmers abzusehen, als sie zu fördern. Zum mindesten müssen vorgesehene Strafen nur geringe Höhen haben. Doch könnte man m. E. völlig von solchen Strafen absehen." — Der Gewerbeaufsichtsbeamte fügt zur Kritik des geltenden Rechts noch hinzu: „Verfehlt ist m. E. der § 851 RVO. Da die Berufs­ genossenschaften in den Händen der Arbeitgeber sind, liegt keine Veran­ lassung vor, die Bestrafung von Arbeitnehmern durch die Berufsgenossen­ schaften zu fördern. Außerdem ist die tatsächlich in einigen Berufsgenossen­ schaften eingeführte Strafhöhe bis RM. 1000.— für Arbeitnehmer absurd." 60) So auch Revoigt, S. 44. 61) Dies ist z. B. der Standpunkt von Revoigt, S. 46ff. 62) Vgl. dazu die allgemeinen Ausführungen von M. E. Mayer, a. a. £)., S. 197 ff.

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eine Gefahr, die sich nicht „aus der Natur der Dienstleistung" (8 618 BGB.) ergibt. Die Gründe für die Ablehnung liegen in der Er­ wägung, daß eine solche Vorschrift kaum Aussicht haben würde, zu einem wirksamen Schutz der Arbeitskraft gegen konkrete Ge­ fährdung zu führen. Der Richter müßte von Fall zu Fall entscheiden, ob im einzelnen Fall Schutzmaßnahmen erforderlich und möglich waren, um eine Gefährdung der Arbeitskraft abzuwenden. Ich bezweifle, ob der Richter eine solche Entscheidung treffen kann, wenn man bedenkt, welche außerordentliche Vorarbeiten stets dazu erforderlich sind, um auf dem Gebiete des Arbeiterschutzrechts die zweckmäßigen und wirksamen Anordnungen zu finden, die dem Schutzzweck entsprechen. Dazu kommt, daß die Aufstellung eines allgemeinen konkreten Gefährdungsdelikts zum Schutze der Arbeitskraft leicht dazu führen kann, eine Entwicklung zu hemmen, die m. E. allein dem erstrebten Ziele zuführt. Diese Entwicklung ist die Ausdehnung des Arbeiterschutzes, der heute nur auf einzelne Arbeitnehmergruppen beschränkt ist, auf alle Arbeitnehmergruppen. Nur diese Ausdehnung des Arbeiterschutzes kann die bestimmten Garantien schaffen, die erforderlich sind, um einen wirksamen Gefahrenschutz für die Arbeitskraft zu gewähren. Der Vorteil des abstrakten Ge­ fahrenschutzes liegt in den bestimmten Vorschriften für den Schutz der Arbeitskraft. Mit Recht sagt M. E. Mayer bei einem Vergleich des abstrakten und konkreten Schutzes, daß die Rechtswidrigkeit der konkreten Gefährdung eine Strafvoraussetzung ist, „die den elementaren Regeln der Gesetzgebungskunst nur schlecht genügt", daß aber durch das abstrakte Gefährdungsdelikt „die Relativität und Ungenauigkeit des Maßstabes ausgeschaltet und die Kon­ statierung der Rechtswidrigkeit auf sicheren Boden gestellt" wird63). Vor allem aber ist der Schutz der Arbeitskraft durch abstrakte Ge­ fährdungsdelikte um deswillen viel wirksamer, weil er nicht nur auf Strafen angewiesen ist, sondern auch die durchgreifenden Schutz­ mittel der Arbeitsaufsicht und des Verwaltungszwangverfahrens in sich schließt (S. 368). Die wirksamste Bekämpfung der Unfall­ gefahr wird stets in erster Linie durch die Arbeitsaufsicht erfolgen, besonders dann, wenn die Arbeitsaufsicht, was wir erhoffen, im Gegensatz zur heutigen Zersplitterung (S. 369 Anm. 30), reichsrecht“) a. a.

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lich geregelt und einheitlich aufgebaut wird64).* 66 Diese wertvolle Hilfe der Arbeitsaufsicht fehlt, wenn die konkrete Gefährdung der Arbeits­ kraft in eine allgemeine Strafbestimmung verlegt wird. Der weitere Gefahrenschutz für die Arbeitskraft ist daher, abgesehen von § 233 des Entwurfs und der hier vor­ geschlagenen Änderung desselben, nicht durch ein neues konkretes Gefährdungsdelikt, sondern durch den Aus­ bau des Arbeiterschutzrechts herbeizuführen. Der Weg zu dieser Ausdehnung ist durch den Entwurf eines Arbeitsschutzgesetzes, dessen Beratung im Reichsrat nunmehr abge­ schlossen ist, eröffnet. Der Entwurf strebt einen allgemeinen Arbeit­ nehmerschutz an. Allerdings hält auch dieser Entwurf noch wichtige Grenzen für die Ausdehnung des Arbeiterschutzes ein, indem er insbesondere die Land- und Forstwirtschaft, wie auch die Haus­ wirtschaft dem allgemeinen Arbeitsschutz nicht unterstellen will. Aber damit verneint der Entwurf die Übertragung des Arbeiter­ schutzgedankens auch auf diese Gebiete grundsätzlich nicht. Wenn der Entwurf die in Frage kommende Arbeitnehmergruppen von dem allgemeinen Arbeiterschutz noch ausnehmen will, so leitet ihn hierbei nicht der Gedanke, daß diese Arbeitnehmergruppen über­ haupt dem Arbeiterschutz entzogen sein sollen, sondern lediglich die Erwägung, daß die Regelung zweckmäßig im Zusammenhang mit der sonstigen arbeitsrechtlichen Regelung dieser Berufszweige zu erfolgen hat°°). Verzichtet man hiernach auf eine weitere Fortbildung des Ge­ fahrenschutzes im allgemeinen Strafrecht, so ist aber auch Vorsorge dafür zu treffen, daß die Strafvorschriften des Arbeiterschutzes wirksam sind. Das ist heute nicht der Fall (S. 369). Wir treten deshalb für eine Verschärfung der Strafvorschriften des Arbeiter­ schutzes ein. Diese Verschärfung muß insbesondere im Rückfall über die Grenzen des geltenden Rechts hinaus (S. 369) eintreten und außerdem eine Beseitigung der kurzen Verjährungsfristen, wie sie heute noch zum Teil bestehen (S. 369), in sich schließen, b) Ebensowenig ist die Schaffung eines konkreten Gefährdungs­ delikts für besondere Arbeitnehmergruppen im allgemeinen Straf64) Vgl. dazu die Vorschläge des ADGB. in der „Arbeit" 1928, S. 73 ff. und deren Besprechung von Erdmann, „Der Arbeitgeber", 1928, S. 232ff. 66) Begründung zu den Entwurf eines Arbeitsschutzgesetzes, 37. Sonder­ heft zum Reichsarbeitsblatt, S. 39.

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recht erforderlich. In Betracht kommt ein solches Delikt zum Schutze der Jugendlichen und Frauen. Ein Vorbild dafür ist in dem Entwurf eines Schweizerischen Strafgesetzbuches vom 23. Juli 1928 ent­ halten. § 119 dieses Entwurfs lautet:

„Wer die körperlichen oder die geistigen Kräfte seines un­ mündigen Kindes oder eines ihm untergebenen unmündigen oder weiblichen Angestellten, Arbeiters, Lehrlings, Dienstbotens, Zöglings oder Pfleglings aus Eigennutz, Selbstsucht oder Bosheit so überanstrengt, daß dessen Gesundheit geschädigt oder schwer gefährdet wird, wird mit Gefängnis oder mit Buße bestraft. Hat die Überanstrengung eine bleibende Be­ einträchtigung der Gesundheit zur Folge, und konnte der Täter dies voraussehen, so ist die Strafe Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder Gefängnis nicht unter sechs Monaten. Hat sie den Tod zur Folge, und konnte der Täter dies voraussehen, so ist die Strafe Zuchthaus bis zu zehn Jahren." Bei der Beratung dieser Bestimmung in der zweiten Experten­ kommission wurde zur Begründung dieser Bestimmung angeführt, daß der Schutz der Kinder und Frauen in der Fabrik- und Gewerbe­ gesetzgebung unzureichend sei, weil er meist nicht alle Gewerbe um­ fasse, z. B. nicht die Landwirtschaft und ebensowenig die Heimarbeit Und die Hausarbeit, weil die Gewerbegesetzgebung nicht indivi­ dualisiere, sondern schematisiere und daher viele Tatbestände nicht umfasse, und weil die Strafbestimmungen für vorsätzliche Gefähr­ dung nicht ausreichend"). Es ist kein Zweifel, daß die sozialpolitische Absicht, die sich in der fraglichen Bestimmung kundgibt, eine vor­ treffliche ist. Aber dieselben Gründe, die oben zur Ablehnung eines allgemeinen konkreten Gefährdungsdelikts geführt haben, müssen auch hier dafür sprechen, von dem Vorschläge des Schweizerischen Entwurfs abzusehen. Auch der verstärkte Jugendlichen- und Frauen­ schuh kann nicht in einem allgemeinen Strafgesetzbuch, sondern nur in eingehenden, besonderen Spezialvorschriften des Arbeiterschutzes herbeigeführt werden. Die erwähnte Begründung für den Schweize­ rischen Vorschlag kann diesen Standpunkt nicht erschüttern. Gewiß ist der geltende Jugend- und Frauenschuh unzureichend und sein

”) Vgl. die Ausführungen von Zürcher in dem bei Füßli, Zürich, 1913, erschienenen Protokoll der 2. Expertenkommission, Bd. II, S. 273ff„ des. S. 274.

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Geltungsbereich beschränkt. Aber dies erfordert nicht eine neue Strafbestimmung im allgemeinen Strafrecht, sondern einen allge­ meinen Ausbau des speziellen Jugend- und Frauenschuhes in ver­ schärfter Weise auf allen Arbeitsgebieten. Jedenfalls ist ein solcher Schutz, der genaue Vorschriften über die arbeitsrechtliche Behandlung der Jugendlichen und Frauen aufstellt und ihn überdies durch be­ sondere Maßnahmen der Arbeitsaufsicht und des Verwaltungs­ zwangs sichert, viel wirksamer, als eine allgemeine Strafbestimmung, deren Tatbestände zu unbestimmt sind, um wirksam zu sein. 4. Die Betrachtung des geltenden Rechts ergab, daß §231 StGB, für die meisten Arbeitnehmer, einschließlich der Beamten praktisch ausgeschlossen ist (S. 365). Wenn wir auf die Frage der Berechtigung dieses Ausschlusses eingehen, so sind wir uns bewußt, auf das zivil­ rechtliche Gebiet überzugreifen. Aber dieser Übergriff ist notwendig, weil die Buße dem Strafrecht angehört, ihre Geltendmachung aber von dem Dasein zivilrechtlicher Ansprüche abhängt. Die Gründe, die dazu geführt haben, den versicherten Arbeit­ nehmern Schadensersatzansprüche gegen ihre Arbeitgeber oder deren Vertreter im Falle einer fahrlässigen Verletzung ihrer Arbeitskraft zu versagen, sind bereits wörtlich angeführt (S. 365). Sie recht­ fertigen den Ausschluß damit, daß für den Arbeitnehmer eine feste, wenn auch geringere Entschädigung aus öffentlichen Mitteln wert­ voller sei, als eine unsichere, wenn auch höhere Entschädigung, die sich unmittelbar gegen den Arbeitgeber richtet. Eine Nach­ prüfung dieser Gründe ist dringend erforderlich. An sich schließt der öffentlich-rechtliche Versicherungsanspruch einen privaten Entschädigungsanspruch gegen den Arbeitgeber keineswegs aus. Und es ist ungerecht, daß ein Arbeitgeber bezw. sein Vertreter von jeder unmittelbaren Verantwortung den Verletzten gegenüber frei sein soll, auch wenn sein Verhalten eine strafbare Leichtfertigkeit in sich schließt. Man kann einen Arbeitnehmer, der durch eine solche Leichtfertigkeit seine Arbeitskraft und damit die Grundlage für seine wirtschaftliche Existenz verloren hat, ohne ein ausreichendes Äqui­ valent dafür zu erhalten, nicht damit trösten, daß er wenigstens eine feste Rente beziehe. Gewiß ist es richtig, daß ein Arbeitnehmer, wenn ihm keine Rente zustehen würde, in manchen Fällen im Hin­ blick auf die Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers ohne Entschädi­ gung wäre. Aber die Rechtslage ist doch heute eine andere. Es handelt sich nicht um öffentlich-rechtliche Rente oder private Ent-

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schädigung. Es handelt sich heute um die öffentlich-rechtliche Rente und die private Eiltschädigung. Die private Entschädigung soll, wenn ein fahrlässiges Verhalten vorliegt, die Differenz ausgleichen, die zwischen der Rente und der wirklichen Höhe des erlittenen Schadens besteht. Wenn der Arbeitnehmer in einzelnen Fällen diesen Ausgleich nicht erreichen kann, weil der Arbeitgeber zahlungs­ unfähig ist, so berechtigt diese Zufälligkeit nicht, die privaten Ent­ schädigungsansprüche überhaupt auszuschließen, auch wenn dem verarmten Arbeitnehmer zahlungsfähige Schuldner gegenüber­ stehen. Der Gedanke, daß zahlungsfähige Schuldner deswegen keine Entschädigung zu zahlen haben, weil es auch zahlungsunfähige Schuldner gibt, die eine solche Entschädigung nicht zahlen können, ist unerträglich. Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese höchst mangelhafte Regelung des Gesetzes das Verantwortlichkeitsgefühl der menschlichen Arbeitskraft gegenüber erheblich schwächt und daß es vielleicht der stärkste Schutz der Arbeitskraft ist, wenn der allge­ meine Grundsatz, daß ein jeder Mensch für sein schuldhaftes Ver­ halten anderen Menschen gegenüber einstehen muß, auch in dem Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber unbeschränkt durchgeführt wird. Auch die §§ 903 ff. RVO. bieten für diesen Mangel keinen Ersatz. Wenn die Träger der Unfallversicherung von dem Unternehmer oder dem ihm nach § 899 Gleichgestellten den Ersatz aller ihrer Aufwendungen im Falle eines schuldhaften Verhaltens beanspruchen können, so ist dieser Regreßanspruch für den Verletzten ohne praktischen Wert, denn er bleibt auf seine Rente angewiesen. Dazu kommt, daß nach § 905 im Falle fahrlässigen Ver­ haltens auf den erwähnten Regreßanspruch Verzicht geleistet werden kann. Wir treten deswegen für die Beseitigung aller Vorschriften ein, die den Arbeitnehmern einschließlich der Beamten im Falle schuldhafter Herbeiführung von Unfällen entgegen den allgemeinen Grundsätzen private Entschädigungsansprüche versagen. Ist diese Beseitigung erfolgt, so kann der Arbeitnehmer jederzeit schon im Strafverfahren wegen Körperverletzung Bußansprüche geltend machen. Der Entwurf hat den § 231 StGB, aus allgemeinen Gründen gestrichen^). Vom Standpunkte eines wirksamen Schutzes der Arbeitskraft können wir diese Streichung im Falle des § 231 StGB, nicht billigen. 6’) Begründung zu dem amtlichen Entwurf eines allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs, 1925, S. 5, zweite Halbseite unten.

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B.

Der Schutz gegen Ausbeutung.

1. Im Mittelpunkt des Ausbeutungsschutzes steht die Frage, ob der Lohn Wucher durch eine Ausgestaltung des Wuchertat­ bestandes abweichend von dem geltenden Recht, das ihn nur bei gewerbs- oder gewohnheitsmäßiger Begehung bestraft, in jedem Fall strafrechtlich verfolgt werden soll. Die Frage muß im Zusammen­ hang mit der gesamten sozialen Gesetzgebung behandelt werden. Die Tendenz dieser Gesetzgebung ist in steigendem Maße darauf gerichtet, bei der Lohnvereinbarung das „freie Spiel der Kräfte", in dem der wirtschaftliche Mächtigere sein Interesse schrankenlos zur Geltung bringen kann, einzuschränken und dafür eine im voraus bestimmte Lohnnormierung einzuführen, die den wichtigsten Be­ standteil des Arbeilsvertrags der freien Verfügung seiner Parteien entzieht. Diese Tendenz kommt vor allem in den Tarifverträgen, den freiwilligen Tarifverträgen und Zwangstarifverträgen, ihrer Un­ abdingbarkeit und allgemeinen Verbindlicherklärung zum Ausdruck. Sie spricht sich weiterhin in den Mindestlohnfestsetzungen für die Heimarbeit aus, auf die bereits früher hingewiesen worden ist (S. 372). Schließlich zeigt sie sich in bedeutungsvollster Weise in dem Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 16. Juli 1927. Nach § 90 dieses Gesetzes können Arbeitslose, ohne ihren Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung zu verlieren, Arbeit zurückweisen, wenn für die Arbeit nicht der tarifliche oder, soweit ein solcher nicht besteht, der im Beruf ortsübliche Lohn gezahlt wird. Gewiß ist trotz aller dieser Einrichtungen keineswegs zu jeder Zeit für alle Arbeitnehmergruppen ein Mindestlohn gewährleistet, der eine wucherische Ausbeutung ausschließt. Die gesetzliche Unab­ dingbarkeit des Tarifvertrags kann durch Lohnverzichte, deren grundsätzliche Zulässigkeit das Reichsarbeitsgericht bejaht hat, durchbrochen werden68). Die Mindestentgeltfestsetzungen sind auf die Heimarbeit beschränkt und hängen von Voraussetzungen ab, die nicht immer erfüllt sind. Die Arbeitslosenunterstützung wird nicht jedem Arbeitnehmer zuteil, weil sie an eine bestimmte Anwart68) Ich gehe hier auf die Frage, ob die Stellungnahme des Reichs­ arbeitsgerichts zu billigen ist und ob, wenn sie zu billigen ist, das geltende Recht nicht doch Handhaben enthält, die dem Lohnverzicht entgegentreten können, nicht ein.

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schaftszeit gebunden ist (§ 95) und der Anspruch auf Arbeitslosen­ unterstützung wegfällt, wenn die Unterstützung für insgesamt 26 Wochen gewährt ist (§ 99; dazu ergänzend § 101). Faßt man dies ins Auge, so entsteht auch hier die Frage, ob der weitere Schutz der Arbeitskraft durch eine Fortbildung der sozialen Gesetzgebung oder der allgemeinen Strafgesetzgebung erstrebt werden soll. Daß eine Weitersührung der sozialen Gesetz­ gebung zum Schutze der Arbeitskraft gegen Ausbeutung möglich ist, ist nicht zu bestreiten. Ansatzpunkte dafür bilden das Tarifrecht und die heute nur für die Heimarbeit bestehende Mindestlohngesetzgebung. Das Tarifrecht kommt für alle Arbeitnehmergruppen in Betracht, die sich durch ihre Koalitionen selbst helfen können. Die Gefahr, die heute in der Gestalt des Verzichts auf den Tariflohn infolge der höchstrichterlichen Rechtsprechung für den tariflichen Lohn­ schutz besteht, kann durch einen gesetzgeberischen Eingriff in das Tarifrecht unschwer beseitigt werden, wenn sich nicht schon im geltenden Recht Handhaben finden, um ihm zu begegnen. Man gebe nur den Koalitionen neben dem einzelnen Arbeitnehmer ein selbständiges Recht auf tarifmäßige Erfüllung der einzelnen Arbeitsverträge gegen jeden tarifbeteiligten Arbeitgeber. Ein Verzicht auf den Tariflohn wäre dann unwirksam, weil es die Koalition trotz dieses Verzichts jederzeit in der Hand hätte, ihre selbständige Berechtigung auf den Vollzug des Kollektivwillens geltend zu machen69). Die Mindestlohngesetzgebung müßte für alle Arbeitnehmer­ gruppen gelten, die nicht in der Lage wären, durch ihre Koalition einen tariflichen Lohnschutz herbeizuführen70). Es könnte dies ge") Über die grundsätzliche Frage s. Sinzheimer, Ein Arbeitstarif­ gesetz, 1916, S. 136 s. 70) Es wird dies angestrebt durch den auf der diesjährigen Inter­ nationalen Arbeitskonferenz in Genf beschlossenen Konventionsentwurf, betreffend die „Einrichtung bzw. Aufrechterhaltung von Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen in gewissen Erwerbszweigen". Der Entwurf soll gelten für „Arbeitnehmer in gewissen Gewerbezweigen oder Teilen von solchen, in denen keine Einrichtungen zur wirksamen Regelung der Löhne, sei es durch Gesamtarbeitsverträge oder auf anderem Wege, be­ stehen und in denen die Löhne außergewöhnlich niedrig sind". Anträge für die Einbeziehung der landwirtschaftlichen Arbeiter sind abgelehnt worden. Dies schließt natürlich nicht aus, daß die Einzelstaaten von sich aus einen besonderen Lohnschutz für Landarbeiter erstreben.

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schehen, indem Fachausschüsse und Mindestlohnfestsetzungen nach dem Vorbild des Hausarbeitergesetzes nicht nur für die Heimarbeit, sondern auch für andere Gebiete der Arbeit vorgesehen werden. In Betracht dafür kämen hauptsächlich die Gebiete der Landarbeit und Hausarbeit. Eines weiteren Ausbaues bedürfte es nicht. Insbesondere muß eine kriminelle Bestrafung tarifwidriger Lohnauszahlung71) abge­ lehnt werden. Ein Eingreifen des Strafrichters in die feinnervigen kollektiven Rechtsbeziehungen unserer Zeit könnte nur Schaden stiften. Das kollektive Recht ist autonomes Recht. Es will und soll sich selbst schützen. Und wer würde denn in Zukunft noch Tarifver­ träge schließen, wenn durch den Abschluß von Tarifverträgen zu­ gleich kriminelle Tatbestände gesetzt würden! Der Schutz der Arbeitskraft, der durch eine solche Fortbildung der sozialen Gesetzgebung geschaffen würde, wäre wirksamer als ein neuer allgemeiner strafrechtlicher Schutz gegen Lohnwucher, so populär auch diese Forderung sein mag und so vielfach sie auch bisher erhoben worden ist72). Eine Strafvorschrift gegen den Lohn­ wucher würde nur scheinbar einen Fortschritt enthalten. Man kennt die Schwierigkeiten, die für die Feststellung der tatsächlichen Voraussetzungen des Lohnwuchers bestehen und die bisher noch nie zu einer Bestrafung wegen Lohnwuchers, auch soweit er bisher schon strafbar ist, geführt haben 73). 71) Wie dies z. B. Nevoigt will, S. 1O6ff., S. 111 unter b. 72) Nevoigt, S. 96ff. und die dort angegebene Literatur. 73) Die Gewerkschaften treten deswegen keineswegs für eine Be­ strafung des Lohnwuchers in dem vorgeschlagenen Sinne ein. Nach meinen Informationen geschieht dies u. a. aus folgenden Gründen: „Soweit Tarif­ löhne nicht bestehen, stand der Staatsanwalt vor der unlösbaren Aufgabe, festzustellen, was ortsübliche Löhne sind und der Unterschreitungswucher bedeuten würde. Welche Richtlinien sollen dem Staatsanwalt hierfür ge­ geben werden? Wir kämen in ganz großem Umfange zur staatlichen Fest­ setzung des Begriffs „ortsübliche Löhne" und diese Tatsache würde sich auswirken gegenüber dem Schlichtungswesen sowie gegenüber dem Ab­ schluß von freien Tarifverträgen; denn es kann heute schon mit Sicherheit angenommen werden, daß dann die Schlichtungsinstanzen darauf hingewiesen würden, daß der Staatsanwalt keinen Anlaß zum Eingreifen gesehen hätte, weil die Löhne angemessen seien und daß auch die Schlichtungsinstanzen bei einem Schiedsspruch über die von dem Staatsanwalt als angemessen ange­ sehenen Löhne nicht hinausgehen können. Auch bei freien Tarifverhandlungen wiirden die Arbeitgeber darauf verweisen können, daß ja allgemein

Der strafrechtliche Schutz der Arbeitskraft.

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Deswegen würde die Einführung einer solchen Strafvorschrift an den tatsächlichen Lohnhöhen kaum etwas ändern, ganz im Gegen­ satz zu den Maßnahmen, die durch eine Fortbildung der sozialen Gesetzgebung getroffen werden können. In der gesetzlichen Einführung dieser Maßnahmen liegt daher der Schwer­ punkt der Reform. Die Einführung einer allgemeinen Straf­ vorschrift würde die Schaffung solcher Maßnahmen eher hemmen als fördern. Man würde zur Beruhigung der Gewissen auf die Strafvorschrift verweisen können, um weitere Maßnahmen zu be­ kämpfen. Dazu kommt, daß eine Neugestaltung des Wuchertat­ bestandes in der hier fraglichen Richtung unter Umständen ein zweischneidiges Schwert ist. Die Anschauung, daß das Interesse des Arbeitnehmers einseitig durch den Gesetzgeber wahrzunehmen sei, weil sozial eine Parität nicht bestehe, ist keineswegs die allgemein herrschende. Im Gegenteil würde bei der Schaffung allgemeiner Strafrechtstatbestände die Parität von Arbeitgebern und Arbeit­ nehmern zum Ausdruck gelangen74). Die Folge davon wäre, daß unter den Tatbestand des Lohnwuchers nicht nur der übermäßig niedrige, sondern auch der übermäßig hohe Lohn fallen könnte, die Staatsanwälte ihre bisher gezahlten Löhne als durchaus angemessen ansehen. Die Gründe, die gegen das Hineinziehen des Staatsanwalts in den Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sprechen, könnten noch beliebig vermehrt werden." Nicht zu folgen ist dem Wege, den Radbruch in der „Justiz" 1927, S. 576, zur Umgehung der im Text er­ wähnten Schwierigkeiten vorschlägt. Radbruch will als festen Maßstab für die angemessene Entlohnung die in den Tarifverträgen festgesetzten. Tariflöhne angesehen wissen. „Die Überschreitung der tariflichen Löhne sollte deshalb für strafbar erklärt werden, ohne daß die wucherische Natur dieser Überschreitung im Einzelfall festgestellt zu werden brauchte, zum mindesten soweit der Tarifvertrag, in dem der Lohn vereinbart ist, für all­ gemein verbindlich erklärt worden ist." Soweit damit eine Bestrafung des nicht dem Tarif unterworfenen Arbeitgebers, der nicht Tariflohn zahlt, gefördert sein sollte, ist sie ohne weiteres abzulehnen. Man kann nicht durch das Strafrecht eine Erweiterung des Tarifbereichs erzwingen. Soweit aber nur die Bestrafung des dem Tarifvertrag unterworfenen Arbeitgebers gefordert wird, ist sie aus den Gründen, die bereits angegeben sind, abzu­ lehnen. Es widerspricht auch dem Rechtsgefühl, eine Verurteilung wegen Wuchers eintreten zu lassen, wenn nichts anderes vorliegt als die Ver­ letzung eines Tarifvertrages. Gegen Nadbruch auch Kirchner, Der Schutz der Arbeitskraft nach dem Entwurf des StGB, von 1927, Deutsche Richterzeitung, 1928, S. 53 ff. 74) Vgl. Kirchner, a. a. O., S. 53ff.

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Rechtsanwalt Prof. Dr. Sinzheimer

Es bestünde hiernach die Gefahr, daß eine neue Wucherbestimmung, die dem Schutz der Arbeitskraft dienen soll, praktisch sich gegen die Arbeitnehmerschaft und ihre Vertretungen wenden könnte75). Aus allen diesen Gründen ist der Standpunkt des Entwurfs, der im wesentlichen die Rechtslage des geltenden Rechts beibehält, zu billigen. Für bedenklich im Entwurf halte ich nur die Ersetzung der „Notlage" durch das Wort „Zwangslage" in den §§ 340, 341 des Entwurfs. Gerade dieses Wort „Zwangslage" kann einer miß­ bräuchlichen Anwendung des Wucherbegriffes gegen Arbeitnehmer Vorschub leisten. Der Wucherbegriff setzt seiner geschichtlichen Herkunft nach eine Notlage im materiellen Sinne voraus, nicht aber eine Zwangslage, die auch auf einen Willenszwang hindeutet. 2. Ein Schutz gegen die Ausbeulungsgefahr findet sich im geltenden Recht, abgesehen von speziellen Vorschriften des Lohn- und Fortkommensschutzes (S. 373, 374), nicht vor. Die Ausbeutungs­ gefahr kann dadurch herbeigeführt werden, daß der Arbeitnehmer in eine Lage versetzt wird, die einer Ausbeulung günstig ist. Die beiden Fälle, an die man hierbei in erster Linie denkt, sind die Ver­ femung und die Isolierung des Arbeitnehmers. Die Verfemung soll den Arbeitnehmer von der Arbeitsgelegenheit ausschließen. Die Isolierung soll ihn des Rückhalts durch seine Koalition berauben. In beiden Fällen tritt eine soziale Entwaffnung des Arbeitnehmers ein, die ihn widerstandsunfähig gegen etwa an ihn herantretende ausbeuterische Anforderungen macht. a) Die Verfemung tritt haupsächlich in Abreden unter Arbeit­ gebern auf, die darauf gerichtet sind, einen Arbeitnehmer von den Arbeitsstellen auszuschließen, über die die Arbeitgeber verfügen. Man spricht in solchen Fällen von „schwarzen Listen" usw. Die Wirkung solcher Maßnahmen ist für den Arbeitnehmer außerordent­ lich gefährlich. Er, der auf die Verwertung seiner Arbeitskraft ange­ wiesen ist, findet die Arbeitsgelegenheit nicht mehr, an die die Ver­ wertung seiner Arbeitskraft gebunden ist. Daß in solchen Abreden ein Mißbrauch des Verfügungsrechts über die Arbeitsmittel liegt, kann wohl kaum bestritten werden. Gerade weil dem Arbeitnehmer Arbeitsmittel nicht zur Verfügung stehen und er auf fremde Arbeits7Ö) So mit Recht Potthoff, ArbR., 1928, S. 7sf., S. 11: „Wenn sie (nämlich die neue Wucherbestimmung) nicht ganz klar einseitig nur den Arbeitgeber bedroht, birgt sie die Gefahr in sich, gegen Arbeitnehmer und übertarifliche Löhne mißbraucht zu werden."

Der strafrechtliche Schutz der Arbeitskraft.

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mittel angewiesen ist, dürfen seinem Zugang zu diesen Arbeits­ mitteln keine künstlichen Schwierigkeiten gemacht werden. Gewiß ist die Verfügung über die Arbeitsmittel Ausfluß eines privaten Individualrechts. Aber deswegen hat doch die Ausübung dieses Ver­ fügungsrechts nicht nur individuelle, sondern auch soziale Wirkung, d. h. Wirkung auf Dritte, die für sie von lebenswichtiger Bedeutung ist. Die „soziale Aufgabe des Rechts" ist es daher, solchen anti­ sozialen willkürlichen Verfügungen entgegenzutreten. Die Frage ist nur, ob dies das Strafrecht vermag. Ich verneine die Frage im wesentlichen aus denselben Gründen, die gegen die allgemeine Kriminalisierung des Schutzgedankens schon mehrfach ausgesprochen worden sind. Auch hier würde ein Strafvorschrift nur einen Scheinfortschritt enthalten, weil sie kaum wirksam werden könnte. Es würde in den seltensten Fällen gelingen, den Bestand von Abreden der fraglichen Art einwandsfrei tatbestandsmäßig festzustellen, so daß eine Verurteilung erfolgen könnte. Die wirksame Bekämpfung solcher Verfügungen ist denn auch hier auf anderem Wege zu suchen. M. E. liegt er auf dem Gebiet der Arbeitsvermitt­ lung und Arbeitslosenversicherung. Es sollte den Arbeitsämtern das Recht beigelegt werden, Arbeitnehmer, von denen anzunehmen ist, daß sie einer Verfemung unterliegen, in Betrieben ihres Be­ rufs unter Beschäftigungszwang und einem den Schwerbeschädigten analogen Beschäftigungsschutz einzuweisen. Der Einweisung müßte ein Verfahren vor dem Verwaltungsausschuß des Arbeits­ amtes, dem insbesondere auch das Recht, Auskünfte einzuziehen, zuzuschreiben wäre, vorausgehen, in dem die nötigen Feststellungen getroffen werden könnten. b) Die Isolierung ist bekanntlich nach Art. 159 Satz 2 RV. rechtlich gehemmt. M. E. liegt kein Anlaß vor, über den zivilrecht­ lichen Schutz der Koalitionshinderung hinauszugehen. Gewiß wird der zivilrechtliche Schutz in manchen Fällen nicht zum Ziele führen. In jedem Falle steht aber hinter den einzelnen, die etwa von ihrer Koalition abgedrängt werden sollten, die Koalitions­ macht, die das Koalitionsinteresse, wenn nicht mit rechtlichen Mitteln, so doch mit den Mitteln der sozialen Exekution zur Geltung bringen kann. Diese Koalitionsmacht ist wirksamer als jedes strafrechtliche Einschreiten. Dazu kommt, daß besonders auch auf dem Gebiete der Koalitionshinderung die Aufstellung besonderer Strafvorschriften mit Gefahren für die Arbeiterschaft selbst verbunden sein kann.

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Prof. Dr. Sinzheimer, Der strafrechtliche Schutz her Arbeitskraft.

Der Organisationszwang findet sich nicht nur im Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Er findet sich auch in dem Verhältnis der Arbeitnehmer untereinander, indem koalierte Arbeitnehmer versuchen, durch Arbeitseinstellung den Beitritt nicht organisierter Arbeitnehmer in ihre Koalition zu erzwingen. Man würde es nicht hindern können, daß einer Strafvorschrift gegen den Organisationszwang nicht nur koalitionsfeindliche Arbeitgeber, sondern auch koalierte Arbeitnehmer unterfallen würden. Ein Schutz der Arbeitskraft, der aber schließlich dahin auslaufen würde, neue Strafvorschriften gegen koalierte Arbeitnehmer wirksam zu machen, würde kaum den Motiven entsprechen, die die Forderung nach einem verstärkten Schutz der Arbeitskraft hervorgerufen haben76). IV.

Ergebnis.

Ich fasse das Ergebnis der vorstehenden Ausführungen in den folgenden Sätzen zusammen: 1. Die Fortbildung des Schutzes der Arbeitskraft hat in erster Linie durch eine Fortbildung des Arbeitsrechts überhaupt, ins­ besondere durch eine Fortbildung des Arbeiterschutzes zu erfolgen. 2. Gegenüber dem Entwurf eines Strafgesetzbuches ist mit Rück­ sicht auf den Schutz der Arbeitskraft lediglich das folgende zu fordern: a) In den Bestimmungen des Entwurfs über die schwere Körperverletzung (§ 260) und fahrlässige Körperverletzung (§ 268) ist die Verletzung der Arbeitskraft ausdrücklich strafschärfend zu be­ rücksichtigen, b) der in § 233 des Entwurfs vorgesehene Gefahrenschutz ist auf die Gefahr einer jeden Körperverletzung auszudehnen, c) in den §§ 340, 341 ist gegenüber dem Tatbestandsmerkmal „der Zwangslage" im Anschluß an das geltende Recht an dem Merk­ mal der „Notlage" festzuhalten. 3. Die strafrechtliche Verfolgung von Bußansprüchen (§ 231 StGB.) ist auch wegen fahrlässiger Körperverletzung sicherzustellen durch die gesetzliche Aufhebung aller Sondervorschriften, die im Falle eines fahrlässigen Verhaltens des Arbeitgebers oder seines Vertreters Entschädigungsansprüche der Arbeitnehmer (private Arbeitnehmer und Beamte) ausschließen.

76) Mit Recht hat sich deswegen Tarnow, der Führer des Holz­ arbeiterverbandes, gegen eine Bestrafung des Organisationszwangs ge­ wandt (Gewerkschaftszeitung 1927, S. 660, 661 am Schluß).

XII. Gutachten des Herrn Profeffor Dr. Heinrich Lehmann-Köln über die Frage:

Empfiehlt sich eine grundsätzliche Änderung in der Behandlung von Ehestreitsachen nach Zuständigkeit und Verfahren?

Es erscheint ratsam, zum besseren Verständnis der kritischen Dar­ legungen, einen Überblick über den gegenwärtigen Rechtszustand vorauszuschickenJ).

Deshalb soll unter A zuerst der Begriff der

*) Vgl. zu den im Gutachten erörterten Fragen namentlich: SteinJonas, Komm. z. ZPO. 12. u. 13. Ausl., Bd. II vor § 606ff. S. 235ff., Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts 1927, S. 502ff., Hellwig, System des Teutschen Zivilprozeßrechts, Bd. II, S. 5ff., Richard Schmidt, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 2. Allst., S. 377ff., Heinrich Lehmann, Reform des Eheverfahrens in Zeitschr. für Deutschen Zivilprozeß, Bd. 52, S. 381 ff., Neumiller, Praktische Bemerkungen zum Verfahren in Ehesachen, SeuffBlfRA. 73, 20ff., 74ff. 129ff., Eichhorn, Die Rechtsbehelse in Ehesachen, SeuffBlfRA. 71, 302ff., Traumann, Das Ehescheidungsrecht der Zukunft 1920, Neustadt, Das Eherecht, Berlin 1910, Marie Munk, Vorschläge zur Umgestaltung des Rechts der Ehescheidung und der elterlichen Gewalt, Denkschr. des Bundes deutscher Frauenvereine 1923; dieselbe, Die Reformbedürftigkeit des Ehe­ scheidungsprozesses: Deutsch. JurZ. 1926, 1682ff., dieselbe, Frauenwünsche zur Ehescheidungsreform, Deutsche Richter-Ztg. 1928, 15ff., R. May, Pr. Jahrb. 173, 319ff., IW. 1922, 5ff., Buzengeiger, Prozeßrechtliche Gedanken zur geplanten Ehescheidungsreform, IW. 1922, S. 431 ff.; Joh. Fuchs, Zur Reform des materiellen und formellen Ehescheiduligsrechts, Deutsche Richter-Ztg. 1927, 453ff., Geutebrück, Glossen zur Änderung des Ehescheidungsrechts, Deutsche Richter-Ztg. 1928, 57ff., Klink, Die Reformbestrebungen im Ehescheidungsrecht, 1928, S. 108ff. Wieruszowski, Schriften der österr. Liga für Menschenrechte, Bd. II, Ehe­ rechtsreform, 1928, S. 66 ff.

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Professor Dr. Heinrich Lehmann

Ehesachen abgegrenzt und die Regelung des Eheverfahrens durch die geltende Zivilprozeßordnung kurz dargestellt werden. Auf dieser Grundlage erfolgt dann unter B die kritische Würdigung. Das Gutachten sieht nach Möglichkeit davon ab, auf die um­ strittene Reform des materiellen Ehescheidungsrechts einzugehen, um eine Gefährdung der an sich berechtigten prozessualer: Reform­ wünsche zu vermeiden. Es stellt sich grundsätzlich auf den Boden des heute geltenden materiellen deutschen Ehescheidungsrechtes. A. überblick über den geltenden Rechtszustand. I. Begriff der Ehestreitsachen und Grundeinstellung des deutschen Gesetzgebers bei ihrer Sonderregelung. Unter dem Begriff „Ehesachen" faßt die ZPO. in §§ 606ff. zwecks besonderer Regelung ziemlich ungleichartige Rechtsstreitig­ keiten zwischen Ehegatten zusammen, nämlich solche, die zum Gegenstand haben entweder die Scheidung, Nichtigkeit oder An­ fechtung einer Ehe oder die Feststellung des Bestehens oder Nicht­ bestehens einer Ehe zwischen den Parteien oder die Herstellung des ehelichen Lebens. Danach gehören nicht alle Streitigkeiten zwischen Ehegatten zu den „Ehesachen", vor allem nicht die vermögensrechtlichen Streitigkeiten, ebensowenig die nichtvermögensrechtlichen Prozesse über die persönliche Rechtsstellung der Gatten, wie z. B. über das Namensrecht, aber auch nicht die häuslichen Streitigkeiten, zu deren Schlichtung der Vormundschaftsrichter berufen ist, wie z. B. die Streitigkeiten über die Schlüsselgewalt. Die alte ZPO. hatte nur die Rechtsstreitigkeiten betr.Trennung, Ungültigkeit oder Nichtigkeit der Ehe oder die Herstellung des ehe­ lichen Lebens als Ehesachen anerkannt. Die Novelle vom 17. Mai 1898 hat den Wortlaut des § 606 mit den Vorschriften des BGB. über die Nichtigkeit (§§ 1323ff.), Anfechtung (§§ 1330ff) und Scheidung der Ehe (1564ff.) in Einklang gebracht und entsprechend dem allgemeinen Standpunkt der ZPO., daß das Rechtsverhältnis der Ehe der Verfügung der Parteien entzogen sein muß, auch die Rechtsstreitigkeiten betr. die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens einer Ehe den Vorschriften über das Verfahren in Ehesachen unterstellt (Begründung 126).

Behandlung von Ehestreitsachen nach Zuständigkeit und Verfahren.

397

Alle Besonderheiten der gesetzlichen Regelung des Verfahrens über die vorgenannten Streitigkeiten, kurz gesagt des Eheprozeffes, lassen sich rechtfertigen aus der sozialen Bedeutung der Ehe, als der Grundlage der Familie und des Staates. An ihrem Bestand und ihrer Ordnung sind nicht bloß die unmittelbar beteiligten Gatten, sondern weitere Personenkreise, der Familienverband und die staatliche Gemeinschaft selbst interessiert. Ob die Ehe rechtsbeständig ist, Bestand behält oder nicht, darf deshalb nicht, wie bei anderen privatrechtlichen Beziehungen, dem Belieben der Beteiligten anheim gestellt werden.

Deshalb ist das Bestreben des Gesetzes dahin gerichtet, an allen Punkten, wo sonst den Parteiinteressen Einfluß auf das Verfahren eingeräumt ist, diesen Parteieinfluß zurückzudrängen und durch eine objektive Normierung die Garantien für das Finden einer der wahren Rechtslage entsprechenden Entscheidung zu verstärken. Dies einmal durch Aufstellung zwingender Normen, wie z. B. hinsichtlich der Zuständigkeit oder des Inhalts der Klage (Verbot der Klagenverbindung); sodann durch weitgehenden Ausschluß der das ordentliche Verfahren beherrschenden Verhandlungsmaxime in wichtigen Folgesätzen und ihren Ersatz durch die Untersuchungs­ maxime. II. Die

Zuständigkeitsregelung

des

geltenden

Rechts.

Das öffentliche Interesse am Bestand der Ehe hat zunächst dazu geführt, die ausschließliche sachliche Zuständigkeit der Landgerichte in Ehesachen vorzuschrieben (606), weil dadurch im Zweifel mehr Garantien für eine gute Rechtssprechung gegeben sind und die Revision in jedem Fall ermöglicht wird. Die örtliche Zuständigkeitsregelung des Gesetzes ist im einzelnen sehr verwickelt und unübersichtlich. § 606 Abs. I. ZPO. erklärt das Landgericht des Allgemeinen Gerichtsstandes des Ehemannes für ausschließlich zuständig. § 606 Abs. II u. III ZPO. erweitern sodann die Zuständigkeit des deutschen Gerichts und sehen für die Fälle, wo der deutsche oder deutsch gewesene Ehemann keinen allgemeinen Gerichtsstand im Inland hat, Hilfsweise einen fakulta­ tiven Gerichtsstand bei einem deutschen Gericht vor; desgleichen, wenn die Ehefrau deutsch ist oder deutsch gewesen ist. § 606 Abs. IV macht endlich davon eine Ausnahme für Ehescheidungsklagen aus35. DJT. i. 26

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Professor Dr. Heinrich Lehmann

ländischer Eheleute, wenn der Heimatstaat des Ehemannes das Urteil des deutschen Gerichts nicht anerkennt, weil er selbst die aus­ schließliche Ehescheidungsgewalt für seine Angehörigen beansprucht. Endlich ist zu beachten, daß § 606 durch die Haager Abkommen für die Angehörigen der Vertragsstaaten mannigfach modifiziert wird. Diese umständliche Regelung wird nur verständlich, wenn man erwägt, daß die Zuständigkeit eines deutschen Gerichts zugleich die deutsche Gerichtsbarkeit begründet und damit auch die Anwend­ barkeit des materiellen deutschen Rechts sicher stellt, soweit sie nach deutschem Zwischenprivatrecht begründet ist. Die Vorschriften oes § 606 erklären sich weiter daraus, daß die ZPO. von dem Terri­ torialitätsprinzip beherrscht wird, während für das materielle Recht nach dem EGBGB. 13ff. das Nationalitätsprinzip gilt. Die ZPO. hat infolgedessen, ohne den Territorialitätsgrundsatz preizugeben, in eine territorial gedachte Regel national gedachte Ausnahmen eingefügt (so gut Stein-Jonas, § 606 Abm. I, 1).

III. Besonderheiten des Eheverfahrens. 1. Sühneversuch. Der Scheidungs- und Herstellungsklage muß nach § 608 ZPO. ein Sühneversuch vorausgehen. Das rechtfertigt sich aus der Erwägung, daß die höchstpersönlichen Beziehungen der Ehe­ gatten durch einen Machteingriff des Staates in der Regel nur un­ günstig beeinflußt werden können, und daß der förmliche Rechtskampf im Interesse der Aufrechterhaltung der Ehe lediglich als ultima ratio zur Verfügung gestellt werden darf. Von dem Erfordernis des Sühneversuchs wird nur abgesehen, wenn der Aufenthalt der zu beklagenden Partei unbekannt oder im Ausland ist oder wenn dem Sühneversuch ein anderes schwer zu beseitigendes, vom Kläger nicht verschuldetes Hindernis entgegen­ steht, oder wenn die Erfolglosigkeit des Sühneversuchs mit Be­ stimmtheit vorauszusehen ist (§ 611 ZPO.). Der Sühneversuch hat das eheliche Verhältnis in seiner Ge­ samtheit zum Gegenstand, bedarf daher keiner Wiederholung, wenn neue Klagegründe vorgebracht oder eine Widerklage erhoben werden soll. Zuständig für die Vornahme des Sühneversuches ist das Amts­ gericht, vor dem der Ehemann zur Zeit des Antrages seinen all-

Behandlung von Ehestreitsachen nach Zuständigkeit und Verfahren.

399

gemeinen Gerichtsstand hat (§ 609 Abs. I ZPO.). Die Parteien müssen in dem Sühnetermin persönlich erscheinen. Stellvertretung durch Bevollmächtigte ist schlechthin ausgeschlossen; Beistände, also auch der Anwalt und Seelsorger, können zurückgewiesen werden (§ 610 Abs. I. Halbs. 2. ZPO.).

Der Sühneversuch ist aber keine Prozeßvoraussetzung in dem Sinne, daß die Klage wegen seines Mangels zurückgewiesen werden dürfte. Wenn ein Termin zur mündlichen Verhandlung über die Klage unter Mißachtung des § 608 angesetzt worden ist, muß der Sühneversuch vom Prozeßgericht nachgeholt werden (§ 296 ZPO., RG. 18, 364).

2. Prozeßfähigkeit und Vertretung.

Mit Rücksicht auf den höchstpersönlichen Charakter der Ehe ge­ steht § 612 ZPO. in Ehesachen auch dem beschränkt geschäftsfähigen Ehegatten die Prozeßfähigkeit zu — mit Ausnahme des Falles der Anfechtung der Ehe gemäß § 1331 BGB. (wegen Mangels der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters). Aus gleichem Grunde verlangt § 613 ZPO. den Nachweis einer Sondervollmacht für den Bevollmächtigten des klagenden Ehegatten. Das Gericht hat den Mangel der Vollmacht von Amts wegen zu berücksichtigen.

3.

Beschränkte Zulässigkeit der Klagenverbindung und Widerklage.

Der Eheprozeß ist nur für Ehesachen bestimmt. Deshalb sind die Bestimmungen des § 33 ZPO. über die Zulässigkeit einer Wider­ klage und des § 260 ZPO. über die einer Klagenverbindung durch­ brochen. Die Verbindung von Ehesachen mit anderen Rechts­ streitigkeiten zwischen Ehegatten ist schlechthin verboten — selbst wenn diese Rechtsstreitigkeiten aus dem Eheverhältnis ent­ sprungen sind, wie z. B. die Unterhaltsansprüche, oder sich aus der angestrebten Rechtsänderung ergeben, wie die Ansprüche wegen der Kinder, auf Herausgabe des Vermögens oder auf Unterhalt. Ja sogar die Ehesachen selbst dürfen nicht schlechthin mitein­ ander verbunden werden. Das Gesetz hat hier zwei Klagegruppen gebildet.

400

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Die Herstellungs-, Scheidungs- und Anfechtungsklage stehen auf der einen Seite; zwischen ihnen ist eine Verbindung von Anfang an oder durch nachträgliche Häufung zulässig, obwohl diese Klagen in ihren Zielen unvereinbar find (§ 615 ZPO.). Die Nichtigkeits- und Ehefeststellungsklage stehen auf der anderen Seite. Sie leiden eine Verbindung nur untereinander, nicht aber mit den vorgenannten anderen Eheklagen (§ 633 u. 638 ZPO.).

4. Weitgehende Zulässigkeit der Klageänderung. Not­ wendigkeit der Klagenhäufung sowie einheitlicher Verhandlung und Entscheidung des ganzen Streitstoffs bei Scheidungs- und Anfechtungsklagen. Um einer Vervielfältigung der Eheprozesse entgegen­ zuwirken, sollen aber auch alle Fragen, die für den Bestand der Ehe oder für die Erhaltung des ehelichen Lebens von gleicher oder verwandter Bedeutung sind, in einem Prozeß erledigt werden. Deshalb gestattet die ZPO. die Klageänderung und Klagen­ häufung unter Verzicht auf die Beschränkungen der §§ 264 u. 527 ZPO. in weitestem Umfange (§ 614 ZPO.). Ja sie zwingt die Parteien sogar im Falle der Scheidungs- und Anfechtungs­ klage durch die Präklusionsvorschrift des § 616 ZPO., alle Scheidungs­ und Anfechtungsgründe vorzubringen, die in dem anhängigen Prozeß zum Angriff auf die Ehe vorgebracht werden konnten, sei es durch Klage oder vom Beklagten zu erhebende Widerklage. Im Falle der Abweisung der Scheidungs- oder Anfechtungsklage sind beide Parteien für eine neue Klage mit allen Scheidungs- und An­ fechtungsgründen ausgeschlossen, die sie im Vorprozeß gekannt haben und mit Aussicht auf Erfolg (Beweisbarkeit) geltend machen konnten. Aus den §§ 614 bis 616 ergibt sich, daß jeder Rechtsstreit den gesamten, gleichzeitig vorhandenen, auf den Bestand der Ehe be­ züglichen Streitstoff umfassen soll. Daraus hat man den Grundsatz abgeleitet, daß auch nur einheitlich über den gesamten Streitstoff verhandelt und entschieden werden darf. Ein Teilurteil ist dementsprechend vom Reichsgericht mehrfach als unzulässig bezeichnet worden, weil, wenn die Ehe dadurch rechtskräftig aufgelöst worden ist, der Klage des anderen Teils nicht mehr stattgegeben, ja nicht einmal die Mitschuld des Siegers festgestellt werden könnte (RG. 58, 307; 107, 350; 104, 294).

Behandlung von Ehestreitsachen nach Zuständigkeit und Verfahren.

401

Aus demselben Grunde ist es unzulässig, die Klage des einen Teils durch Versäumnisurteil abzuweisen und über die Klage des anderen Teils durch kontradiktorisches Urteil zu entscheiden, weil das zu einer Spaltung des Verfahrens führen müßte. Deshalb hat das Reichsgericht bei Verstoß dagegen sowohl den Einspruch gegen das Versäumnisurteil wie die Berufung gegen das kontradiktorische Urteil für zulässig erklärt, mit dem Erfolg, daß auf beide Rechtsbehelfe hin über Klage und Widerklage einheitlich entschieden werden muß, auf den Einspruch hin erneut über den Gegenstand des kontradiktorischen Urteils (RG. 110, 135), auf die Berufung hin auch über das Versäumnisurteil (IW. 1913, S. 607, Nr. 22). 5. Mitwirkung der Staatsanwaltschaft.

Mit Rücksicht auf das öffentliche Interesse am Bestände der Ehe ist die Staatsanwaltschaft in allen Ehesachen zur Mitwirkung be­ fugt, nirgends freilich, auch bei der Nichtigkeitsklage nicht, ver­ pflichtet (607 ZPO.). Der Staatsanwalt kann der Verhandlung vor dem erkennenden Gericht, sowie vor einem beauftragten oder ersuchten Richter bei­ wohnen, sich über die zu erlassende Entscheidung gutachtlich äußern und neue Tatsachen und Beweismittel zur Aufrechterhaltung der Ehe vorbringen (§ 607 Abs. II u. III ZPO.). Dadurch erlangt er aber nicht die Stellung einer Partei, kann also den Rechtsstreit im übrigen nicht betreiben. Seit dem EntlG. vom 8. Juli 1922 braucht er nicht mehr von allen Terminen benachrichtigt zu werden, sondern nur von dem ersten zur mündlichen Verhandlung bestimmten Termin; weitere Benachrichtigungen an ihn erfolgen nur auf Antrag (607 Abs. II, 2 ZPO.). Bei der Nichtigkeitsklage kann der Staatsanwalt darüber hinaus auch als Partei auftreten, also die Klage gegen beide Ehe­ gatten erheben oder sie doch, wenn sie von einem Ehegatten er­ hoben worden ist, als Streitgenosse bzw. streitgenössischer Neben­ intervenient betreiben, namentlich selbständig Anträge stellen und Rechtsmittel einlegen (§§ 632, 634 ZPO.). Bei der Ehefeststellungsklage findet seine Mitwirkung nur gemäß § 607 ZPO. statt.

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6. Teilweiser

Ersatz der Verhandlungsmaxime die Untersuchungsmaxime.

durch

Bei den Ehesachen fehlt häufig der Gegensatz der Partei­ interessen, der den Gesetzgeber dazu geführt hat, im Zivilprozeß die Beschaffung der Urteilsgrundlagen den Parteien zu überlassen.

Auf der anderen Seite ist das öffentliche Interesse an einer Entscheidung, die der wahren Sachlage gerecht wird, hier besonders groß. Deshalb wird der Einfluß der Parteien auf die Feststellungs­ bedürftigkeit und Feststellung der Tatsachen zurückgedrängt und durch eine amtliche Prüfung ersetzt; an Stelle der Stoffherrschaft der Parteien treten Untersuchungspflicht und -recht der Behörden, einmal der Staatsanwaltschaft, sodann, was hier noch zu behandeln ist, des Gerichts. Dagegen beläßt das Gesetz es grundsätzlich auch hier beim Partei­ betrieb, mit Ausnahme der von Amts wegen zu bewirkenden Zu­ stellung der Urteile, die auf Scheidung oder Nichtigkeit der Ehe lauten, also ihren Bestand verneinen (§ 625 ZPO.).

Die Einschränkung des Verhandlungsgrundsatzes ist aber nicht überall gleich stark. Bei der Nichtigkeits- und Ehefeststellungsklage findet der Ausschluß hinsichtlich aller Tatsachen, sowohl der ehe­ feindlichen wie der ehefreundlichen, statt (§§ 617 Abs. HI, 622 Abs. II ZPO.), bei den übrigen Klagen nur hinsichtlich der ehe­ feindlichen Tatsachen (§§ 617 Abs. I u. II, 622 Abs. I ZPO.).

a) Im einzelnen wird eine Reihe von Vorschriften, die eine Parteidisposition über den Prozeß und damit mittelbar über den Gegenstand des Rechtsstreites gestatten, für unanwendbar er­ klärt; nämlich die Vorschriften über die Wirkung eines Anerkennt­ nisses, oder eines gerichtlichen Geständnisses, die Folgen der unter­ bliebenen oder verweigerten Erklärung über Tatsachen oder die Unechtheit von Urkunden, über die Eideszuschiebung, über den Erlaß eines Parteieides, über den Verzicht auf die Beeidung von Zeugen und Sachverständigen, und über den Antrag, dem Gegner die Vor­ legung einer Urkunde aufzugeben.

b) Außerdem wird dem Gericht die positive Befugnis gegeben, auch von den Parteien nicht vorgebrachte Tatsachen zu berücksichtigen, und die Aufnahme von Beweisen von Amts wegen

Behandlung von Ehestreitsachen nach Zuständigkeit und Verfahren.

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anzuordnen — freilich nach vorheriger Anhörung der Parteien (§ 622 Abs. I ZPO.).

c) Auch das Recht des Gerichts, das persönliche Erscheinen der Parteien anzuordnen und durch Vorführung oder Geldstrafe zu erzwingen, dient dem Interesse an objektiver Aufklärung (§ 619 ZPO.). d) Den gleichen Zweck verfolgt § 623 ZPO., wonach auf Schei­ dung wegen Geisteskrankheit erst erkannt werden darf, nachdem das Gericht mindestens einen Sachverständigen über den Geistes­ zustand des Beklagten gehört hat.

7. Besonderheiten des Versäumnisverfahrens. — Aus­ schluß des Versäumnisurteils gegen den säumigen Beklagten.

a) Ein Versäumnisverfahren und ein Versäumnisurteil gegen den säumigen Beklagten (Widerbeklagten) sind ausgeschlossen (§ 618 Abs. V u. VI ZPO.). Das ist nur eine Folgerung aus der Einschränkung der Verhandlungsmaxime, der Verfügung über den Prozeß. Daraus ergibt sich die Unanwendbarkeit der Vorschriften über das Anerkenntnis und Geständnis und folglich des § 331 Abs. I ZPO., wonach bei Säumnis des Beklagten das tatsächliche münd­ liche Vorbringen des Klägers als zu gestand en anzunehmen ist. Beim Ausbleiben des Beklagten im ersten Termin darf über­ haupt nicht verhandelt werden, sondern erst in einem neuen auf Antrag des Klägers zu bestimmenden Termin (§ 618 Abs. II ZPO.).

Der Beklagte ist zu jedem, nicht in seiner Gegenwart anberaumten Termin neu zu laden (§ 618 Abs. III ZPO.). Von § 618 Abs. II u. III ZPO. ist nur dann eine Ausnahme gemacht, wenn der nicht­ erschienene Beklagte durch öffentliche Zustellung geladen war (§ 618 Abs. IV ZPO.).

b) Bei Ausbleiben des Klägers ergeht auf Antrag Versäumnis­ urteil. Doch dürfen nur die Scheidungs-, Anfechtungs- und Her­ stellungsklage nach allgemeinem Recht als unbegründet abgewiesen werden (§ 330 ZPO.).

Bei der Nichtigkeits- und Ehefeststellungsklage ist der Inhalt des Versäumnisurteils auf eine Prozeßabweisung beschränkt, die Klage ist für zurückgenommen zu erklären (§§ 635—638 ZPO.).

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8. Aussetzung und Unterbrechung des Verfahrens.

a) Abgesehen von den allgemeinen Gründen der Aussetzung kann das Gericht im Interesse der Aufrechterhaltung der Ehe bei der Herstellungsklage das Verfahren nach freiem Ermessen aussetzen, wenn eine Aussöhnung der Parteien nicht unwahrscheinlich ist (§ 621 I ZPO.). Bei der Scheidungsklage muß die Aussetzung stets erfolgen, wenn der Kläger (Widerkläger) sie beantragt; von Amts­ wegen muß sie erfolgen, wenn auf Scheidung auf Grund des § 1568 BGB. geklagt ist und die Aussicht auf Aussöhnung der Parteien nicht ausgeschlossen erscheint (§ 620 ZPO.). b) Durch Tod wird der Rechtsstreit niemals unterbrochen, sondern in Ansehung der Hauptsache stets erledigt (§ 628 ZPO.). 9. Besonderheiten des Urteils.

a) Wegen der Rechtsfolgen, die an eine verschuldete Scheidung geknüpft sind, schreibt § 1574 BGB. den ausdrücklichen Ausspruch der Schuldigerklärung des schuldigen Teils, oder beider im Urteil vor (RG. 99, 80). Mit Rücksicht auf das Eheverbot des § 1312 BGB. muß ferner bei einer Scheidung wegen Ehebruchs der andere Ehe­ brecher, wenn er ermittelt worden ist, im Urteil benannt werden (§ 624 ZPO.). b) Alle Urteile, die den Bestand der Ehe verneinen, d. h. die Scheidung oder Nichtigkeit aussprechen, sind von Amts wegen zuzu­ stellen, um den Bestand der Ehe nicht nach dem Parteibelieben in der Schwebe zu belassen (§ 625 ZPO.). c) Die auf eine Nichtigkeits-, Anfechtungs-, Feststellungsklage ergehenden Urteile wirken, wenn sie bei Lebzeiten beider Ehegatten rechtskräftig werden, für und gegen alle. Das die Nichtigkeitsklage wegen Bigamie abweisende Urteil wirkt gegen den früheren Ehe­ gatten aber nur, wenn er als Nebenintervenient am Rechtsstreit teilgenommen hat (§ 629 ZPO.).

10. Besonderheiten hinsichtlich der Rechtsmittel des Rechtsmittelverfahrens.

und

a) Im Interesse der Aufrechterhaltung der Ehe kann auch die siegreiche Partei Berufung oder Revision einlegen, um die Nichtig­ keits-, Anfechtungs- oder Scheidungsklage zurückzunehmen oder darauf zu verzichten oder um von der Scheidungsklage zur Klage

Behandlung von Ehestreitsachen nach Zuständigkeit und Verfahren.

405

auf Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft überzugehen (RG. 100, 209). Davon abgesehen, bleibt die Beschwer Zulässigkeitsvoraus­ setzung des Rechtsmittels. Die Einlegung der Berufung nur, um gemäß § 614 ZPO. neue Klagegründe geltend zu machen, neue Klagen oder Widerklagen zu erheben, ist ausgeschlossen. Eine Er­ weiterung oder Umformung des Klageanspruchs kann durch den Berufungskläger nur vorgenommen werden, wenn er zugleich durch das erste Urteil beschwert und infolgedessen die Berufung überhaupt zulässig ist. Vgl. zu den Fällen der Beschwer: RG. 110, 45; 115, 3ff.; 86ff. b) Wenn eine Entscheidung nur hinsichtlich der Klage oder Widerklage angefochten wird, ist das Rechtsmittelgericht wegen der Notwendigkeit einheitlicher Verhandlung und Entscheidung gleich­ wohl genötigt, das Urteil zur Klage und Widerklage zu erlassen. c) Die Zurückweisung verspäteten Vorbringens, für die im ersten Rechtsgang keine Besonderheiten gelten, darf in der Berufungsinstanz nur erfolgen, wenn das neue Vorbringen ent­ gegen § 519 ZPO. nicht in der Berufungsschrift mitgeteilt oder in der Absicht der Prozeßverschleppung zurückgehalten worden ist; „grobe Nachlässigkeit" als Grund des verspäteten Vorbringens be­ gründet dagegen keine Zurückweisungsbefugnis (§ 626 ZPO.).

11. Zulässigkeit der Revision. Da die Eheprozesse im Sinne des Gesetzes keine vermögens­ rechtlichen Ansprüche betreffen, kommt eine Revisionssumme für sie nicht in Betracht (§ 546 ZPO.). Da die Landgerichte in erster Instanz ausschließlich zuständig sind, ist Revision mithin in jedem einzelnen Falle zulässig. Diese unbeschränkte Revisibilität der Ehesachen hat die Über­ lastung des Reichsgerichts nicht zum wenigsten mit verschuldet. Eine vorübergehende Abhilfe wurde hier geschaffen durch die Ver­ ordnung zur Entlastung des RGs. vom 15. Januar 1924 (RGBl. I, 29). Danach fand bis zum 31. Dezember 1925 gegen das Urteil eines Oberlandesgerichts in einem Rechtsstreit, der die Scheidung oder Anfechtung einer Ehe oder die Herstellung des ehelichen Lebens zum Gegenstand hatte, die Revision nur statt, wenn sie in dem Urteil des Oberlandesgerichts für zulässig erklärt worden war. Das OLG. hatte die Revision zuzulassen, wenn es von einer Entscheidung des

406

Professor vr. Heinrich Lehmann

Reichsgerichts oder, soweit eine solche nicht ergangen war, von der Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts abgewichen war, oder wenn sonst von der Zulassung der Revision die Klärung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu erwarten war. Als Ende Februar 1928 die Verlängerung des Gesetzes zur Entlastung des RGs. vom 21. Dezember 1925/17. Dezember 1926 (RGBl. 1925 I S. 475, 1926 I S. 503) zur Erörterung stand, hat der Reichsjustizminister Hergt den Versuch unternommen, die obenangeführte Bestimmung über die Beschränkung der Revision in Ehesachen wieder einzuführen. Dieser Versuch scheiterte an der ablehnenden Haltung einiger Fraktionen, namentlich der Sozial­ demokraten. Es wurde schließlich davon abgesehen, dem jetzigen Reichstag einen entsprechenden Gesetzesentwurf vorzulegen. Man hat lediglich die Geltungsdauer des alten Entlastungsgesetzes ver­ längert: bis zum 30. Juni 1929 (RGBl. 1928 I S. 120.)

12. Einstweilige

Verfügung in Ehegatten.

Beziehung

auf

die

Neben den allgemeinen Vorschriften über einstweilige Ver­ fügungen (§§ 935 bis 940 ZPO.) sieht § 627 ZPO. den Erlaß einer einstweiligen Verfügung für Scheidungs-, Nichtigkeits- und An­ fechtungsprozesse unter erleichterten Voraussetzungen vor. Da den Ehegatten nach Erhebung der Klage die Fortsetzung des ehe­ lichen Lebens nicht zuzumuten ist, kann das Gericht nach völlig freiem Ermessen auf Antrag eines der Gatten für die Dauer des Rechtsstreits eine einstweilige Verfügung erlassen, wonach den Gatten das Getrenntleben gestattet, die gegenseitige Unterhalts­ pflicht nach § 1361 BGB. geordnet, aber auch die Sorge für die Person der Kinder und die Unterhaltspflicht der Gatten gegenüber diesen geregelt wird.

B. Kritik. Neuvorschläge.

1. Grundsätzliche Änderungen. 1. Die ungleichartige Natur der Ehesachen.

Die Kritik wird beim Begriff der Ehesachen einzusetzen haben und die Frage an die Spitze stellen, ob der Begriff der Ehesachen

Behandlung von Ehestreitsachen nach Zuständigkeit und Verfahren.

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richtig gebildet ist, d. h. ob unter die Ehegerichtsbarkeit alle die und nur die Ehestreitigkeiten einbezogen sind, die gerade die für das Eheverfahren getroffene Sonderregelung vertragen und verlangen. Was zunächst auffällt, ist, daß die als Ehesachen bezeichneten Klagen nach Anlaß und Ziel sehr verschieden geartet sind; sie bilden eine richtige „gemischte Gesellschaft". Die meisten Klagen wenden sich gegen den Bestand der Ehe; der Aufrechterhaltung der Ehe können lediglich die Herstellungs- und die positive Ehefeststellungs­ klage dienen. Das Gesetz selbst hat denn auch eine einheitliche Sonderregelung nicht auf der ganzen Linie durchzuführen vermocht, sondern Unter­ gruppen gebildet, die in wichtigen Einzelpunkten wieder eine ver­ schiedene Normierung erfahren haben. Auf der einen Seite stehen die Nichtigkeits- und die Ehefest­ stellungsklage ; auf der anderen die Anfechtungs-, Scheidungs- und Herstellungsklage. Eine Klagenverbindung ist nur unter den Angehörigen dieser beiden Untergruppen zulässig (§§ 615 u. 633 ZPO.), die Verhand­ lungsmaxime ist bei der ersten Gruppe hinsichtlich aller Tatsachen beschränkt (§§ 617 III, 622 II ZPO.), bei der zweiten Gruppe nur hinsichtlich der ehefeindlichenTatsachen (§§ 617 Iu. II u.622 I ZPO.); ein klageabweisendes Versäumnisurteil wird bei der ersten Gruppe nur im Sinne der Prozeßabweisung zugelassen(§§ 635 u. 638 ZPO.), bei der zweiten dagegen im regelmäßigen Sinne der Abweisung der Klage als unbegründet. Der Gegensatz zwischen der ersten und zweiten Gruppe wird aber nicht überall festgehalten, das Gesetz bildet auch andersartige Kom­ binationen. Auf der anderen Seite werden zusammengefaßt: die Nichtigkeits- und Anfechtungsklage bei der Normierung der Zu­ ständigkeit (§ 606 III ZPO.), die Nichtigkeits-, Anfechtungs- und Feststellungsklage bei der Erweiterung der Grenzen der Rechtskraft (§ 629 ZPO.), die Nichtigkeits-, Anfechtungs- und Scheidungsklage hinsichtlich der von Amts wegen zu bewirkenden Zustellung eines den Bestand der Ehe verneinenden Urteils (§ 625 ZPO.). Die Scheidungs- und Herstellungsklage werden zu einer engeren Unter­ gruppe in § 608 ZPO. zusammengefaßt (Sühneversuch), die An­ fechtungs- und Scheidungsklage in der Präklusionsvorschrift des § 616 ZPO., endlich die Nichtigkeits-, Anfechtungs- und Scheidungs­ klage in § 627 ZPO. (einstweilige Verfügung über Getrenntleben).

408

Professor Dr. Heinrich Lehmann

Das wirkt recht verwirrend. Gesteigert wird die Verwirrung durch den Janus-Charakter der Herstellungsklage. Die Herstellungsklage bezweckt die Verurteilung des Beklagten zur Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft. Da aber nach § 888 II ZPO. die Zwangsvollstreckung im Falle der Verurteilung ausgeschlossen ist, liegt vom Standpunkt des Klägers aus, der es mit seiner Klage ernsthaft meint und die Wiederher­ stellung der gestörten Gemeinschaft erstrebt, die Bedeutung des Urteils nur darin, daß dem verurteilten Beklagten durch objek­ tiven Richterspruch die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens zum Bewußtsein gebracht wird. Versagt der moralische Druck, der darin liegt, bleibt dem sieg­ reichen Kläger nur übrig, sich zu bescheiden oder die Scheidungs­ klage anzustrengen. Die Zugangspforte zur Scheidung wegen böslicher Verlassung hat er sich durch dieses Urteil bereits eröffnet, denn nach § 1567 II Nr. 1 BGB. ist das rechtskräftige Urteil auf Herstellung der häuslichen Gemeinschaft die Voraussetzung der Ehescheidungsklage wegen böslicher Verlassung. Der Mangel der Vollstreckbarkeit des Herstellungsurteils hat die naturgemäße Folge gehabt, daß die praktischer als das Gesetz denken­ den Eheleute die Klage auf Herstellung so gut wie nie zu dem Zwecke anstrengen, um wirklich die eheliche Lebensgemeinschaft wieder­ herzustellen, sondern grundsätzlich zu dem Zwecke erheben, die Scheidung einzuleiten. In dieser Eigenschaft als Vorklage zur Klage wegen böslicher Verlassung erfreut sich die Herstellungsklage einer gewissen Popularität; sie dient tatsächlich als Ersatz für die versagte Scheidung wegen beiderseitigen Einverständnisses. Die Gatten heben die Hausgemeinschaft auf, der eine verklagt den anderen auf Herstellung, und wenn dieser dann noch ein Jahr lang die Trennung ausrechterhalten hat, gilt das als Desertion, obwohl der Aufenthalt des Getrennten bekannt, und er vielleicht im selben Hause wohnen geblieben ist. Freilich muß die Klage als Ausdruck eines ernstlichen Herstellungsverlangens des Klägers erscheinen, weil ja eine Fern­ haltung des Beklagten nur dann beachtet werden darf, wenn sie gegen den Willen des anderen Gatten erfolgt. Aber die Praxis verzichtet meist auf besondere Nachweise und erblickt in der vorher­ gegangenen Klage auf Herstellung die Äußerung der Absicht, die Ehe fortzusetzen. Danach ist die Klage wegen uneigentlicher Ver­ lassung der anständigste Weg, eine unhaltbare Ehe zu beseitigen, da

Behandlung von Ehestreitsachen nach Zuständigkeit und Verfahren.

409

keiner ein besonderes Verschulden auf sich zu nehmen braucht. Nur dauert das Verfahren ziemlich lange, mindestens anderthalb Jahre, weshalb viele Gatten, um die verhaßten Bande rascher zu sprengen, sich über einen Ehebruch oder ein anderes ehewidriges Verhalten verständigen. Indem der Gesetzgeber die Herstellungsklage mit der Anfechtungs­ und Scheidungsklage zu einer Untergruppe zusammengefaßt hat, statt ihrer Eigenart Rechnung zu tragen, hat er jedenfalls nichts getan, um diese Entwicklung hintanzuhalten, er hat sie m. E. sogar begünstigt. Die ernstgemeinte Herstellungsklage ist dabei unter die Räder gekommen. Aber diese Entwicklung hat auch ein Gutes gehabt. Sie muß jedem die Augen öffnen, daß die ernstgemeinte Herstellungsklage fehl am Ort ist, daß der ganze Eheprozeß wenig geeignet ist, um dem ernsthaften Wiederherstellungsverlangen zum Erfolg zu verhelfen. Und zwar liegt das weniger an den einzelnen Besonderheiten des Eheprozesses im Vergleich zum ordentlichen Verfahren, als an der vorgeschriebenen Austragung im streitigen Verfahren, im Prozeßweg. So taucht bei der Untersuchung der Zweckdienlichkeit des heutigen Ehestreiteverfahrens als große Vorfrage die auf: Ob die Erledigung der fraglichen Ehestreitigkeiten durch Prozeß überhaupt als der richtige Weg angesehen werden darf oder ob sich nicht ihre Verweisung in ein nicht streitiges Verfahren empfiehlt.

2. Zweckdienlichkeit des prozessualen Austrags für die Ehesachen? Verweisung des ernstgemeinten Her­ stellungsverlangens in das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit.

a) Es ist bekannt, daß schon bei Ausarbeitung des ersten Ent­ wurfs zum BGB. die Herstellungsklage, die heute außer dem BGB. noch im englischen und japanischen Recht vorkommt, auf Widerstand gestoßen ist, ohne daß dieser sich durchsetzen konnte. Die Motive (Bd. IV S. 280) verkennen nicht, daß die Anrufung des Vormundschaftsgerichts zur Entscheidung einer unter den Gatten bestehenden Streitigkeit dem ehelichen Verhältnis mehr entspricht, daß die Entscheidung regelmäßig durch den Vormundschaftsrichter auch rascher erfolgen wird als im Prozeß — aber sie halten doch das

410

Professor Dr. Heinrich Lehmann

Gewicht dieser Gründe nicht stark genug, um eine Ausnahme von dem ordentlichen Rechtsweg zu rechtfertigen. Selbst die Bestimmungen, die schon heute im BGB. das Vor­ mundschaftsgericht ausnahmsweise zur Entscheidung ehelicher Streitigkeiten im Gebiete der persönlichen Beziehungen für zuständig erklären (so bei mißbräuchlicher Beschränkung der Schlüsselgewalt: § 1357 BGB. und bei Genehmigung einer Kündigung eines Rechts­ verhältnisses, wodurch die Frau sich zu einer persönlichen Leistung verpflichtet hat, durch den Mann, sowie beim Ersatz der Zustimmung des Mannes zu einem solchen Rechtsgeschäft: § 1358 BGB.), wurden erst nach hartem Kampfe in der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs angenommen. Vgl. Bd. IV, S. 108, 169. Hier haben wir umdenken gelernt. Die Tätigkeit des Vormund­ schaftsgerichts ist seitdem durch das Gesetz über die religiöse Kinder­ erziehung vom 15. Juli 1921 erweitert worden. Der Hinweis auf das Bedenkliche einer Ausnahme vom ordentlichen Rechtsweg vermag in unserer Zeit der Sondergerichtsbarkeit nicht mehr den gleichen Eindruck zu machen wie früher. Vor allem: wir denken heute nach der offiziellen Einführung des Güteverfahrens in den Prozeß und der Anerkennung des Schlichtungsverfahrens im Arbeits­ recht kritischer über die ausschließliche Eignung des förmlichen Rechtskampfes zur Austragung von Meinungsverschiedenheiten. Wenn irgendwo, dann muß der Prozeß gerade für das ernstge­ meinte Herstellungsverlangen als die denkbar ungeeigneteste Form seiner erfolgreichen Geltungmachung angesehen werden. Insofern ist die Herstellungsklage ein großer Fehlgriff des Gesetzes. Schon die Tatsache, daß die Parteien sich dieses Mittels fast nie bedienen, und die Herstellungsklage nur als Vorklage zur Scheidungsklage wegen böslicher Verlassung anstellen, beweist die Untauglichkeit der Klage als Mittel zur wirklichen Herstellung des gestörten ehelichen Friedens. Es läßt sich kaum etwas Verfehlteres denken, als die Ehegatten, um sie zu erneutem einträchtigen Zusammenleben zu führen, auf den Weg des förmlichen Rechtskampfes zu verweisen. Eine Ehe, die schon die Belastungsprobe des täglichen Kleinkriegs nicht aus­ gehalten hat, wird durch die Kampfhandlungen des Prozesses, der jeden Teil nötigt, alle belastenden Umstände zusammenzufassen und gebührend hervorzuheben, nur noch mehr zerstört. Das Gefühl des siegreichen Partners, die Schuld des anderen schwarz auf weiß

Behandlung von Ehestreitsachen nach Zuständigkeit und Verfahren.

411

bestätigt zu haben, und der Arger und das Gekränktsein des Unter­ legenen sind sicher schlechte Bürgen für einen Friedensschluß. Deshalb hat man mit Recht vorgeschlagen, die Verfolgung des Herstellungsverlangens vor den Vormundschaftsrichter in den Weg der freiwilligen Gerichtsbarkeit zu verweisens. Man kann dem gegenüber nicht auf den vorgeschriebenen Sühne­ versuch vor dem Amtsgericht Hinweisen, der nach § 608 ZPO. nicht bloß der Scheidungs-, sondern auch der Herstellungsklage voraus­ zugehen hat. Denn in neunundneunzig von hundert Fällen ist dieser Sühneversuch zur bloßen Formalität herabgesunken. Der Beklagte braucht einfach nicht zu erscheinen und dann ist der Sühne­ versuch als mißlungen anzusehen. Eher kommt dem Hinweis auf das Verfahren vor dem Einzel­ richter Bedeutung zu, vor den die Sache grundsätzlich zu verweisen ist und der zunächst die gütliche Beilegung des Rechtsstreites zu versuchen hat (§ 349 ZPO.). Aber der Fehler ist, daß der Einzelrichter mit seiner Tätigkeit erst einsetzen kann, wenn die Klage erhoben worden ist und die Parteien offiziell ihre Kampfstellung bereits bezogen haben, aus der sie so leicht nicht wieder weichen. Auch davon abgesehen haften dem streitigen Verfahren eine Reihe von Eigenschaften an, die es zur Schlichtung einer derartigen Streitigkeit wenig geeignet erscheinen lassen. Die Verhandlungsmaxime erschwert es dem Gericht, die häufig bis auf die kleinsten Einzelheiten sich erstreckenden Bestimmungen über das zukünftige Verhalten der Gatten zweckmäßig zu treffen. Und der Grundsatz der Rechtskraft macht es geradezu unmöglich, dem bei derartigen Streitigkeiten oft rasch eintretenden Wechsel der Verhältnisse gerecht zu werden. Das hat das Reichsgericht in einer Entscheidung vom 18. Juni 1908 (RG. 69, S. 94ff.) selber ausdrücklich anerkannt. Der Anwaltszwang ist ferner wenig geeignet, die Herstellung der ehelichen Gemeinschaft zu befördern. Je mehr Menschen in einen derartigen Streit hineingezogen werden, um so schwerer wird nachher für die unmittelbar Beteiligten das Vergessen und Ver­ geben. Der persönliche Verkehr des Richters mit den Parteien wird dadurch geschmälert, daß der Richter von vornherein einen 2) Vgl. die Ausführungen Eichhorns in SeuffBlfRA. 71, 301 ff.

412

Professor Dr. Heinrich Lehrnann

juristisch hergerichteten, auf das Ziel des Prozeßgewinnes einge­ stellten Tatbestand vorgelegt bekommt. Auch der Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung wirkt sich nicht günstig aus. Wenn auch auf Antrag nur einer Partei gemäß § 171 GVG. die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden muß, so werden die Parteien selbst doch von diesem Ausschluß der Öffentlichkeit nicht betroffen. Und es ist für jede Partei äußerst peinlich, wenn der Gegner jede ihrer Äußerungen hören muß und ihr später vorhalten kann. In allen diesen Punkten verdient das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit vor dem Vormundschaftsrichter entschieden den Vorzug. Wenn überhaupt die richterliche Tätigkeit auf die Parteien in dem Sinne von Einfluß sein soll, daß sie die Wiederherstellung der gestörten ehelichen Lebensgemeinschaft fördert, dann muß der Richter als Berater auf die Seelen der Parteien wirken. Und das ist unmöglich durch einen Rechtsspruch nach förmlichem Streit­ verfahren, zumal wenn hinter diesem Rechtsfpruch nicht einmal eine Zwangsgewalt steht. Wenn man sich aus allen diesen Erwägungen für die Ver­ weisung des ernstgemeinten Wiederherstellungsver­ langens in das Verfahren der freiwilligen Gerichts­ barkeit entscheidet, fragt sich, was aus der Herstellungsklage als Vorklage zur Scheidungsklage werden soll. Sie könnte als solche nicht bestehen bleiben. Gegen sie spricht zunächst das theoretische Bedenken, daß sie als Vorklage zur Scheidungsklage in sich widerspruchsvoll ist. Denn sie ist dem Kläger nicht um der Herstellung willen gegeben, sondern nur, um die formale Voraussetzung für den künftigen Scheidungsprozeß zu schaffen und eine Klärung über die Gründe der Trennung herbeizuführen, darüber, ob die Gründe, aus denen sich der andere Ehegatte der Herstellung der Gemeinschaft wider­ setzt, gerechtfertigt sind oder nicht. Der Kläger wünscht in solchen Fällen gar nicht, daß der andere Teil zurückkehrt, die Gemeinschaft wieder aufnimmt; er rechnet vielmehr darauf, daß das Gegenteil geschieht. Die Herstellungs­ klage steht insoweit einzigartig dar. Sie bezweckt nicht das, was sie verlangt. Das Gesetz mutet dem Kläger geradezu eine Heuchelei zu. Der Laie vermag nicht zu begreifen, daß er den anderen Teil, von dem er sich unter allen Umständen befreien will, erst noch ver-

Behandlung von Ehestreitsachen nach Zuständigkeit und Verfahren.

413

klagen und verurteilen lassen muß, die häusliche Gemeinschaft wieder herzustellen. Das Widerspruchsvolle der Klage tritt noch schärfer hervor, wenn der Kläger mit der Herstellungsklage eine Scheidungsklage aus § 1568 verbindet, wonach er erklärt, daß ihm wegen Verschuldens des anderen Teiles die Fortsetzung der Ehe nicht zugemutet werden könne. In ihrer Eigenschaft als Vorklage würde man deshalb die Her­ stellungsklage am besten gänzlich abschaffen und die Eheverfehlung der böslichen Verladung dem § 1568 BGB. unterstellen. Das würde keine mit dem Grundgefüge des geltenden Rechts unvereinbare Neuerung bedeuten. Schon heute neigt die Praxis dazu, in der böslichen Verladung — zumal wenn die Verpflichtung zur Unter­ haltsgewährung verletzt wird — eine schwere Verletzung der durch die Ehe begründeten Pflichten im Sinne des § 1568 BGB. zu er­ blicken. Nicht minder nimmt die herrschende Lehre an, daß in einer böslichen Verlassung selbst dann, wenn der Tatbestand des § 1567 BGB. nicht erfüllt ist, eine schwere Pflichtverletzung nach § 1568 liegen fatin3). Die hier vorgeschlagene Behandlung der Herstellungsklage würde freilich eine gleichzeitige Änderung der materiellrecht­ lichen Vorschriften über die bösliche Verlassung zur Folge haben. Das bisherige Scheitern der geplanten Reformen des Scheidungs­ rechtes des BGB. macht jedoch den Versuch einer solchen Änderung des materiellen Scheidungsrechts nicht gerade aussichtsvoll. Angesichts dieser Sachlage könnte man daran denken, für die Verfolgung des Herstellungsverlangens wenigstens neben dem Prozeßweg das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit wahl­ weise zur Verfügung zu stellen. Dagegen spricht aber das praktische Bedenken, daß es schlecht angeht, zwei Wege zur Geltendmachung desselben Verlangens zu eröffnen: das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, wenn der Verlangende es ernst meint — und den Prozeßweg, wenn er es nicht ernsthaft meint. Doch ließe sich diesem Bedenken durch die formale Umge­ staltung der Herstellungsklage zu einer Feststellungsklage Rechnung tragen, wonach sie lediglich die Feststellung anzu-

3) Bgl. etwa Martin Wolff, Familienrecht § 34, Anm. 25 und Staudingers Komm. § 1568, Anm. 2d. 35. DJT. 1.

27

414

Professor Dr. Heinrich Lehmann

streben hätte, daß die Weigerung des anderen Teils zur Her­ stellung der häuslichen Lebensgemeinschaft nicht be­ rechtigt sei. Diese Lösung hätte den Vorzug, das Gefüge des BGB. vollkommen intakt zu lassen und lediglich die Herstellungs­ klage in ihrer Eigenschaft als Vorklage auf ihre wahre Bedeutung zurückzuschrauben. Wer wirklich die Vereinigung will und für möglich hält, wird zum Vormundschaftsrichter gehen. Wer an der Wiedervereinigung verzweifelt oder sie nicht mehr will, läßt, ohne heucheln zu müssen, die Grundlosigkeit der Weigerung des anderen Teils feststellen. b) Ganz anders als für die Herstellungsklage ist die Frage nach der Zweckdienlichkeit des prozessualen Austrages (im Gegensatz zum Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit) für die Nichtigkeits-, Anfechtungs-und Ehefeststellungsklage zu beurteilen. Hier steht nicht im Vordergrund die Frage: Was soll geschehen, sondern die Frage: quid juris, was ist rechtens? Es ist ganz zweifellos, daß insoweit das ordentliche kontradiktorische Verfahren vor dem Landgericht größere Garantieen für die Wahr­ heitsfindung bietet als das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbar­ keit, zumal das Gesetz durch weitgehende Ausnahmen von der Ver­ handlungsmaxime die Erreichung des Prozeßzieles zu sichern ver­ sucht hat. c) Gleiche Gesichtspunkte sprechen auch dafür, die Scheidungs­ prozesse grundsätzlich im ordentlichen Rechtsweg austragen zu lassen. Wenn freilich bei einer Reform des materiellen Rechts die Scheidung auf Grund beiderseitiger Einverständnisses an­ erkannt werden sollte — was nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlungen über die Ehescheidungsreform in dem betr. Reichs­ tagsausschuß nicht wahrscheinlich ist — würde es sich allerdings durchaus empfehlen, die Scheidung insoweit im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit vor sich gehen zu lassen3a).

Weitergehend hat Traumann*4) die Forderung aufgestellt, 3a) Vgl. Wieruszowski, a. a. O. S. 78. 4) Traumann, Das Ehescheidungsrecht der Zukunft, S. 34ff., 41. Traumann will zunächst ein dem Auseinandersetzungsverfahren ähnliches Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit dem eigentlichen Scheidungs-

Behandlung von Ehestreitsachen nach Zuständigkeit und Verfahren.

415

den Rechtskampf um die Scheidung allgemein aus den Schranken der streitigen Gerichtsbarkeit zu verweisen und die Ehescheidung grundsätzlich zu einer Angelegenheit der freiwilligen Ge­ richtsbarkeit zu machen. Die Vorschläge Traumanns sind aber so eng mit der von ihm geforderten radikalen Reform des materiellen Scheidungsrechtes verknüpft, daß sie zurzeit m. E. wenig Aussicht auf Annahme haben. So lange wir an dem gegenwärtigen materiellen Scheidungs­ recht festhalten, wonach die Scheidung nur zugelassen wird wegen schwerer schuldhafter Pflichtverletzungen oder Geisteskrankheit steht die Frage quid iuris durchaus im Vordergrund und ist der Prozeß der geeigneteste Weg zu ihrer Klärung. Das würde auch richtig bleiben, wenn die Bestrebungen auf Einführung des Ehe­ scheidungsgrundes der objektiven Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses Erfolg haben sollten, zumal wenn man das Scheidungs­ recht dem Gatten versagen würde, der die Zerrüttung vorwiegend verschuldet hat. Dahin ging bekanntlich der Antrag Kahl im Rechts­ ausschuß des verflossenen Reichstags Erwägenswert ist m. E. nur die Frage, ob nicht die Regelung der vermögensrechtlichen Folgen der Scheidung, insbesondere der Unterhaltspflicht, und der Erziehung der unmündigen Kinder — falls die Ehegatten sich nicht einigen — im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit erfolgen soll. Das hat namentlich Neustadt6* )* *angeregt. *5 Auch Schiffer ist für die Zuständigkeit des Bormundschaftsgerichts eingetreten7). Dafür spricht allerdings manches. Sicher würde dadurch eine Entgiftung der Auseinandersetzung unter den Ehegatten, die sich an den Scheidungsprozeß anschließen muß, herbeigeführt. Was die Sorge für die Person der Kinder angeht, ist ja bereits heute das Prozeß vorausgehen lassen. Falls hier keine Einigung möglich sei, solle die Verweisung vor ein Spruchgericht erfolgen, das als Kollegium mit 5 Richtern zu besetzten sei (dem das Ehescheidungsregister führenden Richter, dem Bormundschaftsrichter, einem Landgerichtsdirektor als Vorsitzenden und zwei Laien, von denen einer eine Frau sein solle). Für den Fall, daß nur einer der Gatten sich von der Ehefessel befreien will, gibt Traumann übrigens zu (S. 48), daß die Unterstellung des einseitigen Scheidungs­ begehrens unter die jurisdictio contentiosa nicht vermieden werden kann. 5) Reichstagsdrucksachen HI Wahlperiode, Nr. 462 vom 12. Juli 1927. 6) Neustadt, Das Eherecht, 243. 7) Deutsche Allgemeine Zeitung vom 24. Februar 1927, Nr. 91. 27*

Professor Dr. Heinrich Lehmann

416

Vormundschaftsgericht nach § 1635 I 2 BGB. in der Lage, eine von der gesetzlichen Regel abweichende Bestimmung zu treffen. Solange aber das materielle Ehescheidungsrecht der Schuld-

frage

sowohl

hinsichtlich

der

vermögensrechtlichen

Wirkungen

(§§ 1578ff. BGB.) als auch der Sorge für die Kinder (§ 1635 BGB.)

ausschlaggebende Bedeutung beimißt, sind einer wirklich ge­

deihlichen Tätigkeit des Richters der freiwilligen Gerichtsbarkeit

enge Schranken gezogen 8). Deshalb möchte ich von einer Befürwortung dieser Anregung,

soweit es sich um die vermögensrechtlichen Folgen handelt, absehen.

eine

Insoweit ist nach dem Vorbild des österreichischen Rechts

Verbesserung

des

gegenwärtigen

Rechtszustandes

dadurch

anzustreben, daß man die Zuständigkeit des Ehegerichts auf

derartige Streitigkeiten erstreckt.

Dem Gericht bzw. dem mit

der Sache zunächst zu betrauenden Einzelrichter müßte auferlegt werden, auf eine gütliche Einigung — wo möglich vor der Ent­

scheidung über die Scheidungsklage — hinzuwirken.

Falls der

Scheidungsgrund der objektiven Ehezerrüttung durch eine Ände­

rung des materiellen Rechts anerkannt werden sollte, müßte die

vorherige gütliche Regelung der Unterhaltspflicht sogar zur Vor­ bedingung der Scheidung gemacht werdens.

Auf der anderen Seite trage ich Bedenken die Zuständigkeit der Ehegerichte, wie u. a. Marie Munk (Deutsch. Juristenzeitung 1926, 1684) angeregt hat, darüber hinaus auch auf die Streitigkeiten über 8) Nach der heute ziemlich allgemein als verfehlt erkannten Vorschrift des § 1635 BGB. ist auch hier die Schuldfrage und nicht das Wohl der Kinder von ausschlaggebender Bedeutung. Das Vormundsschaftgericht kann aller­ dings aus besonderen Gründen eine abweichende Anordnung treffen, § 1635 I, 2 BGB. Die zwangsweise Verwirklichung des einem Ehegatten nach § 1635 I, 1 BGB. zustehenden Rechts erfolgt aber im Wege der streitigen Gerichtsbarkeit. — Das Vormundschaftsgericht ist nach § 1635 I, 2 BGB. lediglich zur Anordnung berufen, welchem der Ehegatten die Sorge für die Person der Kinder zu übertragen ist, während die Entscheidung der Frage, welchem der Ehegatten die Sorge für die Person des Kindes zusteht, dem Prozeßgericht Vorbehalten ist. Das Prozeßgericht entscheidet feststellend nach Maßgabe der ein- für allemal feststehenden Norm des S. 1, Abs. I § 1635 BGB; das Vormundschaftsgericht bestimmt rechts­ begründend, wenn, abweichend vom Gesetz, das Fürsorgerecht aus be­ sonderen Gründen dem anderen Elternteil zu übertragen ist. So Beschl. des IV. ZS. RG. vom 3. Mai 1906, RG. 63, 279. ®) So auch der vorerwähnte Antrag Kahl.

Behandlung von Ehestreitsachen nach Zuständigkeit und Verfahren.

417

die Sorge für die Kinder zu erstrecken. Die Vorfchrift des Satzes 1 Abs. I § 1635 BGB., auf der die Zuständigkeit des Prozeßgerichts

beruht, ist so offensichtlich verfehlt, daß sie ganz gestrichen werden

muß.

Für die Zuteilung der Sorge für die Kinder kann es ver­

nünftigerweise nur einen leitenden Gesichtspunkt geben, das ist das Wohl der Äittbet10).

Deshalb ist die Entscheidung über die

Gestaltung der Elternrechte und der persönlichen Beziehungen zu

den Kindern am besten ganz in die Hände des Vormundschafts­

richters zu legen, dessen Anordnungen mit Zwangsgewalt auszu­ statten wären.

Der Vormundschaftsrichter hätte dabei die Fest­

stellungen des Scheidungsurteils nach freiem pflichtmäßigen Er­

messen mit zu berücksichtigen. Diese Gestaltung soll nicht ausschließen, daß die Parteien sich

schon

im

ständigen.

Scheidungsprozeß

gütlich

über

die

Erziehung

ver­

Das Prozeßgericht bzw. der Einzelrichter hätten auch

zur Herbeiführung einer solchen Verständigung mitzuhelfen.

müßte die

Doch

Vormundschaftsgerichts ausgesprochen

Befugnis des

werden, aus besonderen Gründen im Interesse des Kindes auch

eine von einer solchen Übereinkunft abweichende Anordnung zu treffen10a). 3. Geringe

heutigen

Eignung

des

Fruchtbarmachung

der

Eheverfahrens

für

Grundgestalt

den

Einrichtung

in

seiner

Scheidungsprozeß. des

Einzelrichters

für seine bessere Erledigung. a) Nunmehr kann die Hauptfrage aufgeworfen werden, ob der

Eheprozeß

in

seiner heutigen

Grund gestalt

die

beste

Form

bildet für die Austragung der noch übrig bleibenden Klagen, näm­ lich der Scheidungs-, Nichtigkeits-, Anfechtungs- und Ehefeststellungs­ klage, sowie der Klage auf Feststellung der Grundlosigkeit der Weige­

rung, die häusliche Lebensgemeinschaft wieder herzustellen.

10) Ganz mit Recht hat der Bund Deutsch. Frauenvereine in seiner Generalversammlung vom 2.—5. Oktober 1927 in Eisenach verlangt, daß bei der Verteilung der elterlichen Rechte allein das Wohl des Kindes zu berücksichtigen sei und daß dem Elternteil die Erziehung der Kinder zu übertragen sei, der dafür am geeignetsten sei (Deutsche Richter-Ztg. 28, 16). 10a) Wieruszowski (a. a. O-, 84) will die Entscheidung nach dem Vorbild des ZweizZG- Art. 156 dem S cheidungsgericht überlassen, das den Vormundschaftsrichter zuzuziehen hätte. Das erschwert aber m. E. die Anpassung an eine Veränderung der Sachlage unnötig.

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a) Die Scheidungsklage. Das wird man für die Scheidungs­ klage jedenfalls bezweifeln dürfen; entsprechendes gilt für die etwa einzuführende Klage auf Feststellung der Grundlosigkeit der Weige­ rung, die eheliche Lebensgemeinschaft wieder herzustellen. Die Frage, inwieweit man die Scheidung zulassen soll, steht hier nicht zur Erörterung. Ich gehe bei meinen Ausführungen vom geltenden deutschen Scheidungsrecht aus, also vom Boden einer Rechtsordnung, die die Scheidung nur ausnahmsweise zuläßt. Das geschieht offenbar auf der Erwägung heraus, daß die Austilgung einer kranken Zelle des sozialen Organismus als das kleinere Übel gegen­ über seiner fortdauernden Schädigung durch unhaltbare, innerlich zerrüttete Ehen erscheint. Die Vornahme einer solchen Operation setzt sorgfältige Jndikationsstellung voraus. Der operative Vorgang selbst muß dann aber ohne unnötige Verzögerung so gründlich wie möglich vorge­ nommen werden, damit eine weitere Ansteckung und Schädigung vermieden wird. Dieser Forderung einer nicht verschleppten, gründlichen, die weitere Ausdehnung der Krankheit verhütenden Operation wird aber das heutige Scheidungsverfahren nur wenig gerecht. Gewiß sucht die Zivilprozeßordnung die Garantien, die das kontradiktorische Verfahren vor dem Landgericht für die Wahr­ heitsermittlung bietet, durch Ausschaltung der Verhandlungs­ maxime für alle sog. ehefeindlichen Tatsachen und durch Aner­ kennung des Untersuchungsgrundsatzes hinsichtlich ehefreundlicher Tatsachen möglichst zu verstärken. Aber trotzdem ist man sich darüber einig, daß das Ziel der Wahrheitsermittlung gegenüber Ehegatten, die zur Täuschung des Gerichts entschlossen sind, nur unvollkommen erreicht werden kann. Nirgendwo wird mehr gelogen als im Ehe­ scheidungsverfahren. Die Gefahr der Fehlsprüche ist außerordentlich groß. Von diesen Unvollkommenheiten, die in der Schwierigkeit der Materie liegen, abgesehen, ist die Einspannung des Scheidungs­ prozesses in die Formen des kollegialgerichtlichen Verfahrens jeden­ falls nicht sehr geeignet, die Ermittlung der Wahrheit zu erleichtern und die Auseinandersetzung zu beschleunigen und zu entgiften. Daß der Sühneversuch in 99 % der Fälle zu einer bloßen Formali­ tät geworden ist, habe ich bereits bei der Herstellungsklage betont. Das Gericht steht den Parteien zu ferne und kennt ihre persönlichen

Behandlung von Ehestreitsachen nach Zuständigkeit und Verfahren. 419 Verhältnisse nicht. Es kann die Parteien infolgedessen auch per­ sönlich wenig nach der Richtung beeinflussen, daß sie unnötige Schärfen fernhalten. Das Gericht erhält zudem einen von den An­ wälten juristisch hergerichteten Tatbestand vorgelegt; seine persönliche Einvernehmung der Parteien erfolgt zu spät. Das Gericht wird sich deshalb meist an gewisse äußere Vorkommnisse halten, die aus dem Ganzen des ehelichen Lebens herausgerissen oft ein schiefes Bild geben müssen. Das Gericht erhält kein richtiges Gesamtbild und erfährt die wahren Ursachen der Entfremdung nicht. In Ab­ wandlung des bekannten Satzes: Nicht der Mörder, der Ermordete war schuldig — kann man vielfach beim Scheidungsprozeß die Be­ hauptung wagen: Nicht der unterlegene Gatte, der Sieger ist schuldig.

Die Scheidungsprozesse werden dank der Mithilfe der Anwälte kunstgerecht aufgebaut und mit allen Mitteln der juristischen Technik durchgeführt. Die Vorschrift des § 616 ZPO., die die Rechtskraft auf alle ehefeindlichen Tatsachen ausdehnt, die durch Klage oder Wieder­ klage geltend gemacht werden konnten, zwingt die Parteien gerade­ zu, alle nur denkbaren Vorwürfe und Beschuldigungen gegeneinander zu erheben. Und diese Vorwürfe haben im Gegensatz zu den Pro­ zessen über vermögensrechtliche Angelegenheiten fast alle einen die Persönlichkeit des Gegners im tiefsten angreifenden und bloß­ stellenden Charakter. So wird im Verlauf des Scheidungsprozesses die persönliche Erbitterung immer größer und ersinnt immer gehässigere Kampf­ formen. Detektive werden angestellt, jeder Schritt des Gegners wird beobachtet — und am Ende haben alle Beteiligten: Gericht, Anwälte und Parteien das Gefühl, durch eine Kloake durchwaten zu müssen.

Wenn man gesagt hat, daß ganz ohne Schädigung des sittlichen Empfindens der einen oder anderen Partei kein Prozeß vorbeigehe, so gilt das in doppeltem und dreifachem Grade für den Scheidungs­ prozeß. Er verdirbt beide Teile. Demgegenüber drängt sich die Frage geradezu auf: Läßt sich diese furchtbare Auseinandersetzung nicht mehr entgilten und so gestalten, daß die Trennung, wenn ihre gesetz­ lichen Voraussetzungen gegeben sind, schneller und schmerzloser vollzogen wird?

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Als Mittel dazu käme in Betracht einmal die Verweisung vor ein Gericht, das den Parteien näher steht und einen größeren Einfluß in persönlicher Beziehung auf sie auszuüben vermag; sodann die Beseitigung des Anwaltszwanges für ein derartiges Verfahren und endlich die Streichung der Vorschriften, die die Parteien nötigen, bei Vermeidung des Ausschlusses alle nur denk­ bare Scheidungsgründe vorzubringen. Als solches Gericht das Amtsgericht zu wählen, hätte m. E. erhebliche Bedenken. Die Verweisung vor ein anderes Gericht soll keine Minderung der Rechtschutzgarantien zur Folge haben. Nach deutscher Auffassung ist es bedenklich, einem Einzelrichter so schwerwiegende Entscheidungen anzuvertrauen. Auch würde durch die Verweisung der Scheidungsprozesse vor das Amtsgericht eine zu große Zersplitterung der Rechtsanwendung herbeigeführt werden.

So bliebe nur übrig, das Kollegialgericht anders zusammen zu setzen. Von hier aus versteht man den Vorschlag, den Richard May vor einigen Jahren in den Preuß. Jahrb.“) gemacht hat und der auch im Reichsjustizministerium erwogen worden ist, die Schei­ dungsprozesse nach Analogie der Vormundschastsgerichte und Jugendgerichte vor eine besondere Instanz, eine Art Eheschöffen­ gericht zu verweisen. Es hätte nach May aus einem rechtsgelehrten Richter als Vorsitzenden und zwei Laien mit besonderer Lebens­ und Sachkunde als Beisitzern zu bestehen. Die Beisitzer hätte man zweckmäßigerweise aus den Kreisen der im sozialen Fürsorge­ wesen tätigen Persönlichkeiten, der Arzte, Erzieher, Seelsorger, Waisen- und Armenpfleger auszuwählen. Nachdem es inzwischen den Frauen gelungen ist, ihre Mitwirkung bei der Rechtspflege durchzusetzen, wäre — falls man zur Einrichtung solcher Eheschöffen­ gerichte schreiten sollte — die Zuziehung weiblicher Beisitzer in ge­ eigneten Fällen sicher zu stellen. Der Anwaltszwang wäre für das Verfahren vor diesen Gerichten zu beseitigen — mindestens in dem Sinne, daß die erste Einvernehmung ohne Anwälte in ganz freier Form durch das Gericht stattzufinden hätte. Diese Vorschläge haben manches für sich, aber erwecken noch größere Bedenken. n) Preuß. Jahrb. 137, 319ff. Vgl. auch Traumann, Ehescheidungs­ recht (S. 41) und seine ähnlichen Vorschläge.

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Sicher würde ein solches Gericht den Parteien näherstehen und könnte durch persönliche Einwirkung und Kenntnis der persönlichen Verhältnisse in vielen Fällen mit Erfolg auf einen anständigen Austrag des Scheidungsprozesses besser hinwirken. Der Wegfall des Anwaltszwanges würde den unmittelbaren Einfluß des Gerichtes auf die Parteien stärken und die menschliche Seite mehr hervor­ treten lassen. Manchmal würde ein Vergleich möglich sein, wenig­ stens über die sonstigen Folgen der Scheidung, insbesondere über die Unterhaltspflichten, die Auseinandersetzung über Wohnung und Möbel und die Verteilung der Sorge für die Kinder. Aber dem gegenüber ist zu bedenken, daß es für die Parteien auch etwas Unangenehmes haben kann, Persönlichkeiten, die ihnen im sozialen Leben bekannt sind, als Richter über sich zu sehen. Die kühle Sachlichkeit des beamteten Juristen, der dem Personenkreis der Streitteile ganz fern steht, hat bei derartigen persönlichen Kämpfen auch ihren Wert — zumal wenn ein Mensch mit Warmund Feingefühl in der Richtertoga steckt. Ferner hat die Tätigkeit des Anwalts im Eheprozeß auch ihr Gutes. Denn der Anwalt richtet den Streitstoff nicht bloß kunst­ gerecht her, sondern sichtet auch das Material. Wieviel von dem persönlichen Vorbringen seiner Partei er unter den Tisch hat fallen lassen, welche Läuterung des Streitstoffes er bereits vorgenommen hat, macht sich der Jurist, der nicht einmal selbst als Anwalt einen Eheprozeß praktisch bearbeitet hat, nicht hinreichend klar. Es ist ferner fraglich, ob das Gericht es verstehen würde, die Parteien so zum Herausgeben aus sich selbst, zur rückhaltlosen Offenheit zu be­ wegen wie der Anwalt. Die Partei sieht im Anwalt ihren Beichtvater und Schutzgeist, der versucht, alles zum Besten für sie zu wenden; vor Gericht trägt sie eine Maske. Dazu kommen nun noch allgemeine Bedenken. Die Schaffung solcher neuen Organisationen, wie der Eheschöffengerichte, würde wiederum einen Abbau des ordentlichen Rechtswegs und die Ein­ richtung neuer Sondergerichte bedeuten, die unheilvolle Zer­ splitterung des Prozeßrechts, deren Zeugen wir in den letzten Jahren gewesen sind, würde weiter fortschreiten. Und zwar ganz ohne Not! — Während zugunsten einer besonderen Arbeitsgerichtsbarkeit ange­ führt werden konnte, daß sich bei den Arbeitsstreitigkeiten Ange­ hörige verschiedener wirtschaftlicher und sozialer Jnteressenkreise gegenübertreten, denen der beamtete Richter fernsteht, ist eine der-

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artige Rechtfertigung der Forderung nach besonderen Eheschöffen­ gerichten völlig ausgeschlossen. Es ist mit bestem Willen nicht einzu­ sehen, warum der beamtete Richter zur Leitung und Entscheidung der Scheidungsprozesse weniger kompetent sein soll, als die ins Auge gefaßten Schöffen. Auch er steht unter der Macht des Eros, ist vielleicht verheiratet, vielleicht sogar geschieden! Ich muß gestehen, daß es mir geradezu eine Bankrotterklärung der Jurisprudenz zu sein scheint, wenn man ihre Jünger nicht einmal mehr zur Ent­ scheidung derartiger allgemeiner Lebensfragen ohne Laienbeihilfe für fähig erklärt. Der Antrag auf Schaffung derartiger Eheschöffengerichte dürfte auch in den Parlamenten auf Schwierigkeiten stoßen. Mit den Anhängern des Anwaltszwanges dürften sich alle die verbinden, die als Folge einer derartigen Einrichtung eine Erleichterung der Ehe­ scheidungen befürchten würden. Ich fasse meine Ausführungen dahin zusammen: das heutige Scheidungsverfahren ist für eine gute und schmerzlose Erledigung der Scheidungsprozesse insofern wenig geeignet, als das Landgericht den Parteien zu fern steht und keinen ausreichenden persönlichen Einfluß auf die Austragung des Prozesses ausüben kann, und als der Anwaltszwang die erbitterte rücksichtslose Führung des Kampfes mit allen Mitteln der juristischen Technik noch befördert. Die Übertragung der Scheidungsprozesse vom Landgericht an ein neu zu bildendes Eheschöffengericht, das ohne Anwaltszwang zu ent­ scheiden hätte, würde das Gericht den Parteien zwar näherbringen und den unmittelbaren Einfluß des Gerichts auf die Austragung des Streites stärken, aber andere Nachteile zur Folge haben. Verloren würde gehen die Läuterung des Streitstoffes, wie sie in der Kanzlei des Anwalts erfolgt; unmittelbare persönliche Beziehungen zwischen den Richtern und den Parteien könnten sich zuweilen für die Parteien peinlich auswirken. Die Bildung eines weiteren Sondergerichtes müßte die Autorität der ordentlichen Rechtspflege noch weiter schwächen. Die Einrichtung von Eheschöffengerichten muß demnach als ein in seinem Erfolg äußerst zweifelhaftes Experiment bezeichnet werden, dessen Versuch sich nicht empfiehlt. Deshalb dürfte es richtiger sein, am Landgerichtsverfahren trotz seiner Mängel festzuhalten und die Einrichtung des Einzel­ richters für eine bessere Erledigung der Scheidungsprozesse frucht­ bar zu machen. Die Vorschrift eines Sühneversuches vor dem

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Amtsgericht erscheint mir unnötig, nachdem wir die Einrichtung des Einzelrichters haben. Ebendeshalb kann ich mich auch nicht für die Anberaumung des Sühnetermins vor dem Vormundschafts­ gerichte aussprechen12). Der Sühneversuch müßte vor dem vom Vorsitzenden des zu­ ständigen Scheidungsgerichtes zu ernennenden Gerichtsmitglied stattfinden. Der Kläger hätte bei dem Landgericht, wo er die Scheidungsklage erheben will, die Anberaumung eines Sühnetermines vor einem vom Vorsitzenden zu bestimmenden Mitglied des Ge­ richtes zu beantragen. Für die Parteivernehmung durch den Einzelrichter müßte § 619 ZPO. für anwendbar erklärt werden; der Einzelrichter müßte das persönliche Erscheinen der Parteien anordnen, sie einzelnen vernehmen können und gegen die nichterschienene Partei wie gegen einen Zeugen vorgehen dürfen. Den Bedenken gegen einen solchen Erscheinungszwang — soweit lediglich der Sühneversuch in Frage steht — verschließe ich mich nicht. Der Termin vor dem Einzelrichter ist aber nach meinen Vorschlägen auch zur Vorbereitung des Eheprozesses selbst bestimmt. Nicht minder soll der Einzelrichter in ihm für eine gütliche Verständigung über die mit dem Eheprozeß zusammenhängenden Fragen Sorge tragen. Dazu ist das persönliche Erscheinen beider Parteien unerläßlich. Wenn die Aufgaben des Sühnetermins derart erweitert würden, ist nicht anzunehmen, daß der Einzelrichter von seiner Zwangs­ befugnis wirklich Gebrauch machen müßte. Beide Parteien hätten dann das größte Interesse am Erscheinen. Dem heutigen unbe­ friedigenden Zustand des Ausbleibens der Parteien im Sühne­ termin wäre mit einem Schlag ein Ende bereitet. Für die Art der Parteivernehmung zum eigentlichen Eheprozeß gibt May (Pr. Jahrb. 137, 326ff.) schätzenswerte Hinweise. Sie erregen nur insofern meine Bedenken, als sie einem stark inquisitori­ schen Eindringen in die intimsten Angelegenheiten der Gatten das Wort reden und u. U. zu einer Ausschaltung der kollegialen Be­ urteilung führen können. Zum Austausch von verbitternden Schriftsätzen würde es bei dieser Gestaltung zur Zeit der ersten Einvernehmung noch gar nicht gekommen sein. Falls der Sühneversuch scheitern sollte, würde 12) Dafür Munk, Vorschläge 56.

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der Sühnerichter mit dem ganzen Streitstoff bereits vertraut und in der Lage sein, die zweckdienliche Austragung des Prozesses günstig zu beeinflussen. Die Justizverwaltung hätte ferner darauf Bedacht zu nehmen, mit den Aufgaben der Ehegerichte nur besonders geeignete Richter zu betrauen und möglichst alle Ehesachen eines Bezirks in die Hand derselben Richter zu legen. Es ist anzunehmen, daß ein derartiger Ausbau der Einrichtung des Einzelrichters die vorteil­ haften Folgen des Mayschen Vorschlages ohne seine Nachteile haben würde. b) Die eben entwickelten grundsätzlichen Bedenken gegen die Austragung der Scheidungsprozesse im kollegialgerichtlichen Ver­ fahren vor dem Landgericht spielen keine Rolle, soweit die Nichtigkeits-, Anfechtungs- und Ehefeststellungsklagen in Betracht kommen. Für sie ist und bleibt der Eheprozeß in seiner heutigen Grundgestalt der beste Weg zur gründlichen und möglichst schnellen Erledigung des Rechtsstreites. 4. Überflüssigkeit der Mitwirkung der Staatsanwalt­ schaft mit Ausnahme der Nichtigkeits- und Ehefest­ stellungsprozesse.

Alle sonstigen Reformfragen dürften einzelne Punkte des Eheverfahrens betreffen und der grundsätzlichen Bedeutung ent­ behren mit Ausnahme einer Frage, d. i. der nach der Mitwirkung der Staatsanwaltschaft am Eheverfahren. Wie die Erfahrung lehrt, haben die Vorschriften, die ihre Mit­ wirkung vorsehen — wenn man von der Nichtigkeitsklage absieht —, ihre praktische Bedeutung verloren, besser niemals eine solche er­ langt. Ein defensor matrimonii, der sein Amt so gut wie niemals ausübt, wird nicht mehr ernst genommen. Landgerichtsrat von Feilitzsch hat schon 1897 in einem lesens­ werten ^luffc^13) darauf hingewiesen, daß am Landgericht Zwickau in den Jahren 1892—96 insgesamt 1014 Eheprozesse im Gange waren und daß an den etwa 2400 Verhandlungen die Staatsanwalt­ schaft nur in einem einzigen Falle teilgenommen hat. Daß die

13) Das „öffentliche Interesse und die Staatsanwaltschaft im Ehe­ prozeß" i. Sächs. A., Bd. VII, S. 177ff.; vgl. ferner Buzengeiger, IW. 1922, S. 432, Munk, Vorschläge, S. 55.

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Statistik für die Gegenwart eine stärkere Beteiligung ergeben sollte, wird niemand annehmen. Der Grund warum die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft ausbleibt, ist leicht zu erkennen. Die Offizialtätigkeit des Gerichts nach den §§ 617, 619 und 622 ZPO. genügt vollkommen, um das öffentliche Interesse des Staates an der Aufrechterhaltung der Ehe zu wahren. Die Forderung einer konkurrierenden Tätigkeit der Staatsanwaltschaft durch den Gesetzgeber bedeutet dem gegenüber geradezu ein ungerechtfertigtes Mißtrauen gegen die Befähigung des Gerichtes. Ganz abgesehen davon, würde die Einmischung der Staatsanwaltschaft von den Parteien vielfach als unliebsames ge­ hässiges Eindringen in die Familienverhältnisse empfunden werden. So bleibt als einzige positive Wirkung des § 607 ZPO. die einer Vermehrung des Schreibwerks übrig. Anders liegen die Dinge nur bei der Nichtigkeitsklage, wo die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft ein Gegengewicht gegenüber der den Parteien grundsätzlich belassenen Herrschaft über den Beginn und die Fortsetzung des Prozesses bilden soll. Selbst hier dürfte aber das öffentliche Interesse eine Vertretung des Staats neben dem Gericht nur aushilfsweise erfordern, also dann, wenn die Klage nicht von einer Zivilpartei erhoben wird. Nach alledem ist die Streichung des § 607 ZPO. zu empfehlen. Die eingehende Ermittlungstätigkeit des Einzelrichters ist ein vollwertiger Ersatz für die praktisch nicht in die Erscheinung tretende Mitwirkung des Staatsanwalts. Zum mindesten wäre die Vorschrift dahin abzuschwächen, daß die Benachrichtigung der Staatsanwalt­ schaft — abgesehen von der Nichtigkeitsklage — nur in den Fällen zu erfolgen hat, wo Tatsachen vorgebracht werden, die nach der Meinung des Gerichts ein Einschreiten der Staatsanwaltschaft angezeigt er­ scheinen lassen"). II. Neue Regelung der Zuständigkeit.

1. An der ausschließlichen sachlichen Zuständigkeit des Land­ gerichts ist wegen der dadurch erstrebten und erreichten höheren Garantie für eine richtige Entscheidung festzuhalten — auch wenn man die Revisibilität in jedem einzelnen Fall nicht für nötig oder auch nur wünschenswert hält.

14) So Marie Munk, Vorschläge, S. 55.

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2. Weniger beifallswert find die Regeln über die örtliche Zu­ ständigkeit. a) Mit dem in der Reichsverfassung festgelegten Grundsatz der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter (Art. 119 RV.) ist es unvereinbar, daß die örtliche Zuständigkeit sich ausschließlich nach dem allgemeinen Gerichtsstand des Ehemannes bestimmt. Eigenartig berührt, daß ausnahmsweise der allgemeine Gerichts­ stand bzw. der letzte inländische Wohnsitz der deutschen Frau maß­ gebend ist, wenn der Ehemann, der keinen allgemeinen Gerichts­ stand hat, ein Ausländer ist oder die Reichsangehörigkeit verloren hat (§ 606 III ZPO.). M. E. müßte der allgemeine Gerichtsstand des Mannes und der Frau eine wahlweise ausschließliche örtliche Zuständigkeit begründen. Wenn man dem folgt, würde auch die umständliche Regelung der Absätze 11 und 111 des 8 606 ZPO. wesentlich vereinfacht werden können. Es würde genügen zu sagen: Hat ein deutscher oder deutsch gewesener Gatte zur Zeit der Klageerhebung keinen allgemeinen Gerichtsstand im Inland, so kann die Klage bei dem Landgericht erhoben werden, in dessen Bezirk er den letzten inländischen Wohnsitz hatte, und wenn ein solcher fehlt, bei dem Gericht der Hauptstadt seines Heimat­ landes, notfalls in Berlin.

Bei der Formulierung des Abs. IV des § 606 könnte auf die Möglichkeit Rücksicht genommen werden, daß eine Ehe zwischen Ausländern geschieden werden soll16), die zwar nach deutschem Recht, nicht aber nach dem ausländischen gültig ist. Hier kann der aus­ ländische Staat die Scheidung der Ehe, da sie für ihn überhaupt nicht besteht, auch für seine Gerichtsbarkeit nicht in Anspruch nehmen. Infolgedessen kann der Konflikt zwischen inländischer und aus­ ländischer Gerichtsbarkeit, den der Abs. IV vermeiden will, hier gar nicht auftauchen. Mit Recht hat deshalb das Reichsgericht (4. ZS. Urteil vom 16. November 1922, RG. 105, S. 363ff.) für einen solchen Fall das Vorliegen der Voraussetzungen des § 606 Abs. IV verneint. Immerhin würde es sich empfehlen, zur Ver­ meidung von Zweifeln dem Absatz IV eine entsprechende Ausnahme einzufügen, etwa des Inhalts: **) Vgl. zur Ausländerscheidung Reichel, ArchZivPr. 124, 200ff.

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Sind beide Gatten Ausländer, so kann die Scheidungsklage im Inland nur erhoben werden, wenn das inländische Gericht auch nach den Gesetzen des Staates zuständig ist, dem der Ehe­ mann angehört, es sei denn, daß die Ehe zwar nicht nach aus­ ländischem, wohl aber noch deutschem Recht gültig ist.

b) Davon abgesehen, ist nicht zu leugnen, daß die Aufzwingung eines solchen ausschließlichen örtlichen Gerichtsstandes unter Umständen unnötige Härten für die Beteiligten zur Folge hat. Man hat darauf hingewiesen, daß der Scheidungsprozeß in kleinen oder mittleren Städten mancherlei Mißlichkeiten für die soziale Stellung des Mannes und auch die der Frau mit sich bringen kann. Wenn der Herr Bürgermeister oder eine sonstige Notabilität einer kleinen Stadt mit Landgericht sich scheiden läßt, so wird dieser Prozeß einen allgemeinen Gesprächsstoff bilden; und was von ihm durchsickert, kann die Betroffenen unmöglich machen oder ihnen die gedeihliche weitere Wirksamkeit sehr erschweren. Es ist deshalb zu erwägen, ob man nicht von der Ausschließlichkeit des Ehegerichts­ standes eine Ausnahme machen soll, die auf derartige Möglichkeiten Rücksicht nimmt.

Soweit dürfte man selbstverständlich nicht gehen, die zwingende Natur der Vorschrift über die örtliche Zuständigkeit einfach zu be­ seitigen und die Möglichkeit einer Vereinbarung über die Zuständig­ keit anzuerkennen. Dann würden sich die Gatten bald auf die beschäftigsten und scheidungsfreundlichsten Zivilkammern der Groß­ städte konzentrieren.

Wohl aber ist eine Ausnahme erörterungsfähig, wonach Kläger und Beklagter bei dem übergeordneten Oberlandesgericht beantragen können, daß ein anderes Landgericht als das nach der gesetzlichen Zuständigkeitsregel berufene für zuständig erklärt wird, falls zu befürchten ist, daß die Verhandlung des Eheprozesses vor diesem Gericht für die eine oder andere Partei nicht unerhebliche Nachteile mit sich bringen würde. c) Sachlich verfehlt ist endlich — wie schon oben unter I 2c dar­ gelegt wurde — die Beschränkung der Zuständigkeit der Ehe­ gerichte auf die Ehesachen im strengen Sinne personenrechtlicher Streitigkeiten und der Ausschluß aller sonstigen Ansprüche aus dem Eheprozeß, selbst wenn es sich um Rechtsstreitigkeiten handelt, die

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sich aus der angestrebten Rechtsänderung ergeben, wie über die An­ sprüche auf Herausgabe des Vermögens oder auf Unterhalt. Infolgedessen schließt sich an den Scheidungs-, Anfechtungs- oder Nichtigkeitsprozeß mindestens noch ein zweiter Prozeß, der sich mit den Folgen der Ehescheidung oder Nichtigerklärung der Ehe hinsichtlich des Vermögens, der Regelung der Unterhaltspflicht, und auch der Sorge für die Kinder befaßt. Daneben laufen die Anträge auf vorläufige Ordnung der streitigen Beziehungen durch einstweilige Verfügung gemäß § 627 ZPO. Alle derartigen Anordnungen des Gerichts werden heiß um­ stritten durch Schriftsätze, Widerspruch und Berufung. Rechtsan­ walt Geutebrück berichtet (Deutsche Richterzeitung 1928, S. 58), daß in einer von ihm bearbeiteten Ehesache die Zahl derartiger Nebenverfahren schon bis zum Erlaß des Berufungsurteils auf 14 angewachsen war und daß der Ehemann hier überall, wie im Hauptprozeß, die Kosten habe vorschießen müssen!!! Es ist nicht übertrieben, wenn er behauptet, daß ein dem Mittel­ stand angehöriger Ehemann heute durch einen Scheidungsprozeß, gleichviel in welcher Parteirolle er steht und ob er schließlich obsiegt oder nicht, regelmäßig an den Rand des wirtschaftlichen Ruins ge­ bracht wird. Für beide Parteien bedeutet diese Vervielfältigung des Verfahrens eine stets erneute seelische Folter, zum mindesten nötigt sie zu einer ganz unbegründeten Kraft- und Zeitverschwendung. Es empfiehlt sich deshalb, die Zuständigkeit der Ehekammern auch auf die Rechtsstreitigkeiten zu erstrecken, die die vermögens­ rechtlichen Folgen der mit einer Eheklage angestrebten Rechts­ änderungen betreffen, einschließlich der Regelung der Unterhalts­ frage. Gleichzeitig wäre zu bestimmen, daß die Ehekammern in erster Linie auf eine gütliche Regelung dieser Fragen — womöglich vor der Entscheidung des Eheprozesses — hinzuwirken hätten. Dabei könnte und müßte der Einzelrichter wertvolle Dienste leisten. Für die vorläufige Ordnung der den Eheprozeß betreffenden Streitigkeiten durch einstweilige Verfügung ist ja schon heute das Gericht des Eheprozesses (auch das Berufungsgericht) als Gericht der Hauptsache zuständig, obwohl ihm die endgültige Entscheidung über die vermögensrechtlichen Folgen und das Erziehungsrecht ent­ zogen ist. Insoweit müßte eine Konzentration dahin angestrebt werden, daß auch die vorläufige Ordnung der mit dem Eheprozeß zusammenhängenden Fragen über das Getrenntleben, die Unter-

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Haltspflicht und die Sorge für die Person der gemeinschaftlichen minderjährigen Kinder möglichst einheitlich und gütlich unter Mit­ wirkung des Einzelrichters vor der Austragung des eigentlichen Ehe­ prozesses zu erfolgen hätte"). Geutebrück schlägt weitergehend (a. a. O. S. 58) vor, die aus­ schließliche Zuständigkeit des mit der Scheidungsklage be­ faßten Gerichts für alle zwischen den Ehegatten schwebenden vermögensrechtlichen Streitigkeiten auszusprechen, derart daß alle bei anderen Gerichten (ausgenommen in der Revisions­ instanz) schwebenden Verfahren von Amts wegen dorthin abzugeben seien. Das scheint mir zu weit zu gehen. Es dürfte richtiger sein, nur die vermögensrechtlichen Klagen, die sich aus dem Ehe Ver­ hältnis ergeben oder die vermögensrechtlichen Folgen der mit der Eheklage angestrebten Rechtsänderung betreffen, vor das Gericht desEheprozesses zu verweisen. Auch das österreichische Recht erstreckt den Gerichtsstand für Ehesachen nur auf die vermögens­ rechtlichen Klagen aus dem Eheverhältnis, wenn sie mit der Klage auf Scheidung oder Trennung verbunden sind. In diesen Streitig­ keiten entscheidet der Einzelrichter am Gerichtshöfe ohne Rücksicht auf deren SBert1’).

Eine entsprechende Erstreckung der Zuständigkeit der Ehegerichte darüber hinaus auch auf die Streitigkeiten über die Sorge für die Kinder möchte ich dagegen ablehnen. Die Entscheidung über die Gestaltung der Elternrechte und der persönlichen Beziehungen zu den Kindern wird am besten ganz in die Hände des Vormund­ schaftsrichters gelegt, soweit die Parteien sich nicht gütlich ver­ ständigt haben. Gegen die Mitwirkung des Ehegerichts bei einer solchen gütlichen Verständigung besteht kein Bedenken. Doch müßte das Vormundschaftsgericht — wie bereits oben (I 2c) ausgeführt wurde — zu einer Nachprüfung der Vereinbarung und einer etwaigen Abänderung aus besonderen Gründen im Interesse des Kindes befugt bleiben. Selbstverständlich soll dadurch an der Zuständigkeit des Ehe­ gerichts zum Erlaß einer vorläufigen Anordnung nichts geändert “) Dafür auch Geutebrück, Deutsche Richter-Ztg. 1928, 58. ") Vgl. § 76 Jurisdiktionsnorm, § 7a (3) Jurisdiktionsnorm i. d. Fassung der 2. Ger. Nov.; Klein-Engel, der Zivilprozeß Österreichs 1927, S. 110, Anm. 47. 35. DJT.

1.

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werden; doch wäre auch hier in erster Linie eine Verständigung an­ zustreben. Die gütliche Verständigung, die hier vornehmlich emp­ fohlen wird, setzt allerdings eine andere Einstellung der Recht­ sprechung zu den Vereinbarungen der Gatten über die Scheidungs­ folgen voraus. Während das schwedische Recht den Gatten über­ läßt, im Hinblick auf eine beabsichtigte Trennung einen Vertrag über die vermögensrechtlichen Folgen zu schließen, und die gesetzlich ge­ regelten Folgen der Ehescheidung nur mangels einer solchen Einigung eintreten, besteht in der deutschen Rechtsprechung die Neigung, derartige Abkommen grundsätzlich als einen Verstoß gegen die guten Sitten zu behandeln, weil sie die Scheidung erleichtern. Diese Formel ist insofern gefährlich, als sie dazu verführen muß, derartigen Abkommen — auch ohne Rücksicht auf ihren besonderen, anstößigen Inhalt — die Wirksamkeit ohne weiteres deshalb abzusprechen, weil sie die Rechtsfolgen der Scheidung abweichend vom Gesetz regeln. Ich habe mich bereits in meinem Familienrecht (S. 175ff.) da­ gegen gewandt, alle scheidungserleichternden Abkommen in einen Topf zu werfen. Eine gewisse Erleichterung der Scheidung bedeutet schon der Abschluß eines solchen Abkommens an sich, ganz abgesehen von seinem besonderen Inhalt; denn die Folgen der Scheidung werden übersehbar und weiteren Prozessen wird vorgebeugt. Das kann keinenfalls genügen, um einem Abkommen über die Scheidung den Stempel der Unsittlichkeit aufzudrücken. An der Vermeidung unnötiger Prozesse hat der Staat selbst ein Interesse. Die Recht­ sprechung hat deshalb keinen Anlaß, solchen Abkommen entgegen­ zuwirken, wenn es sich um eine anständige, redliche Auseinander­ setzung handelt, — wenn also ihr näherer Inhalt keine Bedenken erregt, namentlich keinen Anreiz zur Scheidung schafft. Als nichtig wird man nur diejenigen scheidungserleichternden Abkommen be­ zeichnen dürfen, die die Scheidung unzulässig erleichtern, die einen besonderen Antrieb zur Scheidung bedeuten, indem sie z. B. einen Gatten verpflichten, einen erdichteten Scheidungsgrund vorzubringen oder einen Scheidungsgrund (z. B. einen Ehebruch) zu setzen oder eine Einrede, die das Erlöschen des Scheidungsrechts dartut, nicht vorzubringen, oder indem sie an ein die Scheidung beförderndes Verhalten besondere Vorteile knüpfen, etwa für den Fall der Alleinschuldigerklärung des Mannes, einen Verzicht der

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Frau auf Unterhaltsansprüche und die Übernahme der Kosten des Scheidungsprozesses durch sie enthalten. Schlechthin unsittlich werden derartige Abmachungen sein, wenn sich ein Teil für sein Verhalten im Scheidungsprozeß eine besondere Gegenleistung ver­ sprechen, wenn er sich seine „Mitwirkung" ab kaufen läßt (vgl. RG. IW. 1916, S. 573ff.). Alle Abkommen über die Scheidungsfolgen, die vor der Ein­ leitung des Scheidungsprozesses getroffen werden, bedürfen selbst­ verständlich einer scharfen Prüfung unter diesen Gesichtspunkten, zumal sie vielfach ohne Mitwirkung des Juristen abgeschlossen werden. Dagegen dürfte ihr Abschluß nach Einleitung des Scheidungspro­ zesses unter Mitwirkung des seiner Verantwortung bewußten Einzel­ richters grundsätzlich unbedenklich sein und zu einer Reinigung und Entgiftung des Scheidungsverfahrens wesentlich beitragen. Ganz mit Recht mehren sich deshalb auch neuerdings die Stimmen für die grundsätzliche Anerkennung einer gütlichen Vereinbarung über die Scheidungsfolgen. Geutebrück spricht sich u. a. (Deutsche Richt.-Ztg. 1928, S. 58) offen für eine Begünstigung solcher Vereinbarungen aus und betont, daß die in der Rechtsprechung immer noch festgehaltene Auffassung von der Unsittlichkeit solcher die Scheidung erleichternden Abmachungen nach seiner festen Über­ zeugung nicht mehr der „Anschauung aller billig und gerecht Denken­ den" entspricht.

III. Änderungen des Eheverfahrens in einzelnen Punkten. Wenn man den heutigen Eheprozeß für die Ehesachen außer der Herstellungsklage grundsätzlich beibehält, bleibt als letzte Auf­ gabe noch, die einzelnen Verfahrensvorschriften auf ihre Zweckmäßigkeit durchzuprüfen, namentlich nach der Richtung, ob sie nicht eine unnötige Verlängerung des Verfahrens zur Folge haben. Um falsche Verallgemeinerungen zu vermeiden, empfiehlt es sich dabei, die einzelnen Klagen gesondert ins Auge zu fassen.

1. Scheidungsprozeß. a) Es ist bereits oben (unter BI, 3a) dargelegt worden, daß es ratsam ist, die Vorschriften über den obligatorischen Sühne­ versuch (§ 608 ZPO.) zu streichen und die Einrichtung desEinzel28*

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richters für eine schmerzlosere und bessere Erledigung der Schei­ dungsprozesse fruchtbar zu machen. Hier kann es sich nur noch darum handeln, kurz auf die Einzel­ ausgestaltung einzugehen. Wer eine Scheidungsklage erheben oder die Grundlosigkeit der Weigerung des anderen Teiles zur Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft feststellen lassen will, müßte bei dem ange­ gangenen Landgericht die Anberaumung eines Sühnetermins vor einem vom Vorsitzenden zu bestimmenden Mitglied des Gerichtes beantragen. Die trotzdem sofort erhobene Klage wäre entsprechend § 500 a I i ZPO. als Sühneantrag zu behandeln. Der Sühneantrag müßte schriftlich eingereicht oder zu Protokoll des Urkundsbeamten erklärt werden und angeben, auf welche Gründe die Scheidungs- oder Feststellungsklage gestützt werden soll, sowie die Beweismittel bezeichnen. Der Antrag wäre dem Gegner schriftlich zuzustellen. Dieser wäre aufzufordern, etwaige gegen die Behauptungen des Antragstellers vorzubringende Einwendungen und Beweismittel dem Gericht binnen bestimmter Frist mitzuteilen. Nach Eingang oder Ablauf der Frist hätte der Vorsitzende ein Gerichtsmitglied mit der Abhaltung des Sühnetermins zu betrauen. In dem Termin hätte der Sühnerichter die Aussöhnung der Parteien zu versuchen. Falls keine Aussöhnung zustande kommen würde, hätte er zunächst eine gütliche Verständigung über die vorläufige Ordnung des etwaigen Getrenntlebens, der gegen­ seitigen Unterhaltspflicht und der Verteilung der Sorge für die Kinder anzuregen, sowie eine gütliche Einigung über die endgültigen Folgen der mit der Eheklage angestrebten Rechtsänderungen. Erst nach dem Mißlingen eines derartigen Verständigungsversuches dürfte in die Streitverhandlung eingetreten werden. Der Güte­ antrag hätte mit den Änderungen und Ergänzungen, die sich in der Sühneverhandlung ergeben würden, als Klageschrift zu gelten, vgl. § 499e I ZPO. Gegen die Übertragung des Entscheidungsrechtes über die vor­ genannten Streitigkeiten — abgesehen von der eigentlichen Ehe­ klage und der endgültigen Ordnung des Sorgerechts für die Kinder — an den Einzelrichter bestehen m. E. keinerlei Bedenken. Ich möchte aber noch einen Schritt weitergehen und mich auch für die Über-

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tragung des Entscheidungsrechtes über den Eheprozeß selbst an den Einzelrichter aussprechen, wenn beide Parteien sich damit einverstanden erklären. Warum man sie dazu zwingen soll, ihre Streitigkeiten dem Kollegialgericht vortragen zu lassen, wenn sie dem Einzelrichter ein derartiges Vertrauen entgegenbringen, vermag ich nicht einzusehen. § 349 Abs. III ZPO. wäre also auf die Scheidungsprozesse auszudehnen. b) Das Verbot der Klagenverbindung des § 615 ZPO. wäre entsprechend meinen Vorschlägen zu mildern zugunsten der Rechtsstreitigkeiten, die die vermögensrechtlichen Folgen der Schei­ dung, einschließlich der Unterhaltspflicht, betreffen. Für diese Anhangsprozesse dürften die Besonderheiten des Eheverfahrens selbstverständlich nicht maßgebend sein. c) An der weitgehenden Zulassung der Klageänderung und -Häufung durch § 614 ZPO. ist festzuhalten, da sie unnötige Hemm­ nisse einer einheitlichen Erledigung sämtlicher Scheidungsgründe hinwegräumt. Aus gleichem Grunde ist es auch zu billigen, daß § 626 ZPO. dem OLG. die Zurückweisung verspäteten Vorbringens in der Berufungsinstanz wegen „grober Nachlässigkeit" versagt. Dagegen geht meiner Überzeugung nach der Zwang zum Vor­ bringen aller in Betracht kommenden Scheidungsgründe, den die Präklusionsvorschrift des § 616 ZPO. ausübt, zu weit. § 616 ZPO. führt, wie schon betont wurde, zu einer unnötigen Vergiftung der Scheidungsprozesse, indem die Parteien durch das Gesetz ge­ zwungen werden, alle nur denkbaren belastenden Tatsachen gegen den Gegner zusammenzutragen und geltend zu machen. Der Ge­ danke, der den Gesetzgeber zu dieser Vorschrift veranlaßt hat, nämlich einer Vervielfältigung der Scheidungsprozesse entgegenzuwirken, ist an sich billigenswert, aber dieses Ziel wird meiner Überzeugung nach mit zu großen Opfern erstrebt. Deshalb scheint es richtig, die Vorschrift des § 616 ZPO. preis zu geben. Wird die Ehe auf Grund der vorgebrachten Tatsachen ge­ schieden, ist ein neuer Scheidungsprozeß sowieso nicht zu erwarten. Wird die Scheidungsklage dagegen abgewiesen, so werden sich die nicht vorgebrachten Scheidungsgründe regelmäßig durch weiteres Zusammenleben der Ehegatten oder Fristablauf erledigendes. ie) In diesem Zusammenhang ist der Vorschlag Geutebrücks (Deutsche Richterzeitung 1928, 58) erwägenswert, eine zeitliche Schranke für das

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cl) Zu einer Verlängerung der Scheidungsprozesse trägt auch der Grundsatz bei, den man aus 614—616 abgeleitet hat, daß über den gesamten Streitstoff nur einheitlich entschieden werden dürfe. In der bekannten Entscheidung des IV. Zivilsenats des Reichs­ gerichts vom 17. November 1904 (RG. Bd. 58, S. 307ff.) wird dieser Grundsatz klar dahin formuliert, daß die Ehetrennung nur ausgesprochen werden darf, wenn sämtliche der Entscheidung be­ dürfenden Streifragen spruchreif sind; mit Rücksicht darauf wird die Zulässigkeit eines Teilurteils verneint. Dieser Grundsatz hat die nachteilige Folge, daß der Scheidungs­ prozeß sich u. U., obwohl gegenüber einer Partei bereits feststeht, daß sie einen absoluten Scheidungsgrund gegeben hat, noch lange weiter schleppt, weil das Verschulden des anderen Teiles noch nicht hinreichend geklärt ist. Hier dürfte sich der Erlaß einer Bestimmung empfehlen, wonach ein Teilurteil über die Klage oder die Widerklage ergehen kann, sobald feststeht, daß entweder der Kläger oder der Beklagte einen absoluten Scheidungsgrund gegeben hat. In dem Urteil wäre die Entscheidung über die beantragte Schuldigerklärung des anderen Teiles vorzubehalten. Das Reichsgericht weist in seinem Urteil vom 17. November 1904 auf die Unzuträglichkeiten hin, die sich aus einem derartigen Vor­ behaltsurteil ergeben könnten. Wenn etwa beide Gatten die Schei­ dung wegen Ehebruchs des anderen beantragten, so könnte, wenn auf den Antrag des einen die Ehe durch Teilurteil geschieden würde, nach Eintritt der Rechtskraft dieses Teilurteils, der andere die Ehe mit derjenigen Person, die sein Mitschuldiger sein solle, schließen, ohne daß die Bestimmung des § 1312 BGB. in Betracht kommen würde. Dieser Möglichkeit müßte allerdings ein Riegel vorgeschoben werden. Falls man das vorgeschlagene Teilurteil anerkennen würde, müßte § 1312 einen Zusatz erhalten und etwa folgender­ maßen gefaßt werden: Eine Ehe darf nicht geschlossen werden zwischen einem wegen Ehebruchs geschiedenen Ehegatten und demjenigen, mit welchem Vorbringen, von Vorfällen zu ziehen, die mehr als drei Jahre vor der Er­ hebung der Scheidungsklage oder der Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft liegen.

Behandlung von Ehestreitsachen tmd) Zuständigkeit und Verfahren.

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der geschiedene Ehegatte den Ehebruch begangen hat, wenn der Ehebruch in dem Scheidungsurteil als Grund der Scheidung fest­ gestellt ist. Gleiches gilt, wenn die Ehe zwar nicht wegen dieses Ehebruchs geschieden ist, dieser Ehebruch aber auf Grund eines Vorbehalts des Scheidungsurteils hinterher noch als Scheidungs­ grund festgestellt worden ist, oder die im Scheidungsurteil vorbe­ haltene Entscheidung darüber noch nicht ergangen ist.

e) Zu einer Verschleppung der Scheidungsprozesse führt in vielen Fällen die Vorschrift des § 618 II ZPO., wonach bei Nichterscheinen des Beklagten im ersten Verhandlungstermin erst in einem neuen, auf Antrag des Klägers zu bestimmenden Termin verhandelt werden kann. Da nach den Grundsätzen des Anwaltsprozesses der zwar persönlich erschienene, aber nicht durch einen Anwalt vertretene Beklagte als „nichterschienen" gilt, kann nicht einmal in den Fällen, wo der Beklagte mit der Verhandlung und der Beweisaufnahme einverstanden ist, verhandelt werden. Deshalb hat Marie Munk neuerdings wieder in der deutschen Juristen-Zeitung ") angeregt, diese Bestimmung zu streichen. Sie meint, die Bestimmung möge dann ihre Berechtigung haben, wenn der Beklagte sich erst noch darüber schlüssig werden wolle, ob er Einwendungen geltend machen oder Widerklage erheben wollewenn er aber mit der Scheidung aus alleinigem Verschulden ein­ verstanden sei, weil er wisse, daß er allein an der Ehezerrüttung schuld sei, oder weil sich die Parteien darüber geeignet hätten, so sei nicht einzusehen, aus welchem Grunde vor der Beweisnahme erst ein neuer Verhandlungstermin anberaumt, der Beklagte neu ge­ laden werden und dadurch der Prozeß um mindestens 3—4 Wochen verzögert werden solle. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, daß bereits bei der Be­ ratung der Novelle von 1898 der Antrag gestellt worden ist, den dem heutigen Absatz II des § 618 entsprechenden Abs. I des früheren § 578 ZPO. zu streichen. Dieser Antrag ist aber von der Kommission abgelehnt worden, weil die Bestimmung sich als Ersatz für den dem Eheverfahren unbekannten Einspruch darstelle und bei der Be­ deutung der Ehescheidung auch angemessen erscheine. In der Tat wäre es mißlich, wenn bei einem Versäumnisfall ohne Rücksicht auf den Beklagten in eine einseitige Verhandlung

19) Deutsche Juristenzeitung 1926, Sp. 1683.

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auf Antrag des Klägers eingetreten werden könnte. Keinerlei Be­ denken hätte ich aber, wenn die von manchen Ehekammern geübte, dem geltenden Recht zweifellos widersprechende Praxis eine ge­ setzliche Anerkennung fände, wonach § 618 II ZPO. nur ein Ver­ tagungsrecht des Beklagten festsetzt, auf das der im ersten Verhand­ lungstermin persönlich erschienene Beklagte verzichten kann. Damit würde wenigstens erreicht, daß im Einverständnis mit dem im ersten Termin erschienenen Beklagten — auch ohne daß dieser bereits durch einen Rechtsanwalt vertreten wäre — die mitgebrachten Zeugen vernommen werden dürften. Kein Bedenken besteht auch schon heute dagegen, daß gemäß § 272b ZPO. zur zweiten münd­ lichen Verhandlung bereits die in der Klage benannten Zeugen geladen, die erforderlichen Auskünfte eingezogen und das persön­ liche Erscheinen der Parteien angeordnet wird. Ob angesichts dieser Möglichkeit die Vorschrift des Abs. 2 des § 618 ZPO. so unerträglich ist, erscheint mir zweifelhaft. Falls man sich zur Streichung entschließen sollte, müßte jedenfalls für den Fall der Versäumnis Vorsorge getroffen werden. f) Dagegen möchte ich die Bestimmungen des § 621 ZPO. über die Aussetzungsbefugnis des Gerichts beibehalten wissen. Falls die eingehendere Erforschung des Sachverhalts durch den Einzel­ richter entsprechend meinen Vorschlägen verwirklicht werden sollte, würde dem Gericht ein sachlich besser begründetes Urteil darüber erleichtert werden, ob die Möglichkeit einer Aussöhnung besteht. Die Vorschrift des § 621 ZPO. über die Aussetzung des Ver­ fahrens bei der Herstellungsklage müßte selbstverständlich ge­ strichen werden, wenn das Herstellungsverlangen in das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit verwiesen würde.

g) Der Vorschlag von Marie Munk2"), die Öffentlichkeit in Ehesachen kraft Gesetzes auszuschließen, scheint mir weniger beifallswert. Ohne dringende Not sollte man an dem Palladium der Öffentlichkeit nicht rütteln. M. E. genügt die gegenwärtige Regelung in §§ 170ff. GVG., wonach jeder Partei das Recht zu­ steht, den Ausschluß der Öffentlichkeit zu beantragen — zumal da das Gericht von sich aus nach freiem Ermessen die Öffentlichkeit ausschließen kann, wenn eine Gefährdung der Sittlichkeit zu be­ sorgen ist. 20) Marie Munk, Vorschläge, S. 55 u. Deutsche JurZ.1926, S.1684.

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h) Die Belastung des Reichsgerichts mit den Revisionen in Ehesachen ist so groß, daß die Frage nach einer Entlastung unseres höchsten Gerichtshofes in dieser Hinsicht nicht zur Ruhe kommen sann21). Der im Februar 1928 unternommene Versuch des Reichs­ justizministeriums, die unter A III, 11 wiedergegebene Bestimmung vom 15. Januar 1924 zu neuem Leben zu erwecken, ist zwar ge­ scheitert. Doch ist wohl mit einer Erneuerung des Versuchs nach Zusammentritt des neuen Reichstags zu rechnen. Grundsätzlich dürfte die einschränkende Bestimmung des Pro­ visoriums der Novelle vom 15. Januar 1924 insoweit unbedenklich sein, als die Revision auf die Fälle beschränkt wird, wo ein Ober­ landesgericht von einer Entscheidung des Reichsgerichts, oder, so­ weit eine solche nicht ergangen ist, von der Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts abweichen will oder wenn sonst von der Zu­ lassung der Revision die Klärung einer Rechtsfrage von grund­ sätzlicher Bedeutung zu erwarten ist. Diese Formel wird der Aufgabe des Reichsgerichts, die Rechts­ einheit zu wahren, durchaus gerecht. Der Inhalt und die Tragweite der bürgerlichrechtlichen Vorschriften über die Ehescheidung ist durch so zahlreiche Rechtssprüche unseres höchsten Gerichtes in den letzten Jahrzehnten geklärt worden, daß wir hier von einem ge­ sicherten Rechtszustand sprechen dürfen. Rechtsanwalt Geutebrück beim Reichsgericht bestätigt (Deutsche Richterzeitung 1928, 60) aus seiner Erfahrung, daß heute grundsätzliche Rechtsfragen in den Scheidungsprozessen nur höchst selten zur Entscheidung kommen.

Nach einer Richtung habe ich freilich gegen das Wiederaufleben der Bestimmung der Novelle vom 15. Januar 1924 Bedenken. Sie ergeben sich daraus, daß die fragliche Vorschrift den judex a quo über die Zulässigkeit der Revision gegen sein eigenes Urteil ent­ scheiden läßt. Das Bestreben der Berufungsgerichte ihre Urteile für die Revision „hieb- und stichfest" zu machen, ist ein durchaus natürliches. Es könnte unter Umständen die Bildung der irrigen Überzeugung unbewußt beeinflussen, daß das Urteil sich auf der Linie der bisherigen Rechtssprechung halte oder daß der strittigen Rechtsfrage keine grundsätzliche Bedeutung zukomme. 21) 1927 sind beim Reichsgericht 671 Revisionen in Ehesachen und 1268 Armenrechtsanträge neu eingegangen. .

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Mir scheint es deshalb richtiger, die Entscheidung über die Zu­ lässigkeit der Revision dem judex ad quem anzuvertrauen. Aber diese Entscheidung braucht nicht notwendig auf Grund kontradikto­ rischer Verhandlung in Form eines Urteils zu geschehen. Am richtigsten wäre es, wenn man dem Reichsgericht selbst die Vorprüfung der fraglichen Urteile der Oberlandesgerichte unter den Gesichtspunkten der Verordnung vom 15. Januar 1924 zur Pflicht machen würde mit der Maßgabe, daß das Reichsgericht bei Verneinung der Voraussetzungen der Verordnung die Weiter­ verfolgung der Revision für unzulässig zu erklären hätte. Ein solches Kompromiß dürfte vielleicht auch die Zustimmung der Gegner einer Einschränkung der Revision in Ehesachen gewinnen, weil die Nachprüfung durch das Reichsgericht in jedem einzelnen Falle sicher gestellt wäre. Eine andere Möglichkeit der Einschränkung der Revisionen würde sich ergeben, wenn man die Revision der Scheidungsurteile im Nahmen des § 1568 BGB. dahin begrenzen würde, daß die Fest­ stellung der Schwere der Pflichtverletzung, der Zerrüttung der Ehe und der Nichtzumutbarkeit ihrer Fortsetzung der Nachprüfung durch das Revisionsgericht ganz allgemein entzogen würde. Dafür läßt sich anführen, daß es sich hier um rein tatsächliche Würdigungen handelt, eine Gefährdung der Rechtseinheit also aus­ geschlossen ist. Ich persönlich neige freilich mehr zu der erstvorge­ schlagenen Formel, wonach das Revisionsgericht im Beschlußverfahren die Weiterverfolgung der Revision für unzulässig zu erklären hat, falls das Urteil des Oberlandesgerichts nicht von einer Ent­ scheidung des Reichsgerichts oder eines anderen Oberlandesgerichts abweicht oder, falls keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden ist. Diese Formel behandelt alle Ehesachen gleich, während die an zweiter Stelle erörterte Möglichkeit als Ausnahmerecht zuungunsten gewisser und im praktischen Leben am häufigsten vorkommender Fragen bei den durch die Versagung der Nachprüfung Betroffenen leicht das Gefühl der Mißstimmung wenn nicht Erbitterung aus­ lösen könnte.

2. Anfechtungsprozeß. Die Anfechtungsklage steht in einem gewissen Gegensatz zur Nichtigkeits- und Feststellungsklage. Sie wird vom Gesetzgeber in

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mehreren Bestimmungen der Scheidungsklage gleichgestellt — und das mit gutem Grund. Denn es handelt sich bei ihr um einen Behelf, der im Interesse der Ehegatten selbst gegeben ist, während bei der Nichtigkeits- und Ehefeststellungsklage durchaus das öffentliche Interesse im Vordergrund steht. Deshalb wird man die eben für den Scheidungsprozeß angeregten Änderungsvorschläge auch für die Anfechtungsklage grundsätzlich als empfehlenswert bezeichnen können, soweit sich nicht aus ihrer Eigenart Abweichungen rechtfertigen. i ) Ein Sühneversuch kommt bei der Anfechtungsklage nicht in Betracht. b) Dagegen dürfte das Verbot der Klagenverbindung (§ 615 ZPO.) auch hier zugunsten der sog. Anhangsprozesse zu mildern sein. c) Was die Präklusionsvorschrift des § 616 ZPO. angeht, so kann m. E. auch bei der Anfechtungsklage auf sie verzichtet werden. Die Partei, die die Anfechtungsklage erhebt, wird schon aus eigenem Interesse alle ihr bekannten Anfechtungsgründe im Prozeß geltend machen, falls sie an der Tragfähigkeit des in erster Linie vorgebrachten Grundes Zweifel hegt. Für den seltenen Fall, daß ein bekannter Grund mit der Klage nicht geltend gemacht wird, genügt m. E. vollkommen, eine Vorschrift, die die Zurückweisung eines Grundes gestattet, der nur zu dem Zweck zurückgehalten worden ist, um eine erneute gerichtliche Entscheidung zu sichern. d) Für die Zulassung eines Teilurteils scheint mir bei der An­ fechtungsklage kein Bedürfnis zu bestehen. e) Ebenso kann die Vorschrift des § 618 Abs. 11 ZPO. hier bei­ behalten werden. f) Für die Öffentlichkeit gilt Gleiches wie für die Scheidungsklage. g) Eine Entlastung des Reichsgerichts von Revisionen in An­ fechtungsprozessen kann nicht in Frage kommen.

3. Nichtigkeits- und Ehefeststellungsklage. Hier sehe ich — abgesehen von der Milderung des Klagever­ bindungsverbotes hinsichtlich der Anhangsprozesse bei Nichtigkeits­ klagen — keinen Anlaß zur Änderung der gesetzlichen Vorschriften.

XIII.

Gutachten des Herrn Rechtsanwalts Dr. Max Alsberg, Berlin über die Frage:

Mit welchen Hauptzielen wird die Reform des Straf­ verfahrens in Ausficht zu nehmen sein? Die Aufgabe ist, ein Gutachten zu erstatten, das die Verhand­ lungen des Juristentages über die Notwendigkeit einer Reform des Strafprozesses vorbereiten soll. Daraus ergibt sich eine Begrenzung des Themas, und zwar nach bestimmter Richtung. Es ist nicht möglich, innerhalb der Zeitspanne, die dem Juristentag für die Verhandlung über das bezeichnete Thema zur Verfügung steht, zu allen Reformsragen Stellung zu nehmen. Kein Gesetz ist so reformbedürftig wie die Strafprozeßordnung. Zu keinem Gesetz ist eine so umfangreiche Reformliteratur erschienen wie zur Straf­ prozeßordnung. Vor allem: bei keinem Gesetz ist das Verhältnis von dogmatischer Literatur und Reformliteratur ein ähnliches wie bei der Strafprozeßordnung. Wir besitzen mehr Abhandlungen und Monographien zur Reform des Strafprozesses als zur wissenschaft­ lichen Ergründung der einzelnen Institutionen. Selbst das, was namhafte Rechtslehrer zum Strafprozeß beigesteuert haben, berührt denn auch in der Hauptsache Fragen der Reform'). Verschafft man sich über die vorliegende Reformliteratur einen Überblick, so wird man bald gewahr, daß es fast ausschließlich die*) Über die Gründe des ausfälligen Verhältnisses der Reformliteratur zur dogmatischen Literatur zum Strafprozeß habe ich mich gelegentlich der Besprechung von Mannheims Revision in IW. 1926, S. 2153, ge­ äußert.

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selben Fragen sind, die immer wieder behandelt worden sind, und daß die Beweisgründe und die Gesichtspunkte, die die ein­ zelnen Autoren anführen, sich, was nicht ausbleiben konnte, oft sehr stark wiederholen. Vor allem aber fällt auf, daß der Kernpunkt des Strafprozesses, die Schuld- und Straffestsetzung in der Haupt­ verhandlung, geradezu regelmäßig unberührt bleibt. So konnte denn auch der Strafprozeßentwurf von 1908 ein Reformbedürfnis der Vorschriften über die Hauptverhandlung ausdrücklich aus­ schließen. Der der Verfassung gebenden deutschen Nationalver­ sammlung im Jahre 1920 vorgelegte Entwurf hat zwar erklärt, in dieser Beziehung andere Wege zu gehen und für sich (s. Be­ gründung S. 21) in Anspruch genommen, daß er die Vorschriften über die Hauptverhandlung „wesentlich umgestaltet" habe. Aber eine tiefgreifende Kenntnis des geltenden Rechts und vor allem seiner Praxis läßt dieser Ausspruch nicht erkennen. Denn was dieser Entwurf an der Hauptverhandlung ändern wollte, war herzlich wenig, und dieses Wenige ließ sich zudem praktisch nicht durchführen. Ich komme darauf noch zurück. Beginnen wir mit der Hauptverhandlung. Was sie sein soll, was sie ist. Da die vorangehenden Verfahrensabschnitte sie nur vorbereiten sollen, darf von ihr an erster Stelle gesprochen werden. Von der Lösung, die wir für die Hauptverhandlung finden, wird es wesentlich abhängen, wie ihre Vorbereitung zu gestalten ist.

Seiner Idee nach muß einem akkusatorischen Strafprozeß eine inquisitorische Gestaltung der Hauptverhandlung fremd sein. Nicht auf Grund des Akteninhalts soll der Richter der Hauptverhandlung entscheiden, sondern allein auf Grund des Eindrucks, den er un­ mittelbar aus dem Beweismaterial schöpft, das ihm mündlich vorzuführen ist, und das mündlich vor ihm verhandelt werden muß. Aber der Richter, insbesondere der Vorsitzende muß den Akten­ inhalt kennen, was auch vom Reichsgericht bei den verschiedensten Gelegenheiten betont worden ist2). Er muß ihn schon deshalb kennen, weil er nur so die Überführung des Angeklagten in der Hauptverhandlung richtig leiten kann. Man kann der Theorie die Entscheidung überlassen, ob der Staatsanwalt oder das Gericht beweispflichtig ist. Für die praktische Handhabung des Schuld-) (Unveröff.) Urteile 1. D. 390 26 v. 19. Oktober 1926; 1. D. 527. 26 v. 25. Januar 1927; 3. D. 104. 28 v. 12. März 1928.

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beweises — und sie interessiert uns hier allein — spielt jedenfalls das Gericht bzw. sein Borsitzender die ausschlaggebende Rolle. In seine Hand ist die Vernehmung des Angeklagten gelegt und zwar nach der herrschenden Meinung: als eine jeder Beanstandung durch die Prozeßbeteiligten entrückte und als eine ausschließliche. Staatsanwalt und Verteidiger wird das direkte Fragerecht an den Angeklagten verwehrt. Billigte man es ihnen aber auch zu, so würde Wesentliches dadurch doch nicht geändert. Nicht nur, weil die Praxis es zuläßt, daß der Vorsitzende auf Grund seines Leitungs­ rechts bei jeder ihm passenden Gelegenheit die Befragung der Prozeßbeteiligten unterbrechen kann, um im Sinne seiner Gedanken­ gänge Fragen anzuschließen, sondern vor allem deshalb, weil das Bild einer abgeschlossenen Vernehmung durch Fragen zu ändern oder auch nur zu ergänzen gerade da von höchst problematischem Wert ist, wo, wie das gerade bei der Vernehmung des Angeklagten der Fall ist, für die Bewertung der Glaubwürdigkeit die Sponta­ neität der Erklärung besondere Bedeutung hat und weil Richtig­ stellungen oder auch nur Ergänzungen zu bereits Gesagtem meist mit einem gewissen, oft sogar recht starken Mißtrauen entgegen­ genommen werden. Nun könnte es scheinen, als ob es gerade in besonderem Maße die Objektivität der Wahrheitsermittlung sichere, daß die Überführung des Angeklagten nicht in die Hände einer Partei, des Staatsanwalts, sondern des Richters gelegt ist. Denn man kann geltend machen, daß es ihm in keiner Weise darum zu tun sei, einen Angeklagten, dessen Schuld nicht voll erwiesen sei, zur Verurteilung zu bringen, und daß gerade seine Unabhängig­ keit, die der Staatsanwalt nicht besitzt, dem Angeklagten eine be­ sondere Sicherheit biete. Das ist höchstens insoweit richtig, als persönlicher Ehrgeiz, dessen sich übrigens die wenigsten Menschen klar bewußt sind, den Vorsitzenden nicht beeinflussen sollte, eine Anklage, weil sie einmal erhoben ist, als eine zu Recht erhobene zu erweisen. Denn für die Anklage ist der Vorsitzende nicht verant­ wortlich. Aber die Idee, daß es dem Ansehen der Justiz nicht förder­ lich ist, Unschuldige, wenn auch nur mit einer Anklage, verfolgt zu haben, kann auch ihn beeindrucken, und so seiner Objektivität ab­ träglich sein. Niemand, der klar sehen kann und freimütig zu sprechen gewillt ist, darf das leugnen. Statt vieler Beweisgründe nur: der Hinweis auf die sich immer wiederholenden Fälle, wo einem freigesprochenen Angeklagten bei der Urteilsbegründung vor Augen

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geführt wird, wie wenig seine Freisprechung gegen die Notwendig­ keit einer Klärung seiner Angelegenheit im Strafverfahren spreche. Aber viel wichtiger ist etwas anderes. Die Aufgabe, die dem Vorsitzenden in der Hauptverhandlung obliegt, ist denkbarst un­ geeignet, ein Urteil zutage zu fördern, das arlsschließlich aus dem Eindruck der Hauptverhandlung geschöpft ist, sich erst in ihr ge­ bildet hat und unbeeinflußt von Stimmungen geblieben ist, wie sie jeden Kämpfer berühren. Der Vorsitzende steht nun einmal in dem Kampf, der sich in loro abspielt, an vorderster Stelle. Es ist ein Strafrichter (Rumpf, „Der Strafrichter", !, S. 27), aus dessen Feder die beste Schilderung dieser Aufgabe des Vorsitzenden stammt. Nicht als Kritik, sondern als Anweisung, wie verfahren werden soll. Nachdem er den Angeklagten mit einem „umstellten Wild" verglichen hat, fixiert er die Aufgabe des Verhandlungsleiters gegenüber dem Angeklagten dahin, daß „es meistens gilt, ihn so eng mit der Tat in eine klare Situation zu verstricken, daß die nunmehr unabhängig von seiner Sachdarstellung einsetzende oder doch wenig­ stens nur das Kontrollierbare von dieser Sachdarstellung mit­ benutzende Deutung nun beginnen kann und zu entscheiden hat, ob es alles in allem zum Schuldspruch langt". Man kann Rumpf nicht widersprechen, daß diese Aufgabe in der Hauptverhandlung von dem, der die Vernehmung des Angeklagten zu leiten hat, zu erfüllen ist. Nur muß man sich darüber klar sein, daß der Angeklagte in dem, der ihm gegenüber so verfährt, nicht den unparteiischen Richter sehen wird, und man darf sich deshalb auch nicht darüber wundern, daß Personen, die vor Gericht Neulinge sind, den Vor­ sitzenden, wie man das immer wieder erleben muß, mit „Herr Staats­ anwalt" anreden. Die Kunst der Phraseologie mag in einzelnen Fällen den täuschenden Eindruck hervorrufen, daß ein Vorsitzender, der auf Grund des Akteninhalts den Angeklagten für schuldig hält, sich überhaupt noch keine Meinung gebildet hat. Aber diese Kunst ist eine seltene und vielleicht nicht einmal, da sie doch nur eine Larve sein kann, besonders hoch zu bewerten. Und nun beachte man, daß dem Vorsitzenden einer Hauptverhandlung doch nur aus­ nahmsweise Akten vorliegen dürften, die nicht mit einiger Wahr­ scheinlichkeit auf die Schuld des Angeklagten Hinweisen. Denn auf solche Akten hin kann in der Regel nur per nefas das Haupt­ verfahren eröffnet werden. Das praktische Ergebnis ist also: der Hauptangriff gegen den Angeklagten geht von demjenigen Funk-

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tionär der Rechtspflege aus, der der Unparteiischste, Unvorein­ genommenste sein und als solcher auch dem Angeklagten erscheinen soll. Er ist der dialektische Gegenspieler des Angeklagten bei seiner Vernehmung. Er hat das Recht, ihm jederzeit ins Wort zu fallen, um ihn „festzunageln". Seiner Kritik und seinen Anzweiflungen hat sich der Angeklagte mit Respekt zu beugen. Aus dem Ton, der ihm gegenüber gewählt ist, darf der Angeklagte nicht das Recht herleiten, in gleichem Ton zu antworten. Nicht der, der auf dem Parkett des Gerichtssaals unerfahren ist und dessen Existenz auf dem Spiele steht, darf in Wallung geraten, in der Hitze des Gefechts vielleicht auch einmal zu einem scharfen Wort der Abwehr greifen. Der Gegenspieler darf es. Jedenfalls kann keine Rede davon sein, daß in der praktischen Handhabung die Vernehmung des Angeklagten nur dem Zweck diene — wie das die Rechtslehre immer wieder betont —3),4 *„die 6 gegen den Angeklagten vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen". Wir müssen vielmehr sagen und dürfen uns dabei wört­ lich einem Richter, Henschels, anschließen, daß „der Sache nach noch heute das Jnquisitorium des gemeinrechtlichen Untersuchungs­ prozesses im wesentlichen unverändert fortbesteht". Deshalb hatte Friedrich Stein3) nur zu sehr recht, als er das Verhör als den „peinlichsten Teil des Verfahrens" bezeichnete und ihm die Schuld dafür aufbürdete, „wenn das Volk in dem Glauben lebt, daß der deutsche Richter dem Angeklagten nicht unvoreingenommen gegen­ überstehe". Diesen Tatsachen gegenüber versagt völlig das neuer­ dings immer wieder angepriesene Mittel3), „Mißstände" bei der Vernehmung des Angeklagten durch eine bessere kriminalpsycho­ logische Schulung der Richter abzustellen. Als ob sich eine fest­ begründete Praxis durch die Theorie entwurzeln ließe! Besonders in einem Fall, in dem psychologisch alle Bedingungen fehlen, sich

3) S. Reichsgerichtsrat Rosenberg, Verhandlungen des 29. Ju­ ristentages 1908, Bd. I S. 12; Wach, Struktur des Strafprozesses S. 20; Rosenfeld, Der Reichsstrafprozeß, 4. Aufl. S. 122. 4) Vernehmung des Beschuldigten S. 50. 6) Zur Justizreform S. 30. 6) Besonders von Hellwig, Psychologie und Vernehmungstechnik, Berlin 1927 und von Liepmann, Die Psychologie der Vernehmung des Angeklagten, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 44 (1925), S. 467 f.

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durch die Theorie überzeugen zu lassen. Die Mahnung an den Richter, es von dem Belieben des Angeklagten wesentlich mit­ abhängig zu machen, wieweit die vielleicht nach dem Akteninhalt untrüglich feststehende Schuld des Angeklagten durch die Haupt­ verhandlung deklariert werden kann, muß an taube Ohren dringen. Der Richter kann auf eine entschiedene Herausarbeitung der gegen den Angeklagten sprechenden Momente nur dann verzichten, wenn für die Erfüllung dieser Aufgabe ein anderer zur Stelle ist. Im deutschen Strafprozeß fehlt dieser „andere". Nun möchte es nahe­ liegen, auf fremde Rechte hinzuweisen, nach denen der Angeklagte nicht verpflichtet ist, sich einem Jnquisitorium, wie es unsere Praxis ausgebildet hat, zu unterwerfen — und daraus den Schluß zu ziehen, daß es sich nur um eine durchaus nicht begründete Unart unserer Praxis handele. Bei diesem Einwand bliebe aber die Gesamtstruktur unseres Strafprozesses außer Betracht. Unangesehen einzelner wichtiger Parteirechte spielen die Parteien in unserem Strafprozeß eine so untergeordnete Rolle, daß es kaum übertrieben war, als Wach7) es als eine Phrase bezeichnete, wenn man von unserem Strafprozeß als einem Parteiprozeß spricht. Denn die Leitung der Verhandlung und die Aufnahme der Beweise sind ausschließlich und nahezu souverän dem Vorsitzenden übertragen. Ist es zu verwundern, daß sich in dem Träger solcher Machtstellung alles aufbäumen muß, wenn man von ihm erwartet, daß er mit verschränkten Armen und geschlossenem Munde nur „hört", was der, gegen den sich alles richtet, auszusagen geruht? Nur wo die Parteien über die Beweise selbst disponieren, selbst die Beweise er­ heben — da kann ein Richtergeschlecht entstehen, das gegenüber dem Angeklagten so verfährt, wie man es als dem Geist der Straf­ prozeßordnung entsprechend fordert. Nicht aber in einem Straf­ prozeß, der so gestaltet ist wie heute der unserige. Der Richter, der mit der Kenntnis der Akten in die Verhandlung eintritt, der an Hand dieser Akten die Vernehmung der Zeugen und Sach­ verständigen, die Erhebung des Urkundenbeweises leitet, muß das Bedürfnis haben, sich mit dem Angeklagten darüber auseinander­ zusetzen, wie er sich gegenüber diesem Material verhält, von dem der Richter mit einem gewissen Recht mutmaßen darf, daß es sich in der Hauptverhandlung ähnlich dem Vorverfahren gestaltet. Es 7) Struktur des Strafprozesses, S. 7, 11, 19.

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war denn auch nicht nur ein höchst schwächliches, sondern auch un­ durchführbares Hilfsmittel, wenn der Entwurf von 1920 in § 263 verbot, daß dem Angeklagten die belastenden Umstände aus den Akten vorgehalten werden. Als ob sich nicht sofort die Formen finden würden, mit denen, ohne daß man auf die Akten verweist, dem An­ geklagten das zu Gemüte geführt wird, was der Vorsitzende aus den Akten weiß! Und wenn weiter vorgesehen war, die Verlesung von Niederschriften über frühere Vernehmungen von Angeklagten zu verbieten, so übersah dieser Vorschlag völlig, daß das Reichsgericht durch das Institut der Vorhalte, das auch gegenüber unverlesbaren Urkunden nicht beanstandet worden ist8), die Bekanntgabe schlecht­ hin jeden Urkundeninhalts möglich gemacht hat. Es ist denn auch schlechterdings ausgeschlossen, durch gesetzgeberische Maßnahmen die Vernehmung des Angeklagten wesentlich anders zu gestalten, wenn wir an der gegenwärtigen Struktur unseres Strafverfahrens fest­ halten. Gibt man, wie das Stein8) mit Recht betont, zu, daß von hier wesentlich das Mißtrauen gegen unsere gegenwärtige Strafrechtspflege ausgeht, so muß man sich entweder entschließen, dieses Mißtrauen zu konservieren oder: die Struktur unseres Pro­ zesses zu ändern. Die bisherigen Institutionen unseres Rechtes bieten kein Vorbild, mit dessen Hilfe man dem bezeichneten Mangel abhelfen könnte. Insbesondere muß hier von vornherein das Vorbild der alten Militärstrafgerichtsordnung ausscheiden. Dort war allerdings der Vorsitz von der Verhandlungsleitung getrennt (§ 61 MStPO.). Diese Regelung, die allein aus Gründen der militärischen Disziplin getroffen war, wollte lediglich die Aufrechterhaltung der Ordnung der Verhandlung") in die Hände einer reinen Militärperson, und zwar des rangältesten Offiziers gelegt wissen. Alles Übrige, was sich auf die Prozeßleitung, und vor allem auf die Sachleitung bezog") verblieb bei dem dienstältesten Kriegsgerichtsrat, der nicht nur die e) RG. in Recht 1926 S. 375 Nr. 1252, S. 753 Nr. 2630. Nicht dagegen RG. in IW. 1889 S. 333 Nr. 4, GA. 46 S. 193, LZ. 1915 S. 631 Nr. 39, IW. 1922 S. 494 Nr. 3, wo zwar von „Vorhalt" die Rede ist, ersichtlich aber „Vortrag" gemeint ist. Irrig Löwe-Rosenberg zu § 249 unter 3c, Feisenberger unter 3, Bennecke-Beling S. 342. *) a. a. O. 10) S. RMG.Entsch. 5 S. 251. n) Wegen des Unterschieds s. § 238 StPO, und dazu meine Aus­ führungen in LZ. 1914 S. 1170 ff.

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Verhandlung, sondern auch die Urteilsberatung zu leiten und sogar als erster abzustimmen hatte (§§ 320, 324 Abs. 2 Satz 1 MStGO.). Von seinem Ermessen hing es sogar ab, ob er eine von dem Vor­ sitzenden gewünschte Frage auliefc12). Wir müssen hier also schon nach juristischem Neuland aus­ schauen, wenn wir der beregten Mängel Herr werden wollen. Es erscheint nun naheliegend und ist auch gelegentlich diskutiert worden, eine Abhilfe in der Weise zu versuchen, daß man unter Beibehaltung unseres gegenwärtigen Systems dem Vorsitzenden die Kenntnis des Akteninhalts zu entziehen sucht, um dadurch eine rein aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpfte Beurteilung zu ermöglichen 13).14 Dieses Aushilfsmittel ist schon deshalb abzulehnen, weil für die Wahrheitsfindung wesentliches Material unbenutzt bleiben kann, wenn seine Kenntnis demjenigen, in dessen Hand die Leitung der Verhandlung und die Aufnahme der Beweise gelegt ist, vorenthalten wird. Die Praxis würde zudem auch hier Wege finden, um den Vorsitzenden doch die Kenntnis des Aktenmaterials zugänglich zu machen. Zu diesem Zweck brauchte nur — was im übrigen durchaus zu begrüßen wäre — der Anklage­ schrift, die ja jedenfalls dem Vorsitzenden zugänglich wäre, ein detaillierter, über die Ergebnisse des Vorverfahrens im einzelnen referierender Inhalt gegeben werden. Dem Verhandlungsleiter, der zugleich Entscheidungsleiter sein soll, kann die Kenntnis der Akten nur dann vorenthalten werden, wenn ihre Auswertung durch die Parteien bzw. deren Vertreter gesichert ist, d. h. wenn die Aufnahme der Beweise sich in den Formen des Kreuzverhörs ab­ spielt. Also: entweder Verhandlung in der Form des Kreuzverhörs nach englischem Muster ohne Aktenkennt­ nis des Vorsitzenden oder Verhandlungsleitung durch einen Richter wie bisher, aber Ausschluß dieses Richters von der Prozeßentscheidung"). Beide Möglichkeiten lassen 12) S. RMilG.Entsch. 1 S. 22. 13) In dieser Richtung bewegen sich z. B. die Vorschläge von Aschrott, Mitt. JKV. Bd. 14 S. 232 und I. Goldschmidt, IW. 1919 S. 68, und „Zur Reform des Strafverfahrens" 1919 S. 25, nur daß diese Autoren darin abweichen, daß Aschrott eine Verlesung der Anklageschrift in der Hauptverhandlung fordert, was I. Goldschmidt ausdrücklich verwirft. 14) In diesem Ergebnis deckt sich meine Auffassung insbes. mit der von I. Goldschmidt wiederholt vertretenen (s. z. B. IW. 1919 S. 68). Für die Trennung der Urteilsfindung von der Verhandlungsleitung hat

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sich auch kombinieren; sie sind z. B. wenigstens zu einem gewissen Grade, kombiniert im heutigen englischen Schwurgerichtsprozeß. Die Erhebung der Beweise geschieht im Kreuzverhör der Parteien, dem Richter steht im wesentlichen nur die Leitung der Verhandlung zu, die Entscheidung der Schuldfrage obliegt den Geschworenen, die Straffrage ist dann wieder in seine Hand gegeben. Da die Frage der Wiederherstellung des alten Schwur­ gerichts, an der eine Reform des Strafprozesses nicht vorbeigehen kann, keineswegs ausschließlich ein Problem der Laienbeteiligung an der Strafrechtspflege, sondern vor allem ein Problem des Auf­ baus der Hauptverhandlung, m. a. W. ein prozeßrechtliches und nicht nur ein gerichtsverfassungsrechtliches Problem ist, muß es in diesem Zusammenhang erörtert werden. Denn das, was das alte Schwurgericht charakterisierte, war durchaus nicht allein die von der Mitwirkung von Juristen losgelöste Beratung und Ent­ scheidung der Laien, sondern die Art der Verhandlungsführung, die vollständig darauf zugeschnitten war, den Richtern rein im Rahmen einer mündlichen Verhandlung ab ovo das tatsächliche und rechtliche Material zu unterbreiten. Der Vorsitzende des alten Schwurgerichts wußte, daß der Schuldbeweis von den Geschworenen nur dann voll gewürdigt werden konnte, wenn sie von Anbeginn der Verhandlung an in das richtige Bild gesetzt wurden, wenn sie schrittweise dem folgen konnten, worauf es tatsächlich und rechtlich ankam. Eine außerordentlich schwierige Aufgabe, von deren Ge­ lingen die Justizverwaltungen nicht ohne Grund die Qualifikation des Vorsitzenden für die Stelle eines Landgerichtsdirektors ab­ hängig zu machen pflegten. Von solcher Berhandlungsinstruktion ist im Verfahren vor dem heutigen Schöffengericht, zu dem ja auch die Schwurgerichte nunmehr gehören, selten etwas zu merken. Der Tatsache, daß der ungeschulte Laie nicht ohne weiteres das Tempo des routinierten und präparierten Juristen einzuhalten vermag, wird keineswegs regelmäßig Rechnung getragen. Man vertraut leicht und gern darauf, daß in der Beratung Aufklärungen nachgeholt werden können, die in der Verhandlung versäumt sind, sich besonders entschieden Oetker, GS. Bd. 65 S. 325ff., eingesetzt. Siehe auch meine Ausführungen in Arch. f. Kriminologie Bd. 82 S. 131. Wohl­ wollend im Sinne einer Einführung des angelsächsischen Verfahrens auch Reichsgerichtspräsident Dr. Simons in Berl. Tageblatt v. 7. Juni 1928 Nr. 265.

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wobei man außer acht läßt, daß derjenige, der einer Verhandlung nicht vom ersten bis zum letzten Augenblick mit vollem Verständnis für die Relevanz des einzelnen Vorganges gefolgt ist, keinen richtigen Gesamteindruck gewonnen haben kann, daß er vor allem gegenüber den Berufsrichtern, von allem anderen abgesehen, noch dadurch gehandicapt ist, daß er die Kenntnis von Sinn und Tragweite des einzelnen Beweisvorganges und der von den Parteien dazu ab­ gegebenen Erklärungen und Ausführungen nicht in das Beratungs­ zimmer mitbringt. Ich bin mir klar, daß ich damit nicht das allein Entscheidende zu der Frage: altes oder neues Schwurgericht? sage, wohl aber glaube ich, daß die ganze Problematik dieser Frage verschoben wird, wenn man lediglich darauf abstellt, inwieweit im gemischten Kollegium die Meinung der Laien unverfälscht und wirkungsvoll zum Ausdruck kommt. Wie ich in diesem Punkt denke, habe ich vor und nach Einführung der jetzigen Schöffengerichts­ verfassung gesagt16 * *),* so * * *daß * * ich davon absehen möchte, an dieser Stelle meine Auffassung noch einmal eingehend darzulegen und zu begründen. Für mich steht fest, daß der Berufsrichtern beigegebene Laie nur in Ausnahmefällen in der Schuldfrage seine ursprüng­ liche und ureigene Meinung zur Geltung zu bringen vermag, daß die stärkere dialektische Schulung des Berufsrichters, seine größere rechtstechnische Erfahrung sowie eine Reihe anderer Impondera­ bilien ihn fast regelmäßig bei der gemeinsamen Beratung den Sieg über die abweichende Auffassung des Laienrichters erringen lassen16). Immer wieder die gleichen Erlebnisse! Entweder: mit einer er­ zwungenen, scheinbaren Anteilnahme folgen die Laien der Verhand16) S. insbes. IW. 1923 S. 339 ff., 1924 S. 1658, 1925 S. 888 ff., Arch. f. Kriminologie Bd. 82 (1928 S. 182 f.). Vorzüglich hat sich über die Frage schon im Jahre 1864 der damalige österreichische Justizminister Glaser in seiner Abhandlung „Zur Juryfrage" ausgesprochen. Er faßte sein Urteil dahin zusammen, daß das gemischte Laiengericht nur dahin führe, „die Allmacht des Richters durch eine schützende Scheinkollegialität zu erhöhen". Drucker IW. 1924 S. 672ff. spricht nicht minder treffend von einem „Juristengericht mit gelegentlicher Hemmung durch Laien". 16) Auch Oetker, Gerichtssaal Bd. 65 (1905) S. 328 vertritt den Standpunkt, daß „die Laienrichter, denen die Gewohnheit selbständigen Urteilens und das dialektische Geschick zur Vertretung der eigenen Ansicht fehlt, dem dominierenden Ansehen und dem eindrucksvollen Auftreten eines redegewandten Vorsitzenden nicht gewachsen sind". Siehe auch M. Liepmann, Kommunistenprozesse 1928 S. 9.

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hing, in Wirklichkeit darauf vertrauend, daß die Erleuchtung, die ihrer im Beratungszimmer wartet, sie das richtige Ziel nicht werde verfehlen lassen. Oder: sie lassen unverkennbar in ihren Mienen eine Parteinahme nach bestimmter Richtung erkennen und haben das alles vergessen, wenn der Vorsitzende, dem man eine andere Auffassung anmerkt, mit ihnen aus dem Beratungszimmer zurück­ kehrt. Man wendet gern ein: niemand könne doch wissen, was sich im Beratungszimmer abgespielt habe, und wie es zur Verurteilung des Angeklagten gekommen sei, die gegen den Widerstand der Laien doch nun einmal nicht möglich wäre. Das Geheimnis des Beratungszimmers in allen Ehren! Aber man täusche sich doch nicht darüber, daß, wenn auch im Ernstfälle über die Vorgänge im Beratungszimmer kein Beweis erhoben werden kann, aus dem Beratungszimmer doch geplaudert wird, und oft recht kräftig. Daß älteren und jüngeren Gerichtsbeamten zuweilen der Mund von dem überfließt, wovon das Herz voll ist. Daß vor allem nicht wenige Laien lange von der Erinnerung an das zehren, was sie in foro erlebt haben, und daß sie sich nicht genugtun können, davon zu erzählen. Auch ohne daß man dabei jedes Wort auf die Goldwage legt, — ein Eindruck setzt sich doch fest: daß die wenigsten Laien­ richter die Energie besitzen, rückhaltlos auf ihrer Meinung zu bestehen, selbst wenn ihnen die abweichende Auffassung der Berufsrichter unverständlich erscheint. Vor allem: daß die Laienrichter Vor­ haltungen, in denen ihnen das Unlogische, insbesondere das Un­ juristische ihrer Auffassungen vor Augen geführt wird, schließlich doch erliegen, besonders wenn sich Kompromisse bieten, durch die die in Aussicht gestellte Desavouierung durch eine höhere Instanz ver­ mieden wird17). Es gibt manchen Vorsitzenden, dem man nachrühmt, 17) Das BayObLG. hat es in einer Entscheidung vom 24. Oktober 1927 LZ. 1928 Sp. 991 sogar gebilligt, daß die Vorinstanz die rechtlich unhaltbare Auffassung eines Laienbeisitzers, mit der von diesem sein auf Freisprechung lautendes Votum begründet worden ist, in den Urteils­ gründen zu dem Zweck angeführt hat, dem Revisionsgericht eine Handhabe zur Aufhebung des Urteils zu geben. Daß, wenn dieser Standpunkt richtig ist, die Berufsrichter sich jeder Überstimmung durch die Laienrichter er­ wehren können, braucht kaum näher ausgeführt zu werden. Soweit es sich nicht um die reine Rechtsfrage handelt, bedarf es zu diesem Zweck im Urteil nur irgendeiner Wendung, in der auf eine übersteigerte Auffassung der Laienbeisitzer von dem Maß der für eine Schuldigsprechung erforderlichen Gewißheit hingewiesen wird. Auch unter Berufsrichtern können die erheb-

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daß die Laienrichter noch nie gegen seine Meinung einen Freispruch errungen hätten. Vielleicht mag das übertrieben sein. Aber schon aus einer auffälligen Seltenheit solcher Fälle dürfte man Schlüsse ziehen können, die keineswegs notwendig nach der Richtung liegen müßten, daß es dem betreffenden Vorsitzenden an derjenigen Skepsis fehle, der man nicht entraten kann, ohne die beachtungsbedürftigen Mängel eines Schuldbeweises zu erkennen. Nun habe ich selbst keinen Zweifel darüber, daß man in keiner Reformfrage so wenig allein darauf abstellen kann, was logisch und empirisch richtig erscheint, wie gerade in der Frage der Laien­ beteiligung. Der Anspruch des Volkes auf den Richterstuhl ist kein Programmpunkt, sondern wirkt als Glaubenssatz 18). Aus der Idee heraus, daß ein politisch und ethisch reifes Volk ein gutes Recht darauf habe, an der Ausübung der dreifach gegliederten Staatsgewalt teilzunehmen, ist das Begehren auf weitgehende Teilnahme des Laienelements an der Strafrechtspflege erwachsendes. Die Zurück­ weisung oder auch nur die karge Befriedigung dieses Begehrens würde gerade in unserer Zeit nicht ohne Erschütterung des Staats­ ganzen möglich sein. Das braucht nicht zu hindern, das zahlenmäßige Verhältnis der Laienrichter gegenüber den Berufsrichtern in ein­ zelnen Spruchkörpern zu verringern, vorausgesetzt, daß man es in lichsten Meinungsverschiedenheiten bestehen, und die Fälle werden in der alten Strafkammer gar nicht so selten gewesen sein, wo der überstimmte Urteilsverfasser der Ansicht war, daß das Revisionsgericht eine abweichende in der Beratung vertretene Auffassung eines andern Richters nicht billige. Noch nie hat aber ein Berufsrichter auch nur in Erwägung gezogen, in dieser Weise die Meinung eines Kollegen im Urteil zu desavouieren. Die berufsrichterliche Mentalität, die das Urteil des BayObLG. und das Urteil der Vorinstanz erkennen lassen, ist somit mindestens ebenso bemerkenswert wie die aus diesem Urteil erhellende tatsächliche und auch rechtliche Ohn­ macht der Laienbeisitzer. Darauf hinzuweisen kann ich schon deshalb nicht unterlassen, weil ich, wie die Ausführungen meines Gutachtens zeigen, den Wert gemischter Gerichte außerordentlich gering anschlage und es für irrt höchsten Maße bedenklich halte, wenn man, worailf die Grundidee der Emmingerschen Reform beruht, der Auffassung gewesen ist, Berufs­ richter ließen sich beliebig durch Laienrichter ersetzen. Die Zahl ist das einzige, was in solchem Falle unverändert bleibt. S. dazu meine Aus­ führungen im Arch. f. Kriminologie, Bd. 82 S. 133. ") So treffend Drucker, IW. 1924 S. 1672.

19) S. darüber die überzeugenden Ausführungen von Lang auf der Tagung der JKV. von 1924 in Hamburg.

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anderen vergrößert. Hierbei wird man auch über das Problem diskutieren müssen, zur alten Jury in einer Form zurückzukehren, die das Schwergewicht der Entscheidung wieder in die Hände der Laien legt, denen gegebenenfalls ein Rechtsrat für die Beratung beizuordnen wäre (der aber nicht der Vorsitzende des Gerichts sein dürfte, und dessen Einfluß auch im übrigen weitgehendst zu be­ schränken wäre). Für die Institution eines solchen „Rechtsrats", die im einzelnen natürlich hinsichtlich ihrer Funktionen und Macht­ beschränkungen genau zu bestimmen wäre, haben sich von Theore­ tikern insbesondere Kahl und Oetker2^, von Praktikern Drucker^) ausgesprochen. Ich neige jedenfalls durchaus der Meinung zu, daß bei weitgehender prozeßtechnischer Verbesserung des alten Schwur­ gerichts, die durchaus möglich ist, und für die es an Vorschlägen nicht gebricht, im Prinzip die Abkehr von dem jetzigen großen Schöffengericht, das fälschlich den Namen „Schwurgericht" führt und damit, jedenfalls der Idee nach, die Rückkehr zur früheren Jury möglich toäre22 20). 21Das alte (unverbesserte) System hatte, das ist zweifellos, unter den Berufsrichtern nur wenig Anhänger. Der Berufsrichter, der überzeugt ist und in der Regel auch überzeugt sein kann, daß ihm eine besondere, nicht bei jedem ungeschulten Laien vorauszusetzende Fähigkeit zur Entscheidung schwieriger, insbesondere rechtlich komplizierter Fälle eignet, wird schon aus seiner rein weltanschaulichen, vielfach unbewußten Einstellung heraus der Souveränität des Laien in der Strafrechtspflege im allgemeinen abhold sein. Und gerade deshalb wird er der Mit­ wirkung des Laien in der Schöffengerichtsverfassung den Vorzug geben, schon weil selbst, wenn er auch diese Mitwirkung als ein Übel ansieht, er es jedenfalls als das kleinere betrachtet. Erscheint ihm auch das Bekenntnis zum Schöffengericht (an Stelle der alten Straf­ kammer) als ein Opfer, so bringt er doch dieses Opfer gern, wenn damit die Gefahr der Rückkehr zum alten Schwurgericht gebannt wird. Unbewußt ist er somit Partei, wenn auch im besten, in einem 20) Kahl bei Mittermaier und Liepmann, Schwurgerichte und Schöffengerichte S. 21, Oetker, Gerichtssaal Bd. 65 S. 330ff. 21) IW. 1924 S. 1672. 22) Sehr fein hat Mittermaier, Die Stellung des Bürgers zur Reform der Gerichtsverfassung und des Strafprozesses 1909 S. 28f., schon vor der Abschaffung des Schwurgerichts, bemerkt, daß man es an seinen technischen Mängeln zugrunde gehen lasse.

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durchaus idealen Sinne. Daß er aber Partei ist, davor dürfen wir nicht die Augen verschließen, wenn wir sein Urteil in dieser Frage nicht als das ausschließlich und endgültig maßgebliche anerkennen wollen. Wenn wir vor allem gegenüber diesem Urteil auch nicht unausgesprochen lassen wollen, daß unter den Vertretern der Wissenschaft, unter denen sich selbstverständlich auch Gegner des alten Schwurgerichts befinden und befunden haben, nicht die schlechtesten Namen, und zwar aus den verschiedensten Lagern, alle Zeit für das alte Schwurgericht eingetreten sind. Franz v. Liszt23)24 hat 25sich 26 als schärfsten Gegner seiner Beseitigung bekannt, ebenso James Goldschmidt"), M. Liepmann"), der sich dabei besonders auf seine Erfahrungen stützt, desgleichen Oetker23)' und auch Kahl27)28 wird 29 durchaus zu den Anhängern des Schwur­ gerichts zu zählen sein. Besonders beachtlich erscheint mir auch, daß ein so gründlicher Kenner der englischen und amerikanischen Strafrechtspflege wie Adolf Hartmann entschieden die Bei­ behaltung der Schwurgerichte gefordert hat23). Schon danach glaube ich nicht, daß über die Frage: altes oder neues Schwur­ gericht? das letzte Wort gesprochen ist. Wird aber durch die Wieder­ herstellung des alten Schwurgerichts für ein wichtiges, wenn auch nicht umfängliches Gebiet der Strafrechtspflege an Stelle der jetzigen wesentlich dekorativen die frühere intensive Mit­ wirkung der Laien an der Strafrechtspflege wieder hergestellt, so kann kein Bedenken bestehen, die Zahl der Berufsrichter bei den anderen Gerichtskörpern zum mindesten in der Weise auf Kosten der Laienrichter zu vergrößern, daß die Laienrichter auch nicht recht­ lich die Macht haben — von der sie tatsächlich zudem, wie gesagt, nur in dem allerbescheidensten Ausmaß Gebrauch machen —, durch ihr Votum gegen die Meinung der Berufsrichter die Nicht­ schuldigsprechung zu erzielen23). Praktisch gesprochen: ich würde 23) Reform des Strafverfahrens 1906 S. 12 ff., insbes. S. 13, 15, 19. 24) Zur Reform des Strafverfahrens 1909 S. 8. 25) Schwurgerichte und Schöffengerichte S. 35. 26) Gerichtssaal Bd. 68 S. 81 f. 27) Schwurgerichte und Schöffengerichte S. 27, 28. 28) Die Strafrechtspflege in Amerika, 1906 und vor allem in Aschaffen­ burgs Monatsschrift, 3. Jahrg. S. 317 f. 29) Um nicht mißverstanden zu werden: ich betrachte das nicht als die zu erstrebende Lösung. Aber ich sehe das Ziel, die im folgenden berührte.

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dafür eintreten, bei den Gerichtskörpern, die die Hauptverbrechens­ fälle zu entscheiden haben, die Zahl der Berufsrichter wieder auf 5 zu erhöhen. Darin würde ich schon deshalb einen wesentlichen Vorteil sehen, weil bei einer Besetzung der Gerichte mit 3 Berufs­ richtern^), von denen der eine der Vorsitzende, und der andere der Berichtserstatter ist — ich unterstelle jetzt den Fall, daß die oben zur Erörterung gestellte Trennung der Prozeßleitung von der Urteilsfindung nicht verwirklicht wird —, sich innerhalb des Kolle­ giums zu wenig wirksamer Widerstand gegen die Meinung heraus­ bilden kann, den diese beiden Richter auf Grund ihres Aktenstudiums gewonnen haben. Schränkt man dann die Berufung in der Weise ein, wie ich das noch im folgenden entwickeln werde, so dürfte in personeller Beziehung die vorgeschlagene Besetzung der Gerichte keine Schwierigkeiten machen. Käme man dazu — es wäre das eine der in Frage kommenden Reformen, für die ich mich aber nicht einsetzen kann —, die Berufung in Zukunft in der Weise zu gestalten, daß bestimmte Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Berufung gegeben sein müssen, so ließe sich bei Annahme des von mir eben gemachten Vorschlages weiter denken, daß man die Be­ rufung jedenfalls dann ohne weiteres für zulässig erklären würde, wenn die Laienbeisitzer in einer protokollarisch feststehenden Er­ klärung als ihre Überzeugung zum Ausdruck gebracht haben, daß sie den Schuldbeweis nicht für geführt erachten. Ich deutete schon an, daß ich kein Anhänger der Berufung in dem Ausmaß bin, in dem sie zurzeit bei uns Rechtens ist. Die uneingeschränkte Berufung gehört zu den sogenannten populären Forderungen. Auch bei dieser populären Forderung kann man völlig unzureichende Zahl der Berufsrichter in den zu Entscheidung der tatsächlich und rechtlich komplizierten Fälle berufenen erstinstanzlichen Spruchkörpern zu erhöhen, als so wesentlich an, daß ich die Erreichung dieses Zieles nicht davon abhängig machen würde, daß bei diesen Ge­ richten auch die Zahl der milwirkenden Laienrichter entsprechend erhöht wird. 30) Man übersehe nicht, daß nur die großen (Berufungs-) Straf­ kammern und das Schwurgericht mit 3 Berufsrichtern besetzt sind, daß im übrigen (und das gilt also für den Hauptteil der erstinstanzlichen Straf­ sachen) bestenfalls 2 Berufsrichter mitwirken. Daß die Heranziehung der Hilfsrichter als Referenten für einzelne Verhandlungsteile, die in einem großen Berliner Prozeß, in dem man sich nicht anders helfen konnte, ganz offen stattfand, contra legem ist, braucht nicht weiter dargelegt zu werden.

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aber sagen, daß über ihre Bedeutung alles andere als Klarheit bei denen besteht, die für sie eintreten. Meist wird die Berufung nur unter dem Gesichtspunkt gesehen, daß sie dem Angeklagten die Möglichkeit gebe, eine ihm widerfahrene Verurteilung durch eine erneute Verhandlung zu beseitigen. Ganz wird dabei außer acht gelassen, daß das nur gilt, soweit es sich um ein verurteilendes Erkenntnis der ersten Instanz handelt, daß der Angeklagte aber gerade dann keine Berufung hat, wenn bereits ein Gericht zu seinen Gunsten entschieden hat und erst die zweite Instanz zu seiner Ver­ urteilung gekommen ist. Die der Staatsanwaltschaft gewährte Berufungsmöglichkeit mindert schon allein den Wert dieses Rechts­ mittels für den Angeklagten wesentlich herab31). Es ist nun aber durchaus nicht so, daß die Staatsanwaltschaften in der Regel von dem Rechtsmittel der Berufung nur Gebrauch machen, wenn das Gericht der ersten Instanz zu einer unbegreif­ lichen Freisprechung oder zu einem unverständlich milden Urteil gelangt ist. Vielmehr ist umgekehrt zu konstatieren, daß eine Frei­ sprechung in erster Instanz im allgemeinen nur dann von der Staatsanwaltschaft respektiert wird, wenn die Gründe, die zu einer Freisprechung führten, besonders zwingende und auch den Vertreter der Anklage überzeugende waren, oder wenn das öffent­ liche Interesse an der weiteren strafrechtlichen Verfolgung ge­ schwunden ist, oder wenn gar im öffentlichen Interesse der Wunsch besteht, die Angelegenheit nicht weiter erörtert zu sehen. Und um noch auf eine besonders bemerkenswerte, weil charakteristische, Erscheinung hinzuweisen: die Fälle sind gar nicht so selten, in denen der Vertreter der Staatsanwaltschaft, dem der Sitzungsdienst 31) I. Goldschmidt, IW. 1919 S. 67, tritt dafür ein, das Recht der Berufung nur dem Angeklagten zuzugestehen. Er schränkt seinen Vorschlag allerdings durch den Zusatz: „mindestens bei Übertretungen", wesentlich ein. Diskutiert man die Berufung unter dem Gesichtspunkt, daß sie ein Schutzmittel des Angeklagten gegen ungerechtfertigte Verurteilungen sein solle, so wäre es logisch konsequent, der Staatsanwaltschaft die Berufung zu weigern. Der Gesetzgeber wird sich aber dazu nicht entschließen, weil er befürchten muß, daß das Fehlen jeden Risikos für den Angeklagten, der Berufung von sich aus einlegt, zu einer Erhöhung der Zahl der Be­ rufungen führt, und schließlich auch deshalb, weil nun einmal, worauf ich im Verlaufe meiner Ausführungen noch zurückkomme, die Sorgfältigkeit des Arbeitens der ersten Instanz erfahrungsgemäß dadurch leidet, daß sie eine Berufungsinstanz über sich weiß.

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zufiel, selbst Freisprechung beantragt hat und danach doch auf höhere Anweisung Berufung eingelegt ist. Nicht nur in diesem Falle steht der Angeklagte dann in der zweiten Instanz oft einem völlig neuen Beweismaterial gegenüber, daneben auch einer durch­ aus veränderten Jdeenrichtung der Anklagebegründung, die viel­ leicht nicht einmal eine ein Vertagungsbegehren rechtfertigende „veränderte Sachlage" im Sinne des § 265 Abs. 4 StPO, darstellt, jedenfalls nicht als solche anerkannt wird. Der in erster Instanz erlittene Fehlschlag ist sachlich als ungerechtfertigt empfunden worden. Zwischen die erste und zweite Instanz hat man eine neue Voruntersuchung eingeschoben, die natürlich nicht diesen Namen trägt, und der gegenüber der Angeklagte denn auch nicht die Be­ helfe hat wie gegenüber einer formellen, vor Erhebung der An­ klage liegenden, Voruntersuchung. Es kommt sogar vor, daß der Vorsitzende der zweiten Instanz der eigentliche dominus dieser Vor­ untersuchung ist, und ich habe es selbst erlebt, daß für einen mehr­ tägigen Betrugsprozeß in der Berufungsinstanz das vom Vor­ sitzenden für die richtige Beurteilung des Sachverhalts für wesent­ lich erachtete Material in zwei umfangreichen Aktenbänden ge­ sammelt war, die erst nach der Hauptverhandlung erster Instanz entstanden waren und der Verteidigung jedenfalls erst kurz vor der Berufungsverhandlung in recht beschränkter Zeit zur Verfügung gestellt werden konnten. Man ist nicht berechtigt, den Eifer der Anklagebehörde und des in solchem Falle zur Aufklärung des Sach­ verhalts berufenen Vorsitzenden zu kritisieren, aber man kann doch vielleicht aussprechen, daß man an solche Möglichkeiten nicht ge­ dacht hat, als man die Berufung in Strafsachen gewissermaßen als eine magna Charta des Angeklagten postulierte. Ja, ich glaube sogar, daß der Angeklagte bei solcher Prozedur — die sich zwangs­ läufig daraus ergibt, daß die Gegenseite sich ebensowenig wie er bei dem Urteil der ersten Instanz beruhigen muß — sich unter dem Gesichtspunkt einer höheren Gerechtigkeit durchaus beschwert fühlen kann. Jeder Angeklagte, vor allem aber ein Angeklagter, gegen den vielleicht nur der Schein spricht, hat ein Anrecht darauf, daß die Zeit des Kampfes und der Ungewißheit nicht über das unbedingt notwendige Maß hinaus zu einer nicht endenwollenden Qual wird, daß ihm die psychische, physische und auch die materielle Kraft bleibt, um diese Leidenszeit durchzustehen. Gewiß: die Dinge liegen nicht anders, wenn er selbst die Berufung betreibt, voraus-

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gesetzt, daß er sie betreibt, weil er in der Berufungsinstanz sein Recht sucht. Sucht er in ihr sein Glück, so braucht man ihn nicht wegen der Dauer der Prozedur zu bemitleiden. Für alle Fälle aber gilt gleichermaßen: nur soweit die Institution der Berufung mit der Idee verankert ist, daß auch die bestvorbereitete Sache von dem bestbesetzten Gericht im bestdurchdachten Verfahren irrtümlich entschieden werden kann, läßt sich über ihre Berechtigung streiten. Nicht: soweit sie, wenn auch nur nebenher und insofern sekundär, eine Kompensation dafür sein soll, daß die vorangehende Instanz und die diese vorbereitende Untersuchung nicht so sind, wie sie sein müssen, wenn man dächte, die Notwendigkeit einer solchen Nachprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung unbedingt verneinen zu können. Beim großen Schöffengericht, dem sogenannten Schwur­ gericht, glaubt man das zu können, beim kleinen Schöffengericht, mag es mit einem oder zwei Berufsrichtern besetzt sein, nicht. Jdenfalls läßt sich für die unterschiedliche Behandlung der Berufung in diesen beiden Fällen nur anführen, daß das eine Gericht derart gut besetzt sei, daß die Gefahr von Fehlurteilen so fernliege, daß man die Gewährung der Berufung nicht rechtfertigen könne, während das für das andere Gericht nicht der Fall sei. Das ist nach meiner Überzeugung allerdings nach der negativen Seite richtig, nämlich insofern, als ich die Besetzung unserer heutigen erst­ instanzlichen Gerichte, die den Namen Schöffengerichte tragen, mögen sie mit einem oder zwei Berufsrichtern besetzt sein, für durchaus ungenügend, ja geradezu für völlig verfehlt halte. Das, was ich in dieser Beziehung schon vor Inkrafttreten der jetzigen Regelung3a) und danach auf Grund der ersten praktischen Erprobung des neuen gesetzlichen Zustandes32 33) ausgeführt habe, entspricht noch heute in jeder Beziehung meiner Meinung. Es kann keine Rede davon sein, daß in einer komplizierten Strafsache ein Gericht bestmöglichst besetzt ist, dessen einer Richter die Hände voll zu tun hat, um die Verhandlung zu leiten, der andere, um ihr Ergebnis schriftlich festzuhalten. Nur weil es eine Berufung gibt, hat man eine solche Strafgerichtsorganisation für möglich gehalten. Nur weil die Berufung zu viele Kräfte in Anspruch nimmt, hat man es für unmöglich gehalten, die Unvollkommenheit dieser Organisation 32) IW. 1923 S. 340. ”) IW. 1924 S. 889.

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der ersten Instanz zu beheben. Damit ist eigentlich das Urteil über die Berufung in dem Ausmaß, in dem wir sie heute haben, ge­ sprochen. Ich bekenne mich also im Ergebnis nach wie vor zu dem, was ich in dieser Beziehung bereits vor Einführung der unbeschränkten Berufung^) ausgeführt habe. Ich will es mir deshalb versagen, aus der schier unübersehbaren Literatur die zur Frage der Berufung in den letzten Jahrzehnten entstanden ist, Belege für die von mir vertretene Ansicht anzuführen. Aus dem, womit ich meinen Standpunkt motiviert habe, er­ gibt sich, daß ich hinsichtlich der Regelung der Berufung nichts von Neformvorschlägen halte, die dahin gehen, durch Beseitigung des Verbots der reformatio in peius, wie das Schiffer^) fordert, auf die Einschränkung leichtfertiger Berufungen hinzuwirken. Über die gesetzliche Beseitigung dieses Verbots, die übrigens praktisch schon heute vielfach durch die gleichzeitige Berufungseinlegung der Staatsanwaltschaft erfolgt, ließe sich diskutieren, obwohl zweifel­ los das Bedenken besteht, daß dadurch ängstliche Gemüter von der Einlegung der Berufung selbst dann abgehalten werden, wenn ihre Verurteilung, besonders in rechtlicher Beziehung, zweifelhaft ist, das Strafmaß der ersten Instanz aber ein mildes war. Aber — und darauf kommt es hier an — nicht die Überflüssigkeit mancher Berufung bildet das Kernproblem, sondern die Frage, ob die Be­ rufung das geeignete und unentbehrliche Mittel ist, um die all­ gemeine Rechtssicherheit zu garantieren. Und man übersehe auch nicht, daß die Beseitigung des Verbots der reformatio in peius nur dem Angeklagten nachteilig ist, aber naturgemäß nicht die be­ denkliche Häufigkeit staatsanwaltlicher Berufungen ver­ mindern kann. Man könnte daran denken, die Berufung in der Weise auf die Fülle zu beschränken, in denen sie angezeigt erscheint, daß man es von der Begründung der Berufung, die dann natürlich obliga­ torisch sein müßte, abhängig machen würde, ob im Einzelfall eine Berufungsverhandlung gewährt wird. Für diesen Fall habe ich oben den Gedanken zur Erörterung gestellt, ob bei einer Gerichts­ organisation, in der die Laien nicht durch ihre Stimme eine Ver­ urteilung hindern können, dem Angeklagten die Berufungsmöglich-

") IW. 1923 S. 340 f. “) Deutsche Justiz 1928 S. 240.

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keit dann gesichert wird, wenn das dem Angeklagten günstige Votum der Schöffen protokollarisch festgelegt ist. Aber wie wünschenswert es vielleicht auch scheinen mag, die Möglichkeit einer Einschränkung der Berufungen im Falle ihrer prinzipiellen Beibehaltung da­ durch zu erreichen, daß man vom Beschwerdeführer eine Begründung seines Rechtsmittels verlangt, die erkennen läßt, ob das Rechtsmittel irgendwelche Aussicht auf Erfolg hat, so glaube ich doch nicht, daß auf diesem Wege für die Praxis eine befriedigende Lösung erzielt werden kann. Was von der Begründung der Revision gilt, läßt sich nicht ohne weiteres auf die Begründung der Berufung über­ tragen. Der Angeklagte wäre hier — und schon das ist bedenklich — geradezu in der Regel der Fälle auf die Unterstützung eines Ver­ teidigers angewiesen, dem die schwierige und nicht jedem liegende Aufgabe zufiele, nicht nur die rechtlichen, sondern nicht minder die tatsächlichen Bedenken gegen das angegriffene Urteil anschaulich und überzeugend unter richtiger Anführung etwaiger neuer Beweise darzulegen. Es könnte nicht ausbleiben, daß manche Berufung, die auf Grund einer neuen Verhandlung vielleicht begründet er­ scheinen möchte, die Klippen solcher schriftlichen Vorprüfung nicht umschiffen würde. Ich würde deshalb die allergrößten Bedenken tragen, einen Modus wie den erörterten, obwohl er sicher die Zahl der Berufungsverhandlungen einschneidend beschränken würde, als eine befriedigende Lösung unseres Problems zu empfehlen. Die richtige Erkenntnis der Gründe, die auf der einen Seite gegen die Berufung sprechen, und der Gründe, die auf der anderen Seite für die Berufung sprechen, führt nur zu einer Lösung: die Berufung auf die kleineren Strafsachen zu beschränken, die in erster Instanz ausnahmslos vor dem Einzelrichter verhandelt werden können. Was für die Berufung spricht: der Gefahr menschlichen Irrens Rechnung zu tragen — das muß auf anderem Wege erreicht werden. Durch Verbesserung des Vorverfahrens und der Haupt­ verhandlung, durch eine Reform der gesetzlichen Regelung und der praktischen Handhabung der Rechtsmittel der Revision und der Wiederaufnahme des Verfahrens. Ist das nicht in einer schlechthin vollkommenen Weise erreichbar, so bleibt allerdings keine andere Wahl als: die Berufung in ihrem jetzigen Umfang aufrecht zu erhalten"). Ja: man wird in diesem Falle auch ernstlich zu er» ••) Und zwar unter Beseitigung ihrer erheblichen technischen Mängel, über die ich mich in IW. 1926 S. 1105 s. ausgesprochen habe. Bei der

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wägen haben, ob nicht, falls das große Schöffengericht auf die Dauer an Stelle des alten Schwurgerichts bleiben sollte, die Be­ rufungsmöglichkeit gegen die Urteile dieses Gerichts weiter ge­ weigert werden kann. Alle Reformen, denen das Vorverfahren zu unterziehen wären, müßten von dem Gedanken getragen sein, mit der inquisitorischen Richtung unseres jetzigen Vorverfahrens gründlichst aufzuräumen. Auf die Mitwirkung eines Untersuchungsrichters, der nach einem Wort Feisenbergers37 * *) *nichts ** anderes als ein „verkappter Staats­ anwalt" ist, müßte man verzichten. Weitgehendst müßte auch dem Angeschuldigten die Möglichkeit gewährt werden, auf Art und Umfang der Ermittlungen Einfluß zu gewinnen. Für die Beschrän­ kung seines Anwesenheitsrechts bei Vernehmungen sollte der § 247 StPO, als Vorbild dienen, womit nicht gefordert wird, daß dem Angeschuldigten im Vorverfahren, insbesondere auch was sein Recht zur Anwesenheit angeht, schlechthin die gleichen Befugnisse wie in der Hauptverhandlung einzuräumen wären. Überall da, wo gegen das später ergehende Urteil keine Berufung gegeben ist, wäre ein (verzichtbares) Zwischenverfahren mit einem Vortermin als Abschluß zu empfehlen. Gegen den stark umstrittenen Eröffnungs­ beschluß habe ich kein anderes Bedenken als das, daß er, ohne daß ihm in der Regel eine gründliche Prüfung des gesamten Akten­ materials vorangeht, der Berechtigung der Anklage eine, wenn auch nur scheinbare, Stütze bietet. Haben wir ein Zwischenverfahren mit einem Vortermin, der der Prüfung der Stichhaltigkeit der Anklage gilt, so ergibt sich damit von selbst für diese Fälle die Abschaffung des Eröffnungsbeschlusses, für die anderen Fälle fehlt ihm ohnehin jede praktische Bedeutung. Dem erkennenden Richter müßte — das wäre die idealste Lösung, die nur bei Trennung von Prozeßleitung und Prozeßentscheidung zu erzielen ist — die Hauptverhandlung Unbekanntes, und nur Un­ bekanntes bringen, dem Angeklagten muß aber vorher das bekannt sein, wogegen er sich verteidigen soll. Schon bei Herstellung der Verneh-

jetzigen Regelung des Berufungsverfahrens bleibt völlig daß Verfahrensvorschriften, die für kleine und wenig Sachen gedacht waren — für sie allein gab es bis zur Reform eine Berufung —, unmöglich für umfangreiche Strafsachen passen können. 37) Mitteilungen der JKV. Bd. 14 S. 270.

unberücksichtigt, bedeutungsvolle Emmingerschen und verwickelte

Reform des Strafverfahrens.

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mungsprotokolle im Vorverfahren muß ins Auge zu fassen sein, Durch­ schläge in genügender Anzahl herzustellen, um sie den Parteien zu überlassen. Da der Angeklagte im Interesse der Sicherung der Akten­ integrität kein Recht hat, persönlich die Akten ausgehändigt zu bekommen, ist er auf Aktenauszüge seines Verteidigers angewiesen. Hat er keinen Verteidiger oder ist es diesem nicht möglich, sich der zeitraubenden und kostspieligen Aufgabe der Herstellung eines Aktenauszuges zu unterziehen, so ist der Angeklagte naturgemäß nur unvollkommen über das gegen ihn vorliegende Aktenmaterial unterrichtet. Leider erscheint das manchem Richter nicht bedauerlich, sondern sogar so erwünscht, daß es anläßlich einer im Jahre 1926 in einer mittleren Großstadt des Westens verhandelten Schwur­ gerichtssache sogar wegen Überlassung eines Aktenauszuges an den Angeklagten durch den Verteidiger zu einem Zusammenstoß zwischen Vorsitzenden und Verteidiger gekommen ist, der die in IW. 1926, S. 2725s., abgedruckten Gutachten von Lobe und mir erforderlich gemacht hat, worauf die Erwiderung eines Mitglieds des dortigen Gerichts8«) erschienen ist, die das Schreckgespenst(!) vor Augen malt, daß etwa der Angeklagte sich so während der Ver­ nehmung eines Belastungszeugen auf seine Verteidigung vor­ bereiten könne. Gerade weil die nicht aussterben, „die glauben, der Strafjustiz am besten damit zu dienen, daß sie die Verteidigung des Angeklagten nach Möglichkeit beschränken" (Lobe, a. a. O.), muß das Gesetz den Grundsatz der Waffengleichheit schon nach der Richtung sichern, daß dem Angeklagten nicht noch in der Haupt­ verhandlung die Augen, wenn auch nur teilweise, verbunden bleiben. Deshalb ist denn auch unbedingt zu fordern, daß die Anklageschrift in sorgfältigster Substantiierung darüber Aufklärung gibt, welche Beweisbehauptungen aufgestellt und mit welchen Beweismitteln sie im einzelnen bewiesen werden sollen. Eine Änderung der Anklage in tatsächlicher oder rechtlicher Beziehung dürfte nur unter Kautelen erfolgen, die es völlig ausgeschlossen erscheinen lassen, daß dem Angeklagten, wenn er rechtzeitig unterrichtet worden wäre, eine Widerlegung der neuen Vorwürfe möglich gewesen sei. Die Urteile des 1. Strafsenats vom 1. Dezember 1925 und 29. Ja­ nuar 1926, IW. 1926, S. 1216, Nr. 6, S. 1218, Nr. 7, die aus dem geltenden Recht herausholen, was aus ihm herauszuholen ist, S8) Menzel in Jur. Rundschau 1927 S. 61 f. 35. DJT. 1.

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Rechtsanwalt Dr. Max Alsberg

um die Gefahr einer Überrumpelung des Angeklagten"') möglichst zu mindern, zeigen den Weg an, auf dem eine künftige Gesetzgebung fortschreiten muß. Die Vorschriften über die Hauptverhandlung werden meines Erachtens gründlicher als es die bisherigen Entwürfe getan haben, darauf durchgeprüft werden müssen, ob und inwieweit die Aus­ legung, die ihnen die Rechtsprechung gegeben hat, der Idee, der die einzelne Vorschrift dienen will, noch voll gerecht wird. So erscheint es mir z. B. innerlich wenig gerechtfertigt, daß man das Recht, im Anschluß an die Aussagen von Auskunftspersonen oder die Vor­ lesung von Schriftstücken Erklärungen abzugeben (§ 257 StPO.) als ein höchstpersönliches Recht des Angeklagten aufgefaßt sehen will, so daß es dem Verteidiger nicht gestattet sei, wenn auch nur durch eine kurze Erklärung, einer ihm irrig erscheinenden Inter­ pretation einer Urkunde entgegenzutreten oder durch Klarlegung der Richtung seiner Verteidigung zu verhüten, daß die prima vista Wertung, die die Aussage eines Zeugen findet, den Schuldbeweis schlüssig erscheinen läßt. Die Entscheidung des 2. Strafsenats (3. Februar 1911, RGSt. 44, S. 284), die das Recht des Verteidigers auf die Befragung der Auskunftspersonen beschränken will, er­ scheint mir alles andere als überzeugend., Desgleichen muß, wenn ein Beweisverbot wie das des § 252 StPO. (Nichtverlesbarkeit der Aussage eines Zeugen, der erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht) durch von der Rechtsprechung gebilligte Umgehungen (hier: Vernehmung anderer Personen über die frühere Aussage des Zeugnisweigernden) seiner Bedeutung völlig entkleidet ist, ein künftiges Gesetz prüfen, ob es unter diesen Umständen nicht lieber überhaupt auf das Verbot verzichten oder aber ihm eine Fassung geben will, die solche sinn­ fälligen Umgehungen ausschließt. Die gesamten Vorschriften über den Urkundenbeweis werden unter diesem Gesichtspunkt einer besonders sorgfältigen Revision unterzogen werden müssen. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts über den Urkundenvorhalt (der streng zu scheiden ist von der Urkundenverlesung oder der Kon­ statierung des Urkundeninhalts), über die Verlesung einer Urkunde zum Beweise ihres Inhalts haben dazu geführt, daß es kaum ”) Auf diese Gefahr habe ich in meinem Justizirrtum und Wieder­ aufnahme" S. 15f. nachdrücklichst hingewiesen. S. auch Mannheim IW. 1926 S. 1216.

Reform des Strafverfahrens.

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noch Urkunden gibt, deren Inhalt in der Hauptverhandlung nicht zur Kenntnis der beteiligten Gerichtspersonen kommen kann. Sie können in diesen Fällen sogar, soweit ein Vorhalt der Urkunden in Frage steht, den wesentlichen Inhalt dieser Urkunde ihrem Urteil zugrunde legen. Ja: es wird vom Reichsgericht nicht einmal ver­ langt, daß der Vorhalt durch das Protokoll bezeugt ist, so daß in Fällen, in denen das Urteil die Verwertung einer Urkunde erkennen läßt, die vorgehalten werden konnte, solcher Vorhalt geradezu vermutet wird. Die Vorinstanz hat hier auch nur dann Beanstan­ dungen zu gewärtigen, wenn die Intensität der Verwertung des Urkundeninhalts einen solchen Grad erreicht hat, daß das Revisions­ gericht zu der Überzeugung kommen muß, daß nur im Wege der Verlesung die Urkunde in diesen Einzelheiten zur Kenntnis des Gerichts gelangen konnte. Der Inhalt berichtender Urkunden kann aber auch trotz der Vorschrift des § 250 StPO, durch wörtliche Verlesung zur Kenntnis des Gerichts gebracht werden, voraus­ gesetzt, daß die Verlesung zum Beweise ihres Inhalts erfolgt. Daß sie aber nur zu diesem Zwecke geschehen sei, wird sogar, soweit es nicht ausdrücklich ausgesprochen ist, direkt präsumiert und kann nur selten durch die Urteilsgründe widerlegt werden. Das alles ist aus dem Wortlaut des Gesetzes nicht zu erkennen, weil die Ver­ fasser des Gesetzes so verschlungene Pfade der Urkundenbenutzung noch nicht vor Augen sahen. Sie sind erst allmählich und zum Teil noch heute so verdeckt von den Revisionsangriffe wehrenden Rechts­ pionieren des Reichsgerichts geschaufelt worden, daß noch kein Generalstabswerk existiert, auf dem dieser Todesweg des Unmittel­ barkeitsprinzips deutlich zu verfolgen ist. Aber es ist sicher, daß dieses Prinzip im wesentlichen nur noch in der Theorie lebt. Will man es für die Praxis wieder zum Leben erwecken, so bedürfen wir einer völlig neuen gesetzlichen Festlegung dieser Materie, die un­ gerechtfertigt erscheinende Einbrüche in das Prinzip verdrängt, die Konzessionen, die aber eventuell gemacht werden sollen, genau festlegt. Eine Neuregelung des Beweiszwangs wird auch nicht an einer so handgreiflichen und innerlich ungerechtfertigten Unter­ scheidung vorübergehen wie der, daß Gericht und Staatsanwalt in der denkbar formlosesten Weise (durch Postkarte, Telefon, aus dem Zuschauerraum heraus) Zeugen zitieren können, während der Angeklagte, auch wenn ihm kein Verteidiger zur Seite steht, den 30*

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umständlichen Weg der Ladung durch den Gerichtsvollzieher be­ schreiten muß, wenn ihm das Recht aus § 245 StPO, zur Seite stehen soll. Man wird ferner zu prüfen haben, ob und inwieweit Fragen des Beweisantragsrechts, das, wie man sagen darf, fast aus­ schließlich durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts ausgebildet ist — einer der bemerkenswertesten Glanzpunkte wissenschaftlicher Rechtsschöpfung, den die Geschichte des Prozeßrechts auszuweisen hat! —, einer gesetzlichen Regelung zuzuführen sind. Daß der Gesetz­ geber sich hier größte Mäßigung auferlegen muß, und daß es vor allem nicht denkbar ist, die Gründe der Ablehnung von Beweis­ anträgen in einem gesetzlichen Katalog festzulegen, erscheint mir zweifellos"). Aber darum wird doch erörtert werden müssen, ob bestimmte Fragen von prinzipieller Bedeutung, wie z. B. das Dogma von der freien Ablehnbarkeit des Sachverständigen- und Augenscheinsbeweises"), die allzu beliebt gewordene Antezipation der Wertlosigkeit des Beweismittels, das übertriebene Gebrauch­ machen von Wahrunterstellungen") u. a. nicht durch eine gesetzliche Regelung beeinflußt werden können. Weitaus am wichtigsten, alle anderen Fragen aus dem Gebiet der Hauptverhandlung an Bedeutung überragend, ist aber das Problem der Beweiswürdigung. Es ist nicht, soweit es gesetz­ geberisch interessiert, im § 261 StPO, geregelt, sondern im § 267 StPO. Denn soweit der Gesetzgeber darauf einwirken kann, daß 40) Der Entwurf von 1908 wollte dies en Weg gehen. Mit Recht ist aber in den Verhandlungen der Reichstagskommission auf das Bedenken hingewiesen worden, daß eine Legalisierung der Judikatur des Reichs­ gerichts und der von dieser Judikatur anerkannten Ablehnungsgründe zu einem numerus clausus führe und daß andererseits durch die Heraus­ nahme eines dieser Gründe die ganze Judikatur über den Haufen geworfen werde und neue Unklarheit entstehe. Siehe Kommissionsbericht S. 416. 41) S. dazu die Ausführungen von Lobe in LZ. 1914 S. 982ff. und von mir in LZ. 1915 S. 482ff., sowie von I. Goldschmidt, Prozeß als Rechtslage S. 440. 42) Grundsätzliche Gegner der Wahrunterstellung sind Graf zu Dohna, Strafverfahren 2. Aufl. S. 160 Anm. 2 und in IW. 1922 S. 104, I. Gold­ schmidt, Prozeß als Rechtslage S. 453ff. Auch der Entwurf der Reichs­ tagskommission von 1908 strich im § 232 die Wahrunterstellung von der Liste der Ablehnungsgründe. Ich halte diesen weitgehenden Standpunkt, mit dem ich mich in Kürze an anderer Stelle auseinandersetzen werde, nicht für gerechtfertigt.

Reform des Strafverfahrens.

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dieses Prinzip nicht verkannt wird, daß nicht Ungeordnetheit des Denkens, Nichterschöpfung des verfügbaren Beweismaterials durch die Flagge der freien Beweiswürdigung gedeckt wird, — läßt sich das nur dadurch erreichen, daß eine Urteilsbegründung erfordert wird, die dazu schult, solche Fehler zu vermeiden und die, wenn derartige Verstöße doch begangen werden, sie erweist. Gerade in dieser Beziehung ist unsere Strafprozeßordnung überaus mangel­ haft. Der § 267 StPO, begnügt sich mit der Forderung, daß die für erwiesen erachteten Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden sind, im Urteil angegeben, werden. Lediglich in dieser kargen Umgrenzung muß das Urteil der Beweistatsachen Erwähnung tun, im übrigen besteht aber ein Zwang, Beweistatsachen und Beweismittel im Urteil anzugeben, nicht. Ausschließlich für die Angabe der Indizien, d. h. derjenigen Umstände, aus denen das Vorhandensein der gesetzlichen Merkmale gefolgert wird, wird rein instruktionell (nicht zwingend) dem Richter auferlegt, die Tatsachen anzugeben. Auf ihre Nichtangabe kann also die Revision niemals gestützt toeiben43). Die Strafprozeß­ ordnung steht mit einer solchen Regelung der Urteilsbegründung allein da. Nicht nur für das Urteil im Zivilprozeß und im Ver­ waltungsstreitverfahren gilt etwas anderes; auch frühere Straf­ prozeßordnungen, so z. B. die Preußische Kriminalordnung vom 11. Dezember 1805, kannten eine solche Freiheit des Richters nicht. Auch die Militärstrafgerichtsordnung ging im § 326, der irrt übrigen mit dem § 267 wörtlich übereinstimmte, hinsichtlich der Angabe der Indizien über die Strafprozeßordnung hinaus; ihre Anführung war zwingend vorgeschrieben. Allerdings ließ sich konstatieren, daß die Praxis des Neichsmilitärgerichts in dem Be­ streben, hinsichtlich der allgemeinen Verfahrensvorschriften die Konformität mit der Rechtsprechung des Reichsgerichts zu wahren, die Bestimmung des § 326 MStGO. nicht allzu streng gehandhabt hat"). Dieser durch das Gesetz gewährten Zwanglosigkeit des Urteilsverfassers ist es zur Last zu legen, daß in der Praxis der Jnstanzgerichte eine Freiheit der Beweiswürdigung existent werden konnte, die mit dem Sinn, den das Prinzip der freien Beweis­ würdigung verkörpern will, nichts mehr zu tun hat. Ich sage nicht,

“) S. RGSt. 47 S. 100 (109), RG. in IW. 1925 S. 1512 Nr. 23 it. ö.

") Vgl. RMGE. 6 S. 52, 12 S. 120.

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Rechtsanwalt Dr. Max Alsberg

daß das überwiegend festzustellen ist, aber ich behaupte, daß das

doch immerhin in einem Ausmaß der Fall ist, das beachtet sein will.

Denn darüber kann kein Zweifel sein, obwohl es sich nur die

wenigsten klar machen, daß für die reale, d. h. nicht die kongreßmäßig­ schwatzhafte

Befriedigung

des

Vertrauensanspruchs der

Straf­

rechtspflege alles davon abhängt, ob die Urteile der Strafgerichte

verständlich") sind und auch als verständlich durch ihre Begründung nachgewiesen werden können.

Gibt man schon zu, daß die Gründe

eines Urteils nicht derart zwingend sein müssen, daß ein anderer

Schluß als der vom Richter gezogene überhaupt nicht möglich ist, so muß doch unter allen Umständen eine verstehende Kontrolle nach der Richtung zulässig sein, ob die Gründe des Urteils wirklich verstehbar sind oder ob sie unverständlich bleiben").

Nehmen wir

folgenden 5alt47 * *):* * Von * 46 einem Zeugen steht fest, daß er im Vor") Ich gebrauche den Aus druck im Sinne des Begründers der Theorie des „Verstehens" Wilhelm Dilthey, der im „Verstehen" den wesent­ lichen Unterschied zwischen mathematischem und historischem Denken herausgestellt hat, vgl. Dilthey, Gesammelte Schriften Bd. 7, „Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft", L Teil S. 191 ff. 46) Daß das Urteil in erster Linie zu den Parteien und nicht zum Revisionsrichter spricht, wird viel zu wenig beherzigt. Vortrefflich bemerkt Binding, Strafprozeßrecht, IV. Aufl. § 89: „Die Gründe dienen dem Gericht zum Beweise, daß seine Entscheidung auf einer gründlichen und unparteilichen Würdigung des tatsächlichen und rechtlichen Materials be­ ruht, und diesen Beweis hat es an erster Stelle für die durch dieselben betroffenen Personen zu führen." 47) Er entstammt dem Tatbestand, den ich meiner Abhandlung „Zur Lage der Strafrechtspflege", Archiv für Kriminologie Bd.82 (1928) S. 99 ff., zugrunde gelegt habe. Der ungewöhnlich mühevollen Darstellung dieses Falles habe ich mich nur deshalb unterzogen, weil meine wissenschaftliche Beschäftigung mit den Problemen der Dogmatik und Reform des Straf­ prozesses, die ich als Hauptteil meiner Lebensarbeit anlehen darf, mir immer wieder aufs Neue gezeigt hat, daß wir ohne intensivste Durchdenkung und Bearbeitung praktischer Fälle nicht weiterkommen. Gewiß: auch historisches Material kann höchst förderlich sein und wichtigste Fragen und Nöte unserer Zeit belichten. Dieser Erkenntnis verdanken mein „Prozeß des Sokrates im Lichte moderner Jurisprudenz und Psychologie", Verlag Bensheimer, Mannheim-Berlin, 2. Aufl. 1928, sowie meine Herausgabe von Henri Roberts „Großen Prozessen der Weltgeschichte", Verlag Stilke, Berlin 1928, zu denen ich eine umfassende, insbesondere ihre Lehren für unsere Zeit erschöpfende Einleitung geschrieben habe, ihre Entstehung. Daß das Studium der Prozesse der Gegenwart naturgemäß daneben nicht ruhen darf, weil es vor allem wertvollstes legislatorisches Material

Reform des Strafverfahrens.

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verfahren gelogen hat, indem er, als von ihm persönlich erlebt, ein angeblich im Interesse seines früheren Chefs begangenes Betrugs­ manöver geschildert hat, das er gar nicht erlebt haben kann, weil er zu der in Frage stehenden Zeit noch gar nicht in dem Geschäft

angestellt war.

Dieser Zeuge erscheint danach in der Hauptver­

handlung, um seinen früheren Chef, von dem er wegen Diebstahls

entlassen war, anderweit zu belasten.

Zu diesem Zweck erzählt er,

er habe einmal aus einem Nebenzimmer gehört, daß die Bahn­

beamten bei Abnahme von Eiern getäuscht worden seien, indem in ihrer Gegenwart Eier zerschlagen seien.

Muß da nicht das Ge­

richt, solange sich Strafurteile noch an den Verstand und nicht an den Glauben der Leser wenden, verstehbar machen, weshalb es diesem

Zeugen den von den Bahnbeamten als undenkbar bezeichneten

zutage fördern kann, dürfte mein Buch „Justizirrtum und Wiederaufnahme", Verlag Langenscheidt, Berlin 1913, beweisen, zu dessen zweitem Teil neben meinen Fällen namhafte Kollegen Darstellungen aus ihrer eigenen Praxis beigesteuert haben. Jedenfalls darf ich mit einer gewissen Genugtuung feststellen, daß die legislatorische Bedeutung dieser Arbeit von der Kritik einmütig anerkannt worden ist. Sind wir ehrlich gewillt, zweifellose Miß­ stände unserer Praxis — nicht für die Quantität, wohl aber die Qualität solcher Mißstände übernehme ich die Gewähr — abzustellen und zugleich für eine brauchbare gesetzgeberische Arbeit die richtigen Perspektiven zu ge­ winnen, so bleibt uns nur die Erforschung und Verarbeitung lebenswarmen forensischen Geschehens. Daß der, dem die Dinge am Herzen liegen, sich dabei nicht immer auf Triften wiederfindet, auf denen er die Klänge der Schalmei ertönen lassen möchte, das liegt nun einmal daran, daß die Wirk­ lichkeit doch zuweilen verteufelt rauh ist. Solche Klänge geleiten ihn auch nicht immer zu seiner Arbeit. Das erschütternde Erlebnis ist es, von dessen Druck er sich vor allem durch gedankliche Bewältigung zu befreien sucht. Daß sie aus ehrlichem Empfinden zu ehrlichem Wollen führt, sollte gerade der berücksichtigen und beherzigen, der selbst immer wieder von gleichen Sorgen zu erzählen weiß, auch wenn über allem für ihn die ungeschriebene Devise steht: Das Anerkenntnis, daß nicht alles zum Besten bestellt sein kann, nötigt nicht auch zu dem Anerkenntnis, daß es so im Einzelfall ist, selbst wenn es für den Einzelfall schwarz auf weiß bewiesen wird. Dies gegen Reichert, Deutsche Richter-Zeitung 1928 S. 260: zur Methode! Zur Sache verweise ich auf die weiteren Ausführungen dieses Gutachtens. Sie stellen klar, warum eine objektive kritische Darstellung von Beweis­ würdigungen, die Reichert nicht nur für möglich hält, sondern sogar fordert — scheinbar allerdings nur in der Theorie — durchaus notwendig ist, wenn wir in dem, worin ich den Kernpunkt der Reform sehe, der Be­ weiswürdigung, der Urteilsfeststellung und deren Revisibilität zu besseren Verhältnissen gelangen wollen.

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Rechtsanwalt Dr. Max Alsberg

Vorgang geglaubt hat, obwohl der Zeuge zu allem Überfluß fest­ stehendermaßen sogar schwerhörig ist? Oder eine Zeugin erzählt, sie habe sich eine den Angeklagten belastende Äußerung eines Dritten unmittelbar, nachdem sie von diesem Dritten gemacht sei, notiert. Zu diesem Zweck legt sie den Notizzettel vor. Sein Inhalt wird in allen wesentlichen Teilen als unmöglich erwiesen. Das Gericht will sich darauf zur Belastung des Angeklagten mit der Tatsache begnügen, daß jedenfalls unmittelbar nach jenem Gespräch ein solcher Notizzettel zustande gekommen ist. In dem Notizzettel heißt es nun aber: „Wie er mir seinerzeit erzählte". Er zeigt also eine Diktion, in der man sich nicht eine soeben gehörte Mit­ teilung notiert. Muß nicht der Richter sagen, weshalb er entgegen dieser völlig eindeutigen Ausdrucksweise des Notizzettels der Zeugin glauben will, daß es sich tatsächlich um eine unmittelbar nach einem solchen angeblichen Gespräch hergestellte Urkunde und nicht um ein erst später zu Denunziationszwecken fabriziertes Dokument — wie eingewandt wurde — handle? Nach § 267 StPO, braucht er es nicht. Und daraufhin wird die Meinung vertreten, daß das nicht nur in der Ordnung sei, sondern sich sogar als notwendige Konsequenz des Prinzips der freien Beweiswürdigung ergebe48).49 Eine solche Auffassung zeigt nicht, obwohl, sondern weil sie von prominentester Seite vertreten worden ist, wie schlimm es um die richtige Auffassung vom Wesen der freien Beweiswürdigung bestellt ist. Daß sich objektiv für alle Fälle gültige Gesetze für die Verwertbarkeit des Beweismaterials nicht aufstellen lassen, das allein besagt die Freiheit der Beweiswürdigung. Mit ihrer Ein­ führung an Stelle der gesetzlichen Beweistheorie sollte keineswegs das Unberechenbare, Unverständliche, Willkürliche, Unkontrollier­ bare der Subjektivität des einzelnen Richters auf den Thron er­ hoben werden. Es sollte lediglich dafür gesorgt werden, daß nicht tote formale Rechtsregeln, sondern vom lebendigen Geist des Lebens erfüllte Denkregeln die dem Richter durch das Beweisverfahren verschafften objektiven Anhaltspunkte mit den von ihm erforderten Folgerungen verknüpfen. Verletzt der Richter bei seiner Urteils­ bildung Gesetze der Logik oder der Psychologie, so verletzt er damit auch das Gesetz48). In keiner Weise gestattet denn auch das Prinzip 48) Nämlich von Reichert a. a. O. 49) Vgl. auch Heinsheirner in der Festschrift für Franz Klein, Wien 1914 S. 135.

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der freien Beweiswürdigung dem Richter die sorgfältige Prüfung jeder Beweistatsache, sowohl in ihrer Einzelbedeutung wie in ihrer Bedeutung für das Ganze, durch ein subjektives Meinen zu ersetzen. „Das bequeme Ruhekissen der gesetzlichen Beweisregel" sollte, wie Wach bei Einführung des Prinzips der freien Beweis­ würdigung in den Zivilprozeß betonte, dem Richter genommen werden: nicht um einem „Gesamteindruck" zu weichen, hinter dem sich „nebelhafte Vorstellungen und undiszipliniertes Denken zu ver­ bergen pflegen"^). Daß es aber in der Praxis leider zum Teil anders ist, daß die intime conviction das Feld behauptet, daran ist vornehmlichst die Zwanglosigkeit des Richters bei der Urteils­ begründung schuld. Sie hat durch die jahrzehntelange Entwöhnung des Richters von der Pflicht, die Gründe seiner Überzeugung einleuchtend bis zum Letzten darzutun, geradezu — ich gebrauche das Wort in einer ethisch völlig indifferenten Bedeutung — eine Verwilderung unserer Anschauungen vom Wesen der freien Beweis­ würdigung begründet. In den ersten Jahren nach Einführung der freien Beweiswürdigung griffen unsere namhaftesten Praktiker zur Feder, um mit schonungsloser Kritik gegen die „Verflachung der Beweiswürdigung" und die „ungenügende Motivierung der Urteile" zu Felde zu ziehen^). Wer dagegen heute in einem wissen­ schaftlichen Organ aktengetreu an Beispielen, die die kühnste Phan­ tasie sich nicht ausdenken könnte, einmal aufzeigt, was unter dem § 267 StPO, aus der freien Beweiswürdigung geworden ist, muß sich entgegenhalten lassen, daß man mit solchen Erörterungen „vom Boden der allein ausschlaggebenden mündlichen Verhandlung in bedenklicher Weise abweicht"52 50). 51 Wir sind in den letzten Jahr­ zehnten durch die Fortschritte der Phänomenologie unendlich viel weiter gekommen, innere Vorgänge, die nicht bewiesen werden können, wenigstens darzustellen. Warum sollen wir in der Fähig­ keit, den psychologischen Werdegang eines Urteils ans Tageslicht zu heben, so rückständig geworden sein? Ich kann es nicht glauben, daß der Richter zu nichts anderem fähig sei als: mit abgenutzten und deshalb völlig wertlosen Floskeln zu erklären, daß ein Zeuge einen völlig glaubwürdigen Eindruck gemacht habe, und daß der 50) Wach, Vorträge über die Reichszivilprozeßordnung, 2. Aufl. 1896 S. 215. 51) S. Generalstaatsanwalt Schwarze, Gerichtssaal Bd. 35 S. 404ff. 52) S. Reichert a. a. O.

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Richter nicht einmal in der Lage sei, zu sagen, warum ihm dieser Eindruck höher gestanden habe als eine Tatsache, die nach fest­ stehenden Gesetzen der Vernunft und Erfahrung solcher Glaub­ würdigkeit widerspricht. Wenn ihm das nicht möglich ist, so liegt das nicht daran, daß ihm die Ausdrucksmittel fehlen, sondern daran, daß die Feder eines jeden denkenden Menschen von selbst versagt, wenn sie vor die Aufgabe gestellt ist, etwas darzustellen, was kein Verstand der Verständigen begreifen kann. Daß zwar, wo Be­ griffe fehlen, sich zur rechten Zeit ein Wort einstellen kann, wollen wir nach Goethe nicht mehr bestreiten, wohl aber das Gegenteil. Ein Urteil, das auf fehlerhaften Denkvorgängen beruht, läßt sich nicht als richtig erweisen, und der Revisionsrichter wiederum kann es als auf diesen Denkvorgängen beruhend höchstens dann er­ kennen, wenn sie ihm vom Urteil offen serviert werden. Das setzt aber einen Begründungszwang voraus, wie ihn der § 267 StPO, nicht kennt. In dieser revisionsrichterlichen Bedeutung erschöpft sich aber das Problem des Begründungszwangs keineswegs; sie ist sogar von untergeordnetem Belang. Die Hauptbedeutung eines strengen Begründungszwangs liegt in seiner pädagogischen Wirkung. Ist der Richter verpflichtet, die logischen und psycho­ logischen Grundlagen der Urteilsfindung anschaulich darzustellen, und zugleich zu schildern, welche Überlegungen er bei Wertung des Tatsachenmaterials angestellt hat, so zwingt ihn diese Forderung, sich selber Rechenschaft über das einwandfreie Zustandekommen seines Urteils zu geben. Nur so wird seine Fähigkeit, den objektiven Charakter auch des Irrationalen zu erkennen, gebildet, nur so wird er vor allem zur Kritik an seinen eigenen Gründen erzogen — ehe es im Einzelfall zu spät ist. Auf die Begründung der Urteile muß aber den Parteien nach doppelter Richtung eine Einwirkungsmöglichkeit zu­ gestanden werden. Zunächst nach der Richtung, daß sie, was ihnen die geltende Strafprozeßordnung im Gegensatz zur Zivilprozeß­ ordnung versagt63), eine Ergänzung bzw. Berichtigung der Urteils­ gründe beantragen kann. Es ist ein unerträglicher Zustand, daß die Parteien, selbst wenn wichtigste rechtliche Einwände unerörtert bleiben und das zu ihrer Grundlage dienende Beweismaterial gar nicht oder jedenfalls völlig unzureichend im Urteil dargestellt ist, “) S. 4. Senat vom 6. März 1896 RGSt. 28 S. 247.

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keine Möglichkeit haben, durch einen Berichtigungsantrag eine Ergänzung des Urteils herbeizuführen. Aus der Wefensdifferenz von Zivil- und Strafprozeß läßt sich nicht, jedenfalls nicht über­ zeugend, herleiten, daß solche Berichtigung auf den Zivilprozeß beschränkt bleiben müsse. Die Berichtigung bzw. Ergänzung könnte ebenso wie im Zivilprozeß unter Ausschluß jeder Beweisaufnahme durch unanfechtbaren Beschluß geschehen. Da lediglich an das Erinnerungsvermögen der beteiligten Richter appelliert wird, würde es einer mündlichen Verhandlung nicht bedürfen. Daß es heute keine Möglichkeit gibt, auf Ergänzung oder Berichtigung des Urteils anzutragen, erscheint mir als der Hauptgrund dafür, daß von der an sich vortrefflichen Idee der Sprungrevision so wenig Gebrauch gemacht wird. So lange das schriftliche Urteil nicht vorliegt — und in der Zeit, die zwischen Urteilsverkündung und Einlegung eines Rechtsmittels liegt, ist das nur selten der Fall —, kann regel­ mäßig nicht entschieden werden, ob man darauf vertrauen kann, daß das anzufechtende Urteil den Tatbestand in einer solchen Voll­ ständigkeit bringt, daß die rechtliche Nachprüfung nicht lediglich daran scheitert, daß das Revisionsvorbringen der Partei in den schriftlichen Urteilsgründen, deren Ergänzung nicht beantragt werden kann, keine zureichende tatsächliche Stütze findet. Daneben trete ich für die Zulassung von Begründungs­ anträgen ein, wie ich sie nennen möchte. Darunter verstehe ich einen in der Hauptverhandlung gestellten Antrag, durch den die Partei sich eine Berücksichtigung ihres Vorbringens im Urteil sichert. Das kann nach doppelter Richtung in Frage kommen. Zunächst nach der Richtung, daß bestimmter Verhandlungsvorgänge (Parteierklärungen, Beweiserhebungen) im Urteil Erwähnung getan wird, sodann nach der Richtung, daß eine der Partei ungünstige Beweiswürdigung nicht vorgenommen wird, ohne daß ihre Ein­ wände im Urteil Berücksichtigung finden. Erwähnt das Urteil nicht, daß der Angeklagte einen bestimmten Schuld- oder Straf­ ausschließungsgrund vorgebracht hat, so kann das Revisionsgericht heute dazu in der Regel überhaupt nicht Stellung nehmen. Darüber, ob das Protokoll gegenüber dem Urteil beweiskräftig ist, wenn es einen solchen Einwand des Angeklagten erkennen läßt, besteht, da keine wesentliche Förmlichkeit (§§ 273, 274 StPO.) in Frage steht, keinesfalls eine konstante Praxis. Noch weniger darüber, ob einem Antrag auf Ergänzung des Protokolls, wenn sich aus

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Rechtsanwalt Dr. Max Alsberg

dem Protokoll nichts über den Einwand entnehmen läßt, stattzu­

geben ist.

In einem Fall, in dem der Besitzer eines Gutes für die

Zeit seiner Abwesenheit ihm bekannte junge Leute ausgenommen

hatte, hatten sich diese unter gewaltsamer Öffnung der Türe zum Weinkeller an einem Abend die Weinvorräte ihres Gastgebers

etwas reichlich zu Gemüte geführt.

Gegenüber der Anklage des

Einbruchsdiebstahls verteidigten sie sich, wie auch das Verhand­ lungsprotokoll ergab, damit, daß sie an sich die Erlaubnis gehabt hätten, sich Wein aus dem Keller zu holen, und daß sie die Tür

nur erbrochen hätten, weil der Schlüssel von ihnen nicht gefunden

sei.

Das Urteil tut dieses Einwandes keine Erwähnung.

Die Re­

visionsinstanz kam über die Frage der Beweisbedeutung des proto­ kollarischen Vermerks mit der kaum voll überzeugenden Erwägung

hinweg, daß die Angeklagten nach dem auf Gewährung mildernder Umstände

lautenden

Anträge

ihres

Verteidigers

nichts

erklärt

hätten; darin sei die Rücknahme ihres bisherigen Verteidigungs­ vorbringens zu erblicken ^).

Dabei wird man beachten müssen,

daß in der Regel der Fälle ein solcher Einwand aus dem Protokoll sich überhaupt nicht präzise nachweisen läßt.

Was Zeugen und

Sachverständige ausgesagt haben, kann aus der Sitzungsnieder­ schrift der Strafkammer nicht ersehen werden.

Hat ein Sach­

verständiger z. B. erklärt, daß das Verhalten des Angeklagten durch

einen bestimmten Handelsbrauch gedeckt werde, so kann das Re­ visionsgericht die Bedeutung dieser Bekundung in jedem Falle

nur werten, wenn sie vom Urteil referiert wird. Revisionsrichterlich

wäre hier natürlich bis zu einem gewissen Grade schon dadurch geholfen, daß

dem Angeklagten der oben erörterte Antrag auf

Ergänzung des Urteils gewährt wird.

Allerdings, wie schon gesagt,

nur zu einem gewissen Grade. Denn es bedeutet praktisch immerhin

einen Unterschied, ob die Partei in einem Zeitpunkt, in dem den

Prozeßbeteiligten alles frisch vor Augen steht, und in dem noch Erörterungen, insbesondere auch die Befragung der Auskunfts­ personen möglich ist, auf die Berücksichtigung eines ihr wesentlich

erscheinenden Punktes hinwirken kann, als wenn sie darauf ange­

wiesen ist, nach Wochen, wenn das schriftliche Urteil vorliegt, das als in der Verhandlung bekundet anerkannt zu sehen, dessen sich

54) Wer weiß, ob nicht die Angeklagten geglaubt haben, daß das Übermaß des Weingenusses oder die Tatsache, daß sie die Tür aufgebrochen hatten, sie, wenngleich milder, strafbar mache?

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das Gericht angesichts der Tatsache, daß er mit seinen zusätzlichen Erklärungen zum Urteil dem Revisionsvorbringen des Antrag­ stellers eine Stütze leihen soll, erinnert. Vor allem ist zu beachten, daß nur für den Beweis der Richtigkeit einer Revisionsrüge auf diesem Wege geholfen werden kann, daß aber die Partei da­ durch, daß ihr nachträglich ein Berichtigungsanspruch gewährt wird, .nicht darauf hinzuwirken vermag, daß das Gericht schon bei der Urteilsfindung die Bedeutung dieses Moments immer klar vor Augen hat und sich zugleich bewußt ist, daß es sich mit ihm im schriftlichen Urteil unter allen Umständen auseinandersetzen muß. Gar nicht ist der Partei aber mit einem Berichtigungsanspruch geholfen, soweit nicht die Berücksichtigung eines bestimmten Vor­ bringens, sondern eine Wertung in Frage steht. Hat die Partei die Glaubwürdigkeit eines Zeugen angezweifelt oder hat sie eine bestimmt präzisierte Auslegung einer verlesenen Urkunde angestrebt, so ist ein Berichtigungsantrag nicht das geeignete Mittel, zu er­ reichen, daß ihre Darlegungen vollständig und verständig gewertet werden. Glaubt sie sich, um an bereits gebrachte Beispiele anzu­ knüpfen, dagegen schützen zu sollen, daß der Inhalt einer Urkunde, in der es heißt, daß der Urkundenverfasserin eine bestimmte Person „seinerzeit" erzählt habe, nicht mit einer Feststellung in Einklang gebracht wird, durch die der Ausstellerin der Urkunde geglaubt wird, daß sie sofort nach jener angeblichen Erzählung die Niederschrift gefertigt habe, so könnte das nur durch einen Antrag des Inhalts erreicht werden, daß die Partei für den Fall, daß der Zeugin ihre Darstellung geglaubt werden soll, verlangt, daß sich das Gericht mit dem von der Partei angerufenen Wortlaut der Urkunde aus­ einandersetzt. Erklärt das Gericht, trotzdem es auf das Bedenken hingewiesen ist, daß es die Diktion der Urkunde mit der Behauptung der Zeugin für durchaus vereinbar halte, so wird der Revisions­ richter ihm entgegenhalten, daß das gegen denkgesetzliche und sprach­ gesetzliche Grundsätze verstoße. Und da der Jnstanzrichter sich das selber sagt, wird er es erst gar nicht in sein Urteil hineinschreiben. Damit werden aber Verurteilungen verhütet, die heute nur des­ halb möglich sind, weil kein Zwang für den Richter besteht, sich restlos mit den Momenten auseinanderzusetzen, die ihn, wenn er sie richtig durchdenkt, hindern müssen, eine Verurteilung auszusprechen. Letzten Endes auch deshalb, weil er selbst voraussehen würde, daß sein Urteil die Klippe der Revision nicht umschiffen kann. Der

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andere Beispielsfall macht die Bedeutung des von mir gemachten Vorschlages ebenso klar. Befürchtet die Partei, es könne einem Zeugen Glauben geschenkt werden, dem sie nachgewiesen hat, daß er einen von ihm in den Akten erzählten Vorfall gar nicht erlebt haben kann, weil er zu der in Frage stehenden Zeit noch gar nicht in dem Geschäft angestellt war, so wird sie den Antrag stellen, das Gericht möge sich, falls es dem Zeugen glauben wolle, mit dieser Tatsache im Urteil auseinandersetzen. Die Partei braucht dann nicht damit zu rechnen, daß diese Tatsache, deren Relevanz ver­ ständigerweise nicht abgestritten werden kann, im Urteil, wie das in dem Fall geschehen ist, dem ich das Beispiel entnehme, unerörtert bleibt. Meint die Partei, sich dann noch dagegen schützen zu müssen, daß diesem Zeugen sogar geglaubt wird, er habe aus einem Neben­ raum einen bestimmten, nur mit feinstem Gehör zu unterscheidenden Klang wahrgenommen, den unparteiische, unmittelbar am Ent­ stehungspunkt des Klanges stehende Personen nicht gehört haben, obwohl von diesen Zeugen niemand behauptet hat, daß sie schwer­ hörig seien, während es von dem Belastungszeugen feststeht, dann wird die Partei einen entsprechenden Begründungsantrag stellen und es jedenfalls so erreichen, daß die aktenkundige Tatsache, daß der Zeuge, dem man diese Erzählung geglaubt hat, schwerhörig ist, im Urteil nicht (wie es ebenfalls in dem Fall geschehen ist, dem ich das Beispiel verdanke) einfach übergangen wird. Was der von mir vorgeschlagene Begründungsantrag anstrebt, bedeutet keineswegs ein grundsätzliches Novum für die Rechts­ stellung der Partei im Strafprozeß. Schon mit Hilfe des Beweis­ antrages kann die Partei Einfluß auf die Richtung der freien Be­ weiswürdigung des Gerichts gewinnen und sich dagegen sichern, daß der Revisionsinstanz die Nachprüfung wesentlicher Einwände dadurch versperrt ist, daß sie im Urteil nicht als von der Partei geltend gemacht angeführt werden^). Daß das nicht nur auf dem Wege erreicht werden kann, daß die Partei die Erhebung neuer Beweise beantragt, ist das Ziel meines Vorschlages. Den Gerichten entstehen durch die Annahme meines Vor­ schlages keineswegs Schwierigkeiten, die in Hinblick auf den prak­ tischen Wert, den ich meinem Vorschlag beimesse, irgendwie in 6S) S. dazu meine Abhandlung „Der Beweisantrag im Straf­ prozeß. Eine begriffliche Grundlegung" in der Festschrift für Ernst Heinitz, Berlin 1926 S. 429.

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die Wagschale fallen können. Das Gericht hat es nicht einmal nötig, was bei der Ablehnung von Beweisanträgen von ihm er­ fordert wird, durch einen sorgfältig zu redigierenden, in der Sitzung zu fassenden und zu verkündenden Beschluß sich mit dem Begrün­ dungsantrag auseinanderzusetzen. Es braucht ihn lediglich wie einen Eventualantrag bei der Urteilsberatung darauf zu prüfen, ob und inwieweit sich gegenüber dem Antrag das Urteil begründen läßt. Die Gerichte werden auch so nicht etwa in die Lage versetzt, sich mit haltlosen Begründungsanträgen der Parteien im Urteil länger aus­ einanderzusetzen müssen. Begründungsanträge, die ersichtlich den Kern der Dinge verkennen, werden ein Urteil revisionsrichterlich noch weniger gefährden können wie fehlgehende Beweisanträge, die den Bestand des Urteils jedenfalls viel eher in Frage zu stellen vermögen, weil hier die Erfüllung gewisser Formalien während der Hauptverhandlung vom Antragsteller verlangt werden kann. Daß so neben dem Verhandlungsprotokoll schriftliche Erklärungen der Parteien eine Rolle spielen, kann höchstens als ein Schönheits­ fehler erscheinen und auch nur für den, der nicht beachtet hat, daß das Reichsgericht neuerdings in zunehmendem Maße die Berück­ sichtigung von Beweisanträgen davon abhängig macht, daß sie entsprechend dem Verlangen des Gerichts vom Antragsteller schrift­ lich formuliert sind°"). Als Prozeßbeschleunigungsmittel würde die Annahme meines Vorschlages nicht wirken. Das soll er aber auch nicht. Ich erachte es sogar im höchsten Maße für wünschenswert — die Aufgabe des Verteidigers wird sicherlich dadurch nicht erleichtert —, daß Urteile nur nach sorgfältigster Überlegung ergehen, und daß das Gericht bei der Urteilsfällung all das unverrückbar vor Augen sieht, womit es sich auseinandersetzen muß, wenn das Urteil in Rechtskraft erwachsen soll. In dem bekannten Anleitungswerk von Kroschel „Die Abfassung der Urteile in Strafsachen" war in früheren Auf­ lagen vortrefflich die Verlockung geschildert, die an den Urteils­ verfasser herantritt, der bei der Abfassung des Urteils sieht, daß er sein Urteil nicht revisionssicher gestalten kann, wenn er nur das als erwiesen ansieht, was bei der Beratung des Gerichts erwogen und von der Mehrheit des Gerichts als erwiesen angesehen ist.

5‘) S. RG. IW. 1927 S. 911 Nr. 35 und RG. IW. 1927 S. 3056 Nr. 19.

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„Die Versuchung ist oft groß. Vielen rechtlich zweifel­ haften Fällen kann man dadurch, daß man das oder jenes als erwiesen oder unerwiesen hinstellt, die Spitze abbrechen, so daß das Urteil der Revision keine Blöße bietet; eine Be­ richtigung des Tatbestandes aber gibt es nicht. Der Urteils­ verfasser sagt sich dann vielleicht zu seiner Beruhigung, der Angeklagte sei zweifellos schuldig, wenn also das Urteil un­ anfechtbar gemacht werde, geschehe ihm kein Unrecht. Es bedarf wohl nur der Bemerkung, daß das Scheingründe sind, daß ein Richter, der so verfährt, gegen Pflicht und Gewissen handelt und das Recht beugt."

So war z. B. noch in der 3. Auflage S. 52 zu lesen. In späteren Auflagen — ich kann im Augenblick nicht feststellen, von welcher Auflage an — sind diese Sätze gestrichen. Ich weiß nicht, weshalb es geschehen ist. Ich kann mir nicht denken, daß der Verfasser bzw. die, die an seiner Stelle die Neuauflagen besorgen, der Ansicht wären, vor solchen Konflikt würde der Strafrichter nicht mehr gestellt. Denn eine solche Auffassung wäre grundfalsch^). Ich kann mir auch nicht denken, daß man es für überflüssig erachtet hat, offen, besonders in einem Werke, das den richterlichen Nachwuchs heranbilden soll, auszusprechen, daß die Revisionssicherheit eines Urteils, jedenfalls vom rechtsethischen Standpunkt aus gesehen, nicht der Güter Höchstes ist. Ob man sich gesagt hat, daß solche Mahnung doch nicht genügend beachtet wird, und daß man mit 67) Nur ein Zufall kann natürlich der Außenwelt von solchen Kon­ flikten und ihrer Lösung Kenntnis geben. Von Interesse ist in dieser Be­ ziehung das Urteil des 2. Senats vom 1. April 1913 RGSt. 47 S. 115. Die Vorinstanz hatte den Angeklagten des schweren Diebstahls im straf­ erhöhenden Rückfall für schuldig erkannt, dann aber bei der schriftlichen Abfassung des Urteils gemerkt, daß überhaupt kein Rückfall vorlag. Darauf hatte sie in den Urteilsgründen erklärt, daß bei der Zuerkennung der Strafe „einzig und allein maßgebend" gewesen sei, daß der Angeklagte einen Einbruchsdiebstahl begangen habe. Die Tatsache, daß die Verurteilung wegen Rückfallsdiebstahl erfolgt war, ließ sich nun aber nicht aus der Welt räumen, denn sie war mündlich verkündet und durch das Sitzungsprotokoll bezeugt. So war das Reichsgericht in der Lage, festzustellen, daß es sich bei der Begründung der Strafzumessung um eine „nachträgliche Erwägung" handle. Dieser Widerspruch ermöglichte dem Reichsgericht die Aufhebung des Vorderurteils. Wann ereignet sich aber einmal ein solcher Ausnahme­ fall, der dem Reichsgericht diese Feststellung gestattet?

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einem derart scharfen Urteil lieber zurückhalten soll, wenn der, den es trifft, sich vielleicht optima ticke zu dem Grundsatz bekennen zu dürfen glaubt, der Zweck heilige die Mittel —, wer kann das wissen? Es mag auf sich beruhen. Denn wichtiger als durch An­ leitungswerke einen solchen Konflikt zu lösen, erscheint es mir eine falsche Lösung durch das Gesetz unmöglich zu machen, ja darüber hinaus die Entstehung solchen Konflikts selbst. Dazu erachte ich die von mir gemachten Vorschläge so lange für allein geeignet, als ich nicht bessere kenne. Schon aus rein weltanschaulichen An­ schauungen heraus werden sie — daran zweifle ich nicht — nicht allenthalben freudig begrüßt werden. Denn es liegt in ihnen, das verkenne ich nicht, das beschlossen, was Richard Schmidt in seinem schönen Nachruf auf Friedrich Stein als der beiden Freunde ge­ meinsames Bekenntnis betonte: eine „scharfe Absage an jenes ungesunde, eine Befreiung des Richters von den Schranken des Rechts anstrebende Ideal eines Übermenschentums in der Justiz""). Alles, was man zur Verbesserung der Hauptverhandlung legislatorisch tun kann, hat einen einwandfreien Wert nur dann, wenn eine Revisionsinstanz über die Einhaltung der gesetz­ lichen Regeln wacht. Kaum ein Richter wird formalen Vorschriften, wo ihre Einhaltung ihm im einzelnen Falle nicht als die geeignete Methode erscheint, der Ermittlung der materiellen Wahrheit auf schnellstem Wege zu dienen, mit einer solchen Akribie gerecht zu werden suchen, wie da, wo ihre Nichteinhaltung infolge Eingreifens der Revisionsinstanz zur Nichtigkeit seines richterlichen Aktes führen könnte. Daß ein Jnstanzgericht, das nicht ein Revisionsgericht, sondern ein zweites Jnstanzgericht über sich hat, bei Anwendung der Strafprozeßordnung die reichsgerichtliche Judikatur mit pein­ lichster Gründlichkeit berücksichtigt, ist jedenfalls nicht die Regel, übrigens auch ein Argument gegen die Berufung, dem sich ge­ wissermaßen organisch das andere Argument hinzugesellt, daß ein letztes Bedenken des Erstinstanzrichters gegen die Unzweifelhaftig­ keit der eigenen Meinung oft durch die Erwägung erstickt wird, daß seine Entscheidung keine endgültige ist. Wobei in Parenthese bemerkt werden mag, daß umgekehrt der Berufungsrichter sein 6S) Abgedruckt in den nach dem Tode Friedrichs Steins erschienenen Auflagen seines „Grundriß des Zivilprozeßrechts", 3. Ausl. 1928 S. VII. 35. DJT. 1.

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letztes Bedenken wieder leicht mit der Erwägung erstickt, daß der Vorderrichter auch über solche Zweifel hinweggekommen sei.

Das Rechtsmittel der Revision ist ein Rechtsmittel, das weniger durch seine Anwendung im Einzelfalle wirkt, als durch die Tatsache, daß es überhaupt existiert. Gerade deshalb muß alles Sinnen darauf gerichtet sein, die Grenzen der revisionsrichterlichen Nachprüfung nicht enger zu stecken als es Natur und Eigenart dieses Rechtsmittels unbedingt erfordern. Die oben erörterte Destruktion der freien Beweiswürdigung wäre keinesfalls in dem Maße, in dem sie zu konstatieren ist, möglich gewesen, wenn das Reichsgericht nicht die revisionsrichterliche Mög­ lichkeit, einzugreifen, über das gebotene Maß hinaus eingeengt hätte. Das Reichsgericht bekennt sich zwar zu dem Prinzip, daß die Verletzung der Gesetze der Logik revisibel sei, was es aber unter Verletzung der Gesetze der Logik versteht, ist nur ein winziger Ausschnitt aus dem Gesamtbereich der Logik°°). Für das Reichsgericht existieren nur die Gesetze des Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten. Ist z. B. aus der Prämisse „weiß" der Schluß „schwarz" gezogen, so konstatiert das Reichsgericht, daß der Satz a = a verletzt ist, und daß deshalb das Urteil gegen die Gesetze der Logik verstoße. Kommt von zwei Todesarten nur Selbstmord oder Unglück in Frage, so wäre durch die Feststellung eines natürlichen Todes das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten verletzt und damit das Urteil ebenfalls revisibel. Damit aber wird nur das primitivste Untergerüst der angewandten Logik als zum Bereich der Logik gehörend anerkannt, nicht aber die vielfältigen Denkregeln und komplizierten logischen Argumentationen, die eine praktische Anwendung auf differenzierte Verhältnisse überhaupt erst möglich machen. Auf solchen formalen Grundaxiomen wie den vom Reichsgericht anerkannten läßt sich zwar das Gebäude einer mathematischen Logik aufbauen, nicht aber das System einer Logik, die einen historischen Sachverhalt in sich fassen soll. Nur um die historische Wahrheit und nicht um die mathematische Wahrheit handelt es sich aber beim Schuldbeweis. Ist das für die Frage des Maßes der Gewißheit eine Einschränlung, so be­ deutet es für die Frage der logischen Nachprüfung eine Ers") Von der Methodologie die gerade den Kernpunkt der geistes­ wissenschaftlichen Logik bildet, ganz zu schweigen.

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Weiterung des nachprüfbaren Materials. Ist eine Gewißheit eine mathematische, so sind die Fehlerquellen naturgemäß nur geringe, weil mathematische Gewißheit eben besagt, daß die Er­ kenntnis aus wenigen, absolut unzweifelhaften Grundprinzipien hergeleitet ist. Ist eine Gewißheit aber eine historische, so liegt darin von selbst, daß sie nicht auf wenigen feststehenden Axiomen aufbaut, sondern auf der Vielfältigkeit der Geschehnisregeln und Erfahrungssätze. Die Berücksichtigung der wertrationalen Ge­ schehnisregeln und Erfahrungssätze dem Revisionsrichter zu ver­ wehren, kann nicht als Konsequenz des Prinzips der freien Beweis­ würdigung anerkannt werden. Die Freiheit von starren Rechts­ regeln (gesetzliche Beweistheorie) bedeutet keineswegs notwendig, daß der Revisionsrichter nicht nachprüfen kann, ob die Fest­ stellungen des Vorderrichters einer sorgfältigen, dem Einzelfall angepaßten Erkenntnismethodik entsprungen sind. Mit Freiheit der Beweiswürdigung hat es nichts zu tun, wenn man vom Re­ visionsrichter verlangt, daß er in respektvoller Scheu nicht einmal den Schleier zu lüften wage, ob Erklärungen, die das Urteil als tatsächliche Feststellungen bringt, mehr als Hypothesen sind, d. h. ob sie auf realen Beweisvorgängen und ihrer Würdigung in der Hauptverhandlung beruhen. Wenn, um an das oben gebrachte Beispiel von den im Beisein der Bahnbeamten angeblich zer­ schlagenen Eiern anzuknüpfen, der Jnstanzrichter sich mit der Tat­ sache auseinandersetzen muß, daß die Bahnbeamten die Möglich­ keit eines solchen Vorgangs für ausgeschlossen erklärt haben, und dem Richter sich nur die eine Erklärung bietet, daß die Bahn­ beamten auf der einen Seite zu sachunkundig und auf der anderen Seite zu vertrauensvoll gewesen seien, so muß für den Revisions­ richter die Möglichkeit bestehen, nachzuprüfen, ob es sich nur um eine hypothetische Erklärung oder eine tatsächliche Feststellung handelt""). Denn der erkenntniskritische Wert einer solchen Mo­ tivierung beruht ja gerade darauf, daß sie nicht nur eine Hypothese ist. Dem Einwand, daß solche Nachprüfung des Revisionsrichters kraft des Prinzips der freien Beweiswürdigung naturnotwendig verwehrt sein müsse, kann man ein zwingendes Argument ent­ gegenstellen. Wird gegenüber der Behauptung des Zeugen, der •°) S. dazu die Stelle des Urteils, dem der Beispielsfall entnommen ist, Archiv für Kriminologie Bd. 82 S. 111 und dazu meine Ausführungen a. a. O. S. 104 f.

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den Vorgang erlebt haben will, in der Hauptverhandlung Gegen­ beweis durch das Zeugnis der Bahnbeamten angetreten, so kann dieser Beweisantrag nicht mit der Begründung abgelehnt werden, daß die Bahnbeamten derartige Manipulationen nicht vermutet hätten, und daß sie ihnen deshalb entgangen feien61). Daß, wenn die Bahnbeamten vernommen sind, sich aus dem Prinzip der freien Beweiswürdigung der Ausschluß der Nachprüfung von fetten des Revisionsrichters ergeben soll, läßt sich nur dann rechtfertigen, wenn festgestellt werden konnte, daß die Bahnbeamten entweder bei ihrer Vernehmung einen derartig unbeholfenen Eindruck ge­ macht haben, daß solche Vortäuschungen ihnen gegenüber durchaus im Bereich der Wahrscheinlichkeit lägen oder daß die Bahnbeamten ausdrücklich erklärt haben, daß das Vertrauen, daß sie der Firma und der Ehrlichkeit ihres Angestellten entgegengebracht hätten, ein so großes gewesen sei, daß sie deshalb das Simpelste, wozu sie angestellt waren, außer acht gelassen hätten. Dem Revisionsrichter muß in solchem Falle die Möglichkeit gegeben werden, den Panzer, in den der Borderrichter sein Urteil zu kleiden gesucht hat, zu lösen und sich darüber zu vergewissern, ob die von dem Urteil dem Vor­ gang gegebene Erklärung eine Konklusion aus tatsächlichen Prämissen oder aus Hypothesen ist. Ja, es wird geradezu gesetzlich für ihn die Pflicht zu statuieren sein, keine für die Beurteilung des Sach­ verhalts wesentliche Darlegung entgegenzunehmen, deren Er­ kenntnisqualität für ihn nicht unzweideutig sichtbar ist. Daß die revisionsrichterliche Praxis der Freiheit der Beweis­ würdigung einen so weiten Spielraum zugebilligt hat, liegt an einem Doppelten. Für den Revisionsrichter gibt es nur ein Ent­ weder-Oder. Er kann das Urteil aufheben oder bestätigen. Zur Aufhebung und damit zu einer Neuaufrollung der Verhandlung entschließt er sich aber naturgemäß nicht leicht, solange er nicht die Gewißheit hat, daß das Bedenken, das ihm gegenüber dem angefochtenen Urteil aufgestiegen ist, nicht nur ein scheinbares ist. Auf der einsamen Insel, auf der er sitzt, und zu der ihm nur das schriftliche Urteil eine Nachricht von dem Sachverhalt bringt, der dem Vorderrichter vorgelegen hat, fehlt ihm aber schon rechts­ technisch die Möglichkeit, Rückfragen zu halten, durch die er die •*) Vgl. dazu Urteil des 4. Senats vom 26. Januar 1917 RGSt. S. 3 (4) und des 1. Senats vom 10. März 1919, LZ. 1919 Sv. 908.

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ihm zweifelhaft erscheinenden tatsächlichen Grundlagen des Urteils feststellen kann. Denn die amtliche Auskunft ist nur als ein Aus­ hilfsmittel für die Feststellung sogenannter prozessualerheblicher Tatsachen ausgebildet, die nicht zu den „wesentlichen Förmlich­ keiten" im Sinne des § 273 StPO, gehören, und über die das Protokoll deshalb nichts beurkundet. Es bestünden aber keine durchgreifenden Bedenken, dem Revisionsgericht die Möglichkeit einzuräumen, auf Antrag des Beschwerdeführers oder von Amts wegen sich durch eine Anfrage bei der Vorinstanz darüber zu ver­ gewissern, ob und inwieweit Darlegungen des Vorderrichters, deren Feststellungscharakter dem Revisionsgericht zweifelhaft er­ scheint, das Resultat konkreter Aufklärungen der Hauptverhand­ lung sind oder lediglich in die Form einer Feststellung gekleidete Hypothesen darstellen. Wie praktisch bedeutungsvoll mir auch eine solche Behelfsmöglichkeit erscheint, so braucht man doch nicht zu befürchten, daß mit ihrer Einführung die Revisionsrichter zu häufig in die Lage kommen würden, von ihr Gebrauch machen zu müssen. Das peinliche Gefühl, dem Revisionsgericht in einem Falle wie dem als Beispiel gewählten auf eventuelle Anfrage mitteilen zu müssen, daß die alles erklären sollende angebliche Vertrauens­ seligkeit der Bahnbeamten weder von ihnen bekundet, noch über­ haupt Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen ist, würde schon allein genügen, um die Urteile von solchen Erklärungen reinzu­ halten. Es genügt aber nicht, daß dem Revisionsgericht der Weg erschlossen ist, sich darüber Klarheit zu verschaffen, was an tat­ sächlichen Prämissen der Schuldfeststellung zugrunde liegt62). Viel wichtiger noch ist, daß man trotz des Prinzips der freien Be­ weiswürdigung es als seine Aufgabe erachtet, nachzuprüfen, ob 6S) Wie schlimm es in dieser Beziehung heute bestellt ist, dafür nur ein Beispiel. Es ist aus dem Grunde von besonderem Wert, weil es aus der Feder eines Mitglieds des höchsten Gerichtshofs stammt. In seiner Schrift „Der zulässige Verkaufspreis", Leipzig 1922, berichtet Reichs­ gerichtsrat Zeiler S. 18 von Fällen, in denen die Vorinstanz die Dinge, auf die es rechtlich ankommt, „nur genannt hat", während es sie, worüber für das Revisionsgericht kein Zweifel besteht, „in Wirklichkeit gründlich unberücksichtigt gelassen" hat. Was hat ein Rechtsmittel, so darf man wohl angesichts dieses klassischen Zeugnisses fragen, für einen Wert, das den Revisionsrichter zwingt, etwas, was er als eine inhaltlose Phrase erkennt, für sein Urteil als eine unantastbare Wahrheit hinzunehmen?

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der Richter dasjenige Maß von Erkenntniskritik gegenüber seinen eigenen Prämissen angewandt hat, dessen es bedarf, um zu einer ordnungsgemäßen Überzeugung im Gegensatz zu einem bloßen Meinen zu gelangen. Hat der Jnstanzrichter mit einem abstrakten Satz das Maß der von ihm gewonnenen Überzeugung umschrieben und dabei entweder dieses Maß überspannt, indem er z. B. erklärt hat, daß ihm eine entfernte, vernünftigerweise nicht mehr zu be­ rücksichtigende, Möglichkeit, daß der Geschehnisablauf ein anderer gewesen sei, von der Schuldfeststellung abgehalten habe«'), oder hat er umgekehrt dieses Maß zu gering bemessen und deshalb aus­ gesprochen, daß er trotz der immerhin entfernten Möglichkeit, daß ein anderer der Täter sein könne, zu einer Verurteilung des Angeklagten gekommen sei, so hebt das Reichsgericht das Vorder­ urteil auf. Wo aber ein derart verfehlter Standpunkt des Instanz­ gerichts sich nur induktiv, nämlich aus der Methode seiner Tat­ sachenbewertung, nachweisen läßt, lehnt es den Versuch eines solchen Nachweises als im Widerspruch mit dem Prinzip der freien Beweiswürdigung stehend ab. Selbst wo unzweifelhaft die Schuld­ feststellung ausschließlich auf die im Urteil angegebenen Tatsachen gegründet ist, der Fall aber geradezu als ein Schulbeispiel dafür angeführt werden könnte, daß aus solchen Tatsachen eine, historische Gewißheit begründende, Überzeugung nicht abgeleitet werden kann, hält sich das Reichsgericht durch das Prinzip der freien Beweis­ würdigung gehindert, das Maß der der Verurteilung zugrunde liegenden Erkenntnisgewißheit als für die Schuldfeststellung un­ zureichend zu beanstanden. In dem sogenannten Mädchenhändler­ prozeß, der im Jahre 1914 in Oberschlesien gegen einen Aus­ wandereragenten geführt wurde, schloß das Gericht aus verschiedenen Indizien, die es im einzelnen bezeichnete, daß der Angeklagte mit Bordellwirten in Südamerika in Verbindung gestanden und ihnen Mädchen zugeführt habe"). Obwohl jedes der einzelnen für die 6S) S. 1. Senat vom 15. Februar 1927 RGSt. 61 S. 206: Aufhebung des Urteils, weil sich die Strafkammer „trotz dringenden Verdachts" an der Verurteilung dadurch gehindert glaubte, daß sie die „allerdings sehr fernliegende Möglichkeit" nicht für „absolut ausgeschlossen" hielt, der An­ geklagte könne unschuldig sein. Vgl. zu diesem Urteil die Urteile desselben Senats vom 8. November 1927 IW. 1928 S. 116 Nr. 28 und des 2. Senats vom 6. Oktober 1927 TRZ. 1927 Nr. 964. ") Ich habe die Sache, in der der Angeklagte zunächst zu 9 Jahren Zuchthaus und einer erheblichen Geldstrafe verurteilt war, in der Re-

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Schuldfeststellung angeführten Indizien geradezu als ein Musterbeifpiel zu dienen vermöchte, mit dem man klarmachen könnte,

worin das Wesen eines vieldeutigen und deshalb unzureichenden

Beweisgrundes liegt, mußte es das Reichsgericht vom Standpunkt seiner konstanten Praxis aus ablehnen, zur Beweisbedeutung des

von der Vorinstanz als überzeugend angesehenen Indizienbeweises

Stellung zu nehmen.

Gerade um über die immer wieder anzu­

treffende Überschätzung des menschlichen Erkenntnisvermögens zu

diskutieren, habe ich kürzlich65) einen Versicherungsbetrugsfall dar­ gestellt, an dem sich aufzeigen ließ, daß das, was für das Maß einer

ordnungsgemäßen Überzeugung

in

der

täglichen

Praxis

verlangt wird, keineswegs immer von einer hinreichenden kritischen Einstellung gegenüber den Fehlerquellen getragen ist, die jeder

menschlichen Durchforschung abgeschlossener Vorgänge innewohnen. Daß das Kernproblem der richterlichen Tätigkeit, das Problem,

von dem vor allem auch das Ansehen der Strafrechtspflege ent­

scheidend bedingt ist, der Nachprüfung durch die Revisionsinstanz völlig entrückt sein soll, scheint mir durchaus auf einer Verkennung des revisionsrichterlichen Aufgabenkreises zu beruhen.

Im Mittel­

punkt der revisionsrichterlichen Tätigkeit steht die Kontrolle der

konkreten Subsumtion der Feststellungen des Vorderrichters unter

die gesetzlichen Merkmale des angewandten Strafgesetzes.

Gehören

aber die allgemeinen Erfahrungssätze, die Gesetze des Denkens

und der Auslegung zur richtigen Anwendung der Rechtsnorm auf Visionsinstanz vertreten und danach in der erneuten Verhandlung vor der Strafkammer, in der Verurteilung wegen fortgesetzter Kuppelei zu 3 Jahren Gefängnis erfolgte. Die Revision gegen dieses Urteil wurde vom Reichs­ gericht verworfen. Die Direktion einer unserer ersten Schiffahrtsgesell­ schaften, die sich für die Sache maßgeblich interessierte, vertrat mit aller Entschiedenheit in den mir gegebenen Informationen die Auffassung, daß die gegen den Angeklagten vorgebrachten Verdachtsgründe sich völlig ein­ wandfrei aus der Tatsache erklärten, daß die Auswanderung aus Polen infolge der damals bestehenden Gesetze nur heimlich nachts im Schmuggel­ wege erfolgen könne. Auch der Dezernent für Mädchenhandel beim Berliner Polizeipräsidium, der auf seinen besonderen Wunsch der zweiten Ver­ handlung beiwohnte, hat immer wieder den Standpunkt vertreten, daß auf Grund seiner Kenntnisse der Verhältnisse für die Annahme des Gerichts nicht nur nichts spräche, sondern daß er sie sogar mit Bestimmtheit als un­ richtig bezeichnen könne. 66) In Aschaffenburgs Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform Bd. 19 (1928) S. 147 ff.

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die festgestellten Tatsachen"), so müssen auch die Wertungs­ gesetze logischer und psychologischer Natur dazu gehören"). Denn

die Gesetze der geistigen Verarbeitung eines historischen Materials bilden ein einheitliches Ganzes, aus dem nur eine Verkennung der organischen Zusammenhänge die Wertgesetzlichkeit aus­

scheiden ließ. Wenn ein Belastungszeuge einen Vorgang geschildert hat, der schon rein physiologisch geradezu als unmöglich angesehen

werden muß, nämlich daß ein schwerhöriger Mensch aus einem Nebenraum

ein nur

mit

feinnervigster

Hörbegabung

unter­

scheidbares Geräusch festgestellt haben will, wenn diesem Zeugen

ferner aus dem vorliegenden Protokoll ein ständiger Wechsel seiner Angaben nachgewiesen werden kann, wenn ihm sogar nachgewiesen ist, daß er in demselben Verfahren in bezug auf denselben Ange­

klagten einen diesen belastenden Vorgang berichtet hat, von dem

mit mathematischer Sicherheit festgestellt ist, daß er ihn gar nicht erlebt haben kann, so repräsentieren solche Momente eine exakt bestimmbare Wertgesetzlichkeit, die für die objektive Verurteilung des Sachverhalts genau so wertvoll und genau so sicher fixierbar ist,

wie die abstrakten logischen Gesetzlichkeiten des Denkens und der

Erfahrung.

Denn das Wertgesetz, daß ein festgenagelter gewissen­

loser Lügner, der kein Mittel scheut, um einen Mitmenschen ins Unglück zu stürzen, nicht glaubwürdig ist, wenn er zur weiteren

Belastung

dieses Mitmenschen eine Münchhausiade

erzählt, ist

genau so ein unbestreitbares Grundgesetz historischer Forschung ") S. 1. Senat vom 11. Januar 1927 RGSt. 61 S. 151 (154). •’) Im Ergebnis, nicht in der Begründung, hat sich der 1. Strafsenat in seiner bemerkenswerten (vereinzelt gebliebenen) Entscheidung vom 20. Februar 1922 IW. 1922 S. 1017 Nr. 13 auf diesen Standpunkt gestellt. S. meine Anmerkung zu dieser Entscheidung, in der ich auf die von der Rechtsprechung des deutschen obersten Gerichtshofs abweichende Praxis des österreichischen obersten Gerichtshofs unter Anführung von Urteilen dieses Gerichts und Belegfällen aus der österreichischen juristischen Literatur Bezug genommen habe. Ergänzend sei noch auf die Ausführungen von Rosenblatt (österreichische) Gerichtshalle Bd. 31 vom 20. Juni 1887 hingewiesen. Daß das in Frage stehende Urteil sich von einer Überschätzung der Tragweite des § 261 StPO, freimacht, habe ich damals besonders hervorgehoben. Mannheim, Beiträge zur Lehre von der Revision 1925 S. 120, sieht in diesem Urteil ebenso wie in dem von mir zustimmend be­ sprochenen Urteil des Kammergerichts vom 13. Juni 1922 IW. 1922 S. 1466 zu Unrecht eine vollständige Niederreißung der gesetzlichen Schranken der Revision.

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wie der Erfahrungsfatz der Natur, daß das Wasser nicht den Berg hinauffließt"). Daß man nicht gesehen hat, daß der Anerkennung der Revisibilität wertender Subsumtion das Prinzip der freien Beweiswürdigung in keiner Weise entgegensteht, liegt daran, daß man das, was das Prinzip der freien Beweiswürdigung zum Aus­ druck bringen will, nicht reinlich von dem geschieden hat, was der Grundsatz der Unmittelbarkeit anstrebt. Die freie Beweis­ würdigung erfolgt zwar in unserem Prozeßverfahren in der Regel auf Grund unmittelbarer Erschöpfung der Beweisquellen; not­ wendig ist das aber keineswegs. Deshalb findet die freie Beweis­ würdigung auch überall und in gleicher Weise da statt, wo das Unmittelbarkeitsprinzip zessiert, besonders wo der Beweiswürdigung lediglich Protokolle zugrunde liegen. Nichts ist denn auch verkehrter, als im Einzelfall behaupten zu wollen, daß ein Schluß, der sich zwingend denkgesetzlich oder wertgesetzlich ergibt, dadurch in Frage gestellt würde, daß in ihm nicht der stimmungsmäßige Eindruck Berücksichtigung findet, den der Richter, der der Beweisquelle unmittelbar gegenübergestanden hat, empfangen habe. Als ob die Substanz tatsächlicher Vorgänge sich durch eine Stimmung verflüchtigen ließe! Als ob ein Zeuge, dessen Glaubwürdigkeit durch Tatsachengebrandmarkt ist, dadurch rehabilitiert werden könnte, daß der Richter von ihm einen „glaubwürdigen Eindruck" gewinnt! Tatsachen können nur durch Tatsachen widerlegt werden, nicht aber durch Eindrücke. Auf der Skala der Beweiswerte steht — daran kann und will die Abkehr von der gesetzlichen Beweis­ theorie nichts ändern, denn sie bedeutete nicht eine Abkehr von feststehenden Sätzen der Vernunft — eine Tatsache grundsätz­ lich über einem Eindruck. Psychische Eindrücke können deshalb nie in einer Weise benutzt werden, welche logischen und wertenden Normen widerspricht. Das schließt natürlich nicht aus, daß der Richter seine psychischen Eindrücke mitbenutzen kann, und daß sie auch, soweit ihrer Darstellung nicht entgegengehalten werden muß, daß sie unverständlich bleiben, irrevisibel sind. Nichts steht denn auch entgegen, daß da, wo tatsächliche Gründe fehlen, mit denen ein bestimmter Eindruck a priori unvereinbar ist, der Richter allein seinen Eindruck gelten läßt. Das Prinzip der Unmittelbarkeit gibt also nicht der freien Beweiswürdigung eine über ihre Idee e8) Das verkennt durchaus Reichert a. a. O.

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hinausgehende Ausdehnung, es gewährleistet nur, daß bei der Würdigung der Beweise auch der akustische und optische Eindruck des Beweismittels mitberücksichtigt werden kann. Daran, daß ein Beweisergebnis, das denkgesetzlich oder wertgesetzlich nicht gerechtfertigt erscheint, nicht allein auf physiognomischem oder tonanalytischem Wege Überzeugungskraft zu gewinnen vermag, kann also durch das Prinzip der Unmittelbarkeit grundsätzlich nichts geändert tvetben69). Freiheit der Beweiswürdigung bedeutet für den nachprüfenden Revisionsrichter nichts anderes als freie Fungibilität der Gründe. Nur eine völlige Verkennung des Wesens der freien Beweiswürdigung konnte deshalb zu der für die Entwicklung unserer Strafrechtspflege verhängnisvollen Auffassung kommen, daß der Revisionsrichter nicht nachprüfen dürfe, ob die Methode der vorderrichterlichen Urteilsbegründung denkgesetzlich und wert­ gesetzlich einwandfrei sei. Dieser tiefeingewurzelte Irrtum, den 69) All das verkennt in einer mir völlig unbegreiflichen Weise Reichert a. a. O. Das Wesen meiner Darstellung im Archiv für Kriminologie Bd. 82 S. 99 ff. besteht gerade darin, daß sie Tatsachen aufzeigt, über deren kritische Würdigung kein Streit sein kann, nämlich eindeutige urkundliche Erklärungen, die Schwerhörigkeit eines Zeugen, der über einen Vorgang aussagt, der das feinste Hörvermögen voraussetzt, nachgewiesene Abwesenheit des Zeugen im Zeitpunkr eines von ihm in allen Einzelheiten als persönlich erlebt be­ richteten Vorgangs u. a. Eine solche kritische Darstellung kann nur dadurch in ihrer Schlüssigkeit angegriffen werden, daß man entweder gegenüber der behaupteten Eindeutigkeit einer Tatsache ihre Mehrdeutigkeit nachweist, oder daß man die behauptete Bedeutung der angerufenen objektiven Tat­ sachen in Abrede stellt, also z. B. den Standpunkt vertritt, daß das Gericht einem schwerhörigen Zeugen die diffizilste akustische Wahrnehmung zu­ trauen dürfe, und daß es, um die Ungewöhnlichkeit einer solchen Aussage nicht näher begründen zu müssen, die Schwerhörigkeit im Urteil einfach verschweigen dürfe. Unmöglich ist es aber und mit den primitivsten Grund­ sätzen einer sachlichen Auseinandersetzung unvereinbar, das tatsächliche Material der Urteilskritik restlos zu ignorieren und die vorgebrachten Tat­ sachen mit dem Einwand widerlegen zu wollen: „Eine Miene, ein Blick, die Betonung eines Wortes oder Satzes, kurzum ein ganzes Netz von Umständen kann und muß bei einer Beratung das Urteil des einzelnen Richters bestimmen." Es gibt keine Miene, keinen Blick, die eine Schwer­ hörigkeit aus der Welt schaffen. Der Kritiker, der einem Richter eine solche Auffassung unterstellt, greift ihn sachlich sicherlich mehr an als der, der darauf hinweist, daß es heute möglich ist, daß Tatsachen von solcher schlechthin unbestreitbaren Bedeutung völlig ungewertet bleiben.

Reform des Strafverfahrens.

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die vorstehenden Ausführungen zu bekämpfen sich zur Aufgabe gemacht haben, kann nur durch eine Änderung des Gesetzes, die den Charakter einer Legalinterpretation hat, restlos beseitigt werden. Geschieht das, so wird das Rechtsmittel der Revision dem An­ geklagten eine größere Rechtssicherheit geben, als sie ihm das Rechts­ mittel der Berufung zu geben vermocht hat. Zu einer neuen Tat­ sacheninstanz würde sich damit die Revisionsinstanz keineswegs auswachsen. Auch nicht dadurch, daß, wofür ich unbedingt eintreten würde, das Revisionsgericht für berechtigt gehalten wird, die Akten darauf zu prüfen, ob sie nicht Material enthalten, dessen Nicht­ berücksichtigung in Hinblick auf die vom Urteil für ausschlaggebend erachteten Gründe den Verdacht erwecken können, daß das Gericht, wenn es das unbenutzt gebliebene Material beachtet hätte, viel­ leicht zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre'"). Und in der Linie dieser Reform liegt weiter, was eigentlich selbstverständ­ lich erscheinen müßte: dem Revisionsgericht die Befugnis ein­ zuräumen, Urkunden- und Augenscheinsmaterial (z. B. Photo­ graphien) wenigstens darauf zu prüfen, ob die Auswertung dieses Materials nicht den Gedanken nahelegt, daß dem Gericht in wesent­ lichen Punkten Irrtümer unterlaufen sind. Daß der Beschwerde­ führer zu tauben Ohren spricht, wenn er das Revisionsgericht darauf hinweist, daß in dem von mir bereits wiederholt herangezogenen Beispielsfall schon der Wortlaut der Urkunde dagegen spricht, daß sie unmittelbar nach dem angeblichen Gespräch zustande gekommen sei, ist sicherlich nicht geeignet, die Volkstümlichkeit der Recht­ sprechung zu heben. Mit oder ohne Beseitigung der Berufung in ihrem heutigen Ausmaß muß aber auch ernstlich daran gedacht werden, das Institut des Wiederaufnahmeverfahrens in einer Weise zu reformieren, die es ermöglicht, Fehlsprüche, die selbst im besten Verfahren, mit bestem Richtermaterial nie vermieden werden können, dann zu beseitigen, wenn neues erhebliches Wissen von den tatsächlichen Vorgängen oder neue Erkenntnisse der Wissenschaft den Glauben an die Richtigkeit des früheren Urteils bei jedem unvoreinge­ nommenen und objektiv urteilenden Menschen erschüttern müssen. Wie Gesetz und Praxis des Wiederaufnahmeverfahrens reform’’) Wegen der Rüge der Aktenwidrigkeit sind de lege referenda ins­ besondere die Ausführungen von Mannheim, Revision S. 181 ff., zu beachten.

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Rechtsanwalt Dr. Max Alsberg, Reform des Strafverfahrens,

bedürftig sind, habe ich bereits in meinem Buch „Justizirrtum und Wiederaufnahme" klargelegt. Ergänzend möchte ich nur hervor­ heben, daß die Bestimmung des § 359 Nr. 5 Satz 2 StrPO., die die Wiederaufnahme in dem praktisch wichtigsten Falle (neue Tat­ sachen oder Beweismittel) in Schöffengerichtssachen dann aus­ schließt, wenn der Antragsteller diese Momente schon vor seiner Verurteilung kannte, bei der durch die Emmingersche Reform ge­ änderten Organisation unserer Strafgerichte besonders unerträg­ lich geworden ist71). Was für die Bagatellsachen, die ftüher vor den Schöffengerichten verhandelt wurden, zur Not hingehen konnte, läßt sich in gar keiner Weise mehr rechtfertigen, nachdem jetzt alles, was vordem erstinstanzlich vor den Strafkammern verhandelt wurde, einschließlich eines Teiles dessen, was zur Zuständigkeit der Schwurgerichte gehörte, nunmehr den Schöffengerichten zur Aburteilung in erster Instanz zugeteilt ist. Je schwieriger und komplizierter aber eine Strafsache ist, um so eher besteht die Mög­ lichkeit, daß die Bedeutung einer einzelnen Tatsache oder eines einzelnen Beweismittels vom Angeklagten zu spät erkannt wird. Sollte also die jetzige Organisation unserer Strafgerichte keine Änderung erfahren, so muß vor allem der Satz 2 der Ziffer 5 des § 359 StPO, beseitigt werden.

T1) Wegen dieser Bestimmung s. mein Justizirrtum und Wiederauf­ nahme" S. 52 ff.

XIV. Gutachten des Herrn Ministerialdirektors Prof. Dr. Herbert Dorn-Berlin

über die Frage: Empfiehlt es sich im Interesse einer gesunden Finanzwirtschaft, die bestehenden Grundsätze über die Bewilligung der Einnahmen und Ausgaben für die Haushalte des Reichs und der Länder zu ändern? Inhaltsübersicht. Seire

A. Zur Fragestellung.............................................................................490

B. Grundsätzliches zur Bewilligung der Einnahmen undAusgaben

I. Staatsrechtliche Verantwortung für dieBewilligung

. . .

492 492

II. Einheitlichkeit der Bewilligungsgrundsätze für Reich und Länder.........................................................................................498 C. Die bestehenden Bewilligungsgrundsätze.....................................501

I. Bewilligungsgrundsätze in Deutschland.................................501 1. Die Bewilligung der Einnahmen und Ausgaben beim Reich.............................................................................................501 a) Allgemeine Grundsätze desHaushaltsrechts....................... 501 b) Verwaltungsbewilligung.....................................................501 c) Parlamentsbewilligung.........................................................503

2. Die Bewilligung der Einnahmen und Ausgaben bei den Ländern.........................................................................................508

II. Bewilligungsgrundsätze im Ausland.............................................512 1. 2. 3. 4.

England.........................................................................................513 Amerika.........................................................................................519 Frankreich.....................................................................................524 Belgien.........................................................................................527

490

Ministerialdirektor Prof. Dr. Herbert Dorn Seite

D. Zur Änderung der deutschen Bewilligungsgrundsätze..................... 528

I. Allgemeines.....................................................................................528 1. Zur Verwaltungsbewilligung ................................................. 530 2. Zur Parlamentsbewilligung.....................................................533

II. Beschränkungen der Parlamentsbewilligung............................. 535 1. Beschränkungen für den ordentlichen Haushalt..................... 535

a) Beschränkung der Ausgabeerhöhung.................................535 al) Begrenzung der Ausgaben auf einen festen Gesamt­ betrag ................................................................................. 536 a2) Bindung der Bewilligung an die Zustimmung der Regierung.........................................................................538 a3) Selbstbeschränkung des Parlaments gegenüber der Regierung......................................................................... 542 a) Beschränkung der Initiative. Erfordernis des „Ausgleichsantrags" auf Einnahmeerhöhung oder Ausgabesenkung bei Mangel der Regierungs­ zustimmung .................................................................542 /?) Beschränkung der Beschlußfassung. Zulassung der „Beanstandung des Ausgleichs"..................... 545 y) Beschränkung der Wirkung des Beschlusses. Die „bedingte" Bewilligung.............................................548

a4) Selbstbeschränkungen im Gang des parlamenta­ rischen Verfahrens.........................................................549

b) Beschränkung der Einnahmesenkung.................................549 c) Die Entscheidung über die Voraussetzung der Selbst­ beschränkungen .....................................................................552 d) Die Rechtsform der Selbstbeschränkungen......................... 553 e) Beschränkung durch den Reichsrat.....................................555 f) Beschränkung durch Dritte.................................................556 2. Beschränkungen für den außerordentlichenHaushalt. . .

557

Zusammenfassung und Schluß.....................................................................559

A. Zur Fragestellung. Das für den Juristentag gestellte Thema bedarf in einem Punkte der Klärung, von der Art und Umfang der fachlichen Auseinander­ setzung abhängt. Die Frage ist, was unter „Bewilligung der Ein­ nahmen und Ausgaben" verstanden werden soll. Nach den herrschen­ den Grundsätzen des Haushaltsrechts in Deutschland werden die Einnahmen und Ausgaben zunächst innerhalb der Verwaltung be­ antragt und bewilligt, bewilligt von dem Minister, dessen Aufgabe es ist, über das Haushaltsgleichgewicht zu wachen (Budget-

Einnahmen und Ausgaben des Reiches und der Länder.

491

Minister, d. i. der Reichsfinanzminister oder der Finanzminister des Landes). Soweit der Antrag von dieser Stelle abgelehnt wird, ist regelmäßig noch die Bewilligung durch die Gesamtregierung (das Kabinett) zugelassen. Diese Bewilligung im Rahmen der Ver­ waltung (Verwaltungsbewilligung) hat aber nur vorbereiten­ den Charakter, sie bereitet die Ausübung des Jnitiativrechts für die Aufstellung des Haushalts vor, das der Regierung Vorbehalten ist. Die endgültige Bewilligung der Einnahmen und Ausgaben ist Sache der gesetzgebenden Körperschaften. Wir haben uns zu entscheiden, ob sowohl die Verwaltungsbewilligung als auch die endgültige parlamentarische Bewilligung (Parlamentsbewilligung) in den Kreis unserer Betrachtung einzubeziehen ist. Wir entscheiden uns für die Erörterung beider Fragen, weil die Einschaltung von Maßnahmen gegen sachwidrige Einnahmegestaltung oder Ausgabehöhe in der Verwaltungsinstanz geeignet ist, das Parlamentsgeschäft bei der Haushaltsgestaltung wesentlich zu entlasten. Der Nachdruck indessen wird auf der Behandlung der Frage liegen müssen, ob die end­ gültige Bewilligung durch das Parlament in ihrer gegenwärtigen Gestalt verbesserungsbedürftig ist und ob Maßnahmen irgendwelcher Art notwendig und geeignet erscheinen, Besserung herbeizuführen. Die Bemühungen der Länderkonferenz, die nach Festsetzung des Themas für den Juristentag einberufen worden ist, gingen auf dasselbe Ziel. In dem hierfür maßgebenden Programm der Reichs­ regierung wird eine Sonderbesprechung darüber in Aussicht gestellt, „durch welche Maßnahmen die notwendige Sparsamkeit in der Bemessung der öffentlichen Ausgaben wirksam gesichert wird". Dieser Gedanke wird später dahin erläutert: „Hierbei wird das Ver­ hältnis der Finanzminister im Ministerkollegium sowie die Stellung der Regierung gegenüber dem Parlament zu behandeln sein; auch wird geprüft werden müssen, ob durch gesetzliche Bindungen grund­ sätzlicher Art eine Steigerung der Ausgaben in den nächsten Jahren vermieden oder auch ihre Einschränkung erreicht werden kann. Die hierzu von dem Preußischen, Badischen und Bayerischen Herrn Finanzminister erstatteten Berichte sind in der Veröffentlichung des Reichsministeriums des Innern „Die Länderkonferenz" (Januar 1928) wiedergegeben (zu vgl. S. 48ff.).

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Ministerialdirektor Prof. Dr. Herbert Dorn

B. Grundsätzliches zur Bewilligung der Einnahmen und Ausgaben.

I. Staatsrechtliche Verantwortung für die Bewilligung. Die Gestaltung der Einnahmen und Ausgaben wird, soweit nicht unabwendbare Ausgaben vorliegen und Deckung fordern (staatliches Existenzminimum) durch das politische Programm der Regierung be­ stimmt. Die Initiative bei der Haushaltsaufstellung und bei der Ge­ setzgebung gibt ihr für die Verwirklichung des Programms die wich­ tigste Handhabe. Im übrigen ist das Parlament Herr der Finanz­ gebarung wie für die Einnahme-, so für die Ausgabeseite der öffent­ lichen Wirtschaft *). Art und Umfang der Mitwirkung des Parlaments ist ursprünglich weitaus beschränkter gewesen. Ebenso wie in Englands und Frankreichs hatte in Deutschland4*)2 * 6*in den Anfängen der Parlamentsentwicklung die Volksvertretung (die Vertretung der Stände) zunächst auf die Art der Ausgaben ebenso wie auf ihre Höhe im einzelnen keinerlei Einfluß. Die Bewilligung der Ein­ nahmen war ihr Vorrecht. Dagegen war in Amerika Aufstellung des Haushalts sowohl auf der Einnahme- wie auf der Ausgabeseile noch bis in die letzte Zeit hinein dem Parlament Vorbehalten ^); erst die Haushaltsreform des Jahres 1921 hat die Regierung, und zwar mit besonderer Machtvollkommenheit, in die Gestaltung des Haushalts durch Gewährung der Initiative eingeschaltet. Die amerika­ nische Entwicklung bietet besonderes Interesse, weil hier das Dogma von der Trennung der Gewalten den Ausgangspunkt für die Rege­ lung der Einnahme- und Ausgabebewilligung bildet. Die Be*) Die Betrachtung ist eine rechtliche. Daß politisch Regierung und Parlament durch die Regierungsparteien bei parlamentarischer Regierung jedenfalls ineinandergreifen und tatsächlich dadurch Initiative und Ent­ scheidung vielfach verschoben werden, bleibe zunächst außer Betracht. 2) Charta confirmationis regis Edwards I (Magna Charta) vom 10. Ok­ tober 1297 (5—7); Statutum de tallagio non concedendo aus derselben Zeit (30. September 1297?); Petition of rights vom 7. Juni 1628 (1); Bill of rights vom 13. Februar 1689 (4), zusammengestellt bei Dareste, Les constitutions modernes, S. 56 ff. 8) Gaston Jöze, Theorie generale du budget, 6e edition 1922, S. 17. 4) Unger, Geschichte der deutschen Landstände, Bd. I, S. 268ff. und Bd. II, S. 394ff. 6) Vgl. Jöze, Le Budget, 1910, S. 237. — W. F. Willoughby, The National Budget System, 1927, Kapitel II, S. 4ff.

Einnahmen und Ausgaben des Reiches und der Länder.

493

deutung der Gewaltentrennung war es, daß die eine Gewalt in die Funktionen der anderen, soweit überhaupt, nur mit dem Ziel eingeschaltet wurde, die Einhaltung der dieser bestimmten Grenzen zu sichern. In diesem Sinne hat Amerika die höchste Rechtsprechung hinter die Gesetzgebung geschaltet oder, wenn man will, ihr vor­ gesetzt: zur Kontrolle"). Kontrolle bedeutet keine Verletzung des Wesens der Gewaltentrennung, sondern seine Verwirklichung. An Kontrollen dieser Art findet man regelmäßig außer der eben erwähnten der Gesetzgebung durch die Rechtsprechung die der Ver­ waltung durch die Gesetzgebung (Etatsdebatte, Untersuchungs­ ausschüsse) die Rechtsprechung (Verwaltungsgerichte) und diesen gleichgestellte unabhängige Organe (Rechnungshof). Kein Zweifel besteht daran, daß die Regierung bei ihren Bewilligungen der Nachprüfung des Parlaments unterworfen ist, das endgültig entscheidet. Dies entspricht dem natürlichen Zuge der Haushalts­ gesetzgebung. Hier kann nur zur Erörterung stehen, ob noch etwa außerhalb des Haushalts Verwaltungsbewilligungen zulässig sind, die besonderer Kontrolle bedürfen. Dagegen fehlt es bisher vielfach an der Erkenntnis, in welchem Umfange auch der verantwortlichen Verwaltung eine Kontrollaufgabe gegenüber der Gesetzgebung unter dem Gesichtspunkt ihrer Verfassungsmäßigkeit zusteht. Damit er­ wächst ein interessantes Problem von Tragweite und Bedeutung der verantwortlichen Regierungsgewalt im parlamentarisch regierten Staat. Ist die Verantwortlichkeit der Verwaltung gegenüber der Gesetzgebung schlechthin ausgeschaltet, weil der Gesetzgeber die höchste Gewalt im Staate bildet oder ist sie gerade gegenüber dem einfachen Gesetz deshalb nicht ausgeschaltet, weil durch die Verfassung und nur durch sie die Regierung ihre Aufgabe und ihre Verantwortung übertragen erhalten hat, ein einfaches Reichsgesetz sie daher ihrer Verantwortung nicht entheben kann? Mit dem allgemeinen Hin­ weis auf die im parlamentarischen Staatswesen notwendige Ab­ hängigkeit der Regierung vom Parlament, die so vollkommen wie möglich sein müsse, ist demgegenüber nichts getan. Parlamentarische Regierung ist Regierung von Persönlichkeiten, die vom Vertrauen des Parlaments getragen, aber mit selbständiger Regierungsgewalt betraut sind. Die parlamentarische Regierung darf nicht mit Par") Bryce, The American Commonwealth. — James M. Beck, Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Nordamerika, deutsch heraus­ gegeben von Dr. Alfred Friedmann, 1926. 32 sr. DJT 1.

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lamentsregierung gleichgesetzt werden, d. h. einer Regierung, bei der das Parlament selbst die Verwaltung übernimmt. Eine solche Gleichsetzung zerstört die staatspolitischen Grundlagen des parlamen­ tarischen Systems, das doch mit dem Gedanken und Ziel der Führer­ auslese verbunden ist. Ist dies aber der Wille, so muß die Parlamentsmehrheit von denen, die ihr Vertrauen haben, Führer- nicht Untergebeneneigen­ schaft verlangen. Pflicht zur Führung, nicht zum Gehorsam, muß Inhalt ihres Rechts sein.

Eine andere Erwägung scheint aber unsere Fragestellung bei­ seitezudrängen. Einfache Mehrheit kann die Regierung stürzen. Wie sollte nicht die ebenso zustandegekommene Gesetzgebung die Regierung für den Gesetzgebungsakt von aller Verantwortlichkeit entlasten? M. E. ist dies nicht zutreffend. Die Verantwortung der Regierung besteht für die Geschäftsführung im Rahmen der Ver­ fassung. Beschließt der Reichstag ein verfassungswidriges Gesetz mit einfacher Mehrheit, so muß pflichtgemäß der verantwortliche Minister oder die Regierung des Reichs dem Reichspräsidenten raten, von der Veröffentlichung abzusehen, muß der verantwortliche Minister not­ falls die Gegenzeichnung verweigern ’). Bei Meinungsverschieden­ heiten zwischen Parlament und Regierung über die Verfassungs­ widrigkeit muß daher die Regierung wegen ihrer verfassungsmäßigen, durch die Verfassung begründeten, nur durch sie zu lösenden Ver­ antwortung gegenüber dem Parlament und damit gegenüber dem Gesamtvolke unter Umständen dem einfachen Mehrheitsbeschluß des Parlaments die Gefolgschaft versagen. Und dies, obwohl am nächsten Tage die gleiche einfache Mehrheit, die das Gesetz beschlossen hat, durch Mißtrauensvotum die Regierung beseitigen und sie durch eine willfährigere ersetzen könnte. Der versuchte Einwand räumt daher mit unserer Frage nicht auf. Gilt nun, was für Ver­ fassungssätze unbezweifelbares Recht ist, auch für die Verfassungs­ grundsätze? Gilt es ebenso wie für geschriebenes auch für unge­ schriebenes Verfassungsrecht? Damit stehen wir auf dem Boden, auf dem unser Fragenkreis für das geltende Verfassungsrecht Deutsch­ lands eingezeichnet ist. Muß nicht die allgemeine verfassungs­ mäßige Verantwortung gegenüber dem Gesamtvolke für eine ord’) Zu vgl. Anschütz, RB. BemNr. 1 zu Art. 70; Giese, RV. Bem. II 1 zu Art. 70; Poehsch-Heffter, RV. Anm. 6 zu Art. 50.

Einnahmen und Ausgaben des Reiches und der Länder.

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nungsmäßige Haushaltungsführung des Staates ebenso für die Ein­ haltung eines bestimmten Verfafsungswortes gelten? Kann und muß, da im Gebiete des öffentlichen Rechts zumeist Rechte nur Reflexwir­ kungen von Pflichten find, der verantwortliche Minister, wenn man einmal bejaht, daß der Grundsatz der Aufrechterhaltung des Gleich­ gewichts im Haushalt ein von der verfassungsmäßigen Verantwortung getragener Grundsatz ist8), diese seine Verantwortung im Kabinett, während der Gesetzgebungsarbeit oder auch noch nach dem Beschluß der gesetzgebenden Körperschaft geltend machen? Und wenn man dies für gebotenhält: Soll er auf das politische Gewicht seiner Persönlichkeit angewiesen sein, sollen Rücktrittsdrohung und Rücktritt als einziges Mittel zur Verfügung stehen? Gibt es schon heute Rechtsmöglich­ keiten, die die Regierungsverantwortung stärken? Bedürfen sie des Ausbaues? Wird die wie immer geartete Befugnis und Pflicht der Regierung zu verantwortlicher Wahrung des Haushaltsgleich­ gewichts bei allen Beschlüssen des Gesetzgebers wirksam, die den Haus­ halt berühren? Gilt diese Verantwortung mithin wie für das Haus­ haltsgesetz so auch für Gesetze, die in ihren Wirkungen Einnahmen oder Ausgaben der öffentlichen Körperschaften berühren; gilt sie für alle Einnahmen und Ausgaben, die ordentlichen, z. B. Steuern, wie die außerordentlichen z. B. Anleihen? Regierungsverant­ wortung gegenüber der Parlamentsverantwortung ist daher der eine Fragenkreis, der uns beschäftigen muß, aber nicht der einzige. Auch die Verantwortung der verschieden an der Gesetzgebung be­ teiligten Körperschaften steht u. U. gegeneinander. Wie in England Ober- und Unterhaus, in Belgien und Frankreich Senat und Abge­ ordnetenkammer wirken—trotz aller rechtsgrundsätzlichen Verschieden­ heit von dem Zweikammersystem — auch in Deutschland und in Preußen zwei Instanzen bei der Gesetzgebung auf dem Gebiete der Haushaltsführung zusammen (im Reich neben dem eigentlichen Gesetz­ geber, dem Reichstag, die Ländervertretung des Reichsrats in Preußen neben dem Landtag die Provinzialvertretung, der Staatsrat). Die Frage, ob und inwieweit der einen Körperschaft Pflicht und Recht zu­ gewiesen ist oder zweckmäßig zugewiesen sein sollte, unwirtschaftlichen Beschlüssen des anderen vorzubeugen oder entgegenzutreten, bedarf der Prüfung. Schließlich wird auch von den Sicherungen gesprochen 8) Zu vgl. hierzu die §§ 20, 21 der mit verfassungändernder Mehrheit angenommenen deutschen Haushaltsordnung vom 31. Dezember 1922 (RGBl. II, 1923, S. 17).

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werden müssen, die in den Beschlußapparat der einzelnen Körper­ schaft aus Gründen der eigenen politischen Verantwortung ein­ gefügt sind, um haushaltswidrige Beschlüsse zu hindern. Was kann hierüber, und das wird unser rechtlicher Ausgangspunkt sein müssen, dem geltenden Verfassungsrecht, der Geschäftsordnung oder der Staatsgewohnheit entnommen werden, und wenn diese versagen, was empfiehlt fich, in unser geltendes Recht hierüber einzufügen? Will man den Zielpunkt für die praktische Behandlung unserer Frage gewinnen, so wird man von den Worten des Themas aus­ gehen müssen, die den Zweck der Untersuchung andeuten: das Interesse an einer gesunden Finanzwirtschaft. Gewiß dürfen wir uns nicht dazu verleiten lassen, den gegenwärtigen Zustand der deutschen Finanzwirtschaft, der ängstliche Einschränkung aller öffent­ lichen Ausgaben gebietet, selbst dann, wenn es unter Gesichtspunkten der Kultur- und Sozialpolitik erwünscht erscheinen könnte, bessernde Hand anzulegen, schlechthin zur Norm unserer Ausführungen zu machen. Wir müssen uns vielmehr gegenwärtig halten, daß die Frage allgemein gestellt ist, von einer gesunden Finanzwirtschaft die Rede ist, gleichviel also, wie die Volkswirtschaft aussieht, auf der die Staatswirtschaft ruht. In erster Linie sind daher die Grundsätze zu finden, die unter Berücksichtigung aller Möglichkeiten sach­ gemäßer Staatsverwaltung, unbekümmert um Reichtum oder Armut des Landes anwendbar sind. Diese Grundsätze sind gleich; nur die Entscheidungen, die in ihre Anwendung fallen, werden nach Reichtum oder Armut verschieden sein müssen. Dies wird klar, wenn man sich die leitenden Gedanken der öffentlichen Wirtschaft vor Augen hält. Das erste und wichtigste Erkennen ist das vom Vorrang der Aus­ gabenwirtschaft. Der Satz allerdings, den man häufig hört, daß in der Privatwirtschaft die Einnahmen die Ausgaben bestimmten, in der öffentlichen Wirtschaft dagegen umgekehrt die Ausgaben die Ein­ nahmen,ist—bei scharfer Betrachtung—nur mit einer wichtigen Ein­ schränkung richtig. Nicht zutreffend ist die oft gezogene Folgerung, daß nur der einzelne sich nach seiner Einkommensdecke strecken müsse. Auch der Staat muß bei der Ausgabenbemessung nach der Ergiebig­ keit seiner Einnahmequellen sich richten. Nur das Existenzminimum des Staats enthält eine große Zahl unverzichtbarer und zwangs­ läufiger Bedürfnisse; Art und Maß der Entnahme aus dem Volksgut werden durch sie bestimmt. Insofern bestimmt die Ausgabe die

Einnahmen und Ausgaben des Reiches und der Länder.

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Einnahme. Sache richtiger Finanzpolitik ist es, nur dann und nur insoweit das Volksgut durch Steuer zu beanspruchen, als zur Be­ friedigung des staatlichen Existenzminimums geboten ist. Nur dort, wo das Maß des Steuerdrucks und der Volkswohlstand es gestattet oder wo der Vorteil der Ausgabe des Staats den Nachteil der Steuerausgabe der Wirtschaft offenbar überwiegt, darf das Existenz­ minimum überschritten werden. Hier branden an die Entschließung des Verantwortlichen die bisweilen hochgehenden Wogen der Wirtschaftspolitik, der Sozialpolitik, der Kulturpolitik und der Welt­ anschauung. Ist, wenn auch mit der angegebenen Beschränkung, der „Vorrang der Ausgaben" gegeben, so ist die Ausgabewirtschaft ohne Rücksicht auf Umfang der zur Verfügung stehenden Einnahmen unter den Gesichtspunkt der Sparsamkeit gestellt. Was bedeutet Sparsamkeit in der öffentlichen Finanzwirtschaft? In drei Formen kann uns die Sparsamkeit entgegentreten. Einmal unter dem Gesichtspunkt einer staatspolitischen Einsparung von Mitteln, d. h. die Aufgaben des Staates verringern, weniger tun und daher weniger Geld aus­ geben. Ferner die Einsparung, die man als organisatorische Ein­ sparung bezeichnen kann, d. h. den Apparat der Staatsverwaltung so ausgestalten, daß die Erfüllung derselben Ausgaben mit einem minder kostspieligen Apparat bewirkt werden kann. Also nichts anderes, d. h. nicht weniger tun, sondern dasselbe anders tun und dadurch weniger Geld ausgeben. Und es bleibt drittens die Einsparung, die man als mechanische Einsparung bezeichnen könnte, d. h. bestimmte Ausgaben ohne Rücksicht darauf, ob die Aufgabenerfüllung gewähr­ leistet bleibt, streichen. Weniger Geld ausgeben ohne die Sicherheit, daß dasselbe getan wird. Die letzte Möglichkeit kann hier außer Betracht bleiben. Sie ist Notmaßnahme, die außerhalb der Gesetze ordnungsmäßiger Haushaltsführung steht. Von den zwei anderen Ersparnismöglichkeiten setzt sich die organisatorische Einsparung das Ziel: Unterlassung aller über­ flüssigen Ausgaben für alle gesetzten Zwecke, Rationalisierung des Staatsbetriebes durch geeignete Sachbeschaffung, Sachverteilung, Sachnutzung ebenso wie durch geeignete Personalbeschaffung, Per­ sonalverteilung und Personalnutzung, kurz: Einstellung der öffent­ lichen Verwaltung auf Arbeit mit höchster Nutzwirkung bei ge­ ringstem Aufwand. Diese Einsparungsmöglichkeiten lassen sich in weitem Umfange schon durch die unpolitischen Instanzen verwirk-

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lichen. Hier befinden wir uns im Rahmen der Verwaltungsbewilli­ gung von Einnahmen und Ausgaben, auf den nur durch das Par­ lament dann noch ein Druck ausgeübt werden muß, wenn unsparfames Gebaren aufgedeckt, Sparmöglichkeiten nachgewiesen werden können. Durch Streichung angeforderter Ausgaben und Herab­ setzung von Einnahmen im einzelnen, durch Schaffung geeigneter Verwaltungsinstanzen für die Prüfung der Anforderungen kann das Parlament hier Einfluß nehmen. Insoweit greift dies Gebiet in sein Bewilligungsrecht ein. Enger ist die staatspolitische Ein­ sparung mit dem parlamentarischen Bewilligungsrecht verbunden. Mehrung und Minderung von Staatsaufgaben ist letzte politische Entschließung wie der Regierung so des Parlaments. In diesen Zusammenhängen gesehen kann unter den Grundsätzen über Be­ willigung von Einnahmen und Ausgaben nur die Gesamtheit der Bestimmungen verstanden werden, die die Erhöhung und Herab­ setzung wie der Einnahmen so der Ausgaben, der ordentlichen wie der außerordentlichen regeln. Dabei kann nicht eine Beschränkung auf die Einnahmen und Ausgaben eintreten, die als Haushaltsposten zu bewilligen sind. Vielmehr wird ebenso von den Bewilligungen die Rede sein, die sich bei der regelmäßigen Gesetzgebungsarbeit des Parlaments als deren unmittelbare oder mittelbare Auswirkungen eintreten. II. Einheitlichkeit der Bewilligungsgrundsätze für Reich und Länder.

Die Bewilligungsgrundsätze für die Haushalte „des Reichs und der Länder" sollen den Gegenstand der Untersuchung bilden. Mit Recht enthält das Thema schon eine Zusammenfassung, stellt es mit dieser Zusammenfassung eine besondere Frage. Empfiehlt es sich, gleichviel welche Grundsätze materiell empfehlenswert erscheinen, sie einheitlich für Reich und Länder zu gestalten, einheitliche Siche­ rungen der Haushaltsführung zu schaffen. Abseits von allem Kampf um Einheitsstaat und Eigenstaatlichkeit der Länder, um Unitarismus und Föderalismus, um Zentralisation, Dezentralisation und Dekon­ zentration steht oder sollte doch die Erkenntnis stehen von der Einheit der deutschen Wirtschaft. In erhöhtem Maße beansprucht vom Standpunkt des nationalen Rechts aus Bedeutung, was ich an anderer Stelle für das internationale ausgesprochen habe:

Einnahmen und Ausgaben des Reiches und der Länder.

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Die Errungenschaften der Technik und des Verkehrs haben ehe­ mals in sich geschlossene und lebensfähige Wirtschaftsgebiete für die Tätigkeit der eigenen Wirtschaft zu eng gemacht und gleichzeitig dem Eindringen fremder Wirtschaft geöffnet. Die Verflechtung der Finanzierungs- und Erzeugungsgebiete mit den Absatzgebieten ist in früher nie gekanntem Maße gewachsen. Daher sind auch die Angehörigen des einen Staates dem anderen durch Aufenthalt, Eigentum, Anlage werbenden Kapitals, durch Begründung von Zweigniederlassungen (Fabrikations- und Vertriebsstätten), durch Zugehörigkeit zu Unternehmungen, die von vornherein in ver­ schiedenen oder allen Ländern ihre Tätigkeit üben, in immer steigen­ der Zahl und mit immer größeren Werten verbunden. Die ge­ steigerte Wirtschaft hat die Staatsgrenzen überwinden müssen, um dem Zusammenschluß von Kapital und Arbeit den höchstmöglichen Wirkungsgrad zu gestatten. Dieser Einheit des deutschen Wirtschafts­ staats entspricht eine sachliche Einheit der Staatswirtschaft. So groß die Vielheit der Staatswirtschaften in Deutschland auch formell heute noch sein mag, die Steuern, die von ihnen der deutschen Wirtschaft auferlegt werden, sind einheitliche Steuerlast, das Gesamt der Steuern von Reich, Ländern und Gemeinden bestimmen Wirtschafts­ und Wettbewerbsfähigkeit des Einzelnen nach Innen und Außen. Darum ist auch das Gesamt der Ausgaben aller öffentlichen Körper­ schaften, die die Steuereinnahmen bestimmen, eine Einheit. Aus­ gabewüsten, d. h. Teile des Landes, die durch die Höhe der Ausgaben verwüstet werden, sind mehr noch als Steueroasen Strukturfehler des einheitlichen Wirtschaftsstaats. Je mehr die deutsche Gesamt­ wirtschaft sich dessen bewußt wird, daß die Aufstellung, Gestaltung und Verwirklichung der öffentlichen Haushalte ihr Lebensinteresse berührt, je enger Deutschland als einheitliches Wirtschafts- und Verkehrsgebiet wird, desto stärker ist die innere Verbundenheit aller nach Einzelstaaten getrennten Haushalte. Sicherungen des Volks­ guts „Steuer" vor Verschwendung sollten in allen Teilen Deutsch­ lands möglichst gleich sein, damit nicht unnötige Verschiedenheiten auf diesem Gebiete noch die Schwere der ohnehin notwendigen Last für die minder gut gesicherten Haushalte erhöhen. Die Wirtschaft im weitesten Sinne, mag es Erzeugung, Handel, Verkehr, Arbeit oder Verbrauch sein, wird ihr einheitliches Recht suchen, um nicht zu dem Kampf um die Bedingungen des wirtschaftlichen Wieder­ aufstiegs nach Außen den Kampf um Gleichheit der Lebensbedin-

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gungen nach Innen führen zu müssen. Der Zollverein riß ant 1. Januar 1834 Schranken nieder, die der deutschen Wirtschaft den Weg von einem zum anderen deutschen Wirtschaftsgebiet erschwerten; heute gibt es nur ein deutsches Wirtschaftsgebiet. Die Einheit des deutschen Wirtschaftsgebiets erforderte größere Einheitlichkeit in der Führung der Staatswirtschaft. Das bedeutet vom Standpunkt der uns gestellten Frage einige Forderungen. Ihre weitgehendste wäre Einheit der Haushaltsform und des Haushaltsrechts. Dabei bin ich mir bewußt, daß die Buntscheckigkeit der Verwaltungsgliederung und Aufgabenverteilung in den Ländern und Gemeinden das ein­ heitliche Haushaltsschema in weitere Ferne rücken"). Der Zwang der Wirtschaftsentwicklung wird auch hier helfen. Es erscheint mir auch nicht so dringlich, nachdem durch die Verordnung über die Finanzstatistik vom 23. Juni 1928 (RGBl. Nr. 29 S. 205ff.) die Vergleichbarkeit der Haushalte durch einheitlich für alle Länder auf­ zustellende Übersichten für die Zukunft gewährleistet ist. Bliebe die bescheidene Forderung, daß Einnahme- und Ausgabebewilligung im Reich und in den Ländern in übereinstimmender Weise gehand­ habt werden. Ein gemeinsames deutsches Haushaltsrecht zunächst in diesen Beziehungen, wenn es nicht ein allgemeines deutsches Haus­ haltsrecht sein kann. In den Problemkreis der inneren Verbundenheit der gesamten öffentlichen Wirtschaft Deutschlands gehören auch die Zusammen­ hänge der Haushalte von Reich, Ländern und Gemeinden, die sich daraus ergeben, daß das Reich Ausgaben der Länder bestimmt und Einnahmenden Ländern überweist, ohne daß die Länder die Ausgaben abwehren können, das Reich die Einnahmeverwendung kontrollieren kann. Die Bestimmungen, die diese Fragen regeln, haben ihren Platz im Normenkreis des Finanzausgleichs. Dahin muß auch die Beantwortung der Frage verwiesen werden, ob dem Reiche — durch seine Regierung, den Reichsrat oder den Reichstag auf die Gestaltung der Länderhaushalte auf der Ausgabenseite über die Ver­ einheitlichung des Haushaltsrechts hinaus, auf der Einnahmeseite über die Vereinheitlichung der Gesetzesgrundlagen hinaus, die das Steuervereinheitlichungssetz anstrebt, weitergehender Einfluß zuge­ standen werden soll, diese Fragen sind ohne Einbeziehung der Ge-

*) Zu vgl. Saemisch, Die Vereinheitlichung der Haushaltspläne (Reich und Länder, Vierteljahrsschrift Hrsg. v. d. Arbeitsstätte für sachliche Politik E. B. 1927. S. 3 ff.).

Einnahmen und Ausgaben des Reiches und der Länder.

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meindefinanzen nicht zu lösen, sie berühren Grundlagen des Finanz­ ausgleichs und müssen hier ausscheiden. Nur mit Fragen des Haus­ haltsrechts — wenn auch in weitestem Sinne — nicht aber mit dem Recht der deutschen Finanzverfassung haben wir es hier zu tun.

C. Die bestehenden Bewilligungsgrundsätze. I. Bewilligungsgrundsätze in Deutschland.

1. Die Bewilligung der Einnahmen und Ausgaben beim Reich. a) Allgemeine Grundsätze des Haushaltsrechts. Ob eine Änderung des bestehenden Rechts sich empfiehlt, wird sich nur entscheiden lassen, wenn die Möglichkeiten des bereits bestehenden Rechts zuvor klargestellt sind. Grundlage der Haushaltsgebarung des Reichs bildet der Artikel 85 RV. Danach müssen alle Einnahmen und Ausgaben des Reichs für jedes Rechnungsjahr veranschlagt und in den Haushaltsplan eingestellt werden. Der Haushaltsplan wird vor Beginn des Rech­ nungsjahres, und zwar durch ein Gesetz festgestellt. Das Recht zur Aufstellung eines sog. „Notetats" bei nicht rechtzeitiger Beschluß­ fassung über das Haushaltsgesetz ist in der Staatspraxis anerkannt. Die Ausgaben werden in der Regel für 1 Jahr bewilligt; sie können in besonderen Fällen auch für eine längere Dauer bewilligt werden. Im übrigen find Vorschriften im Reichshaushaltsgesetz unzulässig, die über das Rechnungsjahr hinausgehen oder sich nicht auf die Einnahmen und Ausgaben des Reichs oder ihre Verwaltung beziehen,

b) Verwaltungsbewilligung. Die RV. selbst behandelt nicht ausdrücklich die Fragen der Initiative für den Haushaltsplan; es entspricht indessen dem Staats­ gewohnheitsrecht und der in den Formen der Verfassungsgesetze verabschiedeten Haushaltsordnung, daß der Haushaltsplan von der Regierung festgestellt und vorgelegt wird, die Initiative also ausschließ­ lich ihr zugewiesen ist (§§ 21, 22 HO.). Vorschlag und Gestaltung der wesentlichen Einnahmeposten sowie Schätzung der Einnahmen (z. B. aus Steuern einschließlich der Zölle) hat der Reichsfinanz­ minister als Fachminister vorzunehmen. Grundsätzlich entscheidet er auch über die Einstellung einer Ausgabe. Seine Entschließung erhält

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die erforderlichen „Unterlagen" von den Reichsministern für ihren Geschäftsbereich oder von den sonst für die Aufnahme von Einzel­ plänen nach § 5 HO. in Betracht kommenden Stellen (§§ 5, 19, 20 I 1HO.). Er kann diese Unterlagen überprüfen, die darin enthaltenen Anforderungen ändern und gegebenenfalls zum Teil streichen. Ab­ weichungen von den Anmeldungen des Reichstagspräsidenten und des Rechnungshofs sind in jedem Falle der Reichsregierung mitzuteilen. Im übrigen hat der Fachminister nur gegen Änderungen oder Strei­ chungen „von grundsätzlicher oder sonst erheblicher Bedeutung" den Einspruch beim Kabinett (§20I3HO.). Beschließt die Reichsregierung gegen die Stimme des Reichsfinanzministers, so hat dieser ein Wider­ spruchsrecht. Wird es ausgeübt, so ist die Abstimmung zu wiederholen; die Aufnahme des streitigen Postens ist nur zulässig, wenn hierbei die Mehrheit sämtlicher Reichsminister und unter ihnen der Reichs­ kanzler dafür stimmen. Besteht zwischen den für die allgemeinen Richtlinien der Politik und den für die Finanzpolitik insbesondere verantwortlichen Männern Übereinstimmung, so fällt die Ausgabe (§ 20 I, 4 §21 III HO.; zu vgl. auch § 128 HO.)"). Die Bestimmung des § 21 III HO. gilt ihrem Wortlaute nach nur für die Aufstellung des Haushaltsplans. Staatsgewohnheit, die durch Kabinetts­ beschluß gesichert ist, hat sie auf alle Ausgabebewilligungen der Regierung ausgedehnt. In Fällen von Gesetzen auf Initiative der Reichsregierung, die neue Ausgaben oder Ausgabeerhöhungen mit sich bringen, wird regelmäßig ein Nachtragshaushalt die Mittel anfordern müssen, der die Parlamentsbewilligung einschaltet. In gewissen Fällen kommt eine Verwaltungsbewilligung aber noch nach der Parlaments­ bewilligung des Haushalts aus besonderem Recht zum Zuge. Es handelt sich um das Sonderrecht, das die außerplanmäßigen, d. h. int Haushalt nicht vorgesehenen und die überplanmäßigen, d. h. den vorgesehenen Haushaltsansatz überschreitenden Ausgaben (Haus­ haltsüberschreitungen) regelt. Die §§ 33, 128 HO. sind hierfür maß­ gebend. Die Haushaltsüberschreitungen sind nicht allgemein ausge­ schlossen und können, wie jedem aus der Staatspraxis geläufig ist, nicht ausgeschlossen werden, ohne die Regierungsinitiative lahmzulegen, wo sie am dringendsten geboten ist. Es darf nur an die Notwendigkeit der

10) Zu vgl. Glum, Die staatsrechtliche Stellung der Reichsregierung sowie des Reichskanzlers und des Reichsfinanzministers in der Reichs­ regierung, S. 41.

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Hilfeleistung bei plötzlichen Katastrophen, Überschwemmungen nach Hochwasser, Unwetter und Schäden anderer Art, plötzliches An­ schwellen der Arbeitslosigkeit u. a. mehr erinnert werden. Die Unüberschreitbarkeit ist daher nur für ganz bestimmte Fälle vorge­ schrieben, nämlich allgemein bei Ausgabebewilligungen im außer­ ordentlichen Haushalt, ferner bei Ausgabebewilligungen, die ohne nähere Angabe des Verwendungszweckes einer Stelle zur Verfügung gestellt sind (sog. Dispositionsfonds), sowie bei solchen zu außer­ ordentlichen Vergütungen und Unterstützungen. Die Haushaltsordnung läßt im übrigen außer- und überplan­ mäßige Ausgaben zu, stellt sie aber unter die ausdrückliche Verant­ wortung des Reichsministers der Finanzen und unter besondere sachliche Voraussetzung. Die Ausgaben bedürfen „der vorherigen Zustimmung des Reichsministers der Finanzen. Sie darf nur aus­ nahmsweise im Falle eines unabweisbaren Bedürfnisses erteilt werden" (§ 33 I). Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen dem anfordernden Minister und dem Reichsminister der Finanzen finden gemäß § 128 HO. die oben angeführten Bestimmungen über die Vorzugs­ stellung des Finanzministers im Kabinett Anwendung (§ 21 III HO.),

c) Parlamentsbewilligung.

Der Reichstag ist grundsätzlich frei, Einnahmen und Ausgaben im Haushaltsgesetz und außerhalb des Haushalts zu gestalten. Nur was die Bewilligungen von Einzelausgaben durch den Haushalts­ plan angeht, ist sein Recht zwar nicht in der Antragstellung und Erörterung, wohl aber in der Beschlußfassung und in deren Wirkung beschränkt. Der Eingriff in die Beschlußfassung steht dem Reichs­ rat zu. Der Reichstag kann, wie der Abs. 4 des Art. 85 ausdrücklich feststellt, im Entwurf des Haushaltsplanes ohne Zustimmung des Reichsrats Ausgaben nicht erhöhen oder neu einsetzen. Wird die Zustimmung zur Ausgabe verweigert oder nicht erteilt, so ist das Gesetz ohne diese Ausgabe zu verkünden. Diese Bestimmung wird durch den Abs. 5 des Art. 85 eingeschränkt. Die Zustimmung des Reichsrats kann gemäß den Vorschriften des Art. 74 ersetzt werden. Das bedeutet sachlich, daß der Widerspruch des Reichstags gegen Ausgabeerhöhungen oder Neueinstellungen von Ausgaben mit der im Art. 74 vorgesehenen qualifizierten Mehrheit des Reichstags

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überwunden werden kann. Es bedarf also lediglich der Zweidrittel­ mehrheit, um die Einstellung oder Nachschiebung der Mehrausgabe entgegen dem Willen des Reichsrats zu sichern. Die Wirksamkeit dieser Bestimmungen beschränkt sich überdies auf den Haushaltsplan selbst. Die Bewilligung von Ausgaben durch besondere Reichsgesetze ist abseits davon zulässig; ebenso wie die Bewilligung von Ein­ nahmen. Jnnerparlamentarische Sicherungen des Haushalts int Sinne einer Sicherstellung der Prüfung innerhalb des Reichstags vom Stand­ punkte der Finanzpolitik bestehen in mehrfacher Beziehung. So be­ stimmt § 48 der Geschäftsordnung des Reichstags: „Über Haushalts­ vorlagen wird in der Regel erst abgestimmt, wenn sie ein Ausschuß vorberaten und einen Antrag gestellt hat. Sie gehen an den Haus­ haltsausschuß, wenn der Reichstag nichts anderes beschließt, über Entschließungeu die eng mit einem Kapitel des Haushaltsplans zu­ sammenhängen, wird erst in der dritten Beratung abgestimmt." Außer dem Ausschuß für den Reichshaushalt bestehen als ständige Ausschüsse, die für die Bewilligung der Einnahmen und Ausgaben von Be­ deutung sind, noch der Ausschuß für Steuerfragen (der Steuer­ ausschuß) und der für die Rechnungen (Rechnungsausschuß). Der Haushaltsplan wird in allen seinen Teilen, Ergänzungen und Nach­ trägen dem Haushaltsausschuß zur Vorberatung und Vorbeschluß­ fassung überwiesen. Ein besonderer Unterausschuß (der sog. Spar­ ausschuß) dient eindringender Prüfung von Einzelheiten, nament­ lich Ersparnismöglichkeiten. Hier wird regelmäßig kein Antrag auf Erhöhung von Ausgaben eingebracht, ohne daß mit dem Reichs­ finanzministerium vorher Fühlung genommen worden ist, und ohne daß er mit einem entsprechenden Antrag auf Ausgabenminde­ rung verbunden wird. Minder gesichert ist die Durchberatung von Ausgabebewilligungen außerhalb des Haushalts in diesem Ausschuß. Sie beginnt sich indessen durchzusetzen. Steuergesetze werden regel­ mäßig int Steuerausschuß vorbehandelt. Schwierigkeiten machen die Beschlüsse der Fachausschüsse (zu vgl. § 26 GO.), die Ausgaben verursachende sowie Einnahmen erheischende oder senkende Be­ schlüsse noch nicht stets den Finanzausschüssen zuleiten. Das geltende Recht läßt sich für Verwaltungsbewilligung und Parlamentsbewilligung auf folgende Formeln bringen:

1. Der Haushaltsplan wird von der Regierung vorgelegt. Ihr obliegt die vorbereitende Bewilligung. Bei dieser Bewilligung

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ist dem Reichsminister der Finanzen das Recht zu beschränken­ dem Eingriff gegeben. 2. Der Reichstag ist frei, Beschlüsse über Einnahmen zu fassen, d. h. sowohl die Einnahmen zu erhöhen, als auch die Einnahmen herabzusetzen, neue Einnahmen zu schaffen und einzustellen.

Eine Beschränkung findet sich nur bei den Ausgaben und nur für den Entwurf des Haushaltsplans. Der Reichstag bedarf der Zustimmung des Reichsrats, die durch eine Zweidrittelmehrheit des Reichstags ersetzt werden kann. Der Reichspräsident kann, kommt diese nicht zustande, binnen 3 Monaten einen Volksentscheid über die Ausgabe anordnen. Anderenfalls gilt die Ausgabe als nicht bewilligt. Ergibt die neue Beschlußfassung die Zweidrittelmehrheit, so ist die Ausgabe binnen 3 Monaten als beschlossen zu verkünden oder ein Volksentscheid anzuordnen. Ein Volksentscheid auf Volks­ begehren ist wie über die Ausgabengesetze und Besoldungsordnungen auch über den Haushaltsplan und damit den Haushaltsplan be­ rührende Ausgabebewilligungen unzulässig (Art. 74 III, Art. 73 IV RV.). Völlige Freiheit hat der Gesetzgeber bei Einnahmen und Aus­ gaben, soweit er sie durch materielle Rechtsvorschriften neu schafft, er­ höht oder mindert. Eine Beschränkung des Rechts zur Bewilligung von Einnahmen oder Ausgaben durch die Reichsregierung ist nicht zu­ lässig. Sie kann weder die Antragstellung noch die Verhandlung oder Beschlußfassung über den Antrag hindern. Ein Eingreifen der Regierung im Interesse der Aufrechterhaltung des Haushalts ist grundsätzlich nur in einem Punkte zulässig, in dem eine Beschränkung der Wirksamkeit der Bewilligungen vorliegt. Die Reichsregierung kann, soweit nicht der Vollzug eines zu der Ausgabe verpflichtenden Gesetzes in Frage steht, von der Bewirkung bereits endgültig beschlossener Ausgaben absehen, da die Ausgabe­ bewilligung nur Ermächtigung, nicht Zwang zur Ausgabebewir­ kung ist.

Dies war von jeher der Standpunkt der Reichsregierung") und wird durch den § 10 Satz 1 des Haushaltsgesetzes 1928 bestätigt. Die Bestimmung lautet: “) Zu vgl. Schulze-Wagner, Reichshaushaltsordnung Anm. 2 zu § 25, 2. Aufl., S. 151, sowie Rede des RFM. Reinhold in der Vollsitzung des Reichstags vom 15. Dezember 1926, Drucks, des Reichst., S. 8552/3.

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Die im Haushaltsentwurfs für die einzelnen Zweckbestim­ mungen vorgesehenen Ansätze dürfen nur insoweit in Anspruch genommen werden, als es zur ordnungsmäßigen und wirtschaft­ lichen Führung der Reichsverwaltung unter Berücksichtigung der gesamten Bedürfnisse der Verwaltung für das laufende Rechnungsjahr erforderlich ist.

Diese Einschaltung der rechtlichen Verantwortung der Regierung und insbesondere des Reichsministers der Finanzen erhält erhöhte Bedeutung durch Abs. 2 dieses § 10, der hinzufügt: Zur Leistung der hiernach notwendigen Ausgaben hat der Reichsminister der Finanzen den obersten Reichsbehörden für bestimmte Zeiträume Kassenbetriebsmittel im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden ordentlichen und außerordent­ lichen Einnahmen zu überweisen.

Die Tragweite dieser Bestimmungen ist bei genauer Prüfung sehr groß. Während nach dem bisher geltenden Recht die Ausgabe­ ermächtigung eine parlamentarische Verantwortung nur für den Fall der Nichtleistung bedeutete, wird jetzt auch für den Fall der Leistung eine politische Verantwortung geschaffen, sofern die Bedingungen, an die die Ermächtigungen geknüpft sind, gefehlt haben. Die Ausgabe­ ermächtigungen sind nunmehr im Rahmen der neuen Bestimmung „bedingt"; allerdings bedingt nur durch das Ausgabebedürfnis, nicht durch den Einnahmebestand. Die vorgeschriebene Berücksichtigung der Gesamtbedürfnisse der Verwaltung gestattet aber, die Linien der Entwicklung weiter zu führen. Der Besonderheit der außerordentlichen Ausgaben, ihre Deckung durch Anleihen zu finden, trägt der § 7 des Haushalts­ gesetzes 1928 Rechnung. Er lautet: Die im außerordentlichen Haushalt für das Haushaltsjahr 1928 bewilligten Ausgaben einschließlich der aus früheren Jahren rückständigen Ausgaben dürfen nur im Rahmen der vom Reichsminister der Finanzen bereitgestellten Mittel ge­ leistet werden; auch dürfen Verpflichtungen zu ihrer Leistung nur insoweit eingegangen werden. Der Reichsminister der Finanzen soll Mittel für die Deckung der im Abs. 1 bezeichneten Ausgaben nur bereitstellen, soweit die für das Haushaltsjahr 1928 im außerordentlichen Haushalt

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vorgesehenen Einnahmen einschließlich der aus früheren Jahren rückständigen Einnahmen tatsächlich zur Verfügung stehen. Darüber hinaus kann er ausnahmsweise Mittel bereitstellen, wenn er die Einstellung oder Unterbrechung der Arbeiten schwere wirtschaftliche Nachteile zur Folge haben würde; in diesem Falle ist dem Reichsrat und dem Haushaltsausschusse des Reichstags ein Verzeichnis der genehmigten Ausgaben mit Erläuterungen über die Gründe der Genehmigung vorzulegen. Die bedeutsame Verantwortlichkeit der Reichsregierung und die Verstärkung ihrer Befugnisse und Pflichten gegenüber Ausgabe­ beschlüssen des Reichstags ist klar. In einem Punkte ist sie allerdings nicht völlig zweifelsfrei, wenn man die Bestimmung des § 8 mit ihm vergleicht. Diese Bestimmung schaltet eine neue Regierungs­ verantwortung hinsichtlich der übertragbaren Ausgaben, d. h. der Ausgaben ein, die auch noch nach Ablauf des Rechnungsjahres, also im Gegensatz zu der grundsätzlichen Jährlichkeit der Bewilligungen, bewirkt werden dürfen. Die Bestimmung besagt:

Soweit bei den ausdrücklich als übertragbar bezeichneten Ausgaben und bei den zu einmaligen Ausgaben bewilligten Mitteln am Schlüsse des Rechnungsjahres 1927 Ausgaben noch nicht geleistet werden, wenn entweder eine Verpflichtung zu ihrer Leistung besteht oder der Reichsminister der Finanzen der Leistung zustimmt. Neue Verpflichtungen zu ihrer Leistung können nur mit Zustimmung des Reichsministers der Finanzen übernommen werden. Der Reichsminister der Finanzen kann im Rahmen einer ordnungsmäßigen Wirtschaftsführung hiervon Ausnahmen zu­ lassen. Die bestehenden rechtlichen Verpflichtungen werden hier aus­ drücklich aufrechterhalten. Der § 7 sieht dies nicht ausdrücklich vor. Der Gegenschluß, daß deshalb hier die bereits eingegangenen Verpflichtungen nicht ein­ gehalten zu werden brauchten, liegt nahe. Er würde aber meines Erachtens nicht zutreffen, da eine Aufhebung wohlerworbener Rechte, soweit sie durch einfaches Gesetz überhaupt zulässig ist, zum wenigsten ausdrücklich wird erfolgen müssen. Diese Auslegung findet ihre Bestätigung durch den letzten Halbsatz im Abs. 1 des Para-

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graphen, der ausspricht, daß Verpflichtungen d. h. neue Verpflichtungen zur Leistung außerordentlicher Ausgaben nur im Rahmen der be­ reitgestellten Mittel eingegangen werden dürfen, alte also unange­ tastet bleiben sollen. Die Schwäche der sachlich überaus zweckmäßigen Bestimmungen, die geeignet sind, vorzeitige zivilrechtliche Bindungen des Reichs zu hindern, wo Deckung durch Anleihen erfolgen sollte, bei ihrem Versagen aber praktisch der ordentliche Haushalt die Last trägt, liegt zunächst darin, daß sie einstweilen nur Bestandteil des Haushaltsgesetzes für das Jahr 1928 sind. Es darf aber wohl erwartet werden, daß sie eiserner Bestand aller kommenden Haushaltsgesetze, besser noch Bestandteil des allgemeinen Haushaltsrechts werben12). Es kommt hinzu, daß auch diese Bestimmungen den Eingriff erst nach der Beschlußfassung durch den Reichstag gestatten. Für die früheren Stadien bleiben der Reichsregierung nur die politischen Möglichkeiten, a) der Versuch, den Reichsrat zum Versagen seiner Zustimmung zu bewegen und dadurch den Reichstag zur erneuten Stellungnahme in qualifizierter Mehrheit zu veranlassen; b) die Einsetzung der politischen Verantwortlichkeit, d. h. die Rücktritts­ drohung des verantwortlichen Ministers oder des Gesamtkabinetts. Im übrigen ist die Wirkung der Bewilligungen im Haushalts­ plan allgemein dadurch abgeschwächt, daß durch sie Rechte und Pflichten Dritter nicht berührt werden (§ 24 HO.). Das be­ deutet einmal, daß die Verausgabung von Beträgen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, durch die Streichung der Ausgabe im Haushalt nicht gehindert wird; es bedeutet zum anderen, daß die Einnahmen, ohne Rücksicht auf ihre Einstellung in den Haushalt, forterhoben werden, solange die sie begründenden Sondergesetze, insbesondere die Steuergesetze, nicht aufgehoben oder geändert sind. 2. Die Bewilligung der Einnahmen und Ausgaben bei den Ländern. Von den deutschen Ländern sollen nur die behandelt werden, die in ihrer Verfassung für Einnahme- oder Ausgabebewilligungen besondere Bestimmungen im Sinne einer Beschränkung des freien 12) Vgl. dazu Entschließung des Reichstags auf Drucksache Nr. 4158: „Die Reichsregierung zu ersuchen, einen Entwurf zur Änderung der Reichshaushaltsordnung vorzulegen, der Bestimmungen im Sinne der §§ 7 und 8 des Gesetzes über die Feststellung des Reichshaushaltsplans für das Rechnungsjahr 1928 vorsieht."

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Bewilligungsrechts des Parlaments haben. Die Haushaltsinitiative liegt in allen Ländern bei der Regierung. Sicherung vor zu weit­ gehender Verwaltungsbewilligung im Sinne einer Stärkung der Stellung des Finanzministers gegenüber den anderen Fachministern, findet sich insbesondere in

Preußen, das etwas ausführlicher behandelt werden soll. Was die verfassungsmäßigen Beschränkungen angeht, so deckt sich der Art. 63 PrV. im entscheidenden Teil mit Art. 85 BR. Ein­ nahmen und Ausgaben werden für jedes Rechnungsjahr veranschlagt und durch Gesetz vor Beginn des Rechnungsjahrs festgestellt. Aus­ gaben werden in der Regel für ein Jahr bewilligt. Im Haushalts­ gesetze sind dieselben Zusätze zum Haushalt wie im Reich für unzu­ lässig erklärt (s. oben S. 501). Bei Meinungsverschiedenheiten inner­ halb der Regierung über die Verwaltungsbewilligung ist hier der Beschluß des Staatsministeriums vom 16. Oktober 1923 maß­ gebend. Beschließt das Staatsministerium in einer Frage, die nach der Erklärung des Finanzministers finanzielle Bedeutung hat, gegen die Stimme des Finanzministers, so kann dieser gegen den Beschluß Widerspruch erheben. Der Beschluß ist durch die Erhebung des Widerspruchs aufgehoben. Ein neuer Beschluß des Staatsmini­ steriums kann erst in einer weiteren Sitzung des Staatsministeriums herbeigeführt werden. In dieser kann gegen die Stimme des Finanz­ ministers nur entschieden werden, wenn die Mehrheit sämtlicher Staatsminister und der Ministerpräsident mit ihnen sich gegen ihn entscheidet. Die Regelung stimmt insoweit mit der des Reichs der Sache nach überein. Die Initiative für die Feststellung des Haus­ halts liegt auch hier ausschließlich bei der Regierung. Auf dem Gebiete der Parlamentsbewilligung ist der Land­ tag in seinen Entschließungen ähnlich wie der Reichstag gestellt, mit zwei allerdings sehr wesentlichen Ausnahmen. Beide berühren die Ausgabebewilligung, die erste Bewilligungen innerhalb oder außer­ halb des Haushaltsplans, die zweite nur die Bewilligungen außerhalb des Plans. Beschlüsse über Ausgaben, die über den vom Staatsministerium vorgeschlagenen oder bewilligten Betrag hinaus­ gehen, bedürfen gemäß Art. 42 IV PrV. der Zustimmung des Staatsrats. Verweigert der Staatsrat seine Zustimmung oder erteilt er sie nicht, so ist der Landtagsbeschluß nur insoweit wirksam,

35. DJT. 1.

33

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als er mit dem Vorschlag oder der Bewilligung des Staatsmini­ steriums übereinstimmt. Ein Volksentscheid ist unzulässig. Das Recht des Staatsrats ist teils schwächer, teils stärker als das des Reichsrats. Schwächer insofern, als die Regierung durch ihre Zu­ stimmung das Recht beseitigen kann. Stärker insofern, als es auch Ausgabebewilligungen außerhalb des Haushaltsplans trifft und der Landtag die Zustimmung nicht ersetzen, Volksentscheid sie nicht überflüssig machen kann. Nach Art. 66 müssen Beschlüsse des Landtags, welche Mehraus­ gaben außerhalb des Haushalts in sich schließen oder für die Zu­ kunft mit sich bringen, zugleich bestimmen, wie diese Mehrausgaben gedeckt werden. Die geschäftsordnungsmäßigen Beschränkungen des Bewilli­ gungsrechts sind in § 36 der Geschäftsordnung des Landtags zu­ sammengefaßt. Er behandelt „Finanzvorlagen" und versteht unter ihnen Regierungsvorlagen und Anträge von Abgeordneten, die in der Hauptsache bestimmt sind, für die Gegenwart oder die Zukunft auf die Finanzen des Staats einzuwirken, die also namentlich den Haushalt betreffen, die Einnahmen und Ausgaben, das Vermögen, die Schulden und Bürgschaften, die Steuern, Abgaben und Ge­ bühren oder die Rechnungen oder Berichte über alle diese Gegen­ stände. In Zweifelsfällen entscheidet der Präsident des Landtags, ob es sich um eine Finanzvorlage handelt. Finanzvorlagen gehen grundsätzlich, d. h. wenn der Landtag nichts anderes beschließt, an den Hauptausschuß. Über Finanzvorlagen darf im übrigen nur abgestimmt werden, wenn ein Ausschuß sie vorberaten und einen Antrag dazu gestellt hat. Hiervon kann abgesehen werden, wenn es der Landtag aus­ drücklich beschließt. Erhebt das Staatsministerium gegen eine den Haushalt belastende Vorlage, die nicht im Hauptausschuß beraten worden ist, Bedenken, so überweist der Präsident den vom Ausschuß erstatteten Bericht, bevor dieser an den Landtag kommt, dem Haupt­ ausschuß. Diese ausdrücklichen Bestimmungen sind in einem wesent­ lichen Punkte durch Geschäftsgewohnheit ergänzt. Anträge bei der Haushaltsberatung, die auf eine Erhöhung der Ausgaben, auf Ein­ setzung neuer Ausgaben oder auf Herabsetzung der Einnahmen gerichtet sind, werden vom Hauptausschuß einem besonderen Unter­ ausschuß zu nochmaliger Beratung überwiesen. Der Unterausschuß besteht in der Regel aus den Finanzreferenten der Parteien.

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Was die außerordentlichen Ausgaben angeht, so fehlt in Preußen der außerordentliche Haushalt. Die Anleiheermächtigung ergeht für jeden Einzelzweck durch besonderes Gesetz. Die Bewirkung der Ausgabe ist außerplanmäßig und daher von der vorhergehenden Zustimmung des Finanzministers abhängig. Er teilt den einzelnen Ressorts zu Beginn des Rechnungsjahres mit, welche Beträge und für welche Zwecke aus Anleihemitteln bereitgestellt werden können. Für die ordentlichen Ausgaben besteht die Befugnis des Finanz­ ministers nach den Haushaltsgesetzen, den Sachressorts die letzten 10 v. H. zu sperren.

Bayern kennt keine Vorzugsstellung des Finanzministers bei der Verwaltungsbewilligung. Es kennt aber Sonderbestimmungen der Verfassung für Ausgabenerhöhung und neue Ausgaben durch den Landtag (§ 81 der Verfassung). Das Bewilligungsrecht des Land­ tags ist zwar grundsätzlich unbeschränkt, das Gesamtministerium kann jedoch eine Wiederholung der Beratung verlangen, die ohne Zu­ stimmung des Ministeriums nicht vor Ablauf von 14 Tagen statt­ finden darf. Der zweite Beschluß bedarf der Zweidrittelmehrheit. Geschästsordnungsmäßige Bindungen des Bewilligungsrechts inner­ halb der Regierung oder innerhalb des Parlaments bestehen nicht. Mt der bayerischen Verfassungsvorschrift stimmt die Württem­ bergs überein (vgl. § 49 der Verf.). In Sachsen

ist bei der Verwaltungsbewilligung die Stellung des Finanz­ ministers durch § 3 des Staatswirtschaftsgesetzes vom 31. Mai 1922 gestärkt. Danach dürfen in den Entwurf des Haushaltsplans neue oder gegen den vorigen Haushaltsplan erhöhte Ausgaben, soweit sie nicht auf gesetzlicher Verpflichtung oder auf Anträgen des Land­ tags beruhen, gegen den Widerspruch des Finanzministeriums nicht eingestellt werden. Der Widerspruch hat indessen lediglich die Be­ deutung, daß, falls keine Einigung mit dem Fachministerium erzielt wird, das Gesamtministerium mit einfacher Stimmenmehrheit ent­ scheidet (§ 25 Ms. 2 der Verfassung). Die Parlamentsbewilli­ gung ist nach der Verfassung (Art. 43) einer Sondervorschrift unter­ stellt, die mit der bayerischen im wesentlichen übereinstimmt, für den zweiten Beschluß aber nicht Zweidrittelmehrheit, sondern nur 33*

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einfache Mehrheit erfordert. Gegenüber diesem Beschluß gibt es keinerlei Sonderrecht der Verfassung; nur kann, wie bei jedem Gesetz, gemäß Art. 35 Abs. 1 der Verfassung das Ministerium die Vorlage dem Landtag binnen 14 Tagen zurückgeben. Wird der neue Beschluß mit einfacher Stimmenmehrheit im gleichen Sinne gefaßt, so besteht die Möglichkeit, innerhalb Monatsfrist gemäß Art. 35 Abs. 2 den Volksentscheid herbeizuführen. Thüringen

(§ 56) verstärkt den zweiten Beschluß durch das Erfordern der Mehr­ heit der gesetzlichen Zahl der Abgeordneten. Die Mehrheit der gesetzlichen Zahl bei wiederholtem Beschluß verlangt unter beson­ deren weiteren Voraussetzungen auch Bremen (§ 62 111 der Ver­ fassung) und Hamburg (§§ 63 II, III der Verfassung). Eine weitergehende Schutzbestimmung enthalten die Ver­ fassungen von Anhalt, Lippe, Schaumburg sowie Mecklen­ burg-Schwerin (§ 79 der Verfassung). Nach § 46 der anhaltinischen Verfassung können Einnahmen und Ausgaben weder eingesetzt noch erhöht werden ohne Zustimmung des Staatsrats (d. h. des Ministeriums). Abweichende Beschlußfassung gilt als Annahme in der vorgeschlagenen Höhe, übereinstimmendes sieht die Vorschrift des § 48 der lippischen und des § 50 der schaumburgischen Verfassung vor.

Die Schwierigkeiten einer Ausschaltung der Regierungsverant­ wortung treten dort nicht auf, wo, wie z. B. in Oldenburg (§ 34 der Verf.) das Staatsministerium mit zur Gesetzgebung berufen ist.

II. Die Bewilligungsgrundsätze im Ausland. Als Vergleich und zugleich als Prüfstein für etwa zu machende Vorschläge auf ihre praktische Durchführbarkeit seien die Beschrän­ kungen des Ausgabe- und Einnahmebewilligungsrechts in einzelnen besonders typischen Staatswesen des Auslandes, und zwar in England, Amerika (U. S. 91.), Frankreich und Belgien kurz gekenn­ zeichnet^). ia) Von einer Erörterung des österreichischen Bewilligungsrechts darf ich imHinblick auf die besondereSachkundemeinesHerrnMitberichterstatters für dieses Gebiet absehen.

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1. England")

kennt Sicherungen der Verwaltungs- und der Parlamentsbewilli­ gung. Die Verwaltungsbewilligung

ist durch weitgehende Rechte der Treasury (praktisch ausgeübt durch den Chancellor of the Exchequer) gesichert. Die Initiative für die Aufstellung des Haushalts liegt ausschließlich bei der Regierung. Wirksamsten Einfluß übt der Schatzkanzler auf die Anforderungen der Civil Service and Revenue Departments, d. h. aller Verwal­ tungszweige, die nicht dem Heer, der Flotte oder den Luftstreit­ kräften dienen. Hilton Doung bezeichnet die Treasury als “the moving Spirit and the general superintendence of all financial administration”16).

Die Treasury fordert zur Vorlegung der Anmeldungen auf, mit der “stereotyped admonition in the circular”, nicht etwa die Schätzungen des letzten Jahres als Ausgangspunkt für das folgende zu nehmen. Die besondere Verantwortung der Treasury für die nichtmilitärischen Verwaltungen tritt auch darin hervor, daß die Vorbereitung ihrer Voranschläge “under the close supervision of the Treasury” während der Dauer des ganzen Haushaltsjahres erfolgt. Bei Meinungsverschiedenheiten hat die Treasury “the last word”. Im Gegensatz zu dieser maßgebenden Kontrolle steht der Einfluß auf die Voranschläge von Heer, Marine und Luftstreitkräften. In der Theorie sollte nach Übersendung des Gesamtvoranschlags durch den ersten Seelord an den Schatzkanzler “high debate take place upon the policy of the Estimates between the Champion of spending and the Champion of economy”. **) Vgl. hierzu insbesondere: a) Sir T. Erskine May, Constitutional History of England 1912; b) Sir T. Erskine May, A Treatise on the Law, Privileges, Proceedings and Usage of Parliament 1924, im folgenden zitiert als „Parliamentary Practice“; c) F. W. Maitland, Constitu­ tional History of England; d) Hilton Poung, The System of National Finance; e) Sir Courtenay Jlbert, Parliament, its History, Consti­ tution and Practice 1926; f) W. F. Willoughby, W. W. Willoughby und S. M. Lindsay, The System of financial administration of Great Britain, New Pork-London 1917. “) Vgl. hierzu und zum Folgenden Hilton Ioung, The System of National Finance, S. 29ff.

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In der Staatspraxis ist aber die Macht des Schatzkanzlers über diesen wesentlichen Teil des Haushalts “now little more than the shadow of a formality”. Die “great Gladstonian tradition”, nach der es die Funktion des Schatzkanzlers ist, “to act towards the estimates of spending departments as advocatus diaboli” ist also nur für einen Teil aufrechterhalten. Die Fortdauer dieser strengen Observanz ist überdies — nicht nur in England — nach der treffenden Beobachtung von Hilton Young auch sachlich erschwert. “One thing is clear”, führt er aus, “the power and Utility of the Chancellor in this respect must be affected by that development in our System of government, which now allows him the initiative in schemes of fresh legislation involving heavy expense”. Hilton Young stellt schließlich fest: “New spending on civil Object is usually a matter for Initiation by an Act of Parliament”.

Parlamentsbewilligung. 1. Unterhaus.

Für die Parlamentsbewilligung gilt das Wort Sir Erskine Mays: „Das Parlament hat getreulich Pflicht und Verantwortung des Souveräns und der Abgeordneten aufrechterhalten, die die Über­ wachung der öffentlichen Gelder und die Auferlegung von Lasten auf das Volk angeht, und zwar mit Hilfe von Geschäftsordnungs­ bestimmungen, die besonders diesem Ziele gewidmet ftnb16)." In England zeigt sich eine Verknüpfung der Regierungs- und Parlamentsverantwortung, die das Jneinandergreifen der Verant­ wortungen unter Vorrang der Regierungsverantwortung nahezu vollständig verwirklicht, obwohl bindende Verfassungsbestimmungen fehlen. Die maßgebenden Geschäftsordnungsvorschriften sind die Standing Orders Nr. 66—71b, die in der Anlage abgedruckt sind (s. u. S. 563). Drei Bindungen sind vorgesehen: eine außerparla­ mentarische, zwei innerparlamentarische. Die erste ist die Regie­ rungszustimmung, die beiden anderen Zwang zu Vertagung und Ausschußberatung. Die Beschränkungen sind Verfahrensbindungen, “) Sir Erskine May, Parliamentary Practice, S. 504.

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die die sachliche Behandlung des Antrags int Hause vor Erfüllung der drei Voraussetzungen regelmäßig hindern. Ihr Inhalt läßt sich im einzelnen wie folgt wiedergeben: 1. Das Unterhaus läßt keine Petition auf Bewilligung irgendeiner Summe, die die öffentliche Verwaltung betrifft, und keinen Antrag auf Bewilligungen aus öffentlichen Einnahmen oder auf ihre Belastung zu, für die Zahlung entweder aus dem Consoli­ dated fund oder aus vom Parlament zu bewilligenden Geldern zu leisten wäre, wenn nicht die Empfehlung der Krone vorliegt (Standing Order, Nr. 66). Die gleiche Beschränkung gilt auch für Anträge auf Be­ lastung der Einnahmen Indiens (Standing Order, Nr. 70).

2. Das Unterhaus behandelt Petitionen, Anträge und Gesetz­ entwürfe, die die Bewilligung von Geldern oder den Verzicht auf eine Summe oder die Niederschlagung einer Summe Geldes, die der Krone zusteht, vorsehen, zuerst in einem Aus­ schuß des ganzen Hauses (Standing Order, Nr. 67). Die gleiche Beschränkung gilt auch für Anträge auf eine Adresse an die Krone, in der die Leistung einer Zahlung oder das Eingehen einer Ausgabeverpflichtung erbeten wird (Stand­ ing Order, Nr. 69). Petitionen auf Niederschlagung einer Summe Geldes, die der Krone zusteht, werden vom Hause nur dann zugelassen, wenn ihnen eine Nachweisung der zuständigen Beamten bei­ gefügt ist, aus der sich der Betrag der Schuld und die für die Beitreibung dieser Schuld unternommenen Schritte ergeben und in der dargelegt ist, wieviel der Bittsteller oder die von ihm gestellten Sicherheiten von der Schuld befriedigen können (Standing Order, Nr. 68).

3. Wird in der Vollversammlung des Unterhauses ein Antrag auf Bewilligung einer Ausgabe oder Belastung der öffentlichen Ein­ nahmen oder auf eine Belastung des Volkes gestellt, so darf nicht sofort in die Beratung dieses Antrags eingetreten werden. Vielmehr muß Vertagung auf einen späteren, vom Hause zu bestimmenden Tag und Überweisung an einen Ausschuß des ganzen Hauses erfolgen, bevor ein Beschluß oder eine Be­ willigung des Hauses ergeht (Standing Order, Nr. 71).

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Der Beschluß der Vertagung setzt gemäß Standing Order Nr. 66 voraus, daß vorher die Empfehlung der Krone erteilt ist17).

Von dem Vertagungszwang gibt es Ausnahmen. Liegt ein Antrag vor, der die Bewilligung einer Ausgabe im Zusammenhang mit einem Gesetzentwurf anderen In­ halts vorsieht, so daß also Gegenstand der Beratung nicht in erster Linie die Ausgabe, sondern der sachliche Inhalt des Gesetz­ entwurfes ist, so kann ohne Vertagung sofort in die Ausschußberatung des Antrages eingetreten werden (Standing Order, Nr. 71a).

Ebenso können Anträge, die die Bewilligung von Geldern aus dem Consolidated fund vorsehen und über die der Ein­ nahmeausschuß bereits Bericht erstattet hat, ohne Ver­ tagung sofort beraten werden (Standing Order, Nr. 71b).

Im Ergebnis bedeuten die Klauseln nach Sir Courtenay Jlbert: “Parliament, that is to say the house of commons, cannot vote money for any purpose whatsoever, except at the demand and upon the responsibility of Ministers of the crown ... a similar restriction on the powers of taxation. Parliament, that is to say the house of commons, cannot impose a tax, except upon the recommendation of the crown. Accordingly any pcoposal for the levy of a new tax or for the increase of an existing tax must come from the government. This rule only applies to general taxes, not to the taxes for local purposes which are known as rates18).” In der Praxis stellt sich das Verfahren etwa folgendermaßen dar1»): Wenn ein Antrag zur Erörterung gestellt wird, gleichviel, ob in der Vollsitzung oder in einem Ausschuß, und er der Kronempfehlung bedarf, aber ermangelt, so ist es nicht nur Recht, sondern Pflicht des Präsidenten, festzustellen, daß “no question can be proposed upon the motion”, d. h., daß er nicht zugelassen werden kann; er kann die Zurückziehung des Gesetzentwurfs anordnen. Das gleiche gilt, wenn die Erörterung über einen Abänderungs­ vorschlag zugelassen ist und es sich im Verlaufe der Beratung heraus­ stellt, daß er den Regeln der Geschäftsordnung unterfällt. In *’) Sir Erskine May, Parliamentary Practice, S. 505, Abs. 1. ") Sir Courtenay Jlbert, Parliament, S. 91. ") Sir Erskine May, Parliamentary Practice, S. 504ff.

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diesem Falle hat der Präsident es abgelehnt, den Antrag zur Ab­ stimmung zu stellen (put the question). Es bedarf einer offiziellen Regierungserklärung, um den Weiter­ lauf der parlamentarischen Arbeit zu ermöglichen. Frage des Speakers an die Regierung und Regierungserklärung werden zu Protokoll genommen. Darauf wird Vertagung und danach die Überweisung an den Ausschuß des ganzen Hauses beschlossen. Auch bei einer Ent­ schließung, die im Zusammenhang mit einem Gesetzentwurf zu Ausgaben ermächtigt, ist besondere Regierungserklärung und Aus­ schußsitzung erforderlich; nur bedarf es der Vertagung nicht. Ist der Hauptgegenstand eines Gesetzentwurfs die Schaffung einer öffentlichen Last, so muß vor Einbringung des Gesetz­ entwurfs (betöre the bill is introduced) Billigung der Krone und Vorentschließung des Vollkomitees gegeben sein. Ist die durch einen Entwurf geschaffene Last eine Folgeerschei­ nung aus den in ihm enthaltenen Vorschriften, so ist Kronempfehlung und Vorentschließung des Vollkomitees nicht notwendig vor der Einbringung des Entwurfs. Bevor aber die Klauseln und Vor­ schriften, die die Belastung bewirken, in dem Komitee für den Entwurf beraten werden können, muß eine Entschließung, die sie billigt, den Ausschuß des ganzen Hauses, eingesetzt auf Grund der Kronempfehlung, durchlaufen und von dem Parlamente gebilligt werden. In den Drucksachen des Entwurfs sind die Klauseln und Vor­ schriften, die die Lasten bewirken, durch kursiven Druck hervor­ gehoben, um anzuzeigen, daß sie keinen Teil des Entwurfs bilden, keine Frage über sie zur Erörterung gestellt werden darf, bevor sie durch den besonderen Beschluß bekräftigt worden sind. Die Vorfrage, ob die Voraussetzungen der Geschäftsordnungs­ bestimmungen vorliegen, entscheidet der Speaker endgültig ohne jede Möglichkeit einer Berufung an das Haus (s. insbesondere Parliamentary Debates, House of Commons vom 4. April 1913, Bd. 51, Spalte 707). 2. Oberhaus. Die Stellung des Oberhauses in der Finanzgesetzgebung ist nach der letzten Änderung durch Gesetz vom 18. August 1911 (Parliament Act 1911) stark zurückgedrängt; seine Rechte sind nur noch von

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formeller Bedeutung. Ihre Bedeutung wird durch die drei folgen­ den Regeln klar umschrieben:

1. Die Gesetzentwürfe müssen von der Regierung zunächst im Unterhause eingebracht werden. 2. Die Mitwirkung des Oberhauses muß nachgesucht werden, um den Beschlüssen des Unterhauses Wirksamkeit zu verleihen. 2. Die Zustimmung des Oberhauses kann im Ergebnis nicht ver­ weigert werden: Das Oberhaus hat einen Monat, um sich schlüssig zu werden Ist die Frist verstrichen und hat das Ober­ haus seine Zustimmung ausdrücklich oder stillschweigend ver­ weigert, so wird der Entwurf dennoch Gesetzt").

Abschließend sei hier das Urteil von Hilton Young über die Bedeutung der englischen Regelung wiedergegeben, ein Urteil, das um so schwerer wiegt, als Young keineswegs grundsätzlich Lob­ redner der Unterhauspraxis ist, die er in anderen Teilen als “meaningless ritual” kennzeichnet. Er faßt seine Betrachtung dahin zusammen:^) „Beschränkung der Initiative in Finanzsachen auf die Ver­ waltung ist eine der Hauptsicherungen guter Regierung. Der Aus­ gleich von Einnahmen und Ausgaben ist eine sehr heikle und delikate Aufgabe; nur die Verwaltung kann über die doppelte Kenntnis verfügen, die hier erforderlich ist, einerseits dessen, was gebraucht und wieviel es kosten wird und andererseits, wieviel die Steuern voraussichtlich erbringen werden. Die Verwaltung allein hat die Verantwortung für Einnahmen und Ausgaben des Staates, und die Verwaltung allein sollte die Kontrolle über sie haben. Ihre einmal aufgestellten Pläne müssen genau durchgeführt werden; wäre es möglich, daß der Ausgleich von Einnahmen und Ausgaben über den Haufen geworfen wird durch eine schlecht informierte, plötzliche und verhältnismäßig verantwortungslose Aktion eines ein­ fachen Abgeordneten, dann müssen die Finanzen der Nation bald in wilde Unordnung geraten. Es ist leicht, sich das Chaos vorzu­ stellen, das entstehen würde, wenn ein begeisterter Patriot imstande wäre, aufzustehen und unvorbereitet den Antrag zu stellen, 10 neue Schlachtschiffe „aus noch zu bewilligenden Mitteln" zu bauen...

•°) Gaston Jsze, Les pouvoirs financiers de la Chambre des Lords in Revue de Science et de Legislation Financteres, Bd. IX, 1911, S. 590. S1) Hilton Young, a. a. O., S. 56/57.

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Es gibt noch ein anderes großes Unheil, gegen das die Be­ schränkung sowohl das Unterhaus wie den Steuerzahler schützt, eins, das weit verbreitet war in der Vergangenheit, bevor die Beschrän­ kung so absolut wurde, wie sie es jetzt ist. Sie schützt sie gegen die unzweckmäßige Verwendung öffentlicher Gelder durch Abgeordnete zugunsten ihrer Wahlkreise^)." Von dem englischen System ist das in

Amerika-') entwickelte grundsätzlich verschieden. Die Vereinigten Staaten von Amerika kennen einen Haushalt im Sinne Englands und der konti­ nentalen Staaten erst seit dem “Budget and Accounting Act” vom 10. Juni 1921. Der darin liegende Fortschritt ist mühsam erkämpft und begeistert begrüßt worden. Seine politische und sachliche Be­ deutung wird stark betont. Willoughby umschreibt den Unterschied zwischen dem europäischen und dem amerikanischen System dahin: “The term ‘Budget’ as originally employed, and still used in European countries, meant little more than a comparative Statement of estimated revenue and expenditure needs. In the United States, this Conception of the nature and functions of a budget has been greatly broadened. To quote with slight modifications, a definition previously given by the writer, a budget is the Instrument through which the financial operations of the government past and prospective are correlated, compared one with the other and brought under examination at one and the same time. It is, or should be, at once a report, an estimate, and a proposal14).”

1. Verwaltungsbewilligung. Der Präsident der Vereinigten Staaten als Haupt der Verwal­ tung hat das unbeschränkte auch durch die als Fachminister wirkenden Mitglieder des Kabinetts nicht beschränkbare Recht zur Aufstellung

") Uber die von anderer Seite hervorgehobene Schwäche des Systems s. u. S. 528. “) Vgl. dazu insbesondere außer der knappen Zusammenfassung für altes Recht bei Jsze, Le Budget, 1910, S. 237;. Willoughby, The Na­ tional Budget System, 1927. “) Willoughby, The National Budget System, S. 67.

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Ministerialdirektor Prof. Dr. Herbert Dorn

des Haushaltsvoranschlags nach Einnahmen und Ausgaben.

Der

Direktor übt mit dem “Bureau of the Budget” die Gewalt des

Präsidenten in einer “super cabinet position” aus. ist technisch mit dem Schatzamt vereinigt.

Das Büro

Tatsächlich erscheint es

in seiner Amtsausübung dem Büro des Präsidenten verbunden.

Um Zusammenarbeit mit den Dienststellen der Verwaltung im einzelnen zu sichern, ist eine “Business Organization of the Govern­ ment” geschaffen, in der zweimal im Jahr der Präsident und der

Budgetdirektor über ihre Sparpolitik und ihre besonderen Wünsche sprechen.

Die Entscheidung über Höhe der Einnahmen und Aus­

gaben liegt im Stadium der Verwaltungsbewilligung letzten Endes allein bei dem Bureau of the Budget, gegen dessen Maßnahmen

nur die Beschwerde an den Präsidenten nach näherer Bestimmung

einer besonderen Ausführungsverordnung gegeben ist26).

2. Parlamentsbewilligung. Was die Beschränkungen des Parlaments bei Einnahmen und

Ausgaben angeht, so behandelt Willoughby diese Frage in einer besonders anregenden Weise unter dem Gesichtspunkt eines Ver­

gleichs zwischen dem englischen und dem amerikanischen System2"). Er stellt die Feststellung voran, daß “many advocates of the adoption

of a budget System in the United States believed that a really

effective budget System could not be established that did not rest upon the English principle of vesting in the chief executive

rather than in the legislature the determination of the expenditure

program”.

Ohne die verschiedenen Vorteile der Systeme auf­

zuzeigen, erinnert er an die Verschiedenheit der politischen Grund­ einstellung: Verantwortliches Ministerium hier, Gewaltentrennung dort.

Der Übergriff der einen Gewalt in das Gebiet der anderen

erscheint ihr unerträglich.

In Amerika würde die Folge des eng­

lischen Systems sein, daß die Verwaltung ihren Willen auch gegen den scharf widersprechenden

durchsetzen könnte.

politischen Willen des Parlaments

Er schließt:

26) Die Schilderung der sehr interessanten Einzelheiten muß besonderer rechtsvergleichender Erörterung der „Praxis der Verwaltungsbewilligung" an anderer Stelle Vorbehalten bleiben. “) Vgl. für die folgende Darstellung Willoughby, The National Budget System, S. 140ff.

Einnahmen und Ausgaben des Reiches und der Länder.

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“It is unnecessary to say that the American people are not prepared to accept any such redistribution of political powers/’ Das Ergebnis ist Trennung von “formulation of the budget and action thereon”. Nach dem politischen System Amerikas ist das erste eine Verwaltungs-, das zweite eine Gesetzgebungsaufgabe. Daher hat der Kongreß die uneingeschränkte Macht behalten, die er immer besaß, in jeder ihm angemessen erscheinenden Weise die Vorschläge des Präsidenten im Budget abzuändern. Trotz dieser grundsätzlichen Erwägungen bekennt aber Willoughby, es sei doch wünschenswert, daß der Kongreß sich in weitem Umfange durch die Vorschläge des Präsidenten leiten lasse. Er stellt im Anschluß hieran Möglichkeiten der Abweichung im Weißen Haus und im Senat fest, sowie das geringe Ausmaß, in dem bisher tatsächlich abgewichen worden ist. Was die Ausgabebewilligung insbesondere betrifft, so hat der zuständige Ausschuß alsbald die Entscheidung gefällt, “that the President’s recommendations should be deemed to be a conclusive Statement of the maximum expenditure needs of the government and that it would not consider the making of any increases in such requests”. Dies hat der Vorsitzende des Ausschusses mit folgendem Wort bekanntgegeben: “The Committee on Appropriations decided to do one thing which I think will meet with the commendation of the House, We decided in advance that we would not hear any argument from any chief of any department or any bureau in the Govern­ ment for the restoration of any item that had been eliminated by the Director of the Budget, so that when the Director of the Budget makes a cut in the proposals submitted to him by the department chiefs, we take that cut as final, and we allow no man to come and argue for its restoration. We have, however, retained the right that we possess, as your spokesmen in the preparation of these bills, to go downward, not upward. In no case will you find that we have recommended in any bill that we propose for your consideration an item in excess of that recom­ mended by the budget officer. You will find a great many items of reduction, but none of increase ..." Die Ausgabebewilligung hat auch nach amerikanischem Recht zumeist “from a strictly legal standpoint” den Charakter einer reinen Ermächtigung (Willoughby S. 186). Ausnahmen bestehen

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der Sache nach auch hier bei Rechtspflichten und bei besonderem politischen Willen des Kongresses für die Ausgabe. Für die laufen­ den Ausgaben besteht darüber Übereinstimmung “that, if the work can be performed without using all the money granted, this should be done” (a. a. £)., S. 187). Was die Sicherungen der Parlamentsbewilligung angeht, fo ergibt sich folgendes: a) Repräsentantenhaus.

Der Entwurf des Haushaltsplans wird unmittelbar, nachdem er dem Kongreß durch Botschaft des Präsidenten übermittelt worden ist, dem Haushaltsausschuß (Committee on Appropriations) über­ wiesen. Das Committee on Appropriations (35 Mitglieder) ist so zusammengesetzt, daß die Mehrheit des Repräsentantenhauses auch die Mehrheit im Ausschuß besitzt. Außer dem Haushalt werden alle Gesetzentwürfe usw., die die Bewilligung von Ausgaben vor­ sehen, dem Haushaltsausschuß überwiesen. Das Budget enthält in der Regel keine Vorschriften über die Gestaltung der Einnahmen; soweit dies doch der Fall ist, werden sie dem Committee on Ways and Means überwiesen. Der Haushaltsausschuß nimmt zunächst eine allgemeine Be­ ratung des Budgets vor und faßt Beschlüsse grundsätzlicher Art wie etwa den vorhin angeführten über den Gesamtbetrag der Ausgaben. Der Ausschuß setzt dann 10 Unterausschüsse ein, denen je 5 Mit­ glieder, und zwar 3 aus der Mehrheit und 2 aus der Minderheit des Repräsentantenhauses, angehören. Die formale Behandlung des Budgets ist damit auf das herrschende Zweiparteiensystem ab­ gestellt. Jedem der 10 Unterausschüsse wird einer der 10 Gesetz­ entwürfe (Appropriation Bills), aus denen das Budget formell besteht, zugewiesen (1. Schatzamt und Postverwaltung, 2. District of Columbia, 3. Kriegsministerium usw.). Die Unterausschüsse er­ örtern die beantragten Ausgaben eingehend mit den zuständigen Beamten der betreffenden Verwaltungszweige, fassen Beschlüsse und legen dann dem Gesamtausschuß den ihren Beschlüssen ent­ sprechend umgestalteten Gesetzentwurf wieder vor. Der Gesamt­ ausschuß kann die Beschlüsse der Unterausschüsse abändern und leitet den Entwurf mit den Änderungen dann dem Plenum zu. Es folgt dann die Beratung im Committee of the Whole House. Hierbei werden die einzelnen Entwürfe jeweils von einem Mitglied

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des Haushaltsausschusses, in der Regel dem Vorsitzenden des be­ treffenden Unterausschussses vertreten. Die Beratung im Committee of the Whole House ist das sachlich wichtigste Stadium der Budget­ beratung, in dem die eigentlichen Entscheidungen fallen. Bei der die Beratung abschließenden dritten Lesung werden Abänderungsanträge nicht mehr zugelassen. b) Senat.

Der Senat hat grundsätzlich die gleichen Rechte wie das Reprä­ sentantenhaus mit der Ausnahme, daß alle Finanzgesetze zunächst vom Repräsentantenhaus beraten werden müssen. Die Vorschrift der Verfassung gilt zwar eigentlich nur für Gesetze, die die Ein­ nahmen betreffen, wird aber regelmäßig auch auf Gesetze, die die Bewilligung von Ausgaben vorsehen, angewandt. Auch im Senat findet die Beratung zunächst in einem Ausschuß (18 Mitglieder) statt. Ein wichtiger Unterschied gegenüber dem Repräsentantenhaus besteht darin, daß dem Senatsausschuß bei Beratung der Entwürfe, die die einzelnen Ausgabeetats ent­ halten, jeweils 3 Mitglieder der in der Sache zuständigen Ausschüsse als Mitglieder ex officio beigegeben werden, die von diesen Ausschüssen gewählt werden. Eines von diesen drei Mit­ gliedern muß dann auch dem „Conference-Ausschuß" (s. unten) angehören. Im Senat werden, genau wie im Repräsentanten­ haus, die Voranschläge zunächst in Unterausschüssen mit den zu­ ständigen Beamten der verschiedenen Verwaltungszweige erörtert. Diese Erörterungen sind jedoch nicht so eingehend wie die in den Unterausschüssen des Repräsentantenhauses. Der Unterausschuß übermittelt den Gesetzentwurf dann mit den von ihm vorgenommenen Abänderungen dem Gesamtausschuß und dieser leitet ihn dann, gegebenenfalls mit neuen Abänderungen, dem Plenum des Senats zu. Der Senat berät über den Entwurf dann in einem Com­ mittee of the Whole. Ein Unterschied gegenüber dem Reprä­ sentantenhaus besteht in diesem Stadium der Beratung insofern, als int Repräsentantenhaus bei Beratung int Committee of the Whole jedem einzelnen Mitglied unbeschränkt das Recht zusteht, Abänderungsanträge einzubringen, während int Senat Anträge auf Erhöhung von Ausgaben nur zugelassen werden, wenn sie entweder in Ausführung bestehender Gesetze oder Verträge oder früher vom Senat angenommener Beschlüsse gestellt werden (d. h.

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also praktisch nach Billigung durch den in der Sache zuständigen Ausschuß), oder von einem Senatsausschuß ausgehen. Weichen die Beschlüsse des Senats von denen des Repräsen­ tantenhauses ab, so wird ein Ausgleich durch eine gemeinsame Besprechung (Conference) herbeigeführt Die Delegierten zu dieser “Conference” werden aus den Mitgliedern der beiden Unteraus­ schüsse, die die streitige Appropriation Bill geprüft haben, vom Präsidenten des Senats und dem Speaker des Repräsentanten­ hauses ernannt. Ihre Tätigkeit beschränkt sich auf die Erörterung der strittigen Punkte. Sie berichten über die Beschlüsse, die sie gemeinsam gefaßt haben, dem Senat bzw. dem Repräsentanten­ haus. Werden die Beschlüsse der Conference von einem der beiden Häuser oder von beiden nicht gebilligt, so finden weitere Konferenzen statt, bis Übereinstimmung erzielt ist.

c) Einspruch des Präsidenten.

Legt der Präsident gegen das vom Kongreß verabschiedete Haus­ haltsgesetz Einspruch ein, so geht das Gesetz an den Kongreß zurück. Wird es darauf nochmals mit Zweidrittelmehrheit in jedem der beiden Häuser angenommen, so erlangt es auch ohne Zustimmung des Präsidenten Gesetzeskraft. 3. Frankreich").

1. a) Verwaltungsbewilligung.

Die Initiative für die Haushaltsaufstellung liegt auch hier bei der Regierung. Die Aufstellung der Voranschläge für die einzelnen RZsorts erfolgt durch die Minister der Sachressorts. Eine gewisse Kontrolle der Ausgabebudgets durch den Finanzminister liegt darin, daß seit Erlaß des Gesetzes vom 12. August 1919 (Journ. Off., S. 8538, Art. 37) die Ausgabebudgets ihm zusammen mit einer Stellungnahme des Controleur des d6penses engag6es über­ mittelt werden. Der Finanzminister schätzt dann die zur Verfügung stehenden Einnahmen und verhandelt mit den Ressortministern, ") Vgl. insbesondere Gaston Jsze, Theorie generale du budget, 6. Auslage 1922 und in Einzelfragen vielfach ausführlicher das ältere Werk des gleichen Verfassers „Le budget“, 1910; ferner Rens Stourm, Le Budget, 1896 und Lson Duguit, Droit constitutionnel, 1925.

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falls die Einnahmen zur Deckung der angeforderten Ausgaben nicht ausreichen. Kommt eine Einigung zwischen Finanzminister und Ressortminister nicht zustande, so folgt Beratung und Entscheidung im Kabinett. Grundsätzlich ließe sich ein Kontrollrecht des Finanz­ ministers über die angeforderten Ausgaben der einzelnen Ressorts aus seiner Verantwortung für das Gleichgewicht des Haushalts herleiten. Praktisch wird dieses Recht jedoch nicht ausgeübt. Die Stellung des Finanzministers gegenüber den übrigen Ressort­ ministern und innerhalb des Kabinetts ist schwach, wenn nicht eine besonders starke Persönlichkeit die Zügel führt, zumal der Finanz­ minister gar nicht in der Lage ist, die angeforderten Ausgaben der übrigen Ministerien auf ihre sachliche Notwendigkeit zu prüfen. Es fehlt ihm der Einblick in die Interna der Verwaltung der übrigen Ressorts, den der englische Schatzkanzler infolge der dauernden Zusammenarbeit seiner Beamten mit Beamten der übrigen Ressorts während des ganzen Rechnungsjahres besitzt. 2. Parlamentsbewilligung.

a) Deputiertenkammer. Das Parlament hat grundsätzlich das Recht, Ausgaben zu er­ höhen und Einnahmen herabzusetzen, ebenso das Entgegengesetzte zu tun. Dieses Recht ist praktisch nur in sehr geringem Umfange beschränkt. Nach Art. 105 des Gesetzes vom 30. Juli 1913 (Journ. Off. v. 31. 7. 1913) dürfen die „Finanzgesetze", d. h. die Haushalts­ gesetze nur „dispositions financifcres“ enthalten. Die weite Aus­ legung dieses Begriffes hat der Schranke jede praktische Bedeutung genommen. Die adjonctions budgtiaires sind überaus zahlreich. Der tiefere Grund dieser Ausweitung dürfte, wie auch Jöze") fest­ stellt, darin liegen, daß man auf der Seite der Abgeordneten die Vorschrift als verfassungswidrigen Eingriff in die Jnitiativbefugnisse des Parlaments empfindet. Im übrigen enthält die Geschäftsordnung der Kammer zunächst eine echte Beschränkung in Art. 102 Abs. 1, 4. Sie lautet: Abs. 1: „Aucune proposition tendant soit ä des augmentations de traitements, d’indemnites ou de pensions, soit ä des crSations de Services, d’emplois, de pensions ou ä leur extension en dehors des limites prövues par les lois en vigueur, ne peut 6tre ”) Jize, Theorie generale du budget, 1922, S. 55. 35. DJT. 1.

34

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faite sous forme d’amendement ou d’article additionel ä la loi de finances, ä la loi relative aux contributions directes et aux lois portant Ouvertüre ou annulation de Credits.“ Abs. 4: „Aucun projet de r&olution, aucune motion, aucun ordre du jour motive ne peuvent 6tre döposfe au cours de la discussion de ces projets. Aucune Interpellation ne peut leur 6tre jointe.“ Eine weitere sachliche Beschränkung enthält Art. 101 Satz 2: „Aucune augmentation ou diminuation de Credit ne peut 6tre proposee ä titre d’indication pure et simple“ (Verbot reiner Demonstrationsanträge). Eine Abwehr von Anträgen in letzter Stunde (Überraschungs­ anträgen) bietet schließlich der Art. 101 Satz der GeschO., dessen Wortlaut dahin geht: „En ce qui touche la loi de finances, la loi relative aux contributions directes, les lois portant Ouvertüre de Credits, aucun amendement ou article additionnel tendant ä augmenter les dSpenses ou ä rSduire des recettes ne peut Lire d6pos6 aprfcs les dix jours qui suivent la distribution du rapport dans lequel figure le chapitre vis6.“ Als Ergebnis dieser Bestimmungen läßt sich feststellen: Das Antragsrecht der Abgeordneten ist unbeschränkt, auch auf dem Gebiete der Ausgaben und Einnahmen, es sei denn, daß es bei folgenden Gesetzen ausgeübt werden soll: dem jährlichen Finanz­ gesetz (dem Haushaltsgesetz), dem Gesetz über die direkten Steuern, den Gesetzen, die Ausgaben bewilligen, einschließlich der Anleihe­ gesetze. Auch bei diesen Gesetzen ist der Grundsatz der sachlich unbe­ schränkten Antragsbefugnis gewahrt. Nur wenn es sich um Gehalts­ oder Lohnerhöhungen, Erhöhung von Entschädigungen oder Pen­ sionen, die Schaffung von Ämtern, Dienststellen oder Pensionen oder um ihre Ausdehnung über die Grenzen des geltenden Rechts hinaus handelt, dürfen die Abgeordneten sie unter keinen Umständen in der Form von Abänderungs- oder Zusatzanträgen zu den be­ zeichneten Gesetzen beantragen: Der Präsident darf die Erörterung über einen solchen Antrag nicht zulassen. Alle übrigen Abänderungs- und Zusatzanträgen zu diesen Ge­ setzen, abgesehen von reinen Demonstrationsanträgen, sind zulässig, unter der Bedingung, daß sie innerhalb von 10 Tagen seit der Ver­ teilung des Ausschußberichts gestellt werden. Allgemein bleibt für die Abgeordneten die unbedingte und un­ beschränkte Möglichkeit bestehen, Erhöhung und Herabsetzung von Ausgaben oder Erhöhung und Herabsetzung von Einnahmen durch

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Initiativanträge in besonderen Gesetzen herbeizuführen. Außer­ dem besteht die Möglichkeit, Ausgabeerhöhungen und Einnahme­ herabsetzungen in der Ausschußberatung durchzusetzen. Finanz­ politisch erhebliche Gesetzentwürfe werden vom Präsidenten der Kammer außer dem in der Sache zuständigen Ausschuß auch dem Finanzausschuß zur Stellungnahme (pour avis) überwiesen. Charak­ teristisch für die Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist, daß der Finanzausschuß der Kammer in steigendem Maße in die Funktionell der Finanzverwaltung eingreift und häufig durch seinen Bericht­ erstatter oder seinen Präsidenten den von der Regierungsvorlage abweichenden Standpunkt des Ausschusses im Plenum der Kammer nüt besonderem Nachdruck vertreten läßt (vgl. z. B. die grund­ legende Umgestaltung, die der Doumersche Entwurf zur Schaffung neuer Steuern im Finanzausschuß der Kammer erfuhr, durch die ein völlig neuer Entwurf an die Stelle der ursprünglichen Re­ gierungsvorlage trat"). Inwieweit dem materielle Verständigung zwischen Regierung und Parlament zugrunde liegt, mag dahin­ gestellt bleiben.

b) Senat. Der Senat nimmt grundsätzlich für sich die gleichen Rechte in Anspruch wie die Kammer. Sein Recht, Ausgaben über die Be­ schlüsse der Kammer hinaus zu erhöhen, ist jedoch nicht unbestritten. Praktisch ausgeübt wird dieses Recht vom Senat namentlich insoweit, als es sich hierbei um Wiederherstellung der Regierungsvorlage gegenüber von der Deputiertenkammer vorgenommenen Herab­ setzungen von Ausgaben handelt.

4. Belgien").

1. Verwaltungsbewilligung. Die Voranschläge werden von den einzelnen Ressortministern ausgestellt und dem Finanzminister übermittelt. Besondere Kon­ trollrechte des Finanzministers bestehen nicht. Nach Billigung durch

'”) Documents Parlementaires de la Chambre des Deputes, Nr. 2332 vom 29. Dezember 1925 und Nr. 2458 vom 21. Januar 1926. ") Vgl. insbesondere Henri Matton, Precis de droit budgetaire beige, 1908.

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das Kabinett wird das Budget dem Parlament zugeleitet, und zwar der Repräsentantenkammer und dem Senat gleichzeitig. Die einzelnen Ausgabeetats und der Einnahmeetat werden getrennt, in besonderen Gesetzen, verabschiedet. Ein Teil wird zuerst von der Repräsentantenkammer, ein anderer Teil zuerst vom Senat beraten. 2. Parlamentsbewilligung. a) Repräsentantenkammer. Die Beratung der einzelnen Ausgabebudgets und des Einnahme­ budgets erfolgt zunächst im Finanzausschuß. Andere finanzpolitisch wesentliche Gesetze werden durch den Präsidenten der Kammer, außer dem in der Sache zuständigen Ausschuß, auch dem Finanz­ ausschuß zur Stellungnahme (pour avis) überwiesen. Das Recht, Ausgaben zu erhöhen und Einnahmen herabzusetzen, ist unbe­ schränkt; es gilt als Anwendung des droit d’amendement.

b) Senat. Die Rechte des Senats sind die gleichen wie die der Kammer; eine Prärogative der Kammer gegenüber dem Senat besteht nur insofern, als die finanzpolitisch wichtigsten Etats (Etat des Finanzministeriums, Einnahmeetat) stets zunächst von der Kammer be­ raten werden.

D. Änderung der deutschen Bewilligungsgrundsätze.

I. Allgemeines. Angesichts der grundsätzlichen Verschiedenheiten des Rechts für Verwaltungsbewilligung und Parlamentsbewilligung (vollständige Freiheit hier, vollständige Gebundenheit dort) erhebt sich die Frage von Wert und Unwert der Rechtsnorm für unser Gebiet. Ist es nicht im Grunde gleich, wie die Rechtsnorm beschaffen ist? Ent­ scheidet nicht die politische Norm: innerhalb der Regierung die Persönlichkeit des Finanzministers, gegenüber dem Parlament die starke oder schwache Gesamtpersönlichkeit der Regierung? Ist es nicht im Grunde auch unwesentlich, ob Regierung oder Parlament den Vorrang in der Verantwortung erhalten, da der Ausgabewille hier wie dort liegen kann?

Einnahmen und Ausgaben des Reiches und der Länder.

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Herbert Samuel, Mitglied des Unterhauses, Vorsitzender des Select Committee on National Expenditures 1917/18, hat diesen Gedanken für England klar ausgedrückt"):

„Die Wahrheit scheint zu sein, daß von Regierung und Parlament bald der eine, bald der andere Teil mehr zur Sparsamkeit neigt. Zu gewissen Zeiten und in gewissen Dingen mag die im Amt befindliche Regierung gegenüber parlamentarischen Gruppen, die zu Ausgaben drängen, fest bleiben. Zu anderen Zeiten oder gegen­ über anderen Fragen mag das Parlament weniger zur Verschwen­ dung neigen als die Regierung. Für den letzten Fall ist durch unser gegenwärtiges Verfahren nicht genügend Vorsorge getroffen. Wenn beide, Regierung und Parlament, übereinstimmen in dem Wunsche, auszugeben, so gibt es offenbar keine Macht, die sie zurück­ halten kann, es sei denn die Wählerschaft selbst. Für den Fall, daß das Parlament geneigt ist, nachlässig zu sein, während die Regierung sorgsam ist, schaltet die Verfassung ihre alte Sicherung ein: das Parlament kann kein Geld bewilligen, wenn nicht die Krone durch ihre Ratgeber es beantragt. Aber für den anderen Fall ist keine genügende Vorsorge getroffen. Das Interesse eines Ministers hängt an einem Plan, der Ausgaben, größere oder kleinere, erforderlich macht. Er besitzt das Ohr des Schatzkanzlers. In der Regel ist das Kabinett bereit, einen finan­ ziellen Vorschlag anzunehmen, für den der betreffende Minister die Zustimmung des Leiters der Finanzverwaltung gewonnen hat. Ein Voranschlag oder ein Antrag auf Bewilligung von Geldern wird dem Parlament ordnungsgemäß vorgelegt. Wenn die Auf­ merksamkeit der Mitglieder besonders auf ihn hingelenkt und seine Vorzüge unparteiisch geprüft würden, so würde er vielleicht nicht allgemeiner Zustimmung begegnen. Die allgemeine Stimmung im Hause kann gegen ihn sein; er wird trotzdem angenommen."

Willoughby fügt von einer anderen Seite der Betrachtung aus hinzu (The National Budget System S. 154): „Die Einsetzung eines ständigen Ausschusses für Ausgaben im Jahre 1912 und die Schaffung des besonderen Ausschusses für Staatsausgaben im Jahre 1917 lassen deutlich das in England vor­ handene Gefühl dafür erkennen, daß das System, sich ausschließlich

’*) Vgl. Vorwort zu S. H. Davenport, Parliament and the Tax­ payers, 1918.

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auf die Treasury zu verlassen, als Mittel für die Festsetzung der Ausgaben nicht befriedigend ist, und daß Wege gefunden werden müßten, die der gesetzgebenden Gewalt Gelegenheit bieten, die Ausgaben durchzuprüfen, ähnlich denjenigen, die die Vereinigten Staaten nach ihrem Budgetsystem besitzen." Nun ist gewiß, daß letzten Endes die Forderungen der Staats­ wirtschaft auf dem Gebiet der großen Politik ausgetragen werden, daß letzten Endes wie für gute Politik, so für gute Finanzpolitik die Zusammenfassung einheitlich wirkender Kräfte durch ein macht­ volles Kabinett entscheidend ist. Gäbe es eine Garantie für „starke Regierungskoalitionen" und „starke Kabinette", so bedürfte es im parlamentarisch regierten Staate — könnte man meinen — keiner weiteren Stärkung durch Rechtsnormen, da bei Zusammenwirken von Parlament und Regierung Sparsamkeit wie Verschwendung verwirklicht werden. Die Gefahr bestände hier nur für die Minderheit des Parlaments, und diese Gefahr kann lediglich dmch Öffentlichkeit der Haushaltsdebatte, äußerstenfalls durch das Recht eines Dritten zur Anrufuug des Volksentscheids gebannt oder doch gemindert werden. Oder sollten nicht vielleicht gerade auch, wenn eine starke Regierung starken Regierungsparteien gegenübersteht, die Verant­ wortungen gegeneinander stehen können? Wie dem aber auch sei, aller Zwang zur „Koalition", wie ihn Glum mit Recht in der deutschen Verfassung findet, kann nicht hindern, daß die Koalitionen bisweilen schwach, dieEimnütigkeit der in ihr vertretenenMeinungen nicht voll gesichert ist. Dies wird namentlich dann der Fall sein, wenn die Reichsregierung, wie in den letzten Jahren nicht selten, auch noch auf Parteien Rücksicht nehmen muß, die außerhalb der Regierung stehen. In allen solchen Fällen ist aber in der Hand eines zwar nicht politisch starken, aber verantwortungsbewußten Mannes auf dem Platze des Finanzministers die Rechtsnorm, die ihn haushaltswidrigen Anforderungen, die unter Druck der Öffent­ lichkeit stehen, entgegenzutreten nötigt und berechtigt, eine politische Macht. Steht sie zur Verfügung, so kann schon durch Versagung der Verwaltungsbewilligung viel für das Haushaltsgleichgewicht getan werden.

1. Zur Verwaltungsbewilligung.

Deutschland hat unter der parlamentarischen Regierungsform in der Verwaltungsbewilligung beim Reich und Preußen einen

Einnahmen und Ausgaben des Reiches und der Länder.

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Vorrang des verantwortlichen Budgetministers, einen Vorrang, der der Tatsache entspricht, daß Finanzpolitik eine der wichtigsten Fragen für die Richtlinien der allgemeinen Politik unserer Zeit ist. Dies rechtfertigt es, wenn in dieser Frage praktisch der Reichskanzler und der Reichsfinanzminister „das Kabinett überstimmen können"32). Man wird mit aller Theorie bett zwingenden Charakter der Gründe nicht beseitigen, die Regierung und Parlament im Reich dazu veranlaßt haben, dem Finanzminister die Mittel zu einer Politik des wirtschaftlichen Aufbaus und der Abwehr unsachgemäßer Aus­ gaben zu verstärken. Es bedeutet nicht Umsturz des ganzen Ver­ fassungssystems (so Glum, S. 56), sondern — zumal in Zeiten einer Notwirtschaft von Staat und Volk — Fortentwicklung der Ver­ fassung, die beiden Lebensform gibt. Wird auf der einen Seite m. E. ohne zureichenden Grund das Sonderrecht, besser die Sonderpslicht des Finanzministers bekämpft, so wird sie auf der anderen, in. E. ebenfalls nicht zutreffend, als unzulänglich empfunden. Hierher gehört die bei der Länderkonferenz von dem badischen Finanzminister erhobene Forderung einer Verselbständigung der Stellung des Finanzministers gegenüber dem Kabinett auch nach außen, etwa das Recht zu besonderer Vorlage bei Regierungs­ entwürfen. Dies geht m. E. zu weit, weil dabei die Einheit bqr Regierung, die verfassungsmäßig festgelegt und allein mit der Autoritätswahrung vereinbar ist, Schaden nehmen müßte. Es muß aber, wie dies auch heute der Fall ist, ebenso untersagt sein, Ressort­ wünsche an das Parlament heranzubringen, die durch den Einspruch des Finanzministers gefallen sind. Wirksamer würde es sein, wenn ein Geschäftsordnungsbeschluß des Parlaments die Stellung von Anträgen, denen nach einer Erklärung des Finanzministers die Verwaltungsbewilligung bereits versagt worden ist, für unzulässig erklärte (s. oben Amerika, S. 519). Ob dies für andere als reine Verwaltungsausgaben zu erreichen wäre, erscheint mir allerdings zweifelhaft. Ebenso, ob dann nicht die der Regierungsgewalt noch abträglichere Form der Anforderung einsetzen würde, die sich der Ablehnung durch das Kabinett nicht erst aussetzt und sogleich über das Parlament geht. Soweit es sich um die Stellung des Finanzministers im Kabinett

32) So Glum, a. a. £>., S. 46.

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Ministerialdirektor Prof. Dr. Herbert Dorn

handelt, wird nach alledem weder eine Stärkung noch eine Schwächung des gegenwärtigen Rechts empfohlen werden können. Nicht für unzweckmäßig würde ich es lediglich halten, wenn bei überstimmtem Widerspruch des Finanzministers im Kabinett auf seinen Antrag die Begründung der Regierungsvorlage die Gründe des Finanz­ ministers angeben müßte mit den Gegengründen, die den Ausschlag gegeben haben. Die Reichsnormen werden im Umfang der be­ stehenden Staatspraxis in der GO. zu übernehmen und zu ge­ meinsamem Haushaltsrecht für alle Länder zu erheben sein, bei denen es an einer entsprechenden Bevorrechtung der Finanz­ minister fehlt. Soweit die Verwaltungsbewilligung nach Erlaß des Haushaltsgesetzes während des Haushaltsjahrs, d. h. die Bewilligung außer- oder überplanmäßiger Ausgaben in Frage steht, könnte daran gedacht werden, besondere Sicherungen zugunsten des Parlaments einzuschalten. Österreich hat auf Grund schwerwiegender Erfahrungen (Aufwendung hoher außerplanmäßiger Mittel zur Stützung der Postsparkasse und einer vor dem Zusammenbruch stehenden Bank) durch Bundesverfassungsgesetz vom 29. Dezember 1926 (RGBl. 7/1927) betreffend Sicherung des Budgetrechts des Nationalrates das damals geltende Recht (Art. 6, XIII des Verwaltungsent­ lastungsgesetzes) dahin geändert: „Bundesausgaben, die im Bundes­ finanzgesetz oder in einem Sondergesetz nicht vorgesehen sind, be­ dürfen vor ihrer Vollziehung der verfassungsmäßigen Genehmigung des Nationalrates, die vom Bundesminister für Finanzen einzuholen ist. Bei Gefahr im Verzüge darf eine solche Bundesausgabe, sofern sie eine Million S. nicht übersteigt, mit Zustimmung des Hauptaus­ schusses vollzogen werden; die Genehmigung des Nationalrates ist nachträglich anszusprcchen." Diese Bestimmung beschränkt sich auf außerplanmäßige Aus­ gaben. Die überplanmäßige Verausgabung kann nach wie vor durch Regierungsakt vollzogen werden; es bedarf nur nachträglicher Berichterstattung. Nach den oben wiedergegebenen Bestimmungen ist im Reich die Verantwortung klar. Sie ruht voll bei dem Reichs­ minister der Finanzen. Die Einholung einer vorhergehenden Ge­ nehmigung ist mit den unübersehbaren Notbedürfnissen eines großen Volkes nicht wohl vereinbar. Die Notwendigkeit der außer- und überplanmäßigen Ausgaben ist um so zwingender, je stärker der Haushalt aufgegliedert, d. h. je mehr die Fonds nach Einzelzwecken aufgelöst und je weniger die Fonds untereinander deckungsfähig sind,

Einnahmen und Ausgaben des Reiches und der Länder.

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d. h. je weniger zugelassen ist, daß Ersparungen bei dem einen Zweck einem anderen zugeführt werden dürfen. Da im Reich für die Zwecke einer wirksameren Parlamentskontrolle die Fondsaufgliede­ rung sehr weit durchgeführt und die Deckungsfähigkeit sehr stark ein­ geschränkt ist, spielt notwendigerweise die Haushaltsüberschreitung eine größere Rolle als z. B. in England, wo einmal die Fonds meist stärker zusammengefaßt und allgemeiner bezeichnet sind und wo überdies innerhalb der Civil Service Departments alle “subheads” eines vote, bei den fighting forces sogar alle “votes” untereinander deckungsfähig sind. Die nachträgliche Genehmigung der außer- und überplan­ mäßigen Ausgaben, sei es in einem Nachtragshaushalt, sei es auf Grund der Rechnung, gibt dem Parlament die Möglichkeit, die Regierungsverantwortung in Anspruch zu nehmen. Diese Rechnung so schnell wie möglich zu prüfen, ist Sache des Rechnungshofs.

2. Zur Parlamentsbewilligung.

Die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit einer Einschaltung von Bindungen der Parlamentsbewilligung kann nur unter Berücksichti­ gung der besonderen deutschen Verhältnisse beurteilt werden. Aus­ landsvorbild, meist auch im eigenen Lande im Streit, kann nur tech­ nische Möglichkeiten zeigen. Daß Beschränkungen des Bewilligungsrechts sich empfehlen, darf gewiß nicht ohne weiteres aus der Tatsache hergeleitet werden, daß Ausgabe- und Einnahmevolumen seit der Zeit der Währungs­ herstellung im Reich wie in den Ländern ständig angestiegen sind. Das bedeutet einen falschen Ausgangspunkt für die Betrachtung. Die Haushalte 1924 und 1925 waren Planungen auf der Grundlage unbekannter Preis- und Steuerbildung. Sie sind zum Vergleich ungeeignet. Will man die Bedeutung des gegenwärtigen Ausgabe­ volumens zutreffend würdigen, so bedarf es der Anknüpfung an den Vorkriegsbestand der Ausgaben und einer Gegenüberstellung in Goldwert nach Abzug der Ausgaben, die aus Krieg und Kriegsfolgen stammen, auf die weder Regierungs-, noch Parlamentsschließung entscheidend einwirken können, unter Berücksichtigung der Änderungen, die seither eingetreten sind. Dabei müssen die Ausgaben von Reich, Ländern und Gemeinden zusammengefaßt werden. Die Frage nach Ursache und Bedeutung der Steigerung mag hier ebenso dahingestellt bleiben wie die weitere, ob die Ausgabefreudigkeit beim Parlament

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entscheidet. Daß ein Mann wie Jeze33) sich hier dahin ausspricht, mag festgestellt, zugleich aber zugunsten des Reichstags angemerkt werden, daß der Haushaltsausschuß sich mit seinen besten Kräften gegen jedes Zuviel an Ausgaben stemmt. Hat er doch die oben wiedergegebenen neuen Rechte des Reichsfinanzministers und ihre Überführung in das allgemeine Haushaltsrecht selbst beantragt34). Die Frage, ob unmittelbarer Anlaß zu besonderen Maßnahmen gegen unsparfame Haushaltsführung vorliegt, ist aber m. E. nicht wesentlich. Deutschland steht im Kampf um die Wiederaufrichtung seiner Wirtschaft und seiner Staatswirtschaft. Auf beiden ruhen außerordentliche Lasten. Die Wirtschaft soll zugleich eigene Not aus Krieg und Inflation überwinden und durch die Reparationen fremde Note überwinden helfen. Die öffentliche Wirtschaft muß daher mit ihren Eigenanforderungen soweit zurücktreten, als dies möglich ist, um den großen Zielen der Wiederaufrichtung zu dienen Diese besondere Lage verschärft den selbstverständlichen Willen, die besten Normen für die Staatswirtschaftsführung zu suchen. Die Verhandlungen der letzten Jahre im Reichstag, der von allen Par­ teien im Haushaltsausschuß geäußerte Wunsch, die Ausgaben einzudämmen und hierzu Mittel zu finden, zeigt das Bedürfnis. Die Frage ist: Wie wird ihm im Rahmen der leitenden Grundsätze unserer Verfassung am besten genügt. Die Bewilligung der Einnahmen und Ausgaben kann, wie wir sahen, rechtlichen oder geschäftsordnungsmäßigen Beschränkungen unterliegen, sie kann nur politischen Bindungen unterworfen sein. Im übrigen wird der rechtliche Unterschied, soweit die geschäfts­ ordnungsmäßige Bindung den Charakter unverbrüchlicher Staats­ gewohnheit angenommen hat, bedeutungslos fein. Es kommt daher zunächst auf die Art der zu wählenden Bindungen an; die Frage ihrer formellen Sicherung wird besonderer Erörterung bedürfen. Die Bindungen können nun wieder Beschränkungen entweder der Initiative (der Antragstellung) oder der Beschlußfassung sein; sie können schließlich die Wirkung des Beschlusses treffen. Die Beschränkungen können sachliche Begrenzungen oder ver­ fahrensrechtliche Schranken darstellen. Die Beschränkungen können ”) Jöze, Theorie generale du budget, 1922, S. 59. 3