Verfassungsentwicklungen im Vergleich: Italien 1947 – Deutschland 1949 – Spanien 1978 [1 ed.] 9783428559299, 9783428159291

Anlässlich einer Tagung zum 70-jährigen Bestehen des deutschen Grundgesetzes in Berlin im April 2019 haben Wissenschaftl

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Verfassungsentwicklungen im Vergleich: Italien 1947 – Deutschland 1949 – Spanien 1978 [1 ed.]
 9783428559299, 9783428159291

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Schriften zum Europäischen Recht Band 200

Verfassungsentwicklungen im Vergleich Italien 1947 – Deutschland 1949 – Spanien 1978

Herausgegeben von Hermann-Josef Blanke, Siegfried Magiera, Johann-Christian Pielow, Albrecht Weber

Duncker & Humblot · Berlin

BLANKE / MAGIERA / PIELOW / WEBER

Verfassungsentwicklungen im Vergleich

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann

Band 200

Verfassungsentwicklungen im Vergleich Italien 1947 – Deutschland 1949 – Spanien 1978

Herausgegeben von

Hermann-Josef Blanke, Siegfried Magiera, Johann-Christian Pielow, Albrecht Weber

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-15929-1 (Print) ISBN 978-3-428-55929-9 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Dieser Band enthält die Beiträge zu der Tagung „Verfassungsentwicklungen im Vergleich: Italien 1947 – Deutschland 1949 – Spanien 1978“, die am 4. und 5. April 2019 anlässlich des 70-jährigen Bestehens des deutschen Grundgesetzes in Berlin stattfand. An ihr nahmen hochrangige Wissenschaftler und Praktiker des Öffentlichen Rechts als Referenten aus den drei Ländern und zahlreiche weitere Gäste teil. Ziel war es, die bisherige Entwicklung des Verfassungsrechts und seine Auswirkungen aus rechtsvergleichender Perspektive näher zu betrachten und vertieft zu diskutieren. Dabei sollten insbesondere auch die Einflüsse der Europäisierung und der Internationalisierung auf die staatlichen Verfassungsordnungen in den Blick genommen werden. Die Tagung bildete zugleich das siebente Treffen des seit 2008 bestehenden Deutsch-Spanischen Gesprächskreises zum Öffentlichen Recht, an dessen Begegnungen auf deutscher Seite unter der Schirmherrschaft des Kölner Staatsrechtslehrers Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Klaus Stern regelmäßig auch die Herausgeber dieses Bandes beteiligt sind. Erstmals und anlässlich des italienischen Verfassungsjubiläums wurden dazu auch Fachkolleginnen und Fachkollegen aus Italien eingeladen, mit denen schon zuvor enge wissenschaftliche Beziehungen bestanden. Inhaltlich umfasst der Band sieben Abschnitte mit Referaten zur Verfassungsentwicklung in den verschiedenen Ländern, welche auf der Tagung durch einen Moderator eingeleitet und einen Kommentator abgeschlossen wurden: Entwicklungen der Grundrechte; Aktuelle Grundrechtsfragen in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung; Einwirkungen des Unionsrechts und der EMRK auf die nationalen Verfassungen; Verfassung und Verwaltung; Föderalismus, Autonomiestatus, Regionalismus; Entwicklungslinien im Mehrebenensystem; Zur Finanzverfassung im Mehrebenensystem. Einführend ist dem Tagungsband ein Beitrag über „Eckpunkte der Verfassungsordnungen Italiens, Deutschlands und Spaniens im Vergleich“ beigefügt. Die Herausgeber danken allen an der Tagung und dem Tagungsband Mitwirkenden für ihre Beiträge. Unser besonderer Dank gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Unterstützung bei den Reisekosten der Teilnehmer, der Konrad-Adenauer-Stiftung, insbesondere ihrem Vorsitzenden, Herrn Bundestagspräsidenten a. D., Prof. Dr. Lammert, und Frau Dr. Gelinsky, für die Gastfreundschaft anlässlich der Tagung und für den Druckkostenzuschuss zu diesem Tagungsband, sowie der Vertretung des Landes Nordrhein-Westfalen, insbesondere dem Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten beim Bund, Herrn Dr. ­Holthoff-Pförtner, für den Abendempfang und einen weiteren Druckkosten-

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Vorwort

zuschuss. Ein herzlicher Dank gebührt schließlich den Mitarbeitern der beteiligten Lehrstühle, allen voran Herrn Dipl.-Jur. Tobias Schuelken (Bochum), für die äußerst hilfreiche Unterstützung bei der Durchführung der Tagung und der Vorbereitung des Tagungsbandes. Vor Abschluss der Redaktionsarbeiten verstarb im Februar 2020 unerwartet unser Freund und Kollege Jörg Luther. Wir sind dankbar für seine Mitwirkung bei der Tagung und Publikation.

Hermann-Josef Blanke, Siegfried Magiera, Johann-Christian Pielow, Albrecht Weber

Geleitwort „Lasst Toren streiten, welche Verfassung die beste sei! Wo am besten regiert wird, dort ist die Verfassung die beste.“ An sich ist dieser Bemerkung des eng­ lischen Dichters und Schriftstellers Alexander Pope nichts hinzuzufügen. Ein Verfassungsjubiläum aber ist meist ein willkommener Anlass, das Spannungsverhältnis zwischen dem eigenen Staat, seiner Ordnung und die Befindlichkeit der eigenen Gesellschaft aus der Binnenperspektive heraus zu betrachten. Noch gewinnbringender ist es aber, wenn diese Innenschau zugleich über die eigenen Grenzen hinaus erweitert wird und die Verfassungsentwicklungen anderer Länder mit einbezogen werden; dann nämlich bietet sich die Gelegenheit, neue Sichtweisen auf scheinbar Altbekanntes zu erhalten. Die Jubiläen der Verfassungen Italiens (1947), Deutschlands (1949) und Spaniens (1978) waren ein solch willkommener dreifacher Anlass. Trotz ihrer jeweils eigenen Prägungen stehen Italien, Spanien und Deutschland aufgrund ihrer europäischen und internationalen Verflechtungen ähnlichen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen gegenüber, die auch in staatsund verfassungsrechtlicher Hinsicht bedeutsam sind  – bspw. der Umgang mit neuen Technologien und der Digitalisierung, die Gefahren für Demokratie und Rechtsstaat infolge des zunehmenden Populismus und Nationalismus oder die Bewahrung gemeinsamer Werte in Anbetracht zunehmender gesellschaftlicher Spaltungstendenzen. Eine entscheidende Ähnlichkeit aller drei Verfassungen ist der Kontext ihrer jeweiligen Entstehungen, nämlich als Gegenentwürfe zu ihren diktatorischen Vorgängersystemen: das Grundgesetz und die Verfassung Italiens entstanden unmittelbar im Anschluss an das Ende des Zweiten Weltkrieges; die spanische Verfassung nach der Überwindung des Franquismus. Neben diesen Gemeinsamkeiten sticht ein nicht minder bemerkenswerter Unterschied in ihren jeweiligen Entwicklungen besonders hervor: die Zahl der Verfassungsänderungen. Zwei waren es bei der Constitución Española in den gut vierzig Jahren ihres Bestehens und etwa ein Dutzend bei der über siebzigjährigen Costituzione della Repubblica Italiana. Im Gegensatz dazu wurde das deutsche Grundgesetz mittlerweile mehr als sechzig Mal ergänzt oder geändert. Das ist bei siebzig Jahren im Durchschnitt weniger als einmal pro Jahr, aber wesentlich häufiger als bei den Verfassungen Spaniens und Italiens. Dessen ungeachtet ist das ursprünglich als Provisorium gedachte Grundgesetz heute die unbestrittene Grundlage der politischen Verfassung unseres Landes im

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Geleitwort

Sinne einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. Das Grundgesetz ist auch und gerade deshalb im wörtlichen und übertragenen Sinne das „Grund-Gesetz“ geworden, weil es in Grundrechten und Verfahrensregeln das konkret formuliert, was im Allgemeinen gelegentlich bezweifelt oder gar bestritten wird: die freiheitlich-demokratische Leitkultur, die sich in unserem Land über manche Umwege und Irrwege entwickelt und längst als unbestrittene Grundlage der politischen Verfassung unseres Landes durchgesetzt hat. Gleichwohl sollten wir stets bedenken: Was in der spanischen, italienischen oder deutschen Verfassung steht, ist eine Sache. Eine ganz andere und nicht minder wichtige Sache ist die Frage, ob und wie die in ihnen formulierten Werte auch tatsächlich verwirklicht werden. Denn darauf kommt es an. Unsere Staaten sind darauf angewiesen, dass die Idee der Menschenwürde, die Grundwerte der Freiheit, Gleichheit und Toleranz gelebt werden. Demokratie braucht Bürgerinnen und Bürger, die sich einmischen, die Verantwortung übernehmen, die Engagement zeigen. Unsere Verfassungen geben uns die Freiheit, dass wir uns für die offenen Gesellschaften, wie wir sie uns wünschen und vorstellen, einsetzen. Wir sollten diese Freiheit jeden Tag aufs Neue nutzen und die damit verbundene Verantwortung ernst nehmen. Vor diesem Hintergrund trafen sich im April 2019 anlässlich der drei Verfassungsjubiläen auf Einladung des Deutsch-Spanischen Gesprächskreises im Öffentlichen Recht und der Konrad-Adenauer-Stiftung profilierte Staats- und Verwaltungsrechtler, Historiker und Politikwissenschaftler in Berlin und analysierten parallele und divergierende Entwicklungen des Konstitutionalismus der drei Staaten und ihrer jeweiligen Rechtsordnungen. Der vorliegende Tagungsband dokumentiert die rechtsvergleichenden Vorträge und Debatten. Prof. Dr. Norbert Lammert Präsident des Deutschen Bundestages a. D. Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung

Geleitwort „Ich finde, dass wir zu viel an unseren Rechtsordnungen für selbstverständlich oder gar alternativlos halten, obwohl es zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Bedingungen entstanden ist und ebenso anders hätte sein können. (…) Rechtsnormen oder Rechtsinstitutionen versteht man erst, wenn man weiß, warum es so ist, wie es ist. (…) Das Wissen um die Kontingenz bewahrt sozusagen die Dogmatik vor Versteinerung.“1 – Mit diesen Sätzen beschreibt der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts Dieter Grimm eine wichtige Funktion des Verfassungsvergleichs. Er dient der Selbstreflexion. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion ist nicht nur für die Rechtsdogmatik essentiell, sondern auch für die Politik. Deshalb ist der vergleichende Blick, den dieser Tagungsband auf die Verfassungsentwicklungen mehrerer europäischer Länder wirft, nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die Politik eine große Bereicherung. In einem europäischen Kontext hat diese Selbstreflexion eine besondere Ebene. Der Vergleich der Verfassungen von europäischen Staaten dient nicht nur dazu, die Kontingenz unserer jeweiligen nationalen Rechtsordnung durch den Vergleich mit anderen zu begreifen. Er kann uns zugleich vor Augen führen, was die europäische Idee ausmacht. Der Vergleich zeigt uns die charakteristische Verbindung von Einheit und Vielfalt, die die europäische Integration seit ihrem Beginn prägt. Die Einheit Europas wird deutlich, wenn wir die gemeinsamen Kernprinzipien unserer Verfassungen betrachten. Die Verfassungen Deutschlands, Spaniens und Italiens verfügen über Grundrechtskataloge. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind die Grundlagen unserer nationalen Verfassungen und gehören deshalb auch zu den Werten der Europäischen Union. Nichts anderes sagt Artikel 2 des EU-Vertrages, der insofern selbst Rechtsvergleichung betreibt. Er beruft sich ausdrücklich auf die Werte, die allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Dass zu diesen Werten der Europäischen Union nicht nur Freiheit und Demokratie, sondern auch Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenrechte, Pluralismus und Toleranz gehören, müssen wir uns gerade derzeit wieder vor Augen führen – zumal es in europäischen Mitgliedstaaten führende Politiker gibt, die die Unabhängigkeit der Gerichte angreifen und „illiberale Demokratien“ – ein Widerspruch in sich – propagieren. Rechtsvergleichung führt uns zugleich die europäische Vielfalt vor Augen. Ziel der Rechtsvergleichung ist nicht notwendig die Vereinheitlichung, sondern – wie schon Ernst Rabel, der Vater der Rechtsvergleichung, sagte – geht es vielmehr da-

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Grimm, Dieter, Ich bin ein Freund der Verfassung, Tübingen 2017, S. 263.

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Geleitwort

rum, „die heutigen Rechtsordnungen miteinander in Bezug zu setzen“.2 Dadurch wird der Vergleich von Verfassungen auch zu einem Fundus unterschiedlicher Konzepte, die unterschiedliche Identitäten und Wertentscheidungen widerspiegeln. Dass wir diese Vielfalt zulassen können, ohne die Einheit in Frage zu stellen, ist letztlich der Kern des föderalen Gedankens und der europäischen Idee. Daher leisten die Herausgeber und Autoren mit diesem Band zugleich einen wertvollen Beitrag zur Förderung der europäischen Idee. Dem Land Nordrhein-­ Westfalen ist es deshalb ein Anliegen, das Erscheinen dieses Bandes zu unterstützen. Dr. Stephan Holthoff-Pförtner Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Internationales des Landes Nordrhein-Westfalen

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Rabel, Ernst, Das Recht des Warenkaufs, Band 1, Berlin 1936, Vorwort.

Inhaltsverzeichnis Einführung zum Tagungsband Hermann-Josef Blanke Eckpunkte der Verfassungsordnungen Italiens, Deutschlands und Spaniens im Vergleich 17

Entwicklungen der Grundrechte Moderation: Albrecht Weber Miguel Azpitarte Der Horizont der Grundrechte aus spanischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Karl-Peter Sommermann Die Entwicklung der Grundrechte und der Grundrechtsdogmatik in Deutschland . . . 62 María Jesús Montoro Chiner Die Entwicklung der Grundrechte in Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Daria de Pretis Die Entwicklung der Grundrechte in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Maria Daniela Poli Die Entwicklungen der Grundrechte in Italien, Deutschland und Spanien – Eine vergleichende Perspektive – Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

Aktuelle Grundrechtsfragen in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Moderation: Stefan U. Pieper Michael Eichberger Aktuelle Grundrechtsfragen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . 115 M. Mercè Darnaculleta Gardella Aktuelle Grundrechtsfragen in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ­Spaniens 127 Jörg Luther Aktuelle Grundrechtsfragen der italienischen Verfassungsrechtsprechung . . . . . . . . . 141 Susana de la Sierra Die Rolle der ordentlichen Gerichtsbarkeit im Grundrechtsschutz und die Kultur aus verfassungsrechtlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

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Inhaltsverzeichnis Einwirkungen des Unionsrechts und der EMRK auf die nationalen Verfassungen Moderation: Siegfried Magiera

Peter M. Huber Die Einwirkungen des Unionsrechts und der EMRK auf das Grundgesetz . . . . . . . . 165 Francisco Balaguer Callejón Die Einwirkungen des Unionsrechts und der EMRK auf die nationalen Verfassungen. Der Fall Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Diana-Urania Galetta Die Einwirkung des EU-Rechts auf die italienische Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Rosario Leñero Bohórquez Die Einwirkungen des Unionsrechts und der EMRK auf die nationalen Verfassungen – Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Verfassung und Verwaltung Moderation: Santiago González-Varas Ibáñez Cristina Fraenkel-Haeberle Verfassung und Verwaltung in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Javier Barnes Verfassung und Verwaltung. Zum 40. Jahrestag der spanischen Verfassung von 1978 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Angela Ferrari Zumbini Das Verhältnis zwischen Verfassung und Verwaltung aus rechtsvergleichender ­Perspektive – Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

Föderalismus, Autonomiestatus, Regionalismus Moderation: Johann-Christian Pielow Günter Krings Föderalismus, Autonomiestatus, Regionalismus aus deutscher Sicht . . . . . . . . . . . . . 253 Birgit Aschmann Der Autonomiestaat – Die Geschichte des spanischen Regionalismus . . . . . . . . . . . . 260 María Jesús García Morales Zukunftsperspektiven des spanischen Autonomienstaates: Blockade oder Neuformulierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268

Inhaltsverzeichnis

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Raffaele Bifulco Föderalismus, Autonomiestatus, Regionalismus aus italienischer Sicht . . . . . . . . . . . 288 Dian Schefold Föderalismus, Autonomiestatus, Regionalismus – Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . 306

Entwicklungslinien im Mehrebenensystem Moderation: Hermann-Josef Blanke Roland Sturm Die verfassungspolitische Logik des europäischen Mehrebenensystems . . . . . . . . . . 315 José María Porras Ramírez Der Spanische Senat als Kammer der territorialen Vertretung. Eine anstehende Verfassungsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Giorgio Repetto Das Mehrebenensystem im italienischen Regionalismus. Entwicklungslinien und offene Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

Zur Finanzverfassung im Mehrebenensystem Moderation: Monica Bonini Carlos Vidal Prado Zur Finanzverfassung im Mehrebenensystem: Die spanische Sichtweise . . . . . . . . . 353 Lorenza Violini Die Finanzreform von 2012 und die Finanzierung der Ausgaben im italienischen Regionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366

Resümee und Ausblick Jacques Ziller Resümee und Ausblick  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385

Teilnehmerverzeichnis zum Tagungsband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

Einführung zum Tagungsband

Eckpunkte der Verfassungsordnungen Italiens, Deutschlands und Spaniens im Vergleich Hermann-Josef Blanke 70 Jahre Grundgesetz im Jahre 2019, 40 Jahre spanische Verfassung im Jahr 2018 und 70 Jahre italienische Verfassung (ItV) im Jahr 2017 haben im April 2019 dazu Anlass gegeben, parallele und divergierende Rechtsentwicklungen im Geltungsbereich dieser Verfassungen zu analysieren. Runde „Geburtstage“ von Verfassungen haben in Deutschland, Spanien und Italien über die Jahrzehnte hinweg dazu angeregt, ein Fazit zu ziehen. Wenn wissenschaftliche Kongresse und Publikationen, die bei dieser Gelegenheit veranstaltet oder vorgestellt werden, beanspruchen, mehr als Jubelfeiern zu sein, dann stellen sie die Tragfähigkeit des nationalen Verfassungsgerüstes mit Blick auf die rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen sowie – inzwischen zunehmend – die internationalen, namentlich die europäischen, Herausforderungen der Zeit auf den Prüfstand.1 Insoweit sind seit dem 60. Tag der Wiederkehr der Verkündung des Grundgesetzes (2009) Entwicklungen zu verzeichnen, die es nahelegen, die siebte Dekade seiner Geltung erneut unter einem europäischen Blickwinkel, nunmehr in pointierter Weise rechtsvergleichend, zu betrachten. Rechtsvergleichung ist als „qualitativ wertvoll“ bezeichnet worden – angesichts der Quellentransparenz, die sie rationalitätssichernd schafft, ihrer heuristischen Funktion wegen (nicht nur für die Legislative) sowie zum Zweck eines Zugewinns an demokratischem Konstitutionalismus.2 Diese „Verbundtechnik“ ist auch im Rahmen der Verfassungsrechtspre 1 Vgl. aus der italienischen Literatur anlässlich von Verfassungsjubiläen etwa Cerrina Feroni, Ginevra, et al. (Hrsg.), I 60 anni della Legge fondamentale tra memoria e futuro. Atti del Convegno dell’Associazione di Diritto Pubblico Comparato ed Europeo (5–7/11/2009), Milano 2012; vgl. weiterhin die spanischen Beiträge von Lopez Castillo, Antonio, La constitución española en el marco del constitucionalismo europeo, sowie Linz, Juan J., La constitución de 1978 en perspectiva comparada, in: Pendás, Benigno / González, Esther / Rubio, Rafael (Hrsg.), España constitucional (1978–2018). Trayectorias y perspectivas, Bd. IV, 2018, § 182 (S. 2779 ff.); López Castillo, Antonio, La Constitución Española en el marco del constitucionalismo europeo, in Pendás et al. (a. a. O.), Bd. I, 2018, § 31 (S. 419 ff.); anlässlich des 60. Jubiläums des Grundgesetzes vgl. etwa Stern, Klaus (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland im Europäischen Verfassungsverbund, 2010; eine eher nationale Retrospektive und Perspektive findet sich bei Waldhoff, Christian, Das andere Grundgesetz, 2019. 2 Vgl. Baer, Susanne, Zum Potenzial der Rechtsvergleichung für den Konstitutionalismus, JöR Bd. 63 (2015), S. 389 (398 ff.); Starck, Christian, Das Grundgesetz nach fünfzig Jahren: bewährt und herausgefordert, JZ 1999, 473 (485); zur Methode der Rechtsvergleichung sh.

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Hermann-Josef Blanke

chung geboten.3 Das „Sich-Verbinden durch Vergleichen“ 4 ist ein Mittel, um über die nationale Rechtswissenschaft die eigene „living constitution“ zu inspirieren. Da die Verfassungsrechtswissenschaften in Europa von einer gemeinsamen Wissenschaft noch weit entfernt und die Unterschiede Ausdruck der Vielfalt der nationalen Wissenschaftsstile und -kulturen sind,5 ist eine methodisch differenzierte Rechtsvergleichung neben dem Ziel des Vergleichs von Rechtsordnungen immer zugleich auch auf Rezeption im Sinne eines „gemeinsamen Lernens“ angelegt. Die drei Verfassungen gehören allesamt zu den schon älteren Verfassungen (in Europa), sehen sich mit ähnlichen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen in der globalisierten Welt konfrontiert und sind in ihrer Gemeinsamkeit auch dadurch gekennzeichnet, dass sie, an der Spitze ihrer nationalen Rechtsordnungen, in allen Bereichen, in denen kraft der Ratifikation von Gründungs- und Reformverträgen der heutigen Europäischen Union Kompetenzen übertragen wurden, von der Rechtsordnung der Union überwölbt werden und damit dem Primat des Europäischen Gerichtshofs für die Auslegung des Unionsrechts unterworfen sind. Zugleich haben die drei Staaten neben 44 anderen die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert und sind damit  – bei unterschiedlichem nationalen Geltungsrang dieser Konvention sowie der universalen Menschenrechtsverbürgungen im nationalen Recht6 – noch durch eine weitere gemeinsame öffentlich-rechtliche Rechtsschicht innerhalb des ius p­ ublicum Europaeum verwoben. Damit sind auch ihre nationalen Verfassungen zu „Teil-Verfassungen“ des europäischen Verfassungsverbundes (I. Pernice) oder – in vielen Mitgliedstaaten begrifflich verständlicher – des europäischen Mehrebenensystems geworden.7 Sommermann, Karl-Peter, Funktionen und Methoden der Grundrechtsvergleichung, in: Merten, Detlef / Papier, Hans-Jürgen, HGrR I, 2004, § 16, Rn. 50–70. 3 Baer (Fn. 2), S. 400, unter Verweis auf Voßkuhle, Andreas, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, S. 1. 4 Vgl. Kotzur, Markus, „Verstehen durch Hinzudenken“ und / oder „Ausweitung der Kampfzone“? Vom Wert der Rechtsvergleichung als Verbundtechnik, JöR Bd. 63 (2015), S. 355 (363 ff.). 5 Vgl. von Bogdandy, Armin, Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Vergleich, in: v. Bogdandy, Armin / Cruz Villalón, Pedro / Huber, Peter Michael (Hrsg.), Ius Publicum Europaeum, Bd. II (Offene Staatlichkeit – Wissenschaft vom Verfassungsrecht), 2008, § 39 Rn. 93 ff. 6 Zu Spanien vgl. Balaguer Callejón, Francisco / Azipitarte Sánchez, Miguel, Das Grundgesetz als Modell und sein Einfluss auf die spanische Verfassung von 1978, JöR Bd. 58 (2010), S. 15 (36 ff.), die die Auslegung der spanischen Grundrechte- und Grundfreiheiten gemäß der AEMR sowie den internationalen Verträgen, die Spanien ratifiziert hat (Art. 10 Abs. 2 span. Verfassung – „convencionalidad“), als einen Unterschied gegenüber dem Grundgesetz herausarbeiten. Zur Bestimmung des Art. 117 Abs. 1 (2001) der ital. Verfassung vgl. Baldini, Vincenzo, Perspektiven eines transnationalen Verfassungsdialogs vor dem Hintergrund des italienischen Verfassungsrechts, JöR Bd. 65 (2017), S. 687 (689, 691). Die Norm lautet: „Die gesetzgebende Gewalt wird vom Staat und von den Regionen gemäß der Verfassung und entsprechend den aus der EU-Rechtsordnung und aus den völkerrechtlichen Verpflichtungen entstehenden Verbindlichkeiten ausgeübt.“ Zu den komplexen Fragen des Rangs der völkerrechtlichen Verträge in den Rechtsordnungen Deutschlands, Italiens und Spaniens vgl. unten Fn. 30. 7 Vgl. Freixes, Teresa, Constitucionalismo multinivel: España y la Unión Europea, in: Pendás (Fn. 1), Bd. III, 2018, § 130 (S. 1935 ff.); Balaguer Callejón / Azipitarte Sánchez (Fn. 6),

Eckpunkte der Verfassungsordnungen Italiens, Deutschlands und Spaniens 

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I. Osmotische Prozesse im Verhältnis der italienischen, deutschen und spanischen Verfassungsordnung Verfassungsvergleichung zielt in grundsätzlicher Weise auf die Grundlagen einer Rechtsordnung und stellt die Frage nach „dem Grund dieser Grundlagen“.8 Der Verfassungsstaat der Neuzeit pflegt die Bindungen und Schranken, die er dem staatlichen und politischen Handeln seiner Organe auferlegt, in einer geschriebenen oder ungeschriebenen Verfassung zu verankern, die eine Art höheres Recht im Sinne eines „law in public action“, als „öffentlicher Prozess“ und „Rahmenordnung“ verkörpert.9 Verfassungswerdung ist ein fließender Prozess, sie entsteht nach und nach, stetig wachsend, wenn und soweit ihre Anerkennung steigt. Die Vorstellung eines einmaligen Aktes, einer verfassunggebenden Gewalt, die singulär auf den Plan tritt, kann den Prozess der Verfassungswerdung nicht begreifen.10 Verfassung ist Ermächtigung zu staatlicher Macht sowie Beschränkung staatlicher Macht, sie beschränkt aber auch gesellschaftliche Macht. Sie umfasst daher Staat und Gesellschaft.11 Zeitgemäßheit ist das Gebot für jede Verfassungsordnung eines Staates, in der sich in mehr oder weniger geglückter Weise in Form und Inhalt die Auseinandersetzung mit der Zeit durch Geschichtsverständnis, Gegenwartsverantwortung und Zukunftsverantwortung widerspiegelt.12 Thomas Jefferson ist nach selbst vorgenommenen Berechnungen dafür eingetreten, dass eine Verfassung alle 19 Jahre ersetzt werden müsse, damit jede Generation ihre eigene Grundordnung festlegen kann.13 Verfassungen sind grundsätzlich auf Dauerhaftigkeit angelegt.14 Die größte Kontinuität hat die spanische Verfassung gezeigt, die seit ihrer Inkraftsetzung nur zweiS. 36 ff., die hieraus folgende Relativierung der nationalen Verfassungsnormativität thematisieren; passim Cruz Villalón, Pedro, Das Grundgesetz in der spanischen Verfassungsentwicklung, in: Stern (Fn. 1), S. 71. 8 Vgl. Wahl, Rainer, Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, S. 96. 9 Vgl. Häberle, Peter, Zeit und Verfassung. Prolegomena zu einem „zeit-gerechten“ Verfassungsverständnis, Zeitschrift für Politik, Vol. 21, No. 2 (Juni 1974), S. 111 (115). 10 Vgl. Strauß, Kathrin, Verfassungswerdung. Eine sozialontologische und sprachakttheoretische Analyse der Entstehung einer Verfassung und ihrer Akteure, in: Donath, Philipp B. / ​ Bretthauer, Sebastian / Dickel-Görig, Marie et al. (Hrsg.), Verfassungen – ihre Rolle im Wandel der Zeit, 2019, S. 17 (35); sie folgt damit etwa Isensee, Josef, Das Volk als Grund der Verfassung, 1995, S. 73, der das Theorem des pouvoir constituant verwirft: „Klapperstorchmärchen für Volljuristen“. 11 Häberle, Peter, Verfassungsgerichtsbarkeit als politische Kraft – Ein Vortrag, in: Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, Königstein / Ts. 1979, S. 425 (436). 12 Vgl. Schambeck, Herbert, Das Grundgesetz und seine Bedeutung für die neue Ordnung des integrierten Europa, in: Stern (Fn. 1), S. 21 (22). 13 Jefferson, Thomas, Letter to James Madison (6.9.1789), abgedr. in Ford, Paul Leicester (Hrsg.), The Works of Thomas Jefferson, Vol. VI, 1904, S. 3 (9). 14 Vgl. Lukan, Matthias, Verfassungskontinuität durch Verfassungsänderung – Wie kann eine Verfassung ihre Dauerhaftigkeit sichern?, in Donath, Philipp B. / Bretthauer, Sebastian / ​ ­Dickel-Görig, Marie et al. (Fn. 10), S. 285 ff. m. w. N.

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mal geändert wurde (1992 und 2011),15 wohingegen die italienische Verfassung in der Zeit von 1963 bis 2007 immerhin fünfzehn Änderungen unterworfen wurde. Vor diesem Hintergrund ist die spanische Verfassung ironisch „als möglicherweise die älteste Europas“ bezeichnet worden, was zu einer zunehmenden Distanz zwischen dem Verfassungstext und dem „Verfassungszustand“ geführt habe.16 Der deutsche Verfassunggeber hat sich indes mit 63 Verfassungsänderungen in der Zeit zwischen August 1951 und Mai 2019 am reformfreudigsten gezeigt. Dabei ist das Grundgesetz „lang […] und immer geschwätziger“ geworden.17 Indes ist die Lebendigkeit der Verfassung nicht nur ein Ergebnis des Werkes des Verfassungsreformgesetzgebers: „We are under a Constitution, but the Con­ stitution is what the judges say it is“ (Charles Evans Hughes, 1907). Der Siegeszug der Verfassungsgerichtsbarkeit ist neben der Europäisierung und Internationalisierung im Zeichen von Europa- und Völkerrechtsfreundlichkeit die größte Errungenschaft des modernen europäischen Verfassungsstaates seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.18 Die Verfassungsgerichte dieser drei Staaten, allen voran das Bundesverfassungsgericht, das angesichts der Verfassungsbeschwerde zum „Bürgergericht par excellence“ geworden ist,19 sind in das Bürgerbewusstsein eingedrungen und bilden einen herausragenden Faktor im politischen Prozess.20 Verfassungsgerichtsbarkeit wirkt  – entsprechend der umfassenden Definition von Verfassung – jenseits des Trennungsdogmas von Staat und Gesellschaft als politische Kraft21 und führt vom bloßen Verfassungstext zur interpretierten Verfassung.22 In Anlehnung an eine Bemerkung von R. Smend aus dem Jahr 1962 gilt sie „praktisch so“, wie sie das Verfassungsgericht auslegt.23 Die Wirkungen ver 15 Reformiert wurden Art. 13 Abs. 2 sowie Art. 135 SpV; nähere Angaben hierzu sind verfügbar unter http://www.senado.es/web/conocersenado/normas/constitucion/index.html. 16 So bereits anlässlich eines Vortrags im Jahr 2009 Cruz Villalón (Fn. 7), S. 82. Er spricht insoweit von „Abnormalität“, die mit Fehlentwicklungen der Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit im Zusammenhang stehe. 17 Vgl. Oppermann, Thomas, Deutschland in guter Verfassung? – 60 Jahre Grundgesetz, NJW 2009, 481 (482). Heute haben nur noch 70 der 146 Artikel den Wortlaut von 1949. 18 Wahl, Rainer, Das Bundesverfassungsgericht im europäischen und internationalen Umfeld, in: van Ooyen, Robert Chr. / Möllers, Martin H. W. (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl. 2015, S. 825; so zuvor bereits Häberle, Peter, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. XI. 19 So bereits vor über 40 Jahren Häberle (Fn. 11), S. 431. 20 So mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht Häberle (Fn. 11), S. 429; Limbach, Jutta, Wirkungen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in Hanau, Peter / Heither, Friedrich / Kühling, Jürgen (Hrsg.), Richterliches Arbeitsrecht, FS für Thomas Dieterich, 1999, S. 344. 21 Vgl. Häberle (Fn. 11), S. 436. 22 Vgl. zum Grundgesetz Lepsius, Oliver, 70 Jahre Grundgesetz, in: Recht und Politik 2019, S. 118 (125). 23 Vgl. Smend, Rudolf, Festvortrag zur Feier des zehnjährigen Bestehens des BVerfG am 16.1.1962, in: Das Bundesverfassungsgericht 1951–1971, 2. Aufl. 1971, S. 15 (16): „Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne.“

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fassungsgerichtlicher Entscheidungen reichen mithin über die Streitschlichtung im Einzelfall weit hinaus.24 Die am 31.12.1947 verkündete italienische Verfassung gründet auf der Erfahrung, die die Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung im Widerstand gegen das faschistische Regime gemacht hatten, und ist inspiriert vom Gedankengut des „Risorgimento“, also von der erst 1861/1870 vollendeten italienischen Einheit. Wie in anderen westlichen Nachkriegsverfassungen bilden auch in Italien Demokratie- und Friedensansprüche die Basis des Verfassungsrechts. Das italienische Verfassungswerk stellt einen Kompromiss zwischen dem politischen Katholizismus, der traditionellen Arbeiterschaft und den verschiedenen demokratischen und liberalen Kräften dar. Ihre Charakteristika bilden der Primat der gesetzgebenden Körperschaften (Senat und Abgeordnetenkammer) gegenüber allen anderen Verfassungsorganen (Prinzip des „Garantismo della Costituzione“) sowie zwei verfassungsrechtliche Neuerungen gegenüber der Vorgängerverfassung, dem Albertinischen Statut (1861–1946): die Einführung eines Verfassungsgerichts und die Errichtung von Regionen.25 Gemäß den ersten Ansätzen in der Präambel der Verfassung der Vierten Französischen Republik wurde auch in der italienischen Verfassung (Art. 11, 12 sowie – seit 2001 – in Art. 117 Abs. 1) die Grundentscheidung für die „offene Staatlichkeit“ getroffen. Diese Öffnungsklauseln haben etwa die Beteiligung Italiens an der Gründung der Montanunion (1952) sowie an der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1957) rechtlich möglich gemacht. Auch wenn sich keine der nationalen europäischen Verfassungen explizit für die Einwirkung des supranationalen Rechts, die Einordnung in einen europäischen Staaten- und Verfassungsverbund samt der Hinnahme eines grundsätzlichen Vorrangs des supranationalen Rechts oder die materielle Komplementarität von unionalem und nationalem Verfassungsrecht entschieden hat, prägt dieses Konzept der „Öffnung“ die europäisch integrierte nationale Verfassung.26 In der Entwicklung der Nachkriegsverfassungen nahm das deutsche Grundgesetz mit seinem Bekenntnis zur „offenen Staatlichkeit“ (Präambel, Art. 24 Abs. 1, 25, 26 und zuletzt Art. 23 GG), insbesondere durch den Mechanismus der Übertragung von Hoheitsrechten durch einfaches Bundesgesetz, in prononcierter Weise eine Vorreiterrolle ein.27 Zwar hat es die „demokratische Wendung zu 24

So bezogen auf das Bundesverfassungsgericht Lerche, Peter, Ausgewählte Abhandlungen, 2004, S. 522 f.; Lepsius, Oliver, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Jestaedt, Matthias / Lepsius, Oliver / Möllers, Christoph / Schönberger, Christoph, Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 162, 165. 25 Vgl. Ghisalberti, Carlo, Storia costituzionale d’Italia 1848/1994, 2007. 26 Vgl. Huber, Peter Michael, Offene Staatlichkeit: Vergleich, in: v. Bogdandy / Cruz Villalón / Huber (Fn. 5), § 26 Rn. 112. 27 Vgl. Sommermann, Karl-Peter, Offene Staatlichkeit: Deutschland, in: v. Bogdandy / Cruz Villalón / Huber (Fn.  5), § 14; Schneider, Hans-Peter, Verfassung und Verfassungsrecht im Zeichen der Globalisierung – zwischen nationaler Entgrenzung und transnationaler Entfaltung, JöR Bd. 65 (2017), S. 295 (303); Kotzur, Markus, Deutschland und die internationalen

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einer internationalistischen Grundeinstellung“28 besonders nachhaltig vollzogen, doch anerkennt es, dem insbesondere auch in Italien herrschenden dualistischen Dogma folgend, selbst menschenrechtliche Verträge (etwa die EMRK) als inkorporiertes Völkerrecht nur im Rang eines einfachen Gesetzes (Art. 59 Abs. 2 GG).29 Das Bundesverfassungsgericht hat aber entschieden, dass die Konventionsrechte und die sie deutende Rechtsprechung bei der Interpretation des Grundgesetzes „im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden“ sind.30 Beziehungen – „offene Staatlichkeit“ nach 60 Jahren Grundgesetz, JöR Bd. 59 (2011), S. 389 (391 ff., 398 ff.); Weber, Albrecht, European Constitutions Compared, 2019, Rn. 771 ff.; von Danwitz, Thomas, Zukunft des Grundgesetzes, JöR Bd. 67 (2019), S. 249 (255 ff.), der darauf hinweist, dass der Parlamentarische Rat mit der Bestimmung des Art. 24 Abs. 1 GG deutlich über die in der französischen und italienischen Verfassung vorgesehenen Bestimmungen der reziproken Beschränkung von Hoheitsrechten hinausgegangen ist. Zum Grundsatz der offenen Staatlichkeit in elf weiteren europäischen Ländern vgl. die Beiträge in v. Bogdandy / Cruz Villalón / Huber (Fn.  5), §§ 15–25. 28 Vgl. Kraus, Herbert, Die auswärtige Stellung der Bundesrepublik nach dem Bonner Grundgesetz, 1950, S. 21. 29 Vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats v. 26.3.1987 (2 BvR 589/79), BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (120); Sauer, Heiko, Die neue Schlagkraft der gemeineuropäischen Grundrechtsjudikatur. Zur Bindung deutscher Gerichte an die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, ZaöRV 65 (2005), 35 (38 ff.). 30 Vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats v. 14.10.2004 (2 BvR 1481/04), BVerfGE 111, 307 (317 f., 323, 328 f.) – Görgülü; hierzu etwa Di Fabio, Udo Das Bundesverfassungsgericht und die internationale Gerichtsbarkeit, in: Zimmermann, Andreas (Hrsg.), Deutschland und die internationale Gerichtsbarkeit, Berlin 2004, S. 107 ff.; Everling, Ulrich, Europäische Union, Europäische Menschenrechtskonvention und Verfassungsstaat – Schlusswort auf dem Symposion am 11. Juni 2005 in Bonn, EuR 2005, S. 411 (416 ff. mit weit. Nachw.), der – wie bereits zuvor Hoffmeister, Frank, Die europäische Menschenrechtskonvention als Grundverfassung und ihre Bedeutung in Deutschland, Der Staat 40 (2001), S. 349 (367 ff.) – dafür plädierte, den Europarat hinsichtlich der EMRK als zwischenstaatliche Einrichtung i. S. d. Art. 24 Abs. 1 GG anzusehen, auf die Hoheitsrechte übertragen sind. Die Grundrechte der EMRK sind dieser Auffassung zufolge in dem vom Gerichtshof ausgelegten Sinn in den Vertragsstaaten, jedenfalls aber nach dem Grundgesetz in Deutschland, mit Anwendungsvorrang vor nationalem Recht zu beachten. Vgl. weiterhin Oeter, Stefan, Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, EuGH und EGMR, in: VVDStRL 66 (2007), S. 361 (378 ff.); zu den verschiedenen Ansätzen, den Verfassungsrang der EMRK unter dem GG zu begründen, vgl. Thym, Daniel, Vereinigt die Grundrechte!, JZ 2015, S. 53 (54): „EMRK als völkerrechtliche ‚Nebenverfassung‘“. Vgl. auch die nachfolgende Rspr.: BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats v. 15.12.2015 (2 BvL 1/12), BVerfGE 141, 1 (mit Leitsatz 2) – zu Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG. Aus der Interpretation des Art. 117 Abs. 1 ItV durch den Verfassungsgerichtshof (Urteil 406/2005 – std. Rspr.) ergibt sich, dass die Garantien der EMRK auch in Italien nur Gesetzesrang haben. Was die Urteile des EGMR angeht, genießt nach der Rspr. des ital. Verfassungsgerichtshofs (Urteil 49/2015) die verfassungskonforme Auslegung Vorrang vor der konventionskonformen Auslegung, wenn es sich nicht um „Piloturteile“ handelt, in deren Folge infra-konstitutionelle Normen des ital. Rechts im Wege einer Normenkontrolle für nichtig erklärt werden können. Hingegen ist ein unionsrechtswidriges nationales Gesetz ipso iure auch verfassungswidrig, wenn es einer umsetzungsbedürftigen Norm des Unionsrechts (Richtlinie) widerspricht; ein Verstoß des innerstaatlichen Rechts gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht soll hingegen lediglich zur Unanwendbarkeit eines solchen Rechtssatzes führen: vgl. hierzu Mannefeld, Lisa-Karen, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die europäische Integration, 2017, S. 48 ff. Damit wurde jedenfalls mit Blick auf das Unionsrecht die bis dahin strenge Theorie

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Die hier hervorgehobenen Elemente der italienischen Verfassung hatten vor allem hinsichtlich der spanischen Territorialorganisation und des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 9 Abs. 2 SpV31) eine Vorbild- oder zumindest Orientierungswirkung für die verfassunggebenden Cortes Generales (1977), die hieraus bei gleichzeitiger Ausrichtung am deutschen Grundgesetz ein neues, eigenständiges Verfassungsmodell entwickelten. Das Grundgesetz hat zunächst in seiner strikten Normativität,32 sodann in seiner Ausgestaltung des Demokratieprinzips (Parteiendemokratie, parlamentarisches Regierungssystem, Herausnahme des Wahlrechts aus der Verfassung) sowie der Verfassungsgerichtsbarkeit, allen voran durch die sich im recurso de amparo widerspiegelnde Verfassungsbeschwerde, eine Modellfunktion.33 Die deutsche Formel der „wehrhaften Demokratie“34 haben die Cortes des Dualismus von Völkerrecht und nationalem Recht in der ital. Rechtsordnung ein Stück weit zurückgedrängt; sie geht davon aus, dass die von Italien ratifizierten Verträge den Rang der sie transformierenden Rechtsakte im innerstaatlichen Recht haben. Zum Rang völkerrechtlicher Verträge in der span. Verfassung vgl. Art. 93. Satz 1 dieser Bestimmung lautet: „Durch ein Organgesetz kann der Abschluss von Verträgen autorisiert werden, durch die einer internationalen Organisation oder Institution die Ausübung von aus der Verfassung abgeleiteten Kompetenzen übertragen wird.“ Nach dem Urteil des spanischen Verfassungsgerichts 140/2018 v. 20.12.2018, Rechtgrundlage 5, räumt diese Bestimmung den internationalen Verträgen „keinen hierarchischen Vorrang vor den innerstaatlichen Gesetzen ein, auch wenn sie einerseits eine Regel darstellt, nach der die vorherige innerstaatliche Norm infolge der völkerrechtlichen Verträge verlagert wird, ohne dass sie indes derogiert wird“. Andererseits definiert das Gericht die „Unantastbarkeit“ (resistencia) eines solchen Vertrages, indem es darauf hinweist, dass „er durch zeitlich spätere innerstaatliche Gesetze derogiert wird, ohne dass dies zum Ausschluss der innerstaatlichen Norm aus der innerstaatlichen Rechtsordnung, sondern zu deren bloßer Unanwendbarkeit führt.“ 31 Art. 9 Abs. 2 SpV lautet: „Der öffentlichen Gewalt obliegt es, die Bedingungen dafür zu schaffen, daß Freiheit und Gleichheit des einzelnen und der Gruppen, denen er angehört, real und wirksam sind, die Hindernisse zu beseitigen, die ihre volle Entfaltung verhindern oder erschweren, und die Teilnahme aller Bürger am politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben zu fördern.“ 32 Vgl. Hesse, Konrad, Die normative Kraft der Verfassung, 1959. Diesen Grundzug der deutschen Verfassung von 1949 als einen von drei „Wesensmerkmalen“ (neben offener Staatlichkeit und GG als living constitution) betont auch von Danwitz (Fn. 27), S. 251. 33 Vgl. Balaguer Callejón / Azipitarte Sánchez (Fn. 6), S. 25 ff., 29 ff. Vgl. ferner Weber, Albrecht, Die Spanische Verfassung von 1978, in: JöR, Bd. 29 (1980), S. 209 ff.; Roellecke, Gerd, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik in Spanien und der Bundesrepublik Deutschland, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Vol. 74, No. 1 (1991), S. 74 ff. Zum weltweiten Einfluss des Grundgesetzes auf nationale Verfassungsordnungen vgl. die anlässlich des 60. Grundgesetzjubiläums verfassten Beiträge von: Quint, Peter E., JöR Bd. 57 (2009), S. 1 ff., sowie Grewe, Constance, de Quadros, Fausto, Chryssogonos, Kostas, Papadopoulou, Lina, Botha, Henk und Mendes, Gilmar, in: JöR Bd. 58 (2010), S. 1 ff., 41 ff., 53 ff., 73 ff., 95 ff. Zu reziproken Rezeptionsvorgängen – „Nehmen und Geben in Sachen Grundgesetz“ – vgl. Häberle, Peter, Das GG als „Exportgut“ im Wettbewerb der Rechtsordnungen, in: Hillgruber, Christian / Waldhoff, Christian (Hrsg.), 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, 2010, S. 173 (180 ff., 185 ff.). 34 Zum normativen Befund, zur Auslegung durch das BVerfG und zu den historischen Gründen der „wehrhaften Demokratie“ im Grundgesetz vgl. Löwer, Wolfgang, Wehrhafte Demokratie, in: Hillgruber / Waldhoff (Fn. 33), S. 65 ff.; Oppermann (Fn. 17), S. 482, 483 f., sieht hierin einen Teil der „Kernverfassung“ des Grundgesetzes.

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hingegen bewusst abgelehnt und orientierten sich auch insoweit am italienischen Vorbild.35 Bedeutsam sind die Anleihen, die das spanische Verfassungsgericht seit seiner Errichtung durch das Organgesetz 2/1979 vom 3.10.1979 anlässlich der Auslegung der spanischen Verfassung bei der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gemacht hat, etwa mit Blick auf die Drittwirkung der Grundrechte („Ausstrahlungswirkung“).36 Zusammen mit den normsetzenden Wirkungen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in bestimmten Verfahren, namentlich bei Entscheidungen von Verfassungsbeschwerden (§ 31 Abs. 2 BVerfGG), hat diese Drittwirkungslehre einen neuen Stufenbau der Rechtsordnung geschaffen, der das Zivilrecht aus seiner historischen Vorrangstellung verdrängte (sub II.). In der Gesetzgebung einiger Autonomen Gemeinschaften zur Sicherung des Existenzminimums wurde an eine Garantie angeknüpft, die Art. 12 der Schweizer Verfassung (1999) beinhaltet,37 mangels des grundrechtlichen Charakters der Würde des Menschen in der spanischen Verfassung (Art. 10 Abs. 1)38 aber auch auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums („Hartz IV für Kinder“)39 rekurriert.40 Insgesamt ist angesichts dieses normativen und dogmatischen Einflusses der deutschen Verfassungsordnung sowie der gefestigten Auslegung grundlegender Kernelemente der spanischen Verfassung von 1978 davon gesprochen worden, dass trotz markanter Unterschiede „tendenziell das Grundgesetz als Modell“ übernommen worden sei.41 Vorteile und Mängel einer Verfassungsordnung sowie Defizite ihrer politischen Handhabung lassen sich bei einem rechtsvergleichenden Ansatz gerade mit Blick auf die Grundrechte sowie ihre verfassungsgerichtliche Auslegung und Entfaltung, 35 Vgl. zur Diskussion um das in Art. 20 Abs. 4 GG sowie in einigen deutschen Landesverfassungen normierte Widerstandsrecht Luther, Jörg, Italienische Beobachtungen und Verarbeitungen des Grundgesetzes (1949–2009), JöR Bd. 57, S. 15 (20 f.). 36 Vgl. Cruz Villalón (Fn. 7), S. 76 f., 80 f.; Montoro Chiner, María Jesús, in diesem Band, sub II. 37 Das Recht auf Hilfe in Notlagen ist in Art. 12 der Schweizer Verfassung wie folgt normiert: „Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.“ 38 Die Menschenwürde kann in der spanischen Verfassungsordnung „in einzelnen Streitfällen nur ein Auslegungsprinzip“ darstellen; vgl. Balaguer Callejón / Azipitarte Sánchez (Fn. 6), S. 21 f. 39 BVerfG, Urteil des Ersten Senats v. 9.2.2010 (1 BvL 1/09), Rn. 133 ff., BVerfGE 125, 175 ff. 40 Vgl. Carro Fernández Valmayor, Luis, Mínimo existencial y jurisprudencia. Hacia la construcción jurisprudencial de un derecho fundamental, in: García de Enterría, Eduardo / Alonso García, Ricardo (Hrsg.), Administración y justicia. Un análisis jurisprudencial. Liber amicorum Tomás-Ramón Fernández, 2012, Bd. II, S. 3825 ff.; Fernández Rodríguez, ­Tomás-Ramón, Estado de Derecho y Derechos Fundamentales, in: Ministerio de Justicia (Hrsg.), 40 aniversario de la Constitución, 2019, S. 66 (75 f.). 41 Vgl. Balaguer Callejón / Azipitarte Sánchez (Fn. 6), S. 15.

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die legislatorische, administrative und justizielle Konkretisierung der Staatsgrundsätze einschließlich der föderalen, präföderalen bzw. „devolutiven“42 (Spanien) oder regionalen (Italien) Verfasstheit der drei Staaten unter dem Dach der „Werteordnung“ des Unionsvertrages (Art. 2 EUV) und seines Bekenntnisses zur nationalen Identität der Mitgliedstaaten (Art. 4 Abs. 2 EUV) aufdecken. Dies ist ein erweitertes Verständnis der Aufgabe, die H. P. Ipsen bereits anlässlich „40 Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“ auch an die Verfassungsrechtswissenschaft adressiert hat.43

II. Die Entwicklung der Grundrechte und des Grundrechtsschutzes Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat ist nach dem Zweiten Weltkrieg für die Länder Westeuropas, seit dem Fall des Eisernen Vorhangs auch für die meisten Nationen Osteuropas zu der größten Errungenschaft geworden, um die Freiheit des Einzelnen vor staatlichen Eingriffen oder Verletzungen seitens von Privatpersonen in durchsetzbarer Weise zu schützen. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die grundrechtlichen Gewährleistungen Eingang in die Verfassung Italiens gefunden. Unter dem Eindruck von Liberalismus, Katholizismus und Sozialismus sind diese Garantien von den Prinzipien geprägt, die die gesamte italienische Ordnung der Grundrechte und -pflichten bestimmen: (a)  die Anerkennung des Vorrangs des Individuums vor dem Staat, (b) die Anerkennung der Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums, das dazu bestimmt ist, sich durch gegenseitige wirtschaftliche und geistige Solidarität zu vervollkommnen, und (c) die Annahme von unverletzlichen Rechten der Person und Rechten der Gemeinschaft, die nicht vom Staat gewährt, sondern ihm vorgegeben sind.44 Grundgesetz und italienische Verfassung reflektieren trotz gemeinsamer Erfahrungen der Verfassungsväter und -mütter nicht unerhebliche Unterschiede in den kulturellen und sozialen Ausgangspositionen der beiden Länder am Ende des Zweiten Weltkrieges. Beide Verfassungen stellen die Grundrechte zunächst auf eine menschenrechtliche Grundlage (Art. 2 ItV, Art. 1 Abs. 2 GG). Von überragen-

42 Vgl. Cruz Villalón (Fn. 7), S. 80, im Anschluss an Biglino Campos, Paloma, Federalismo de integración y de devolución, 2007. 43 Vgl. Ipsen, Hans Peter, 40 Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, JöR Bd. 38 (1989), S. 3 ff. 44 Zu den zahlreichen rechtlichen Aspekten der Bedeutung der Vorgängernorm des Art. 2 ItV vgl. Mangiameli, Stelio, Impulse aus dem italienischen Verfassungsrecht für den deutschen Grundrechtsschutz, in: Tettinger, Peter / Stern, Klaus, Europäische Grundrechte-Charta, München 2006, A VII, Rn. 10 ff, 14 ff., 23 ff.; aus der nicht-rechtwissenschaftlichen Literatur vgl. insbesondere zur Bedeutung des Rechts auf Arbeit und Solidarität die Beiträge in Smuraglia, Carlo (Hrsg.), La Costituzione, 70 anni dopo, 2019.

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der Bedeutung sind die „Grundprinzipien“ der Art. 1,45 2,46 347 und 4 Abs. 1 ItV.48 Nach Art. 2 ItV anerkennt und gewährleistet „die Republik die unverletzlichen Rechte des Menschen […], sei es als Einzelperson oder Mitglied der sozialen Gemeinschaften, in denen er seine Persönlichkeit entfaltet […].“ Das Grundgesetz statuiert dagegen in der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts eine allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1). Die Freiheitsdispositive der beiden Verfassungen divergieren vor allem in der Grundrechtssystematik und in der Schrankensystematik.49 Kennzeichnend für die Grundrechte in der italienischen Rechtsordnung (Art. 1, 4, 6, 8, 9 sowie „Teil 1 Rechte und Pflichten“) ist ihre starke soziale Komponente (Art. 4, 35 ff.). Damit verknüpfen sich auch die unter die einzelnen Freiheitsrechte gestreuten besonderen Gleichheitsgarantien, etwa die Lohngleichheit der Geschlechter (Art. 37) sowie die Wahlrechtsgleichheit (Art. 48). Die italienische Verfassung dehnt den Schutzbereich der einzelnen Rechte im Sinne einer Drittwirkung der Grundrechte und Grundpflichten auf das Verhältnis zwischen Privaten aus (Art. 2 und 3).50 Die Konvergenzen und Divergenzen in den Konzeptionen von Freiheit und Gleichheit werden nicht zuletzt bei einem Vergleich der Normierungen der Menschenwürde deutlich. Während sie in Deutschland nach der Befreiung aus nationalsozialistischer Unterdrückung als „absolute Idee“ (J. Isensee) in den Mittelpunkt der grundrechtlichen Werteordnung gerückt und in einen engen Zusammenhang mit „der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung“ gestellt wurde,51 hat der italienische Verfassunggeber das Würdegebot im Sinne einer sozialstaatlichen Funktion52 als Erhebung aus materieller Misere verstanden und im Begriff der „gleichen gesellschaftlichen Würde“ 45

Art. 1 Satz 1 ItV lautet: „Italien ist eine demokratische, auf die Arbeit gegründete Re­publik.“ Art. 2 ItV lautet: „Die Republik anerkennt und gewährleistet die unverletzlichen Rechte des Menschen sowohl als Einzelperson, als auch innerhalb der gesellschaftlichen Gruppen, in denen sich seine Persönlichkeit entfaltet. Sie fordert die Erfüllung der unabdingbaren Pflichten politischer, wirtschaftlicher und sozialer Solidarität.“ 47 Art. 3 ItV lautet: „Alle Staatsbürger haben die gleiche gesellschaftliche Würde und sind vor dem Gesetz ohne Unterschied des Geschlechtes, der Rasse, der Sprache, des Glaubens, der politischen Anschauungen, der persönlichen und sozialen Verhältnisse gleich. Es ist Aufgabe der Republik, die Hindernisse wirtschaftlicher und sozialer Art zu beseitigen, die durch eine tatsächliche Einschränkung der Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger der vollen Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und der wirksamen Teilnahme aller Arbeiter an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung des Landes im Wege stehen.“ 48 Art. 4 Abs. 1 ItV lautet: „Die Republik erkennt allen Staatsbürgern das Recht auf Arbeit zu und fördert die Bedingungen, durch die dieses Recht verwirklicht werden kann.“ 49 Vgl. Luther, Jörg, Die „gleiche Freiheit“ der europäischen Bürger in Italien und Deutschland, ZaöRV 68 (2008), S. 371 (374 ff.). 50 Schefold, Dian, Die Grundprinzipien: Republik, Volk, Bürger, in: Grundmann, Stefan / ​ Zaccaria, Alessio (Hrsg.), Einführung in das italienische Recht, Frankfurt a. M. 2007, 2. Kapitel, S. 28 (29); Luther (Fn. 49), S. 378, 380. 51 Vgl. zuletzt BVerfG, Urteil v. 26.2.2020, 2 BvR 2347/15, Rn. 277 sowie Rn. 207, 210, 211, 274 – Recht auf selbstbestimmtes Sterben. 52 Vgl. Schefold (Fn. 50), S. 29 f. 46

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ausgedrückt (Art. 3 Abs. 1). Die normativen Unterschiede zwischen Grundgesetz und italienischer Verfassung werden im europäischen Kontext durch Grundrechtsdialoge relativiert, aber in der fortbestehenden Vielfalt der Grundrechtekulturen nicht aufgehoben.53 Nach dem späten Ende des totalitären Franco-Regimes Mitte der siebziger Jahre sind Grundrechte durch ihre Aufnahme in die Magna Charta Spaniens zu einem stabilisierenden Faktor der jungen Demokratie geworden. Aufbauend auf der republikanischen Verfassung von 1931 und in Konkretisierung des in ihrem Art. 1 Abs. 1 normierten Rechtsstaats-, Demokratie- und Sozialstaatsprinzips proklamiert Titel I sowohl traditionelle Freiheitsrechte als auch soziale Grundrechte. Der Grundrechtskatalog ist mithin umfassend, enthält jedoch ebenso wie Art. 1 ff. ItV kein die Innominatfreiheiten schützendes Grundrecht. Subsidiär steht hier ähnlich wie nach dem Grundgesetz der Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde vor dem Verfassungsgericht zur Verfügung.54 Der spanische Verfassunggeber hat eine Unterscheidung getroffen zwischen Grundrechten als subjektiven öffentlichen Rechten einerseits, die die staatlichen Gewalten effektiv zu gewährleisten haben (Art. 9 Abs. 2) und die mittels der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden können (Abwehr-, Gleichheits- und Teilhaberechte), und den wirtschaftlich-sozialen Rechten andererseits, die in Kapitel III des Titels I als „Leitprinzipien“ bezeichnet werden („Principios rectores de la política social y económica“).55 Diese Unterscheidung ist auch für die Europäische Grundrechtecharta sowie Art. 6 Abs. 1 EUV wegweisend geworden. So differenziert die Grundrechtecharta zwischen „Rechten“ (Art. 52 Abs. 2 GRCh) und „Grundsätzen“ (Art. 52 Abs. 5 GRCh).56 In den Rechtsordnungen der Mit 53

Vgl. Luther (Fn. 49), S. 379, 372. Sommermann, Karl-Peter, Der Schutz der Grundrechte in Spanien nach der Verfassung von 1978, 1984, S. 126 ff.; Rubio Llorente, Francisco, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Spanien, in: Starck, Christian / Weber, Albrecht (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, Bd. I, 1986, S. 243, (267 ff., 270 ff.). 55 Vgl. etwa Art. 40 SpV: „(1) Die öffentliche Gewalt fördert im Rahmen einer Politik wirtschaftlicher Stabilität die für den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt und für eine gerechtere Verteilung des regionalen und persönlichen Einkommens günstigen Bedingungen. Ganz besonders betreibt sie eine auf die Vollbeschäftigung ausgerichtete Politik. (2) Die öffentliche Gewalt fördert gleichfalls eine Politik, die Berufsausbildung und Umschulung sicherstellt. Sie überwacht Sicherheit und Hygiene am Arbeitsplatz und gewährleistet die erforderliche Erholung durch Begrenzung der Arbeitszeit sowie regelmäßigen bezahlten Urlaub und die Förderung geeigneter Erholungsstätten.“ Vgl. zu den in der SpV garantierten Rechten Sommermann (Fn. 54). S. 217 ff.; Fernández Rodríguez, Tomás-Ramón (Fn. 40) S. 67 ff. 56 Vgl. hierzu Cruz Villalón, Pedro, Impulse aus der spanischen Verfassungstradition für den europäischen Grundrechtsschutz, in: Tettinger, Peter / Stern, Klaus, Europäische Grundrechte-Charta, 2006, A XIII, Rn. 42 ff, der insoweit vom „möglicherweise wichtigsten Fall des Einflusses der spanischen Verfassung auf die [Europäische Grundrechte-] Charta“ spricht (Rn. 42). Zu der Unterscheidung von Rechten und Grundsätzen innerhalb der Grundrechtecharta vgl. kommentierend Ladenburger, Clemens, in: Stern, Klaus / Sachs, Michael (Hrsg.), Europäische Grundrechte-Charta, 2016, Art. 52 Rn. 12 ff. sowie 96 ff. 54

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gliedstaaten gilt für Eingriffe in die Rechte der Vorbehalt des Gesetzes im rechtsstaatlichen Sinne. Mit Blick auf die Judikative kommt im Lichte des europäischen Grundrechtsschutzes (Art. 13, 6, 34 EMRK; Art. 47 GRCh)57 dem Recht auf wirksamen und lückenlosen Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 24 ItV; Art. 24 SpV) eine besondere Bedeutung bei der Ausübung von Grundrechten zu. In der spanischen Rechtsordnung bildet „das Recht auf wirksamen Schutz durch Richter und Gerichte“ (Art. 24 Abs. 1 SpV) die Norm, auf die sich die Parteien vor den Gerichten insgesamt am häufigsten berufen.58 Bei der Verwirklichung der Grundrechte hat das spanische Verfassungsgericht seit dem Beginn seiner Rechtsprechung eine herausragende Rolle gespielt.59 Die Entfaltung der Grundrechte obliegt im demokratischen Verfassungsstaat zunächst dem Gesetzgeber, der in einer den effektiven Rechtsschutz sichernden Ordnung von den Gerichten kontrolliert wird. Die italienische Rechtsordnung kennt keine Verfassungsbeschwerde als subsidiären Rechtsbehelf.60 Hier bestimmen die zahlreichen – vom einzelnen Bürger bei den ordentlichen Gerichten oder den Verwaltungsgerichten angeregten – inzidenten Normenkontrollverfahren das Bild der Verfassungsgerichtsbarkeit; dieser Verfahrenstyp erfüllt hier nicht nur von der Intention, sondern auch von der praktischen Häufigkeit her die Funktion einer Verfassungsbeschwerde.61 Die Rechtsprechung zum Grundgesetz ist dabei nicht nur beobachtet, sondern auch „verarbeitet“ worden.62 Wie etwa das italienische Urteil 57

Zu den Verfahrensgarantien in der EMRK vgl. Gundel, Jörg, Verfahrensrechte, in: Merten, Detlef / Papier, Hans-Jürgen (Hrsg.), HGrR VI/1, 2010, § 146; zum Recht auf wirksamen Gerichtsschutz nach Art. 47 GRCh als ein Recht aller natürlicher und juristischer Personen, die eine Verletzung von Rechten und Freiheiten des primären und sekundären Unionsrechts geltend machen, sh. etwa Magiera, Siegfried, Bürgerrechte und justizielle Grundrechte, in: Merten / Papier, a. a. O., § 161 Rn. 67 ff. 58 Zu Art. 24 Abs. 1 SpV vgl. de la Oliva Santos, Andrés, Una mirada atrás al precepto más invocado: el Artículo 24.1 de la Constitución española de 1978, in: Ministerio de Justicia (Fn. 40), S. 109 ff. (110); Hernández-Gil Álvarez-Cienfuegos, Antonio, 40 años del derecho a la tutela judicial efectiva (art. 24.1 CE), in: Pendás et al. (Fn. 1), Bd. V, 2018, § 255 (S. 3953 ff.); Darnaculleta Gardella, M. Mercè, in diesem Band, sub II. 1. 59 Vgl. zur ersten Phase dieser Rechtsprechung Weber, Albrecht, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Spanien, in: JöR 34 (1985), S. 245 ff.; Cruz Villalón, Pedro, Das spanische Verfassungsgericht, Zeitschrift für Parlamentsfragen, Vol. 19, No. 3 (September 1988), pp. 339 ff. Zur institutionellen Entwicklung des spanischen Verfassungsgerichts vgl. aus jüngerer Zeit Álvarez Vélez, Mª Isabel / Martínez Vázquez, Francisco, in: Lefebvre, Francis (Hrsg.), La Constitución Española, 1978–2018, 2018, Capítulo 13, Rn. 1300 ff. Die vierzig bedeutendsten Entscheidungen des spanischen Verfassungsgerichts, die unter der Geltung der spanischen Verfassung erlassen wurden (1978-2018), sind stichwortartig verfügbar unter https://elderecho. com/cuarenta-anos-constitucion-cuarenta-sentencias-del-tribunal-constitucional. 60 Zu dem Vorschlag Aldo M. Sandullis, anlässlich der kleinen Reform von 1967 eine „actio popularis“ in die italienische Verfassung einzuführen, vgl. Luther (Fn. 35), S. 25. 61 Vgl. Ritterspach, Theodor, in: Starck, Christian / Weber, Albrecht (Fn. 54), S. 218 (228); Schefold, Dian, Die Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Grundmann / Zaccaria (Fn. 50), 10. Kapitel, S. 98 (101 f.). 62 Vgl. Luther (Fn. 35), S. 35 ff. (37).

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zum Eheverbot bei homosexuellen Paaren gezeigt hat,63 hat – jenseits des EGMR – das Bundesverfassungsgericht „die Position des bevorzugten Gesprächspartners“ der Corte Costituzionale inne.64 Mangels einer Responsivität seitens der Karlsruher Richter handelt es sich jedoch eher um eine einseitige, asymmetrische Rezeption.65 In Deutschland hat sich in Jahrzehnten die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zum Motor der „Entwicklung der Grundrechte“ entwickelt – infolge der prozessualen Instrumente der Verfassungsbeschwerde sowie mitunter der abstrakten Normenkontrolle. Auch wenn das spanische Verfassungsgericht ebenfalls über die Kompetenz verfügt, im Zuge der Verfassungsbeschwerde (recurso de amparo) fachgerichtliche Urteile am Maßstab der Verfassung zu überprüfen,66 wird die Stärke des deutschen Bundesverfassungsgerichts in der Verzahnung zwischen seinen umfangreichen Kompetenzen und den institutionellen Rahmenbedingungen („Selbständigkeit“) gesehen.67 Kreativitätspotential setzt es dabei insbesondere im Rahmen des Verfahrens der (Urteils-)Verfassungsbeschwerde frei. In dem (knappen) Jahrzehnt zwischen 2009 und 2018 hat das deutsche Bundesverfassungsgericht in einer Vielzahl von Entscheidungen, die das nationale Recht i. e. S. betreffen, die gesetzgeberischen Entscheidungen wegen ihrer Unvereinbarkeit mit den Grundrechten „korrigiert“: Zu nennen sind die Entscheidungen zum Ehedoppelnamen (2009), die Wunsiedel-Entscheidung (2009), zum Elternrecht des Vaters wegen des verfassungswidrigen  Ausschlusses nichtehelicher Väter vom Sorgerecht gegen den Willen der Mutter (2010), zur Vorratsdatenspeicherung (2010), zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG („Sozialgeld für Kinder“ – 2010), dann im Jahr 2011 – nach Aufforderung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – zur Verfassungswidrigkeit der Sicherungsverwahrung nach dem Strafgesetzbuch (einschl. 63

Ital. Verfassungsgerichtshof, Urteil Nr. 170/14. Es ging in dieser Rechtssache um ein Ehepaar, von dem einer der Partner eine sexuelle Umwandlung – mit Zustimmung des anderen Ehepartners – hatte durchführen lassen; zur Orientierung an der Rspr. des BVerfG vgl. auch das Urteil des ital. Verfassungsgerichtshofs zur biologischen Identität, Urteil Nr. 278/13. 64 Vgl. Baldini (Fn. 6), S. 692 ff. 65 Vgl. Luther (Fn. 35), S. 35 ff. (37) sowie Baldini (Fn. 6), S. 693. 66 Vgl. Art. 41 Abs. 2, Art. 43 Abs. 1, Art. 44, Art. 46 Abs. 1 (b) des Organgesetzes über die Verfassungsgerichtsbarkeit – LOTC. 67 So Farahat, Anuscheh, Das Bundesverfassungsgericht, in: von Bogdandy, Armin / Grabenwarter, Christoph / Huber, Peter Michael (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd.VI (Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa: Institutionen), 2016, § 97 Rn. 50, 59 mit Fn. 293 – unter Verweis auf Wahl; Wahl (Fn. 18), S. 835, sieht die eigentliche Besonderheit der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit innerhalb der weltweiten Landschaft der Verfassungsgerichte in der Kombination von institutioneller Selbständigkeit einerseits mit der Urteilsverfassungsbeschwerde und dem Organstreit andererseits. Diese Ansicht teilt Farahat, a. a. O., so nicht, da er das Organstreitverfahren und die Normenkontrolle zwar für zentrale, aber gegenüber der Verfassungsbeschwerde eher blasse Verfahrensarten hält. Luther (Fn. 35), S. 25 sieht ebenfalls die Eigenschaft des Bundesverfassungsgerichts als Verfassungsorgan und damit seine Verfahrensautonomie als Garanten seiner „Stärke“ an.

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namentlich zur verfassungsrechtlichen Pflicht, die präventive Freiheitsentziehung in deutlichem Abstand zum Strafvollzug gesetzlich zu regeln – „Abstandsgebot“), zur Vereinbarkeit der Errichtung der Antiterrordatei als Verbunddatei verschiedener Sicherheitsbehörden zwecks Bekämpfung des internationalen Terrorismus (2013), zum Splittingtarif für eingetragene gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften (2013), die Raucherclub-Entscheidung (2014), ), zur Protestveranstaltung auf dem Friedhof (2014) und sodann zum Bierdosen-Flashmob unter Erweiterung des Schutzes der Versammlungsfreiheit an Orten, an denen ein allgemeiner öffentlicher Verkehr eröffnet wird (2015), das Kopftuch-Urteil (2015), zur Bedeutung der Meinungsfreiheit mit Blick auf vermeintliche Beleidigungen („FCK CPS“ – 2015) sowie das Urteil anlässlich des NPD-Verbotsverfahrens (2017), in welchem der Zweite Senat u. a. den Gehalt der Menschenwürde als Element der freiheitlichen demokratischen Grundordnung konkretisierte, vor allem aber – höchst umstritten – 61 Jahre nach dem KPD-Urteil keine „konkreten Anhaltspunkte von Gewicht“ sah, „die es zumindest möglich erscheinen lassen, dass das Handeln“ der NPD mit Blick auf eine Gefährdung der Stabilität der demokratischen Strukturen im Geltungsbereich des Grundgesetzes „zum Erfolg führt“.68 Die Grundrechte führten in ihrer Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht zu einer Wende im Staatsverständnis der Deutschen. Das Gericht erwarb hier seit dem Elfes- (1957 – Subjektivierung objektiven Verfassungsrechts69) und insbesondere dem Lüth-Urteil (1958 – Drittwirkung der Grundrechte70) Autorität, Legitimation und Deutungsmacht in einer für Verfassungsbeschwerden typischen Kopplung von Politik und Recht.71 Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee hatte die allen diesen richterlichen Entscheidungen zugrundeliegende Idee der Freiheit als Ordnungsprinzip schon zuvor in eine viel allgemeinere und gänzlich undogmatische Formel gegossen: „Der Staat ist für die Menschen da, nicht die Menschen für den Staat.“ Doch Verfassungsrechtsprechung bleibt ein „knappes Gut“,72 68 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats v. 17.1.2017 (2 BvB 1/13), Leitsatz 9 (c)  sowie Rn. 538 ff., BVerfGE 144, 20.  69 BVerfG, Urteil des Ersten Senats v. 16.1.1957 (1 BvR 253/56), Rn. 13 ff., BVerfGE 6, 32. 70 Vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats v. 15.1.1958 1 BvR 400/51), Rn. 23 ff., BVerfGE 7, 198; hierzu Baldus, Manfred, Frühe Machtkämpfe. Ein Versuch über die historischen Gründe der Autorität des Bundesverfassungsgerichts, in: Henne, Thomas / R iedlinger, Arne (Hrsg.), Das Lüth-Urteil in historischer Sicht. Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, 2005, S. 237 ff.; Brodocz, André, Lüth und die Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts, in Henne / R iedlinger (a. a. O.), S. 271 ff.; Wahl, Rainer, Lüth und die Folgen: Ein Urteil als Weichenstellung für die Rechtsentwicklung, in: Henne / R iedlinger (a. a. O.), S. 371 ff.; Höreth, Marcus, Wenn Richter mitregieren wollen: Selbstautorisierung beim BVerfG und EuGH im Vergleich, in: van Ooyen / Möllers (Fn. 18), S. 875 (880 ff.): „Gerichtsentscheidungen als Akte der Selbstautorisierung“. 71 Vgl. Jestaedt, Matthias, Phänomen Bundesverfassungsgericht. Was das Gericht zu dem macht, was es ist, in: Jestaedt u. a. (Fn. 20), S. 77 (103 ff.); Möllers, Christoph, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Jestaedt u. a. (Fn. 20), S. 281 (344 ff., 350). 72 Vgl. Wahl, Rainer / Wieland, Joachim, Verfassungsrechtsprechung als knappes Gut – Der Zugang zum Bundesverfassungsgericht, JZ 1996, 1137 (1146 ff.).

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wie dies hinsichtlich des Schutzes der grundgesetzlich verbürgten Grundrechte die notwendige Annahme einer Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung auch unter dem Aspekt ihrer „grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedeutung“ (§ 93a Abs. 2 lit. a BVerfGG) und im spanischen Recht das hieran angelehnte Erfordernis einer „objektiven und grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedeutung“ des recurso de amparo (Art. 50 Abs. 1 lit. b des Organgesetzes über die Verfassungsgerichtsbarkeit – LOTC)73 belegen.

III. Verfassung und Verwaltung Nach fast einem Jahrhundert der Trennung zwischen dem Verfassungsrecht und dem Verwaltungsrecht kehrt ein Teil der Vertreter des öffentlichen Rechts in Italien mittlerweile zu der Auffassung der „Einheit des Rechts“ zurück und anerkennt damit einen Zusammenhang, der – auch unter deutschem Einfluss – zwischen dem Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jhds. stark betont wurde. Noch immer ist jedoch festzustellen, dass ein beträchtlicher Teil der italienischen Verwaltungsrechtswissenschaft das Verwaltungsrecht als ein autonomes und großenteils isoliertes Fach betrachtet und sich vorwiegend auf die Entscheidungen des Consiglio di Stato, zunehmend auch auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs bezieht, die für das Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten einschlägig sind.74 In Spanien haben die administrativistas, also Hochschullehrer auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts, im Moment des politischen Übergangs vom franquistischen Staat zum heutigen demokratischen Regime eine bedeutende Rolle gespielt; zwar haben sie nicht unmittelbar wie in Italien an der neuen Verfassungsarchitektur mitgearbeitet, sich aber mittelbar durch inoffizielle Rückfragen an der theore­tischen Einhegung des Verfassungswerkes von 1978 beteiligt.75 Hatte E. Forsthoff (1973) aufgrund der daseinsvorsorgenden und sozialgestaltenden Funktion, aber auch angesichts der Gefahren des technisch-industriellen Fortschritts noch das Eigenleben der Verwaltung gegenüber der bürgerlich-rechtsstaatlichen Verfassung betont, so hat sich in Deutschland Ende der fünfziger 73 Art. 50 Abs. 1 lit. b LOTC lautet: „El recurso de amparo debe ser objeto de una decisión de admisión a trámite. La Sección, por unanimidad de sus miembros, acordará mediante providencia la admisión, en todo o en parte, del recurso solamente cuando concurran todos los siguientes requisitos: […] Que el contenido del recurso justifique una decisión sobre el fondo por parte del Tribunal Constitucional en razón de su especial trascendencia constitucional, que se apreciará atendiendo a su importancia para la interpretación de la Constitución, para su aplicación o para su general eficacia, y para la determinación del contenido y alcance de los derechos fundamentales.“ Vgl. de la Sierra Morón, Susana, in diesem Band, sub II. 74 Vgl. Sandulli, Aldo, Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Italien, in: v. Bogdandy / ­A rmin / ​ Cassese, Sabino / Huber, Peter Michael (Hrsg.), Ius Publicum Europaeum, Bd. IV (Verwaltungsrecht in Europa: Wissenschaft), 2011, § 61 Rn. 89. 75 Vgl. Santamaría Pastor, Juan Alfonso, Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Spanien, in: v. Bogdandy / Cassese / Huber (Fn. 74), § 66 Rn. 85.

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Jahre ähnlich wie inzwischen auch in Italien und Spanien die Auffassung von der durchgängigen „Verfassungsabhängigkeit des Verwaltungsrechts“76 durchgesetzt. Impulsgebend dafür war die Anordnung unmittelbarer Grundrechtsbindung jedweder öffentlichen Gewalt (Art. 1 Abs. 3 GG) verbunden mit einer Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, welche die auf die gesamte Rechtsordnung ausstrahlende objektive Wertentscheidung sowie die Teilhabe-, Schutz- und Verfahrensdimension herausstellte.77 Indes lassen sich Verwaltung und Verwaltungsrecht nicht sinnvoll als reiner Verfassungsvollzug begreifen.78 Da umgekehrt aus der Verwaltungswirklichkeit ständig Impulse auch für das Verfassungsrecht erwachsen, kann insgesamt von einem „Verhältnis der Interdependenz“ gesprochen werden (J. Ipsen). Die Bedeutung der europäischen, aber auch der nationalen Rechtsprechung im Verfassungs- und Verwaltungsrecht hat in Italien und Spanien ebenso wie in Deutschland beachtlich zugenommen. Dabei spielt im „Europäischen Verwaltungsverbund“ die Überformung des nationalen Verwaltungsrechts durch das Europarecht – in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof – eine erhebliche Rolle. Die „strukturelle Tiefenwirkung“ (F. Schoch) der Europäisierung hat vor allem auch Kernbereiche des allgemeinen Verwaltungsrechts und des Verwaltungsprozessrechts erfasst. Hier zeigt sich mit Blick auf das Europarecht in Italien noch einmal die über lange Zeit geübte Zweiteilung zwischen amministrativisti und costituzionalisti. Während sich die italienischen Verwaltungsrechtler in den neunziger Jahren gegenüber dem Europarecht geöffnet haben, bleibt eine Reihe von Verfassungsrechtlern der Idee des national geschlossenen Verfassungsstaates verhaftet.79 War das Verwaltungsrecht ursprünglich ein Rechtsgebiet, das die Ausübung öffentlicher Gewalt behandelte (Polizei- und Ordnungsrecht sowie Gewerberecht), so entwickelte es sich sodann etappenweise vor allem zu einem Recht der Leistung und Versorgung (Sozialrecht), systematisierte die staatlichen Regelungen, die sich auf den Schutz, die Pflege und die Entwicklung der Umwelt – auch unter Aspekten der „Nachhaltigkeit“80 – beziehen,81 und wandte sich schließlich im Zuge der (materiellen) Privatisierung öffentlicher Aufgaben82 den Privatisierungsfolgen, namentlich in Form der Regulierung des Energie-, Eisenbahn- und 76 Vgl. Bachof, Otto, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, VVDStRL 30 (1972), S. 194 (204 ff.). 77 Pauly, Walter (2011), Landesbericht Deutschland, in: v. Bogdandy / Cassese / Huber (Fn. 74), § 58 Rn. 16. 78 Vgl. Barnes, Javier, in diesem Band, sub IV, der es als die Aufgabe des Verwaltungsrechts ansieht, das Verfassungsrecht zu „entwickeln“ anstatt es nur zu „konkretisieren“. 79 Vgl. hierzu auch Sandulli (Fn. 74), § 61 Rn. 89. 80 Kment, Martin, Die Neujustierung des Nachhaltigkeitsprinzips im Verwaltungsrecht, 2019. 81 Vgl. zum Umweltrecht, das eine Vielzahl von Rechtsgebieten umfasst, etwa Dell’Anno, Paolo / Picozza, Eugenio (Hrsg.), Trattato di Diritto dell’ambiente, Vol. I und II, CEDAM 2012/2013; Kloepfer, Michael / Durner, Wolfgang, Umweltschutzrecht, 3. Aufl., 2020. 82 Burgi, Martin, „Privatisierung“, in: Isensee, Josef / K irchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IV, Heidelberg, 3. Aufl. 2006, S. 205 ff.

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Telekommunikationssektors, zu.83 Hier geht es um Marktbedingungen bei gleichzeitiger Verfolgung pluraler öffentlicher Interessen. Inzwischen gewinnt angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung des Besonderen Verwaltungsrechts das noch junge Rechtsgebiet des „Klimarechts“84 als Teilgebiet des Umweltverwaltungsrechts an Bedeutung. Dabei nutzt das Verwaltungsrecht auch privatrechtliche Instrumente und stellt sich – in anderen Staaten oft noch weit mehr als in der deutschen Rechtsordnung, in die H. J. Wolff den Begriff des „Verwaltungsprivatrechts“ einführte,85 – in vielen Fällen als ein gemeines oder gemischtes öffentlich-privates Recht86 oder gar als ein „Privatverwaltungsrecht“ dar,87 das vom Privatisierungsfolgenrecht88 zu unterscheiden ist. Die diametrale Gegenüberstellung von Öffentlichem Recht und Privatrecht ist überwunden,89 weil das europäische Privatrecht durch das Öffentliche Recht, namentlich durch das Verfassungsrecht (Grundrechte), gebändigt ist. Beide Teilrechtsordnungen sind mit unterschiedlichen Funktionen und Anwendungsmodalitäten gleichrangige Teile der Gesamtrechtsordnung; der wechselseitigen Ergänzung fähig und bedürftig, substituieren und komplettieren sie sich gegenseitig („Verschränkungen“). Eine Auffangfunktion auf der Ebene der Rechtssätze kommt dem Privatrecht zu, wenn es Vorschriften vorhält, die ergänzend zum Öffentlichen Recht Anwendung finden. Komplementäre Verbundlösungen setzen die zivilrechtliche Privatautonomie für die Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Rahmens

83 Vgl. etwa Pielow, Johann-Christian, Regulierungsrecht als Infrastrukturregulierungsrecht – oder mehr?, in: Säcker, Franz Jürgen / Schmidt-Preuß, Matthias (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, 2015, S. 19 ff.; Fehling, Michael / Ruffert, Matthias, Regulierungsrecht, 2010; Muñoz Machado, Santiago (Hrsg.), Derecho de la regulación económica, 10 Vol., Iustel (online); Dalle Nogare, Fabrizio, Regolazione e mercato delle Comunicazioni elettroniche, 2019; Chirulli, Paola, Concorrenza, regolazione e tutela dei diritti nel trasporto ferroviario, 2016. 84 Vgl. aus neuerer Zeit etwa Frank, Willi, „Klimabedingte Migration“, NVwZ 2019, S. 1 ff.; Bodansky, Daniel / Brunnée, Jutta / Rajamani, Lavanya, International Climate Change Law, 2017; dies., The Paris Agreement on Climate Change, ZUR 2017, S. 574 ff.; García, María del Pilar / Amaya Navas, Oscar Darío, Derecho y cambio climático, Universidad Externado de Colombia, 2010; Remiro Brotóns, Antonio / Fernández Egea, Rosa Maria / Campins Eritja, Mar et al. (Hrsg.), El cambio climático en el derecho internacional y comunitario, Fundación BBVA, 2009,. 85 Wolff, Hans Julius / Bachof, Otto, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl. 1974, § 23 II b (1. Aufl., 1956, § 23 1 b). 86 Sandulli (Fn. 74), § 61 Rn. 90. 87 Vgl. Trute, Hans Heinrich, Wechselseitige Verzahnungen zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard, Öffentliches Recht und Privatrecht, 1996, S. 167 ff. 88 Burgi, Martin, Kommunales Privatisierungsfolgenrecht: Vergabe, Regulierung und Finanzierung, NVwZ 2001, S. 601 ff. 89 Vgl. die Beiträge von Somek, Alexander und Krüper, Julian, Kategoriale Unterscheidung von Öffentlichem Recht und Privatrecht, in: Öffentliches Recht und Privatrecht, VVDStRL Bd. 79 (2020), S. 7 ff. (Thesen 1–5 – Somek) und S. 43 ff. (Thesen 3 und 4 – Krüper).

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ein.90 Doch ist die in Italien im Jahre 2005 erfolgte Ersetzung einer förmlichen Genehmigung durch eine „stillschweigenden Zustimmung“ als rechtsstaatlich bedenkliche Verlagerung von Aufgaben staatlicher Aufsicht auf private Träger von Vorhaben kritisiert worden („Dämmerung des Verwaltungsakts“).91 Viele dieser Gebiete bilden zugleich zentrale Gegenstände des transnationalen Verwaltungsrechts.92 Der europäische Regulierungsverbund im Telekommuni­ kationsrecht als eine besondere Form des europäischen Verwaltungsverbunds ist ein Beleg hierfür. Er dient „als Mechanismus zur Herstellung und Sicherstellung einer einheitlichen Normanwendung und damit [zur] Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen“.93 Für die wachsenden Tätigkeitsfelder der Verwaltung wird zum einen der Rekurs auf das nationale Verfassungsrecht bedeutsam, so auf die sozialen Grundrechte (Italien und Spanien) bzw. das Sozialstaatsprinzip (Deutschland), oder – in den jüngeren sowie reformierten Verfassungen – das Staatsziel Umweltschutz (Art. 45 SpV, Art. 20a GG; Art. 9 Abs. 2 ItV: Schutz der Landschaft). Systematisch wirkt das Verfassungsrecht aber auch insoweit, als es mit unterschiedlichen verfassungstheoretischen Akzentuierungen, sei es der demokratischen Steuerung, sei es der rechtstaatlichen Rechtsschutzperspektive, über sektorale Einwirkungen hinausgeht. In diesem Zuge sind die Verwaltungsrichter in Parallelität zu den gesetzlichen Ausdifferenzierungen immer mehr zu „wissenschaftlichen Richtern“ geworden und liefern in ihren Entscheidungen Beiträge wissenschaftlicher Natur.94 Europäisierung und Internationalisierung führen zu einer Denationalisierung der öffentlichen Verwaltung, ein Vorgang, der sich im Rückgang der nationalen Souveränität, in einer gewissen Tendenz zur „Ent-Differenzierung“ (S. Cassese) der nationalen Verwaltungssysteme im Sinne einer „Abschwächung der Unterschiede“ (Diaria de Pretis) sowie in der Unmöglichkeit widerspiegelt, auf euro 90

Vgl. die Beiträge von Drüen, Klaus-Dieter und Schlacke, Sabine, Verschränkungen öffentlich- und privatrechtlicher Regime im Verwaltungsrecht, in: Öffentliches Recht und Privatrecht, VVDStRL Bd. 79 (2020), S. 127 ff. (Thesen 1 und 2 – Drüen) sowie S. 169 ff. (Thesen 1, 21 und 28 – Schlacke). 91 Ferrari, Erminio, Konvergenz und Divergenz des Verwaltungsrechts in der EU. Bemerkungen anhand der Beispiele des „Verwaltungsaktes“ und des Vergaberechts in Deutschland und Italien, in: Fraenkel-Haeberle, Cristina / Galetta, Diana-Urania / Sommermann, Karl-Peter (Hrsg.), Europäisierung und Internationalisierung der nationalen Verwaltungen, 2017, S. 27 (30 ff.). 92 Vgl. Fischer Lescano, Andreas, Transnationales Verwaltungsrecht. Privatverwaltungsrecht, Verbandsklage und Kollisionsrecht nach der Århus-Konvention, JZ 2008, S. 373 ff.; Kment, Martin, Grenzüberschreitendes Verwaltungshandeln. Transnationale Elemente deutschen Verwaltungsrechts, 2010; Calliess, Gralf-Peter (Hrsg.), Transnationales Recht. Stand und Perspektiven, Tübingen 2014 – hier insbesondere die Beiträge von M. Kment (S. 331 ff.), M. Senn (S. 353 ff.) und K.-H. Ladeur (369 ff.). 93 Vgl. Britz, Gabriele, Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund? Europäische Verwaltungsentwicklung am Beispiel der Netzzugangsregulierung bei Telekommunikation, Energie und Bahn, EuR 2006, 46 (53 ff.). 94 Sandulli (Fn. 74), § 61 Rn. 82.

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päischer oder globaler Ebene die Modelle der nationalen Verwaltung nachzubilden. Die Europäisierung erfolgt im Unterschied zur Internationalisierung eher geordnet und systematisch.95 Doch fordert der Prozess insgesamt die Entwicklung neuer Formen rationaler Machtverteilung und -balance im administrativen Mehrebenensystem. Die Durchführung des Unionsrechts wird zu einer weiteren Ursache der Europäisierung des Verwaltungsrechts, weil es hierfür der Indienstnahme des nationalen Rechts bedarf, welches – gemäß dem Gebot der Effektivität und Äquivalenz – infolge dieser Instrumentalisierung einer punktuellen Anpassungspflicht unterliegt.96 Sekundärrechtsakte der Union enthalten immer häufiger Vorgaben zum Verwaltungsverfahren und zur Verwaltungsorganisation. Doch die Verwaltungswirklichkeit zeichnet inzwischen ein noch bunteres Bild. Häufig kommt es zur Aufgabenteilung und -verschränkung zwischen den Ebenen. In diesen Teilungs- und Verschränkungsvorgängen Regelmäßigkeiten zu entdecken und zu benennen, ist eine Aufgabe der (europäischen) Verwaltungsrechtswissenschaft. War zunächst vor allem von „europäischer Verwaltungskooperation“ die Rede, so ist in Fortentwicklung des Kooperationsgedankens seit längerem der Aufstieg der Idee des „Europäischen Verwaltungsverbunds“ zu beobachten.97

IV. Entwicklungen der Staatsorganisation Föderalismus und Regionalismus entwickeln sich immer sichtbarer und wirkungskräftiger zu einem Strukturelement des „Idealtypus Verfassungsstaat“. Das Problem liegt in der Vielfalt der Erscheinungsformen vertikaler Gewaltenteilung, die zugleich kulturelle Vielfalt ermöglichen soll, aber auch in der Erarbeitung ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede.98 Das Erstarken der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, insbesondere die Autonomiestatute des Baskenlandes, Kataloniens, Galiziens wie auch Andalusiens, sowie die „Kleine Versammlung“ der fünf (von insgesamt zwanzig) italienischen Regionen mit Sonderstatut deuteten lange Zeit auf eine präföderale Entwicklung hin,99 bergen in Spanien aber 95 Vgl. de Pretis, Diaria, Denationalisierung der öffentlichen Verwaltung: Europäisierung und Internationalisierung der öffentlichen Verwaltung. in: Fraenkel-Haeberle / Galetta / Sommermann (Fn. 91), S. 15 (17 ff.). 96 Vincze, Attila, Europäisierung des nationalen Verwaltungsrechts  – eine rechtsvergleichende Annäherung, ZaöRV 77 (2017), 235 ff. 97 Schoch, Friedrich, Die Europäisierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts und der Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung, Beiheft 2/1999, S. 135 ff.; Britz (Fn. 93), S. 46; Schneider, Jens-Peter / Velasco Caballero, Francisco (Hrsg.), Strukturen des Europäischen Verwaltungsverbunds, Die Verwaltung, Beiheft Bd. 8/2009. 98 Vgl. Häberle, Peter, Föderalismus, Regionalismus und Präföderalismus als alternative Strukturformen der Gemeineuropäischen Verfassungskultur, in: Härtel, Ines (Hrsg.), Handbuch Föderalismus  – Föderalismus als demokratische Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutschland, Europa und der Welt, Bd. I, 2012, § 10 Rn. 1 und 3.  99 Blanke, Hermann-Josef, Föderalismus und Integrationsgewalt, 1990, S. 119, 166, 358–370, sprach vor dreißig Jahren hinsichtlich Spaniens von einer präföderalen Staatsorganisation, mit

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inzwischen angesichts der Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens die Gefahr des Verlustes der staatlichen Einheit.100 Grundlage des italienischen Regionalismus ist Art. 5 ItV, der ein Gleichgewicht zwischen Unteilbarkeit der Republik und Anerkennung sowie Förderung regionaler und lokaler Autonomien vorschreibt und damit ein Spannungsverhältnis schafft. Gemäß Art. 114 ItV bilden „Gemeinden, Provinzen, Großstädte mit besonderem Status, Regionen und Staat […] die Republik. Gemeinden, Provinzen, Großstädte mit besonderem Status und Regionen sind autonome Körperschaften mit eigenen Statuten, Befugnissen und Aufgaben gemäß den in der Verfassung verankerten Grundsätzen.“ Als Ergebnis der sog. „Föderalismusreform“101 ist für Italien festzustellen, dass vor allem die Kompetenzverteilung zwischen Staat und Regionen geändert wurde. Art. 117 ItV enthält kraft des Verfassungsgesetzes Nr. 3/2001 Listen der ausschließlich staatlichen und der konkurrierenden Kompetenzbereiche (in letzteren können die Regionen nur im Rahmen staatlich festgelegter Grundsatzgesetzgebung tätig werden). Die Residualkompetenz liegt nicht mehr beim Staat, sondern bei den Regionen. Verwaltungszuständigkeiten folgen nicht mehr den Gesetzgebungskompetenzen, sondern werden entsprechend den in Art. 118 ItV genannten Kriterien („Subsidiarität, Differenzierung und Angemessenheit“) flexibel zugewiesen. Die seinerzeit neugefasste Vorschrift über den Finanzföderalismus (Art. 119) erlaubt partielle Finanzautonomie subnationaler Körperschaften. Die Präventiv­kontrolle regionaler Gesetze in Form eines Zustimmungsbedürfnisses der staatlichen Regierung wurde abgeschafft: Staat und Regionen sind seither – jedenfalls nach dem Wortlaut des Verfassungstextes – bei der Gesetzgebung gleichgestellt. Ersetzungsbefugnisse des Staates, etwa im Falle regionaler Untätigkeit bei der Umsetzung völkerrechtlicher oder europarechtlicher Verpflichtungen, stehen unter dem Vorbehalt ihrer Ausübung im Sinne einer loyalen Zusammenarbeit, weshalb der Zentralstaat zu einer Abstimmung mit den Regionen verpflichtet ist. Von zentraler Bedeutung Blick auf Belgien damals noch von einer quasi-föderativen Staatsordnung, bezogen auf Spanien, Belgien sowie Italien von einem „politischen Föderalismus“; vgl. auch Häberle (Fn. 80), S. 252 f., 256 ff., Rn. 5, 10 ff., der im Jahr 2009 hinsichtlich Spaniens und Italiens von „prä­ föderalen“ Gebilden spricht. Andere (Fn. 42) kennzeichnen die spanische Staatsorganisation als „devolutiv“. 100 Vgl. etwa Aschmann, Birgit, in diesem Band. 101 Vgl. zur nachfolgenden Darstellung Woelk, Jens, Föderalismus und Regionalismus, Adenauer- Stiftung, 2009, verfügbar unter: https://www.kas.de/de/web/europa/ Konrad-​ regionalismus-und-foederalismus-in-italien. Zum Entwurf des am 25.3.2004 vom italienischen Senat beschlossenen Verfassungsgesetzes Nr. 2544 vgl. Mangiameli, Stelio, Der italienische Föderalismus nach Lorenzago, in: Blanke, Hermann-Josef / Schwanengel, Wito (Hrsg.), Zustand und Perspektiven des deutschen Bundesstaates, 2005, S. 201 (203 ff.). Verfassungsgesetze (leggi costituzionali) werden gemäß Art. 138 Abs. 1 ItV mit absoluter Mehrheit der Mitglieder beider Kammern angenommenen und unter den in Art. 138 Abs. 2 ItV normierten Voraussetzungen einem Referendum unterworfen. Das Verfassungsgesetz Nr. 2544 ist im Referendum vom 25./26. Juni 2006 abgelehnt worden.

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ist insoweit das Institut des „Einvernehmens“, das dem Staat, also der nationalen Regierung, aufgibt, Verhandlungen mit den Regionen innerhalb eines „Konferenzsystems“ zu führen.102 In diesen Neuerungen drückt sich die Auffassung einer Gleichstellung von Staat und Regionen im Sinne funktionaler statt hierarchisch gegliederter Kompetenzbereiche aus. Italienische Regionen sind, so ist resümiert worden, seit der Jahrtausendwende keine rein administrativ-dezentralen Untergliederungen mehr, sondern subnationales Teilgebiet sui generis. Der Regionalismus stellt sich dabei als System abgestufter und limitiert übertragener Staatsgewalten dar. Es handelt sich um eine Staatsstruktur, die das Bild einer asymmetrischen Regionalisierung zeigt, aber weiterhin durch unitarische Tendenzen gekennzeichnet ist. Im Ergebnis ist diese Prägung des Regionalismus ein eigenständiges Strukturelement eines Staates, das zwischen Dezentralismus und Föderalismus zu verorten ist.103 Da die von M.  Renzi angestoßene Verfassungsreform im Referendum vom 4.12.2016 gescheitert ist, stellt die fehlende Garantie institutioneller Mitwirkung der Regionen auf gesamtstaatlicher Ebene weiterhin eines der strukturellen Grundprobleme der italienischen Staatsorganisation dar. Der Senat sollte als nachgeordnete zweite Kammer erheblich geschwächt und seine Rolle im Gefüge der Staatsorgane verändert werden, indem er durch 95 Mitglieder aus den Regionen besetzt werden sollte.104 Die Reform des perfekt symmetrischen italienischen Zweikammersystems105 steht daher weiterhin aus. Die Autonomien Spaniens, die sich unter Übernahme eines jeweils ganz unterschiedlichen „individuellen“ Maßes an Kompetenzen konstituieren können (Art. 146 ff. SpV  – „asymmetrischer Föderalismus“) besitzen ebenfalls keine Staatsqualität.106 Es handelt sich um eine zwischen dem Staat und der jeweiligen Gemeinschaft im Rahmen der Verfassung „paktierte Autonomie“. Das Autonomiestatut stellt die oberste autonome Rechtsquelle dar und wird im Rechtsquel-

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Vgl. Repetto, Giorgio, in diesem Band. Vgl. Bergner, Lutz, Der italienische Regionalismus. Ein Rechtsvergleich mit dezentralen und föderalen Systemen, insbesondere mit dem deutschen föderativen System, 2008; Mangiameli (Fn. 101), S. 234, kam bereits im Jahr 2004 anlässlich der Analyse des – erst später im Referendum gescheiterten – Verfassungsgesetzes Nr. 2544 zu dem Ergebnis, dass auch die Verfassungsgesetze Nr. 1/1999 und Nr. 3/2001 „der Italienischen Republik nicht den Charakter einer föderalen Ordnung [verleihen], sie somit weiterhin die Züge eines unitarischen Staates mit regionaler Dezentralisierung trägt.“ 104 Zum Sachstand der damaligen Reformpläne vgl. Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Das italienische Verfassungsreferendum am 4.12.2016. Aspekte der geplanten Verfassungsreform, WD 3 – 3000 – 223/16, S. 5. 105 Vgl. Hornig, Eike-Christian, Der Senat in Italien  – Eine Zweite Kamer mit föderaler Zukunft?, in: Riescher, Gisela / Ruß, Sabine / Haas, Christoph M. (Hrsg.), Zweite Kammern, 2. Aufl., 2010, S. 267 ff. 106 Vgl. Span. Verfassungsgericht, Urteil 31/2010 v. 28.6.2020, BOE Nr. 172 v. 16.7.2010, Rn. 12. 103

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lensystem den „Organgesetzen“ des Staates zugeordnet. In dieser Doppelfunktion sehen Kritiker eine der Problematiken der gegenwärtigen Territorialverfassung Spaniens und empfehlen, den Autonomiestatuten den Rang der Verfassungen der Gliedstaaten in föderalen Systemen zu geben – unter Verzicht auf alle Regelungen über die Kompetenzverteilung.107 Spanien ist als ein Staat mit föderaler Struktur, aber ohne föderale Kultur bezeichnet worden (Luis Moreno Campo). Die nationale Debatte über einen Übergang vom „Autonomiestaat“ zu einem wirklich föderalen Staat zentriert in der Frage der künftigen Verteilung der Kompetenzen zwischen dem Staat und den dezentralisierten Gebietskörperschaften und somit in einer Reform der Verfassungsbestimmungen über die Kompetenzverteilung, also des Katalogs von Zuständigkeiten, die von den Autonomen Gemeinschaften übernommen werden können (Art. 148 SpV), und der ausschließlichen Kompetenzen des Staates (Art. 149 SpV).108 Spanische Verfassungs- und Verwaltungsrechtler haben dem spanischen Verfassunggeber empfohlen, „instrumentelle Techniken und Lösungen zu nutzen, die in europäischen föderalen Ordnungen zur Anwendung [gelangen], um das Funktionieren der in die Verfassung von 1978 aufgenommenen Institutionen zu verbessern“. Ohne Bundesstaatlichkeit anzustreben, kommen insoweit vor allem solche in Betracht, „die die Integration mittels der Beteiligung der [autonomen] Gebietskörperschaften an den sie betreffenden Entscheidungen gewährleisten“. Zudem wird vorgeschlagen, in der gesamtstaatlichen Verfassung ein abschließendes Kompetenzverteilungssystem zu verankern.109 Der spanische Senat entspricht nicht den Erfordernissen eines dezentralisierten Staates, da er nicht in einer sichtbaren Weise die Interessen der eigentlichen Gebietskörperschaften Spaniens, also der Autonomen Gemeinschaften, vertritt. Als „Kammer der territorialen Repräsentation“ ist er überwiegend mit Vertretern der Provinzen besetzt (Art. 69 SpV). In der Vergangenheit wurde oftmals der deutsche (Art. 50, 51 GG) oder österreichische (Art. 34–37 Österr. Verf.) Bundesrat als ein Modell für die Reform des spanischen Senats angesehen. Inzwischen ist aber auch der Rat der Europäischen Union als Orientierungspunkt genannt worden. Der Senat wäre nach diesen Vorstellungen das Vertretungsorgan der Präsidenten der Regierungen der Autonomen Gemeinschaften.110 Unabhängig von der Ausrichtung an bestehenden Institutionen dürfte es für die Reform des spanischen Senats entscheidend sein, ob den Autonomien eine Betei 107

Vgl. Muñoz Machado, Santiago / Aja Fernández, Eliseo / Carmona Contreras, Ana et al., Ideas para una reforma de la Constitución, Madrid 2017, Punkt 14.  108 Vgl. dies. (Fn. 107), Punkt 15. 109 Vgl. dies. (Fn. 107), Punkte 13 und 15. 110 Vgl. Sosa Wagner, Francisco, Stellungnahme vom 31.1.2018, in: Congreso de los Diputados, Comisiones, núm. 424, de 31/01/2018, S. 28 ff; verfügbar unter http://www.congreso. es/portal/page/portal/Congreso/PopUpCGI?CMD=VERLST&BASE=pu12&FMT=PUWTX DTS.fmt&DOCS=1-1&QUERY=%28DSCD-12-CO-424.CODI.%29#(P%C3%A1gina27.

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ligung an der Verabschiedung grundlegender Gesetze des Gesamtstaates in einem künftigen Senat zugestanden wird111 oder sich das Zustimmungserfordernis nur auf solche Gesetze beziehen wird, welche die rechtlichen Interessen dieser Gemeinschaften berühren.112 Im letzteren Fall hätten sie nur ein Recht zum „Einspruch“, der mit der einfachen Mehrheit der Stimmen des Parlaments (Congreso de los Diputados) zurückgewiesen werden könnte. In jedem Fall würde es eine solche Beteiligung der autonomen Gebietskörperschaften erforderlich machen, dass ihre jeweiligen Kompetenzkataloge harmonisiert werden und der asymmetrische spanische Föderalismus so an Symmetrie gewinnt. Zugleich ist zu entscheiden, ob der künftige Senat ein Organ der Repräsentation unmittelbar vom Volk gewählter Vertreter oder ein Organ der Vertretung der Regierungen der Autonomien werden soll.113 Nichts ist so häufig am Grundgesetz geändert worden wie jene Artikel, die die Beziehungen zwischen Bund und Ländern ausgestalten. Von den 63 Grundgesetzänderungen und -ergänzungen betrafen 36 Bestimmungen des Grundgesetzes über den Bundesstaat. Bereits die letzte große deutsche Föderalismus-Reform I (2003 und 2004) und II (2007 bis 2009)114 stand vor dem folgenden Befund:115 (1) Der Bund nimmt seine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz so exzessiv in Anspruch, dass den Ländern zu wenig Raum für Eigengestaltung bleibt. Die Einführung der „Erforderlichkeitsklausel“ als Voraussetzung für die Ausübung der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit sowie die Ersetzung des Ziels der „Einheitlichkeit“ durch die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Wege der Verfassungsreform 1994 (Art. 72 Abs. 2 GG) hatte im Ergebnis wenig geändert.116 Auch das mit der Föderalismusreform 2006 eingeführte Recht der Länder, von Bundesregelungen abweichende Regelungen zu treffen (Art. 72 Abs. 3 GG) oder Bundesgesetze, die nicht dem Kriterium der Erforderlichkeit nach Art. 72

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Für eine solche Ausgestaltung des Senats im Sinne eines Beteiligungsföderalismus zugunsten der Autonomen Gemeinschaften plädieren Muñoz Machado, Santiago / Aja Fernández, Eliseo / Carmona Contreras, Ana et al. (Fn. 107), Punkt 15.  112 Hierfür plädiert Porras, José M., in diesem Band, sub III. 113 Im Sinne der ersten Option spricht sich Porras, José M., in diesem Band, sub III., aus. 114 Zur Dokumentation der Ergebnisse vgl.: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung. Zur Sache 1/2005. Berlin 2005; Deutscher Bundestag (Hrsg.), Die gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Die Beratungen und ihre Ergebnisse, Bonn / Berlin 2010. 115 Vgl. hierzu Schäuble, Wolfgang, Reform oder Niedergang? Zur Entwicklung des Födera­ lismus unter dem Grundgesetz“, Vortrag vom 10.11.2018; verfügbar unter https://www. bundestag.de/parlament/praesi6dium/reden/019-578542. Zahlreiche Elemente dieses Gesamtbefundes finden sich bereits bei Blanke (Fn. 99), S. 52 ff.; grundlegend Oeter, Stefan, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, insbes. S. 157 ff, 318 ff. 116 Zur Justitiablilität dieser Bestimmung vgl. Neumeyer, Christoph, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel für die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes (Art. 72 Abs. 2 GG), 1999.

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Abs. 2 GG entsprechen, durch Landesrecht zu ersetzen (Art. 72 Abs. 4 GG), haben das föderale Selbstbewusstseins der Länder nicht beflügelt.117  (2) Das Grundgesetz räumt den Ländern im „kooperativen Föderalismus“ als der spezifisch deutschen Form der Bundesstaatlichkeit überall dort ein Mitspracherecht ein, wo ihre Interessen durch Bundesgesetzgebung berührt werden. Hierdurch hat sich die politische Wirksamkeit der Länder auf den Bundesrat verlagert, wo sie Einfluss auf die Angelegenheiten des Bundes nehmen. Dies bedeutet: Beteiligung statt Gestaltung. Denn ein Mehr an Eigenständigkeit der Länder geht damit gerade nicht einher.  (3) Was nicht seitens des Bundesgesetzgebers vereinheitlicht wird, unterziehen die Länder häufig einer freiwilligen Angleichung: in den Ministerpräsidentenkonferenzen, in den Fachministerkonferenzen (etwa: Kultusministerkonferenz) und in zahlreichen Koordinierungsgremien auf Beamtenebene. Diese sogenannte „dritte Ebene“ ist vom Grundgesetz nicht vorgesehen und führt mitunter in die „Politikverflechtungsfalle“ (F.  Scharpf)  sowie in eine intransparente föderale Finanzverflechtung. Alle sind für alles zuständig und niemand für irgendetwas verantwortlich, wie es die trotz oder wegen der Koordinierung innerhalb der „Innenministerkonferenz“ unzureichende präventive Umsetzung der Katastrophenschutzpläne durch die deutschen Länder anlässlich der Corona-Pandemie beweist (Schutzausrüstung).118 Die Föderalismusreform scheiterte sowohl hinsichtlich der Neugestaltung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern als auch etwa mit ihrem Versuch, den Bildungsföderalismus neu zu ordnen. Einen Beleg für die Sprunghaftigkeit von Bund und Ländern bei der Verteilung von Zuständigkeiten und finanziellen Lasten – wenn nicht sogar für eine gewisse Orientierungslosigkeit – bildet die Bildungspolitik. War auf Empfehlung der Föderalismuskommission I eine Entflechtung bei der Erfüllung dieser Aufgabe grundgesetzlich verankert worden,119 wurde sodann diese Entflechtung durch zwei Verfassungsreformen wieder „gelockert“: So wurde etwa mit Artikel 104c GG bereits durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 13.7.2017 ein Schritt hin zu einer stärkeren Unterstützung der 117

Vgl. etwa die bisher von neun deutschen Ländern erlassenen Gaststättengesetze. Der Katastrophenschutz fällt anders als der Schutz der Zivilbevölkerung (Art. 73 Abs. 1 Ziff. 1 GG) in die Zuständigkeit der deutschen Länder (Landeskatastrophenschutzgesetze). 119 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 22, 23, 33, 52, 72, 73, 74, 74a, 75, 84, 85, 87c, 91a, 91b, 93, 98, 104a, 104b, 105, 107, 109, 125a, 125b, 125c, 143c) v. 28.8.2006, BGBl. I S. 2034  – hier relevanter Inhalt: Reform der Gesetzgebungskompetenz durch Abschaffung der Rahmengesetzgebung und Neuordnung des Katalogs der konkurrierenden Gesetzgebung, klarere Zuordnung der Finanzverantwortung durch Abbau von Mischfinanzierungen und Neufassung der Möglichkeiten für Finanzhilfen des Bundes. Zum Kernanliegen der „Entflechtung“, das die im Herbst 2003 eingesetzte „Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ verfolgte, vgl. etwa Huber, Peter M., Föderalismusreform I – Versuch einer Bewertung, in Durner, Wolfgang / Peine, Franz-Joseph (Hrsg.), Reform an Haupt und Gliedern, Symposium aus Anlass des 65. Geburtstages von Hans-Jürgen Papier, 2009, S. 29 ff. 118

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kommunalen Bildungsinfrastruktur gemacht.120 Seitdem ermöglicht es der Sondertatbestand des Artikels 104c GG dem Bund, die aus gesamtstaatlicher Sicht dringend notwendige Sanierung und Modernisierung der schulischen Gebäudeinfrastruktur in finanzschwachen Kommunen gezielt mit Bundesmitteln zu unterstützen. Sodann erschien dem Verfassunggeber noch eine zweite Rolle rückwärts erforderlich, um Länder und Kommunen bundesweit und unabhängig vor einer kommunalen Finanzschwäche dort zu schützen, wo sie mit ihren Investitionen in die kommunale Bildungsinfrastruktur vor besonderen Herausforderungen stehen, insbesondere beim flächendeckenden Ausbau der Ganztagsschul- und Betreuungs­ angebote sowie bei der Bewältigung der Herausforderungen, die die Digitalisierung in allen Lebensbereichen für das Bildungswesen mit sich bringt („Digitalpakt“).121 Der Bund kann infolgedessen Finanzhilfen nicht nur „für gesamtstaatlich bedeutsame Investitionen“, sondern auch für die „mit diesen verbundenen besonderen unmittelbaren Kosten der Länder und Gemeinden“ gewähren. Die Aufweichung des Trennungsprinzips und der damit verbundene Zentralisierungsschub sind kritisiert worden, weil sie von einer klaren Aufgabenzuweisung im föderalen System wegführe.122

V. Die nationalen Finanzverfassungen: Die Instrumente des Finanzausgleichs und das Prinzip der Solidarität Das Finanzrecht ist mehr als ein bloßes Instrument der Mittelbeschaffung eines Gemeinwesens.123 Finanzverfassung ist „Spiegelbild der Staatsverfassung, der Staatsform und der Grundkonzeption der Staatszwecke“.124 Das Finanzrecht enthält auch materielle Wertentscheidungen, da Finanzfragen zugleich Machtfragen sind. Die Verfügungskompetenz über Finanzmittel eröffnet Möglichkeiten, durch Mitteleinsatz zu gestalten und Aufgaben zu erfüllen. Nirgends tritt der föderative Charakter eines Bundesstaates klarer hervor als in der eifersüchtig von den Gliedern verteidigten eigenen Finanzhoheit. Haushalt und Finanzen bilden somit 120 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 90, 91c, 104b, 104c, 107, 108, 109a, 114, 125c, 143d, 143e, 143f, 143g) v. 13.7.2017, BGBl. I S. 2347 – hier relevanter Inhalt: Verbesserung der Erledigung der staatlichen Aufgaben in der föderalen Ordnung: Forschungsförderung, Prüf- und Kontrollrechte bei Mitfinanzierung von Länderaufgaben. 121 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 104b, 104c, 104d, 125c, 143e) v. 28.3.2019, BGBl. I S. 404 – hier relevanter Inhalt: Aufhebung der Beschränkung der Finanzhilfekompetenz des Bundes zur Mitfinanzierung von Investitionen auf finanzschwache Kommunen, damit Erweiterung der Möglichkeit des Bundes zur Unterstützung von Ländern und Kommunen bei Investitionen in kommunale Bildungsinfrastruktur. 122 Vgl. Deutscher Bundestag, Antrag der AfD-Fraktion, Bildungsföderalismus stärken, Drs. 19/4543 v. 26.9.2018; Schwager, Robert, Bildungsföderalismus für mündige Bürger, ifo Schnelldienst 3/2019, S. 15 ff. 123 Waldhoff, Christian, Reformperspektiven im Finanzrecht – ein Überblick, Die Verwaltung 39 (2006), S. 155 f. 124 Schmölders, Günter, Finanzpolitik, 2. Aufl., 1965 (Nachdruck 2007), S. 22.

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auch wesentliche Steuerungsressourcen des modernen Verwaltungsrechts.125 Die Finanzverfassung ist ein geschlossenes System; sie enthält nicht nur abschließende Regelungen über die Finanzierungslasten, sondern legt mit Anspruch auf Ausschließlichkeit zugleich die Finanzierungsbefugnisse fest. Die Aufgabenfinanzierung ist, wie alle drei Verfassungsordnungen belegen, kompetenzrechtlich relevantes Staatshandeln. Im Bundesstaat steht die damit verbundene Aufgabetrennung zwischen Bund und Gliedern ex definitione unter dem Grundsatz der Subsidiarität (Art. 30 GG als „Auslegungsregel“). Nur in einem scheinbaren Widerspruch hierzu steht der Befund, dass die (deutsche) Finanzverfassung ein „Extremfall der ‚Politikverflechtung‘“ darstellt.126 Das Grundgesetz normiert in Art. 104a ff. GG nach herkömmlicher Diktion einen Eckpfeiler der bundesstaatlichen Ordnung. Daher ist die Finanzverfassung eng mit dem Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs.1 GG) verwoben und enthält hierdurch wichtige Impulse, insbesondere im Bereich bundesstaatlicher Beistandspflichten. Das finanzpolitische Instrument der Solidarität im Bundesstaat ist der Finanzausgleich (Art. 105–107 GG).127 In ihm verwirklicht sich ein bündisches Prinzip des Einstehens füreinander. Er verpflichtet die Bundesländer „ungeachtet ihrer Eigenstaatlichkeit und finanziellen Selbständigkeit zu gewissen Hilfeleistungen an andere, finanziell leistungsschwache Länder“.128 Der Finanzausgleich knüpft an die Verteilung der Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen an und versucht die konkurrierenden und widerstreitenden Ansprüche und Bedürfnisse der öffentlichen Haushalte auf den verschiedenen Ebenen des Bundestaates aufeinander abzustimmen („Verbundföderalismus“). In Deutschland erfolgt die Verteilung der Einnahmen zunächst zwischen den Ebenen des Gesamtstaates und der Gliedstaaten durch den vertikalen Finanzausgleich. Dieser Ausgleich ist die Konsequenz aus der verfassungsrechtlichen Verteilung der Aufgaben und Kosten nach Art.104a GG, zu der spiegelbildlich eine entsprechende Finanzausstattung korrespondieren muss. Die Länder stehen dem Zentralstaat dabei als Gesamtheit gegenüber, ohne Rücksicht auf die spezifischen Bedürfnisse einzelner Gliedstaaten. 125

Vgl. hierzu Birk, Steuerung der Verwaltung durch Haushaltsrecht und Haushaltskontrolle, DVBl.1983, 865 ff.; Kirchhof, Ferdinand, Das Haushaltsrecht als Steuerungsressource, Neue Steuerungstechniken im Staatshaushalt zum Abbau eines strukturellen Defizits, DÖV 1997, S. 749 ff.; Kirchof, Paul, Die Steuerung des Verwaltungshandelns durch Haushaltsrecht und Haushaltskontrolle, NVwZ 1983, S. 505 ff.; Schuppert, Gunnar Folke, Die Steuerung des Verwaltungshandelns durch Haushaltsrecht und Haushaltskontrolle, VVDStRL 42 (1983), S. 216 f.; Schmidt-Aßmann, Eberhard, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, S. 22 ff., 85 f., 372 ff. 126 Oeter (Fn. 115), S. 507 ff. 127 Häde, Ulrich, Finanzausgleich – Die Verteilung der Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen im Recht der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, Tübingen 1996, S. 16 ff.; Korioth, Stefan, Die Länder in der Finanzverfassung des Grundgesetzes, in: Schweisfurth, Tilman / Voß, Wolfgang (Hrsg.): Haushalts- und Finanzwirtschaft der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 2017, S. 53 ff. 128 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats v. 19.10.2006 (2 BvF 3/03), BVerfGE 72, 330 (386 f.) – Finanzausgleich I.

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Zwischen den rechtlich gleichgestellten Ländern erfolgt die Verteilung der Finanzen durch den horizontalen Finanzausgleich (Länderfinanzausgleich).129 Durch den vertikalen und horizontalen Finanzausgleich wird eine weitgehende Nivellierung der Unterschiede in der Finanzkraft der Haushalte der Länder herbeigeführt. Die Schlüsselbegriffe des grundgesetzlich normierten Finanzausgleichs (Art. 107 Abs.2 GG) lauten Finanzkraft und Finanzbedarf. Die Finanzkraft umfasst sämtliche, die finanzielle Leistungsfähigkeit begründenden laufenden und insoweit ausgleichsrelevanten Einnahmen. Der Begriff ist mithin umfassend zu verstehen.130 Er darf nicht allein auf die Steuerkraft reduziert werden, sondern meint grundsätzlich alle Finanzmittel eines Landes. Diese „individuelle“ Finanzkraft ist bestimmend für den Umfang und zugleich Maßstab des Länderfinanzausgleichs. Funktionen solidarischer Lastenverteilung sind nach Art.107 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG jedoch ausschließlich der (nicht-konsensualen) Regelung durch Bundesgesetz im sekundären vertikalen und sekundären horizontalen Finanzausgleich als dem zentralen bundesstaatlichen Umverteilungsinstrument zugewiesen. Art. 107 Abs. 2 GG, der die Korrektur und Umverteilung der Ergebnisse der originären Steuerverteilung durch Länderfinanzausgleich und Bundesergänzungszuweisungen regelt, wurde anlässlich einer umfangreichen Verfassungsreform im Jahr 2017 geändert.131 Die Aufgabe der angleichenden Umverteilung zur Annäherung der Finanzkraft übernehmen hiernach Zuschläge und Abschläge im Rahmen der Umsatzsteuerverteilung (Art. 107 Abs. 2 Satz 2 GG). Dies ist zum Teil als „Wegfall des Länderfinanzausgleichs“,132 zum Teil als Fortgeltung „der das Finanzausgleichsrecht beherrschenden Grundsätze aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“133 bewertet worden. Der direkte horizontale Finanzausgleich zwischen den Ländern („Geber- und Nehmerländer“) ist jedenfalls entfallen. 129

Häde (Fn. 127), S. 208 ff. (Horizontale Einnahmeverteilung zwischen den Ländern), 268 ff. (Einfachgesetzliche Regelungen der horizontalen Korrektur), 481 ff. (Horizontale Umverteilung). 130 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats v. 19.10.2006 (2 BvF 3/03), BVerfGE 72, 330 (397) – Finanzausgleich I. 131 Fassung aufgrund des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 90, 91c, 104b, 104c, 107, 108, 109a, 114, 125c, 143d, 143e, 143f, 143g) v. 13.07.2017, BGBl. I S. 2347. 132 Vgl. etwa Korioth, Stefan, Stellungnahme zum Entwurf der Bundesregierung vom 13. Februar 2017 zu einem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes, Bundestags-Drs. 18/11131, S. 2, der dies vor allem aus der Umwandlung des bisher vierstufigen in ein dreistufiges System der Finanzverteilung infolge der Reform 2017 schließt; verfügbar unter https://www.bundestag.de/ resource/blob/498212/f294e8b4b115ae2317473e9b0b19602f/prof--dr--stefan-korioth-data.pdf. 133 Vgl. Häde, Ulrich, Abschied vom geschwisterlichen Finanzausgleich? Die Länder einigen sich – der Bund soll zahlen, in: Junkernheinrich, Martin / Korioth, Stefan / Lenk, Thomas / Scheller, Henrik / Woisin, Matthias (Hrsg.), Verhandlungen zum Finanzausgleich, Jahrbuch für öffentliche Finanzen 1–2016, S. 111 ff. In der Anhörung durch den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages am 20.3.2017 führte Häde aus, dass „der umverteilende Ausgleich zwischen den Ländern seine Funktion als horizontalausgleichendes Element behalten soll“; so wiedergegeben in: Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Vereinbarkeit der BundLänder-Finanzreform mit dem Bundesstaatsprinzip, WD 4 – 3000 – 060/17, S. 7 f.

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Durch die rechtlichen Regeln des Finanzausgleichs erhalten politische Kooperation und Auseinandersetzung der Glieder des föderalen Staatsverbandes Rahmen und Form.134 Ziel des Finanzausgleichs ist der angemessene Ausgleich unterschiedlicher Finanzkraft der Glieder einerseits und der solidargemeinschaftlichen Mitverantwortung für die Existenz und Eigenständigkeit der Bundesgenossen andererseits.135 Dabei ist „die richtige Mitte zu finden zwischen der Selbständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Bewahrung der Individualität“ der Glieder auf der einen und „der solidargemeinschaftlichen Mitverantwortung für die Existenz und Eigenständigkeit der Bundesgenossen“ auf der anderen Seite.136 In der deutschen Rechtsordnung ist Solidarität als ein bundesstaatlicher Grundsatz auch hinsichtlich der Verletzung von supra- oder internationalen Vertrags- und Loyalitätspflichten seitens Deutschlands normiert,137 etwa bei mangelhafter oder unterlassener Umsetzung von Richtlinien.138 Nach Art.104a Abs. 6 GG trägt die Ländergesamtheit „in Fällen länderübergreifender Finanzkorrekturen der Europäischen Union“, etwa wegen fehlerhafter Verausgabung von EU-Mitteln, solidarisch einen Teil der Lasten (35 %). Darüber hinaus regelt Art. 109 Abs. 5 S.2 GG die Lastentragung der Länder untereinander (35 %) bei Sanktionsmaßnahmen der Europäischen Union im Fall einer Verletzung der sich aus dem Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt ergebenden Verpflichtungen. Auch diese erst anlässlich der Föderalismusreform 2006 in das Grundgesetz eingefügten Regelungen zur finanziellen Lastenverteilung zwischen den Ländern (horizontale Haftungsverteilung) belegen, dass der Gesamtstaat eine Solidareinheit bildet, in die die Länder integriert sind. Durch das Gesetz zur Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichsystems,139 das der Bundesgesetzgeber auf der Grundlage des reformierten Art. 107 Abs. 2 GG erlassen hat, wurden mit Wirkung ab 2020 die Bund-Länder-Finanzbeziehungen reformiert. Der solidarische Länderfinanzausgleich ist in die Regelungen über die primäre Mittelzuweisung an die Länder, gespeist aus dem Aufkommen der Umsatzsteuer, integriert worden,140 wobei die Ausgleichspflicht nicht auf den 134 Vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats v. 19.10.2006 (2 BvF 3/03), BVerfGE 72, 330 (386, 389) – Finanzausgleich I mit Blick auf Art.107 Abs.2 GG. 135 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats v. 19.10.2006 (2 BvF 3/03), BVerfGE 72, 330 (396, 398) – Finanzausgleich I. 136 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats v. 19.10.2006 (2 BvF 3/03), BVerfGE 72, 330 (398) – Finanzausgleich I. 137 Vgl. Hellmann, Johannes, in: Huber, Peter Michael / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), v. Mangoldt / Kein / Starck, GG – Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 104a Rn. 194 ff. 138 Vgl. Häde (Fn. 127), S. 132 ff. 139 Vgl. Gesetz zur Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems ab dem Jahr 2020 und zur Änderung haushaltsrechtlicher Vorschriften, BGBl. I 2017, S. 3122. 140 Vgl. Art. 107 Abs. 2 Satz 2 GG i. V. m. § 5 Abs. 2 Satz 3 des Gesetzes über verfassungskonkretisierende allgemeine Maßstäbe für die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens, für den Finanzausgleich unter den Ländern sowie für die Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen (MaßStG – 2017) und §§ 4 ff. Finanzausgleichsgesetz (2017).

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Länderanteil am Aufkommen der Umsatzsteuer begrenzt ist.141 Zugleich werden die vertikalen Mittelflüsse des Bundes an die Länder ausgebaut, sowohl im Rahmen des Finanzausgleichs als auch jenseits hiervon. Diese Vertikalisierung der Finanzbeziehungen führt zu einer weiteren Zentralisierung der Entscheidungsgewalt, die Fehlanreize im Hinblick auf die finanzielle Eigenverantwortung der Länder hervorrufen kann. Solche Tendenzen werden durch ergänzende Kompetenzverlagerungen auf den Bund, so in den Bereichen der Bundesautobahn- und der Steuerverwaltung, der digitalen Infrastrukturen und der Finanzaufsicht, noch verstärkt.142 Ein vom Staat verwalteter Solidaritätsfonds (Fondo di solidarietà nazionale) bildet in Italien das Instrument, „um die wirtschaftliche Entwicklung, den sozialen Zusammenhalt und die soziale Solidarität zu fördern, wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten zu beseitigen, die effektive Ausübung der Rechte des Einzelnen zu fördern oder andere Zwecke zu erfüllen, die nicht jenen der ordentlichen Ausübung ihrer Befugnisse entsprechen.“143 Er findet seit der Verfassungsreform 2001 seine Grundlage in der Bestimmung des Art. 119 Abs. 5 ItV,144 die dem Staat indes nur den allgemeinen Auftrag erteilt, „zusätzliche Mittel“ zu bestimmen und „besondere Maßnahmen“ zu treffen.145 Zugleich verfügt die Verfassung die Einführung eines „Ausgleichsfonds ohne Zweckbindung […] für Gebiete mit geringerer Steuerkraft pro Einwohner“ (Art. 119 Abs. 2 ItV). Er ist Bestandteil eines umfassenderen Ausgleichsfonds, der zwei Sektionen aufweist: (1) Finanzierung von Kernaufgaben im gesamten Staatsgebiet wie Gesundheitswesen, Bildung, Wohlfahrt und öffentlicher Personennahverkehr etc. ohne Berücksichtigung der Steuerkraft sowie (2) Finanzierung von anderen Aufgaben, namentlich in den Bereichen von Verwaltung, Berufsausbildung, Umweltschutz etc., mit dem ausschließlichen Zweck, die Unterschiede der Steuerkraft der Regionen auszugleichen (bis zu 75 % des nationalen Durchschnitts). Die Bedingungen und Voraussetzungen der Vergabe der Mittel dieser beiden Fonds werden mit dem Ziel des Finanzausgleichs (perequazione finanziaria) vom staatlichen Gesetzgeber (Art. 117 Abs. 2 lit. e ItV) für einen

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Vgl. § 8 MaßStG 2017. Kritisch Kube, Hanno, Schleichender Abschied vom Föderalismus? Die Reform der BundLänder-Finanzbeziehungen im Jahr 2017, in: Zohlnhöfer, Reimut / Saalfeld, Thomas (Hrsg.), Zwischen Stillstand, Politikwandel und Krisenmanagement, 2017, S. 373 ff.; unmissverständlich äußert sich auch Schäuble (Fn. 115): „Die Mehrheit der Länder […] wollte keine zusätzlichen Gestaltungskompetenzen, die natürlich mit einem Mehr an Verantwortung einhergehen. Stattdessen bevorzugten [sie] am Ende nur das: Einen erheblichen Zuwachs an Bundesmitteln.“ Die Reform begrüßt hingegen Huber, Peter Michael, in Huber / Voßkuhle (Fn. 137), Art. 107 Rn. 152 f. 143 Vgl. di Gregorio, Salvatore, Il fondo di solidarietà nazionale dal 1947 ad oggi – aspetti finanziari e giuridici – Assemblea Regionale Siciliana, Palermo 2010, bei Fn. 16, verfügbar unter https://www.ars.sicilia.it/sites/default/files/downloads/2018-10/Il%20fondo%20di%20 solidarie_nazionale%20dal%201947%20ad%20oggi.pdf. 144 In der Fassung des Verfassungsgesetzes Nr. 3/2001 vom 18.10.2001. 145 Umgesetzt durch das Gesetz 42/2009 sowie die Gesetzesvertretende Verordnung (Decreto legislativo) Nr. 88 v. 31.5.2011. 142

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mehrjährigen Zeitraum festgelegt.146 Bei den Finanzhilfen aus dem Ausgleichfonds handelt es sich um Mittel aus den regionalen Steuereinnahmen.147 Solidarische Umverteilung ist in Italien ein notwendiger Bestandteil der Finanzverfassung, da die jahrzehntelange, von der Zentralebene gesteuerte uniforme Regionalpolitik ökonomische Disparitäten und soziale Verwerfungen eher gefördert als verringert hat. Nur umfangreiche Ressourcentransfers von den wohlhabenden Nettozahlern Nord- und Mittelitaliens in den Mezzogiorno konnten und können die Lebensverhältnisse angleichen. Die südlichen Regionen, wie beispielsweise Sizilien, Apulien und Sardinien, weisen ein negatives Steueraufkommen auf, wohingegen die nördlichen Regionen in diesem Zeitraum ausnahmslos einen Überschuss verzeichnen konnten, die Lombardei sogar mit einem Steuerüberschuss (residuo fiscale) von rund 54 Mrd. EUR (2015–2018). Im Grundsatz aber gewährt die Italienische Verfassung in Art. 119 Abs. 1 und 2 nicht nur den Regionen,148 sondern auch den Gemeinden, Provinzen, Großstädten mit besonderem Status Finanzautonomie für Einnahmen und Ausgaben. Gemeinden, Provinzen, Großstädte mit besonderem Status und Regionen besitzen eigene Einnahmequellen. Sie erheben eigene Steuern und Einnahmen in Übereinstimmung mit der Verfassung und „sind an den Einnahmen aus den Staatssteuern beteiligt, die sich auf ihr Gebiet beziehen.“ Zu den wesentlichen Steuerquellen der italienischen Regionen gehören die Gewerbesteuer (imposta sul reddito da attività produttive) sowie der regionale Aufschlag auf die Einkommenssteuer (addizionale regionale all’IRPEF). Hinzukommt der regionale Anteil an der Mehrwertsteuer, der auf die Regionen nach ihren jeweiligen Einnahmen aus dieser Steuer verteilt wird.149 Das Gesetz 42/2009 (Legge Delega)  zur Implementierung der Finanzautonomie von Regionen und lokalen Gebietskörperschaften150 wurde durch acht Verordnungen, unter ihnen namentlich die (auch für die Steuern der Regionen zen­trale) Verordnung Nr. 68/2011, umgesetzt.151 Es erweitert die Steuerautonomie der Regionen, verbessert ihre eigenen Steuereinnahmen, indem es festlegt, dass ein 146 Vgl. di Gregorio (Fn.143), Appendice (Anhang), für den Zeitraum 1947–2009; Mangiameli, Stelio, Il regionalismo italiano dopo la crisi e il referendum costituzionale. Appunti per concludere una lunga transizione, 2017, verfügbar unter http://www.issirfa.cnr.it/steliomangiameli-il-regionalismo-italiano-dopo-la-crisi-e-il-referendum-costituzionale-appuntiper-concludere-una-lunga-transizione-marzo-2017.html, sieht in dieser einseitigen staatlichen Festlegung des Finanzausgleichs einen weiteren Hinweis darauf, dass in Art. 119 ItV kein fiskalischer Föderalismus normiert wurde. 147 Vgl. zu den Einzelheiten Buglione, Enrico, Regional Finance in Italy: Past and Future, in: Mangiameli, Stelio (Hrsg.), Italian Regionalism: Between Unitary Traditions and Federal Processes, Investigating Italy’s Form of State, 2014, S. 307 (329 f.). 148 Art. 119 ItV i. d. F. v. 31.12.1948 gewährte lediglich den Regionen „finanzielle Autonomie in den durch Gesetze der Republik festgelegten Formen und Grenzen“. 149 Vgl. Buglione (Fn. 147), S. 329. Mit Blick auf die Verteilung der Mehrwertsteuer bedarf es weiterer Regelungen. 150 Gazzetta Ufficiale Nr. 103 v. 6.5.2009. 151 Vgl. Buglione (Fn. 147), S. 327 ff.; Corale, Luigi, Federalismo fiscale e Costituzione. Essere e dover essere in tema di autonomia di entrata e di spesa di regioni ed enti locali, 2010, S. 169 ff.

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höherer Anteil ihrer Ausgaben aus Steuermitteln der lokalen Gebietskörperschaften bestritten werden muss, führt zu einer Rationalisierung des Ausgleichsfonds, um unwirtschaftliche Verwaltungskosten zu vermeiden, und stellt neue Kriterien zur Bestimmung von standardisierten Finanzierungerfordernissen für die Erbringung von Leistungen der Gesundheitsversorgung auf.152 Aus dem Gesamtbefund der Reform ist entnommen worden, dass die Regionen erstmalig die Möglichkeit erhalten, ihre Wirtschaftspolitik eigenständig und eigenverantwortlich zu gestalten.153 Doch ist das Reformpaket nicht so zu verstehen, dass es den regionalen und lokalen Gebietskörperschaften „per se eine unmittelbare finanzielle Autonomie gewährleistet“. Denn das Recht zur Bestimmung der jeweiligen steuerpflichtigen Bemessungsgrundlagen wird nicht auf die verschiedenen Ebenen im Staatsaufbau verteilt,154 sondern nur die Verpflichtung statuiert, die Finanzordnung gemäß den einschlägigen verfassungsrechtlichen Grundsätzen zu gestalten.155 Hierin liegt ein beträchtlicher Unterschied zu den Modellen des fiskalischen Föderalismus.156 Vor diesem Hintergrund wird die Finanzautonomie der in Art. 119 Abs. 1 ItV genannten Gebietskörperschaften als (bloße) Befugnis interpretiert, „Einnahmen und Ausgaben zu haben“ (Abs. 1), um insoweit, ohne jede Festlegung des Ausgabenzwecks durch den Zentralstaat, „die ihnen zugewiesenen öffentlichen Befugnisse zur Gänze zu finanzieren“ (Art. 119 Abs. 4 ItV).157 Dabei können sie ihre Investitionsausgaben auch durch Kredite finanzieren (Art. 119 Abs. 6 Satz 2 ItV). Der Befund, dass in der italienischen Verfassung anlässlich der Reform 2001 keine föderale Finanzverfassung verwirklicht wurde, wird auch dadurch unterstrichen, dass Art. 119 die genannten Befugnisse der territorialen Gebietskörperschaften nicht im Einzelnen spezifiziert, sondern sich darauf beschränkt festzustellen, dass sie eigene Steuern und Einnahmen „erheben“ dürfen und „an den Einnahmen aus den Staatssteuern beteiligt [sind], die sich auf ihr Gebiet beziehen“ (Abs. 2 Satz 2 und 3). Weiterhin ist die Finanzautonomie der Regionen und der lokalen Gebietskörperschaften durch verschiedene Schranken gekennzeichnet, 152

Buglione (Fn. 147), S. 329; Grasse, Alexander, Dissoziativer Föderalismus (2): Föderalismus in Italien, in: Härtel, Ines (Hrsg.), Handbuch Föderalismus – Föderalismus als demokratische Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutschland, Europa und der Welt, Bd. IV, 2012, § 101 Rn. 25. 153 D’Atena, Antonio, Regionale Finanzhoheit und Fiskalföderalismus in Italien, in: Kahl, Wolfgang (Hrsg.), Nachhaltige Finanzstrukturen im Bundesstaat, 2011, S. 66 (75); Grasse (Fn. 152), § 101 Rn. 9. 154 So hat die Zentralregierung die Gewerbesteuer auf den Standardwert von 3.9 % festgelegt, wobei die Regionen nach ihrem Ermessen 1 % mehr an Gewerbesteuer erheben dürfen. Über Senkungen dieser Steuer (bis auf null) entscheiden indes die Regionen eigenständig. Der regionale Aufschlag auf die Einkommenssteuer (bis dahin 0.9 %) wurde erhöht. 155 Mangiameli (Fn. 146), der in der jetzigen Formulierung der Bestimmung gegenüber Art. 119 Abs. 1 ItV (1947) nur eine klarstellende Funktion erkennt. 156 So auch Violini, Lorenza, in diesem Band, sub V. 157 Vgl. Mangiameli (Fn. 146).

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die sich zum einen daraus ergeben, dass „sie den Grundsatz eines ausgeglichenen Haushalts zu beachten und die Einhaltung der wirtschaftlichen sowie finanziellen Verpflichtungen sicherzustellen haben, die sich aus der Rechtsordnung der Europäische Union ergeben“ (Verfassungsgesetz Nr. 1/2012). Zum anderen ist diese Autonomie durch die notwendige „Übereinstimmung mit der Verfassung“ sowie die gebotene Achtung der „Grundsätze der Koordinierung der öffentlichen Finanzen und des Steuersystems“ (Art. 119 Abs. 2 Satz 2 ItV) begrenzt. Dem italienischen Verfassunggeber wurde empfohlen, die Normen über die Finanz­ordnung unter folgenden Aspekten weiterzuentwickeln: Zum einen im Sinne einer Vereinfachung, möglicherweise auch unter Verzicht auf das Erfordernis einer vorherigen einfach-gesetzlichen Regelung über die Ausübung der Finanzautonomie; zum anderen sollten die Steuersätze unter Anknüpfung an die zu finanzierenden Aufgaben sowie mit dem Ziel einer effektiven Umsetzung des Prinzips der fiskalischen Verantwortung neugeordnet werden; und schließlich solle den Regionen und lokalen Gebietskörperschaften ein „wirklicher“ fiskalischer Entscheidungsspielraum eröffnet werden.158 Die spanische Verfassung überträgt dem nationalen Gesetzgeber die ausschließliche Zuständigkeit für die Regelung, Erhebung und Verwaltung der Steuern (Art. 133 Abs. 1, Art. 149 Abs. 1 Ziff. 14). Als „unverzichtbares Element der Verfolgung politischer Autonomie“ wurde den autonomen Gebietskörperschaften finanzielle Autonomie garantiert.159 Neben einem individuellen Anteil am gesamtstaatlichen Steueraufkommen verfügen die Autonomen Gemeinschaften und Städte (Ceuta und Melilla) nach Art. 157 Abs. 1 i. V. m. dem Organgesetz 8/1980 zur Finanzierung der Autonomen Gemeinschaften (LOFCA)160 über Einnahmen insbesondere aus ihrem Vermögen, aus eigenen Steuern, Gebühren und Beiträgen sowie aus Zuschlägen (recargos) auf eine Reihe von Steuern (etwa Einkommenssteuer oder Vermögenssteuer). Diese Abgaben sowie das gesamte Abgabewesen der Gemeinden müssen im jeweiligen Autonomiestatut und damit im Rahmen der staatlichen Gesetze sowie in Abstimmung mit dem zentralstaatlichen Finanzwesen normiert und ausgestaltet werden,161 so dass von einem fiskalischen Föderalismus auch mit Blick auf Spanien nicht gesprochen werden kann. Sämtliche finanziellen Operationen der Autonomien müssen dem Grundsatz der Finanzklugheit (prudencia financiera) folgen (Art. 13 bis Organgesetz 8/1980 v. 22.9.1980 i. d. F. 2015). Um die zwischen den Gebietskörperschaften bestehenden interterritorialen wirtschaftlichen Ungleichgewichte zu korrigieren, sind in der spanischen Verfassung Mechanismen für einen Finanzausgleich (compensación y nivelación) 158

Mangiameli (Fn. 146). Span. Verfassungsgericht, Urteil 289/2000 v. 30.11.2000, Rechtsgrundlage 3. 160 Fortlaufend reformiert durch die Organgesetze 1/1989 v. 13.4.1989, 3/96 v. 27.12.1996, 7/2001 v. 27.12.2001, 3/2009 v. 18.12.2009 sowie 6/2015 v. 12.6.2015. 161 Span. Verfassungsgericht, Urteil 72/2003 v. 10.4.2003, Rechtsgrundlage 5; Urteil 31/2010 v. 28.6.2010, Rechtsgrundlagen 130, 140. 159

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angelegt, ohne dass sich die Aufgabe des Staates, Ungleichheiten auszugleichen, in den hier vorgesehenen Instrumenten erschöpft.162 Als Ausdruck des in Art. 2 SpV niedergelegten Grundsatzes der Solidarität verpflichten Art. 138 Abs. 1 und Art. 40 Abs. 1 SpV die Zentralebene zur Herstellung „eines angemessenen und gerechten wirtschaftlichen Gleichgewichts“ zwischen den verschiedenen Regionen sowie zu einer „Politik wirtschaftlicher Stabilität, welche [die] für den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt und für eine gerechtere Verteilung des regionalen und persönlichen Einkommens günstigen Bedingungen [fördert]“. Der einzige von der Verfassung ausdrücklich zum Zweck der Minderung der sozioökonomischen Ungleichgewichte eingerichtete Mechanismus ist der „Interterritoriale Ausgleichsfonds“ (Art. 158 Abs. 2, Art. 157 Abs. 1 lit. c). Er wurde ebenso wie der „Suffizienzfonds“ und ein „Garantiefonds“ (Art. 158 Abs. 1) in den Grundzügen durch das Organgesetz 8/1980 ausgestaltet. Durch die einfachen Gesetze 22/2001 vom 27.12.2001 und 23/2009 vom 18.12.2009 wurden die Vorgaben des Organgesetzes sodann mit Blick auf den Interterritorialen Ausgleichfonds, durch Gesetz 22/2009 vom 18.12.2009 hinsichtlich der Finanzierung verschiedener Fonds sowie der den Autonomien vom Staat abgetretenen Steuern konkretisiert. Der Interterritoriale Ausgleichsfonds ist für vergleichsweise weniger entwickelte Gebiete bestimmt und wird nach bestimmten Kriterien wie etwa dem pro-Kopf-Einkommen, der Anzahl der in den letzten zehn Jahren ausgewanderten Bevölkerung, dem Prozentsatz der arbeitslosen Bevölkerung, der Fläche der Gebietskörperschaft sowie der Situation einer Insellage verteilt (Art. 16 Abs. 4 Organgesetz 8/1980). Aus diesen Mitteln können namentlich öffentliche Infrastrukturprojekte der Gemeinden, Gemeindeverbände und Provinzen sowie das Transport- und Kommunikationswesen finanziert werden (Art. 16 Abs. 6 Organgesetz 8/1980). Über die Verwendung der Mittel bestimmen der Staat und die Autonomien gemeinsam (Art. 16 Abs. 7 Organgesetz 8/1980). Der Gesamtstaat hat somit ein im Wesentlichen auf drei Säulen ruhendes Fondswesen eingerichtet, das aus dem Staatshaushalt finanziert wird:163 Neben den „Ausgleichsfonds für Investititionen“ (Fondo de Compensación Interterritorial), der im Zeichen der „effektiven Verwirklichung des Solidaritätsprinzips“ steht (Art. 158 Abs.2 SpV) und wirtschaftlich rückständige Regionen fördert, tritt der bedeutsame „Garantiefonds“ (Fondo de Garantía de Servicios Públicos Fundamentales). Er verfolgt das Ziel, in jeder Gebietskörperschaft ein einwohnerbezogenes (nach den jeweiligen Erfordernissen differenziertes) Mindestniveau (garantía de nivel base) bei der Erbringung grundlegender öffentlicher Dienstleistungen seitens der Autonomien – nämlich auf den Gebieten Bildung, Gesundheit und Soziales – sicherzustellen (Art. 158 Abs. 1 i. V. m. Organgesetz 8/1980). Dieser Mindeststandard ent 162

Span. Verfassungsgericht, Urteil 146/92 v. 16.10.1992, Rechtsgrundlage 1. Vgl. https://app.congreso.es/consti/constitucion/indice/sinopsis/sinopsis.jsp?art=158&tipo​ =2; Anero Ordóñez, Roberto B., Finanzausgleich und Dezentralisierung. Spanien auf dem Weg zu einem gegliederten Staatswesen, 2003, S. 98 ff. 163

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spricht dem Durchschnittsniveau der auf dem gesamten Staatsgebiert erbrachten Leistungen dieser Art (Art. 15 Abs. 3 Organgesetz 8/1980). Als dritte Säule fungiert ein Suffizienzfonds (Fondo de Suficiencia Global). Er soll das sich aus den Ausgaben einer Autonomie und ihrer Steuerkraft unter Berücksichtigung der Mittel aus dem „Garantiefonds“ ergebende Defizit abdecken. Weiterhin gibt es etliche andere Ausgleichsfonds.164 In ihrer Gesamtheit müssen diese Fonds immer zugleich sicherstellen, dass die Autonomien ihre in ganz unterschiedlichem Maße übernommenen Kompetenzen ausüben können (Art. 138 Abs. 2 SpV). Zugleich begrenzen der Grundsatz der Solidarität ebenso wie die Pflicht der Gebietskörperschaften, die aus Fondsmitteln finanzierten Maßnahmen mit dem Staat zu koordinieren, das Autonomieprinzip. Diese Grundsätze müssen bei der Planung und Verausgabung der Mittel in einen Ausgleich gebracht werden.165 Bei genauerer Betrachtung entfalten der Garantiefonds, der Suffizienzfonds und der Solidaritätsfonds, obwohl formal als vertikale Umverteilungsmechanismen von der Zentralebene hin zu den Regionen entworfen, auch eine horizontale Wirkung. Alle drei Mechanismen setzen sich zu einem Großteil (bis zu 75 %) aus dem in den Regionen erhobenen Steueraufkommen zusammen und werden somit hauptsächlich von den wohlhabenden Gebietskörperschaften finanziert. Begünstigt werden Regionen mit einem geringen Steueraufkommen. Die spanischen Strukturfonds führen daher zu einem verdeckten horizontalen Finanzausgleich. Eine vollständige Nivellierung der Finanzkraft der territorialen Gebietskörperschaften ist mit bundesstaatlichen Finanzgrundsätzen nicht vereinbar („Nivellierungsverbot“).166 Die Gefahr einer solchen Einebnung führt in Spanien zu ähnlichen Spannungen wie in Deutschland. Katalonien als wirtschaftlich starke Industrie- sowie Touristenregion überweist im Jahr 2020 EUR 1.579 Mrd. an den Garantiefonds und liegt damit als einer von drei Nettozahlern hinter der Autonomen Gemeinschaft von Madrid (EUR 3.919 Mrd.). Den Einwand Kataloniens, sein Beitrag zu einem solidarischen Ausgleich dürfe im Rahmen seines Statuts von einer „ähnlichen fiskalischen Anstrengung“ (esfuerzo fiscal similar) seitens der anderen Autonomien abhängig gemacht werden, wie sie in Katalonien unternommen werde, wies das Verfassungsgericht im präföderalen Spanien als verfassungswidrig zurück.167

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Vgl. Vidal, Carlos, in diesem Band, sub III. und IV. Span. Verfassungsgericht, Urteil 31/2010 v. 28.6.2010, Sachverhalt, Rn. 118–121, sowie Rechtsgrundlagen, Rn. 130, 134, 140 – Organgesetz 6/2006 v. 19.7.2006 zum Autonomiestatut von Katalonien; vgl. bereits zuvor Urteil 150/90 v. 4.10.1990, Rechtsgrundlage 7. 166 Vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 11.11.1999 (2 BvF 2/98), BVerfGE 101, 158, Rn. 292; diesen Grundsatz greift Pilz, Stefan, Der Europäische Stabilitätsmechanismus. Eine neue Stufe der europäischen Integration, Tübingen 2016, S. 140 f., mit Blick auf die spanische Finanzverfassung auf. 167 Zu der hierauf bezogenen Argumentation des Parlaments sowie der Regierung von Katalonien vor dem Span. Verfassungsgericht vgl. Urteil 31/2010 v. 28.6.2010, Sachverhalt, Rn. 121. 165

Entwicklungen der Grundrechte Moderation: Albrecht Weber

Der Horizont der Grundrechte aus spanischer Sicht Miguel Azpitarte

I. Einleitung Der Verfassungsstaat der Nachkriegszeit fördert eine, auf den Grundrechten basierende, Rekonstruktion des öffentlichen Rechts. Die Grundrechte sind sowohl für die staatsorganisierende Verfassung als auch für die Gesellschaft von großer Bedeutung. In diesem Sinne sind die Grundrechte eine treibende Kraft des sozialen Pluralismus und Legitimitätsprämisse der öffentlichen Gewalt. Streng normativ betrachtet beschränken sie den Gesetzgeber, also die Mehrheit. Und zu guter Letzt gewährleisten sie die Autonomie des Einzelnen.1 Das Paradigma, das sich in Deutschland und Italien nach dem Zweiten Weltkrieg und in Spanien nach 1978 entwickelt hat, ist das des Verfassungsstaats. Bevor man die Frage beantworten kann, inwieweit dieses normative Ideal im Verlauf der letzten mehr als 50 Jahre erreicht wurde, muss zuerst wohl überlegt werden, welche Kriterien bei der Bewertung anzulegen sind. Was als sicher gilt, ist, dass der Verfassungsstaat in diesen drei Ländern damals aus den Diktaturen heraus entstanden ist, weshalb die kleinste Achtung der Grundrechte schon einen Erfolg darstellte. Vor allem aber waren die Grundrechte ein moralisches Vorbild. Ein Vorbild vor dem Hintergrund der diktatorischen Vergangenheit sowie ein Vorbild nach außen, gerichtet an ein politisch polarisiertes Europa. Trotz alldem wäre es übertrieben anzunehmen, dass die Legitimität unserer Staaten ausschließlich auf dem Gewicht der Grundrechte beruht. Neben ihnen hat die Etablierung eines sozialstaatsfördernden Kapitalismusmodells einen herausragenden Rang eingenommen, das zu einem charakteristischen Merkmal der Verfassungsmodelle der drei Staaten geworden ist.2 Wobei es kein Geheimnis ist, dass die Beziehung der beiden Säulen – kapitalistisches Wirtschaftsmodell zum einen und Grundrechte zum anderen – nicht immer völlig harmonisch war. Ein Gradmesser dieser Beziehung ist der europäische Integrationsprozess, der zunächst 1 Hesse, Konrad, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, S. 125; Jiménez Campo, Javier, Derechos Fundamentales. Concepto y garantías, 1999, S. 45; Fioravanti, Maurizio, Los derechos fundamentales. Apuntes de historia de las Constituciones, S. 97. 2 Forsthoff, Ernst, Verfassungsprobleme des Sozialstaates, in: Forsthoff, Ernst, Rechtsstaat im Wandel, 2 Aufl., 1976, S. 50; Ehmke, Horst, Wirtschaft und Verfassung (Auszug), in: Ehmke, Horst, Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik, 1981; De Cabo Martín, Carlos, Teoría Histórica y del Derecho Constitucional, 1988.

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ohne Grundrechte konzipiert wurde und von dem seit kurzem angenommen wird, dass er formell losgelöst vom EGMR existieren kann.3

II. Die Grundrechte als Instrumente für den rationalen Dialog 1. Die Grundrechte in einer gefestigten Demokratie Für die Konstruktion der politischen Legitimität sind die Grundrechte unerlässlich. Sie tragen dazu bei, Debatten, die die Säulen unserer Demokratie in Frage stellen, erst zu kanalisieren und dann zu befrieden,4 vor allem, da im Laufe der Zeit neue unbekannte Probleme entstehen oder Probleme wieder auftreten können, die gelöst schienen. Die Weiterentwicklung der Grundrechte erlaubt es, dass Verfassungstexte ihre konkreten historischen Grenzen überschreiten und historische Bedeutung gewinnen. Dabei nimmt das Verfassungsgericht, als ihr größter Schutzgarant, eine hervorgehobene Stellung ein. Vom Verfassungsprozess, der in sich bereits eine integrative Funktion erfüllt, wird erwartet, dass er in der Lage ist, rhetorische und thematische Gegenrede zu geben. Vom Gericht wird erwartet, dass es in der Lage ist, den Konflikt zu befrieden, und zwar nicht nur aufgrund der Tatsache, dass es das letzte Wort hat, sondern weil sein letztes Wort eine argumentative Qualität genießt, die in der Lage ist, uns zu erklären, was unsere Verfassung von uns erwartet und wieso.5 Schließlich ist es die Verfassungsdoktrin über die Grundrechte, die den Konflikt abmildert, und dabei in sich Elemente aus der Vergangenheit (die Norm und ihre Doktrin), der Gegenwart (den Konflikt) und der Zukunft (die Zweckmäßigkeit der Lösung) vereinigt. Trotzdem existieren einige deutliche Unterschiede zwischen Deutschland, Italien und Spanien. Während es für einen externen Beobachter zumindest in Deutschland den Anschein erweckt, als würden die Grundrechte in der Verfassungsdebatte dominieren, haben in Italien und Spanien zwei andere dogmatische Bereiche – das Rechtsquellensystem und die territoriale Organisation, im Besonderen die Kompetenzkonflikte – nicht nur einen vergleichbaren, sondern sogar einen 3 EuGH, Gutachten 2/13 v. 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:245; Azpitarte Sánchez, Miguel, Los derechos fundamentales de la Unión en busca de un nuevo equilibrio, Revista Española de Derecho Constitucional 104/2015. 4 Häberle, Peter, Inkurs A: Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: Häberle, Peter, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl., 1998, S. 228; Ahumada Ruiz, Marian, La jurisdicción constitucional en Europa: bases teóricas y políticas, 2005. 5 Böckenförde, Ernst-W., Verfassungsgerichtsbarkeit: Strukturfragen, Organisation, Legitimation, NJW 1999, S. 11; García de Enterría, Eduardo, La Constitución como norma y el Tribunal Constitucional, 3. Aufl., Madrid 1985; Rubio Llorente, Francisco, Seis tesis sobre la jurisdicción constitucional en Europa, in: Rubio Llorente, Francisco, La Forma del Poder, Madrid 1997, S. 541.

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höheren Stellenwert als die Grundrechte eingenommen. Im Fall der territorialen Organisation erscheint der Grund offensichtlich: die Vagheit der Verfassung bzw. ihr Schweigen zu diesem Thema haben das Tribunal Constitucional und die Corte Costituzionale zu Schlüsselelementen des Systems werden lassen.6 Die Wichtigkeit der Rechtsquellen hat sicherlich mit den Schwierigkeiten der politischen Systeme beider Länder (Spanien und Italien)7 zu tun, eigenständig die Konflikte über die richtige Interpretation der Verfassung zu lösen. Im Falle Italiens ist es offensichtlich, dass die historische Instabilität der parlamentarischen Mehrheiten dazu geführt hat, dass aus dem Quellensystem ein Nährboden für die Verbesserung der Kräftegleichgewichte geworden ist. In Spanien dagegen, wo bis ca. 2012 die Mehrheiten für gewöhnlich sehr stabil waren, spiegeln sich in der Quellenproblematik die territorialen Spannungen. Seitdem ist sie teilweise der letzte Ausweg für die politische Opposition, die Macht der Regierungsmehrheit einzuschränken. 2. Die Grundrechte in einem gefestigten Europa Die Interpretation der Grundrechte ist nicht länger nur mehr eine reine Angelegenheit / Kompetenz der nationalen Verfassungsgerichte, die trotzdem, und dies ist kein Widerspruch, weiterhin das Interpretationsmonopol über die Verfassung haben. Das Zusammentreffen von nationalen Gerichten, dem EGMR und dem EuGH hat die Runde der Verfassungsinterpreten erweitert, was für die drei Länder eine Reihe an Konsequenzen hat: 1. Die Arbeit der nationalen Gerichte wird durch die Rechtsprechung der überstaatlichen Gerichte angeregt und eingeschränkt. Dies erfolgt implizit bei der Interpretation der Grundrechte durch die nationalen Gerichte, die sich, angesichts der Rechtsprechung anderer Gerichte, einer strengen Selbstkontrolle unterziehen müssen, da die Interpretation der nationalen Verfassung, in Bezug auf die Grundrechte, im Einklang mit den Interpretationen der anderen Gerichte stehen soll.8 2. Gleichzeitig aber nehmen die Verfassungsgerichte eine neuartige und keineswegs einfache Vermittlerrolle ein, die von ihnen verlangt, einen dreifachen Schutz der Grundrechte zu gewährleisten, der seinen Ursprung in verschiedenen Kontexten hat. Auf der einen Seite schlagen die nationalen Gerichte im Rahmen dieser 6

Cruz Villalón, Pedro, La estructura del Estado o la curiosidad del jurista persa, in: Cruz Villalón, Pedro, La curiosidad del jurista persa, y otros estudios sobre la Constitución, 1999, S. 381. 7 Pizzorusso, Alessandro, Sistema delle fonti  e forma di Stato  e di governo, Quaderni Costituzionali, 2/1986; Balaguer Callejón, Francisco, Fuentes del derecho. I. Principios del ordenamiento constitucional, 1991, S. 48. 8 Häberle, Peter, Kulturelle Verfassungsvergleichung – Verfassungsvergleichung als fünfte Auslegungsmethode, in: Häberle, Peter, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (4), S. 312; Arzoz Santisteban, Xabier, La concretización y actualización de los derechos fundamentales, CEPC, 2014, S. 159.

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Vermittlerrolle Interpretationen für Probleme von europäischer Dimension vor, sei es im Rahmen der Union (Vorlageentscheidungen) oder im Bereich des EGMR (durch ihre Entscheidungen nach der notwendigen Erschöpfung des Rechtswegs). Auf der anderen Seite üben sie diese Vermittlerrolle aber auch aus, wenn sie eine Entscheidung des EGMR oder des EuGH in die Praxis umsetzen müssen. Die Fälle Melloni, Gauweiler oder Taricco sind gute Beispiele für drei unterschiedliche Handlungsweisen. Im ersten Fall akzeptiert das spanische Gericht, ohne zu zögern, die Doktrin des EuGH, allerdings ohne diese auf Tatbestände auszuweiten, in denen das Recht der Union keine Anwendung findet.9 Im zweiten Fall führt das deutsche Bundesverfassungsgericht eine Angemessenheitskontrolle ein.10 Und im dritten Fall, als typisches Beispiel italienischer Diplomatie,11 erreicht es das Gericht, dass der EuGH seine Doktrin überarbeitet. Drei Handlungsweisen, die – wer weiß – vielleicht die Mentalitäten dreier Nationen, die sich im Geiste unterscheiden, widerspiegeln.

III. Die Grundrechte in einem kriselnden Europa 1. Sicherheitskrise und Grundrechte Zweifelsohne hatte der 11. September 2001 Auswirkungen auf den Verfassungsstaat. Er brachte eine bis dato unbekannte Art der Gewalt mit sich, die Gewalt des Chaos, deren einziges Ziel es ist, den Verfassungsstaat zu destabilisieren, indem sie seine elementarste Prämisse angreift: die Schutzgarantie. Als Antwort auf diese Art von Gewalt, hat der Verfassungsstaat, der sich einem teilweise komplett neuartigen Problem gegenübersah, die Sicherheitsbestimmungen verändert.12 Er stand vor den folgenden Fragen: Wie reagiert man auf dieses Risiko, und wie kann die Sicherheit gewährleistet werden, ohne gleichzeitig jeden unter Generalverdacht zu stellen? 1. Ein Phänomen, das in allen drei Verfassungsstaaten beobachtet werden kann, ist die Zunahme der Datensammlung, die zu einem Schlüsselelement in der Sicherheitspolitik geworden ist.13 Jedoch bringt die Datensammlung zwangsläufig einige Phänomene mit sich, für die die Grundrechtsdogmatik immer noch nach einer adäquaten Antwort sucht: 9

STC 26/2014, de 13 de febrero, ECLI:ES:TC:2014:26. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats v. 21.6.2016 (2 BvR 2728/13), Rn. 1–220, www.bverfg.de. 11 Ordinanza 24/2017, ECLI:IT:COST:2017:24. 12 Kral, Sebastian, Die polizeilichen Vorfeldbefugnisse als Herausforderung für Dogmatik und Gesetzgebung des Polizeirechts. Begriff, Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen, Berlin 2012; Kugelmann, Dieter, Entwicklungslinien eines grundrechtsgeprägten Sicherheitsverwaltungsrechts, Die Verwaltung 47/2014. 13 Zum Beispiel: EGMR v. 13.9.2018, Big Brother Watch and Others v. The United Kingdom, Applications nos. 58170/13, 62322/14 and 24960/15. 10

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a) Eine Antwort auf den damit einhergehenden massiven Eingriff in die Grundrechte. Zum Beispiel die allgemeine Pflicht für Firmen, elektronische Kommunikationsdaten zu speichern.14 b) Eine Antwort darauf, wie mit der Unwissenheit der Nutzer über den Eingriff umzugehen ist. Erstens, da bei der Zustimmung der Datensammlung durch die Nutzer das Nutzungspotenzial nicht bekannt ist (z. B. das Handy-GPS). Und zweitens, da die Sammlung der Daten und deren Auswertung zum größten Teil bei völliger Unwissenheit der Nutzer geschieht.15 c) Und schließlich eine Antwort darauf, wie mit den trilateralen Verhältnissen zu verfahren ist, in denen wir uns befinden, in denen der Staat für seine Eingriffe die Hilfe der Internetdienste benötigt, die Kommunikationsdienste anbieten. 2. Vor diesem Hintergrund gingen in den drei Ländern die Maßnahmen mit einer Ausweitung der Gesetzesvorbehalte und der präjudiziellen Eingriffe einher. a) Seither kam es zu einem signifikanten Anstieg der im Gesetz vorgesehenen Ermittlungsmaßnahmen und entsprechenden Tatbeständen. Dementsprechend ist die Bedeutung des Gesetzgebers signifikant gewachsen. b) Ebenso, und obwohl es von den Verfassungen nicht immer verlangt wird, ist die gerichtliche Intervention als Garantiemechanismus für die Strafermittlung zum Standard geworden. c) Angesichts dieser Ausweitung der Vorkontrollen hat man zumindest in Deutschland nach einem unantastbaren Kernbereich der Privatsphäre gesucht, einem Bereich privater Lebensgestaltung, der der Einwirkung der öffentlichen Gewalt entzogen ist.16 3. Des Weiteren darf man nicht die Auswirkungen des EU-Rechts auf die Regelungen vergessen, wobei es nicht so sehr um das Recht auf Sicherheit, sondern um das Strafprozessrecht geht, das im Wesentlichen darauf abzielt, die Verbrechensbekämpfung zu erleichtern. Die Fälle Melloni und Taricco zeigen, dass die Union bis zum Innersten der Grundrechte vorgedrungen ist und dabei einen der sensibelsten Bereiche erreicht hat. Zudem erscheint es offensichtlich, dass das gegenseitige Anerkennungsprinzip bezüglich des freien Personenverkehres nicht so reibungslos funktioniert wie bei der Strafverfolgung.17

14

EuGH v. 8.4.2014, Digital Rights, C-293/12, ECLI:EU:C:2014:238. Pöschl, Magdalena, Sicherung grund- und menschenrechtlicher Standards gegenüber neuen Gefährdungen durch private und ausländische Akteure, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL), Band 74, Berlin 2015, S. 405 ff. (422). 16 BVerfG, Urteil des Ersten Senats v. 20.4.2016 (1 BvR 966/09), Rn. 1–29, www.bverfg.de. 17 Möstl, Markus, Preconditions and limits of mutual recognition, CMLR 2010, S. 405 ff. (418). 15

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2. Die Grundrechte im Angesicht der Wirtschaftskrise Tatsächlich haben die Grundrechte als Rechtskategorie in der Wirtschaftskrise bislang keine herausragende Rolle gespielt. In Spanien und Italien hat sich die juristisch-konstitutionelle Dimension der Krise hauptsächlich auf drei Probleme konzentriert: a) Auf eine theoretische Überlegung über die Möglichkeit einer schnellen Verfassungsreform, um die Regelungen des Schuldenlimits und des Haushaltsausgleichgewichtes mit konstitutioneller Rigidität auszustatten.18 b) Auf die Kontrolle des Verfassungsgerichtes über die Notstandsgesetzgebung.19 c) Auf die Neuordnung der lokalen Verwaltung und der Zuständigkeiten innerhalb der autonomen Gebietskörperschaften zwecks Anti-Krisen-Maßnahmen.20 Allerdings hat die Debatte über die Grundrechte als Grenze für die Sparmaßnahmen keine Fahrt aufgenommen, weder vor dem EGMR noch vor dem EuGH, wo die Sparmaßnahmen ausdrücklich auf die Erfordernisse des Eigentumsrechts hin untersucht wurden (oder sogar des Rechts auf Privatsphäre). In beiden Fällen brachten die Ergebnisse kaum Neues hervor. Der EGMR ist seiner klassischen Doktrin des Ermessensspielraumes treu geblieben und hat den Staaten viel Freiraum überlassen, um mit den Folgen der Anti-Krisen-Maßnahmen fertig zu werden.21 Weitaus restriktiver war die Doktrin des EuGH, der lange Zeit einfach die Klagen gegen die Entscheidungen der Eurogruppe oder des ESM als unzulässig zurückwies.22 Und obwohl diese harte Linie mittlerweile aufgeweicht wurde, wurden bei den Fragen zum Rettungsfonds entweder keine dogmatischen Neuigkeiten (Eigentum) aufgenommen, oder sie haben sich nur auf Bereiche außerhalb der Grundrechte bezogen (außervertragliche Verantwortlichkeit). An diesem Punkt angelangt, fällt auf, dass es durch die Auswirkungen der Krise zu keinen dogmatischen Neuerungen hinsichtlich der Grundrechte gekommen ist (es gab kein Umdenken in der Rechtsprechung im Stil des New Deal des amerikani 18

Sánchez Barrilao, Juan F., La crisis de la deuda soberana y la reforma del artículo 135 de la Constitución Española, Boletín Mexicano de Derecho Comparado 137/2013; Laze, Marsid, La natura giuridica della legge di bilancio: una questione ancora attuale, Rivista AIC 2/2019. 19 Guillen López, Enrique, La crisis económica y la dirección política: reflexiones sobre los conceptos de necesidad y de elección en la teoría constitucional, Revista de Derecho Constitucional Europeo, 20/2013. Meola, Franca, Governare per decreto. Sistema delle fonti e forma di governo alla ricerca della rappresentanza perduta, Rivista AIC 3/2019. 20 Aguilar Calahorro, Augusto, La dimensión del Estado y de las Administraciones Públicas en España, Revista de Derecho Constitucional Europeo, 20/2013; Russo, Anna M., La dimensión del sector y de las administraciones públicas en Italia. ¿Una película centralizadora en rodaje?, Revista de Derecho Constitucional Europeo 20/2013. 21 Dobre, Daniela, El impacto de las medidas de austeridad sobre el derecho de propiedad. Un análisis jurisprudencial, noch nicht erschienen (2020). 22 Donaire Villa, Javier, ¿Los derechos en serio en la Eurozona? Los recortes, las condicionalidades, la Carta y el Tribunal de justicia, Revista de Derecho Constitucional Europeo 29/2018.

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schen Supreme Court). Tatsächlich aber hat der in der Verfassung festgeschriebene wirtschaftspolitische Neutralitätsgrundsatz (ein Grundsatz, der heute nur noch halb wahr ist, da das Unionsrecht alles andere als neutral ist) seinen Einfluss auf die Grundrechte ausgedehnt, deren Normenintensität zu Gunsten eines breiteren Handlungsspielraumes für die Regierung bzw. das Parlament abgeschwächt wurde. Auf alle Fälle bleibt das Krisenmanagement und damit einhergehend die Organisation der Wirtschaft weiterhin eher eine politische Frage als eine juristische. Die Ausnahme stellt dabei das deutsche Bundesverfassungsgericht dar, das mit seiner umfassenden Doktrin rund um die Rettungsmaßnahmen das Finanzministerium, und damit schlussendlich die Deutschen, dazu verpflichtete, Finanzmittel an andere Staaten zu überweisen. Dabei handelt es sich jedoch um eine besondere Ausnahme, da sie sich tatsächlich um ein in Artikel 38 GG anerkanntes Grundrecht dreht, weshalb es offensichtlich ist, dass der Gegenstand der Verfassungsdebatte die Demokratie war, und nicht die Ausweitung der individuellen Freiheit hinsichtlich der Rettungsmaßnahmen. Die Frage, die in Deutschland debattiert wurde und zu der das deutsche Bundesverfassungsgericht eine Grundsatzposition eingenommen hat, hing mit der Essenz des deutschen Demos zusammen und nicht mit dem Status eines jeden Bürgers in diesem Demos oder deren Stellung vor der öffentlichen Gewalt.23 Trotzdem gibt es zwei Punkte, die auffallen und die wir nicht übergehen dürfen, da sie meiner Meinung nach etwas über die Fähigkeit unserer Disziplin, soziale Konflikte zu ordnen, aussagen: a) Schaut man über den spezifischen juristisch-konstitutionellen Bereich hinaus, ist die Verbindung von Krise und Grundrechten bzw. sogar eher Menschenrechten allgegenwärtig (man denke nur an die Veröffentlichung des Europarates, The impact of the economic crisis and austerity measures on human rights in Europe). Und in der Tat wird darüber diskutiert, wie erheblich sich die Krise auf das europäische Sozialmodell ausgewirkt hat, das, wenn auch paradigmatisch, seine Prämissen auf allgemeine Bildung und Gesundheit sowie auf ein universelles Rentenmodell ausgerichtet hat. Die Debatte liegt auf dem Tisch, jedoch wurde sie bisher nicht als Verfassungsdebatte angesehen. Auch wenn es eine im Wesentlichen politische Debatte ist, muss sie aufmerksam verfolgt werden, da der Konflikt immer juristische Lösungen erfordert und, wenn die Grundrechte diese nicht anbieten, sie sich auf andere Rechtsgebiete verlagern. b) Ein gutes Beispiel dafür liefert Spanien. Unsere Wirtschaftskrise ist zu großen Teilen, wenn nicht sogar ausschließlich, das Ergebnis einer Immobilienblase, die eine für den Bankensektor nicht zu bewältigende Menge an Privatschulden entstehen ließ, was einen öffentlichen Eingriff (Spanien und Europa) nötig machte,

23

Azpitarte Sánchez, Miguel, Integración europea y legitimidad de la jurisdicción constitucional, Revista de Derecho Comunitario Europeo 55/2015, S. 946.

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um einen Bankenkollaps zu verhindern.24 Doch wer ist verantwortlich für die fehlerhafte Risikobewertung zum Zeitpunkt der Hypothekenvergabe? Und wer sollte daher die Kosten der Umverteilung tragen? Diese beiden grundlegenden politischen Fragen wurden in Spanien juristisch beantwortet, und dies im Wesentlichen durch das Verbraucherschutzrecht, d. h. durch das Privatrecht. 3. Die Rekonstruktion des Demos: Die Grundrechte als Teil der Verfassungsidentität? Das Ziel des Verfassungsrechts und der Grundrechte im Besonderen ist es, den Konflikt durch eine Steuerung des Pluralismus hin zu einer Machteinheit zu befrieden.25 Im Hintergrund des Verfassungsrechts hat immer die Vorstellung von politischer Freiheit mitgeschwungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich die Auffassung durch, dass die Freiheit des Einzelnen durch den Staat geschützt werden müsse.26 Später wurde sie um das Diskriminierungsverbot ergänzt, das Personen, die aufgrund persönlicher Merkmale diskriminiert werden, besonders schützt.27 Zweifelsfrei hat das Verfassungsrecht seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das soziale Fundament der Verfassung vergrößert. Im abschließenden Teil meines Beitrages widme ich mich der Frage, ob den Grundrechten – als grundlegenden dogmatischen Elementen – in den richtungsweisenden politischen Konflikten eine entscheidende Rolle zukommt. Die Konflikte sind: die Zerbrechlichkeit der legitimen Macht, die Rekonstruktion des Demos und die Infragestellung der in der Verfassung festgeschriebenen Werte. 1. Die Wirtschaftskrise hat die Zerbrechlichkeit der öffentlichen Gewalt deutlich gemacht. Zwar war schon bekannt, dass die Staaten allein nicht in der Lage sind, bestimmte Probleme zu lösen, doch hat sich jetzt gezeigt, dass die Union, die gegründet wurde, um die Staaten zu vervollständigen, ebenfalls nicht über die passenden Instrumente verfügt, um diese Probleme zu bewältigen. Auf dem Papier existieren viele Lösungen, für deren Umsetzung aber der politische Wille fehlt. Dieses Dilemma appelliert an die Hauptfunktion des Verfassungsrechts: Macht nicht nur zu begrenzen, sondern auch zu schaffen. Trotzdem scheint die Krise nicht allein durch die Grundrechte gelöst werden zu können. 2 4

Aguilar Calahorro, Augusto, La reciente jurisprudencia supranacional en materia de vivienda. (La eficacia de la directiva 93/13/CE y la tutela de los derechos de los ciudadanos por el TJ), in: Sánchez Ruiz de Valdivia, Imaculada / Olmedo Cardenete, Miguel, Tirant Lo Blanch, 2014, S. 509. 25 Hesse (Fn. 1), S. 5. 26 Häberle, Peter, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl., 1983, S. 126. 27 Kennedy, Duncan, Three Globalizations of Law and Legal Thought: 1850–2000, in: Trubek David / Santos, Alvara (Hrsg.), The New Law and Economic Development: A Critical Appraisal, 2006, S. 63.

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2. Aus dem vorherigen Problem, der Unmöglichkeit der öffentlichen Gewalt Lösungen anzubieten, entstand in vielen unserer Länder ein Bedürfnis, den Demos und damit die politische Gemeinschaft neu zu definieren. a) Die Verfassungsidentität hat eine ad extra-Komponente. Doch woraus eigentlich genau diese Identität besteht, ist eine jener noch zu lösenden Unbekannten.28 Wenn man die Rechtsprechung des EuGH analysiert, dient diese vor allem dazu, bestimmte Verfassungsnormen, wie beispielswiese Verbote, bestimmte Nachnamen zu tragen, zu bewahren.29 Bei der Analyse der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte erscheint es allerdings doch sinnvoll zu sein, bestimmte Grundrechte zu schützen, insbesondere diejenigen, die sich auf den Kern des Strafverfahrens beziehen. b) Die Verfassungsidentität hat auch eine ad intra-Komponente. Und hier gibt es in der Tat zwei Bereiche, in denen die Grundrechte eine wichtige Rolle gespielt haben und immer noch spielen: Immigration und Religionsfreiheit. Zwar bringen diese keine großen dogmatischen Neuerungen mit sich, aber doch legislative Bestimmungen, in denen versucht werden muss, ein Gleichgewicht zwischen dem Respekt vor der Vielfalt sowie der Würde des Menschen und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zu finden. Aber vor allem der erste Punkt der Immigration ist, in Verbindung mit den Grundrechten, zu einem wichtigen Anknüpfungspunkt in der politischen Debatte geworden, da sich in ihm die verschiedenen Konflikte – Wirtschaftskrise, Krise des Integrationsprozesses und Sicherheitskrise – vereinen. 3. Aber unsere drei Staaten stehen noch einer neuen Herausforderung gegenüber: dem Aufkommen von Parteien, die direkt die Werte der Verfassung in Frage stellen, was sich in gewisser Weise auf einige Mitgliedstaaten der Union übertragen lässt (Polen und Ungarn), und die diese Haltung zur Staatspolitik gemacht haben. Dabei geht es nicht mehr darum, ob die Grundrechte einen sinnvollen Rahmen bieten, um einen Konflikt auszutragen, sondern die Grundrechte sind selbst zum Teil des Konfliktes und der Diskussion geworden, sowie die repräsentative Demokratie selbst.30 Diese neue Situation erlaubt es, unsere Vergangenheit und unsere Gegenwart gegenüberzustellen. Damals vor 70 bzw. vor 40 Jahren sind wir aus den Trümmern auferstanden, aber wussten genau, wo wir hinwollten. Heute zwingen uns die Schatten der Ungewissheit dazu, das Gewicht unserer Verfassungen richtig einzuschätzen. 28

Cruz Villalón, Pedro, Legitimidad „activa“ y legitimidad „pasiva“ de los Tribunales Consti­ tucionales en el espacio constitucional europeo, Teoría y Realidad Constitucional, 33/2014; Schönberger, Christoph, Identitäterä. Verfassungsidentität zwischen Widerstandsformel und Musealisierung des Grundgesetzes, Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart 2015, S. 41. 29 Azpitarte Sánchez, Miguel, Identidad nacional y legitimidad del Tribunal de Justicia, Teoría y Realidad Constitucional, 39/2017. 30 Von Bogdandy, Armin, Principles and challenges of a European doctrine of systemic deficiencies, MPIL research paper series, No. 2019–14.

Die Entwicklung der Grundrechte und der Grundrechtsdogmatik in Deutschland Karl-Peter Sommermann

I. Einführung: Charakteristika der deutschen Grundrechte und Grundrechtsdogmatik „Hypertrophie der Grundrechte“, so apostrophierte Karl August Bettermann vor 35 Jahren die stetige Erweiterung der normativen Gehalte der im deutschen Grundgesetz verankerten Grundrechte.1 Ein Blick auf die umfangreiche Verfassungsrechtsprechung und das kaum mehr zu überblickende Schrifttum zu den deutschen Grundrechten scheint diesen Befund zu bestätigen. Der hohe Grad an Konzeptualisierung und Ausdifferenzierung der Grundrechte und ihrer Wirkungsweisen übertrifft bei Weitem entsprechende Ansätze in anderen europäischen Ländern. Ob dies dem Grundrechtsschutz immer zuträglich ist, bleibt zu diskutieren. Jedenfalls wird die besondere Sensibilität für Grundrechtsfragen vor dem Hintergrund der kurz zuvor überwundenen Diktatur des Nationalsozialismus verständlich, zu der das Grundgesetz2 einen Gegenentwurf bilden sollte. Die bewusst an die Spitze des Verfassungstextes gestellten Grundrechte etablierten sich rasch als Leitmaterie des Verfassungsrechts und später als Identitätsanker der deutschen Gesellschaft, was auch in dem von Dolf Sternberger3 und Jürgen Habermas4 geprägten Begriff „Verfassungspatriotismus“ zum Ausdruck kommt.5 Vor diesem Hintergrund hat 1 Bettermann, Karl August, Hypertrophie der Grundrechte. Eine Streitschrift, Hamburg 1984. 2 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland v. 23.5.1949 (BGBl. 1949, S. 1); zuletzt geändert durch Gesetz v. 15.11.2019 (BGBl. 2019 I, S. 1546). 3 Sternberger, Dolf, Verfassungspatriotismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23.5.1979, S. 1. 4 Habermas, Jürgen, Eine Art Schadensabwicklung: Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung, in: Die Zeit v. 11. Juli 1986, S. 40, enthalten auch in: ders., Eine Art Schadensabwicklung – Kleine Politische Schriften VI, Frankfurt 1987, S. 120–136; ders., Verfassungspatriotismus – im allgemeinen und im besonderen: Grenzen des Neohistorismus, in: ders., Die nachholende Revolution – Kleine Politische Schriften VII, Frankfurt 1987, S. 147–156. 5 Dazu Müller, Jan-Werner, Verfassungspatriotismus, Frankfurt a. M. 2010; Lautsch, Eva Ricarda, Die offene Gesellschaft der Verfassungspatrioten? Wie das Grundgesetz als patriotische Folie den politischen Diskurs verdrängt, in: Verfassungen – ihre Rolle im Wandel der Zeit, Baden-Baden 2019, S. 37 ff.; Mulder, Jule, EU Non-Discrimination Law in the Courts, Oxford / Portland (Oregon) 2017, S. 67 ff.

Entwicklung der Grundrechte und der Grundrechtsdogmatik in Deutschland 

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in der Staatsrechtslehre Peter Häberle bereits Mitte der 1970er Jahre die Ansicht vertreten, dass die Konkretisierung der Grundrechte ein gesamtgesellschaftliches Projekt sei. Die Verfassungsrechtsprechung solle kritisch durch eine „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ begleitet werden.6 Allein durch ihr Handeln in grundrechtlich geprägten Lebensbereichen oder etwa durch die Wahrnehmung verfassungsprozessualer Rechte nähmen die Einzelnen jedenfalls mittelbar an der Verfassungsinterpretation teil.7 Andere Autoren haben vor einer „Vergrundrechtlichung“ der Rechtsordnung gewarnt.8 Dass die Grundrechte des Grundgesetzes eine derart weitreichende Bedeutung und Präsenz im gesellschaftlichen und staatlichen Leben entfalten würden, legt eine Lektüre des Grundrechtsteils nicht ohne weiteres nahe. Zwar wird das Grundgesetz in Art. 1 eindringlich mit dem Gebot der Unverletzlichkeit der Menschenwürde und mit der Anordnung einer unmittelbaren Bindungswirkung der nachfolgend aufgeführten Grundrechte eröffnet. Doch beschränkt sich der Grundrechtskatalog im Wesentlichen auf die Verankerung klassischer Freiheitsrechte. Die unmittelbare Anwendbarkeit wird durch differenzierte Schrankenbestimmungen in den jeweiligen Grundrechten unterstrichen. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Prinzipien und Garantien fehlen nahezu völlig; eine Ausnahme bildet etwa Art. 6 GG, der den Staat verpflichtet, Ehe und Familie zu schützen. Auf einen durch soziale Aufträge und Garantien strukturierten Gesellschaftsentwurf verzichtete der Verfassungsgeber aus zwei Gründen: zum einen, da er das Grundgesetz als Provisorium bis zur Verabschiedung einer gesamtdeutschen Verfassung verstehen wollte, zum anderen, da er die unmittelbare Anwendbarkeit und Einklagbarkeit der Grundrechte sicherstellen wollte. Bei einer Zusammenführung von Freiheitsrechten und sozialen Rechten im Grundrechtsteil hätte die Einklagbarkeit, wie die Erfahrungen der Weimarer Republik lehrten, leicht in Frage gestellt werden können.9 Spätestens seit Inkrafttreten der spanischen Verfassung von 1978 weiß man, dass dieses Risiko durch ausdrückliche Normativitätsdistinktionen in der

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Häberle, Peter, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, Juristenzeitung 1975, S. 297 ff. 7 Häberle (Fn. 6), S. 301, 303. 8 Siehe z. B. Starck, Christian, in: v. Mangoldt / K lein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 7. Aufl., München 2018, Art. 1 Abs. 3, Rn. 325. In der religionswissenschaftlichen Literatur wird von der „Vergrundrechtlichung der Gesellschaft“ gesprochen; vgl. Reuter, Astrid, Religion in der verrechtlichten Gesellschaft, Göttingen 2014, S. 59 ff.; Buser, Denise, „Vergrundrechtlichung“ der Gesellschaft und selbstbeschränkende Mechanismen im Recht: eine Kurzreplik zu Astrid Reuter, in: A. Kühler / F. Hafner / J. Mohn (Hrsg.), Interdependenzen von Recht und Religion, Würzburg 2014, S. 31–40. 9 Allerdings ist es unzutreffend, dass den Grundrechten der Weimarer Verfassung generell nur Programmsatzcharakter zugemessen wurde; vgl. Dreier, Horst, Grundrechtsrepublik Weimar, in: H. Dreier / C.  Waldhoff (Hrsg.), Das Wagnis der Demokratie, München 2018, S. 175 ff.; Groh, Kathrin, Zu den Grundrechten der Weimarer Reichsverfassung, DÖV 2019, S. 598, 601 ff.; Gusy, Christoph, 100 Jahre Weimarer Verfassung, Tübingen 2018, S. 240 ff.

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Verfassung selbst minimiert werden kann.10 Im Bonner Grundgesetz bleibt als normativer Ansatzpunkt für einen übergreifenden sozialen Gestaltungsauftrag nur das zusammen mit den Staatsstrukturprinzipien in Art. 20 GG verankerte Sozialstaatsgebot. Doch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und die Verfassungsrechtslehre haben noch weitere Ansatzpunkte für eine Grundrechtsexpansion gefunden. Diese sind Gegenstand des nachfolgenden Abschnitts (II.). Anschließend werden Ansätze zu einer Zurückdrängung ausgreifender Grundrechtskonzepte vorgestellt (III.) und sodann der Einfluss des sich wandelnden überstaatlichen Rahmens in den Blick genommen (IV.). Die Kurzanalyse des deutschen Grundrechtsschutzes schließt mit einer Bewertung seiner Entwicklung (V.).

II. Expansive Tendenzen in der deutschen Grundrechtsdogmatik Die Erweiterung der normativen Reichweite der Grundrechte kann auf verschiedene Weise erfolgen. Zunächst kann eine extensive Auslegung des Schutzbereichs der Grundrechte und der Grundrechtsadressaten dazu beitragen. Sodann kann Grundrechten eine über den subjektivrechtlichen Gehalt hinausreichende normative Dimension zugewiesen werden. Dies ist insbesondere der Fall, wenn man sie als Grundsatznormen für jegliches Staatshandeln versteht.11 1. „Favor libertatis“ und Schutzbereichsbestimmung Die Tendenz zu einer extensiven Auslegung der Schutzbereiche der einzelnen Grundrechte lässt sich in der Rechtsprechung des BVerfG schon früh feststellen. Den konzeptionellen Hintergrund bildet eine Vermutung zugunsten der Freiheit, die das BVerfG nicht nur auf die Lösung von Zweifelsfällen,12 sondern auch auf die Interpretation der Schutzbereiche der Grundrechte bezieht.13 Besonders weitreichend war die Auslegung des Rechts auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) als allgemeine Handlungsfreiheit und nicht bloß als Freiheitsgarantie für einen Kernbereich der Persönlichkeit. Das „Elfes-Urteil“ vom 16. Ja-

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Dazu Sommermann, Karl-Peter, Der Schutz der Grundechte in Spanien nach der Verfassung von 1978, Berlin 1984, S. 139 ff.; ders., Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen 1997, S. 336 ff. 11 Dazu Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Grundrechte als Grundsatznormen. Zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat Bd. 29 (1990), S. 1–31. 12 Dazu Merten, Detlef, Grundrechtlicher Schutzbereich, in: D. Merten / H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 3, Heidelberg 2009, § 56, S. 3, 42 ff. 13 Dazu, dass aus den Grundrechten eine Freiheitsvermutung folge, in jüngerer Zeit BVerfGE 135, 1, 32.

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nuar 195714 bewirkte, dass dieses allgemeine Freiheitsrecht immer dann zur Anwendung kommt, wenn eines der speziellen Freiheitsrechte nicht greift, so dass ein lücken­loser Grundrechtsschutz, d. h. eine grundrechtlich verbürgte „Freiheit von gesetzwidrigem Zwang“15 gewährt wird. Auch bei den speziellen Freiheitsrechten zeigt sich die Tendenz, sie extensiv auszulegen. Die entscheidende Prüfung, ob ein Grundrecht verletzt ist, verlagert sich in die in den Grundrechtsbestimmungen ausdrücklich genannten Schranken oder, bei vorbehaltlos gewährten Grundrechten, in die verfassungsimmanenten Schranken, die durch „kollidierende Grundrechte Dritter und sonstige mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte“16 gebildet werden. Die durch die Ausdehnung des Schutzbereiches vermehrt entstehenden Konflikte mit Grundrechten anderer Personen und mit Verfassungswerten müssen daher in den meisten Fällen durch eine eingehende Verhältnismäßigkeitskontrolle gelöst werden. Dabei nimmt wiederum die dritte Stufe, die Angemessenheitsprüfung, eine zentrale Rolle ein: Grundrechtskollisionen oder Konflikte zwischen Grundrechten und anderen Verfassungswerten sind im Wege einer Abwägung zwischen den verschiedenen Verfassungspositionen und dem Grad ihrer jeweiligen Betroffenheit zu lösen; es geht um die Herstellung „praktischer Konkordanz“ (Konrad Hesse).17 Das Vertrauen in die regulative Kraft des Verhältnismäßigkeitsprinzips legte es auch nahe, bei der Bejahung eines Grundrechtseingriffs großzügig zu sein. Es ist nach der Rechtsprechung des BVerfG und der überwiegenden Meinung im Schrifttum nicht notwendig, dass eine gezielte Maßnahme vorliegt (klassischer Eingriffsbegriff); ausreichend ist jede Grundrechtsbeeinträchtigung, wenn diese der Wirkung eines Eingriffs gleichkommt.18 Eine Erweiterung des grundrechtlichen Schutzes hat das BVerfG auch dadurch erreicht, dass es aus einer Zusammenschau von Grundrechten oder eines Grundrechts und einer Staatszielbestimmung neue Rechte synthetisiert hat (sog. Kombinationsgrundrechte).19 Dadurch erleichtert es einen der gesellschaftlichen Veränderung Rechnung tragenden Verfassungswandel. Ein illustratives Beispiel bildet die Zusammenschau von Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz, aus der das

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BVerfGE 6, 32 ff. So die Formel von Jellinek, Georg, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl., Tübingen 1905, S. 103; dazu Ladeur, Karl-Heinz, Negative Freiheitsrechte und gesellschaft­ liche Selbstorganisation: Die Erzeugung von Sozialkapital durch Institutionen, Tübingen 2000, S. 6 f.; Isensee, Josef, Was heißt Freiheit? – Begriffe von Freiheit in der Staatsrechtslehre (2011), abgedruckt in: ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats- und Verfassungstheorie, Heidelberg 2018, S. 119, 131 f. 16 BVerfGE 28, 243, 261; vgl. auch BVerfGE 107, 104, 118; 128, 1, 41; 139, 19, 49 f. 17 Vgl. z. B., den Begriff „Konkordanz“ bzw. „praktische Konkordanz“ aufgreifend, BVerfGE 41, 29, 50 f.; 93, 1, 22 f.; 115, 205, 232 ff.; 147, 50, 145 f. 18 BVerfGE 116, 202, 222. 19 Vgl. Augsberg, Ino / Augsberg, Steffen, Kombinationsgrundrechte  – Die Verkoppelung von Grundrechtstatbeständen als Herausforderung für die Grundrechtsdogmatik, AöR 2007, S. 539–581 (zur Zusammenschau von Grundrechten). 15

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Gericht zunächst ein allgemeines Persönlichkeitsrecht hergeleitet hat,20 sodann als spezielle Ausprägung ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung21 und später ein Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme.22 Zu den herausragenden Beispielen einer dynamischen interpretativen Entfaltung der Grundrechte zählt auch die Anerkennung eines Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, also eines Leistungsrechts, abgeleitet aus Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürdegarantie) und Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatsprinzip). Das hierfür grundlegende Urteil vom 9. Februar 201023 hat zugleich neue Fragen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle bei Leistungsansprüchen gegen den Gesetzgeber aufgeworfen.24 Eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Grundrechte kann schließlich durch eine Erweiterung ihres Adressatenkreises erfolgen. So hat das BVerfG die Grundrechtsbindung gemischtwirtschaftlicher Unternehmen bejaht, sofern diese von der öffentlichen Hand beherrscht werden, was in der Regel der Fall sei, wenn mehr als 50 % der Anteile im Eigentum der öffentlichen Hand stehen.25 Weiter ging das Bundesarbeitsgericht in den Anfangsjahren der Bundesrepublik. Aufbauend auf die Lehre von Hans Carl Nipperdey26 hat es ab den 1950er Jahren wegen der Strukturähnlichkeit wirtschaftlicher und sozialer Macht zur staatlichen Macht eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Arbeitsrecht anerkannt.27 Dazu bedurfte es interpretativ einer teleologischen Erweiterung des Art. 1 Abs. 3 GG, der nur von der Bindung der drei Staatsfunktionen spricht.28 Von der Lehre der unmittelbaren Drittwirkung ist das Bundesarbeitsgericht indes seit den 20

BVerfGE 6, 389, 433; 27, 344, 352; 34, 238, 246. BVerfGE 65, 1, 41 ff.; 96, 171, 181. 22 BVerfGE 120, 274, 302 ff.; 133, 277, 373. 23 BVerfGE 125, 175, 221 ff. 24 Merten, Detlef, „Gute“ Gesetzgebung als Verfassungspflicht oder Verfahrenslast?, DÖV 2015, S. 349 ff.; Sommermann, Karl-Peter, Soziale Rechte in Stufen: Überwindung einer alten Debatte?, in: C. Calliess / W. Kahl / K. Schmalenbach (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und soziale Rechte in der Europäischen Union. Deidesheimer Kolloquium zu Ehren von Detlef Merten anlässlich seines 75. Geburtstags, Berlin 2014, S. 107 ff. 25 BVerfGE 128, 226, 246 f. (Ausübung des Demonstrationsrechts in dem der Fraport Aktiengesellschaft gehörenden Frankfurter Flughafen). 26 Nipperdey, Hans Carl, Das Arbeitsrecht im Grundgesetz, RdA 1949, S. 214 ff.; ders., Gleicher Lohn der Frau für gleiche Leistung, RdA 1950, S. 121 ff.; ders., Grundrechte und Privatrecht, Krefeld 1961. 27 Vgl. dazu Fabisch, Dieter, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Arbeitsrecht. Die Auswirkungen der von Hans Carl Nipperdey begründeten Lehre auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, Frankfurt a. M. 2010, S. 157 ff. 28 Zur Gleichstellung von Tarifverträgen mit Gesetzgebung vgl. BAG, Urteil v. 15.1.1955, Rn. 27 (BAGE 1, 258, 262): „Nach Art. 1 Abs. 3 GG binden die nachfolgenden Grundrechte auch die Gesetzgebung als unmittelbar geltendes Recht. Tarifverträge sind aber Gesetzgebung, Gesetze im materiellen Sinne, weil sie namentlich in ihren Arbeitsbedingungen objektives Recht für die Arbeitsverhältnisse der Beteiligten setzen“; vgl. dazu Knebel, Sophie Victoria, Die Drittwirkung der Grundrechte und -freiheiten gegenüber Privaten. Regulierungsmöglichkeiten sozialer Netzwerke, Baden-Baden 2018, S. 37. 21

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1980er Jahren wieder abgerückt, um sich der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung29 anzuschließen. 2. Die Grundrechte als Elemente einer objektiven Wertordnung Weitaus stärker noch als das extensive Verständnis der Schutzbereiche der einzelnen Grundrechte hat die sog. Wertordnungslehre die Vergrößerung der normativen Reichweite der Grundrechte vorangetrieben. Nach dieser Lehre, die das BVerfG, beeinflusst durch die Werttheorie Rudolf Smends,30 im Lüth-Urteil vom 15. Januar 1958 entfaltet hat, sind die Grundrechte nicht nur Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat, sondern Elemente einer objektiven Wertordnung, die für alle Bereiche des Rechts maßgeblich ist.31 Dies hat zur Folge, dass die gesamte Rechtsordnung im Lichte der Grundrechte auszulegen ist und insbesondere der Inhalt der Generalklauseln – im Zivilrecht z. B. der Verweis auf die guten Sitten – unter Rückgriff auf die grundrechtlichen Wertentscheidungen des Grundgesetzes zu bestimmen ist.32 Dadurch entfalten die Grundrechte indirekt auch Wirkung in Rechtsverhältnissen zwischen Privaten (sog. mittelbare Drittwirkung oder Horizontalwirkung). Für Arbeitgeber bedeutet dies, dass ihre Direktionsbefugnis gegenüber Arbeitnehmern durch die wertsetzende Bedeutung der Grundrechte (z. B. der Gewissensfreiheit) eingeschränkt sein kann,33 für Inhaber des Hausrechts eines Stadions, dass im Falle der Öffnung für ein großes Publikum bestimmte Personen nicht ohne sachlichen Grund ausgeschlossen werden dürfen (Achtung des Gleichheitsgrundrechts).34 Die grundrechtliche Hintergrundstrahlung ist allgegenwärtig. Beachtet ein Gericht bei der Auslegung des für den Rechtsstreit maßgeblichen Rechts die grundrechtlichen Wertmaßstäbe nicht, so führt dies, wenn dagegen Verfassungsbeschwerde erhoben wird, zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Urteils und zu seiner Aufhebung. Verfassungsnormen eine wertsetzende Bedeutung zuzumessen, ist rechtsvergleichend gesehen freilich nicht singulär. Bereits in einem seiner ersten Urteile hat das spanische Verfassungsgericht im Jahre 1981 nahe an der bei Konrad Hesse zu findenden Terminologie35 einen „Doppelcharakter“ der Grundrechte anerkannt und festgestellt, dass die Grundrechte gleichzeitig „wesentliche Elemente einer objektiven Ordnung der nationalen Gemeinschaft“ darstellten.36 Eine systematische Entfaltung der Wertordnungslehre ist in Spanien allerdings nicht erfolgt, 29

Dazu sogleich unter 2. Smend, Rudolf, Verfassung und Verfassungsrecht, Berlin 1928, S. 42 ff. 31 BVerfGE 7, 198, 204 f. 32 BVerfGE 7, 198, 206. 33 Vgl. BAGE 62, 59 ff. 34 BVerfGE 148, 267 ff. 35 Hesse, Konrad, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Heidelberg 1995, § 9 II (S. 127 ff.). 36 RI-4, 25/1981, BJC 1981, S. 324, 331 (II 5). 30

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wenngleich sich das Verfassungsgericht in seiner Rechtsprechung ab und zu auf den Begriff der „Wertordnung“ (orden de valores) bezieht, so zuletzt in der Plenarentscheidung vom 14. November 2018.37 In Frankreich hat der Conseil constitutionnel ausgewählte Gemeinwohlbelange als „principes et objectifs à valeur constitutionnelle“ anerkannt, darunter etwa die Achtung der Freiheit anderer38 und der Schutz der öffentlichen Gesundheit.39 Diese Ziele und Prinzipien sind funktional der Kategorie der Verfassungswerte im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG vergleichbar, werden in Frankreich aber überwiegend zur Rechtfertigung der Einschränkung von Grundrechten eingesetzt. Ähnlich liegt der Fall in Italien, wo die Corte Costituzionale in ihrer Rechtsprechung Verfassungswerte (valori costituzionali) häufig zur Begründung der Verfassungsmäßigkeit grundrechtseinschränkender Normen heranzieht.40 Insgesamt kann festgestellt werden, dass in Europa die Tendenz wächst, Grundrechte nicht nur als subjektive Rechte des Einzelnen zu verstehen, sondern zugleich als Grundwerte der Gemeinschaft. Im Primärrecht der Europäischen Union (Art. 2 EUV) sind ausdrücklich Werte der Union niedergelegt, die in der Folge durch weitere Normen konkretisiert werden, darunter nicht zuletzt und ausweislich ihrer Präambel auch durch die Europäische Grundrechte-Charta. 3. „Objektivrechtliche“ Grundrechtsgehalte Die Öffnung der Grundrechtsnormen für objektivrechtliche Gehalte hat in Deutschland zu einer Erweiterung der Grundrechtsgehalte in mehreren Dimensionen geführt. Im Vordergrund steht dabei die Sicherung der praktischen Wirksamkeit der Grundrechte durch präventive Instrumente. Hierzu zählt zunächst die Anerkennung der Grundrechte als Organisations- und Verfahrensgarantien.41 Das Verwaltungsverfahren, insbesondere auch Planungsverfahren, soll durch Betroffenenbeteiligung gewährleisten, dass die Rechte des einzelnen in der Verwaltungsentscheidung gebührende Berücksichtigung finden und damit die Gefahr einer Grundrechtsverletzung minimiert wird. Sodann zählt zu den präventiven Instrumenten die Anerkennung von Schutzpflichten des Staates, der durch seine Gesetzgebung sicherzustellen hat, dass die Grundrechte auch im Verhältnis zu Dritten, d. h. Privatpersonen oder ausländi 37

TC, Urteil 124/2018 (Plenum) v. 14.11.2018 (BOE núm 301 v. 14.12.2018), sub II 3 b (das Urteil betrifft eine Kompetenzstreitigkeit). 38 Conseil Constitutionnel, Entscheidung no. 82–141 v. 27.7.1982, rec. 5. 39 Conseil Constitutionnel, Entscheidung no. 2012–248 (QPC) v. 16.5.2012, rec. 6.  40 Vgl. etwa Sentenza 58/2018 v. 7.2.2018, cons. 3.1. 41 BVerfGE 53, 30, 65 m. w. N.; vgl. aus dem Schrifttum nur Held, Jürgen, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, Berlin 1984; Schmidt-Aßmann, Eberhard, Grundrechte als Organisations- und Verfahrensgarantien, in: D. Merten / H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, Heidelberg 2006, § 45, S. 993 ff.

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schen Hoheitsträgern geschützt werden.42 Klassisch ist die Pflicht, Sicherheit zu gewähren, d. h. Leib und Leben und Eigentum der Bürger zu schützen. Die Schutzpflichtendimension der Grundrechte hat heute, wo es gilt, den einzelnen vor strukturellen Gefährdungen seiner Freiheit durch gesellschaftliche und wirtschaftliche Machtträger zu schützen, eine überragende Bedeutung gewonnen. Während zunächst die Schutzpflichten der rein objektivrechtlichen Sphäre der Grundrechte zugerechnet wurden, ist seit geraumer Zeit eine Subjektivierung, d. h. die Anerkennung von bestimmten Ansprüchen auf Schutz, zu beobachten.43 Hinsichtlich der Wahrnehmung der Schutzpflichten durch den Gesetzgeber hat das BVerfG diesem allerdings stets eine weite Einschätzungsprärogative zuerkannt,44 vergleichbar der Lage bei den Staatszielbestimmungen wie dem Sozialstaatsprinzip.45 Das vom Gericht als Regulativ benannte „Untermaßverbot“46 hat daran bislang nichts geändert.

III. Kontraktive Tendenzen in der deutschen Grundrechtsdogmatik An den Mechanismen eines expansiven Grundrechtsverständnisses wurde von Anfang an Kritik geübt. Dabei geht es den Kritikern im Allgemeinen nicht um den Versuch, den Grundrechtsschutz zu reduzieren, sondern vielmehr darum, einer „Schwächung der Grundrechtsintensität“ durch „unbegrenzte Abwägung“ zu begegnen.47 Eine inflationäre Ausdehnung der Grundrechtsgehalte, so die Befürchtung, kann dazu führen, dass sich weit verstandene Grundrechtspositionen und Verfassungswerte gegenseitig aufheben. 1. Kritik an der Wertordnungslehre An der Wertordnungslehre wurde insbesondere im Hinblick auf die Ausdehnung der objektivrechtlichen Dimension Kritik geübt. In seiner streitbaren Habilitationsschrift „Probleme der Grundrechtsdogmatik“ schrieb Jürgen Schwabe im Jahr 1976: „Sich mit dem objektivrechtlichen Gehalt der Grundrechte befassen, heißt mit der Stange in jenem Nebel fuchteln, an dessen Entstehung sowohl ein Teil 42

BVerfGE 88, 203, 309 ff.; 102, 1, 18; 130, 372, 389; 146, 164, 197. Zur Schutzpflichtendogmatik näher Calliess, Christian, Schutzpflichten, in: D. Merten / H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, Heidelberg 2006, § 44, S. 963 ff. 43 Dazu Dietlein, Johannes, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2. Aufl., Berlin 2005, S. 133 ff.; Classen, Claus Dieter, Staatsrecht II – Grundrechte, München 2018, S. 92 ff. 44 BVerfGE 96, 56, 64; 115, 118, 160; 133, 59, 75 f. 45 Vgl. etwa BVerfGE 40, 121, 133 f.; 59, 231, 263; 82, 60, 80. 46 BVerfGE 88, 203, 254; 109, 190, 247. 47 Jestaedt, Matthias, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, Tübingen 1999, S. 49 ff.; daran anschließend Aulehner, Josef, Grundrechte und Gesetzgebung, Tübingen 2011, S. 52 ff.

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der Staatslehre (nach 1949) wie auch das BVerfG Schuld tragen. Es gibt schwerlich sonst etwas von einigem Gewicht in der Grundrechtsdogmatik, das einen gleich diffusen Umriss hat …“48 Eine grundsätzliche Kritik hatte bereits zuvor Ernst-Wolfgang Böckenförde formuliert. Bei einem Verständnis der Grundrechte als „Werte und Ausdruck von Wertentscheidungen“ werde die „Bestimmung des Grundrechtsinhalts … eine Frage der Sinnermittlung des darin ausgedrückten Wertes, was nur geisteswissenschaftlich-intuitiv erreichbar erscheint, sowie der Einfügung dieses Wertes in das zugrunde liegende Wertsystem, was nur durch Korrelation mit dem geistig-kulturellen Wertbewusstsein der Zeit ermittelbar ist. Dem Einströmen zeitgebundener und ggf. rasch wechselnder Wertauffassungen und Werturteile in die Grundrechtsinterpretation ist damit – bewusst – die Tür geöffnet“.49 Die Wertbegründung des Rechts erweise sich so als unmöglich, da diese „im Kern das Recht stets und nur auf greifbare, positiv vorhandene subjektive Wertauffassungen in der Gesellschaft zurückführten, ohne diesen gegenüber einen eigenen normativ-kritischen Maßstab zu enthalten“.50 Hiergegen ist freilich einzuwenden, dass der Wertgehalt der Grundrechte durch die weitere Rechtsprechung des BVerfG durchaus Konturen gewonnen hat und wegen seiner Orientierung am subjektivrechtlichen Gehalt des jeweiligen Grundrechts keineswegs Raum für eine Rezeption beliebiger Wertauffassungen bietet. Andere Autoren weisen ebenfalls auf die durch die Wertordnungslehre hervorgerufene Relativierung der Grundrechte hin. Sie betonen, dass für deren Einschränkung wegen der notwendigen Berücksichtigung der Werte im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung keine eindeutigen Kriterien mehr zur Verfügung stünden. In diesem Sinne wurde vom „Abwägungsstaat“ gesprochen51 sowie von dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als „großem Gleich- und Weichmacher der Verfassungsmaßstäbe“.52 Teilweise wird zur Stärkung des klassischen subjektivrechtlichen Gehalts der Grundrechte ein klarer Vorrang vor den (rein) objektivrechtlichen Elementen postuliert.53 Von dieser Warte aus wird auch der Ansatz Robert Alexys, die wechselseitige Zuordnung von Grundrechten durch ausdifferenzierte Abwägungsregeln weiter zu rationalisieren, kaum anders beurteilt.54 Alexy

48

Schwabe, Jürgen, Probleme der Grundrechtsdogmatik, Darmstadt 1977, S. 286. Böckenförde, Ernst Wolfgang, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529, 1534. 50 Böckenförde, Ernst Wolfgang, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts (1988), abgedruckt in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt am Main 1991, S. 67, 89. 51 Leisner, Walter, Der Abwägungsstaat: Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit?, Berlin 1997. 52 Ossenbühl, Fritz, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 39 (1981), S. 189. 53 Starck, Christian, in: v. Mangoldt / K lein / Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 7. Aufl., München 2018, Art. 1 Abs. 3, Rn. 171 ff. 54 Vgl. Starck (Fn. 53), Rn. 162 m. w. N.; siehe auch Klement, Jan Hendrik, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt. Robert Alexys Prinzipientheorie aus der Sicht der Grundrechts­ dogmatik, Juristenzeitung 2008, S. 756–763. 49

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weist den Grundrechten ebenfalls Prinzipiencharakter zu; er will jedoch durch ein Verständnis der Grundrechte als Optimierungsgebote und durch Regeln der Optimierung eine größere Transparenz der Argumentation erreichen.55 2. Einschränkung des Vorbehalts des Gesetzes bei bestimmten mittelbaren Grundrechtsbeeinträchtigungen Eine kontraktive Tendenz ist ansatzweise auch in der Rechtsprechung des BVerfG zum Vorbehalt des Gesetzes bei Grundrechtsbeeinträchtigungen zu beobachten, soweit es um staatliches Informationshandeln geht. In zwei Urteilen vom 26. Juni 2002 hatte das Gericht zu prüfen, ob Informationshandeln der Bundesregierung, das Grundrechte mittelbar beeinträchtigt (Warnung vor glykolhaltigem Wein bzw. vor Sekten), ohne gesetzliche Grundlage verfassungsrechtlich zulässig ist.56 Das Gericht hielt die Unterrichtung der Öffentlichkeit im Ergebnis für von der „verfassungsunmittelbaren Aufgabe der Staatsleitung“ umfasst.57 Im Falle der Warnung vor glykolhaltigem Wein ging das Gericht so weit festzustellen, dass eine Grundrechtsbeeinträchtigung nicht vorliege, solange sich die staatliche Tätigkeit darauf beschränke, „den Marktteilnehmern marktrelevante Informationen bereitzustellen“, auch wenn diese sich auf das Marktverhalten auswirken können.58 Im Falle der Warnung vor einer Sekte verneinte das Gericht zwar nicht eine Grundrechtsbeeinträchtigung. Da die Informationstätigkeit aber erst durch „die Reaktionen der Bürger zu mittelbar-faktischen Grundrechtsbeeinträchtigungen“ führe, sei eine gesetzliche Ermächtigung nicht erforderlich.59 Das Informationshandeln der Bundesregierung finde jedoch in der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung sowie inhaltlich in der Richtigkeit und Sachlichkeit der Information bzw. der weltanschaulichen Neutralität seine Grenzen.60 Eine gesetzliche Grundlage sei erst dann erforderlich, wenn das Informationshandeln ein funktionales Äquivalent zu einem herkömmlichen Eingriff darstelle, also nach Zielsetzung und Wirkung als Ersatz für einen solchen Eingriff zu werten wäre.61 Ähnlich, allerdings in etwas anderer dogmatischer Einordnung, hat das BVerfG in einem Urteil vom 7. November 2017 das Frage- und Informationsrecht des Bundestages und die damit verbundene Auskunftspflicht der Bundesregierung als hinreichende Grundlage für einen in der Auskunftserteilung liegenden (mittelbaren) „Grundrechtseingriff“ gegenüber Privaten angesehen.62 Im Übrigen haben die Be 55

Alexy, Robert, Theorie der Grundrechte, Frankfurt 1985, S. 75 ff., 143 ff. BVerfGE 105, 252 ff. (Glykol); 105, 279 ff. (Osho). 57 BVerfGE 105, 252, 268 ff.; 105, 279, 301. 58 BVerfGE 105, 252, 273. 59 BVerfGE 105, 279, 304. 60 BVerfGE 105, 252, 272; 105, 279, 293 ff., 308 ff. 61 BVerfGE 105, 252, 273; 105, 279, 303. 62 BVerfGE 147, 50, 145 ff. 56

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gründungen der Entscheidungen von 2002 keine Folgerechtsprechung gefunden, was angesichts der grundrechtsdogmatischen Inkohärenz der Argumentation zu begrüßen ist. Zu Recht hat man festgestellt, dass sie letztlich zu einer Komplexitätssteigerung und nicht zu einer Komplexitätsreduktion führt.63 3. Beschränkung der normativen Reichweite der Grundrechte auf den „Gewährleistungsgehalt“ Weitere Versuche einer Eindämmung der Grundrechtsexpansion zielen auf eine präzisere Ermittlung und damit engere Interpretation des Grundrechtsgehalts, so dass der effektive Abwehrschutz weniger von dem Ausgang der Verhältnismäßigkeitsprüfung abhängen soll. Am weitesten ausgebildet ist insoweit der Ansatz einer Rückbesinnung auf den „grundrechtlichen Gewährleistungsgehalt“. Angestoßen hat ihn Ernst-Wolfgang Böckenförde,64 weiter ausgearbeitet vor allem Benjamin Rusteberg.65 Danach besteht der grundrechtliche Schutzbereich aus dem Sach­bereich und dem Gewährleistungsgehalt,66 der dasjenige kennzeichnet, „wogegen das Grundrecht innerhalb des Sachbereichs Schutz gewährleistet“.67 Dies wiederum könne weniger aus dem Wortlaut als aus der „historischen Gefährdungslage“ ermittelt werden.68 Das von Rusteberg näher erörterte Beispiel der Kunstfreiheit zeigt indes, wie komplex eine entsprechende Prüfung ausfallen muss.69 Der Sache nach wertet sie die weit über die Entstehungsgeschichte der Norm hinausreichende historische Verfassungsinterpretation erheblich auf, zu Lasten einer objektiv-teleologischen Auslegung, die nach der Verfassungsjudikatur im Allgemeinen vorrangig zu berücksichtigen ist.70

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Huber, Peter Michael, Die Informationstätigkeit der öffentlichen Hand – ein grundrechtliches Sonderregime aus Karlsruhe?, in: Juristenzeitung 2003, S. 290, 297. 64 Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken  – zur Kritik gegenwärtiger Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat Bd. 42 (2003), S. 165, 174 ff.; zur Diskussion seiner Thesen auch Merten, Grundrechtlicher Schutzbereich (Fn. 12), S. 27 m. w. N.  65 Rusteberg, Benjamin, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, Tübingen 2009. 66 Rusteberg (Fn. 65), S. 232 ff. Zuweilen spricht auch das BVerfG vom „Gewährleistungs­ gehalt“, wobei nicht immer klar ist, ob vom Schutzbereich oder von einem Ausschnitt desselben die Rede ist, vgl. z. B. BVerfGE 106, 28, 37; 128, 326, 390. 67 Ebd., S. 173. 68 Ebd., S. 175 ff. 69 Ebd., S. 246 ff. 70 Vgl. bereits BVerfGE 1, 299, 312.

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IV. Der Einfluss von Europäisierung und Globalisierung auf die deutschen Grundrechte und die Grundrechtsdogmatik Die Grundrechtsrechtsprechung des BVerfG steht seit Längerem unter dem Einfluss des Völkerrechts, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), sowie des Rechts der Europäischen Union. Globale Herausforderungen für den Grundrechtsschutz gehen zunehmend von transnationalen Unternehmen und vom Internet, nicht zuletzt von sozialen Netzwerken aus. 1. Harmonisierung der Grundrechte mit den Anforderungen der EMRK Strukturell stimmt die Prüfung einer Grundrechtsverletzung und die einer Verletzung eines Rechts aus der EMRK weitgehend überein. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) führt die Prüfung anhand der Stufen Schutzbereich, Eingriff und Eingriffsrechtfertigung durch.71 Bei der Eingriffsrechtfertigung steht bei den meisten Konventionsrechten das Merkmal „necessary in a democratic society“ (notwendig in einer demokratischen Gesellschaft), mithin wie im deutschen Recht der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Vordergrund. Da es bei kollidierenden Rechten oder Rechtsgütern auch hier letztlich um die Herstellung praktischer Konkordanz geht, können sich wiederum Kritiker der Abwägungsdogmatik in ihren Einwänden bestätigt sehen. Angesichts des insgesamt hohen Schutzniveaus der deutschen Grundrechte, sind es vor allem mehrpolige Rechtsverhältnisse, die zu einer Divergenz der deutschen und der europäischen Rechtsprechung führen können, etwa dann, wenn in einem zu entscheidenden Fall das Persönlichkeitsrecht mit der Pressefreiheit kollidiert und der EGMR in der Abwägung zu einem anderen Ergebnis gelangt als das deutsche BVerfG. Da den völkerrechtlichen Verträgen und somit auch der EMRK in der deutschen Rechtsordnung lediglich einfacher Gesetzesrang zukommt, kann die Divergenz nicht durch die Normenhierarchie beseitigt werden. Um dennoch einen Gleichklang zwischen dem europäischen und dem deutschen Grundrechtsschutz sicherzustellen, hat das BVerfG aus Art. 1 Abs. 2 GG (Bekenntnis zu den Menschenrechten als „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft … in der Welt“) ein Gebot konventionskonformer Auslegung der deutschen Rechtsordnung, also auch der deutschen Grundrechte hergeleitet.72 Die Lage ist insoweit vergleichbar

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Vgl. Ehlers, Dirk, Allgemeine Lehren der EMRK, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl., Berlin / Boston 2014, § 2, S. 25, 69 ff. 72 BVerfGE 128, 326, 366 ff.; 148, 296, 352 f.; vgl. bereits BVerfGE 74, 358, 370 (ohne ausdrücklichen Rekurs auf Art. 1 Abs. 2 GG), und BVerfGE 111, 307, 329.

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derjenigen in Spanien, wo Art. 10 Abs. 2 der Verfassung von 1978 sehr viel expliziter diese Auslegungsregel statuiert.73 2. Das Verhältnis der deutschen Grundrechte zu den Unionsgrundrechten Was den Einfluss des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) auf die deutsche Grundrechtsrechtsprechung anbetrifft, so ist dieser Einfluss durch die Anwendung der Europäischen Grundrechte-Charta, die mit dem Lissabonner Vertrag74 in den Rang von EU-Primärrecht erhoben wurde,75 gewachsen. Dass der Schutzstandard auf Unionsebene im Einzelfall höher sein kann, zeigt ein Vergleich der Urteile zur Vorratsdatenspeicherung des BVerfG vom 2. März 2010 einerseits und des EuGH vom 8. April 2014 andererseits. In beiden Fällen war die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs Schwerpunkt der Prüfung. Das deutsche Gericht erklärte zwar einzelne Vorschriften des deutschen Umsetzungsgesetzes zur Richtlinie 2006/24/EG über die Vorratsspeicherung von Daten für verfassungswidrig, erachtete indes eine „sechsmonatige anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten für qualifizierte Verwendungen im Rahmen der Strafverfolgung“ nicht für „schlechthin unvereinbar“ mit Art. 10 Abs. 1 GG.76 Der EuGH beanstandete, im Einzelnen weitergehend als das BVerfG, eine mangelnde Beschränkung der Richtlinie auf das „absolut Notwendige“.77 Seit langem steht freilich die Sorge des BVerfG im Vordergrund, den in Deutschland erreichten Grundrechtsstandard auch gegenüber grundrechtseinschränkenden Vorgaben des Unionsrechts zu wahren. Wenngleich das Gericht seit 1986 eine Kontrolle des Sekundärrechts der Gemeinschaft bzw. Union in Abwendung von einer früheren Rechtsprechung78 grundsätzlich nicht mehr ausübt,79 behält es sich eine Kontrolle bei Ultra-vires-Handeln der Union sowie Eingriffen in die Verfassungsidentität Deutschlands vor.80 Was das Verhältnis der deutschen Grundrechte zu den Unionsgrundrechten anbetrifft, die gemäß Art. 51 Abs. 1 der Grundrechte-Charta für die Mitgliedstaaten dann gelten, wenn sie Unionsrecht durchführen, versteht das BVerfG seine Funk 73 Das spanische Verfassungsgericht hat die Auslegungsregel von Anfang an angewendet, zuerst im Urteil 12/1981 v. 10.4.1981, II 3 (BOE núm. 99, de 25 de abril de 1981; ECLI:ES:TC:1981:12). 74 BGBl. 2009 II, S. 1223. 75 Siehe Art. 6 Abs. 1 EUV. 76 BVerfGE 125, 260, 316. 77 Urteil v. 8.4.2014, Rs. C 293/12 (Digital Rights Ireland Ltd), Rn. 45 ff. (52), E ­ CLI:EU:​ C:2014:238. 78 BVerfGE 37, 271, 280 ff. (Solange I). 79 BVerfGE 73, 339, 387 (Solange II). 80 BVerfGE 123, 267, 353 f. (Lissabon-Vertrag).

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tion, primär dem Schutz der im Grundgesetz niedergelegten Grundrechte zu dienen, in einem weiten Sinne. Es nimmt für sich in Anspruch, „innerstaatliches Recht und dessen Anwendung grundsätzlich auch dann am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes“ zu prüfen, „wenn es im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegt, dabei aber durch dieses nicht vollständig determiniert ist“.81 Die Beantwortung der Frage, wann der Unionsgesetzgeber derartige Umsetzungsspielräume belässt, birgt für die Zukunft Konfliktpotential, welches das Gericht indes wegen des „gemeinsamen Fundaments in der Europäischen Menschenrechtskonvention“ für gering hält.82 In Fällen, die eine vollständig vergemeinschaftete Materie betreffen, will das BVerfG nun eine Prüfung am Maßstab der Unionsgrundrechte durchführen.83 3. Neue Bedrohungslagen Die Bedrohungen, die durch die zunehmende Transnationalisierung der Lebensverhältnisse sowie die Fortentwicklung des Internets und der Digitalisierung hervorgerufen werden, sind vielfältig. Dies stellt zugleich hohe Anforderungen an die Wahrnehmung grundrechtlicher Schutzpflichten durch den Staat. Angesichts der Tatsache, dass Freiheitsverkürzungen und Verletzungen des Persönlichkeitsrechts heute in hohem Maße von Privaten drohen, liegt es nahe, über eine Neukonzeptualisierung der herkömmlich staatsgerichteten Grundrechte nachzudenken. Mit Blick auf die „Strukturähnlichkeit von privater und staatlicher Macht“ hinsichtlich des Verhaltens bestimmter Netzwerke, insbesondere Facebook,84 deutet sich eine Renaissance der Debatte um eine unmittelbare Drittwirkung an. Angesichts der Tatsache, dass „die Nutzungsbedingungen durch das Netzwerk derartig einseitig festgelegt werden, dass sie zumindest für die Nutzer innerhalb der Infrastruktur Facebooks faktisch geltendes Recht innerhalb der virtuellen Wände setzen“, wird anknüpfend an die frühe Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, das seinerzeit mit der Setzung objektiven Rechts durch die Tarifverträge argumentierte, insoweit eine unmittelbare Drittwirkung postuliert.85 Ganz überwiegend wird indes die Lösung in einer Weiterentwicklung der Schutzpflichtendogmatik gesucht.86 Diese begründet Handlungspflichten des Ge­ setzgebers. Diesen könnte sich der Staat auch im Falle der Anerkennung einer unmittelbaren Drittwirkung nicht entziehen. Allein die Rechtssicherheit erfordert 81 Beschluss des Ersten Senats v. 6.11.2019 – 1 BvR 16/13 (Recht auf Vergessen I), Rn. 42, ECLI:DE:BVerfG:2019:rs20191106.1bvr001613. 82 Beschluss (Fn. 81), Rn. 59. 83 Beschluss des Ersten Senats v. 6.11.2019  – 1 BvR 276/17 (Recht auf Vergessen II), Rn. 50 ff., ECLI:DE:BVerfG:2019:rs20191106.1bvr027617. 84 Knebel, Sophie Victoria, Die Drittwirkung der Grundrechte und -freiheiten gegenüber Privaten. Regulierungsmöglichkeiten sozialer Netzwerke, Baden-Baden 2018, S. 37 f. 85 Knebel (Fn. 84). 86 Schliesky, Utz / Hoffmann, Christian / Luch, Anika D. / Schulz, Sönke E. / Borchers, Kim Corinna, Schutzpflichten und Drittwirkung im Internet, Baden-Baden 2014, S. 155 f., 159 ff.

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eine interpositio legislatoris. Für eine Anwendung der Grundrechte zwischen Privaten bleibt dann nicht viel Raum.

V. Fazit Die Entwicklung der Grundrechte und der Grundrechtsdogmatik in Deutschland ist durch eine Ausdifferenzierung der normativen Gehalte der Grundrechte gekennzeichnet, die teilweise nicht als Steigerung des Grundrechtsschutzes, sondern als Verflüssigung oder jedenfalls Beeinträchtigung der Abwehrfunktion der Freiheitsrechte wahrgenommen wird. Denn die Maßnahmen, die zur Erfüllung der aus den Grundrechten hergeleiteten Schutzpflichten ergriffen werden, wirken gegenüber demjenigen, vor dessen Handlungen andere geschützt werden, notwendig freiheitsbeschränkend. Der Gesetzgeber seinerseits sieht sich durch die ihm aus den Grundrechten und ihren „objektiven Gehalten“ erwachsenden Verpflichtungen, die zugleich die Reichweite der verfassungsgerichtlichen Kontrolle vergrößern, in seinen Entscheidungsspielräumen erheblich eingeengt. In diesem Sinne hat man vor einer Entwicklung vom „parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“ gewarnt.87 Die Bedenken wegen einer grundrechtlichen Übersteuerung des demokratischen Gesetzgebers dürfen indes nicht die mit der expansiven Grundrechtsrechtsprechung erzielten Errungenschaften überdecken. Die Staatsorgane in Deutschland sind heute in besonderem Maße für die Grundrechtsrelevanz ihres Handelns sensibilisiert, was dem praktischen Grundrechtsschutz zugutekommt. Zudem hat eine insgesamt überzeugende, auf Nachvollziehbarkeit der Argumentation achtende Verfassungsrechtsprechung bislang verhindert, dass die Abwägungsdogmatik zu einer Konturlosigkeit der Grundrechte führt. Und eine auf die Wahrnehmung der Schutzpflichten bezogene „Spielraumdogmatik“88 ist darauf gerichtet, die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zu schützen. In einer komplexen Gesellschaft gibt es nicht immer schneidige Antworten auf Grundrechtsfragen, auch wenn man sich zuweilen eine klarere Linie in der Judikatur wünschen mag.89 Viele Rechte und Interessen müssen miteinander verein 87

Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Weichenstellungen der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat 29 (1990), S. 1, 25; vgl. auch Klein, Hans Hugo, Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsstruktur (1994), in: ders., Das Parlament im Verfassungsstaat, Tübingen 2006, S. 409, 413 ff. 88 Ruffert, Matthias, Grundrechtliche Schutzpflichten: Einfallstor für ein etatistisches Grundrechtsverständnis?, in: T. Vesting / S. Korioth / I. Augsberg (Hrsg.), Grundrechte als Phänomene kollektiver Ordnung, Tübingen 2014, S. 109, 115. 89 So etwa bei der Kopftuchentscheidung v. 27.1.2015, BVerfGE 138, 296 ff., in der nach eingehender Abwägung der betroffenen Grundrechtspositionen keine eindeutige Entscheidung getroffen, sondern die Beantwortung der Frage je nach Lage der Dinge der dadurch im Brennpunkt stehenden Schulleitung bzw. Schulbehörde überantwortet wird.

Entwicklung der Grundrechte und der Grundrechtsdogmatik in Deutschland 

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bart werden; ein mehrdimensionales Grundrechtskonzept kann dies am ehesten plausibel abbilden. Eine einfache Lösung kann auch eine alternative Grundrechtsdogmatik, wie die der Herausarbeitung eines (engeren) grundrechtlichen „Gewährleistungsgehalts“,90 nicht bieten. Die größere Komplexität liegt in diesem Fall in der überaus voraussetzungsvollen Konkretisierung des Schutzbereichs. Im Übrigen tragen die Rechtsprechung des EGMR und des EuGH sowie der Austausch mit anderen Rechtsordnungen dazu bei, dass die Wirksamkeit und Reichweite der Grundrechte immer wieder neu auf den Prüfstand gestellt wird.

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Siehe oben, unter III. 3.

Die Entwicklung der Grundrechte in Spanien María Jesús Montoro Chiner

I. Text und Kontext (1978–2018) Wenn man über Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit bezüglich der Grundrechte spricht, kann man im Falle Spaniens zwischen 1978 und 2018 ein konstantes und ein aktuelles Bild unterscheiden. Die Grundrechte haben den Wandel und die Auswirkung der Internationalisierung, der Europäisierung und der Globalisierung insbesondere durch das Internet wie auch den Wandel der Gesellschaft aufgenommen. Die Ausstrahlung der Grundrechte hat andere soziale Rechte beeinflusst. Die Auslegung des EGMR und des EuGH hat die Grundrechte der spanischen Verfassung geformt, verbreitert, neu gestaltet und die Interpretation der Judikatur des spanischen Verfassungsgerichts in gewisser Weise bestimmt. Bekanntlich hat das Verfassungsgericht das Monopol der Auslegung der Grundrechte verloren. Es gibt eine Mehrebenen-Judikatur der Grundrechte. Es besteht eine Relativierung der nationalen Grundrechte: Mehrebenen-Rechtsschutz ohne Hierarchie und wechselseitige Beziehungen in der Mehrebenen-Gerichtsbarkeit. Die vier Grundfreiheiten der Union haben eine neue Perspektive der Grundrechte geschaffen, ein neues Verständnis der Grundrechte gebracht und eine neue Dynamik entwickelt. Die EU-Grundrechtecharta hat inzwischen Inhalt, Form, Gehalt und Intensität der Grundrechte beeinflusst und ist insoweit vom Verfassungsgericht, auch aufgrund von Art. 10 Abs. 1 SpV, rezipiert worden. Ohne eine Hierarchie zu bilden, ist dies das Erscheinen und der Rahmen der Grundrechte in Spanien nach dem EU-Beitrittsgesetz und nach Ratifizierung der EMRK (1994). Die wirtschaftliche Krise hat zu einer Auslegung der Grundrechte in Interdependenz mit der Unteilbarkeit der Menschenrechte bzw. Unantastbarkeit der Menschenwürde geführt mit dem Gebot, „die grundlegenden Bedürfnisse“ seitens der öffentlichen Gewalten zu decken, selbst wenn die wirtschaftliche Krise bei bestimmten verfassungsrechtlichen Rechten zu inhaltlichen Restriktionen geführt hat. Die konkretisierende Interpretation des Verfassungsgerichts hat bei den Grundrechten zu einer zulässigen „Mutation“ ohne Veränderung des Sinngehalts der Grundrechte geführt. Zusammenfassend ergibt sich hieraus ein kaleidoskopartiges Bild der Grundrechte: Grundrechte bei wechselseitigen Beziehungen zwischen nationaler und

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europäischer Gerichtsbarkeit; nationale Grundrechte und Rechte der Europä­ ischen Menschenrechts-Konvention (EMRK); nationale und europäische Grundrechte unter Berücksichtigung der europäischen Grundrechtecharta (EuGRCh); Grundrechte und Menschenrechte im internationalen Recht und Menschenrechte als universales Prinzip. Über die Lehre des Schutzes der Grundrechte möchte ich nicht eingehender referieren. Das Thema „Entwicklungen der Grundrechte“ suggeriert eine dynamische Darstellung. Die von mir gewählte Gliederung des Themas ist selbstverständlich nicht erschöpfend, und es erscheint mir notwendig, auch die Perspektive des Verwaltungsrechts zu berücksichtigen.

II. Die Entwicklung der Grundrechte (Art. 10 Abs. 2 SpV): Integrative Interpretation Anerkannt ist die Lehre vom Wesensgehalt der Grundrechte, wenn der Gesetzgeber Grundrechte „entwickelt“ (STC 11/1981). Betont wird ferner die bindende Kraft der Grundrechte oder die Pflicht ihrer unmittelbaren Anwendung, was die Anerkennung der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen erlaubt (STC 15/1982). Ein weiteres interpretatives Kriterium war die möglichst große Ausstrahlungskraft der Grundrechte (STC 237/1988) und die Wahl einer Interpretation, die die Ausübung der Grundrechte am meisten begünstigt (STC 110/1988) bzw. ihnen Effektivität verleiht (STC 181/2000). Das Verfassungsgericht hat die negative Pflicht der öffentlichen Gewalten, Eingriffe in die Grundrechtssphäre zu unterlassen, und auch die positive Pflicht anerkannt, die Wirksamkeit der Grundrechte zu sichern, dazu beizutragen und zu fördern (STC 129/1989, STC 181/2000). Somit wurde den Grundrechten nicht nur die Eigenschaft subjektiver Rechte, sondern auch der Charakter als objektive Werte zuerkannt. Sie sind „wesentliche Elemente einer objektiven Rechtsordnung“ (STC 11/1981). Die subjektivrechtliche Natur der Grundrechte der Einzelnen hat man nicht nur als Recht der Bürger im engeren Sinn verstanden, sondern als jene Rechte bezeichnet, die „einen rechtlichen Status oder einen Status der Freiheit in einem bestimmten Lebensbereich garantieren“ (STC25/1981). Das Verfassungsgericht hat ferner die Drittwirkung anerkannt, wenngleich man aus prozessualen Gründen die Grundrechtsverletzung jenem richterlichen Organ zugerechnet hat, das in dem vorangehenden Anlassfall die Rechtsverletzung und folglich auch den Rechtsanspruch des Klägers nicht anerkannte (STC 47/198). Seit Ende der 1990er Jahre übernimmt das Gericht die Rechtsprechung des EGMR, wenn diese eine günstigere Auslegung erlaubt als die Texte jener schon erwähnten Verträge, auf die sich Art. 10 Abs. 2 SpV bezieht (STC 147/1999, STC 119/2001).

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III. Die Träger der Grundrechte: Juristische Personen als Träger der Grundrechte Aus der „Theorie des Durchgriffs“ ergibt sich, dass Träger der Grundrechte, mit Ausnahme der politischen Grundrechte, nicht nur „jede Person“, „alle Personen“ oder „alle“ und die „Ausländer“ sind, sondern auch juristische Personen des Privatrechts und des öffentlichen Rechts. Ohne Vorbehalt ist gemäß Art. 162 Abs. 1 Buchstabe b SpV anerkannt, dass alle natürlichen und juristischen Personen eine Verfassungsbeschwerde einlegen können, die ein legitimes Interesse geltend machen. Die Rechtsprechung (STC 241/1992, STC 139/1995) hat sogar die mögliche Beeinträchtigung der Ehre einer Aktiengesellschaft anerkannt. Das Recht auf Ehre ist ein sogenanntes höchstpersönliches Recht. Auch die Verletzung der Wohnung einer juristischen Person (STC 64/1988) wurde anerkannt. Es geht um eine verfahrensrechtliche Norm. Hinter juristischen Personen stehen natürliche Personen. Auch juristische Personen üben Grundrechte aus (Vereinigungsrecht, Stiftungsrecht). Nur in Sonderfällen hat man hingegen juristische Personen des öffentlichen Rechts als Träger von Grundrechten mit dem Argument anerkannt, dass zur Wahrnehmung ihrer legitimen Rechte und Interessen das Grundrecht auf wirksamen richterlichen Schutz bestehe (STC 175/2001 mit vier abweichenden Stimmen; einstimmig hingegen STC 173/2002). Diese Lehre hatte ihren Ausgangspunkt im Recht auf ein faires Verfahren und im Schutz aller prozessualen Garantien zugunsten der Personen des öffentlichen Rechts.

IV. Gleichheitsprinzip in der Gegenwart: Das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe Art. 32 Abs. 1 und 2 SpV garantiert „Mann und Frau … das Recht, bei voller rechtlicher Gleichstellung die Ehe zu schließen. Das Gesetz regelt die Formen der Ehe, die Voraussetzungen der Eheschließung …“ Das Gesetz 13/2005 zur Novellierung des Zivilgesetzbuches, vom Verfassungsgericht für verfassungsmäßig erklärt (STC198/2012), hat das Recht auf Ehe zwischen Personen desselben Geschlechtes geregelt. Es handelt sich um die einfachgesetzliche Entwicklung eines Grundrechts (ohne Organgesetz). In der Kultur der Gegenwart ist die Ehe konzipiert als „Gemeinschaft, die auf Zuneigung beruht und Bindungen generiert“. Die Verfassung ist „ein lebender Baum“. Daher beeinträchtigt die „Neu-Regelung der Ehe“ im aktuellen Kontext nicht den Wesensgehalt der Institution, denn als institutionelle Garantie bleibt die Ehe unangetastet. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR (24.6.2010) wurde „das neue Recht“ auf Eheschließung zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern eingeführt. Es ist zu bemerken, dass der Gesetzgeber und auch das Verfassungsgericht eine antizipierte Rezeption der Rechtsprechung des EGMR

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über den Weg des Art.10 Abs. 1 SpV vornahmen, zumal der EGMR seinerzeit noch nicht den „letzten Schritt“ bei der Zustimmung zur gleichgeschlechtlichen Ehe getan hatte.

V. Auswirkung der neuen Technologien auf die Grundrechte Die neuen Technologien haben die Gesellschaft und auch die Grundrechte geprägt. „Internet access is not a human right“, aber er erleichtert und bedingt die Ausübung der Grundrechte. Die novellierten Statute der Autonomen Gemeinschaften haben ein Recht auf Internetzugang anerkannt. Die Verwaltungen haben die Pflicht, einen allgemeinen Zugang zum Internet als universale Dienstleistung zu schaffen. Das Gesetz 2/2001 hatte einen solchen Zugang schon zuvor als universelle Dienstleistung bei allen Technologien gewährleistet. Das Verfassungsgericht sprach bereits in seinem Urteil (STC 290/2000 – abweichendes Votum) von einem Recht auf „die informatorischen Freiheiten“. Art. 18 Abs. 4 SpV gewährleistet die Informationsfreiheit („libertad informática“) gegenüber möglichen Verletzungen, die durch den rechtswidrigen Gebrauch von personenbezogenen Daten bei der Datenanwendung (früher Datenverarbeitung) Würde und Freiheit verletzen können (STC 290/2000). Das Verfassungsgericht erklärte (im Urteil STC 254/1999) auch, dass Art. 18 Abs. 1 und 4 SpV die Informationsfreiheit, den Schutz der Intimsphäre und den Schutz gegen die mit dem Fortschritt verbundenen Risiken garantiere – im Grunde als Gewährleistung gegen alle Gefahren, die sich aus den neuen Technologien ergeben und die Menschenwürde beeinträchtigen können. Die Gewährleistung umfasst auch das Recht auf Privatsphäre der Personen und ihren guten Ruf, das heute eine positive, über das Grundrecht auf Intimsphäre hinausgehende Dimension aufweist. Das Urteil STC 58/2018 definiert Inhalt und Grenzen des Grundrechts auf die informatorischen Freiheiten; ein Recht, das das Individuum gegen die privaten oder öffentlichen Träger und Eigentümer der Daten zur Verteidigung seiner persönlichen Daten ausüben kann. Es räumt dem Individuum eine Reihe von Möglichkeiten ein, der Speicherung seiner persönlichen Daten zuzustimmen oder dies zu genehmigen, die eigenen Daten zu kennen, über die eigenen Daten seitens des Servers informiert zu werden und zu erfahren, zu welchem Zweck sie gespeichert worden sind, das Recht, die Speicherung und den Gebrauch zu verhindern sowie den Anspruch, die Berichtigung und Vernichtung der Daten gerichtlich zu verlangen, aber auch das Recht auf Vergessen. Kurz formuliert: Geschützt ist das Recht auf Zugang, Kenntnis, Abwehr, Berichtigung und Vernichtung der eigenen Daten sowie das Recht auf Vergessen. Es könnte der Fall sein, dass das Recht auf freie und wahrheitsgetreue Berichterstattung sowie deren Verbreitung (Art. 20 Abs. 2 Buchstabe d SpV) und die erwähnten Rechte, die in Art. 18 Abs. 1 und 4 SpV anerkannt sind, in Kollision ge-

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raten, z. B. bei falschen oder ungenauen Daten, die von den Verbreitungsmedien gespeichert und publiziert worden sind. Das Recht auf freie Verbreitung und Berichtserstattung der Informationen darf den Inhalt des Rechts auf das eigene Bild, auf die Intimsphäre und auf den Schutz der eigenen Daten nicht entleeren, wenn solche Daten wegen der Verbreitung von Nachrichten im Internet stark betroffen sind (STC 58/2018). Die Information aber verbreitet sich nicht immer über die Internetmedien; das war der Fall im erwähnten Urteil des Verfassungsgerichts, das sich auf das Urteil des EuGH vom 13. Mai 2014 stützt und die „Doktrin“ der Rechtssache Google aufnimmt. Die Registrierung der Daten im Kommunikationsverkehr kann das Recht auf das Kommunikationsgeheimnis wie auch das Recht auf die Intimsphäre beeinträchtigen. Die erwähnten Daten sind schutzbedürftig. Solange sie im Internet zirkulieren, sind sie durch das Grundrecht auf das Kommunikationsgeheimnis geschützt; wenn jedoch die Kommunikation endet, sind sie vom Recht auf Intimsphäre (STC 70/2002) geschützt. Die schon gespeicherten Daten zeigen nicht den Inhalt der Kommunikation. So sollten die Gerichte notwendige und verhältnismäßige Maßnahmen zulassen, wenn die öffentliche Sicherheit mit den Grundrechten in Konflikt gerät (STC 145/2014). Das Recht auf Verbreitung der Information im Internet (freie und wahrheitsgetreue Berichterstattung: „free flow of news“) schützt die freie Äußerung und Verbreitung von Gedanken und Meinungen über Personen, Glauben und Gedanken. Es ist auch eine Projektion des eigenen Urteils (Kriterium, Meinung) über öffentliche Personen oder Personen mit öffentlicher Relevanz. Selbst wenn die öffentlichen Personen (nicht nur Politiker) die Kommentare im Internet dulden, sind das Recht auf Ehre und die Intimsphäre vorrangige Güter. Man muss nicht alles hinnehmen, insbesondere dann nicht, wenn Kommentare (im Internet) beleidigend, überflüssig und nicht notwendig für die Verbreitung von Ideen, Gedanken und Informationen sind. Die Genehmigung oder Zustimmung, das eigene Bild im Internet zu einem bestimmten Zweck zu veröffentlichen, berechtigt nicht zur Publikation seitens eines Dritten, der die Publikation mit einem anderen Ziel verfolgt. Wenn die Bilder sensible Aspekte für die Gesundheit, die Arbeit oder den persönlichen Status betreffen, ergibt sich eine Verletzung der genannten Grundrechte nach Art. 18 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 1 SpV. Dasselbe gilt, wenn man ohne Genehmigung digitale Bilder auf digitalen Plattformen platziert, die fremde Daten, Informationen und Bilder benutzen und verarbeiten. Unbeschadet der Verantwortung für ein damit möglicherweise verbundenes Verbrechen haftet der Träger der Informationsdienstleistung für die nicht autorisierte Publikation der Bilder. Zu dem digitalen Rechte der Arbeitnehmer, Beamten usw. hat sich schon eine umfangreiche Rechtsprechung entwickelt, die das Recht auf die Intimsphäre des Individuums schützt, insbesondere während der Freizeit. Schließlich ist hervorzuheben, dass der einfache Richter umfassenden Rechtsschutz gewährt. Nur in

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seltenen Fällen soll das Verfassungsgericht die digitalen Rechte schützen. Ohne Verfassungsbeschwerde Rechtsschutz zu erhalten, erleichtert den Prozess der Rechtsgewinnung (Urteil des Obersten Gerichts 11.1.2019, 3. Senat, DF vs. Google).

VI. Die Effektivität der Grundrechte gegenüber Umwelteingriffen Ich komme zu jenem Verständnis des Art. 18 SpV, demzufolge bestimmte Rechte durch „Lärmverschmutzung“, „Elektrosmog“, „Geruchsbelästigung“ und andere Arten von „Kontamination“ verletzt werden können. Dieses Grundrecht schützt die persönliche und familiäre Intimsphäre als Ausdruck der Menschenwürde (Abs. 1) und die Unverletzlichkeit der Wohnung (Abs. 2). In Bezug auf die neuen immateriellen Immissionen, insbesondere durch Lärm, können diese auch die in Art. 15 und Art. 18 Abs. 1 und 2 SpV proklamierten Rechte verletzen. Art. 15 SpV schützt die Unverletzlichkeit der Person gegen Eingriffe jeder Art, die in diese geschützten Rechtsgüter ohne Zustimmung des Betroffenen erfolgen (STC 207/1996). Dies können Eingriffe von Dritten, öffentlichen Gewalten oder Privatpersonen sein. Der Rechtsprechung des EGMR folgend hat das Verfassungsgericht das Recht eines jeden auf „Achtung seines Privat- und Familienlebens und seiner Wohnung“ anerkannt. Eine länger dauernde Lärmeinwirkung auf bestimmtem Niveau, welche  – objektiv betrachtet  – als vermeidbar und zugleich unerträglich zu qualifizieren ist, bewirkt, dass sie durch einen aus dem Grundrecht auf persönliche und familiäre Intimsphäre im häuslichen Bereich hergeleiteten Schutz abgewehrt werden kann (STC 119/2001). Allerdings hat das Verfassungsgericht in der zu entscheidenden Rechtssache ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin weder die Verletzung noch die Gefährdung ihrer Gesundheit dargetan habe und die Beschwerde aus Mangel an überzeugenden Beweisen zurückgewiesen. Der EGMR verwarf indes in seinem Urteil (Moreno Gomez v. Spanien, 16.11.2004) das auf mangelnde Beweisführung gerichtete Argument des Verfassungsgerichts und stellte eine Verletzung des Art. 8 Abs. 1 EMRK fest. Eine ähnliche Formulierung findet sich in dem Fall Lopez Ostra v. Spanien (9.12.1994), welcher sich im Wesentlichen auf Geruchsbelästigung durch eine Kläranlage bezog, und in dem der EGMR darlegte, dass „schwerwiegende Umwelteingriffe das Wohlbefinden einer Person betreffen und sie ‚am Genuss‘ ihrer Wohnung hindern können, und zwar in einer Weise, dass dies ihr Privat- und Familienleben beeinträchtigt“ (ebenso EGMR Luginbühl v. Schweiz, 17.1.2006).

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VII. Grundrechte als verfahrensrechtliche Garantien In der Rechtsprechung des EGMR haben im Laufe der Jahre die Verfahrensgrundrechte immer mehr an Bedeutung gewonnen. Es war vor allem eine zunehmend effektivitätsorientierte Sicht, die vom EGMR in einer kreativen, rechtschöpferischen Judikatur entwickelt und ausdifferenziert wurde. Zentral ist das Gebot des „fair trial“ (Art. 6 EMRK). Nicht nur die Gesetzmäßigkeit des Verfahrens, sondern auch die Beachtung der entwickelten „Fairness-Regeln“ (Organisationsgarantie, Recht auf Zugang zum Gericht, Waffengleichheit, Recht auf Akteneinsicht, Anspruch auf rechtliches Gehör und das Recht auf Begründung der Entscheidung) sind hiervon umfasst. Art. 25 SpV proklamiert das Gesetzmäßigkeitsprinzip und insbesondere die Prinzipien „non bis in idem“ und „nulla poena sine lege“ mit Blick auf Handlungen oder Unterlassungen, die „zum Zeitpunkt der Ausführung gemäß der geltenden Rechtsordnung keine Vergehen, keinen Verstoß oder keine Zuwiderhandlung darstellen“. Im verwaltungsrechtlichen Sinn regelt es die Garantien des Verfahrens, wenn die Verwaltungen Sanktionen verhängen (Art. 24 SpV; Art. 25 Gesetz 40/2015). Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts hat kontinuierlich unterstrichen, dass alle Prinzipien des Strafrechts im Rahmen der Ausübung der Sanktionsbefugnis anzuwenden sind. Neuerlich ergeben sich gewisse Nuancen, die hervorzuheben sind. Nach Art. 6 Abs. 2 des EU-Vertrags von Lissabon ist der Beitritt der EU zur EMRK vorgesehen, der dem EGMR die Kontrolle von Akten der EU am Maßstab der EMRK ermöglichen soll, die die Grundrechte der Personen schützt. Bei jeder Sanktion sind alle prozessualen Garantien zu beachten, wie das Recht auf „effective remedy“, also auf wirksamen Rechtsschutz in angemessenen Zeit, auf Vollstreckung der Urteile, auf Vertrauensschutz, auf Rechtssicherheit, Beteiligung am Verfahren und Zugang zu den Akten als Konkretisierung des Rechts auf gute Verwaltung (Art. 41 EuGRCh) sowie die Prinzipien „ne bis in idem“ und „nulla poena sine lege“. Aus grundrechtlicher Sicht bedeutet dies, dass das in Art. 24 SpV proklamierte Grundrecht auf Rechtsschutz im Einzelnen die folgenden Einzelrechte umfasst: das Recht auf Zugang zu einem Gericht sowie auf einen Beschluss bzw. ein Urteil in angemessener Zeit zu erhalten, aber auch einen „Effektivitätsstandard“ (effec­ tiveness standard) im Rahmen des Verfahrens und der Vollstreckung der Entscheidung (Fall Kudla v. Polen, 22.10.2000).

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VIII. Im Lichte der Grundrechte: Adoption, Euthanasie und Leihmutterschaft Der EGMR hat erklärt, dass das Grundrecht, eine Familie zu gründen, nicht das Recht auf Adoption einschließe (VC v. Slovakia, 8.11.2011). Im gleichen Sinne hat das Verfassungsgericht kein Recht auf Adoption anerkannt (STC 198/2012). Art. 39 Abs. 2 SpV schützt das Interesse des Adoptivkindes, nicht das Interesse der Adoptiveltern. Fraglich ist, ob ein allgemeines Zeugungsrecht besteht (ähnlich der Fall der Leihmutterschaft). Man spricht aber insoweit von „regulierten Rechten und erwünschten Rechten“. Was die Euthanasie betrifft, definiert die Lehre in Spanien das Recht, über das eigene Leben zu entscheiden, als eine Garantie, die sich von der Freiheit des Menschen ableitet, mithin als ein Recht, das in der Menschenwürde verankert ist und eine Gewährleistung, die zugleich im Recht auf Leben gründet. Hingegen entschied das Verfassungsgericht, dass das Grundrecht auf Leben kein Freiheitsrecht sei; dementsprechend räumt Art. 15 SpV nicht das Recht ein, über das eigene Lebensende zu entscheiden (STC 120/1990, STC154/2002). Diese Entscheidung bezieht sich indes nicht unmittelbar auf die Frage der Euthanasie. Betrachtet man die Rechtsordnung als Ganzes und Art. 1 Abs. 1 SpV, der die Werte der Freiheit, der Menschenwürde und der freien Entfaltung der Persönlichkeit normiert, im Besonderen, könnte man die Euthanasie als ein notwendiges Grundrecht auffassen, um die eigene Würde zu verteidigen (nicht unbedingt als das Recht, über das eigene Leben zu bestimmen), vorausgesetzt, dass die Umstände des Lebens der Person nicht ein würdiges Leben vermitteln. In Spanien ist ein Gesetzentwurf (Organgesetz) in Vorbereitung, um die Euthanasie zu regeln. Das zukünftige Gesetz soll das Strafgesetzbuch novellieren, d. h. die Folgen in Fällen normieren, in denen Ärzte und Assistenten die begehrte Sterbehilfe nicht leisten oder sie zur Vollziehung des Willens der sterbenden Person Beihilfe leisten. Auf diese Weise soll der Gewissensvorbehalt der Ärzte respektiert werden. Die novellierten Statute der Autonomen Gemeinschaften haben (mit zwei Ausnahmen) das Recht auf einen würdigen Tod anerkannt, aber weder als Grundrecht noch als subjektives Recht. Das Thema der Leihmutterschaft wirft sehr aktuelle Fragen auf, die sicherlich nicht gelöst werden, wenn das Spanische Verfassungsgericht über das geltende Gesetz vom 27. Mai 2006 urteilt, das die Techniken der künstlichen Fortpflanzung regelt, insbesondere Art. 10 des Gesetzes 14/2006 über Techniken der assistierten menschlichen Befruchtung, der die vertragliche Leihmutterschaft verbietet. Fraglich ist, ob die Leihmutterschaft nicht zu einer „cosificación“ („Versachlichung“) des Körpers der Frau führt. So hatte das Oberste Gericht (6.2.2014) eine Praxis zu beurteilen, die in Spanien noch verboten ist, von der aber viele schon im Ausland Gebrauch gemacht haben. Fraglich ist auch, wie man die Bindung zwischen biologischem Vater oder biologischer Mutter bestimmen kann, um das Kind in das

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standesamtliche Register einzutragen. Der Schutz des Minderjährigen ist prioritär. Im Parlament wurde ein Gesetzesentwurf über die Leihmutterschaft eingebracht, der allerdings sehr umstritten ist. Ungeachtet dessen ist es nicht akzeptabel, dass die schwangere Mutter mittels eines Vertrages nicht über die eigene Schwangerschaft entscheiden kann und hierdurch ihr Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit beeinträchtigt wird. Jüngst hat der EGMR erklärt, dass die nationalen Gesetzgeber die gesetzlichen Bindungen zwischen den minderjährigen Kindern und den „padres de intención“, also den Wunschvätern, in Anlehnung an die Bestimmungen regeln können, wie sie für die Adoption (Menesson v. Frankreich, 26.6.2014) gelten (Gutachten des EGMR, 10.4.2019 – Französisches Personenstandsrecht).

IX. Die Ausstrahlung der Grundrechte: Soziale Rechte im Wandel Die sozialen Rechte sind im Titel I der Spanischen Verfassung (Kapitel II, Abschnitt 2, und Kapitel III) – vermischt mit den klassischen Grundrechten – anerkannt und erscheinen im Verhältnis zu den klassischen traditionellen Rechten komplementär. Zudem bestimmt Kapitel IV die Garantien, die für die effektive Gewährleistung der in Titel I verankerten Rechte notwendig sind. Die in Titel I proklamierten unterschiedlichen Rechte werden als Freiheitsrechte, Teilhaberechte, Leistungsrechte oder Sozialrechte bezeichnet. Die sozialen Rechte sind nicht nur in der Verfassung verankert, sondern es besteht eindeutig eine Pflicht des Gesetzgebers, sie effektiv auszugestalten. Art. 9 Abs. 2 SpV richtet dieses Gebot an „die öffentliche Gewalt“; es verpflichtet zunächst den Gesetzgeber. Die Konstitutionalisierung der sozialen Rechte hat zum Ziel, das Streben aller Bürger nach Gleichheit und Freiheit zu garantieren, damit sie von ihren verfassungsrechtlich geschützten Garantien Gebrauch machen können. Die Initiative der öffentlichen Gewalten im Wirtschaftsleben (Art. 128 Abs. 2 SpV) wird anerkannt; dabei sind die Grenzen des Stabilitätsprinzips im Haushaltsrecht zu beachten (Art. 135 SpV). Die Meinungsverschiedenheiten in der Lehre über die Effektivität und Wirkung der sozialen Rechte waren wichtiger als die Diskussionen über ihre Rechtsnatur. Diese Rechte zu garantieren und effektiv umzusetzen, ist Sache des Gesetzgebers. Es ist der einzige Weg, um die Erwartungen an die Umsetzung der in der Verfassung verankerten objektiven Rechte in subjektive Rechte zu erfüllen. Und so wurden dann auch zwischen 1980 und 2007 in den Bereichen der Bildung, der den Gewerkschaften überantworteten Verteidigung und Förderung wirtschaftlicher und sozialer Interessen, aber auch der Gesundheit, Wohnungspolitik, Sozialversicherung, der Statute der Arbeiter und Beamten sowie der Verbraucher soziale Rechte entwickelt und geregelt. Jüngst haben einige novellierte Autonomiestatute zahlreiche soziale Rechte anerkannt. Die in den Autonomiestatuten anerkannten sozialen Rechte sind im engeren Sinne keine potentiellen Quellen

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von Kompetenzen zugunsten des Gesetzgebers, sondern eröffnen den öffentlichen Gewalten ein Interventionsrecht, um in den jeweiligen Sektoren Leistungen zu gewähren. Der EGMR hat das Recht auf Wohnung oder auf Schutz der Gesundheit nicht anerkannt, aber den öffentlichen Gewalten Kriterien vorgegeben, damit Maßnahmen getroffen werden können, die die Effektivität der sozialen Rechte unter bestimmten Umständen schützen. Das Organgesetz zur Haushaltsstabilität 2/2012 hat die wissenschaftliche Debatte vor die Frage gestellt, ob die Finanzierung und Leistungsfähigkeit der sozialen Rechte die Grenzen eines nachhaltigen Haushalts beachten muss und der Staat (im weiteren Sinne) diese Rechte daher reduzieren, mindern oder beseitigen kann, dies aber nur unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Situation einer vorherigen (oder zukünftigen) Krise. Damit ist das Problem der sog. „Unumkehrbarkeit“ der sozialen Rechte aufgeworfen. Das Verfassungsgericht entschied sich mit Blick auf die Frage, ob eine Verkürzung der sozialen Rechte verfassungsrechtlich zulässig ist, für eine „nicht vollständige Unumkehrbarkeit“ und eine „nicht unbegründete Umkehrbarkeit“. Anders formuliert: Soziale Rechte sollten nicht unbedingt Gegenstand des Imperativs des Marktes werden. Wird der Haushaltsgesetzgeber oder ein sonstiges Organ nun über Qualität und Quantität der Leistungen betreffend die sozialen Rechte entscheiden? Das Verfassungsgericht hat in den letzten Jahren immer einen breiten Entscheidungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers anerkannt, der es ihm erlaubt, Kürzungen und Änderungen von Leistungen, Renten der Sozialversicherung oder Stipendien vorzunehmen. Er muss indes im Rahmen eines solchen Gesetzgebungsverfahrens als Mindestregel dessen Urteil anlässlich der Normenkontrolle der Gesetzesverordnung über die Maßnahmen der Konsolidierung und Garantie des Systems der Sozialversicherung (STC 49/2015) und die vier hiervon abweichenden Voten beachten. Politisch hat er die negativen Auswirkungen solcher Kürzungen auf die sozialen Rechte zu berücksichtigen.

X. Bibliographie Balaguer Callejón, Francisco, Crisis económica y crisis constitucional en Europa, REDC, Nr. 98, 2012, S. 91. Cruz Villalón, Pedro, Grundlage und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Vergleich, in: von Bogdandy / Cruz Villalón (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Band I, 2007, S. 729. Grimm, Dieter, Zur Bedeutung nationaler Verfassungen in einem vereinten Europa, in: Merten / ​Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band VI/2, 2009, S. 3. Magiera, Siegfried, Bürgerrechte und justitielle Grundrechte, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band VI / I, 2009, S. 1035. Medina Guerrero, Manuel, Grundrechte in Spanien, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band X, 2018, S. 615.

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María Jesús Montoro Chiner

Montoro Chiner, María Jesús, Auf dem Weg zu einer effektiveren Durchsetzung der Grundrechte, in: Magiera / Sommermann (Hrsg.), Freiheit, Rechtsstaat und Sozialstaat in Europa, 2007, S. 119. Sommermann, Karl-Peter, Entwicklungsperspektiven des Rechtsstaats: Europäisierung und Internationalisierung eines staatsrechtlichen Leitbegriffs, in: Magiera / Sommermann (Hrsg.), Freiheit, Rechtsstaat und Sozialstaat in Europa, 2007, S.71. Weber, Albrecht, Einheit und Vielfalt der europäischen Grundrechtsordnung, DVBl. 2003, S. 220. Weber, Albrecht, European Constitutions Compared, 2019.

Die Entwicklung der Grundrechte in Italien Daria de Pretis

I. Vorbemerkungen Das Thema der Entwicklung der Grundrechte in Italien kann aus verschiedenen Perspektiven behandelt werden. In diesem kurzen Beitrag betrachte ich drei davon, mit dem Ziel, einige Tendenzen in der italienischen Verfassungsrechtsprechung aufzuzeigen. Die erste Perspektive betrachtet die Rechte aus objektiver Sicht und betont den systemischen Charakter der Verfassungsgarantien und des vom Verfassungsgericht gebotenen Schutzes sowie die Folgen, die sich daraus für die Techniken zur Überwachung der legislativen Entscheidungen ergeben. Die zweite und die dritte richten sich auf die Beziehungen zwischen den mit der Umsetzung der Grundrechte betrauten Akteuren. Besonders hervorgehoben wird die Interaktion zwischen der Corte costituzionale und dem Gesetzgeber einerseits und die Beziehung zwischen dem Verfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshöfen andererseits.

II. Die Grundrechte als System: Gegenseitige Integration, Ausgleich, Kontrolltechniken Aus der italienischen Verfassungsrechtsprechung zu den Grundrechten geht deutlich hervor, dass diese Rechte ein System darstellen. In der Verfassung leben die Rechte nicht allein, sondern sie koexistieren und ergänzen sich gegenseitig. Jedes Recht entsteht also von Anfang an „von Natur aus begrenzt“ und alle sind „dem Ausgleich untereinander, dem einen gegenüber dem anderen und zwischen sich und anderen Verfassungswerten unterworfen“.1 Die verfassungsrechtliche Notwendigkeit dieser Balance konditioniert sowohl den Gesetzgeber, der die Grundrechte umsetzt, als auch das Verfassungsgericht, das aufgefordert ist, die Verfassungsmäßigkeit von gesetzgeberischen Entscheidungen zu prüfen. Das Bewusstsein für diese inhärente Komplexität des Verfassungssystems der Grundrechte und die ständige Notwendigkeit ihrer gegenseitigen Ergänzung hat

1 Modugno, Franco, I „nuovi diritti“nella giurisprudenza costituzionale, Torino 1995, S. 107.

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die Arbeit des Verfassungsgerichts stets begleitet;2 aber es besteht kein Zweifel daran, dass sie in jüngster Zeit zu immer klareren Aussagen geführt hat. Dazu hat wahrscheinlich die im Laufe der Zeit häufiger und intensiver gewordene Gegenüberstellung mit dem unterschiedlichen Ansatz der supranationalen Gerichte, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), beigetragen, die, wie die Corte costituzionale selbst hervorgehoben hat, stattdessen aufgefordert ist, „die verschiedenen auf dem Spiel stehenden Werte bezüglich einzelner Rechte fragmentarisch zu schützen“.3 Die ergänzende Natur des von der Verfassung gewährten Schutzes der Rechte schließt die Möglichkeit aus, dass einem von ihnen absoluter Vorrang vor den anderen eingeräumt werden kann, und hat das Verfassungsgericht zu der Feststellung veranlasst, dass „der Schutz immer systemisch sein muss und nicht in eine Reihe unkoordinierter, potenziell kollidierender Regeln aufgespalten werden darf“.4 Der Ausgleich zwischen den Rechten ist daher verfassungsrechtlich in dem Sinne notwendig, dass im System der von der Verfassung vorgegebenen Garantien die Anwender verpflichtet sind, den Schutz jedes in einer Verfassungsbestimmung vorgesehenen Rechts mit allen anderen ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Interessen abzuwägen, die ansonsten durch die unausgewogene Ausweitung eines einzigen Schutzes gefährdet sein könnten. In einem Urteil von 2013 zu einem in Italien viel diskutierten Fall betreffend das Stahlwerk ILVA in Taranto wendet das Verfassungsgericht den Begriff „diritto tiranno“ an. Die Verfassung, so das Verfassungsgericht, „verlangt ein kontinuierliches und gegenseitiges Gleichgewicht zwischen Grundsätzen und zwischen Grundrechten, ohne Anspruch auf Absolutheit für eines davon, um zu verhindern, dass die unbegrenzte Ausdehnung eines von ihnen dazu führt, dass es zum „Tyrannen“ gegenüber anderen verfassungsmäßig anerkannten und geschützten Rechtslagen wird, die insgesamt Ausdruck der Würde der Person sind“.5 In diesem Fall standen sich die zwei Rechte auf Gesundheit und auf Arbeit gegenüber, und der Vorlagerichter hatte ausgehend vom absoluten Charakter des Rechts auf Gesundheit für den Vorrang dieses Rechts optiert. Das Verfassungsgericht hingegen stellt fest, dass es auch in diesem Fall, in dem es um eines der wesentlichsten und sensibelsten Grundrechte, die Gesundheit, ging, notwendig sei, 2 Ständige Rechtsprechung; s. für alle die Urteile 168/1971, 467/1991, 202/2013, 20/2017, 20/2019. 3 Urteil 264/2012 über die sog. „schweizerischen Renten“. 4 Urteil 264/2012. 5 Urteil 85/2013. Ein Richter hatte die Unterbrechung der Geschäftstätigkeit angeordnet, um die Gesundheit von Arbeitnehmern und Bürgern zu schützen. Daraufhin hatte der Gesetzgeber angesichts der Krise der Industriebetriebe von nationalem strategischem Interesse eine neue Regelung erlassen, die den Schutz von Umwelt und Gesundheit mit der Aufrechterhaltung des Beschäftigungsniveaus vereinbar machte. Der vorlegende Richter hatte die Legitimität der Disziplin für die Annahme des absoluten Ranges des Rechts auf Gesundheit vor dem Verfassungsgericht in Frage gestellt.

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einen Ausgleich mit den anderen betroffenen Interessen herzustellen, denn wie wir gesehen haben, kommt der oberste Grundsatz der Würde des Menschen in der Gesamtheit der von der Verfassung geschützten Rechte zum Ausdruck. Das bedeutet natürlich nicht, dass alle Rechte auf gleicher Ebene stehen und dass der Ausgleich auf der Grundlage einer strengen Hierarchie der geschützten Interessen ein vorhersehbares Ergebnis haben sollte. Die Prüfung der jüngsten Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zeigt die Komplexität und Relativität der konkret vorzunehmenden Bewertungen zur Abschätzung des Eigengewichts jedes Rechts und seiner Konkordanz mit dem Gewicht anderer Rechte, Interessen und Werte. Einen Bereich, in dem diese Prüfung leicht durchgeführt werden kann, bilden unter anderem die sozialen Rechte. In diesem Zusammenhang hat die Wirtschaftskrise des letzten Jahrzehnts das italienische Verfassungsgericht sehr beschäftigt. Die Notwendigkeit eines ausgeglichenen öffentlichen Haushalts hat eine erhebliche Auswirkung auf die Frage der finanziell bedingten Rechte und im Allgemeinen auf die Rechte, die durch legislative Entscheidungen zur Bewältigung des Ressourcenmangels eingeschränkt werden. Hier musste die Corte costituzionale von ihrer Befugnis Gebrauch machen, zwischen Anträgen auf Schutz der individuellen Erwartungen im Rahmen des Verfassungsrechts und Einsparungserfordernissen abzuwägen, und zwar mittels recht komplexer Bewertungen, bei denen sie zu berücksichtigen hatte, dass der Grundsatz des Gleichgewichts zwischen Einnahmen und Ausgaben den Gesetzgeber nicht nur wegen der in der Verfassung vorgesehenen Bestimmungen (Artikel 81 in der Fassung von 2001)6 bindet, sondern auch, weil dieses Gleichgewicht seinerseits die Bedingung für die Gewährleistung (anderer und gegebenenfalls auch zukünftiger) verfassungsmäßig garantierter Rechte ist. Das Verfassungsgericht hat jedoch auch in diesem besonders „relativistischen“ Kontext bekräftigt, dass der Kern der Grundrechte nicht berührt werden darf. Im Gegensatz zum deutschen Grundgesetz7 nennt die italienische Verfassung nicht ausdrücklich die Grenze des Wesenskerns,8 so dass dem Verfassungsgericht die Aufgabe zugefallen ist, diesen zu identifizieren, zu schützen und gegebenenfalls die zu seinem Schutz erforderlichen Leistungen aufzuerlegen, wenn der Gesetzgeber sie nicht vorgesehen hat. So hob die Corte costituzionale beispielsweise eine regionale gesetzliche Bestimmung auf, die die Finanzierung des Beförderungsdienstes für behinderte Schüler unsicher machte, und stellte fest, dass das Ermessen des Gesetzgebers „bei der 6

Mit dem Verfassungsgesetz n. 1/2012. Art. 19 Abs. 2 GG: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden“. 8 Sie erwähnt die „Festsetzung der wesentlichen Leistungen im Rahmen der bürgerlichen und sozialen Grundrechte, die im ganzen Staatsgebiet gewährleistet sein müssen“ (Art. 117 Abs. 2, Buchstabe m). Es handelt sich aber um einen anderen Begriff, der dazu verwendet ist, um eine staatliche Kompetenz zu etablieren, die darauf abzielt, die Gleichstellung von Privatpersonen mit der Autonomie der lokalen Gebietskörperschaften in Einklang zu bringen. 7

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Einhaltung eines unantastbaren Kerns von Garantien für die betroffenen Personen […], zu denen auch der Schultransport- und Hilfsdienst gehört, an eine unüberwindliche Grenze stößt, da dieser für den behinderten Schüler ein wesentlicher Bestandteil zur Gewährleistung der Wirksamkeit dieses Rechts ist“, und, unter anderem, dass „[es] die Garantie nicht beschränkbarer Rechte ist, die sich auf den Haushalt auswirkt, und nicht das Haushaltsgleichgewicht, das die ordnungsgemäße Leistungserbringung bedingt“.9 Zuvor hatte das Verfassungsgericht zum Thema Recht auf Gesundheit erneut den „finanziell bedingten“ Charakter des Rechts auf Gesundheitsversorgung bekräftigt, aber präzisiert, dass „in Abwägung der Verfassungswerte, die der Gesetzgeber zu deren Umsetzung erfüllen muss …, die Gleichgewichtserfordernisse der öffentlichen Finanzen kein so absolut überwiegendes Gewicht annehmen können, dass sie den Wesenskern des Rechts auf Gesundheit, das mit der unantastbaren Würde des Menschen verbunden ist, einschränken, denn sonst wäre es eine auffällig unangemessene Ausübung des gesetzgeberischen Ermessens“.10 Außerhalb des Bereichs der sozialen Rechte können wir beispielsweise an den Ausgleich erinnern, der in einem kürzlich ergangenen Urteil angewandt wurde, das eine Bestimmung für rechtswidrig erklärt hat, die allen leitenden Verwaltungsangestellten die gleichen on-line-Veröffentlichungspflichten ihrer Einkommens- und Vermögensangaben, die für Inhaber politischer Ämter vorgesehen sind, auferlegte (Urteil 20/2019). Das Verfassungsgericht war der Ansicht, dass der vom Gesetzgeber angestrebte Ausgleich zwischen dem Recht auf Vertraulichkeit personenbezogener Daten, das als das Recht auf Kontrolle des Informationsflusses über die eigene Person verstanden wird, und dem Recht der Bürger auf freien Zugang zu im Besitz von Verwaltungen befindlichen Daten und Informationen unangemessen ist. Es hielt es auch für einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Es erkannte zwar an, dass die Veröffentlichungspflichten für die Transparenz und die Korruptionsbekämpfung geeignet sind, kritisierte aber, dass der Gesetzgeber unter den verschiedenen, dem Zweck entsprechenden Maßnahmen nicht diejenige gewählt habe, die die hier kollidierenden Rechte am wenigsten beeinträchtigt. Dieser Schritt wirft ein Licht auf einen weiteren wichtigen Aspekt. Er zeigt nämlich, wie die größere Aufmerksamkeit, die der Struktur des Ausgleichsphänomens geschenkt wird, dazu führt, dass das Verfassungsgericht seine Beurteilungstechniken der Ermessensfreiheit des Gesetzgebers verfeinert. Auffallend ist in diesem Zusammenhang zunächst die schrittweise Entwicklung der Technik der Verhältnismäßigkeitsüberprüfung. In einer Arbeit aus dem 9

Urteil 275/2016. In Bezug auf Unterstützungslehrer, s. auch Urteil 80/2010. Urteil 304/1994. Dazu auch Urteil 309/1999, das die Bestimmung, die keine Formen der kostenlosen Gesundheitsfürsorge zugunsten armer italienischer Staatsbürger enthielt, die sich aus anderen Gründen als der Arbeit vorübergehend im Ausland aufhielten, für rechtswidrig erklärte; auch in diesem Fall hat sich der Gerichtshof auf den „irreduziblen Kern des Rechts auf Gesundheit“ berufen. 10

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Jahr 2013 wies Marta Cartabia auf die Grenzen der Anwendung dieser Art von Kontrolle durch das italienische Verfassungsgericht hin, der Anwendung des Begriffs der Verhältnismäßigkeit, der oft als Synonym für Angemessenheit verwendet wird, oder höchstens als dessen direkter, aber nicht besser definierter Ausdruck. Insbesondere wies sie darauf hin, dass in Urteilen, die sich auch des Konzepts der progressiven Abfolge bedienen, Urteilsstandards fehlen, die in anderen Systemen, in denen sie systematisiert wurden, entwickelt worden sind.11 Neuere Urteile zeigen eine stärkere Ausgestaltung der Argumentation bei der Anwendung des Proportionalitätstests. So hat die Verhältnismäßigkeitsüberprüfung beispielsweise in einem strafrechtlichen Fall nicht nur dazu geführt, dass die Strafe für einen bestimmten Tatbestand (Änderung des Familienstands eines Säuglings durch eine falsche Urkunde), auf der Grundlage des Vergleichs mit der für einen gleichwertigen, wenn nicht schwerwiegenderen Tatbestand vorbehaltenen geringfügigeren Strafe (gleiche Änderung durch Ersetzen des Säuglings) wegen Unverhältnismäßigkeit für unrechtmäßig erklärt wurde; es hat es dann sogar der Corte costituzionale erlaubt, die im ersten Fall vorgesehene Strafe durch die im zweiten (Urteil 236/2016) vorgesehene geringere Strafe „zu ersetzen“.12 Weiterhin wurde im Bereich der sozialen Rechte eine gesetzliche Bestimmung aufgehoben, die die Aufwertung bestimmter Renten (unter dem Dreifachen des Mindestbetrags) für die Jahre 2012–2013 ausschloss. Für das Verfassungsgericht war das vom Gesetzgeber festgestellte Verhältnis zwischen dem finanziellen Interesse des Staates und dem Interesse der Rentner nicht nur unangemessen und eine Verletzung des von der Verfassung garantierten Rechts auf eine angemessene Rente (Art. 38 Abs. 2 Verf.), sondern auch unverhältnismäßig, da der Ausschluss der Aufwertung umfassend war und Renten betraf, die als nicht sehr hoch gelten (über 1217 €) (Urteil 70/2015).13 Neben dem Interessensausgleich bilden die Kriterien Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit übrigens ein wichtiges Anwendungsgebiet im Bereich der Gleichheit. So wurden häufig gesetzliche Bestimmungen, die bestimmte Personen unangemessen vom Bezug von Leistungen im Zusammenhang mit Grundrechten ausschlossen, sanktioniert. Mehrere Urteile haben Rechtsvorschriften aufgehoben, die Ausländer, die sich rechtmäßig im Gebiet des Staates aufhielten, in Bezug auf Sozialleistungen im Zusammenhang mit Grundrechten wie der Gesundheit diskriminierten (Urteil 306/2008 über die Begleitzulage für Behinderte; siehe auch Urteil 2/2013 und 4/2013). 11

Cartabia, Marta, I principi di ragione volezza e proporzionalità nella giurisprudenza costituzionale italiana, Bericht zu der Conferenza trilaterale delle Corti costituzionali italiana, portoghese e spagnola, Roma, 24.–25.10.2013, cortecostituzionale.it. 12 Zuletzt in gleichem Sinne Urteile 222/2018 und 40/2019. 13 Zuvor hatte die Corte Bestimmungen vorbehalten, die die Neubewertung für hohe Renten oder für den übersteigenden Betrag und nicht für die gesamte Rente oder die Neubewertung nur für einen bestimmten Prozentsatz ausschlossen.

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In diesem Zusammenhang ist auch die Frage der „territorialen Diskriminierung“ zu erwähnen, d. h. der Regeln, die einen längeren Aufenthalt im Staats- oder Regionalgebiet als Voraussetzung für den Zugang oder den bevorzugten Zugang zu einer öffentlichen Dienstleistung nennen. In mehreren Fällen hat das Verfassungsgericht diese Bestimmungen für verfassungswidrig erklärt und sichergestellt, dass bedürftige Personen nicht zugunsten von anderen Personen, die weniger bedürftig sind, aber schon lange in einem bestimmten Gebiet verwurzelt sind, von öffentlichen Dienstleistungen ausgeschlossen werden. So wurde beispielsweise mit dem Urteil 107/2018 eine regionale Rechtsvorschrift aufgehoben, die Personen, die seit mindestens 15 Jahren in der Region leben oder arbeiten, unabhängig von der wirtschaftlichen Situation Vorrang für den Zugang zu Krippen einräumt.

III. Verfassungsgericht und Gesetzgeber bei der Umsetzung der Grundrechte Im Verhältnis zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber betrifft einer der sensibelsten Aspekte den Schutz der sogenannten „neuen Rechte“. Die Erweiterung des Rechtekatalogs durch den „Wandel der historischen Bedingungen, d. h. der Bedürfnisse und Interessen der herrschenden Klassen, der verfügbaren Mittel, der technischen Veränderungen usw.“,14 wirft Fragen nach der Anpassung der Rechtsordnung auf, bei deren Beantwortung sich der Gesetzgeber oft schwer tut bzw. erst verspätet reagiert. Deshalb befindet sich das Verfassungsgericht, wenn es anerkennt, dass diese Rechte verfassungsmäßige Bedeutung haben, in der schwierigen Lage, sie schützen zu müssen, aber gleichzeitig nicht die erforderliche Befugnis dazu zu haben, insbesondere wenn ihre Umsetzung nicht nur die einfache Aufhebung einer Vorschrift, sondern eine aktive, dem Gesetzgeber vorbehaltene Regelungsmaßnahme erfordert. Wenn wir die Tendenz der italienischen Verfassungsrechtsprechung in diesem Bereich in wenigen Worten zusammenfassen wollten, könnten die richtigen Begriffe lauten: Engagement, Vorsicht, Kreativität. Die Haltung der Corte costitu­ zionale ist vor allem durch das Engagement gekennzeichnet, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln auf die legitimen Erwartungen der Rechtsinhaber zu reagieren. Gleichzeitig zeigt das Verfassungsgericht angesichts völlig neuer Situationen eine gewisse Vorsicht, die sich nicht nur in der Definition der Kategorie der Grundrechte als sich aus der sozialen Entwicklung ergebenden Bedürfnisse15 manifestiert, sondern auch in Bezug auf die Bereiche, die dem Ermessen des Gesetzgebers vorbehalten sind, wie ich anhand einiger aktueller Beispiele veranschaulichen möchte. 14

Bobbio, Norberto, L’età dei diritti, Torino 1990, S. 9. Hierzu Ruotolo, Marco, I diritti fondamentali, a settant’anni dall’entrata in vigore della Costituzione, Diritto e società, 2018, S. 38. 15

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Das erste Beispiel betrifft die Forschung an Embryonen, die für die medizinisch unterstützte Fortpflanzung produziert und nicht implantiert wurden (Urteil 84/2016). Ein Paar hatte darum gebeten, die Embryonen, die in einem Zyklus der medizinisch unterstützten Fortpflanzung produziert und krank waren und daher nicht implantiert wurden, der Forschung spenden zu dürfen. Das Gericht erster Instanz, das das Paar angerufen hatte, hat dem Verfassungsgericht die Frage der Verfassungsmäßigkeit des italienischen Gesetzes über das Verbot der Verwendung von Embryonen zu Versuchszwecken unterbreitet.16 Angesichts der Wahl zwischen den betroffenen gegensätzlichen Interessen, der „Achtung des Anfangs eines Lebens (das im Embryo enthalten ist, auch wenn er krank ist)“ einerseits und den Erfordernissen der wissenschaftlichen Forschung andererseits, betont die Corte costituzionale die Sensibilität der Fragen, das Fehlen eines einstimmigen Einvernehmens darüber, den potenziell spaltenden Charakter der Wahl und stellt abschließend fest, dass ihr Ausgleich in den dem Gesetzgeber vorbehaltenen Bereich fällt. Nur dieser ist in der Tat dafür verantwortlich, „auf der regulatorischen Ebene das Gleichgewicht zwischen den kollidierenden Grundwerten zu übersetzen und dabei die Orientierungen und Fälle zu berücksichtigen, die er als am stärksten im sozialen Gewissen verwurzelt schätzt“, mit einer Ermessensfreiheit, die nur wegen offensichtlicher Unangemessenheit angefochten werden könnte. Deshalb wurde diese Angelegenheit für unzulässig erklärt. Es ist auch interessant festzustellen, dass das Verfassungsgericht in die gleiche Richtung geht wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der seinerseits beschlossen hat, sich nicht zum Schicksal der Embryonen zu äußern, und die Rechtsvergleichung bemüht, die zeigt, dass selbst die europäische Gesetzgebung in diesem Punkt keine wesentlich einheitlichen Lösungen bietet. Das zweite Beispiel betrifft die Anerkennung eines durch Leihmutterschaft gezeugten Kindes (Urteil 272/2017). Es wurde die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift gestellt, die die Anfechtung der Anerkennung eines nicht ehelichen Kindes regelt, da eine solche Vorschrift es nicht zulassen würde, konkret das Interesse eines durch Leihmutterschaft gezeugten Kindes zu berücksichtigen, die Anerkennung der seinen Lebenserfordernissen am besten entsprechenden Abstammung zu erwirken. Auch in diesem Fall, in dem es um die Wahl zwischen den gegensätzlichen Interessen der Wahrheit und des Kindesschutzes geht, erkennt das Verfassungsgericht an, dass es „verfassungsrechtlich nicht zulässig ist, dass das Erfordernis der Wahrheit der Abstammung automatisch dem Kindesinteresse aufgezwungen wird“, schließt aber gleichzeitig aus, dass „die Abwägung dieses Erfordernisses mit jenem Interesse die automatische Aufhebung des einen im Namen des anderen mit sich bringt“. Es hebt daher die Komplexität des Rahmens der zu berücksichtigenden Variablen hervor, unter denen heute „neben der Dauer der Beziehung 16

Gesetz 40/2004 über die medizinisch assistierte Fortpflanzung.

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zum Kind und damit des bereits erworbenen Identitätszustands die Methoden der Empfängnis und Schwangerschaft besonders wichtig sind“ und die Möglichkeit für den sozialen Elternteil, durch die Adoption in besonderen Fällen ein Rechtsverhältnis herzustellen, das dem Kind einen angemessenen Schutz gewährleistet. Im Rahmen dieser Bewertung hebt das Verfassungsgericht insbesondere den hohen Grad des Unwerturteils hervor, den unser Rechtssystem mit der Leihmutterschaft verbindet, die „die Würde der Frau unerträglich verletzt und die menschlichen Beziehungen zutiefst untergräbt“. Das dritte Beispiel betrifft den Impfzwang (Urteil 5/2018). Eine Region hatte das staatliche Gesetz angefochten, das eine bestimmte Anzahl von Schutzimpfungen für Kinder unter 16 Jahren vorschreibt. Auch hier ist die Corte costituzionale der Ansicht, dass die Entscheidung, Impfungen zwingend vorzuschreiben – wobei nur deren zwingender Charakter in Frage gestellt wurde, und nicht ihre Wirksamkeit – Sache des nationalen Gesetzgebers ist, der mit der Pflege der öffentlichen Gesundheit betraut ist. Da die konkret vom Gesetzgeber getroffene Entscheidung nicht unvernünftig ist, da sie dem Schutz der individuellen und kollektiven Gesundheit dient und auf der Pflicht zur Solidarität bei der Vorbeugung und Begrenzung der Ausbreitung bestimmter Krankheiten beruht, kommt das Verfassungsgericht zu dem Schluss, dass alle Zweifel der Verfassungsmäßigkeit unbegründet sind. Um zu seinen Schlussfolgerungen über die Vernünftigkeit der auferlegten Verpflichtung zu gelangen, bewertet die Corte costituzionale verschiedene Faktoren, insbesondere die Tatsache, dass alle obligatorischen Impfungen bereits in den nationalen Impfplänen vorgesehen, empfohlen und vom Staat finanziert werden, den derzeitigen Kontext, der durch eine schrittweise Verringerung der Impfquote gekennzeichnet ist, die den Übergang von einer Überzeugungsstrategie zu einem System der Pflichtimpfung rechtfertigt und schließlich die Tatsache, dass die Nichtimpfung nicht zum Ausschluss von der Pflichtschule führt. Während diese drei Beispiele die Vorsicht des Verfassungsgerichts bei sensiblen Fragen zeigen, bei denen es in erster Linie Sache des Gesetzgebers ist, die Gefühle der Gemeinschaft zu interpretieren, da dem Richter der Gesetze nur die Überprüfung der Unvernünftigkeit der Entscheidungen vorbehalten ist, zeigen uns zwei weitere Beispiele stattdessen, dass die Corte costituzionale nicht zögert, deutlicher sogar mit kreativen Lösungen einzugreifen, wenn dies erforderlich ist, weil der Gesetzgeber ihren Ermahnungen nicht nachgekommen ist oder weil sie glaubt, dass der Schutz nicht aufgeschoben werden kann. Ein erstes Beispiel betrifft die Gleichberechtigung der Eltern bei der Übertragung des Nachnamens auf das Kind. Nach italienischem Recht wird nur der Nachname des Vaters an eheliche Kinder weitergegeben. Das Verfassungsgericht hatte zuvor zweimal zu dieser Frage entschieden. Im ersten Fall, der mittlerweile lange zurückliegt, hatte es sich lediglich auf die Hoffnung beschränkt, dass der Gesetzgeber die geltende Vorschrift durch eine andere ersetzen würde, die der neuen wechselseitigen Situation der Ehegatten besser Rechnung trägt (Beschluss

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76/1988). In der Folge hatte die Corte ausdrücklich erklärt, dass die Regel nicht mit der Verfassung vereinbar sei, hatte aber die Möglichkeit, selbst einzugreifen, aufgrund der Vielfalt der Lösungsmöglichkeiten ausgeschlossen und auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass der Gesetzgeber die Wahl im Einklang mit den Gefühlen der Gemeinschaft treffen müsse (Urteil 61/2006). Angesichts der anhaltenden Untätigkeit des Gesetzgebers und zehn Jahre nach dem letzten Urteil hat das Verfassungsgericht eine klarere Entscheidung getroffen. In der Annahme, dass die Unmöglichkeit der Übertragung des Familiennamens der Mutter das Recht auf die persönliche Identität des Kindes beeinträchtigt und auch eine unverhältnismäßige Ungleichbehandlung der Ehepartner darstellt, erklärte es die Bestimmung für verfassungswidrig, die Eltern daran hindert, dem Kind den Familiennamen der Mutter zu geben, wenn sie dies verlangen. Das Urteil beschränkt sich auf die Sache des der Corte vorgelegten Falles, in dem beide Ehepartner den gemeinsamen Wunsch hatten, ihrem Kind auch den Nachnamen der Mutter zu geben (Urteil 286/2016). Das letzte Beispiel betrifft die Strafbarkeit von Suizidhilfe. Die Frage ergab sich aus einem Fall großer Medienresonanz (Cappato). Eine Person hatte den Wunsch eines durch einen Unfall gelähmten jungen Mannes, sein Leben zu beenden, unterstützt. Die Corte costituzionale hat die Verfassungsmäßigkeit der Bestimmung des Strafgesetzbuches, das Beihilfe zum Suizid bestraft, als an sich nicht verfassungswidrig beurteilt, aber gleichzeitig festgestellt, dass in solchen Fällen und unter bestimmten Bedingungen (irreversible Natur der Krankheit, absolut unerträgliches physisches und psychisches Leiden, Fähigkeit des Patienten, seine eigene Entscheidung frei und bewusst zu treffen) die Absolutheit des Beihilfeverbots und seine Bestrafung als Verbrechen die Freiheit der Selbstbestimmung des Patienten einschränken könnte. Sie ist jedoch der Meinung gewesen, diese Verletzung nicht durch eine einfache Aufhebung der Straftat beheben zu können. In einem ethischsozialen, hochsensiblen Bereich und mit einem hohen Missbrauchsrisiko ist es in der Tat notwendig, dass das Sachgebiet geregelt wird. Nur so können alle relevanten Variablen berücksichtigt und das Risiko von Missbrauch vermieden werden. Die Neuartigkeit des Urteils liegt auch in der vom Verfassungsgericht getroffenen Verfahrenslösung. In der Regel erklärt das Verfassungsgericht in solchen Fällen bei Vorliegen einer Vielzahl von möglichen Regelungsentscheidungen die Frage für unzulässig und fordert den Gesetzgeber auf zu intervenieren; erst bei anhaltender Untätigkeit des Gesetzgebers könnte dann das Verfassungsgericht wirksamer eingreifen. In der vorliegenden Rechtssache hat die Corte costituzionale jedoch festgestellt, dass aufgrund der Bedeutung der betreffenden Werte die Anwendung von nicht verfassungskonformen Rechtsvorschriften verhindert werden muss. Sie hat die Verhandlung der Sache daher um ein Jahr verschoben, auf September 2019, um dem Gesetzgeber die Möglichkeit zu geben, eine spezielle Regelung zu erlassen (Beschluss Nr. 207/2018).

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IV. Der Schutz der Grundrechte zwischen der Corte costituzionale und den Europäischen Gerichtshöfen 1. Die Interferenzen der von der italienischen Verfassung gebotenen Garantien und den beiden Europäischen Katalogen der Grundrechte (Europäische Menschenrechtskonvention und Charta der Grundrechte der Europäischen Union) haben zu heiklen Problemen in den Beziehungen zwischen den dafür zuständigen Gerichten geführt. Hier möchte ich über die letzten Etappen des Weges des italienischen Verfassungsgerichts in seinen Beziehungen zu den beiden Gerichtshöfen in Straßburg und Luxemburg beim Schutz der Grundrechte berichten. Zwei Vorbemerkungen sind dazu erforderlich. Die erste betrifft die sogenannte Lehre der „controlimiti“ (Gegengrenzen). Die verfassungsmäßige Grundlage der italienischen Beteiligung an supranationalen Organisationen steht im Art. 11 der italienischen Verfassung. Die sich aus den supranationalen Rechtsordnungen ergebenden „Einschränkungen der Souveränität“ betreffen nicht nur die ordentliche Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Verfassungsfunktion, sondern erlauben auch womöglich, von „einzelnen“ Verfassungsregeln abzuweichen. Art. 11 der Verfassung gehört nämlich zu den „Grundprinzipien“ der Verfassung und kann daher über die nicht grundlegenden Verfassungsbestimmungen „verfügen“. Doch auch er kann nicht den Verzicht des Staates auf die obersten Prinzipien der Verfassung (die auch der Verfassungsrevision entzogen sind: Urteil 1146/1988) legitimieren – daher das Konstrukt der sogenannten „controlimiti“. Die zweite betrifft die Haltung des italienischen Verfassungsgerichts gegenüber den anderen Gerichten zum Thema Grundrechte. Eine Haltung, die, das muss man anerkennen, auf der anderen Seite die gleiche Bereitschaft und Offenheit gefunden hat. Der bekannte Fall Taricco, auf den ich nicht näher eingehen kann, ist ein glückliches Beispiel dafür. Es lässt sich nämlich nicht leugnen, dass es auch in der Rechtssache Taricco um den Schutz der Grundrechte geht und um die Tatsache, dass nach Ansicht der Corte costituzionale der von der italienischen Verfassung garantierte Schutzstandard durch eine bestimmte Auslegung des Rechts der Europäischen Union (EU) verletzt wurde. Und dass das italienische Verfassungsgericht – und auf diesen Punkt des Dialogs mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) möchte ich die Aufmerksamkeit lenken  – ebendieses Schutzniveau in korrekter Anwendung des europäischen Standards einfordert, insbesondere in Bezug auf die Anwendung des Legalitätsprinzips von Sanktionen. 2. Was die Beziehungen zum Straßburger Gerichtshof betrifft, so habe ich bereits auf die Klarstellungen des Verfassungsgerichts zum unterschiedlichen Ansatz beim Schutz der durch die jeweilige Charta garantierten Grundrechte hingewiesen – der erste ist systemisch, der zweite fragmentarisch. Das spiegelt sich in der unterschiedlichen Art und Weise wider, wie die in der Konvention vorgesehenen

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gleichen Rechte geschützt werden, wenn sie Beurteilungsparameter des Verfassungsgerichts sind. Mit zwei wichtigen Urteilen aus dem Jahr 200717 hat die Corte costituzionale bekanntlich bestätigt, dass die Verletzung der Konvention durch ein Gesetz als Mangel an Verfassungsrechtmäßigkeit anzusehen ist. Genauer gesagt wird dort behauptet, dass die Bestimmung der Konvention ein „zwischengeschaltetes“ verfassungsrechtliches Kriterium für die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes darstellt, das sie im Sinne der Rechtsprechung des Straßburger Gerichts in die italienische Rechtsordnung einzieht. Es wurde jedoch bereits in den erwähnten Entscheidungen darauf verwiesen, dass dies nicht bedeutet, dass die so interpretierte Norm die Kraft von Verfassungsnormen erlangt. „Gerade weil es sich um Rechtsnormen handelt, die das Verfassungskriterium ergänzen, aber dennoch auf einer Ebene unterhalb der Verfassung verbleiben, müssen sie verfassungskonform sein“.18 Wie ich bereits sagte, fügte die Corte costituzionale hinzu, dass es, auch wenn es sich auf die als Parameter angeführte Bestimmung der Konvention beziehen muss, dennoch ihre eigene Aufgabe ist, das in der Konvention vorgesehene Recht mit den anderen verfassungsrechtlich relevanten19 Rechten auszugleichen. In diesem Ausgleich kommt auch der „Ermessensspielraum“ zum Ausdruck, den der Mitgliedsstaat laut Konvention hat.20 Eine nachträgliche Klarstellung des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2015 lautet, dass nicht jedes EGMR-Urteil eine Verpflichtung für die innerstaatlichen Richter zur Umsetzung der darin enthaltenen Festlegungen mit sich bringt.21 Nur ein „stabiler Rechtsprechungsansatz“ (Urteil 120/2011) oder ein „konsolidiertes Recht“ in der europäischen Rechtsprechung bindet den innerstaatlichen Richter, während diese Verpflichtung bei Entscheidungen, die keine endgültig gewordene Orientierung darstellen, nicht besteht. Die jüngsten Entwicklungen in der Position der Corte costituzionale sind in ihrer Rechtsprechung zu Sanktionen nachzulesen, wo es um die unterschiedliche Ausdehnung des Begriffs der strafrechtlichen Sanktionen für das Verfassungsgericht und den EGMR geht. Das Problem stellte sich zum Beispiel, als das Verfassungsgericht sich mit der Rechtmäßigkeit der im sogenannten „Severino“-Gesetz über die mangelnde Kandidatenfähigkeit, die Unwählbarkeit und den Verlust politischer und administrativer Ämter bei Vorliegen von Verurteilungen wegen bestimmter Straftaten gegen die öffentliche Verwaltung vorgesehenen Maßnahmen befassen musste. Das Ver 17

Urteile 348 und 349/2007. Urteil 348/2007. 19 Urteil 264/2012. 20 Urteile 193/2016, 15/2012, 317/2009. 21 Urteil 49/2015, das ausschloss, dass ein bestimmtes EGMR-Urteil (Varvara / Italien, 2013) ausreichte, um eine konsolidierte Ausrichtung des Straßburger Gerichts darzustellen. 18

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fassungsgericht hat die Frage zunächst nur unter Bezugnahme auf autonome verfassungsrechtliche Parameter behandelt und ist zu dem Schluss gekommen, dass die fraglichen Maßnahmen nicht unter den Begriff der Strafe im innerstaatlichen Recht fallen (Urteil 236/2015). Da anschließend auch auf den verfassungsrechtlichen Parameter Bezug genommen wurde, der auf die Bestimmungen in den europäischen Konventionen verweist, hat die Corte costituzionale auch die Standards des Gerichtshofs in Straßburg mit einbezogen und ist dennoch zu demselben Schluss gekommen, dass die Angelegenheit unbegründet ist (Urteil 275/2016), in der Meinung, dass die Maßnahmen nicht einmal unter den Begriff der Straftat im EMRK-System entsprechend der Rechtsprechung des EGMR fallen (Urteil 275/2016). Ein weiterer Strang der Rechtsprechung, ebenfalls in diesem Bereich, betrifft die Anwendung des Grundsatzes „ne bis in idem“ in Fällen, in denen die innerstaatliche Rechtsordnung das gleiche Verhalten mit verschiedenen Arten von Strafmaßnahmen (insbesondere strafrechtlichen und verwaltungsrechtlichen) sanktioniert. Auch in diesem Fall kommt die gleiche unterschiedliche Tragweite des Begriffs der strafrechtlichen Sanktion ins Spiel, und damit die Möglichkeit, dass nach den herkömmlichen Kriterien auch in der Rechtsordnung nicht als solche betrachtete Sanktionen mit anderen, strafrechtlichen konkurrieren und daher Gefahr laufen, als Annahmen von „bis in idem“ rekonstruiert zu werden. Der mögliche Konflikt wurde  – nach einem ersten Unzulässigkeitsbeschluss des Verfassungsgerichts (Urteil 102/2016) – durch die Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR vermieden, der im Jahr 2016 mit dem Beschluss der Großen Kammer im Fall A&B gegen Norwegen (November 2016) erklärte, dass eine Verdoppelung der Strafmaßnahme nicht immer gegen Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 EMRK verstößt, und dass dies nicht geschehen kann, wenn die beiden Verfahren, die zu ihrer Anwendung führen, zeitlich und inhaltlich eng miteinander verbunden sind. 3. Nach dem Inkrafttreten der Charta der Grundrechte haben sich die Beziehungen zum Gerichtshof in Luxemburg weiterentwickelt. Im Prinzip vermeidet der Mechanismus der Nichtanwendung der mit der europäischen self-executing-Norm kollidierenden nationalen Vorschrift mögliche Gegensätze zwischen EuGH und Verfassungsgericht, da die Antinomie zwischen den Rechtsquellen nicht zu einer Frage der Verfassungsmäßigkeit führt. Da aber die Charta einen ähnlichen Inhalt wie die Verfassung hat, eröffnet ihre Gleichstellung mit den Verträgen zwei mögliche Szenarien: das Aufkommen einer „verbreiteten“ Nachprüfung der italienischen Richter, wenn die Vorschriften der Charta als unmittelbar anwendbar angesehen werden;22 die Annäherung des Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH an eine „Vorfrage der Verfassungsmäßig-

22 In diesem Sinn Bin, Roberto / Caretti, Paolo / Pitruzzella, Giovanni, Profili costituzionali dell’Unione europea, Bologna 2015, S. 271; s. auch Barbera, Augusto, La Carta dei diritti: per un dialogo fra la Corte italiana e la Corte di giustizia, Quad. cost. 2018, S. 151.

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keit“, der diese zunehmend ähneln würde, nur unter einem anderen Namen, mit anderen Kriterien und vor einem anderen Richter. Es kann daher passieren, dass eine in einem Prozess angewandte nationale Bestimmung gleichzeitig Zweifel an ihrer Verfassungsmäßigkeit und ihrer Konformität mit der Charta aufkommen lässt. Das Thema wurde von der italienischen Rechtslehre untersucht, und maßgebliche Stimmen dieser Rechtslehre haben mögliche Lösungen für eine geteilte Regelung vorgeschlagen.23 Im Zuge dessen, was in diesem Zusammenhang, wenn auch mit gewissen Unterschieden, bereits in Frankreich und Österreich24 geschehen war, war die Frage dann Ende 2017 Gegenstand einer umstrittenen Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichts. Ähnliche Anklänge wie im italienischen Urteil finden sich auch in einer jüngeren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Am Ende eines langen obiter dictums postulierte das Urteil Nr. 269 von 2017, dass „wenn ein Gesetz sowohl in Bezug auf die durch die italienische Verfassung geschützten Rechte als auch in Bezug auf die durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Rahmen der Gemeinschaftsrelevanz garantierten Rechte Zweifel an der Rechtswidrigkeit aufkommen lässt, die Frage der Verfassungsmäßigkeit unbeschadet des Antrags auf Vorabentscheidung zu Fragen der Auslegung oder Ungültigkeit des Unionsrechts gemäß Artikel 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gestellt werden muss“.25 23 Barbera, Augusto, La Carta dei diritti per un dialogo fra la Corte italiana e la Corte di Giustizia, Rivista AIC, 2017. 24 In Frankreich ist die Neuerung mit einer Verfassungsänderung (Art. 61 und 62 Verf.) eingeführt worden; in Österreich ist sie auf den Fall beschränkt worden, dass der Inhalt der Bestimmung der Charta in Geist und Wort der Verfassung entspricht und die Frage der Verfassungsmäßigkeit damit perfekt die Gemeinschaftsfrage absorbiert (VerfGH 14.3.2012, U 466/11–18; U 1836/11–13). 25 „Unbeschadet des Grundsatzes des Vorrangs und der direkten Wirkung des Rechts der Europäischen Union, wie er sich bis heute in der europäischen und der Verfassungsrecht­ sprechung konsolidiert hat, ist zur Kenntnis zu nehmen, dass die besagte Charta der Rechte Bestandteil des Unionsrechts ist und aufgrund ihrer typischen verfassungsrechtlich geprägten Inhalte besondere Merkmale besitzt. Die in der Charta festgeschriebenen Grundsätze und Rechte überschneiden sich größtenteils mit den von der italienischen Verfassung (und von den nationalen Verfassungen der übrigen Mitgliedsstaaten) garantierten Grundsätzen und Rechten. Von daher kann es sein, dass die Verletzung des Rechts einer Person gleichzeitig die von der italienischen Verfassung garantierten Rechte als auch die von der Charta der Rechte der Union festgelegten Rechte betrifft, wie kürzlich im Zusammenhang mit dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit der Straftaten und Strafen geschehen (EuGH, Große Kammer, Urteil 5. Dezember 2017, in der Sache C-42/17, M. A.S, M. B.). Die Verletzung der Rechte der Person erfordert daher die Notwendigkeit eines Eingriffs erga omnes dieses Gerichts, auch kraft des Grundsatzes, der die zentrale Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zum Fundament des Verfassungsgebäudes macht (Art. 134 Cost.). Die Corte costituzionale entscheidet im Licht der internen und eventuell der europäischen Kriterien (gemäß Art. 11 und 117 Cost.), entsprechend der jeweils geeigneten Ordnung, auch um sicherzustellen, dass die von der besagten Charta garantierten Rechte im Einklang mit den Verfassungstraditionen ausgelegt werden, auf die auch der Vertrag über die Europäische Union sowie Art. 52, Abs. 4 GRC als relevante Quellen in diesem Bereich verweisen“.

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Das Verfassungsgericht hat also seine bisherige Lösung im Fall der „doppelten Vorfrage“ umgekehrt und die Bedeutung des erga omnes-Effekts seiner Intervention im Vergleich zu einer Nichtanwendung durch ein ordentliches Gericht hervorgehoben.26 Andernfalls – so hat das Verfassungsgericht betont – würde es zu einer „unzulässigen diffusen Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes“ kommen.27 Es stellte ferner fest, dass die Möglichkeit des ordentlichen Gerichts auf Beantragung einer Vorabentscheidung nach eventueller Abweisung der Frage der Verfassungsmäßigkeit unbeschadet bestehen bleibt.28 In einer neueren Entscheidung (Nr. 20 von 2019) über das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten hat das Verfassungsgericht seine Position bestätigt und das „erste Wort“ im Namen des Verfassungsrangs der ihm vorgelegten Angelegenheit und der damit verbundenen Rechte beansprucht. Wie schon oben erwähnt, hatte ein Richter die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Verpflichtung der öffentlichen Verwaltungen, aus Gründen der Transparenz und der Korruptionsbekämpfung eine Reihe personenbezogener Daten und Vermögenswerte ihrer leitenden Beamten zu veröffentlichen, gestellt und war der Ansicht, dass eine derartige Verpflichtung gegen das Grundrecht auf Vertraulichkeit verstößt, das sowohl durch die Verfassung als auch durch die EU-Grundrechtecharta geschützt ist. Das Gleichgewicht zwischen den beiden kollidierenden Grundrechten, Vertraulichkeit und Transparenz, die beide Gegenstand der beiden oben genannten internen und europäischen Rechtskataloge sind, stand daher auf dem Spiel. In diesem neuen Urteil bekräftigt die Corte costituzionale die Zweckmäßigkeit eines erga omnes-Eingriffs, den sie nur selbst anbieten kann, und präzisiert, 26

Dazu Barbera, Augusto, La Carta dei diritti: per un dialogo fra la Corte italiana e la Corte di giustizi (Fn. 23), S 157. 27 Man kann daran erinnern, dass das französische Organgesetz vom 10.12.2009, Nr. 1523, das die Vorfrage der Verfassungsmäßigkeit geregelt hat, festgelegt hat, dass im Falle der „doppelten Vorfrage“ (einerseits international, also auch gemeinschaftlich, und andererseits verfassungsrechtlich) der Frage der Verfassungsmäßigkeit Vorrang einzuräumen ist. Diese Vorschrift ist Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH seitens der Cour de Cassation betreffend ihre Vereinbarkeit mit Art. 267 AEUV gewesen, und im Jahre 2010 hat der EuGH das im Text zitierte Urteil Melki gesprochen. 28 „Andererseits kann das Hinzukommen der von der GRC vorgesehenen Rechte zu den von der italienischen Verfassung vorgesehenen zu einem Wettbewerb von Rechtsbehelfen führen. Bezüglich dieser Fälle der „doppelten Vorfrage“ – d. h. Streitigkeiten, die zu Fragen der Verfassungswidrigkeit und gleichzeitig zu Fragen der Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht Anlass geben können – hat der EuGH seinerseits festgestellt, dass das Unionsrecht der vorrangigen Natur der den nationalen Verfassungsgerichten obliegenden Verfassungsklage nicht entgegensteht, solange die ordentlichen Gerichte frei sind, dem EuGH „in jeder ihnen angemessen erscheinenden Phase bis auch am Ende des Zwischenverfahrens zur allgemeinen Kontrolle der Gesetze jede ihrer Ansicht nach nötige Vorfrage zu unterbreiten“; „jede nötige Maßnahme zur Gewährleistung des vorläufigen Schutzes der von der Rechtsordnung der Union übertragenen Rechte anzuwenden“; „am Ende des Zwischenverfahrens zur Klärung der Verfassungsmäßigkeit die betreffende nationale Gesetzesbestimmung, die die Hürde der Verfassungsmäßigkeit genommen hat, nicht anzuwenden, wenn sie sie in anderer Hinsicht als dem Unionsrecht entgegenstehend ansehen“.

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dass ihr Urteil auf „internen Verfassungsnormen und möglicherweise auch auf europäischen Normen (gemäß Artikel 11 und 177 der Verfassung) beruht, in der von Mal zu Mal am angemessensten erscheinenden Reihenfolge“. Sie weist ferner darauf hin, dass dies nicht das Recht der einfachen Richter in Frage stellt, dem EuGH dieselben Rechtsvorschriften vorzulegen, denn „das Hinzukommen der von der Charta gebotenen Garantien gegenüber denen der italienischen Verfassung führt zu … einem Wettbewerb von Rechtsbehelfen, bereichert die Mittel zum Schutz der Grundrechte und schließt per Definition jeden Ausschluss aus“. Die zwei erwähnten Entscheidungen, und besonders die erste, blieben nicht ohne Kritik. Offensichtlich gibt es im Hintergrund das Problem der Kohärenz mit dem Prinzip der „Freiheit“ des Kommunikationskanals zwischen dem nationalen Richter und dem EuGH.29 Ich kann und möchte mich nicht zur Sache der Entscheidungen des Verfassungsgerichts, dieses Thema zu behandeln, äußern, und auch nicht zu der beschlossenen Lösung, sondern werde mich auf zwei Über­ legungen beschränken. Erstens, dass die Urteile, die „typisch verfassungsrechtliche Prägung“ der Charta hervorheben und betonen, dass der Auslegungsvorrang der in der Verfassung verankerten Rechte – anstelle des Anwendungsvorrangs des europäischen Rechts – es der Corte costituzionale erlaubt, die Merkmale der Verfassungstradition zu definieren, mit denen auch die in der Charta verankerten Rechte harmonisiert sein müssen. Die Beanspruchung des ersten Wortes durch das Verfassungsgericht zu Fragen, die die von der Verfassung geschützten Grundrechte betreffen – die zweite Überlegung – steht im Einklang mit der aktiven Rolle, die die Corte costituzionale (wie andere Verfassungsgerichte) auf der europäischen Bühne mit der erfolgten Nutzung des Vorlagebeschlusses zu spielen begonnen hat. In diesen neuen Angelegenheiten erneuert das Verfassungsgericht die Genese der Garantie der Grundrechte in der EU-Rechtsordnung,30 indem es dem EuGH 29 Der EuGH postulierte in der Tat, „dass Art. 267 AEUV Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht, mit denen ein Zwischenverfahren zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit nationaler Gesetze eingeführt wird, soweit die Vorrangigkeit dieses Verfahrens zur Folge hat, dass sowohl vor der Übermittlung einer Frage der Verfassungsmäßigkeit an das mit der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen betraute nationale Gericht als auch gegebenenfalls nach Erlass der Entscheidung dieses Gerichts zu der betreffenden Frage alle anderen nationalen Gerichte an der Wahrnehmung ihrer Befugnisse oder der Erfüllung ihrer Verpflichtung gehindert sind, dem Gericht Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen“ (Urteil 22.6.2010, Melki und Abdeli, C-188 und 189/10, Rn. 57). Nach Ansicht des EuGH würde die Notwendigkeit, zuerst das nationale Verfassungsgericht anrufen zu müssen, auch den innerstaatlichen Richter daran hindern, seiner Pflicht zur unmittelbaren Nichtanwendung des mit den europäischen Vorschriften kollidierenden innerstaatlichen Rechts nachzukommen. 30 Von dem es Spuren in der Bezugnahme auf die den Mitgliedstaaten gemeinsamen Verfassungstraditionen gibt, die sowohl in der Charta (Art. 52) als auch im Lissaboner EU-Vertrag (Art. 6) enthalten sind.

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seine Auslegung der Grundrechte anbietet, Rechte, deren Schutz in Ermangelung von Bestimmungen in den Gründungsverträgen in den 1960er und 1970er Jahren von den Verfassungsgerichten beim Gerichtshof in Luxemburg angemahnt wurde.31 Im Übrigen ist die Sorge des Verfassungsgerichts um das Recht, das „erste Wort“ zu haben, kein Selbstzweck, sondern eine Bedingung, um die „Verfassungstraditionen“ (auf die in Art. 6 des EU-Vertrags und Art. 52 Abs. 4 der EU-Charta verwiesen wird) am Leben zu erhalten, das geltende italienische Recht zu erklären und das Verhältnis zwischen dem beanstandeten Gesetz und den verschiedenen ins Spiel kommenden Verfassungsinteressen zu bewerten  – alles Elemente, die dann für die Urteilsfindung des EuGH nützlich sein könnten (für den Fall, dass die Frage der Verfassungsmäßigkeit abgewiesen und der Richter sich dann an den EuGH wenden würde).

31 Eine weitere Überlegung ist, dass die Rechtsprechung des EuGH über die von mir genannten klaren Aussagen hinaus nicht einer gewissen Bereitschaft entbehrt, unter bestimmten Bedingungen zuzulassen, dass eine nationale Rechtsordnung eine erga omnes-Nichtigkeitsklage vor einem Verfassungsgericht vorschreiben kann – einmal im Melki-Urteil selbst, das ich zitiert habe, und noch stärker in den Urteilen A vs. B v. 11.9.2014, C-112/13 und Kernkraftwerke vs. Hauptzollamt Osnabrück v. 4.6.2015, C-5/14 – soweit, dass einige Kommentatoren in diesen Entscheidungen einen Trend zum Überdenken des Simmenthal-Urteils und den ausdrücklichen Ausschluss jeder Möglichkeit des Eingriffs in das direkte Verhältnis zwischen ordentlichem Richter und europäischem Recht für die nationalen Gerichte, seien sie auch die Verfassungsgerichte, gesehen haben.

Die Entwicklungen der Grundrechte in Italien, Deutschland und Spanien – Eine vergleichende Perspektive Kommentar Maria Daniela Poli

I. Einführung Ausgehend von den wertvollen und interessanten landesspezifischen Beiträgen und den vielen Denkanstößen, die ich anlässlich dieser Tagung erhalten habe, wird sich mein Kommentar auf die folgenden drei Aspekte fokussieren: 1) die Vorrangstellung der Grundrechte und ihre Bedeutung heute; 2) der Einfluss der Probleme der modernen Zeit und des sozialen Wandels auf die Grundrechte und die Funktion der Rechtsvergleichung; 3) der aktuelle Grundrechtspluralismus und die Suche nach einer gesamteuropäischen Homogenität. Selbstverständlich wird die Rolle der Verfassungsgerichte und der gegenwärtige justizielle Dialog im europäischen Raum bei der Analyse dieser Aspekte einbezogen.

II. Die Vorrangstellung der Grundreche und ihre Bedeutung heute Vor siebzig Jahren eröffneten die italienische Verfassung 1947/1948 und das deutsche Grundgesetz 1949 nach dem Zweiten Weltkrieg den Zyklus der europä­ ischen demokratischen Verfassungen durch die Einführung einer wichtigen Vorrangstellung.1 Es geht um die Vorrangstellung der Grundrechte, die sowohl eine Reaktion gegen den Faschismus und Nazismus darstellen als auch einen Grundstein des Verfassungsstaats bilden. Die ersten Artikel beider Verfassungen sind paradigmatisch. Laut Art. 2 der italienischen Verfassung anerkennt und gewährleistet die Republik die unverletzlichen Rechte des Menschen, sei es als Einzelperson oder innerhalb von gesellschaftlichen Gruppen, in denen sich seine Persönlichkeit entfaltet.2 Das Grundgesetz beginnt bedeutungsvoll mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde, der Anerkennung der unverletzlichen und unveräußerlichen 1

Manzella, Andrea, Quei primati da difendere, La Repubblica, 21.1.2018, S. 24. Art. 2 der italienischen Verfassung lautet: „Die Republik anerkennt und gewährleistet die unverletzlichen Rechte des Menschen, sei es als Einzelperson oder innerhalb von gesell 2

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Menschenrechte und der Bindung der Gesetzgebung, vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte.3 Nach dem Ende des Franquismus wurde auch in Spanien das Öffentliche Recht basierend auf der Garantie der Grundrechte wieder etabliert. In der Tat ist die spanische Verfassung von 1978 mit ihrem äußerst umfangreichen Grundrechtekatalog als eine „Verfassung der Grundrechte“ bezeichnet worden, die sich stark vom deutschen Grundgesetz inspirieren ließ,4 sodass „ein gewichtiger Teil der Lehre feststellte, dass die Behandlung, welche die Grundrechte durch die spanische Verfassung erfahren, wesentlich dazu zwinge, sich zu verdeutschen.“5 Wenn die Vorrangstellung der Grundrechte zum Zeitpunkt der Verfassungsgebung ein Bruch mit der Vergangenheit und der Ausgangspunkt des Verfassungsstaats war, so sind die Grundrechte heute ein Schutzwall, um die Krise des modernen Konstitutionalismus, der durch die Sicherheitsprobleme, die Wirtschaftskrise und den Populismus auf die Probe gestellt wurde, zu überwinden, und um den Wert der Solidarität gegen den Stillstand des europäischen Integrationsprozesses wiederzubeleben. Die Frage der Immigration, die – wie Miguel Azpitarte Sánchez bemerkt hat – den Prüfstein aller aktuellen Schwierigkeiten darstellt6 und einer gemeinsamen Lösung auf europäischer Ebene bedürfe, zeigt das deutlich. Der Vertrauensverlust zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der erschrockene Rückzug hinter nationale Grenzen, die den Philosophen Jürgen Habermas dazu geführt haben, sich zu fragen, ob wir noch gute Europäer sind,7 können erst durch die Aufwertung der in unseren Verfassungen enthaltenen Grundrechte bekämpft werden.

schaftlichen Gruppen, in denen sich seine Persönlichkeit entfaltet, und fordert die Erfüllung der unabdingbaren Pflicht zur politischen, wirtschaftlichen und sozialen Solidarität“. 3 Art. 1 GG: „(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“. 4 Medina Guerrero, Manuel, Grundrechte in Spanien, in: Merten, Detlef / Papier, HansJürgen (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band X, Heidelberg 2018, S. 615 (616). 5 Siehe Fn. 4. 6 Azpitarte Sánchez, Miguel, in diesem Band. 7 Habermas, Jürgen, Sind wir noch gute Europäer?, Die Zeit, Nr. 28/2018.

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III. Der Einfluss der Probleme der modernen Zeit und des sozialen Wandels auf die Grundrechte und die Funktion der Rechtsvergleichung Die Probleme der modernen Zeit und der soziale Wandel haben einen starken Einfluss auf die Grundrechte. Wenn – wie Daria de Pretis unterstrichen hat – die Grundrechte nicht allein leben, sondern koexistieren und sich gegenseitig ergänzen,8 machen die Probleme der modernen Zeit, nämlich den Ausgleich zwischen Verfassungswerten herzustellen, immer delikater und komplexer. Konkrete Beispiele erklären das offensichtlich. Die Bedrohung durch den Terrorismus hat die Einführung neuer Sicherheitsmaßnahmen impliziert. Trotzdem bleibt die Frage, wie weit diese Maßnahmen reichen dürfen, ohne den wesentlichen Kern der Grundrechte zu berühren. Ein Paradebeispiel dieser Problematik ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 2006,9 welches das Luftsicherheitsgesetz, das die Streitkräfte ermächtigte, Luftfahrzeuge, die als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollen, abzuschießen, aufgrund der Verletzung des Rechts auf Leben in Verbindung mit der Menschenrechtsgarantie für verfassungswidrig erklärt hat. Oder denken wir an die Konsequenzen der Datensammlung, in Hinblick auf das Recht auf Privatsphäre. In ähnlicher Weise hat sich durch die Wirtschaftskrise ein Spannungsverhältnis zwischen den auf dem Grundsatz des Gleichgewichts zwischen Einnahmen und Ausgaben basierten finanziellen Einsparungserfordernissen und den Sozialrechten entwickelt, welches – wie Daria de Pretis erwähnt hat10 – das italienische Verfassungsgericht oft in den letzten Jahren beschäftigt hat und das Risiko mit sich bringt, den Grundsatz des Sozialstaates, auf dessen Basis unsere Demokratien gegründet wurden, zu beschneiden. Da die Grundrechte nicht auf dem Papier leben, sondern der Realität entsprechen müssen, macht außerdem der soziale Wandel die Anpassung der Rechtsordnung erforderlich. Deswegen werden die Verfassungsgerichte angeregt, auf einer

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De Pretis, Daria, in diesem Band. BVerfG, Urteil des Ersten Senats v. 15.2.2006 (1 BvR 357/05), BVerfGE 115, 118–166; dazu Hecker, Wolfgang, Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz, Kritische Justiz 2006, S. 179; Schenke, Wolf-Rüdiger, Die Verfassungswidrigkeit des § 14 III LuftSiG, Neue Juristische Wochenschrift 2006, S. 736; Lepsius, Oliver, Human Dignity and the Downing of Aircraft: The German Federal Constitutional Court Strikes Down a Prominent Anti-Terrorism Provision in the New Air-Transport Security Act, German Law Journal 2006, S. 761; Reimer, Ekkehart, Die Schwäche des Rechtsstaats ist seine Stärke, Anmerkung zu BVerfG, Urt. v. 15.2.2006 (Luftsicherheitsgesetz), StudZR 2006, S. 601; De Petris, Andrea, Tra libertà e sicurezza prevale la dignità umana, dice il Bundesverfassungsgericht, Rivista AIC, 20.3.2006; Nolte, Georg, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz: Ein Sonderweg im Licht des Völkerrechts?, Die Friedens-Warte 2009, S. 93. 10 De Pretis, Daria, in diesem Band. 9

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Seite eine „dynamische Verfassungsauslegung“11 – wie Karl-Peter Sommermann unterstrichen hat – zu entwickeln und, auf der anderen Seite, neue Rechte, wie z. B. die Rechte der Homosexuellen, anzuerkennen. Das von María Jesús Montoro Chiner genannte Urteil des spanischen Verfassungsgerichts Nr. 198 vom 6. November 2012,12 das reich an Bezügen zur Rechtsvergleichung ist, stellt diesen Entwicklungsprozess durch eine sehr bedeutungsvolle Metapher dar, die vorher vom Obersten kanadischen Gerichtshof benutzt wurde. In der Tat hat das Verfassungsgericht, um die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes Nr. 13 aus dem Jahr 2005 über das Recht auf Ehe zwischen Personen desselben Geschlechtes zu bestätigen, die Verfassung mit einem „lebenden Baum“ verglichen, der an die Realität adaptiert werden muss.13 In diesem Kontext ist der Interventionismus oder, um die Worte von Daria de Pretis zu benutzen, das „Engagement“ und die „Kreativität“14 der Verfassungsrechtsprechung entscheidend, da sie immer öfter die Aufgabe hat, den unentschlossenen Gesetzgeber an seine Pflichten zu erinnern oder diesen sogar zu ersetzen. Denken wir an zwei heikle Sozialthemen, die vom deutschen Bundesverfassungsgericht beziehungsweise vom italienischen Verfassungsgericht behandelt wurden: das Recht auf ein drittes Geschlecht und die Strafbarkeit der aktiven Sterbehilfe. Mit seinem Beschluss vom 10. Oktober 201715 hat das Bundesverfassungsgericht das Personenstandsgesetz, soweit es neben dem Geschlechtseintrag weiblich oder männlich keinen weiteren positiven Geschlechtseintrag ermögliche, wegen der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in seiner Ausprägung als Schutz der geschlechtlichen Identität und des Diskriminierungsverbots für verfassungswidrig erklärt. Gleichzeitig hat es dem Gesetzgeber eine Frist bis zum 31. Dezember 2018 gesetzt, um das Gesetz zu ändern.16 11

Sommermann, Karl-Peter, in diesem Band. Spanisches Verfassungsgericht, Urteil Nr. 198/2012 v. 6.11.2012, BOE Nr. 286, 28.11.2012, S. 168, mit Anmerkungen von Conte, Lucilla, La sentenza del Tribunal Constitucional del 6 novembre 2012 sul matrimonio omosessuale, tra „polisemia“ e normalizzazione, Quad. cost., 2.12.2012; Presno Linera, Miguel Ángel, El Matrimonio: ¿Garantía institucional o esfera vital? A propósito de la STC 198/2012, de 6 de noviembre, sobre el matrimonio entre personas del mismo sexo y la jurisprudencia comparada, ReDCE 2013, S. 403. 13 Vgl. Poli, Maria Daniela, Le mariage homosexuel dans les jurisprudences constitutionnelles, Revue internationale de droit comparé 2014, S. 843 (855–856). 14 De Pretis, Daria, in diesem Band. 15 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats v. 10.10.2017 (1 BvR 2019/16), BVerfGE 147, 1–30; dazu Mangold, Anna Katharina, Nicht Mann. Nicht Frau. Nicht Nichts, Ein VerfassungsblogSymposium, www.verfassungsblog.de (12.11.2017); Klimke, Romy, In Deutschland nichts Neues? Der Beschluss des BVerfG zum dritten Geschlecht aus völkerrechtlicher Perspektive, www.verfassungsblog.de (14.11.2017); Elsuni, Sarah, „Harter oder weicher Sexit“?, www. verfassungsblog.de (17.11.2017); Völzmann, Berit, Gleiche Freiheit für alle! Zur freiheitrechtlichen Begründung des BVerfG in der Entscheidung zur dritten Option, www.verfassungsblog. de (17.11.2017). 16 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde mit dem Gesetz zur Änderung der in das Geburtenregister einzutragenden Angaben v. 18.12.2018 (BGBl. I 2018, S. 2635) 12

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Das italienische Verfassungsgericht hat dagegen kürzlich über den sogenannten Fall „Cappato“ entschieden.17 Nachdem die dem Gesetzgeber durch den Beschluss 207/2018 gesetzte Frist zur Regelung der Materie abgelaufen war,18 hat es eine unter den Bedingungen des Gesetzes Nr. 219/2017 (Bestimmungen zur informierten Einwilligung und zu den Patientenverfügungen) geleistete Beihilfe zum Suizid als nicht strafbar angesehen, falls der Patient unheilbar erkrankt sei, dies für ihn zu unerträglichen Leiden führe und er sich aus freiem Willen zum Sterben entschieden habe. Dies gelte unter der Voraussetzung, dass das Bedürfnis, die Verfassungsmäßigkeit zu gewährleisten, den Vorrang vor dem Spielraum des Gesetzgebers habe. Auch dann müssen diese Voraussetzungen und die Methoden der Ausführung der Sterbehilfe durch die gesamtstaatlichen Gesundheitsdienste, vorbehaltlich der Stellungnahme der örtlich zuständigen Ethikkommission, in jedem Einzelfall geprüft werden. Gegenüber der erwähnten Komplexität des Ausgleichs und durch den oft notwendigen, wenn auch vorsichtigen, Aktivismus der Verfassungsgerichtsbarkeit ist der sogenannte horizontale Dialog zwischen Verfassungsgerichten eine Konstante geworden, wenngleich oftmals verdeckt oder implizit.19 Demzufolge erwirbt die in den Sälen der Verfassungsgerichte angekommene Rechtsvergleichung eine neue Funktion. Sie ist nicht nur eine Inspirationsquelle, sondern eine „Verbundtechnik“20 oder eine „obligatorische Rechtsanwendungsmethode“,21 wie Susanne Baer und Jürgen Basedow festgestellt haben. umgesetzt, das die Möglichkeit eingeführt hat, die Geschlechtsangabe „divers“ im Geburtenregister anzugeben. 17 Italienisches Verfassungsgericht, Urteil 242/2019 v. 22.11.2019, G. U. 27.11.2019 Nr. 48; dazu Ruggeri, Antonio, Rimosso senza indugio il limite della discrezionalità del legislatore, la Consulta dà alla luce la preannunziata regolazione del suicidio assistito (a prima lettura di Corte cost. n. 242 del 2019), www.giustiziainsieme.it (24.11.2019); Cupelli, Cristiano, Il Parlamento decide di non decidere e la Corte costituzionale risponde a se stessa. La sentenza 242 del 2019 e il caso Cappato, Sistema Penale 12/2019, S. 33. 18 Italienisches Verfassungsgericht, Beschluss Nr. 207/2018 v. 16.11.2018, G. U. 21.11.2018 Nr. 46 mit Anmerkungen von Ruggeri, Antonio, Venuto alla luce alla Consulta l’ircocervo costituzionale (a margine della ordinanza n. 207 del 2018 sul caso Cappato), Consulta online III/2018, S. 571; Tripodina, Chiara, Quale morte per gli „immersi in una notte senza fine“? Sulla legittimità costituzionale dell’aiuto al suicidio e sul „diritto a morire per mano di altri“, BioLaw Journal – Rivista di BioDiritto 3/2018, S. 139; Massa, Michele, Una ordinanza interlocutoria in materia di suicidio assistito. Considerazioni processuali a prima lettura, Forum di Quaderni costituzionali, 1.12.2018; Masciotta, Costanza, Innovazioni procedurali e „nuovi diritti“: i chiaroscuri dell’ordinanza n. 207/2018 della Corte costituzionale, www.federalismi. it (20.3.2019). 19 Siehe Poli, Maria Daniela, Der horizontale Dialog zwischen Verfassungsgerichten bzw. Rechtsvergleichung in den Verfassungsgerichtssälen. Die deutschen, französischen und italienischen Erfahrungen, in: Broemel, Roland / K rell, Paul / Muthorst, Olaf / Prütting, Jens (Hrsg.), Prozessrecht in nationaler, europäischer und globaler Perspektive, Tübingen 2017, S. 43. 20 Baer, Susanne, Zum Potenzial der Rechtsvergleichung für den Konstitutionalismus, JöR 2015, S. 389 (400). 21 Basedow, Jürgen, Hundert Jahre Rechtsvergleichung, Juristenzeitung 2016, S. 269.

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IV. Der aktuelle Grundrechtspluralismus und die Suche nach einer gesamteuropäischen Homogenität Die Öffnung unserer Rechtsordnungen nach außen, die Bedeutung der völkerrechtlichen Menschenrechtsabkommen, aber auch die Ausgestaltung eines europäischen Grundrechtsschutzstandards – seit dem Fall Stauder im Jahr 1969 zunächst durch die Rechtsprechung des EuGH, sodann infolge des Inkrafttretens der EU-Grundrechtecharta – haben einerseits die Grundrechte in eine internationale und supranationale Dimension projiziert und anderseits einen Grundrechtspluralismus22 etabliert. Wenn die Vorschrift des Art. 10 Abs. 2 der spanischen Verfassung von 1978 („Die in der Verfassung anerkannten Grundrechte und Grundfreiheiten werden in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den von Spanien ratifizierten internationalen Verträgen und Abkommen über die gleiche Materie ausgelegt.“) einen klaren Ausdruck des Phänomens der Internationalisierung und Europäisierung der Grundrechte darstellt, so liegt die aktuelle Herausforderung in der Entwicklung eines gesamteuropäischen „Grundrechtsverbunds“. Dabei bedeutet, wie Daniel Thym zu Recht hervorhebt, die Annäherung von nationalen Verfassungen, EMRK und GRCh freilich nur einen ersten Schritt.23 Um dieses Ziel zu erreichen, ist der sich überlappende Dialog zwischen den nationalen Verfassungsgerichten, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem Gerichtshof der Europäischen Union über die Grundrechte unabdingbar – trotz des Skeptizismus gegenüber dem Begriff des richterlichen Dialogs („judicial dialogue“) und der starken Kritik an der Überkonstitutionalisierung, die das Gewicht von den demokratisch legitimierten und kontrollierten politischen Institutionen zu den judikativen Institutionen verschoben hat.24 Doch ist dieser Dialog aufgrund des Spannungsverhältnisses zwischen Konkurrenz und Kooperation sowie zwischen der Garantie des nationalen Schutzniveaus und dem Bedürfnis nach Einheitlichkeit oft problematisch, wie der Begriff der „Verfassungsidentität“ in der Diktion des Bundesverfassungsgerichts, das Ergebnis des Musterfalls „Melloni“ in Spanien – im Grunde zwei Seiten derselben Medaille – oder der Fall „Taricco“ in Italien zeigen. In diesem Kontext ist die Rolle der Verfassungsgerichte als Hüter der nationalen Verfassungen und gleichzeitig als „Mittler“25 oder „Signalgeber“ (manovratori di 22

Lepsius, Oliver, Grundrechtspluralismus in Europa, in: Masing, Johannes u. a. (Hrsg.), Strukturfragen des Grundrechtsschutzes in Europa, Tübingen 2015, S. 45. 23 Thym, Daniel, Vereinigt die Grundrechte!, Juristenzeitung 2015, S. 53 (63). 24 Grimm, Dieter, Dieter Grimm zu Überkonstitutionalisierung, Demokratiedefiziten und Reformperspektiven der EU, Vorgänge Nr. 220, Heft 4/2017, S. 5–20, www.humanistischeunion.de. 25 Voßkuhle, Andreas, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, in: Staatlichkeit im Wandel – Transformations of the State, TranState Working Papers No. 106, Bremen 2009, S. 1 (3).

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scambi)26 zwischen den Ebenen besonders ausschlaggebend. Die Überwindung der Abneigung seitens des italienischen Verfassungsgerichts, den Mechanismus des Artikels 267 AEUV anzuwenden,27 und die Umkehrung der Reihenfolge zwischen der Verfassungsfrage und der Vorabentscheidungsfrage im Fall der sogenannten „doppelten Voranfrage“28 sind einerseits Produkt dieses Bewusstseins und drücken andererseits die Notwendigkeit eines intensiveren Austauschs mit dem EuGH im Bereich der Grundrechte aus. Trotz der schwierigen Beziehungen zwischen den Gerichten zeigt uns gerade der Fall „Taricco“, dass der Schlussstein der durch die Gerichte geschaffenen Wertehomogenität in der aufsteigenden und absteigenden Bewegung der Verfassungstraditionen gefunden werden kann.29 In der Tat liegt, wie es Sabino Cassese formuliert hat,30 die Tugend der Verfassungstraditionen in der Fähigkeit der „Um 26 Groppi, Tania, The Italian Constitutional Court: Towards  a „Multilevel System“ of Constitutional Review?, in: Harding, Andrew / Leyland, Peter (Hrsg.), Constitutional Courts. A Comparative Study, London 2009, S. 125 (147). 27 Diese Abneigung wurde im Kontext der direkten Normenkontrolle von Gesetzen des Staates und Regionen mit Beschluss Nr. 103/2008 und im Kontext der konkreten Normenkontrolle mit Beschluss Nr. 207/2013 überwunden; siehe Italienisches Verfassungsgericht, Beschluss Nr. 103/2008 v. 15.4.2008, G. U. 16.4.2008 Nr. 17 (mit Anmerkungen von Pesole, Luciana, La Corte Costituzionale ricorre per la prima volta al rinvio pregiudiziale. Spunti di riflessione sull’ordinanza n.103 del 2008, www.federalismi.it (23.7.2008); Bartole, Sergio, Pregiudiziale comunitaria ed „integrazione“ di ordinamenti, Forum di Quaderni costituzionali (29.9.2008) und Italienisches Verfassungsgericht, Beschluss Nr. 207/2013 v. 18.7.2013, G. U. 24.7.2013, Nr. 30 mit Anmerkungen von Adamo, Ugo, Nel dialogo con la Corte di giustizia la Corte costituzionale è un organo giurisdizionale nazionale anche nel giudizio in via incidentale. Note a caldo sull’ord. n. 207/2013, Forum di Quaderni costituzionali, 24.7.2013; Guastaferro, Barbara, La Corte costituzionale ed il primo rinvio pregiudiziale in un giudizio di legittimità costituzionale in via incidentale: riflessioni sull’ordinanza n. 207 del 2013, Forum di Quaderni costituzionali, 21.10.2013. 28 Italienisches Verfassungsgericht, Urteil Nr. 269/2017 v. 14.12.2017, G. U. 20.12.2017 Nr. 51; unter vielen Kommentaren siehe Ruggeri, Antonio, Svolta della Consulta sulle questioni di diritto eurounitario assiologicamente pregnanti, attratte nell’orbita del sindacato accentrato di costituzionalità, pur se riguardanti norme dell’Unione self-executing (a margine di Corte cost. n. 269 del 2017), Rivista di Diritti Comparati 3/2017, S. 1; Tega, Diletta, La sentenza n. 269 del 2017 e il concorso dei rimedi giurisdizionali costituzionali ed europei, Forum di Quaderni costituzionali, 24.1.2018; Scaccia, Gino, L’inversione della „doppia pregiudiziale“ nella sentenza della Corte costituzionale n. 269/2017: presupposti teorici e problemi applicativi, Forum di Quaderni costituzionali, 25.1.2018; Anzon Demmig, Adele, La Corte riprende il proprio ruolo nella garanzia dei diritti costituzionali e fa un altro passo avanti a tutela dei „controlimiti“, Forum di Quaderni costituzionali, 28.2.2018; Martinico, Giuseppe / Repetto, Giorgio, Fundamental Rights and Constitutional Duels in Europe: An Italian Perspective on Case 269/2017 of the Italian Constitutional Court and Its Aftermath, European Constitutional Law Review 2019, S. 731. 29 In diesem Sinne Ruggeri, Antonio, Struttura e dinamica delle tradizioni costituzionali nella prospettiva dell’integrazione europea, in: Anuario Iberoamericano de Justicia Constitucional 7/2003, S. 373 (386–387). 30 Cassese, Sabino, The ‚Constitutional Traditions Common to the Member States‘ of the European Union, Rivista trimestrale di diritto pubblico 2017, S. 939 (943).

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Maria Daniela Poli

wandlung“ oder besser der Einbeziehung der verschiedenen nationalen Grundrechtsbegriffe in den gemeinsamen europäischen Raum, um ein Verfassungsgemeingut auszuarbeiten und einen europäischen und globalen Konstitutionalismus herauszubilden.

Aktuelle Grundrechtsfragen in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Moderation: Stefan U. Pieper

Aktuelle Grundrechtsfragen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Michael Eichberger

I. Einleitung Bekanntlich hat das Bundesverfassungsgericht schon in den ersten Jahrzehnten, genau genommen schon in den ersten Jahren seines Wirkens, weichenstellende Entscheidungen für eine umfassende und effektive Geltung der Grundrechte im staatlichen Bereich getroffen. Dabei wurden die Schutzdimensionen der Grundrechte in vielfacher Hinsicht erweitert und ihre Wirkung – jedenfalls mittelbar – auch in den Privatrechtsbereich erstreckt. Die in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden Fundamentalprinzipien der Verfassung haben so alle Ebenen staat­lichen Handelns und letztlich alle Lebensbereiche in der Gesellschaft wirkmächtig erfasst. Nicht ganz zu Unrecht ist daher von einer Konstitutionalisierung der gesamten Rechtsordnung – manche sprechen auch von einer Überkonstitutionalisierung – durch diese Grundrechterechtsprechung die Rede. Mit dieser Feststellung einher geht häufig auch die Behauptung, dass es nach nahezu 70 Jahren Grundrechterechtsprechung im Grunde nichts wesentlich Neues mehr zu entscheiden gebe. Alle fundamentalen Fragen zur Reichweite und Anwendung der Grundrechte seien längst geklärt. Diese Aussagen haben einen richtigen Kern, gehen letztlich aber doch deutlich an der Rechtswirklichkeit vorbei. Freilich sind entscheidende Weichenstellungen in der Grundrechtsdogmatik schon vor langer Zeit erfolgt – etwa mit Elfes,1 Lüth,2 Mephisto,3 Schwangerschaftsabbruch I,4 Kalkar5 oder auch dem Volkszählungs­ urteil.6 Die Vielgestaltigkeit des Lebens wirft jedoch ständig neue Fragen auf und stellt alte neu: zur Dogmatik der Grundrechtsgeltung, ihren Strukturen und dem Inhalt der Grundrechte im Einzelnen. Insbesondere die rasante Internationali 1 BVerfGE 6, 32  – umfassender Grundrechtsschutz der allgemeinen Handlungsfreiheit; Eingriffsvorbehalt durch ein in jeder Hinsicht formell und materiell verfassungsmäßiges Gesetz. 2 BVerfGE 7, 198 – mittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht; Wechselwirkungslehre zwischen grundrechtseinschränkendem Gesetz und eingeschränktem Grundrecht. 3 BVerfGE 30, 1 – Einschränkung vorbehaltlos gewährter Grundrechte. 4 BVerfGE 39, 1 – staatliche Schutzpflicht aus Grundrechten. 5 BVerfGE 49, 89 – Gesetzesvorbehalt für alle wesentlichen Entscheidungen, aber kein Gewaltenmonismus des Parlaments; dynamischer Grundrechtsschutz. 6 BVerfGE 65, 1 – Entwicklung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung.

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sierung der Verfassungsgerichtsbarkeit in den letzten 20 Jahren hat eine enorme Dynamik in das Zusammenspiel der verschiedenen Grundrechtsebenen und der jeweils dafür verantwortlichen Gerichtsbarkeiten gebracht.7 Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf einige aktuelle Rechtsprechungslinien und neuere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den allgemeinen Grundrechtslehren: zunächst zu Fragen der Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsbindung, sodann zur Drittwirkung der Grundrechte und schließlich zur Schutzpflichtdimension der Grundrechte. Zu den Inhalten einzelner Grundrechte bleibt es bei einigen abschließenden Hinweisen.

II. Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsbindung Mit Fragen der Grundrechtsberechtigung und  – teilweise eng damit zusammenhängend – der Grundrechtsbindung hatte sich das Bundesverfassungsgericht in jüngerer Zeit mehrfach zu befassen. Die Fälle sind zumeist recht komplex und lassen erkennen, dass die erwähnten Fragen aus dem Bereich allgemeiner Grundrechtslehren nicht zuletzt angesichts der wachsenden Internationalisierung der persönlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Beziehungen zunehmend an Bedeutung gewinnen dürften 1. Grundrechtsbindung einer gemischtwirtschaftlichen juristischen Person des Privatrechts – BVerfGE 128, 226 (Fraport) a) In Art. 1 Abs. 3 GG heißt es: Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. In seiner Fraport-Entscheidung vom 22. Februar 20118 hat das Bundesverfassungsgericht hierzu ausgeführt:9 „Art. 1 Abs. 3 GG liegt eine elementare Unterscheidung zugrunde: Während der Bürger prinzipiell frei ist, ist der Staat prinzipiell gebunden. Der Bürger findet durch die Grundrechte Anerkennung als freie Person, die in der Entfaltung ihrer Individualität selbstverantwortlich ist. Er und die von ihm gegründeten Vereinigungen und Einrichtungen können ihr Handeln nach subjektiven Präferenzen in privater Freiheit gestalten, ohne hierfür grundsätzlich 7

Siehe in diesem Zusammenhang zum Verhältnis der nationalen Grundrechte zu der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Bedeutung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hierfür: BVerfGE 111, 307 – Görgülü; 128, 326 – Sicherungsverwahrung II und 148, 296 – Streikverbot für Beamte sowie zum Verhältnis der bundesverfassungsgerichtlichen Grundrechtskontrolle zu den Rechten der Europäischen Grundrechtecharta und dem Europäischen Gerichtshof jüngst BVerfG, Beschlüsse vom 6.11.2019 (1 BvR 16/13 und 1 BvR 267/17) – Recht auf Vergessen I und II. 8 Auf den Gegenstand dieser Entscheidung wird sogleich nachfolgend näher eingegangen. 9 BVerfGE 128, 226 (244 f.).

Grundrechtsfragen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 

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rechenschaftspflichtig zu sein. (…) Demgegenüber handelt der Staat in treuhänderischer Aufgabenwahrnehmung für die Bürger und ist ihnen rechenschaftspflichtig.“ So weit, so klar: Der Staat ist an die Grundrechte gebunden, der Bürger nicht. Was aber, wenn der Staat in privater Organisationsform und mit Instrumentarien des Privatrechts handelt und was, wenn er Organisationen nutzt, die in der Hand von Staat und Privaten gemeinsam  – in sogenannten gemischtwirtschaftlichen Gesellschaften also  – liegen? Die damit verbundenen Fragen von Freiheit und Bindung haben die Rechtsprechung in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder, verstärkt aber in jüngerer Zeit beschäftigt. Wohl nicht zuletzt als Folge der Privatisierungseuphorie der 1990er und frühen 2000er Jahre und auch der zunehmenden Globalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. In der erwähnten Fraport-Entscheidung aus dem Jahre 2011 hatte sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage zu befassen, inwieweit die den Frankfurter Flughafen betreibende Fraport-AG bei ihrem Handeln an Grundrechte gebunden ist. Die Fraport-AG war ursprünglich zu 70 % in der Hand vom Bund, dem Land Hessen und der Stadt Frankfurt; später verkaufte der Bund seine Anteile, so dass zum Zeitpunkt der Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht das Land Hessen und die Stadt Frankfurt noch 52 % der Aktien hielten. b) Ausgangspunkt des Rechtsstreits war ein von einer Bürgerinitiative im öffentlich zugänglichen Bereich des Flughafens im Jahre 2003 durchgeführte Versammlung, die sich gegen die Abschiebung von Ausländern in ihr Heimatland richtete. Gestützt auf ihr Hausrecht erteilte die Fraport-AG den Veranstaltern ein Flughafenverbot. Die Klagen der Betroffenen gegen das Hausverbot blieben vor den Zivilgerichten in allen Instanzen ohne Erfolg. Im Rahmen der daraufhin erhobenen Verfassungsbeschwerde hatte das Bundesverfassungsgericht zunächst zu klären, ob die Fraport-AG bei der Ausübung ihres Hausrechts gegenüber den Mitgliedern der Bürgerinitiative an das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gebunden war, auf das sich die Betroffenen berufen hatten. c) Hier zeigt das Bundesverfassungsgericht klare Kante; es heißt in dem Urteil:10 „Sobald der Staat eine Aufgabe an sich zieht, ist er bei deren Wahrnehmung auch an die Grundrechte gebunden, unabhängig davon, in welcher Rechtsform er handelt. Dies gilt auch, wenn er für seine Aufgabenwahrnehmung auf das Zivilrecht zurückgreift. Eine Flucht aus der Grundrechtsbindung in das Privatrecht mit der Folge, dass der Staat unter Freistellung von Art. 1 Abs. 3 GG als Privatrechtssubjekt zu begreifen wäre, ist ihm verstellt.“ Diese Grundsätze gelten nach der Fraport-Entscheidung nicht nur für öffentliche Unternehmen, die vollständig im Eigentum der öffentlichen Hand stehen – das entsprach auch schon zuvor der ganz herrschenden Meinung –, sondern auch für gemischtwirtschaftliche Unternehmen, an denen sowohl private wie öffentliche 10

BVerfGE 128, 226 (245 f.).

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Anteilseigner beteiligt sind, wenn diese von der öffentlichen Hand beherrscht werden. Eine Beherrschung liegt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich dann vor, wenn mehr als 50 % der Anteile der Gesellschaft im Eigentum der öffentlichen Hand stehen. Denn damit liege  – unabhängig von den im jeweiligen Einzelfall bestehenden konkreten Einwirkungsbefugnissen des Mehrheitsgesellschafters – die Gesamtverantwortung für das jeweilige Unternehmen in der Hand des Staates. In dieser Weise öffentlich beherrschte Unternehmen sind unmittelbar durch die Grundrechte gebunden und können sich umgekehrt gegenüber dem Bürger nicht auf eigene Grundrechte berufen.11 Im Hinblick auf die numerische Festlegung der 50 %-Grenze kann man sicher über die Entscheidung diskutieren. Für gemischtwirtschaftliche Unternehmen hat sie hinsichtlich deren Grundrechtsbindung jedenfalls Rechtsklarheit geschaffen. d) Im konkreten Fall nahm das Bundesverfassungsgericht dann im Übrigen auch eine Geltung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit in den der Öffentlichkeit eröffneten Bereichen des Flughafens an, was die Zivilgerichte bei ihrer Entscheidung nicht berücksichtigt hatten.12 Auch diese Erstreckung der Versammlungsfreiheit auf dem Bereich faktisch öffentlicher Kommunikationsräume ist ein Stück innovativer Grundrechterechtsprechung, auf die ich hier nicht näher eingehen kann.13 Die Verfassungsbeschwerde führte deshalb zur Aufhebung der zivilrechtlichen Entscheidungen und zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht. 2. Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen aus der Europäischen Union – BVerfGE 129, 78 (Cassina) Nicht die Grundrechtsbindung, sondern die Grundrechtsberechtigung betrifft eine weitere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2011. Hier ging es um die Frage, ob sich ein Wirtschaftsunternehmen mit Sitz außerhalb Deutschlands, jedoch in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union auf Grundrechte des Grundgesetzes berufen kann. Nach Art. 19 Abs. 3 GG gelten die Grundrechte auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Bereits die Erstreckung des Schutzbereichs von Grundrechten auf juristische Personen als solche wird danach vom Grundgesetz nicht als Normalfall, vielmehr als Ausdehnung angesehen. Jedenfalls soll sie explizit auf inländische juristische Personen begrenzt sein. Das Ausgangsverfahren betraf die Unterlassungsklage einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach italienischem Recht mit Sitz in Italien. Sie besaß urheberrechtliche Exklusivrechte zur Herstellung und zum Verkauf von Le Corbusier 11

BVerfGE 128, 226 (247). BVerfGE 128, 226 (247). 13 Neben dem hier besprochenen Urteil vgl. weitergehend den Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats v. 18.7.2015 (1 BvQ 25/15) – Bierdosenflashmob, www.bverfg.de. 12

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entworfenen Möbeln. Mit einer urheberrechtlichen Unterlassungsklage wandte sie sich vor deutschen Gerichten gegen ein Unternehmen, das Nachbildungen solcher Möbel in einer Verkaufslounge aufstellte. Ihre Klage blieb letztlich ohne Erfolg. Mit der Verfassungsbeschwerde machte sie eine Verletzung ihres durch das Eigentumsgrundrecht geschützten Urheberrechts geltend. Die entscheidende Vorfrage des Falles, ob sich die Beschwerdeführerin entgegen dem Wortlaut des Art. 19 Abs. 3 GG überhaupt als grundsätzlich grundrechtsberechtigt auf das Eigentumsgrundrecht berufen könne, bejahte das Bundesverfassungsgericht unter Aufgabe seiner bisher anderslautenden Rechtsprechung14 in dieser Entscheidung. Die Erstreckung der Grundrechtsberechtigung auf juristische Personen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union stelle eine „aufgrund des Anwendungsvorrangs der Grundfreiheiten im Binnenmarkt (Art. 26 Abs. 2 AEUV) und des allgemeinen Diskriminierungsverbots wegen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV) vertraglich veranlasste Anwendungserweiterung des deutschen Grundrechtsschutzes dar.“15 Zur Begründung verwies das Bundesverfassungsgericht zunächst darauf, dass die Entstehungsgeschichte von Art. 19 Abs. 3 GG keinen Willen des Verfassungsgebers erkennen lasse, eine Berufung auf die Grundrechte auch seitens juristischer Personen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union dauerhaft auszuschließen.16 Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts dränge entgegenstehendes nationales, selbst Verfassungsrecht17 insoweit zurück, wie es die Verträge erforderten. Das von den Gerichten der Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbare Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit als Grundprinzip des Unionsrechts gelte nach der Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs auch für juristische Personen und verlange, dass juristische Personen mit Sitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat auch hinsichtlich der Möglichkeit, eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht zu erheben, den inländischen juristischen Personen nach deutschem Recht gleichgestellt werden.18 3. Beschwerdeberechtigung einer von einem ausländischen Staat beherrschten inländischen juristischen Person – BVerfGE 143, 246 (beschleunigter Atomausstieg) a) Ebenfalls um die Fähigkeit einer juristischen Person, sich auf Grundrechte zu berufen und damit um ihre Berechtigung zur Erhebung einer Verfassungsbeschwerde, ging es schließlich in der jüngsten Entscheidung des Bundesverfas 14 Vgl. BVerfGE 129, 78 (95) – wobei die dort zitierten Entscheidungen nicht die Besonderheiten von ausländischen juristischen Personen mit Sitz innerhalb der EU im Blick hatten. 15 BVerfGE 129, 78 (94). 16 BVerfGE 129, 78 (96 f.). 17 Mit Ausnahme des ultra vires- und des Identitätsvorbehalts vgl. BVerfGE 129, 78 (100). 18 BVerfG 129, 78 (99 f.).

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sungsgerichts zu diesem Fragenkreis. Das Problem liegt hier allerdings nicht in der ausdrücklichen Beschränkung des Art.19 Abs. 3 GG auf inländische juristische Personen, sondern führt zu Kernfragen der Grundrechtsdogmatik. Hier ging es um eine Verfassungsbeschwerde des Energiekonzerns Vattenfall unmittelbar gegen ein Gesetz aus dem Jahre 2011, mit dem der deutsche Gesetzgeber den beschleunigten Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie geregelt hatte. Hierzu hatte er insbesondere feste Abschalttermine für die noch in Betrieb befindlichen deutschen Kernkraftwerke festgelegt. Eine der Beschwerdeführerinnen war die Vattenfall Europe Nuclear Energie GmbH, eine juristische Personen nach deutschem Recht und mit Sitz in Deutschland, deren Anteile aber – und hier liegt die Besonderheit des Falles – zu 100 % in der Hand des schwedischen Staates lagen. Sie berief sich in erster Linie auf eine Verletzung des Grundrechts auf Eigentum. b) Es ist in der deutschen Rechtslehre unbestritten und entspricht insbesondere ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass juristische Personen des öffentlichen Rechts  – also insbesondere Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts – sich nicht auf die materiellen Grundrechte berufen können. Während ihnen der Schutz durch die prozessualen Grundrechte (Recht auf rechtliches Gehör und Recht auf den gesetzlichen Richter)19 grundsätzlich zuerkannt wird, werden sie im Hinblick auf die materiellen Grundrechte als nicht grundrechtsfähig angesehen.20 Die dafür angeführten Gründe differieren, über das Ergebnis jedoch besteht Einvernehmen. So könne der nach Art. 1 Abs. 3 GG umfassend an die Grundrechte gebundene Staat nicht gleichzeitig Adressat und Berechtigter von Grundrechten sein (sog. Konfusionsargument). Nur wenn die Bildung und Betätigung einer juristischen Person – so ein weiteres Argument – Ausdruck der freien Entfaltung natürlicher Personen als Private sei, wenn insbesondere der Durchgriff auf die hinter den juristischen Personen stehenden Menschen es als sinnvoll und erforderlich erscheinen lasse, sei es gerechtfertigt, juristische Personen als Grundrechtsinhaber anzusehen und sie in den Schutzbereich bestimmter Grundrechte einzubeziehen. Die juristischen Personen öffentlichen Rechts stünden dem Staat bei Wahrnehmung ihrer öffentlichen Aufgaben nicht in der gleichen grundrechtstypischen Gefährdungslage gegenüber wie der einzelne Grundrechtsträger.21 Deshalb werden nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch juristische Personen des Privatrechts, die ganz oder überwiegend vom Staat beherrscht werden, nicht als grundrechtsfähig angesehen.22

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Vgl. BVerfGE 61, 82 (104); 138, 64 (82 Rn. 53). BVerfGE 143, 246 (313 Rn. 187) mwN. 21 Zu diesen Argumenten vgl. BVerfGE 143, 246 (313 f. Rn. 187 ff.) mit Nachweisen zur älteren Rechtsprechung. 22 BVerfGE 143, 246 (313 f. Rn. 190); näher dazu oben unter Abschnitt II.1 die Darstellung des Fraport-Urteils. 20

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Nun greift das Konfusionsargument bei inländischen juristischen Personen, die von einem ausländischen Staat gehalten werden, offensichtlich nicht. Denn der ausländische – wie hier – der schwedische Staat ist von vornherein nicht an die deutschen Grundrechte gebunden.23 Agiert ein solches Unternehmen, wie andere juristische Personen des Privatrechts auch, unter den gleichen rechtlichen Regeln am Markt, befindet es sich grundsätzlich in einer vergleichbaren Gefährdungslage, kann sich aber anders als jene nicht auf die Grundrechte berufen. Es bleibt dann im Gegensatz zu den anderen Marktteilnehmern gegenüber staatlichen Eingriffen und wirtschaftslenkenden Maßnahmen, die unmittelbar durch Gesetz erfolgen, rechtsschutzlos, weil es mangels Grundrechtsberechtigung keine Verfassungsbeschwerde erheben kann.24 Allerdings fehlt es auch in Fällen ausländischer staatlicher Rechtsträgerschaft – und das betrifft das zweite Argument – an den hinter diesen Organisationseinheiten stehenden Menschen, die gegen hoheitliche Übergriffe zu schützen und deren Möglichkeit einer freien Mitwirkung und Mitgestaltung im Gemeinwesen zu sichern letztlich Sinn der vom Grundgesetz verbürgten Grundrechte ist.25 c) Aus diesem Dilemma vor dem Hintergrund grundsätzlich für und gegen die Grundrechtsberechtigung solcher juristischer Personen sprechenden Gründe suchte das Bundesverfassungsgericht in dem Atomurteil vom 6. Dezember 2016 einen Ausweg mit einer ganz auf die konkrete Fallkonstellation beschränkten Lösung.26 Der Beschwerdeführerin Vattenfall könne mit Blick auf die unionsrechtlich geschützte Niederlassungsfreiheit hier ausnahmsweise die Erhebung der Verfassungsbeschwerde unter Berufung auf die grundrechtlich geschützte Eigentumsfreiheit eröffnet werden. Die vom schwedischen Staat gehaltene Vattenfall AB habe mit der Gründung ihres deutschen Tochterunternehmens von ihrer unionsrechtlichen Niederlassungsfreiheit Gebrauch gemacht. Art. 54 Abs. 2 AEUV beziehe öffentlich-rechtlich organisierte Unternehmen ausdrücklich in den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit ein. Der Ausschluss von der Befugnis zur Erhebung einer Verfassungsbeschwerde würde hier Vattenfall zwar nicht diskriminieren, da auch für vom deutschen Staat gehaltene juristische Personen nichts anderes gelte; er würde Vattenfall aber erheblich in der Ausübung der Niederlassungsfreiheit behindern, da das Unternehmen gegenüber wettbewerbsbeschränkenden Gesetzen, anders als die Mitkonkurrenten, rechtsschutzlos bliebe. Dass die Beschwerdeführerin ein staatliches Unternehmen sei, begründe für sich genommen keinen zwingenden Grund des allgemeinen Interesses, weil die Grundfreiheiten hinsichtlich 23

BVerfGE 143, 246 (313 f. Rn. 192 f.). BVerfGE 143, 246 (313 f. Rn. 194); zwar können sich am Markt tätige juristische Personen des öffentlichen Rechts ebenfalls nicht auf die Grundrechte berufen; die hinter ihnen stehenden Hoheitsträger können sich aber immerhin mittels der zur Wahrung innerstaatliche Kompetenzen vorgesehenen Schutzmechanismen gegen vermeintlich verfassungswidrige Einschränkungen ihrer wirtschaftlichen Betätigung zur Wehr setzen. 25 BVerfGE 143, 246 (313 f. Rn. 195) unter Bezugnahme auf BVerfGE 61, 82 (100 f.). 26 Zu den nachfolgenden Erwägungen s. BVerfGE 143, 246 (317 ff. Rn. 196 ff.). 24

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ihres personellen Schutzbereichs gerade nicht zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Unternehmen differenzierten. Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Möglichkeit staatlich gehaltener Unternehmen, sich auf die Eigentumsfreiheit zu berufen, spreche dafür, Vattenfall eine Beschwerdemöglichkeit zu eröffnen.27 d) Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat hier also ganz bewusst eine große Lösung dieser grundrechtsdogmatischen Grundsatzfrage vermieden – sei es durch generelle Anerkennung der Fähigkeit von einem ausländischen Staat gehaltener inländischer juristischer Personen des Privatrechts, sich jedenfalls auf wirtschaftsrelevante Grundrechte berufen zu können, sei es durch die generelle Versagung ihrer Grundrechtsfähigkeit. Er hat sich vielmehr für eine unionsrechtlich begründete, auf das Eigentumsgrundrecht beschränkte Antwort entschieden. Die Folgen in die eine oder auch in die andere Richtung waren offenbar zu diesem Zeitpunkt zu schwer zu überblicken. Die fortschreitende Globalisierung der Weltwirtschaft wird diese Fragen über kurz oder lang aber mit Sicherheit erneut auch jenseits des bewusst begrenzten Lösungsansatzes des Ersten Senats vor das Gericht bringen.28

III. Drittwirkung der Grundrechte 1. Stand der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Die Frage, ob und inwieweit die Grundrechte auch im Bereich des Privatrechts Wirkung entfalten, wen und wie sie dort binden und berechtigen, beschäftigte und beschäftigt das Bundesverfassungsgericht von Beginn seiner Rechtsprechungstätigkeit an. Nach Auffassung Vieler ist die Frage bis heute noch nicht endgültig gelöst, jedenfalls nicht dogmatisch überzeugend geklärt.29 Jedenfalls den mit dem deutschen Recht Vertrauten ist natürlich das bereits erwähnte Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1958 bekannt, mit dem die bis heute herrschende Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte ihren Ausgang genommen hat. Danach entfalten die Grundrechte im Privatrecht vor allem über gesetzliche Generalklauseln Wirkung. Bei ihrer Auslegung und Anwendung ist die 27

BVerfGE 143, 246 (317 ff. Rn. 202). Dass es sich hier nicht um singuläre Fälle handelt, zeigt auch die verschiedentliche Befassung des EGMR und des EuGH mit solchen Konstellationen in jüngeren Entscheidungen; vgl. dazu die Nachweise zum EGMR in BVerfGE 143, 246 (319 f. Rn. 202) und zum EuGH in dessen Urteil v. 18.2.2016, Rs. C-176/13 P (Rat / Bank Mellat), ECLI:EU:C:2016:96, Rn. 48 ff., wo sich der EuGH auf die Zuerkennung prozessualer Grundrechte beschränkt (genereller noch die Zuerkennung von Grundrechtsschutz durch die Vorinstanz: EuG, Urteil v. 6.9.2013, Rs. T-35/10 und T-7/11 (Bank Mellat / Rat), ECLI:EU:T:2013:397, Rn. 64 ff.; vgl. ferner EuG, Urteil v. 29.4.2015, Rs. T-10/13 (Bank of Industry and Mine / Rat), ECLI:EU:T:2015:235, Rn. 53 ff.). 29 Vgl. dazu nur den Überblick bei Dreier, Horst in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Band I, 3. Aufl. 2013, Vorbemerkung Rn. 96 ff., 99 ff. 28

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Ausstrahlungswirkung der in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen im jeweiligen Fachrecht zu beachten.30 2. Gleichheitssatz und Drittwirkung – BVerfGE 148, 267 (Stadionverbot) Eine nicht unwichtige Facette hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts im April vergangenen Jahres der Drittwirkungsrechtsprechung mit seinem Beschluss zum Stadionverbot hinzugefügt.31 Es hat in dieser Entscheidung, in der Deutlichkeit erstmals, den Gleichheitssatz auf die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten zur Anwendung gebracht, hierbei zugleich aber deutliche Grenzen gezogen. a)  Ausgangspunkt der Entscheidung war ein von einem Verein der Fußball­ bundesliga gegenüber einem Fußballfan verhängtes bundesweites zweijähriges Stadionverbot. Der Fan war nach Ausschreitungen im Anschluss an ein Fußballspiel zur Feststellung der Personalien in polizeilichen Gewahrsam genommen worden. Das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren wurde später wegen Geringfügigkeit eingestellt. Gestützt auf sein Hausrecht als Eigentümer des Stadions verhängte der Verein nach den einschlägigen Richtlinien des deutschen Fußballbundes das besagte Stadionverbot. Alle von dem Fußballfan dagegen ergriffenen Rechts­mittel vor den Zivilgerichten blieben ohne Erfolg; auch seine Verfassungsbeschwerde wurde letztlich zurückgewiesen. b)  Das Bundesverfassungsgericht prüfte  – ganz auf der Linie seiner bisherigen Rechtsprechung –, ob die Zivilgerichte bei der Lösung des Falles von einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der betroffenen Grundrechte ausgegangen sein könnten. Bemerkenswert ist hier zunächst, dass es das Bundesverfassungsgericht ablehnte, der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG eine die Eigentümerbefugnisse des Vereins einschränkende grundsätzliche Wertentscheidung der Verfassung zu entnehmen. Dieses Grundrecht sei zu unspezifisch dafür.32 c)  Zu prüfen sei jedoch, ob der Beschwerdeführer gegenüber anderen Fans willkürlich ungleich behandelt worden sei. Insoweit stellt das Bundesverfassungsgericht allerdings in einem ersten Schritt klar, dass der den allgemeinen Gleichbehandlungsanspruch verbürgende „Art. 3 Abs. 1 GG kein objektives Verfassungsprinzip (enthalte), wonach die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten von diesen prinzipiell gleichheitsgerecht zu gestalten wären.“33 Es heißt dann weiter wörtlich:34 30

Vgl. BVerfGE 7, 198 (205 ff.). BVerfG, Beschluss vom 11.4.2018 (1 BvR 3080/09), BVerfGE 148, 267. 32 BVerfGE 148, 267 Rn. 37 f. 33 BVerfGE 148, 267 Rn. 40. 34 BVerfGE 148, 267 Rn. 40. 31

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„Grundsätzlich gehört es zur Freiheit jeder Person, nach eigenen Präferenzen darüber zu bestimmen, mit wem sie wann unter welchen Bedingungen welche Verträge abschließen und wie sie hierbei auch von ihrem Eigentum Gebrauch machen will. Diese Freiheit wird durch die Rechtsordnung und insbesondere durch das Zivilrecht näher ausgestaltet und vielfach begrenzt (…). Ein allgemeiner Grundsatz, wonach private Vertragsbeziehungen jeweils den Rechtfertigungsanforderungen des Gleichbehandlungsgebots unterlägen, folgt demgegenüber aus Art. 3 Abs. 1 GG auch im Wege der mittelbaren Drittwirkung nicht.“ In einem zweiten Schritt umschreibt das Gericht dann die Ausnahme hiervon: Gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen Privaten können sich, so der Erste Senat, aus Art. 3 Abs. 1 GG jedoch für spezifische Konstellationen ergeben. Eine solche spezifische Konstellation sieht das Gericht in dem bundesweit gültigen Stadionverbot und nennt hierfür drei Gründe:35 zum einen, den Charakter des Stadionverbots als einseitiger, auf das Hausrecht gestützter Ausschluss von Veranstaltungen; zum zweiten die Öffnung der Veranstaltung aufgrund eigener Entscheidung des Veranstalters für ein großes Publikum ohne Ansehen der Person; und zum dritten, die erhebliche Bedeutung des Ausschlusses für die Teilnahme des Betroffenen am gesellschaftlichen Leben. Unter diesen Voraussetzungen erwachse dem Eigentümer von Verfassung wegen eine besondere rechtliche Verantwortung. Er dürfe seine aus dem Hausrecht – wie in anderen Fällen möglicherweise aus einem Monopol oder aus struktureller Überlegenheit – erwachsende Entscheidungsmacht nicht dazu nutzen, bestimmte Personen ohne sachlichen Grund von einer solchen Veranstaltung auszuschließen. Eigentumsrecht und Gleichbehandlungsverbot müssten hier mit der auch von den Gerichten zu beachtenden Ausstrahlungswirkung in Ausgleich gebracht werden.36 Danach hätten die Zivilgerichte im Blick auf das Gebot der Gleichbehandlung sicherzustellen, dass Stadionverbote nicht willkürlich festgesetzt werden dürften, sondern auf einem sachlichen Grund beruhen müssten. Insbesondere obliege ihnen der gebotene Ausgleich mit den Eigentümerbefugnissen im Blick auf die tatsächlichen Umstände für das Stadionverbot.37 d)  Im Ergebnis beanstandete das Verfassungsgericht das Stadionverbot hier nicht, leitete nun jedoch aus den Grundrechten einen Anspruch auf vorherige Anhörung und eine grundsätzliche Begründungspflicht bei der Verhängung eines solchen Verbots ab. e) Insgesamt war sich das Verfassungsgericht der Sensibilität des Themas und der möglichen Sprengkraft einer Anwendung des Gleichheitssatzes im Bereich der Drittwirkungslehre offensichtlich bewusst, wie seine eingehende Betonung

35

BVerfGE 148, 267 Rn. 41. BVerfGE 148, 267 Rn. 41. 37 BVerfGE 148, 267 Rn. 45. 36

Grundrechtsfragen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 

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der Bedeutung der Privatautonomie im Zivilrecht und die Einschränkung dieser Rechtsprechung auf Sondersituationen deutlich machen.

IV. Schutzpflichtdimension der Grundrechte Dass die Grundrechte neben ihrer klassischen Abwehrfunktion gegen staatliche Eingriffe auch Schutzpflichten für den Staat – zumeist vor drohenden Übergriffen Privater – entfalten können, entspricht mittlerweile längst klassischer Grundrechtsdogmatik und ist seit der zentralen Ausgangsentscheidung zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Jahre 197538 in zahlreichen Folgeentscheidungen39 aufgegriffen und bestätigt worden. In einer Entscheidung vom Juli 201640 hatte das Bundesverfassungsgericht nun dem Gesetzgeber ganz konkret aufgegeben, eine Regelung zu schaffen, die dazu ermächtigt, betreuten Menschen, denen schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen drohen und die die Notwendigkeit der erforderlichen ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, eine solche ärztliche Behandlung auch gegen ihren natürlichen Willen angedeihen lassen zu können. Im Ausgangspunkt bestätigte das Gericht den bekannten dogmatischen und in der Rechtsfolge grundlegenden Unterschied zwischen aus den Grundrechten folgenden subjektiven Abwehrrechten gegen staatliche Eingriffe einerseits und den sich aus der objektiven Bedeutung der Grundrechte ergebenden Schutzpflichten andererseits. Während das Abwehrrecht in Zielsetzung und Inhalt ein bestimmtes staatliches Verhalten verbietet, ist die Schutzpflicht grundsätzlich unbestimmt. Die Aufstellung und normative Umsetzung eines Schutzkonzepts ist Sache des Gesetzgebers, dem grundsätzlich auch dann ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommt, wenn er dem Grunde nach verpflichtet ist, Maßnahmen zum Schutz eines Rechtsguts zu ergreifen.41 In dem damals zu entscheidenden Fall hat das Bundesverfassungsgericht – soweit ersichtlich erstmals – keinen Spielraum für den zum Grundrechtsschutz verpflichteten Gesetzgeber mehr gesehen, sofern es für in hilfloser Lage befindliche, ernsthaft erkrankte Menschen keine andere Lösung gebe, als für sie unter strengen verfahrensrechtlichen und inhaltlichen Voraussetzungen als ultima ratio eine ärztliche Zwangsbehandlung vorzusehen.42

38

BVerfGE 39,1. Siehe insbesondere BVerfGE 46, 160 – Schleyer; 49, 89 – Kalkar I; 53, 30 – MühlheimKärlich; 56, 54 – Fluglärm; 88, 203 – Schwangerschaftsabbruch II; 90, 145 (195) – Cannabis; 115, 320 (346) – Rasterfahndung; 121, 317 (356) – Rauchverbot; 133, 59 (73 ff.) – Sukzessivadoption. 40 BVerfGE 142, 313. 41 BVerfGE 142, 313 (337 Rn. 69 f.). 42 BVerfGE 142, 313 (342 ff. Rn. 81 ff.). 39

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Michael Eichberger

V. Schluss Die hier erfolgte Beschränkung auf die aktuelle Grundrechterechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den allgemeinen Grundrechtslehren bedeutet freilich nicht, dass es in jüngerer Zeit nicht auch wichtige Entscheidungen und Entwicklungen im materiellen Bereich der einzelnen Grundrechtsverbürgungen gegeben hätte. Ich darf in diesem Zusammenhang nur auf die Rechtsprechung des Gerichts zum Spannungsverhältnis von Sicherheit und Freiheit,43 sowie zu Ehe, Familie und Elternschaft hinweisen, die aktuelle Entwicklungen in der Gesellschaft widerspiegelt und insbesondere den Begriff der Familie auf den Bereich der sozialen Familie und den der Eltern auch auf gleichgeschlechtliche Paare erstreckt hat,44 oder auf eine deutliche Fortentwicklung in der dogmatischen Struktur der Gleichheitsprüfung, die bis zu einer strengeren Verhältnismäßigkeitsprüfung der getroffenen Unterscheidungen im Einzelfall führen kann,45 oder die Beschränkung des verfassungsrechtlichen Enteignungsbegriffs auf Güterbeschaffungsvorgänge,46 oder, um ein letztes Beispiel zu nennen, die Schärfung des im Grundgesetz den Beamten grundrechtsgleich verbürgten Rechtes auf eine amtsangemessene Besoldung zu einer justiziablen Rechengröße.47 All das würde freilich eigene Abhandlungen erfordern.

43 Vgl. die Zusammenfassung und Fortentwicklung der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG hierzu in BVerfGE 141, 220 – BKAG. 44 Vgl. insbesondere BVerfGE 133, 59 (79 f. Rn. 54 ff.) – Sukzessivadoption. 45 Vgl. nur BVerfGE 138, 136 (180 ff. Rn. 121 ff.)  – Erbschaftsteuer; 148, 147 (183 ff. Rn. 93 ff., 198 f. Rn. 127 f.) – Grundsteuer; 151, 101 (127 ff. Rn. 63 f.) – Stiefkindadoption. 46 BVerfGE 143, 246 (313 f. Rn. 187 f.) – beschleunigter Atomausstieg. 47 Vgl. nur BVerfGE 139, 64; 140, 240.

Aktuelle Grundrechtsfragen in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Spaniens M. Mercè Darnaculleta Gardella

I. Einleitung Eine Auswahl aus den aktuellen Fragen über die Grundrechte in der Rechtsprechung des spanischen Verfassungsgerichts treffen zu können, stellt bei der Sichtung der zahlreichen wichtigen Entscheidungen der vergangenen vierzig Jahre eine reichlich komplexe Aufgabe dar. Gestatten sie mir also, meinen Beitrag mit einem Geständnis einzuleiten. Es ist mir sehr schwer gefallen, die Themen auszuwählen, über die ich in diesem Vortrag sprechen werde. In ihrer Einladung haben mich die Organisatoren gebeten, keines der aufgeworfenen Themen erschöpfend zu behandeln, sondern vielmehr ein breites, aber begrenztes und sinnvolles Spektrum aktueller Probleme zu wählen. Um eine gute Auswahl treffen zu können, habe ich verschiedene Kollegen aus dem Verfassungsrecht und Anwälte des Verfassungsgerichts gefragt, was ihrer Meinung nach die wichtigsten aktuellen Themen sind.1 Die Meinungen gingen weit auseinander und ich konnte feststellen, dass Denkweise, Ideologie, Ausbildung und kognitive Wahrnehmungsverzerrungen großen Einfluss auf die Sichtweise der Grundrechte haben. Angesichts der unterschiedlichen Meinungen habe ich beschlossen, mich von meinen eigenen Wahrnehmungsverzerrungen tragen zu lassen und eine Auswahl von Themen zu treffen, die die Grundrechte mit zwei Themen in Verbindung bringen, die von großer Aktualität sind und mein Interesse in den letzten Jahren gefesselt haben, nämlich Globalisierung und Wirtschaftskrise.2 1

Für die deutschen Kollegen mag es interessant sein zu erfahren, dass in Spanien unter den Professoren des öffentlichen Rechts eine klare wissenschaftliche und akademische Unterscheidung zwischen Verfassungsrechtlern und Verwaltungsrechtlern besteht. Als Verwaltungsrechtlerin bin ich zwar mit den verfassungsrechtlichen Seiten der wichtigsten Referenzgebiete des Verwaltungsrechts bestens vertraut, aber in der Regel verfolge ich die Entwicklung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung in Grundrechtsfragen nicht im Detail. 2 Zu diesen Themen siehe Darnaculleta Gardella, M. Mercè, El Derecho Administrativo Global: ¿un nuevo concepto clave del Derecho Administrativo?, Revista de Administración Pública, núm. 199, 2016, S. 11–50; Darnaculleta Gardella, M. Mercè / Esteve Pardo, José / Spiecker gen. Döhmann, Indra (Hrsg.), Strategien des Rechts im Angesicht von Ungewissheit und Globalisierung, Baden-Baden 2015; Darnaculleta Gardella, M. Mercè, Las respuestas de la Unión Europea ante la crisis financiera global. Especial referencia a la nueva arquitectura ­europea de regulación y supervisión de los mercados financieros, Noticias de la Unión Europea, XXVIII, 2012, S. 25–37.

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M. Mercè Darnaculleta Gardella

Daher werde ich in meinem Beitrag vor allem einige der vom spanischen Verfassungsgericht im Laufe der Wirtschaftskrise aufgeworfenen Fragen im Zusammenhang mit den Grundrechten von Bürgern analysieren, die keine spanische Staatsangehörigkeit besitzen, wie zum Beispiel Flüchtlinge und Einwanderer, aber auch ausländische, internationale Investoren. Ich möchte Ihnen aber darüber hinaus auch die aktuellen Themen nahebringen, die meine Kollegen aus dem Verfassungsrecht als besonders relevant identifiziert haben. Aus diesem Grunde werde ich meinen Vortrag in drei Teile gliedern. Im ersten Teil werde ich mich darauf beschränken, kurz die Themen aufzulisten, über deren Aktualität und Relevanz der größte Konsens unter den befragten Verfassungsrechtlern besteht. Im zweiten Teil werde ich knapp die Grundzüge der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zu den Rechten von Ausländern erläutern und mich dabei auf ein besonders komplexes Thema konzentrieren, das seine Ursache in der Globalisierung hat, nämlich auf den Konflikt zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und der Religionsfreiheit. Im dritten Teil schließlich werde ich den Inhalt einiger Urteile vorstellen, in denen das Verfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit von Entscheidungen analysiert, die der Gesetzgeber infolge der Wirtschaftskrise in Bezug auf das Eigentumsrecht getroffen hat. In diesem letzten Abschnitt muss ich auf eine Besonderheit unseres Systems hinweisen. Das Eigentumsrecht zählt in der spanischen Verfassung nicht zu den Grundrechten und Grundfreiheiten, sondern zu den Rechten und Pflichten der Bürger und stellt somit ein satzungsmäßiges oder gesetzlich festzulegendes Recht dar.3

II. Aktuelle Fragen der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts Somit beginne ich mit dem ersten Teil, der aktuelle Aspekte der Verfassungslehre behandelt. Eine Annäherung an aktuelle Fragen der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts kann aus rein quantitativer oder qualitativer Sicht erfolgen. 3

Die Grundrechte sind in Titel Eins Kapitel Zwei der Verfassung geregelt. Der erste Abschnitt dieses Kapitels behandelt die Grundrechte und öffentlichen Freiheiten  – das Recht auf Leben, Freiheit, wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, weltanschauliche Freiheiten, das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Versammlungsfreiheit und das Recht auf die Bildung von Vereinigungen. Diese Rechte können direkt vor den ordentlichen Gerichten geltend gemacht werden und fallen unter die Rechte, die im Wege einer Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden können. Der zweite Abschnitt regelt die Rechte und Pflichten der Bürger, dazu zählen Eigentum, unternehmerische Freiheit und Ehe; der dritte Abschnitt behandelt schließlich die Leitlinien der Sozial- und Wirtschaftspolitik, wie Gesundheit, Wohnen, Umwelt und Kultur. Diese Rechte sind Grundlage für das Handeln von Behörden und können nur vor der ordentlichen Gerichtsbarkeit und nach den Gesetzen zu ihrer Durchführung (Art. 53 Span. Verf.) geltend gemacht werden. Dazu siehe Sommermann, Karl-Peter, Der Schutz der Grundrechte in Spanien nach der Verfassung von 1978. Ursprünge, Dogmatik, Praxis, Berlin 1984, S. 218–228; Cascajo Castro, José Luis, Artículo 53, in: Pérez Tremps, Pablo y Sáiz Arnaiz, Alejandro (Hrsg.), Comentario a la Constitución Española. 40 aniversario 1978–2018: Librohomenaje a Luis López Guerra, Tirant lo Blanch, Valencia 2018, S. 939–947.

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1. Aus quantitativer Sicht: Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz Aus quantitativer Sicht ist festzustellen, dass von allen verfassungsrechtlichen Urteilen, die im Rahmen von Verfassungsbeschwerden erfolgten, mehr als die Hälfte Rechtsverletzungen betreffen, die im Zusammenhang mit den verschiedenen Aspekten des in Art. 24 der spanischen Verfassung geregelten Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz stehen.4 2. Aus qualitativer Sicht: Recht auf informationelle Selbstbestimmung und Recht auf Vergessenwerden Aus qualitativer Sicht weisen Verfassungsrechtler auf die Relevanz der Anerkennung der sogenannten Rechte der vierten Generation hin. Aus dieser Gruppe wird insbesondere das Recht auf informationelle Selbstbestimmung erwähnt, das sich aus dem Recht auf Privatsphäre und auf digitale Freiheit gemäß Art. 18 Absatz 1 und 4 der spanischen Verfassung ableitet.5 Das Recht jedes Einzelnen, die Kontrolle über die sie oder ihn betreffenden personenbezogenen Informationen in öffentlichen oder privaten Registern angesichts der Bedrohung durch Big Data auszuüben, wurde durch die Anerkennung des so genannten „Rechts auf Vergessenwerden“ innerhalb der europaweit geltenden Europäischen Datenschutz-Grundverordnung ergänzt.6 3. Aus Mediensicht Bei der Wahl der aktuellen Themen können sich Juristen nur schwerlich von der sozialen Realität, in der wir leben, und von den durch die Medien auferlegten Themen lösen. Folgt man diesen Parametern, scheint es unausweichlich, auf einige aktuelle Fragen in Bezug auf drei Grundrechte näher einzugehen: das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 20 Span. Verf.), das Recht auf politische Teilhabe (Art. 23 Span. Verf.) und die Gleichstellung von Mann und Frau (Art. 14 Span. Verf.).

4

Dies ist ersichtlich in einer Zusammenfassung der von den Gerichtsbehörden veröffentlichten Statistik auf der Website des Verfassungsgerichts, abgerufen am 14. März 2019, www. tribunalconstitucional.es. 5 Das Urteil des VerfG 254/1993 v. 20.7.1993 folgt dem Präzendenzfall, nämlich dem Urteil des Deutschen Verfassungsgerichts v. 15.12.1983, und bestätigt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. 6 Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.4.2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung).

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a) Recht auf freie Meinungsäußerung Die unterschiedliche Auslegung des Verfassungsgerichts und des Europäischen Gerichts für Menschenrechte bei der Gewährung von Freiheitsrechten im Fall Stern Taulats und Roura Capellera gegen Spanien7 hat die Alarmglocken hinsichtlich einer Einschränkung dieses Grundrechts in unserem Land schrillen lassen.8 In diesem Fall wurde die strafrechtliche Verurteilung zweier junger Männer wegen Beleidigung der Krone überprüft, die die Flagge des Königs Felipe VI während einer Demonstration in Katalonien verbrannt hatten. Das Verfassungsgericht wies die Verfassungsbeschwerde der beiden jungen Männer unter Hinweis auf die Grenzen des Rechts auf freie Meinungsäußerung ab. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befand hingegen, dass diese Handlungen nicht zu Hass aufriefen und eine weite Auslegung der Grenzen des Rechts auf freie Meinungsäußerung den Grundrechten einer demokratischen Gesellschaft widerspreche.9 Dieser Fall ging aufgrund des aktuellen politischen Kontextes durch die Medien und zeigt die Sorge um die Verletzung von Grundrechten in Spanien, aber auch die Sorge um das Recht auf politische Teilhabe in Katalonien.10

7

Urteil des VerfG 177/2015 v. 22.7.2015 und Urteil des EGMR v. 13.3.2018. Die Rechtsprechung macht deutlich, dass die Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung in unserem Land zunimmt. Dies zeigt sich z. B. in der gesetzlichen Klassifizierung und weitreichenden gerichtlichen Auslegungen von Straftaten im Zusammenhang mit der Verherrlichung von Terrorismus, Beleidigung von Mitgliedern der Krone oder Aufwiegelung zum Hass bzw. der strafrechtlichen Verfolgung von Pfeifkonzerten beim Abspielen der Nationalhymne oder des Verbrennens von Fahnen und anderen Symbolen. Hinzu kommt die besorgniserregende Zuweisung von Polizeibefugnissen und Sanktionierungsbefugnissen im Bereich der freien Meinungsäußerung an die Verwaltungsbehörden. Dazu Doménech ­Pascual, Gabriel, La policía administrativa de la libertad de expresión (y su disconformidad con la Constitución), https://www.academia.edu/38391193/. 9 Mit Urteil 177/2015 wies das Verfassungsgericht die von den beiden jungen Männern eingereichte Verfassungsbeschwerde ab, und begründete dies damit, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung kein absolutes Recht sei, sondern Grenzen habe, wie z. B. die Anstiftung zu Hass und Gewalt, die durch das Verbrennen eines Fotos des Staatsoberhauptes hätte entstehen können. Der EGMR entschied dagegen in seinem Urteil v. 13.3.2018, dass die Sachverhalte keine Straftaten darstellten, die zu Hass oder Gewalt anstifteten, da sie Teil einer politischen Debatte um die Monarchie gewesen seien und eine Kritik an der institutionellen Rolle des Königs darstellten. Dazu Ochoa Ruiz, Natalia, Tribunal Europeo de Derechos Humanos: Asunto „Stern Taulats y Roura Capellera“ c. España, demandas nº 51168/15 y 51186/15, sentencia de 13 de marzo de 2018, Revista Aranzadi Doctrinal, núm. 6, 2019. 10 Siehe Galán Galán, Alfredo, „Del derecho a decidir a la independencia: la peculiaridad del proceso secesionista en Cataluña“, Istituzioni del federalismo: rivista di studi giuridici e politici, 4, 2014, S. 885–907; El Cronista del Estado Social y Democrático de Derecho, núm. 42, 2008 und núm. 71–72, 2017. 8

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b) Recht auf politische Teilhabe Das Verfassungsgericht sieht dieses in Art. 23 der spanischen Verfassung verbriefte Recht verletzt, wenn Abgeordnete des Katalanischen Parlaments, die nicht zur Unabhängigkeitsbewegung zählen bzw. verfassungstreu sind, verpflichtet werden, sich mit Vorlagen zu beschäftigen, deren Zweck die Annahme nichtverfassungs­konformer Entscheidungen ist, wie z. B. die Abfassung von Gesetzesentwürfen zur Regelung des sogenannten verfassungsgebenden Prozesses, der zur Loslösung Kataloniens von Spanien führen soll.11 Abermals hat das Verfassungsgericht zu diesem Recht anlässlich des Plans der gesetzgebenden Versammlung der Autonomen Gemeinschaft Stellung genommen, der vorsah, die Einsetzungszeremonie für den katalanischen Regierungschef in Abwesenheit des Kandidaten durchzuführen. Hier befand das Verfassungsgericht, dass das Recht auf politische Teilhabe verletzt werde, da dies in persönlicher Anwesenheit auszuüben ist.12 11

Insbesondere in den Urteilen des VerfG 224/2016 v. 16.12.2016 über die von der sozialistischen Fraktion eingereichte Verfassungsbeschwerde sowie VerfG 225/2016 v. 16.12.2016 über die Verfassungsbeschwerde der Abgeordneten der Fraktion der Partei Ciudadanos vertritt das Verfassungsgericht die Auffassung, dass die Ausarbeitung dreier Vorlagen für Gesetzesentwürfe zur Schaffung eines Sozialversicherungssystems, eines eigenen Finanzministeriums und eines Regulierungssystems für den verfassungsgebenden Prozess, „das in Art. 23 der spanischen Verfassung verbriefte Grundrecht der Abgeordneten der Sozialistischen Parlamentarischen Fraktion und der parlamentarischen Fraktion von Ciudadanos verletzt, da sie dadurch verpflichtet werden, sich an einem für den angestrebten Zweck unangemessenen Prozess zu beteiligen, was weder mit einer flexiblen Auslegung des Verfahrens noch mit parlamentarischem Brauch begründet werden kann“. Das Gericht ist insbesondere der Ansicht, dass „das Recht auf Gesetzesinitiative der Beschwerdeführer, das zum Kern der parlamentarischen Vertretungsfunktion gehört (Art. 23 Abs. 2 Span. Verf.), in Bezug auf das Recht der Bürger auf Teilhabe an öffentlichen Angelegenheiten durch ihre Vertreter verletzt wurde (Art. 23 Abs. 1 Span. Verf.)“. 12 Mit Urteil 19/2019 v. 12.2.2019 entschied das Verfassungsgericht über die von der spanischen Regierung betriebene Anfechtung der Beschlüsse des katalanischen Parlamentspräsi­ denten v. 22.1.2018, in denen die Einsetzung von Carles Puigdemont i Casamajó als Kandidat für den Vorsitz der katalanischen Regionalregierung der 25.1.2018 als Datum für die Plenarsitzung und der 30.1.2018 als Datum für die besagte Einsetzung vorgeschlagen und zur Abstimmung vorgelegt wurden. In Punkt Vier der Urteilsbegründung stellt das Verfassungsgericht fest: „Die persönliche Ausübung des öffentlichen repräsentativen Amts ist ein Erfordernis, das sich aus dem Vertretungscharakter selbst ableitet und ausschließlich dem Vertretenden und keinem Dritten zusteht, den er damit beauftragen könnte. Die Funktionen, die Teil des ‚ius in officium‘ sind, sind grundsätzlich vom Träger dieses öffentlichen Amts selbst auszuüben, da die Delegation derselben an Dritte das Band zwischen Vertretern und Vertretenen kappt und somit das durch Art. 23.1 Span. Verf. geschützte Recht verletzt wird. Diese öffentlichen Amtsträger haben ein Mandat inne, das sich – auch wenn sie das ganze Volk vertreten – aus dem Willen derjenigen ergibt, die sie gewählt haben (Urteil des VerfG 119/1990 vom 21. Juni, AS 7); die Achtung dieses Willens erfordert, dass die repräsentativen Funktionen von der gewählten Person persönlich ausgeübt werden, es sei denn, es bestehen gerechtfertigte Ausnahmen, die in der Notwendigkeit bestehen, ein verfassungsmäßiges Gut zu bewahren, das unter einem höherwertigen Schutz steht.“

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c) Gleichstellung von Mann und Frau Obwohl das katalanische Problem in den Medien und in der Öffentlichkeit eine zentrale Rolle einnimmt, finden hier auch andere Themen Beachtung. Das ist ganz eindeutig der Fall bei den erneuten Forderungen nach Gleichheit zwischen Mann und Frau, die von der „Marea Morada“ („Lila Flut“) erhoben werden. In diesem Bereich ist die Rechtsprechung umfangreich, und es besteht eine angemessene Gewährleistung der Rechte. In zahlreichen Fällen hat das Verfassungsgericht über Lohnungleichheit,13 Gleichbehandlung in Fragen der sozialen Sicherheit,14 gleichen Zugang zu Beschäftigung und gleiche Arbeitsbedingungen,15 Kündigung und Auflösung von Arbeitsverträgen von schwangeren Arbeitnehmerinnen,16 Vereinbarkeit von Arbeit und Familie17 sowie zu sexueller Belästigung18 geurteilt.19 Zur Gleichstellung erging mit Urteil 31/2018 des Verfassungsgerichts vom 10. April 2018 ein Beschluss in einem einzigartigen, aktuellen und besonders komplexen Fall; hier wurde über eine Verfassungsbeschwerde gegen mehrere Bestimmungen des Organgesetzes 8/2013 vom 9. Dezember 2013 über die Verbesserung der Bildungsqualität entschieden. Das Urteil nimmt unter anderem zur Verfassungsmäßigkeit des vorgesehenen Verfahrens zur differenzierten Bildung Stellung, in dem Jungen und Mädchen voneinander getrennt unterrichtet werden. Das Gericht stellt im Wesentlichen fest, dass, sofern bestimmte Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden und insbesondere, wenn die Einrichtungen und Ausbildungen gleichwertig seien, die getrennte Ausbildung keine diskriminierende Behandlung und keine Verletzung von Art. 14 der spanischen Verfassung darstellten.20 13 Urteil des VerfG 86/1994 v. 27.10.1994; Urteil des VerfG 183/2000 v. 10.7.2000; Urteil des VerfG 250/2000 v. 30.10.2000; Urteil des VerfG 112/2017 v. 16.10.2017. 14 Urteil des VerfG 207/1987 v. 22.12.1987; Urteil des VerfG 253/2004 v. 22.12.2004. 15 Urteil des VerfG 229/1992 v. 14.12.1992; Urteil des VerfG 145/1991 v. 1.7.1991; Urteil des VerfG 182/2005 v. 4.7.2005. 16 Urteil des VerfG 94/1984 v. 16.10.1984; Urteil des VerfG 166/1988 v. 26.9.1988; Urteil des VerfG 173/1994 v. 7.6.1994; Urteil des VerfG 136/1996 v. 23.7.1996; Urteil des VerfG 198/1996 v. 3.12.1996; Urteil des VerfG 17/2003 v. 30.1.2003; Urteil des VerfG 92/2008 v. 21.7.2008. 17 Urteil des VerfG 39/2002 v. 14.2.2002; Urteil des VerfG 3/2007 v. 15.1.2007; Urteil des VerfG 233/2007 v. 5.11.2007. 18 Urteil des VerfG 38/1981 v. 23.11.1981; Urteil des VerfG 224/1999 v. 13.12.1999. 19 Eine Übersicht in Rey Martínez, Fernando, Igualdad entre mujeres y hombres en la jurisprudencia del Tribunal Constitucional español, Revista Derecho del Estado, núm. 25, 2010, S. 5–40. 20 In diesem Punkt weicht das Verfassungsgericht von der alten Formulierung des Obersten Gerichtshofs der USA ab, nach der die Trennung an sich schon eine diskriminierende Behandlung darstellen kann. Bei dieser Gelegenheit würdigte der Oberste Gerichtshof der USA, dass zu jener Zeit und an jenem Ort – und somit in einem ganz bestimmten Kontext, der in keiner Weise mit dem hiesigen verfassungsrechtlichen Verfahren gleichzusetzen ist – eine getrennte Betreuung von weißen und afroamerikanischen Kindern effektiv eine Schlechterbehandlung der zweiten Gruppe bedeute. Nicht nur, weil die segregierten Schulen – wie auch die Universitäten und alle anderen öffentlichen Einrichtungen – unterschiedliche Bedingungen böten, sondern und vor allem, weil die Trennung an sich eine Unterbewertung einer der beiden

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III. Grundrechte und Globalisierung In dem ersten Teil meines Beitrags konnten wir eine interessante und aussagekräftige Auflistung aktueller Probleme im Zusammenhang mit den Grundrechten in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts sehen. Nun möchte ich zum zweiten Teil kommen und einige komplexe Fragen behandeln, die die Globalisierung aufwirft. In diesem Zusammenhang werde ich, wie bereits angekündigt, die Grundzüge der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts über die Grundrechte ausländischer Einwanderer darstellen, um mich dann eingehender auf ein recht komplexes Thema zu konzentrieren, das die Konflikte zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und der Religionsfreiheit mit sich bringen. 1. Grundrechte von Ausländern Als erstes möchte ich zu diesem Thema einen quantitativen Umstand hervorheben. Paradoxerweise besteht ein großer Unterschied zwischen der Tragweite, die Problemen beigemessen wird, die mit der Einwanderung in Spanien verbunden sind, und den wenigen Urteilen des Verfassungsgerichts, die die Grundrechte von Ausländern zum Gegenstand haben. In vierzig Jahren hat das Verfassungsgericht lediglich fünfzig Urteile erlassen, deren „ratio decidendi“ das Ausländerrecht war.21 Die Gründe hierfür liegen zum einen im eingeschränkten Zugang zur Verfassungsbeschwerde, die nur dann eingereicht werden kann, wenn der Rechtsweg erschöpft ist, und zum anderen an den wenigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen, die sich ausdrücklich mit der Einwanderung beschäftigen. Ganz konkret bezieht sich die spanische Verfassung nur in ihrem Art. 13, in dem die Ausländerrechte geregelt werden, und in Art. 149.1.2, in dem dem Staat die ausschließliche Gruppen widerspiegele. Dazu Arroyo Jiménez, Luis, Un año de doctrina constitucional, in: Asociación de Letrados del Tribunal Constitucional, El artículo 155 de la Constitución. XXIV Jornadas de la Asociación de Letrados del Tribunal Constitucional, Centro de Estudios Políticos y Constitucionales, Madrid 2019. 21 Nach maßgebender Lehre ist es auffallend, dass zurzeit keine Anfragen wegen Verfassungswidrigkeit anstehen und die Verfassungsbeschwerden sich auf Punkte des ersten Gesetzes des Ausländerrechts (Urteil des VerfGe115/1987), auf das Asylrecht (Urteil des VerfG 53/2002), die Prozess- und Verfahrenskostenhilfe (Urteil des VerfG 95/2003) und die Reform des Ausländerrechts aus dem Jahr 2000 beschränken (Urteil des Obersten Gerichtshofs 236/2007 und 259–265/2007). Sehr viel häufiger fallen jedoch Verfassungsbeschwerden an, die von ausländischen Mitbürgern zur Verteidigung ihrer Grundrechte vorgetragen werden, sei es wegen Handlungen der Behörden (Art. 43 Organgesetz VerfG), der Gerichtsorgane (Art. 44 Organgesetz VerfG) oder beiden zugleich (kombinierte Rechtsmittel). „In jedem Fall zeigt die Zahl der Urteile zu Verfassungsbeschwerden, die unser Gegenstand sind, dass der Bedarf an verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung von eingewanderten Mitbürgern nicht hoch gewesen ist“: González Beilfuss, Markus, El papel de la jurisprudencia constitucional en el desarrollo del derecho público de la inmigración, Revista catalana de Dret Públic, núm. 40, 2010, S. 3.

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Zuständigkeit für „Einwanderung und Ausländerrecht“ zugestanden wird, auf die Einwanderung. Trotzdem bleibt festzustellen, dass juristische Konflikte, die im Zusammenhang mit der Einwanderung stehen, verstärkt auftreten, wie z. B. die Rechtsprechung in Straf-, Zivil-, Sozialsachen und es sich in der verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung in Fällen von Vielehe zeigt.22 In diesem Beitrag werden wir uns jedoch ausschließlich auf die verfassungsrechtliche Rechtsprechung konzentrieren. Die meisten Urteile des Verfassungsgerichts in Einwanderungs- bzw. Ausländerrechtssachen beschäftigen sich mit der von Art. 13 der spanischen Verfassung geforderten Feststellung, ob ein ausländischer Mitbürger ein bestimmtes Grundrecht unter denselben Bedingungen ausüben kann wie ein Staatsangehöriger. Art. 13 Absatz 1 der spanischen Verfassung sieht vor, dass „ausländische Mitbürger in Spanien die durch diesen Titel garantierten öffentlichen Freiheiten nach den Bestimmungen der Verträge und des Gesetzes genießen“. Von dieser Gleichstellung ausgenommen sind die Rechte auf politische Teilhabe, die in Absatz 2 derselben Vorschrift geregelt sind.23 Ausgangspunkt für die Analyse der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts muss in diesem Kontext das Urteil 107/1984 vom 23. November 1984 sein, in dem das Verfassungsgericht darauf verweist, dass „trotz des Verweises in Art. 13.1 der spanischen Verfassung auf Verträge und Gesetz (…) die den ausländischen Mitbürgern zugestandenen Rechte und Freiheiten weiterhin verfassungsmäßige Rechte 22 Die Vielehe ist eine Einrichtung, die in einigen ausländischen Rechtsordnungen mit islamischen Wurzeln anzutreffen ist, und deren Anerkennung in enger Verbindung mit ideologischen oder religiösen Freiheiten steht. In Spanien lehnen alle Rechtsprechungen, mit der einzigen Ausnahme der Sozialordnung, die Vielehe unter Berufung auf die öffentliche Ordnung (ordre public) ab, ohne dabei eine mögliche Verbindung zu dem Recht auf religiöse Freiheit (Art. 16 Span. Verf.) und dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 14 Span. Verf.) zu berücksichtigen, der jegliche Diskriminierung aus religiösen Gründen verbietet. Im Strafrecht zählt die Vielehe zu den Straftaten aus der Gruppe „der unerlaubten Ehen“. Das Zivilrecht verweigert spanischen Staatsbürgern die Möglichkeit, einen verheirateten ausländischen Mitbürger zu heiraten, da dies gegen die verfassungsmäßige Würde der Person und die in Spanien gängige Auffassung von Ehe verstoßen würde. Es verweigert auch die Eintragung rechtmäßig im Ausland geschlossener Vielehen von in Spanien eingebürgerten Einwanderern. Das Verwaltungsrecht verweigert die Verleihung der Staatsangehörigkeit den männlichen Einwohnern, die in Vielehe leben. Diese haben keine Möglichkeit, ihre Frauen nachzuholen, und es verweigert zudem den Frauen, die sich als Opfer der Vielehe erklären, das Asylrecht. Nur in der Sozialordnung werden bestimmte Rechtsfolgen der Vielehe anerkannt, so der Anspruch auf Witwenrente für zwei Ehefrauen, die nach ihrem persönlichen Recht eine gültige Ehe mit einem ausländischen Arbeitnehmer geschlossen haben, der in Spanien stirbt. Dazu Juárez Pérez, Pilar, Jurisdicción española y poligamia islámica: ¿un matrimonio forzoso?, Revista Electrónica de Estudios Internacionales, núm. 23, 2012, S. 1–45; Castellanos Ruiz, Mª José, Denegación de la nacionalidad española por poligamia: análisis jurisprudencial, Cuadernos de Derecho Transnacional, vol. 10, núm. 1, 2018, S. 94–126. 23 Art. 13.2 besagt, dass „nur Spanier Inhaber der in Art. 23 anerkannten Rechte sind, mit Ausnahme dessen, was gemäß den Kriterien der Gegenseitigkeit durch Vertrag oder Gesetz für das aktive und passive Wahlrecht für Kommunalwahlen bestimmt werden kann“.

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sind, die im Rahmen ihrer eigenen Regelung durch die Verfassung geschützt sind, dass sie jedoch, was ihren Inhalt betrifft, ausnahmslos gesetzlich zu gestalten sind“. In diesem Urteil wurde eine dreifache Unterscheidung im Hinblick auf Rechte und Freiheiten für ausländische Mitbürger getroffen, die bis heute gültig ist. Im Urteil 107/1984 des Verfassungsgerichts heißt es: „Das Thema der Inhaberschaft und der Ausübung der Rechte (…) hängt vom betreffenden Recht ab. Es gibt Rechte, die Spaniern und ausländischen Mitbürgern gleichermaßen zustehen und deren Regelung für beide gleich sein muss; es gibt Rechte, die ausländischen Mitbürgern in keinem Fall zustehen (die in Art. 23 der Verfassung gemäß Art. 13.2 aufgeführten Rechte, einschließlich der Vorbehalte), und es gibt solche, die ausländischen Bürgern laut Verträgen oder durch Gesetze zuerkannt werden oder nicht.“ Das Verfassungsgericht ist der Auffassung, dass die Rechte, die dem Menschen als solchem und nicht als Bürger zustehen, insbesondere solche, die die Würde des Menschen betreffen, aufgrund des Verfassungsauftrags gleichermaßen Spaniern und ausländischen Mitbürgern zustehen. Zu diesen Rechten gehören unbestritten das Recht auf Leben, körperliche und moralische Unversehrtheit sowie auf Privatsphäre und ideologische Freiheit. Im Laufe der Zeit wurde die Liste der Rechte, die diese Anforderungen erfüllen, vom Obersten Gerichtshof erweitert und schließt nun auch das Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz,24 persönliche Freiheit,25 Schutz vor Diskriminierung aufgrund persönlicher oder sozialer Umstände26 sowie auf Prozess- und Verfahrenskostenhilfe ein.27 Inhalt und Ausübung aller anderen Rechte, mit Ausnahme der Rechte auf politische Beteiligung, unterliegen den Bestimmungen von Gesetzen und Abkommen. Das Verfassungsgericht hat in diese Gruppe auch das Recht auf freizügigen Personenverkehr aufgenommen sowie alle weiteren aus Art. 19 der spanischen Verfassung28 ableitbaren, also das Recht auf Arbeit,29 das Recht auf Gesundheit30 und das Recht auf Erhalt von Unterstützung wegen Arbeitslosigkeit.31 Das eigentliche Problem hierbei bestand nun darin, die Grenzen des Gesetzgebers für die Regelung dieser Rechte festzulegen. In seinen ersten Stellungnahmen zu ausländerrecht­ lichen Fragen hat das Verfassungsgericht die Befugnisse des Gesetzgebers sehr weit ausgelegt, während in jüngeren Stellungnahmen ein direkteres Verhältnis zwischen den Rechten ausländischer Mitbürger und der Verfassung hergestellt wird, das dazu beiträgt, einen rechtlichen Status von ausländischen Mitbürgern in Grundrechtsfragen festzulegen, der dem von Spaniern sehr ähnlich ist. 24

Urteil VerfG 99/1985. Urteil VerfG 115/1987. 26 Urteil VerfG 137/2000. 27 Urteil VerfG 95/2003. 28 Urteil VerfG 94/1993 und Urteil VerfG 72/2005. 29 Urteil VerfG 107/1984. 30 Urteil VerfG 95/2000. 31 Urteil VerfG 130/1995. 25

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2. Konflikte zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und der Religionsfreiheit Der große Zustrom von Einwanderern ist nicht nur eine Herausforderung in Bezug auf die Gleichstellung der Rechte von in- und ausländischen Bürgern, sondern führt auch zu einem weiteren komplexen Problem, das sich aus der Notwendigkeit des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen und Religionen ergibt. Die ordentlichen Gerichte haben eine interessante Rechtsprechung zu Fragen der Religionsfreiheit im Zusammenhang mit dem Tragen des im Islam üblichen Kopftuchs oder der Verwendung religiöser Symbole sowohl in Schulen als auch in der Öffentlichkeit und an Arbeitsplätzen entwickelt. Allerdings haben diese Fragen im Gegensatz zu Deutschland32 nicht das Verfassungsgericht erreicht. Das soll uns aber nicht davon abhalten, darauf hinzuweisen, dass religiöse Themen mögliche Ursachen für miteinander konkurrierende Grundrechte sein können. Eine solche Konkurrenz kann sich insbesondere aus dem Recht auf freie Meinungsäußerung und der Religionsfreiheit ergeben.33 Religiöse Karikaturen, namentlich Karikaturen über religiöse Überzeugungen oder Gottesdarstellungen, die von der Freiheit auf Meinungsäußerung geschützt sind, können manche Gläubige stören oder verletzen.34 Dies war der Fall bei der Ausstrahlung einiger Filme bzw. Veröffentlichungen satirischer Bücher oder Artikel, deren Verbot durch nationale Gerichte schließlich den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erreichte.35 Das Gericht bekräftigte mehrmals, dass die freie Meinungsäußerung ein wesentlicher Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft ist. Gleichwohl weist es darauf hin, dass die Europäische Menschenrechtskonvention in Art. 10 Absatz 2 Beschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung in bestimmten Fällen zulässt und dass die Ausübung dieses Rechts mit 32 Das Verbot, ein in islamischen Kulturen übliches Kopftuch zu tragen, wurde im bekannten Urteil des Bundesverfassungsgerichts v. 27.6.2006 in Deutschland als verfassungswidrig bewertet, www.bverfg.de. In diesem Urteil wurde die Anwendung von § 176 GVG durch einen Jugendrichter, der einer Frau das Tragen eines Kopftuches im Saal verboten hatte und sie bei deren Weigerung, es abzulegen, wegen Zuwiderhandlung gegen die Ordnung des Saales verwiesen hatte, als Eingriff in deren religiöse Freiheit betrachtet. 33 Cabellos Espiérrez, Miguel Ángel, Libertades de expresión y libertad religiosa: situaciones de conflicto y criterios para su tratamiento, Anuario de Derecho Eclesiástico del Estado, vol. XXXIII, 2017, S. 257–297. 34 Im Jahr 2007 entstand in Spanien große Unruhe, als eine als heilige Jungfrau und gekreuzigter Christus verkleidete Drag Queen den Karnevals-Wettbewerb von Las Palmas zur Musik von Madonna und Lady Gaga gewann. Die Vereinigung christlicher Anwälte stellte Anzeige vor dem Gericht von Las Palmas auf Gran Canaria. 35 Urteil des EGMR, Ltd. E Y gegen Großbritannien (7.5.1982); Urteil des EGMR, Otto Preminger Institut gegen Österreich (20.9.1994); Urteil des EGMR, Wingrove gegen Großbritannien (25.11.1996); Urteil des EGMR, I. A. gegen die Türkei (13.9.2005); Urteil des EGMR, Paturel gegen Frankreich (22.12.2005); Urteil des EGMR, Giniewski gegen Frankreich (31.1.2006); Urteil des EGMR, Aydin Tatlav gegen die Türkei (2.5.2006); Urteil des EGMR, Klein gegen die Slowakische Republik (31.10.2006).

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Pflichten verbunden ist, u. a. mit der Pflicht, Äußerungen zu vermeiden, die für andere willkürlich beleidigend sind. Mit Blick auf die Religionsfreiheit bekräftigt der EGMR hingegen, dass Pluralismus, Toleranz und eine offene Haltung Bestandteil jeder demokratischen Gesellschaft sein müssen, und dass keine Religion ernsthaft behaupten kann, außerhalb der Kritik zu stehen, sondern die Ablehnung und Verbreitung von Lehren, die sich gegen ihren Glauben richten, akzeptieren muss. Treffen diese beiden Freiheiten nun aufeinander, lehnt das Gericht eindeutig die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung ab, wenn die Gefahr besteht, dass die Meinungsäußerung in eine Form von Hassrede abgleitet. In den anderen Fällen wird geprüft, ob Beschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung auf einem zwingenden sozialen Bedürfnis beruhen, ob sie das Gebot der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf den angestrebten Zweck wahren und ob sie in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind. Sind diese Maßnahmen jedoch auf den Schutz der Religionsfreiheit anzuwenden, identifiziert das Gericht nicht immer eindeutig das Ausmaß der zu schützenden Religionsfreiheit. Wie wir zur Genüge wissen, besitzt die Religionsfreiheit in der Rechtsprechung des spanischen Verfassungsgerichts eine objektive bzw. äußere Dimension und eine subjektive bzw. innere.36 Wollen wir jedoch nicht Gefahr laufen, das Recht auf freie Meinungsäußerung den religiösen Gefühlen einer Person oder Gruppe unterzuordnen, was ja dazu führen würde, dass diejenigen, die von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen möchten, die Folgen ihres Handelns nicht vorhersehen könnten, so wäre es sicher sinnvoll, im Falle einer Konkurrenz dieser beiden Rechte vorrangig die objektive Dimension dieses Rechts zu schützen, wie es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil Klein gegen die Slowakische Republik getan hat.37

36 Die subjektive bzw. innere Dimension bezieht sich auf „die Existenz einer inneren Ansammlung von Glaubenssätzen und damit auf einen Raum persönlicher Selbstbestimmung vor dem Hintergrund der Religion, die in Verbindung mit der eigenen Persönlichkeit und der individuellen Würde steht.“ Die objektive bzw. äußere Dimension bezieht sich auf „die Möglichkeit, Handlungen, die das religiöse Phänomen manifestieren oder ausdrücken sollen, gegen jeden Zwang durch Behörden ausüben zu können.“ AS 4 Urteil des VerfG 46/2001. 37 In diese Richtung gehen die Gründe des EGMR in der Rechtssache Klein gegen die Slowakische Republik v. 31.10.2006, in der eine Strafe gegen einen Journalisten und Filmkritiker überprüft wurde, der einen satirischen Artikel gegen einen slowakischen Erzbischof in einer Zeitschrift veröffentlicht hatte. Der Artikel enthielt einige Sätze, die den Erzbischof mit satirischen Mitteln in Verbindung mit Inzest brachten, und warf die Frage auf, wie anständige Menschen einer Organisation wie der katholischen Kirche angehören könnten, die der Erzbischof vertrat. In diesem Fall entschied das Gericht, die Strafe sei unbegründet, weil sie nicht auf einem zwingenden sozialen Bedürfnis basiere, weil sie nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf das angestrebte Ziel genüge und in einer demokratischen Gesellschaft unangemessen sei. Dabei wurde berücksichtigt, dass die abwertenden Standpunkte gegen den Erzbischof gerichtet waren, sodass sie nicht einen Teil der Bevölkerung wegen ihres Glaubens herabwürdigten oder geringschätzten; darüber hinaus griffen sie nicht in das Recht dieser Gruppe ein, ihre Religion auszudrücken bzw. auszuüben.

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IV. Grundrechte und Wirtschaftskrise Mit dieser umstrittenen Entscheidung, die im Schrifttum keineswegs von allen geteilt wird, komme ich zum dritten und letzten Teil meines Beitrags, in dem ich mich mit einigen Themen aus der Wirtschaftskrise beschäftigen werde, die bis zum Verfassungsgericht gelangt sind. 1. Enteignung der Nutzung von Wohnungen Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat bekanntlich enorme Auswirkungen auf die sozialen Rechte gehabt.38 Darauf werde ich jedoch nicht weiter eingehen. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur darauf hinweisen, dass die regionalen Gesetzgeber einige interessante, um nicht zu sagen revolutionäre Maßnahmen zum Schutz des Rechts auf Wohnung ergriffen haben.39 Die in Andalusien, Navarra und dem Baskenland verabschiedeten Wohnraumgesetze sehen eine Reihe von Maßnahmen vor, die unbewohnten Wohnraum verhindern und den Zugang zu Wohnungen für die Bedürftigsten ermöglichen ­sollen.40 Einige dieser Maßnahmen, wie z. B. die vorübergehende Enteignung von Wohnungen, die Gegenstand von Zwangsräumungsverfahren sind, wenn davon Menschen in besonderen sozialen Notlagen betroffen sind, wurden für verfassungswidrig erklärt.41

38 Gardini, Gianluca, Crisis económica y protección de los derechos sociales en Europa. Reflexiones desde el ordenamiento italiano, Revista de Estudios de la Administración Local y Autonómica, núm. 9, 2018, S. 84–98. 39 Andalusisches Gesetz 4/2013 v. 1.10.2013 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sozialen Funktion von Wohnraum; Regionalgesetz 24/2013 v. 2.7.2013 über Sofortmaßnahmen zur Gewährleistung des Rechts auf Wohnung in Navarra; Baskisches Wohnraumgesetz 3/2015 v. 18.6.2015. 40 Hervorzuheben ist hier die ausdrückliche Anerkennung der dauerhaften legalen Besetzung von Wohnraum als subjektives Recht im Baskischen Wohnraumgesetz von 2015 für diejenigen, die über keinen würdigen und angemessenen Wohnraum sowie über keine finanziellen Mittel verfügen, um sich diesen zu beschaffen. Laut diesem Gesetz steht dieses Recht auch ausländischen Mitbürgern zu, sofern sie bei den Behörden gemeldet sind. 41 Das Urteil des VerfG 93/2015 v. 14.5.2015 hob die 2. Zusatzbestimmung zum Gesetzesdekret 6/2013 v. 9.4.2013 über Wohnraum auf, welches die Enteignung der Nutzung von Wohnraum erlaubte, der der Zwangsvollstreckung unterliegt. In jüngerer Zeit wurde diese Rechtsprechung durch die Urteile des VerfG 16/2018 v. 22.2.2018 und 32/2018 v. 12.4.2018 bestätigt, indem die 10. Zusatzbestimmung des Regionalgesetzes Navarra 24/2013 sowie Art. 9.4, 74 und 75.3 des Baskischen Wohnraumgesetzes 3/2015 v. 18.6.2015 aufgehoben wurden. Diese Verfügungen sahen mit unterschiedlichem Wortlaut die Möglichkeit vor, ein Verfahren zur vorübergehenden Enteignung der Nutzung von Wohnraum einzuleiten, um den Bedürfnissen von Menschen gerecht zu werden, die sich infolge von Zwangsräumungsverfahren oder Zwangsvollstreckung in besonderen sozialen Notlagen befanden oder ihre Miete nicht zahlen konnten. 

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Das Verfassungsgericht hat jedoch die Verfassungsmäßigkeit der Enteignung von Wohnraum anerkannt, sofern der Gebrauch des Eigentums gegen seine soziale Funktion verstößt. Dazu zählt unbewohnter, geräumter oder aufgegebener Wohnraum.42 Nach Ansicht des Verfassungsgerichts verletzen diese Maßnahmen nicht das Eigentumsrecht, wenn entsprechende Entschädigungen geleistet werden, da sie das angemessene Gleichgewicht zwischen dem verfolgten öffentlichen Interesse und dem vom Eigentümer geforderten Opfer nicht beeinträchtigen.43 2. Staatliche Unterstützung für erneuerbare Energien und Eigentumsrecht von in- und ausländischen Investoren Die Wirtschaftskrise führte nun dazu, dass neue Sichtweisen berücksichtigt wurden, die sich auf das Recht auf Eigentum auswirken und dieses einschränken. Mit diesem Bezug auf das Eigentumsrecht komme ich nun zum Schluss meiner Ausführungen. Ganz kurz werde ich mich noch zu einem letzten aktuellen Thema äußern, das die Wirtschaftskrise und das Ausländerrecht berührt. Hier möchte ich konkret auf die Auswirkungen der Wirtschaftskrise eingehen, die diese auf staatliche Hilfen für erneuerbare Energien und auf die unterschiedlichen Ebenen des Schutzes privaten Eigentums von in- und ausländischen Investoren haben.44 Es handelt sich dabei um eine sehr komplexe Rechtsfrage, die ich hier zu vereinfachen versuche. Im Jahr 2013 wurde durch Gesetzesdekret ein Vergütungssystem für erneuerbare Energien verabschiedet, das die seit 2007 vorherrschende Wirtschaftsordnung grundlegend veränderte.45 Privatinvestoren haben diese Vorschrift angefochten und trugen dabei unter anderem die Verletzung des Grundsatzes der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vor sowie die des Grundsatzes des Rückwirkungsverbotes für Sanktionsregelungen, die sich gegen die persönlichen Rechte auswirken oder diese einschränken (Art. 9.3 Span. Verf.). Im Dezember 2015 jedoch bestätigte das Verfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift mit der Begründung, dass „die vorgenommene Änderung nicht als unerwartet bezeichnet werden kann, da die Entwicklung der Umstände, die diesen Wirtschaftszweig betreffen, eine Anpassung dieses Rechtsrahmens infolge der Schwierigkeiten der Branche insgesamt erforderlich machte“, und fügte hinzu, dass die Anwendung der

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Art. 52 Regionalgesetz Navarra 24/2013 sowie Art. 72 Baskisches Gesetz 3/2015. Urteil des VerfG 16/2018 v. 22.2.2018; Urteil des VerfG 32/2018 v. 12.4.2018; Urteil des VerfG 97/2018 v. 19.9.2018. 44 Bacigalupo Saggese, Mariano, Cambios normativos y litigiosidad en el ámbito de la regulación española de las energías renovables: estado de situación, in: Darnaculleta Gardella, M. Mercè / Esteve Pardo, José / Ibler, Martin, Nuevos retos del Estado garante en el sector energético, Marcial Pons, Madrid, 2020, S. 103–174. 45 Königliches Gesetzesdekret 9/2013 v. 12.7.2013 über Sofortmaßnahmen zur Gewährleistung der finanziellen Sicherheit des Elektrizitätsnetzes. 43

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neuen Ordnung „keine ungünstigen Auswirkungen auf die erworbenen Rechte hat (…), also nicht in vorher erworbene Vermögensrechte eingreift“.46 Im genauen Gegensatz zu dieser Rechtsprechung stehen jedoch verschiedene Beschlüsse der Schiedsgerichtsbarkeit in Investitionsstreitigkeiten, die Spanien verurteilen, weil sie die Ansicht vertreten, dass die 2013 verabschiedete, drastische und abrupte Modifizierung des Vergütungssystems den Wert der Investitionen zerstört habe.47 Neben der komplexen rechtlichen Debatte, die diesen Entscheidungen zugrunde liegt, in den sich auch die Europäische Union eingeschaltet hat, zeigt dieser Sachverhalt die Unterschiede beim Schutz des Privateigentums nationaler Investoren im Vergleich zu dem ausländischer Investoren, da letztere Zugang zu internationalen Schiedsverfahren haben. Dieses Thema öffnet die Tür zu weiteren wichtigen Diskussionen im Bereich der Grundrechte, die ich hier leider nicht aufgreifen kann. Insoweit beziehe ich mich insbesondere auf die möglichen Folgen der unterschiedlichen Anerkennung der Grundrechte im Mehrebenensystem.48

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Urteil 270/2015 v. 17.12.2015. Im ersten vom ICSID-Schiedsgericht ergangenen Schiedsspruch vom Mai 2017 (in Sachen Eiser, Fall ICSID Nr. ARB/13/36) kam das Schiedsgericht zu dem Schluss, dass der Vertrag über die Energiecharta den klagenden Investoren das Recht einräumte, „zu erwarten, dass Spanien nicht so drastisch und abrupt die Rechtsordnung ändern würde, von der ihre Investitionen abhingen, so dass deren Wert zerstört würde.“ Dies war jedoch „die Folge des Königlichen Gesetzesdekrets 9/2013“. Ähnlich heißt es im Spruch der Schiedsstelle der Handelskammer Stockholm vom Februar 2018 (in Sachen Novenergia II, Fall Stockholmer Schiedsgerichtsbarkeit 2015/063), in dem die Schiedsstelle der Handelskammer Stockholm ausführt, dass die von Spanien ergriffenen Regulierungsmaßnahmen „radikal und unvorhersehbar“ gewesen seien. Insbesondere ist sie der Ansicht, dass „die Art und Weise, in der das Königliche Gesetzesdekret 9/2013 und nachfolgende Verordnungen verabschiedet worden seien, außerhalb des akzeptablen Bereichs des legislativen und regulatorischen Verhaltens gelegen habe, wodurch das rechtliche und geschäftliche Klima, in dem die Investitionen beschlossen und durchgeführt wurden, vollständig verändert und umgekehrt wurde“. 48 Martín-Retortillo Baquer, Lorenzo, Treinta años de afianzamiento de los derechos fundamentales, Revista de Administración Pública, núm. 200, 2016, S. 45–62. 47

Aktuelle Grundrechtsfragen der italienischen Verfassungsrechtsprechung Jörg Luther

I. Der komparative Kontext der Grundrechte Aus verfassungsprozessrechtlicher Sicht sind Grundrechtsfragen in Italien verfassungsprozessuale Normenkontrollanträge, die der Bürger nicht selbst in einem Amparo- oder Verfassungsbeschwerdeverfahren stellen kann. Als objektive Grundrechtsgarantieverfahren dienen inzidente und prinzipale Normenkontrollverfahren, die die Vorschriften des ersten Teils der italienischen Verfassung, die dafür relevanten Verfassungsprinzipien des allgemeinen Teils oder die Normen des zweiten Teils als Kontrollmaßstab betreffen. Diese „Ordnung der Republik“ beinhaltet u. a. Organisationsnormen für das Wahlrecht (Art. 56, 58), den Zugang zum öffentlichen Dienst (Art. 97), die Prozessrechte (Art. 111), Kompetenznormen u. a. zur „Bestimmung des wesentlichen Leistungsniveaus der zivilen und sozialen Rechte“, das Asylrecht, den Rechtsstatus von Nicht-EU-Bürgern, aber auch die Institutionen der Bildung und die soziale Vorsorge (Art. 117 Abs. 2). Zudem wird die Beachtung von europa- und völkerrechtlichen Schutzpflichten (Art. 117 Abs. 1) sowie die interregionale Freizügigkeit (Art. 120) garantiert. Aus materiell-rechtlicher Sicht sind Grundrechtsfragen in Italien daher zumeist Fragen der Bedeutung einzelner Grundrechtsgarantien der Verfassung, nicht selten aber auch Fragen der staatlichen Schutzkompetenzen und der Bedeutung von Verfassungsprinzipien wie Demokratie (Art. 1), Menschenrechtsschutz und Solidarität (Art. 2), formale und substantielle Gleichheit (Art. 3), Schutz der Arbeit (Art. 4), der Territorialautonomien (Art. 5), der Kulturen (Art. 6–9) und der Internationalität (Art. 10–12). In jeder dieser Fragen können aber auch immer Probleme der Effektivität und des Wertes des Grundrechtsschutzes in der gesamten Verfassungsentwicklung stecken. Eine Verfassungsentwicklung wird gewöhnlich als Fortschritt gewertet, wenn der Grundrechtsschutz steigt, und einfach- oder verfassungsgerichtliche Verbesserungen desselben können gewissermaßen als Belege hierfür angesehen werden. Darin kann freilich auch eine Überbewertung des „judicial constitutionalism“ liegen, weil Grundrechtsjustiz zwar einen zentralen Ausschnitt von Gerechtigkeit, aber immer nur eine Teilgerechtigkeit der Gesellschaft sichern kann, und Verfassungsgerichte nicht alle Rechtsverletzungen zu sehen bekommen. Im Vergleich der nationalen Grundrechtskulturen in Europa sind die Grundrechtsgarantien der italienischen und der spanischen Verfassung umfangreicher

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als die der deutschen (1949) und auch der französischen Verfassung (1958), weil sie mehr soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte beinhalten. Darin liegen wohl auch geschichtliche Besonderheiten und Eigendynamiken der italienischen Grundrechtskultur, die sich traditionell als besonders aktiver Teil einer vielseitigen europäischen Grundrechts- und globalen Menschenrechtskultur versteht und insofern einen eher universalistischen Antrieb („Drive“) zeigt.1 Norberto Bobbios optimistische Vision eines „Zeitalter(s) der Rechte“ zu Beginn der neunziger Jahre stößt heute trotz der EU-Grundrechtecharta auf eher pessimistische Kritiken und Polemiken. Einerseits scheint der Aktivismus des „judicial constitutionalism“ Energieverluste im Kampf der Parteien um die Grundrechte nicht kompensieren zu können, andererseits scheint der richterliche Grundrechtsschutz trotz des Versuchs der EU-Charta, die Grundrechte symmetrisch anzuordnen, eher asymmetrisch den Starken, Reichen und Gebildeten als den Schwachen, Armen und Ungebildeten zu dienen.2 In diesem Kontext scheint auch die Performance der italienischen Grundrechtskultur, jedenfalls aus der Sicht der Menschenrechtsbeobachter, eher den Kritikern Recht zu geben. Im Monitoring des Freedom House nimmt Italien den gleichen Rang wie Spanien und Deutschland ein, allerdings bei einem geringeren Score (89/100 statt 94/100).3 Im Rule of Law-Index des World Justice Project sieht der US-amerikanische Fundamental-Rights-Faktor Deutschland auf Rang 6 von 126 Ländern (0.85), Spanien auf Rang 8 (0.78) und Italien auf Rang 25 (0.73).4 Auch im EU-Social Justice Index der Bertelsmann-Stiftung liegt Deutschland (6.71) deutlich vor Spanien (4.96) und Italien (4.84).5 In der UPR-Peer-Review zu Italien hat Spanien einen stärkeren Schutz gegen Diskriminierung durch Rassismus und Ausländerfurcht sowie aufgrund Gender-, sexueller Orientierung und Behinderung gefordert und Deutschland zudem zu Maßnahmen gegen Gewalt gegen Frauen und in der Familie sowie gegen die Diskriminierung der Sinti und Roma aufgefordert.6

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Zum „Universalienstreit“ der Grundrechtskulturen vgl. Sommermann, Karl-Peter, Funktionen und Methoden der Grundrechtsvergleichung, in: Merten, Detlef / Papier, Hans-Juergen (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I, Heidelberg 2004, S. 1642. 2 Vgl. nur aus der italienischen Literatur Bobbio, Norberto L’età dei diritti, Torino 1991, und Zagrebelsky, Gustavo, Diritti per forza, Torino 2017. 3 Abrufbar unter: https://freedomhouse.org/report/countries-world-freedom-2019. 4 Abrufbar unter: https://worldjusticeproject.org/our-work/research-and-data/wjp-rulelaw-index-2019. 5 Social Index 2017, abrufbar unter https://www.bertelsmann-stiftung.de; Wirtschaftsdaten abrufbar unter: https://databank.worldbank.org/data/views/reports/reportwidget.aspx?Report_ Name=CountryProfile&Id=b450fd57&tbar=y&dd=y&inf=n&zm=n&country=ITA. 6 Im Universal Human Rights Index finden sich für Italien 130 Concerns / Observations und 167 Empfehlungen, für Deutschland 123 und 175, für Spanien 77 und 220, abrufbar unter: https://uhri.ohchr.org/search/basic.

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In den vergangenen siebzig Jahren der Verfassung haben die Grundrechte zwar gesellschaftlich durchaus Fortschritte ermöglicht, eine Jubiläumseuphorie ist jedoch nicht angezeigt. Auch der Blick auf die konkreten Grundrechtsfragen zeigt, wie konjunkturanfällig und politikempfindlich der Wert der Grundrechte und der von ihnen geprägten Verfassung, vor allem in den soziokulturellen und soziökonomischen Kapiteln, ist.

II. Der institutionelle Kontext der Aktualisierung Aktualität kann nicht nur durch spontanes öffentliches Interesse entstehen, sondern auch gezielt generiert und institutionalisiert werden. Grundrechtsansprüche sollen in einer offenen Zivilgesellschaft der Grundrechtsschützer entstehen, deren Ideale bisher universale und transnationale Tendenzen gefördert haben. Die Aktualität des Grundrechtsschutzes kann dann nicht nur anhand der Entscheidungsagenden des Verfassungsgerichts und der Jahrespressekonferenzen seiner Präsidenten gemessen werden. Sie hängt vielmehr auch davon ab, wie sie in der allgemeinen Nachfrage nach Justiz durch Angebote spezialisierter anwaltlicher Dienste, Politikagenden, wissenschaftliche Zeitschriftenredaktionen und Medienexperten konditioniert wird. Welche Grundrechtsfragen in der Medien- und Fachöffentlichkeit aktuell sind, zeigt sich in verschiedenen Kommunikations- und Dialogformaten des italienischen Verfassungsgerichtshofs. So verweist das Suchwort „attualità“ zunächst auf eine Newsleiste auf der Webseite der Corte costituzionale, die Presseverlautbarungen, Ereignisse und einen (sehr selektiven) Pressespiegel anbietet. Erstere antizipieren neuerdings auch noch unveröffentlichte Grundrechtsurteile, zuletzt etwa zur Verfassungsmäßigkeit des gesetzlichen Verbots der Prostitution.7 Unter den Ereignissen finden sich neben Schul- und Gefängnisvisiten auch Tagungen und Besuche anderer Verfassungsgerichtsdelegationen, zuletzt der „Dialog des Verfassungsgerichtshofs mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“ vom 30.1.2019, in dem u. a. Divergenzen und Schwierigkeiten des „europäischen Konsenses“ in „ethisch sensiblen“ Fragen wie Lebensende, Homosexuellenehe, Transgenderrechte, prozessrechtliche Aspekte von richterlicher Unabhängigkeit und „ne bis in idem“ besprochen wurden.8 Zum 60. Geburtstag der Lateran­ verträge wurden am 25./26.5.2017 in Rom unter dem Titel „Die Grundrechte und Grundwerte im Dialog zwischen dem Gerichtshof der EU und den italienischen Höchstgerichten“ Fragen zu den Sozialleistungen an Migranten, der Befristung

7 Anders nun die mit Veröffentlichung des Urteils Nr. 40/2019 synchronisierte Presse­ erklärung. 8 Lattanzi, Giorgio, Il dialogo tra la Corte di Strasburgo e le Corti italiane. A margine di un recente incontro di studio tra Corte costituzionale e Corte europea dei diritti dell’uomo, abrufbar unter https://www.cortecostituzionale.it/documenti/news/CC_NW_20190111.pdf.

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von Lehrerarbeitsverträgen, dem Europäischen Haftbefehl und der strafrecht­lichen Verjährung thematisiert.9 Besonders institutionalisierte Dialogformate bieten die Verfassungsgerichtskonferenzen, die von der Venedig-Kommission des Europarats durch ein Rechtsprechungsbulletin und die CODICES-Datei assistiert werden.10 Beim separaten Treffen der mediterranen Verfassungsgerichte in Sevilla (2017) wurde die Rechtsprechung zum Wahlrecht (Urteile Nr. 1/2014, 35/2017) und zur EU-Grundrechtecharta erörtert, zuvor in Rom (2016) die Rechtsprechung zu Sozialleistungen und Haushaltsbindungen.11 Das letzte bilaterale deutsch-italienische Treffen in Karlsruhe behandelte Fragen zum Verhältnis der Verfassungsgerichte in Luxemburg und Straßburg (2009). Aktualität wird auch durch die englischen Übersetzungen ausgewählter Entscheidungen der Corte costituzionale vermittelt. Zu den für die nationale Fachöffentlichkeit wichtigsten aktuellen Grundrechtsfragen werden zudem Dossiers des wissenschaftlichen Dienstes des Verfassungsgerichtshofs erstellt, die auch rechtsvergleichende Studien beinhalten. Dabei ging es in den letzten fünf Jahren konkret um Themen wie Lebensende und Beihilfe zur Selbsttötung, Terrorismus, Kündigungsschutz, Freiheit von Soldatengewerkschaften, konventioneller Schutz nationaler Minderheiten, Durchsetzung staatlicher Zahlungsansprüche, Wahlgesetze, Impfpflichten, Kontrolle von Häftlingspost, Transportdienstleistungen, Recht auf Strafverteidigung, „ne bis in idem“, Prinzipien des Zivilprozesses, Rechte der Opfer von Straftaten, Recht auf Arbeit, Familienrechte, Anerkennung ausländischer Adoptionen gleichgeschlechtlicher Paare, Wettbewerb, Liberalisierung, Urheberrechte im Internet, überfüllte Gefängnisse, heterologe Befruchtung usw. Auch allgemeinere Kooperationsthemen wie der Grundrechtsschutz im Gemeinschaftsrecht und in den nationalen Rechtsordnungen, die Rolle der Verfassungsgerichte in der Anwendung der Verfassungsprinzipien, die Schlussbestimmungen der EUGrundrechtecharta, Haushaltsbindungen und Sozialrechte, die Techniken grundrechtskonformer Auslegung etc. wurden vertieft.

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Cartabia, Marta, Convergenze e divergenze nell’interpretazione delle clausole finali della Carta dei diritti fondamentali dell’Unione europea; Lattanzi, Giorgio, Dialogo tra le Corti e prassi applicative: il precariato scolastico, il mandato di arresto europeo  e la prescrizione ­penale; Sciarra, Silvana, ‚Migranti‘ e ‚persone‘ al centro di alcune pronunce della Corte costituzionale sull’accesso a prestazioni sociali, abrufbar unter: https://www.cortecostituzionale. it/jsp/consulta/rel_int/incontri.do. 10 Deren Leitsatzsammlung in Codices wird seit 2006 durch englische Übersetzungen der wichtigsten Urteile ergänzt. 11 Barbera, Augusto, La Carta dei diritti: per un dialogo fra la Corte italiana e la Corte di Giustizia; Zanon, Nicolò, Il controllo di costituzionalità sulle leggi elettorali politiche in Italia. Aspetti processuali (sentenze n. 1 del 2, 14 e n. 35 del 2017); Carosi, Aldo, Prestazioni sociali e vincoli di bilancio; abrufbar unter https://www.cortecostituzionale.it/jsp/consulta/ rel_int/incontri.do.

Grundrechtsfragen der italienischen Verfassungsrechtsprechung 

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Aktualität haben aber auch nicht zu verschweigende Jurisdiktionskonflikte in Grundrechtsfragen. Beispiele aus der jüngeren italienischen Verfassungsrechtsprechung bieten vor allem die Urteile Nr. 238/2014 und Nr. 115/2018, mit denen jeweils Normen des italienischen Rechts mit den vom Internationalen Gerichtshof (im Verfahren Deutschland vs. Italien) und vom Europäischen Gerichtshof judizierten völker- und europarechtlichen Standards der Staatenimmunität und des Schutzes der finanziellen Interessen der EU für unvereinbar und unanwendbar erklärt wurden. Diese aktuellen Fragen des Grundrechtsschutzes im Mehrebenensystem waren im Jahr 2017 Gegenstand von „academic diplomacy“ in der Villa Vigoni.12 Für einen europäischen Vergleich der aktuellen Grundrechtsrechtsprechung aus italienischer Sicht bieten sich einige weitere Entscheidungen aus dem Jahr 2018 an, in denen besonders konfliktintensive Grundrechtsfragen behandelt wurden, wie namentlich die Rechte von Einwanderern auf Mietzuschüsse (Nr. 166/2018), von Arbeitnehmern auf Kündigungsschutz (Nr. 194/2018), oder auch die Strafbarkeit der Sterbehilfe (Nr. 207/2018) und die Sperrklausel im Europawahlrecht (Nr. 239/2018).

III. Die sozialen Rechte von Migranten (Urteil Nr. 166/2018) Die italienische Verfassung beinhaltet zwar viele Grundrechte und Diskriminierungsverbote als Bürgerrechte, erweist sich aber gelegentlich ausländerfreundlicher als der einfache Gesetzgeber. Schon die Prinzipien der Verfassung beinhalten den Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit, so dass der Vorrang allgemein anerkannter Normen des Völkerrechts sowie eine mit ihnen und dem gesamten menschen- und migrationsrechtlichen Völkervertragsrecht konforme gesetzliche Regelung des Rechtsstatus von Ausländern, das Asylrecht und ein Auslieferungsverbot im Fall von politischen Straftaten garantiert wird (Art. 10). Zudem werden ein Friedensgebot, eine Beschränkung der Souveränität und eine Pflicht zur Förderung internationaler Organisationen verfassungsrechtlich gewährleistet (Art. 11). Die Rechtsprechung hatte ursprünglich den Gleichbehandlungsanspruch von Ausländern auf die „unverletzlichen Menschenrechte“ beschränkt, dann jedoch auf die Pflicht zur sozialen Solidarität gemäß Art. 2 und den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3) samt dem allgemeinen Diskriminierungsverbot (teils mit Art. 14 EMRK verknüpft) gesattelt. Seitdem prüft es auch, ob der Ausschluss von Ausländern von

12 Vgl. Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht / Instituto di Ricerche sulla Pubblica Amministrazione, Remedies against Immunity? Reconciling international and domestic law after the Italian Constitutional Court’s Sentenza 238/2014, Villa Vigoni, 11/13. Mai 2017, auszugsweise veröffentlicht auf Verfassungsblog, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/category/themen/remedy-against-immunity/.

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subjektiven Rechten im Sinne der sog. „ragionevolezza“ (Angemessenheit) sachlich gerechtfertigt ist.13 Das Urteil Nr. 166/2018 des italienischen Verfassungsgerichtshofs setzt diese Rechtsprechung fort und erklärt die Notgesetzverordnung Nr. 112 vom 25.6.2008 für gleichheitswidrig. Diese Verordnung enthielt folgende Regelung: „Zum Zwecke der Aufteilung des Nationalen Fonds zur Unterstützung des Zugangs zu Mietwohnraum gemäß Art. 11 des Gesetzes 09.12.1998 Nr. 431 müssen die zum Erhalt der Zuschüsse gemäß Abs. 4 dieses Artikels von den Einwanderern (immigrati) nachzuweisenden Mindestbedingungen auch den Nachweis eines mindestens zehnjährigen Wohnsitzes im Inland oder eines mindestens fünfjährigen Wohnsitzes in derselben Region umfassen.“ Die Mietzuschüsse aus einem jährlich refinanzierten Fonds sollen in Fällen der Armut besonders bedürftige Mieter unterstützen, um zur Kündigung berechtigende Mieteinnahmeverluste zu vermeiden und Schwierigkeiten in der Versorgung mit Sozialwohnungen zu verringern. Das zu den bisherigen Armutsbedingungen nachträglich hinzugefügte Kriterium der Wohnsitzdauer betraf nur „Einwanderer“, d. h. gemäß dem italienischen Einwanderungsgesetz (Testo Unico Immigrazione 1998) letztlich Nicht-EU-Bürger und Staatenlose. Bemerkenswert an diesem Urteil ist die Begründung der verfassungswidrigen Ungleichbehandlung dieser Kategorie. Das Verfassungsgericht bestätigt zunächst den Grundsatz, dass der Gesetzgeber den Kreis der Begünstigten von Sozialleistungen, angesichts des Umfangs der zur Verfügung stehenden Finanzmittel, begrenzen kann. Derartige Begrenzungen müssten jedoch, so das Gericht, zum einen das unionsrechtliche Gleichbehandlungsgebot zugunsten langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger beachten (Art. 11 Richtlinie Nr. 2003/109/EG). Hiergegen verstoße die angefochtene Vorschrift wegen der Anknüpfung an einen regionalen Daueraufenthalt. Zudem müssten diese Begrenzungen aber auch einen besonderen „ragionevolezza“-Test bestehen und dürften nicht zum Ausschluss von Sozialleistungen führen, die grundlegende und unaufschiebbare Bedürfnisse der Person beträfen. Der „normative Grund“ der Ungleichbehandlung müsse durch einen „vernünftigen Zusammenhang (correlazione) zwischen der Bedingung, an die die Gewährung der Begünstigung geknüpft ist, und den anderen besonderen Voraussetzungen gerechtfertigt sein, die ihre Zuerkennung bedingen und ihre Ratio definieren.“14 Ein vernünftiger normativer Grund könne auch eine gewisse Aufenthaltsdauer sein, wenn dieses gesetzliche Erfordernis mit der Situation der Bedürftigkeit verknüpft sei und die sozialpolitische geforderte „territoriale Verwurzelung“ in ihrer Dauer nicht „offensichtlich willkürlich oder unvernünftig“ sei. Dies sei hier schon des 13 Urteile Nr. 120/1967, 104/1969, 64/1996, 432/2005, 249/2010, 329/2011, 309/2013; vgl. Pittino, Arianna, Gli stranieri nel diritto pubblico italiano, Torino 2018, S. 68 ff. 14 Hierzu wird auf das vorangegangene Urteil Nr. 107/2018 verwiesen. In der Entscheidung Nr. 106/2018 war ein Regionalgesetz für verfassungswidrig erklärt worden, das den Zugang zu Sozialwohnungen an eine zehnjährige Aufenthaltsdauer geknüpft hatte.

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wegen der Fall, weil der zehnjährige ständige Aufenthalt bereits zum Erwerb der Staatsangehörigkeit ausreiche und die Frist insoweit gegen EU-Recht verstoße und die fünfjährige Residenzpflicht in der Region dem gesetzgeberischen Nebenziel der Gewährung von Mietzuschüssen widerspreche, nämlich die Mobilität auf dem Wohnungsmarkt zu steigern. Letztlich aber weise die Dauer der Verwurzelung in der Region keinen inneren Sachzusammenhang zu dem Schutzziel der Regelung auf, angesichts der knappen Mittel nur besonders Bedürftigen (indigenti) zu helfen. Daher sei die getroffene Regelung insgesamt unverhältnismäßig und gleichheitswidrig. Diese Entscheidung steht in einer Tradition der Verfassungsrechtsprechung, die seit langem unverhältnismäßige Ungleichbehandlungen bei der Gewährung von Sozialleistungen zugunsten der sich rechtmäßig in Italien aufenthaltenden Ausländer beseitigt.15 Art. 41 der Bestimmungen über das Einwanderungsrecht und den Ausländerstatus hatte Sozialansprüche noch allen Inhabern einer mindestens einjährigen Aufenthaltserlaubnis zugesichert, das Haushaltsbegleitgesetz von 2001 sodann aber ein Daueraufenthaltsrecht und ein Sozialhilfe und Mietkosten deckendes Mindesteinkommen verlangt. In den Urteilen des italienischen Verfassungsgerichtshofs Nr. 306/2008 und 11/2009 wurde zunächst der Ausschluss der Ausländer von der Zahlung von Invalidenbetreuungsgeld und Berufsunfähigkeitsrente für verfassungswidrig erklärt, sofern sie alle Voraussetzungen eines Daueraufenthaltsrechts bis auf das dafür vorausgesetzte Mindesteinkommen erfüllen. Im Urteil Nr. 187/2010 wurde auch ihr Ausschluss von monatlichen Invalidenbeihilfen für Ausländer ohne langfristige Aufenthaltsberechtigung verfassungsrechtlich beanstandet.16 Im Urteil Nr. 168/2014 wurde ein Gesetz der Region Aostatal für verfassungswidrig erklärt, das die Zuweisung einer Sozialwohnung von einem achtjährigen Aufenthalt in der Region abhängig machte. Zuletzt kassierten die Urteile Nr. 106 und 107/2018 ein Gesetz der Region Ligurien, das nur von Ausländern einen zehnjährigen Aufenthalt für den Zugang zu Sozialwohnungen verlangte, und ein Gesetz der Region Venezien, das den Anspruch auf einen Kinderkrippenplatz sogar von einem fünfzehnjährigen Aufenthalt oder einem Arbeitsverhältnis in der Region abhängig machte. Diese und zahlreiche andere Entscheidungen zu den Grenzen des gesetzgeberischen Regulierungsermessens zeigen, dass der Schutz der Rechte von Migranten nur dann hinter dem der italienischen Bürger zurückbleiben kann, wenn soziale Grundrechte nicht verletzt und Differenzierungen nach Staatsangehörigkeit, Lega­ 15

Hierzu nur Biondi Dal Monte, Francesca, Dai diritti sociali alla cittadinanza, Torino 2013; Chiaromonte, Walter, Lavoro e diritti sociali degli stranieri, Torino 2013; Rossi, Emmanuele et al., La governance dell’immigrazione. Diritti, politiche e competenze, Bologna 2013. 16 Es folgten weitere Verfassungswidrigkeitsurteile: Urteil Nr. 329/2011 (indennità di frequenza per i minori invalidi); Nr. 40/2013 (indennità di accompagnamento e pensione di inabilità); Nr. 22/2015 (Blindenpensionen), Nr. 230/2015 (Taubstummenpension und Kommunikationsgeld).

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lität der Einreise und Aufenthaltsdauer sachlich gerechtfertigt sind. Damit steht die Corte costituzionale zwar nicht allein in Europa,17 doch bleibt abzuwarten, ob sie ihre menschenrechts- und sozialstaatsfreundliche Rechtsprechung auch in der Zukunft fortsetzen kann.

IV. Verfassungswidrige Verletzung der Europäischen Sozialcharta (Urteil Nr. 194/2018) Anders als das Grundgesetz konnte die italienische Verfassung 1947 nicht auf einer demokratischen Sozialstaatstradition aufbauen, sondern ging den Weimarer Weg einer Umwandlung der sozialethischen Grundpflichten in soziale Grundrechte als Staats- und Gesellschaftsziele, die vom Verfassungsgericht nicht zu Programmsätzen herabgestuft werden konnten. Die völkerrechtsfreundliche Bestimmung der italienischen Verfassung über die „Arbeit“ verpflichtet den Staat „internationale Vereinbarungen und Organisationen zu fördern und zu begünstigen, die die Rechte der Arbeit durchsetzen und regeln“ (Art. 35 Abs. 2). Hierzu gehören nicht nur die ILO-Konventionen, sondern auch die von den EU-Verträgen in Bezug genommene Europäische Sozialcharta (ESC), die Wilhelm Wengler 1969 innerhalb eines Staates noch für unanwendbar erklärt hatte. Ihre Turiner Fassung wird heute nur noch von dem Land abgelehnt, in dem die Internationale Arbeitsorganisation seit 1919 ihren Sitz hat (Schweiz), während die revidierte Straßburger Fassung von 1996 von Deutschland, Polen, Dänemark, Luxemburg, Kroatien, Tschechien und dem Vereinigtem Königreich zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert wurde. Im Urteil Nr. 194/2018 hat der italienische Verfassungsgerichtshof eine Regelung des sog. Jobs Act, Ergebnis der Arbeitsmarktreform der Regierung Renzi I, für verfassungswidrig erklärt, soweit sie den Gleichheitsgrundsatz und die Verpflichtung zu einer angemessenen Entschädigung bei rechtsgrundloser Kündigung gemäß Art. 24 ESC verletzt. Die auf der Grundlage des Gesetzes Nr. 18 vom 10.12.2014 ergangene gesetzesvertretende Verordnung Nr. 23 vom 4.3.2015 („Bestimmungen zu den unbefristeten Arbeitsverträgen mit wachsendem Schutz“) sah vor, dass anders als diskriminierende, nichtige oder mündlich ausgesprochene Kündigungen, die zum Anspruch auf Wiedereingliederung in den Betrieb führen, Kündigungen aus objektiv gerechtfertigtem Grund oder aus einem subjektiv berechtigenden Anlass (giusta causa) nur dann entschädigungspflichtig sind, wenn sie inhaltlich unberechtigt sowie form- und verfahrensfehlerhaft sind. Der Umfang der Abfindung sollte sich ausschließlich nach der Dauer des Arbeitsverhältnisses richten 17

BVerfGE 111, 160 ff. (Verfassungswidrige Nichtgewährung von Kindergeld an Ausländer, die nur über eine Aufenthaltsbefugnis verfügen); BVerfGE 132, 72 ff. (Verfassungswidriger Ausschluss ausländischer Staatsangehöriger mit humanitären Aufenthaltstiteln von Bundeserziehungs- und Bundeselterngeld); BVerfGE 132, 134 ff. ( Verfassungswidrige Grundleistungen in Geld nach Asylbewerberleistungsgesetz); für Spanien nur TCE 236, 259/2007; 139/2016 (Zugang zum Gesundheitsdienst).

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und mindestens vier, höchsten 24 Monatsgehälter betragen. Die Regierung Renzi I erhöhte dann während des Verfahrens die Mindestentschädigung auf sechs, die Höchstentschädigung auf 36 Monatsgehälter. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs verletzt dieser – die bisherige Abwägung auch nach Betriebsgröße aufgebende – starre „Automatismus“ das gleichheitsrechtliche Differenzierungsgebot, das angesichts der potentiell trauma­tischen Wirkung einer Kündigung auch eine Personalisierung der Schadensberechnung gebiete. In die Berechnung der Abfindung durch den „klug nach eigenem Ermessen abwägenden“ Richter flössen notwendigerweise eine Vielzahl von Faktoren ein. Der vom Gesetzgeber gewählte Automatismus sei daher nicht geeignet, bei Arbeitnehmern mit geringerem Dienstalter den Arbeitgeber von unberechtigten Kündigungen abzuhalten (funzione dissuasiva). Der Entschädigung kommt so letztlich wieder eine punitive oder zumindest präventive Funktion zu. Die Gleichheitswidrigkeit der Entschädigungsautomatik verletzt mithin zugleich die verfassungsrechtlichen Rechte auf Arbeit (Art. 4 Verfassung) und auf Arbeitsschutz (Art. 35 Verfassung). Das Verfassungsgericht stellte zudem einen Verstoß gegen die Kündigungsschutzverpflichtungen des Art. 24 der Europäischen Sozialcharta fest. Bereits in der Entscheidung Nr. 120/2018 wurde ein Verstoß des Gesetzgebers gegen Schutzpflichten der Sozialcharta als gleichzeitige Verletzung der Verfassungsregel des Vorrangs der völkerrechtlichen Verpflichtungen (Art. 117 Abs. 1 Verfassung) gewertet. Das Urteil beruft sich auf eine Entscheidung des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte in einem finnischen Kollektivbeschwerdeverfahren, die sowohl die Angemessenheit der Entschädigung als auch ihre Präventionsfunktion gewürdigt hatte. Zudem sei deren Autorität anzuerkennen (autorevole), auch wenn sie keine formelle Bindungskraft entfalte (non vincolante). Die Verpflichtung, einen angemessenen Kündigungsschutz zu gewährleisten, beruht somit auf einer „Integration der Rechtsquellen und vor allem der von ihnen garantierten Schutzgarantien […]“. Letztlich zeigt die Urteilsbegründung auf, dass die verfassungsrechtlichen Garantien mit den völkerrechtlichen Gewährleistungen konvergieren und harmonisch zusammenwirken, so dass sich der „bloc de constitutionalité“ mit einem „bloc de conventionnalité“ verbindet. Offen bleibt, ob der Verfassungsgerichtshof die ESC auch dann als Prüfungsmaßstab für Gesetze anwenden wird, wenn der Gesetzgeber ihre Umsetzung gänzlich unterlassen hat. Jedenfalls lässt er keinen Zweifel daran, dass eine bisher vor allem von einigen spanischen Richtern behauptete unmittelbare Anwendbarkeit dieser Konvention weiterhin auszuschließen ist.

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V. Verfahrensinterne Unvereinbarkeitserklärung der Bestrafung der Beihilfe zur Selbsttötung (Urteil Nr. 207/2018) Im katholischen Italien hat ein neueres Urteil zur Strafbarkeit der Suizidbeihilfe besonderes Aufsehen erregt.18 Das Strafgesetzbuch von 1930 bestraft die erfolgreiche Suizidbeihilfe im europäischen Vergleich besonders hart mit fünf bis zwölf Jahren Gefängnis. Im Fall Cappato zeigte sich ein Politiker – der eine Reform dieser Strafbestimmung per Volksgesetzinitiative betreibenden Radikalen Partei – selbst an, nachdem er einen mehrfachbehinderten und schmerzgebeugten ehemaligen Disk-Jockey auf dessen Wunsch in die Schweiz begleitet hatte, weil er dort in der Einrichtung „Dignitas“ sein Leben beenden wollte. Zu der vom Mailänder Strafgericht vorgelegten Frage, ob die gesetzlich vorgesehene Bestrafung des Politikers wegen Anstiftung und zugleich Beihilfe zur Selbsttötung verfassungswidrig sei, entschied der Verfassungsgerichtshof, der Gesetzgeber könne nicht einerseits ein Recht auf tiefe Sedierung (Schmerzausschaltung) anerkennen, andererseits aber beim Vorliegen gleichgewichtiger Umstände die volle Strafbarkeit der Beihilfe zur Selbsttötung aufrechterhalten. Um dem Parlament eine eventuelle Korrektur der Gesetzeslage zu gestatten, gelangte der Verfassungsgerichtshof im Urteil Nr. 207/2018 zu einer prozeduralen, in ein zweistufiges Verfassungsgerichtsverfahren eingebetteten Unvereinbarkeitserklärung, mit der er – wie in einem Zwischenurteil – unter Angabe der genannten Gründe eine neue mündliche Verhandlung nach einem Jahr anberaumte. Diese Entscheidung wurde in der Fachöffentlichkeit sehr kontrovers diskutiert. Im mittlerweile ergangenen abschließenden Urteil Nr. 242/2019 nahm der Gerichtshof zur Kenntnis, dass das Parlament zwischenzeitlich keine Reform beschlossen hatte, und erklärte Art. 580 des italienischen StGB daher für teilweise verfassungswidrig. Die Verfassungswidrigkeit dieser strafrechtlichen Bestimmung soll „insoweit [gelten] als sie nicht die Strafbarkeit einer durch Gerätemedizin am Leben gehaltenen oder von einer irreversiblen Pathologie betroffenen Person ausschließt, wenn sie gemäß Art. 1 und 2 des Gesetzes Nr. 19 vom 22.12.2017 (Regelungen zum informierten Einverständnis und zu antizipierten Behandlungsanweisungen) oder – im Fall von Sachverhalten, die vor Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 19 eingetreten sind – bei gleichwertigen Modalitäten eine autonom und frei gebildete Suizidabsicht ausführt. Die mit diesen Zuständen verbundenen körperlichen und psychischen Leiden müssen von dem Betroffenen als unzumutbar empfunden werden. Er muss indes voll in der Lage sein, eine freie und bewusste Entscheidung zu treffen. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen sowie die Modalitäten der Ausführung der Beihilfe zur Selbsttötung müssen zudem von einer öffentlichen Stelle des nationalen Gesundheitsdienstes nach Einholung eines Gutachtens der örtlich zuständigen Ethikkommission überprüft werden.“ Dem Gesetzgeber ist 18 Luther, Jörg, The judges power over life and death, 2018, abrufbar unter http://www. cortisupremeesalute.it/article/the-judges-power-over-life-anddeath/.

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auch weiter­hin eine gesetzliche Neuregelung aufgetragen, doch kann das zuständige (vorlegende) Strafgericht aufgrund dieser „mikrochirurgischen“ Teilverfassungswidrigkeitserklärung bereits jetzt den wegen Beihilfe zur Selbsttötung Angeklagten freisprechen. Das Verfassungsgericht hat im Ergebnis eine kleine „Lex Cappato“ als Ausnahme vom Verbot der Sterbehilfe geschaffen. Aus vergleichender Sicht ist die Entscheidung nicht nur prozessrechtlich innovativ. Sie zeigt möglicherweise auch, dass Verfassungsrichter den Grundsatz des judicial self-restraint in Fragen bioethischer oder biopolitischer Rechte jedenfalls nicht überstrapazieren.

VI. Verfassungsgerichtliche Divergenzen zur Sperrklausel bei der Europawahl (Urteil Nr. 239/2018) In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu den Wahlgesetzen haben die politischen Grundrechte zuletzt durch die Erklärung der Verfassungswidrigkeit von zwei Reformen zum Mehrheitsbonus (Urteil Nr. 1/2014) und zum Stichwahlgang (Urteil Nr. 35/2017) zunehmend Aufmerksamkeit gefunden.19 Das Urteil Nr. 239/2018 hat demgegenüber Zweifel des italienischen Staatsrates an der Verfassungsmäßigkeit der 4 %-Klausel anlässlich der Wahlen der Abgeordneten des Europaparlaments für unbegründet erklärt. In der Sache ging es insoweit nicht um den noch nicht in Kraft getretenen Beschluss 2018/994/EU, Euratom des Rates vom 13.7.2018, der die „Mitgliedsstaaten, in denen eine Listenwahl stattfindet“, verpflichtet, „für Wahlkreise, in denen es mehr als 35 Sitze gibt, eine Mindestschwelle für die Sitzvergabe“ von nicht weniger als 2 % und nicht mehr als 5 % der abgegebenen gültigen Stimmen festzulegen (Art. 3 Abs. 2 des Beschlusses). Der Consiglio di Stato hatte vielmehr versucht, die Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts zur Sperrklausel bei den Wahlen zum Europäischen Parlament zu „importieren“. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte bekanntlich mangels der Angewiesenheit der Kommission auf eine fortlaufende Unterstützung durch eine stabile Mehrheit im Europäischen Parlament sowie unter Verweis auf eine in der Union nicht erkennbare „antagonistische Profilierung von Regierung und Opposition“ hierin kein zu rechtfertigendes Instrument im Rahmen der Wahlen zum Europaparlament gesehen, um eine Regierungsfähigkeit der Kommission sicherzustellen. Insoweit lässt sich feststellen, dass das Bundesverfassungsgericht, gestützt auf dieses Argument, zunächst mit Urteil vom 9.11.2011 eine 5 %-Klausel20 und später mit Urteil vom 26.2.2014 eine 3 % Klausel21 verworfen hat. In der letztgenannten Entscheidung hat es abermals festgestellt, dass „der mit der Drei-Prozent-Sperrklausel im Euro 19

Vgl. nur Luther, Jörg, Die römischen Passionen des Wahlrechts, JöR 67 (2019), S. 191 ff. BVerfGE 129, 300 ff. 21 BVerfGE 135, 259 ff. 20

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pawahlrecht verbundene schwerwiegende Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien […] unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen nicht zu rechtfertigen [ist].“22 Gleichzeitig ist aber auch daran zu erinnern, dass der Verfassungsgerichtshof der Republik Tschechien zu einem entgegengesetzten Ergebnis gelangt ist, dass nämlich eine Sperrklausel von 5 % nicht verfassungswidrig sei (Urteil 19.5.2015, Pl. úS 14/14). Das Urteil des italienischen Verfassungsgerichtshofs unterscheidet zwischen dem Interesse an der Regierungsfähigkeit der Kommission von dem mindestens gleichgewichtigen Interesse an der Funktionsfähigkeit des Parlaments. Hinzu komme die Parlamentarisierung der Regierungsform der Union durch den Vertrag von Lissabon. Auch die vom italienischen Staatsrat geltend gemachte Heterogenität der immerhin in 14 Mitgliedstaaten bestehenden Sperrklauseln stelle die Verfassungsmäßigkeit der Sperrklausel nicht in Frage, wenn Art. 223 AEUV progressiv umgesetzt werden solle. Aus der Sicht des Verfassungsgerichtshofs wäre die Aufgabe dieses Ziels unverhältnismäßig. Damit macht dieses Urteil nicht nur den Kritikern der deutschen Rechtsprechung Mut. Es zeigt auch, dass eine Art Wettbewerb um die beste europäische Rechtsprechung im Gange ist. Am Grad der Europa(un)freundlichkeit der nationalen Verfassungsrechtsprechung lassen sich auch tiefergehende Konfliktlinien zwischen Idealisten und Realisten erkennen, wenn es um die Zukunft der materiellen europäischen Verfassung geht.

VII. Zeitzeichen? Diese Beispiele mögen genügen, um einige Besonderheiten der italienischen Rechtsprechung zu den Grundrechten zu verdeutlichen. Rechtsvergleichend lassen sie sich nicht allein auf eine eher republikanische, den Gleichheitssatz aktivierende und die Bürgerpflichten ernst nehmende Grundrechtskultur diesseits der Alpen reduzieren, die teils von liberalen, der Garantie der allgemeinen Handlungsfreiheit verpflichteten, teils von sozialen Ideen gespeist sind. Die Bedeutung der Kontrolle der „ragionevolezza“, also der Angemessenheit einer Maßnahme, gibt dieser Judikatur eher einen auf angelsächsische und naturrechtliche Pragmatik als auf analytische und konstitutionelle Dogmatik ausgerichteten Stil. Gemeineuropäische Konvergenzen konkurrieren, überwiegen in ihrer Gesamtheit aber im Vergleich zu nationalen Sonderwegen und Divergenzen. In den konkreten, auch menschenrechtssensibleren Grundrechtsfragen der in diesem Beitrag nur skizzierten Besonderheiten spiegelt sich vielleicht eine gewisse Unruhe des Verfassungsgerichtshofs, jedoch kein allgemeines Unbehagen an der italienischen Verfassung. Freilich gilt für jeden vergleichenden Schluss: „Das Aussehen des Himmels wisst ihr zu beurteilen, die Zeichen der Zeit aber könnt ihr nicht beurteilen“ (Matthäus 16, 2–3). 22

BVerfGE 135, 259 ff. (Leitsatz 1 sowie Rn. 60, 66, 76 und 83).

Die Rolle der ordentlichen Gerichtsbarkeit im Grundrechtsschutz und die Kultur aus verfassungsrechtlicher Sicht Kommentar Susana de la Sierra

I. Einleitung Verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz ist in Rechtsordnungen wie jenen Deutschlands und Spaniens das Ergebnis von Neuerungen des Bonner Grundgesetzes (GG) von 1949 und der spanischen Verfassung (SpV) von 1978. In beiden Fällen kann dies als eine Reaktion auf entsprechende negative politische Erfahrungen bewertet werden.1 Die Einführung von Rechtsbehelfen wie der Verfassungsbeschwerde in Deutschland oder dem „recurso de amparo“ in Spanien sind wichtige Errungenschaften für den individuellen Grundrechtsschutz. Darüber hinaus hat die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, welche die Grundrechte auslegt, zur Entwicklung einer allgemeinen Grundrechtstheorie beigetragen.2 Trotz alledem, und auch wenn die entscheidende Rolle der Verfassungsgerichte hervorgehoben werden muss, soll in diesem Beitrag die Tätigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit3 zum Schutze der Grundrechte behandelt und unterstrichen werden.4 Dies beantwortet teilweise die Frage, wer die Grundrechte schützt und wie weit dieser Schutz reicht. Grundrechte werden in erster Instanz und im Alltag bei der ordentlichen Gerichtsbarkeit auf Klagen gestützt, die von den Einzelnen erhoben werden. Durch solche Klagen wird individueller Rechtsschutz begehrt, aber sie sind auch bedeutungsvoll, um eine allgemeine Rechtsprechung zu entwickeln. Wie die ordentlichen Gerichte dies tun, insbesondere was für eine Rolle 1 Siehe ganz früh (1982) in Spanien das Werk von García de Enterría, Eduardo, La Constitución como norma jurídica y el Tribunal Constitucional, jetzt in Civitas, 4. Aufl., Madrid 1992. 2 Siehe Díez-Picazo, Luis, Sistema de derechos fundamentales, Civitas, 4. Aufl., Madrid 2013. 3 Hier wird der Begriff „ordentliche Gerichtsbarkeit“ im spanischen Sinne verstanden, der alle Gerichtsbarkeiten (Zivil-, Straf-, Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeit) unterhalb des Verfassungsgerichts umfasst. 4 So Martín-Retortillo, Lorenzo, Contra el recurso de amparo, in: Martín-Retortillo, Lorenzo, Materiales para una Constitución, Madrid 1984, S. 193–199.

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der „Oberste Verwaltungsgerichtshof“5 (Tribunal Supremo) heute hat, wird in den folgenden Zeilen dargestellt. Bedeutend ist auch, wie das Verfassungsgericht (Tribunal Constitucional) in Spanien bestimmte Freiheitsrechte, die nach spanischem Verfassungsverständnis keine Grundrechte im engeren Sinne sind,6 schützt und weiterentwickelte Rechte, wie jene, die aus dem Begriff „Kulturstaat“ stammen; sie sind mit dem Sozialstaat und darüber hinaus auch mit der Autonomie der Autonomen Gemeinschaften verknüpft. Deswegen wird dieser Aspekt am Ende des Beitrags behandelt.

II. Die Rolle der ordentlichen Gerichtsbarkeit bei der Gewährleistung des Grundrechtsschutzes Die ordentliche Gerichtsbarkeit ist sowohl in Deutschland als auch in Spanien der gewöhnliche Rechtsweg für den Grundrechtsschutz. Dies leitet sich aus Artikel 19 Absatz 4 GG ab und spiegelt sich auch in Artikel 24 Absatz 1 SpV wider.7 In der Tat, Autoren wie Lorenzo Martín-Retortillo, der eine aktive Rolle im Prozess der Verfassungsgebung spielte, haben sich sogar gegen die Einführung des „recurso de amparo“ gewandt, eben weil sie den ordentlichen Rechtsweg stärken wollten.8 Auch wenn die Einführung des „recurso de amparo“ in das spanische Recht positiv zu bewerten ist, muss festgestellt werden, dass das spanische Verfassungsgericht seit langem unter einer Flut von Verfassungsbeschwerden leidet, weshalb der Einzelne den effektiven Schutz seiner Rechte auf anderem Weg suchen muss, nämlich auf dem „ordentlichen“ Rechtsweg. Dies wurde seit der Reform des „recurso de amparo“ im Jahr 2007 erforderlich, die den engeren Begriff der „especial trascendencia constitutional“ (objektive und grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung) eingeführt hat.9 Dadurch wurde der Weg zum Verfassungsgericht verengt. Seitdem 5 Der Oberste Gerichtshof Spaniens ist, wie unten erklärt wird, in fünf Senate gegliedert. Der dritte Senat ist für das Verwaltungsrecht zuständig und wird als „Sala de lo ContenciosoAdministrativo“ bezeichnet. Es gibt also keinen Obersten Verwaltungsgerichtshof im engeren Sinne, da in Spanien kein Oberster Gerichtshof ausschließlich für das Verwaltungsrecht zuständig ist. Jedoch bezieht sich die Lehre im Verwaltungsrecht üblicherweise allgemein auf das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof), auch wenn man spezifisch die Rechtsprechung des dritten Senats meint. Deshalb und auch weil in Deutschland ein Bundesverwaltungsgericht existiert, wird hier der Begriff Tribunal Supremo oder „Oberster Verwaltungsgerichtshof“ verwendet, womit die „Sala de lo Contencioso-Administrativo“ gemeint ist. 6 Vgl. dazu Blanke, Hermann-Josef, in diesem Band. 7 „Jede Person hat bei der Ausübung ihrer legitimen Rechte und Interessen Anspruch auf wirksamen Schutz durch Richter und Gerichte. In keinem Fall darf es zu Verteidigungslosigkeit kommen.“ 8 Martín-Retortillo (Fn. 4). 9 Siehe hierzu Arroyo Jiménez, Luis, El recurso de amparo y la „especial trascendencia constitucional“, https://almacendederecho.org/. Das spanische Tribunal Constitucional hat sich mit dem Begriff „objektive und grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung“ im Vergleich zum deutschen Begriff der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedeutung im

Kommentar

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wurden weit weniger Beschwerden für zulässig erklärt, und zwar nur diejenigen, die ein allgemeines und objektives Interesse und nicht nur ein tatsächliches, individuelles Interesse verfolgen, und in denen es daher nur um einen theoretischen Rechtsschutz geht. Dieses objektive und allgemeine Interesse kann auf verschiedene Weise begründet werden, wie das Tribunal Constitucional selbst es in seiner Entscheidung vom 25. Juni 200910 bestimmt hat. Die Reform wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seiner Entscheidung vom 20. Januar 2015 (Arribas Antón vs. Spanien) als konventionskonform erachtet.11 Seitdem geht die Zahl der vom Verfassungsgericht angenommenen Beschwerden zurück. So wurden im Jahr 2018 nur 116 recurso de amparo-Verfahren (von insgesamt 6.774 Beschwerden) angenommen, d. h. 1,67 % der Beschwerden insgesamt. Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung des ordentlichen Rechtswegs immer offenkundiger. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit spielt hier eine Sonderrolle, da sie nicht nur die Verwaltung i. e. S., sondern die öffentliche Gewalt in einem umfassenden Sinne kontrolliert. Im Grundsatz geht es darum, alle Beeinträchtigungen der Rechtspositionen der Einzelnen durch die öffentliche Gewalt zu verhindern bzw. ihre früheren Rechtspositionen, soweit möglich, wiederherzustellen. Vor diesem Hintergrund wächst dem Tribunal Supremo eine neue Rolle zu. So ist es auch beim Rechtsschutz gegen Grundrechtsverletzungen praktisch zur letzten Instanz geworden. Im Folgenden wird die Rolle des Tribunal Supremo nach der Reform von 2015 dargestellt, nicht nur aus einer verfahrensrechtlichen, sondern auch aus einer organisatorischen Perspektive.

III. Rolle und Funktion der Obersten Verwaltungsgerichte am Beispiel des spanischen Tribunal Supremo 1. Der spanische Verwaltungsgerichtshof nach der Reform des Revisionsverfahrens Am 22. Juli 2016 trat die Reform des Revisionsverfahrens in der spanischen Verwaltungsgerichtsbarkeit in Kraft. Ziel der Reform war es, die Qualität der Justiz allgemein zu verbessern und damit das Recht auf effektiven Rechtsschutz zu stärBeschluss (Auto) 29/2011 v. 17.3. beschäftigt; siehe auch Ortega Gutiérrez, David, La especial trascendencia constitucional como concepto jurídico indeterminado. De la reforma de 2007 de la LOTC a la STC 155/2009, de 25 de junio, Teoría y realidad constitucional, 25/2010, S. 497–513. 10 Vgl. die Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichtshofs (STC / Sentencia del Tribunal Constitucional) 155/2009. 11 Zur Beziehung zwischen dem spanischen Verfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte seit der Reform siehe (kritisch) Ripoll Carulla, Santiago, Un nuevo marco de relación entre el Tribunal Constitucional y el Tribunal Europeo de Derechos Humanos, Revista Española de Derecho Internacional 2014, S. 11–53.

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ken.12 Der regierungsabhängige Kodifikationsausschuss setzte zu diesem Zweck einen Unterausschuss ein, der die spezielle Situation der Verwaltungsgerichtsbarkeit analysieren und geeignete gesetzgeberische Maßnahmen vorschlagen sollte. Es entstand ein veröffentlichter Bericht,13 der verschiedene Reformen vorschlug. So wurden etwa Instrumente im Sinne der „alternative dispute resolution“, einschließlich der Mediation und des Anerkenntnisses, gefordert. Als notwendig wurden zudem die Standardisierung von zwei Instanzen in der Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie die Reform des Revisionsverfahrens angesehen. Auch die Arbeitsbelastung des spanischen Verwaltungsgerichtshofs hatte zu jenem Zeitpunkt ein Maß erreicht, das zu erheblichen Verfahrensverzögerungen führte. So wurden Rechtssachen erst Jahre nach der Erhebung der Klagen entschieden. Dies erschwerte einerseits den individuellen Rechtsschutz und andererseits einen effektiven Rechtsschutz zulasten der Gesamtheit der Rechtssuchenden. Letzteres vor allem deshalb, weil der Zugang zum Revisionsverfahren sehr eng mit dem Streitwert der jeweiligen Rechtssache verbunden war. Denn nur wenn der Streitwert höher als 600.000 Euro war, durfte die Klage angenommen werden. Von allen Empfehlungen des Unterausschusses wurde lediglich die Reform des Revisionsverfahrens umgesetzt; die weiteren Vorschläge wurden nicht aufgegriffen und müssen deshalb weiterverfolgt werden. Das „Organgesetz“ (Ley O ­ rgánica) 7/2015 vom 21. Juli, welches das „Organgesetz“ 6/1985 vom 1. Juli über die Judikative (Ley Orgánica del Poder Judicial) neu geregelt hat, führte zugleich auch zu Änderungen des Gesetzes 29/1998 vom 13. Juli über die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Ley reguladora de la Jurisdicción Contencioso-Administrativa). Schwerpunkt der Reform war die Einführung des Begriffs „objektives Revisionsinteresse“ (interés casacional objetivo),14 dessen Vorliegen erst den Zugang zum Senat (Sala) für Verwaltungsrechtsangelegenheiten des Tribunal Supremo eröffnet. Dieses Gericht sucht gemäß dem genannten Kriterium die Rechtssachen aus, in denen es um ein allgemeines Interesse geht, um auf diese Weise seine Rechtsprechung weiterzuentwickeln. Eine Klage wird in diesem Fall für zulässig erklärt und die Entscheidung in Form allgemeiner Leitsätze bzw. einer über den betroffenen Einzelfall hinausreichenden Rechtsauslegung formuliert.

12

Aus der umfangreichen Literatur siehe Cazorla Prieto, Luis María, Cancio Fernández, Raúl César (Hrsg.), Estudios sobre el Nuevo Recurso de Casación Contencioso-Administrativo, Pamplona 2017; Navarro Vega, Belén (Hrsg.), Recientes reformas de la Ley de la Jurisdicción Contencioso-Administrativa, Valencia 2017; Santamaría Pastor, Juan Alfonso, Dos años del nuevo recurso de casación, Revista Galega de Administración Pública 2019, S. 241–260. 13 Siehe Velasco, Francisco (Hrsg.), Informe explicativo y propuesta de anteproyecto de ley de eficiencia de la Jurisdicción Contencioso-Administrativa, Ministerio de Justicia, 2013. 14 Siehe Cancio Fernández, Raúl C., Cazorla Prieto, Luis Mª (Hrsg.), El interés casacional objetivo en su interpretación auténtica. Pautas hermenéuticas y cuestiones procesales en la nueva casación, Pamplona 2018.

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2. Der Schutz der Grundrechte im neuen Szenario Das Tribunal Supremo besteht aus fünf Senaten, wobei der Dritte Senat (Sala de lo Contencioso-Administrativo), der für die verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten zuständig ist, sich aus etwa 30 Richtern zusammensetzt. Dieser Dritte Senat ist mit dem deutschen Bundesverwaltungsgericht oder dem französischen Conseil d’Etat vergleichbar und untergliedert sich seinerseits in Kammern („Secciones“). Die Vierte Kammer ist für den Grundrechtsschutz zuständig, und zwar für das mit Blick auf den Grundrechtsschutz eingerichtete Sonderverfahren, das in der Verfassung vorgesehen ist und gesetzlich ausgestaltet wurde.15 Bevor ein „recurso de amparo“ vor dem Verfassungsgericht erhoben werden kann, muss der Rechtsweg auch mittels der Anrufung der Sala de lo Contencioso-Administrativo erschöpft sein. Fast vier Jahre sind seit dem Inkrafttreten der Reform vergangen. In dieser Zeit wurden bedeutende Klagen für zulässig erklärt und Entscheidungen getroffen. Viele von ihnen betreffen die Rechte der politischen Parteien und der Vertreter in den Kommunen, also im Gemeinderat. Hier ist Artikel 23 Absatz 1 SpV betroffen, der lautet: „Die Bürger haben das Recht, an den öffentlichen Angelegenheiten direkt oder durch in periodischen, allgemeinen Wahlen frei gewählte Vertreter teilzunehmen.“ Diese Garantie betrifft auch das Recht der Gemeinderäte und hier vor allem der Opposition auf Information, was in der gerichtlichen Praxis dazu führte, dass die Vorlage bestimmter Dokumente von der Stadtregierung verlangt wurde. Dieses Recht ist auch betroffen, wenn ein Ratsherr, der Mitglied einer Ratsfraktion ist, aus der Fraktion grundlos ausgeschlossen wird.16 Bemerkenswert ist auch eine Anzahl von Klagen, die sich mit dem Wettbewerbsrecht aus einer grundrechtlichen Perspektive beschäftigen. Die spanische Wettbewerbsbehörde, die Staatliche Kommission für Märkte und Wettbewerb (Comisión Nacional de los Mercados y de la Competencia / CNMC), wurde mit anderen un­abhängigen Behörden unter ein und demselben Dach untergebracht. Sie wurde durch ein Gesetz errichtet17 und anlässlich einer Klage vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) als unionsrechtskonform angesehen.18 Seit einiger Zeit sanktioniert die CNMC das Verhalten von Mitgliedern von Gesellschaften des Privatrechts, die wettbewerbswidrige Entscheidungen treffen, wohingegen bis dahin nur eine juristische Person als solche zur Verantwortung gezogen wurde. Doch entschied 15

Über die Tätigkeit des Vierten Senats im neuen Revisionsverfahren vgl. De la Sierra, Susana, De defensa a personal pasando por los órganos constitucionales: una Sección omnicomprensiva, in: Cancio Fernández, Raúl C. / Cazorla Prieto, Luis Mª (Hrsg.), El interés casacional objetivo en su interpretación auténtica. Pautas hermenéuticas y cuestiones procesales en la nueva casación, Pamplona 2018, S. 159–184. 16 Entscheidung v. 24. Januar 2020, Klage N. 5035/2018. 17 Ley 3/2013, de 4 de junio, de creación de la Comisión Nacional de los Mercados y la Competencia. 18 EuGH v. 19.10.2016, C-424/15 (Xabier Ormaetxea Garai u. a.).

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die Behörde an einem bestimmten Punkt, dass auch das Verhalten der Vorstands­ mitglieder der wettbewerbswidrig handelnden Gesellschaften sanktioniert werden soll, etwa dann, wenn sie an einer unerlaubten Preisabsprache beteiligt sind. Die Klagen gegen solche Sanktionen erreichen dann oftmals das zuständige Gericht, die Audiencia Nacional, und zwar entweder nach Durchführung des ordent­ lichen Verfahrens oder eines Sonderverfahrens im Bereich des Grundrechtsschutzes, je nach der Prozessstrategie der Parteien. Die Audiencia Nacional hat die Sanktionen für rechtskonform erklärt, so dass der Weg zum Tribunal Supremo frei war. Die Klagen, die nach dem Sonderverfahren zum Grundrechtsschutz erhoben wurden, haben sodann die Vierte Kammer des Tribunal Supremo beschäftigt, wobei für diejenigen Rechtsmittel, die nach dem ordentlichen Verfahren eingelegt werden, die Dritte Kammer zuständig ist. Die zu entscheidende Rechtsfrage war in den beiden Fällen, über die entweder die Dritte oder die Vierte Kammer zu entscheiden hatte, nicht identisch. Allein die Vierte Kammer hat sich unmittelbar mit dem Grundrechtskonflikt beschäftigt. Notwendig war eine Auslegung des Artikels 63 Absatz 2 Wettbewerbsgesetz19 und insbesondere eine Antwort auf die Frage, ob eine Sanktion, die von der CNMC verhängt worden war, Artikel 25 SpV (nulla poena sine lege)20 und die Grundsätze des Verwaltungsstrafrechts – insbesondere das Legalitätsprinzip und den Bestimmtheitsgrundsatz – verletzt. Das Tribunal Supremo hat dies bejaht.21 3. Ein Wandel der Theorie der Gewaltenteilung? Die neue Rolle des Tribunal Supremo entspricht der Situation in anderen Ländern, in denen den obersten Gerichten in jüngerer Zeit häufig die Aufgabe übertra­ gen wurde, gesetzliche Bestimmungen auszulegen. Diese Funktion folgt dem Muster anderer hoher Rechtsprechungsorgane, namentlich des U. S. Supreme Court.22 Diese Rolle unterscheidet sich von der üblichen Tätigkeit eines gericht­lichen Organs, Recht zu sprechen. Zwar bleibt diese klassische Funktion der Rechtsprechung auch im Rahmen der Überprüfung von staatlichen Maßnahmen am Maßstab der Grundrechte bestehen, doch ist sie nur akzidentiell, da es das Ziel solcher Verfahren ist, die Rechtssicherheit im Allgemeinen durch eine einheitliche oberste Rechtsprechung zu gewährleisten.

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Ley 15/2007, de 3 de julio, de Defensa de la Competencia. „Niemand darf auf Grund von Taten oder Unterlassungen bestraft oder verurteilt werden, die zum Zeitpunkt ihrer Ausführung und gemäß der geltenden Gesetzgebung kein Delikt und keine Übertretung oder Verletzung von Verwaltungsbestimmungen darstellen.“ 21 Entscheidung v. 1. Oktober 2019, Klage N. 5280/2019. 22 Der Bericht zur Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit bezieht sich ausdrücklich auf dieses Modell; siehe oben Fn. 13. 20

Kommentar

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Durch diese neue Funktion ändert sich die Dimension der Rechtsschutzgewährung seitens der obersten Gerichte,23 da sie eher einer gesetzgeberischen und weniger einer gerichtlichen gleicht. Man könnte dies als einen Wandel der Gewaltenteilung in einem modernen Sinne ansehen. Das Tribunal Supremo übernimmt hierdurch eine eher beratende Rolle, wie sie historisch den königlichen Räten in Staaten wie Spanien anvertraut war. Jedoch ist dessen Macht im Vergleich zu diesen Räten sehr viel größer, da ihm der Gesetzgeber das Recht des letzten Wortes zuerkannt hat. Die „Normen“, hier im Sinne von Gesetzen als auch der sie umsetzenden Maßnahmen zu verstehen, eröffnen oftmals bei ihrer Auslegung einen weiten Spielraum. Manchmal ist dies Absicht, wobei in der Regel der Gesetzgeber oder die Verwaltung schlicht nicht fähig ist, die den Spielraum eröffnenden Regelungslücken zu identifizieren bzw. es im Vorfeld der Umsetzung nicht möglich erscheint, alle Regelungsszenarien zu erkennen. Dieser Wandel bringt das System der Gewaltenteilung infolge der neu gewonnenen Funktion der Judikative aus dem Gleichgewicht, weil sie zu einer übermächtigen Gewalt aufsteigt, auch und gerade im Bereich des Grundrechtsschutzes.

IV. Die Kultur aus einer grundrechtlichen Perspektive Unter den sehr unterschiedlichen Fragen, die sich im Bereich des Grundrechtsschutzes ergeben, wird für dieses abschließende Kapitel ein nicht ganz übliches Beispiel ausgewählt, nämlich die verfassungsrechtliche Anerkennung des Rechts auf Zugang zur Kultur. Dieser Aspekt erscheint in der heutigen Gesellschaft wichtig, zunächst wegen der Theorie vom Kulturstaat, der zufolge die Kultur ein (Staats-)Ziel und damit eine Aufgabe der öffentlichen Gewalt ist. Daraus ergibt sich eine Pflicht des Staates, die Bürger mit kulturellen Gütern zu versorgen. Die Lehre vom Kulturstaat ist in Deutschland24 und in Italien25 entwickelt worden und wurde hier als ein weiterer Schritt hin zum Sozialstaat konzipiert. Die öffentliche Gewalt wurde daher verpflichtet, zugunsten der Bürger einen Spielraum zu schaffen, der ihnen einen Zugang zur Kultur erlaubt, zugleich aber auch kulturelle Aktivitäten ermöglicht. Zuerst muss erklärt werden, was unter „Kultur“ zu verstehen ist. Dieser Begriff kann im engeren und im weiteren Sinne verstanden werden. Kultur im engeren 23

Zur heutigen Funktion der Obersten Gerichten vgl. Tartuffo, Michele / Marinoni, Luiz ­Guilherme  / Mitidero, Daniel (Hrsg.), La misión de los tribunales supremos, Madrid u. a. 2016; in diesem Sinne auch De la Sierra, Susana, El recurso de casación contencioso-administrativo en el marco de las mutaciones de la justicia administrativa, in: Bustillo Bolado, Roberto (Hrsg.), Cuadernos divulgativos del Observatorio de Estudios sobre Corrupción Pública, A Coruña 2020. 24 Siehe u. a. Häberle, Peter, Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: Häberle, Peter (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, Darmstadt 1982, S. 35 ff. 25 Spagna Musso, Enrico, Lo Stato di cultura, Neapel 1961.

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Sinne bezieht sich auf die Rechte der dritten Generation, die die öffentliche Gewalt dazu verpflichten, bestimmte Güter und Tätigkeiten – wie die Künste und kulturelle Traditionen – zu schützen und zu fördern. Kultur im weiteren Sinne erfüllt hingegen auch eine politische Funktion, da sie als Begriff namentlich der politischen Autonomie der Autonomen Gemeinschaften (Comunidades ­Autónomas) zugrunde liegt.26 Dies bedeutet, dass eine gemeinsame Kultur Grundlage einer politischen Institution sein kann. Unter Kultur versteht man insoweit eine Anzahl von Gewohnheiten und Lebensansichten, durch die eine bestimmte Gemeinschaft von Menschen zu der „eigenen“ wird. Auf internationaler Ebene wird dieser Begriff durch rechtliche Instrumente geschützt, wie insbesondere das Übereinkommen der UNESCO über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen (2005/2007), das als Magna Charta der internationalen Kulturpolitik bezeichnet wird. Die politische Bedeutung der Kultur erklärt auch den Sinn ihrer Rolle im Kompetenzgefüge des Zentralstaates und der Autonomen Gemeinschaften nach der spanischen Verfassung. Die nicht übertragbaren Kompetenzen des Staates wurden in Artikel 149 Abs. 1 SpV eingefügt, wobei nach dem Katalog des Artikels 148 SpV die Autonomen Gemeinschaften Zuständigkeiten im Bereich der „Förderung der Kultur“ übernehmen können. Diese Zuständigkeiten wurden in ihrem jeweiligen Autonomiestatut aufgelistet. Artikel 149 Abs. 2 SpV bezieht sich auf den „Dienst an der Kultur“ als eine Pflicht und wesentliche Aufgabe des Gesamtstaates: „Unbeschadet der Zuständigkeiten, die die Autonomen Gemeinschaften übernehmen können, betrachtet der Staat den Dienst an der Kultur als eine Pflicht und wesentliche Aufgabe und erleichtert in Übereinstimmung mit den Autonomen Gemeinschaften den kulturellen Austausch zwischen ihnen.“ Die Kultur als staatliche Pflichtaufgabe ist mit der Betrachtung verknüpft, dass der Zugang zur Kultur ein Grundrecht ist, wie es in der spanischen Verfassung anerkannt wird. So lautet Artikel 44 Absatz 1 SpV: „Die öffentlichen Gewalten fördern und unterstützen den Zugang zur Kultur, auf den jedermann ein Recht hat.“ Diese Garantie findet sich im Kapitel III des Ersten Titels der Verfassung („Die Grundrechte und -pflichten“), das die Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik auflistet. Im engeren Sinne ist der Zugang zur Kultur kein Grundrecht, weshalb es nicht im Wege eines „recurso de amparo“ geltend gemacht und geschützt werden kann. Artikel 44 SpV enthält gleichwohl einen Auftrag an die öffent­lichen Gewalten, dieses Recht zu gewährleisten. Hierzu steht ihnen eine Vielfalt von Möglichkeiten offen: (1) die Schaffung kultureller Einrichtungen wie Museen oder Bibliotheken; (2) Förderungsmaßnahmen wie Sondertarife oder kostenfreie Eintrittskarten für bestimmte Gesellschaftsgruppen (Minderjährige, Arbeitslose, Rentner); (3) Beihilfen für die Entwicklung kultureller bzw. künstlicher Tätigkeiten und Güter wie Theaterstücke, Musikfestspiele oder Filme.

26

Prieto de Pedro, Jesús, Cultura, culturas y Constitución, Madrid 1992.

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Aus einer verfassungsrechtlichen Sicht ist die Frage der Beihilfen von besonderer Bedeutung, da das Verfassungsgericht sich damit mehrmals beschäftigt hat. In einer frühen Entscheidung vom 5. April 198427 legte es die interpretatorischen Grundlagen hinsichtlich der Kompetenzverteilung zwischen dem Staat und den Autonomen Gemeinschaften im Bereich der Kultur. Aus Artikel 149.2 SpV leitete es ab, dass sowohl der Staat als auch die Autonomen Gemeinschaften die Kultur fördern dürfen. Nachfolgende Entscheidungen haben diese Doktrin weiterentwickelt, immer bezogen auf die grundlegenden Aussagen des Gerichts zu Kulturbeihilfen. So wurde nach der Entscheidung vom 6. Februar 199228 klar, dass diese Beihilfen nicht den Kompetenzkatalog verändern dürfen. Deshalb kann nur im Fall einer Zuständigkeit einer öffentlichen Gewalt – Staat oder Autonome Gesellschaft – eine Beihilfe gewährt werden. Im Grundsatz soll allerdings der Staat das Geld an die Autonomen Gesellschaften überweisen, wenn die Beihilfeleistung in einem Zusammenhang mit ihren Kompetenzen steht. Eine Ausnahme hiervon ist dann anzunehmen, wenn ein allgemeiner staatlicher Förderungsbedarf besteht. Dann kann der Staat die Kulturbeihilfen auch unmittelbar gewähren.

27 28

Vgl. STC 49/1984. Vgl. STC 13/1992.

Einwirkungen des Unionsrechts und der EMRK auf die nationalen Verfassungen Moderation: Siegfried Magiera

Die Einwirkungen des Unionsrechts und der EMRK auf das Grundgesetz Peter M. Huber Zu den Wesensmerkmalen der europäischen Integration gehört die Europäisierung1 des nationalen Rechts, auch des Verfassungsrechts. Die damit umschriebene Durchdringung, Überformung und Verdrängung der Institute und Wertungen des nationalen Verfassungsrechts durch unionsrechtliche Maßstäbe und Direktiven ist heute ein flächendeckendes Phänomen und reicht von den Grundrechten über die Staatsstrukturprinzipien und Einzelfragen des öffentlichen Dienstrechts bis zur Finanzverfassung. Das mag auf den ersten Blick überraschen, ist die Europäische Union (EU) doch kein Bundesstaat und ihren Mitgliedstaaten keineswegs übergeordnet,2 sondern ein Staaten-, Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsverbund, der seine Grundlagen in völkerrechtlichen Verträgen zwischen den Mitgliedstaaten findet. Diese Verträge sind zwar – wie auch die sie erst ermöglichenden Verfassungsregelungen der Mitgliedstaaten – Grundlage einer weitgehend eigenständigen, jedoch nicht wirklich autonomen (Teil-)Rechtsordnung geworden. Nicht nur politisch, auch rechtlich gesehen bleibt die EU abhängig von ihren Mitgliedstaaten, die, wie eine ständige Redewendung des Bundesverfassungsgerichts lautet, „Herren der Verträge“3 sind und bleiben, und die deshalb auch durch nationalen Rechtsanwendungsbefehl darüber entscheiden, ob und inwieweit das Unionsrecht Geltung und Vorrang in ihrer (Teil-)Rechtsordnung beanspruchen kann. Rechtsakte von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU sind in den einzelnen Mitgliedstaaten daher nur anwendbar, wenn sie sich im Rahmen des durch die jeweilige verfassungsmäßige Ordnung Erlaubten halten.

1

Zum Begriff Schmidt-Aßmann, Eberhard, Zur Europäisierung des allgemeinen Verwaltungsrechts, in: Badura, Peter / Scholz, Rupert (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens: Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag, München 1993, S. 513, mwN Fn. 2. 2 So für das Verhältnis von Bund und Ländern in Deutschland BVerfG (K), Beschl. v. 16.12.2016  – 2 BvR 349/16; BayVerfGH, BayVBl 1991, S. 561; Huber, Peter M., in: Sachs (Hrsg.), GG, 9. Aufl., München 2020, Präambel Rn. 23. 3 Vgl. BVerfGE 75, 223 (242) – Kloppenburg; 89, 155 (190) – Maastricht; 123, 267 (348 f., 381 ff.) – Lissabon; 126, 286 (302 f.) – Honeywell; 134, 366 (384 Rn. 26) – OMT-Vorlage; 142, 123 (196 Rn. 140) – OMT; BVerfG, Urt. v. 30.7.2019 – 2 BvR 1685/14, Rn. 300 – Bankenunion.

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I. Grundlagen und Grenzen offener Staatlichkeit in Deutschland In Deutschland bestimmt Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, dass die Bundesrepublik Deutschland an der Gründung und Fortentwicklung der EU mitwirkt. Damit ist zugleich ein Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen für das Unionsrecht verbunden,4 dessen einheitliche Geltung und praktische Wirksamkeit Voraussetzung für den Erfolg der EU und die Erreichung ihrer vertraglichen Ziele ist.5 Als Rechtsgemeinschaft von derzeit 27 Mitgliedstaaten könnte sie nicht bestehen, wenn einheitliche Geltung und Wirksamkeit des Unionsrechts nicht im Grundsatz gewährleistet wären.6 Mit der in Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG enthaltenen Ermächtigung, Hoheitsrechte auf die EU zu übertragen, billigt das Grundgesetz daher auch die im Zustimmungsgesetz zu den Verträgen implizit enthaltene Einräumung eines Anwendungsvorrangs zugunsten des Unionsrechts. Dieser Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht gilt grundsätzlich auch mit Blick auf entgegenstehendes nationales Verfassungsrecht7 und führt bei einer Kollision in aller Regel zur Unanwendbarkeit des nationalen Rechts im konkreten Fall.8 Auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 GG kann der Integrationsgesetzgeber darüber hinaus nicht nur Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der EU, soweit sie in Deutschland öffentliche Gewalt ausüben, von einer Bindung an die Gewährleistungen des Grundgesetzes freistellen, sondern auch die Bindung deutscher Stellen, die Unionsrecht durchführen, lockern bzw. zurücknehmen.9 Das gilt sowohl für die Gesetzgeber auf Bundes- und Landesebene, wenn diese Sekundär- oder Tertiärrecht umsetzen, ohne dabei über einen Gestaltungsspielraum zu verfügen,10 als auch für Behörden und Gerichte, wenn sie Unionsrecht vollziehen müssen. Der im Zustimmungsgesetz enthaltene Rechtsanwendungsbefehl kann allerdings nur im Rahmen der Verfassung erteilt werden.11 Auch der Anwendungsvorrang des Unionsrechts reicht daher nur soweit, wie das Grundgesetz und die Zustimmungsgesetze zu den Integrationsverträgen die Übertragung von Hoheits-

4 Vgl. BVerfGE 126, 286 (302) – Honeywell; 140, 317 (335 Rn. 37) – Identitätskontrolle I; 142, 123 (186 f. Rn. 117) – OMT. 5 Vgl. BVerfGE 73, 339 (368) – Solange II; 123, 267 (399) – Lissabon; 126, 286 (301 f.) – Honeywell; 140, 317 (335 Rn. 37) – Identitätskontrolle I; 142, 123 (186 f. Rn. 117) – OMT. 6 Vgl. grundlegend EuGH, Urt. v. 15.7.1964, 6/64, ECLI:EU:C:1964:66 – Costa / ENEL. 7 Vgl. BVerfGE 129, 78 (100); 142, 123 (187 Rn. 118) – OMT. 8 Vgl. BVerfGE 126, 286 (301); 140, 317 (335 Rn. 38) – Identitätskontrolle I; 142, 123 (187 Rn. 118) – OMT; BVerfG, Beschl. v. 4.11.2015 – 2 BvR 282/13, 2 BvQ 56/12, Rn. 15, 19. 9 Vgl. Streinz, Rudolf, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, Baden-Baden 1989, S. 247 ff. 10 Vgl. BVerfGE 118, 79 (95); 122, 1 (20); 142, 123 (187 Rn. 119) – OMT. 11 Vgl. BVerfGE 123, 267 (402) – Lissabon; 140, 317 (336 Rn. 40) – Identitätskontrolle I; 142, 123 (187 f. Rn. 120) – OMT.

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rechten erlauben oder vorsehen.12 Somit ergeben sich einerseits ausweislich des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG aus der in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegten Verfassungsidentität des Grundgesetzes und anderseits aus dem im Zustimmungsgesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG niedergelegten Integrationsprogramm, das dem Unionsrecht für Deutschland erst die notwendige demokratische Legitimation verleiht, Grenzen für die offene Staatlichkeit Deutschlands, die das Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Identitäts-13 und der Ultra-vires-Kontrolle14 überwacht.

II. Europäisierung von Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip 1. Parlamentsvorbehalt und Wesentlichkeitsdoktrin (Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG) In der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes fällt dem aus demokratischen Wahlen hervorgegangenen Parlament die Rolle des zentralen Leitungsund Steuerungsorgans zu.15 Seine wesentliche Konkretisierung erfährt dies im Parlamentsvorbehalt sowie in den überkommenen rechtsstaatlichen Grundsätzen vom Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes. Umfang und Reichweite des Parlamentsvorbehalts sowie der rechtsstaatliche Vorbehalt des Gesetzes stellen in der Ausgestaltung, die sie durch die Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erhalten haben,16 sicher, dass alle politischen Entscheidungen, die für das Gemeinwesen oder den Einzelnen von einigem Gewicht sind, durch das Parlament selbst getroffen werden. Die parlamentarische Verhandlung soll eine breitere Entscheidungsgrundlage, eine größere Abgewogenheit der Sachent­ scheidung und eine höhere Transparenz des Entscheidungsfindungsprozesses gewährleisten. Der Vorrang des Gesetzes eröffnet dem Parlament zudem ein Zugriffsrecht auf alle Gegenstände, die nicht in den Kernbereich einer der anderen „Gewalten“ verwiesen sind.17

12

Vgl. BVerfGE 73, 339 (375 f.) – Solange II; 89, 155 (190) – Maastricht; 123, 267 (348 ff.) – Lissabon; 126, 286 (302) – Honeywell; 129, 78 (99); 134, 366 (384 Rn. 26) – OMT-Vorlage; 140, 317 (336 Rn. 40 – Identitätskontrolle I; 142, 123 (187 f. Rn. 120) – OMT. 13 Anwendungsfälle: BVerfGE 89, 155 ff. – Maastricht; 123, 267 ff. – Lissabon; 140, 317 ff. – Identitätskontrolle I. 14 Anwendungsfälle: BVerfGE 126, 286 ff. – Honeywell; 134, 366 ff. – OMT-Vorlage; 142, 123 ff. – OMT; 143, 65 ff. – CETA; 146, 216 ff. – PSPP-Vorlage; BVerfG, Urt. v. 30.7.2019 – 2 BvR 1685/14, Rn. 300 – Bankenunion; BVerfG, Beschl. v. 7.11.2019 – 2 BvR 882/19 – EUFSTA.  15 Mößle, Wilhelm, Regierungsfunktion des Parlaments, München 1986; Kirchhof, Paul, Das Parlament als Mitte der Demokratie, in: Huber, Peter M. / Brenner, Michael / Möstl, Markus (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel: Festschrift für Peter Badura zum siebzigsten Geburtstag, 2004, S. 237 ff. 16 BVerfGE 47, 46 (78); 77, 170 (230). 17 BVerfGE 49, 89 (124 f.) – Kalkar; 67, 100 (139); 68, 1 (86 ff.).

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Je mehr die Zuständigkeit zur Regelung dermaßen „wesentlicher“ Angelegenheiten allerdings auf die Ebene der EU verlagert wird und je breiter der Anwendungsbereich des Mehrheitsprinzips im Rat dabei ausfällt (Art. 16 Abs. 3 und 4 EUV), desto mehr wird auch das Parlament aus seiner Rolle als Mitte der Demokratie zugunsten der im Rat vertretenen Regierung verdrängt. Deshalb fällt es den Parlamenten auf Bundes- und Landesebene immer schwerer, die ihnen durch das Rechtsstaatsprinzip, das Demokratieprinzip und den Grundsatz der Gewaltenteilung zugewiesene Funktion auszufüllen. Vielfach in die Rolle eines Notars gedrängt, der von der Exekutive im Rat beschlossene perfektionistische Richt­ linien nurmehr wortgetreu in innerstaatliches Recht zu transformieren hat, kann die Auseinandersetzung um die beste Politik in den nationalen Parlamenten immer seltener geführt werden. Parlamentsvorbehalt und Wesentlichkeitsdoktrin sind insoweit nurmehr ein Schatten ihrer selbst.18 Dies ist nicht grundsätzlich zu beanstanden. Aus der Eigenart der EU folgt nämlich, dass das von den Regierungen beschickte Organ, der (Europäische) Rat (Art. 15 f. EUV), in erster Linie dazu berufen ist, für den Staatenverbund zu handeln und die Integration zu steuern. Die damit einhergehende Relativierung demokratischer Kontrolle und rechtsstaatlicher Gewährleistungen ist durch die Staatszielbestimmung für die europäische Integration legitimiert und lässt in erheblichem Umfang Abstriche von den Anforderungen der genannten Verfassungsgrundsätze zu.19 2. Die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts gestattet bzw. verpflichtet deutsche Behörden und Gerichte darüber hinaus, Parlamentsgesetze unangewendet zu lassen, wenn sie mit unionsrechtlichen Regelungen kollidieren. Einer Remonstration des Beamten (Arbeitnehmers) bei seinen Vorgesetzten bedarf es insoweit nicht.20 Das relativiert die rechtsstaatliche Bindung von Verwaltung und Gerichten an das demokratisch beschlossene Gesetz zugunsten häufig schwer vorhersehbarer und auf richterrechtliche Konkretisierung angewiesener Zielvorgaben. Dadurch verliert das nationale Gesetz seine Funktion als vorrangiges Instrument zur politischen Steuerung der Verwaltung und wandelt sich vom verlässlichen Maßstab ihrer gerichtlichen Kontrolle mehr und mehr zu einem Zufallsgenerator.21 Damit verliert zugleich der rechtsstaatliche Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes seine Basis.

18 Kohnen, Dominic, Die Zukunft des Gesetzesvorbehalts in der Europäischen Union, ­Baden-Baden 1998. 19 BVerfGE 89, 155 (182) – Maastricht. 20 EuGH, Urt. v. 22.6.1989, C-103/88, ECLI:EU:C:1989:256 – Costanzo / Mailand. 21 Huber, Peter M., Die entfesselte Verwaltung, StWiss 8 (1997), S. 423 (444 f.).

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3. Kommunalwahlrecht für Unionsbürger anderer Mitgliedstaaten Eine Modifikation bzw. Beschränkung des Demokratieprinzips sowie des Grundsatzes der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) bedeutet auch das Kommunalwahlrecht für Unionsbürger anderer Mitgliedstaaten, dessen (partielle) Einführung 1990 noch gescheitert war.22 Heute räumt Art. 22 Abs. 1 AEUV allen Unionsbürgerinnen und -bürgern, die nicht die Staatsbürgerschaft des Mitgliedstaates besitzen, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen im Wohnsitzmitgliedstaat ein. Diese Regelung wird durch die RL 94/80/EG23 konkretisiert und ist mittlerweile in Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG auch verfassungsrechtlich abgesichert worden. Sie gilt, richtig verstanden, auch für kommunale Bürgerbegehren und Bürgerentscheide.24 Verfassungsrechtlich gesprochen bleibt sie ein Einflussknick25 zulasten der Wählerinnen und Wähler in Deutschland – wie auch entsprechend für die Wählerinnen und Wähler in anderen Mitgliedstaaten der EU. 4. Staatsangehörigkeitsvorbehalt und Berufsbeamtentum In diesen Zusammenhang gehört schließlich die Europäisierung des Berufsbeamtentums. Art. 33 Abs. 5 GG enthält eine institutionelle Garantie,26 die das Berufsbeamtentum in seiner Funktionsfähigkeit im Interesse der Allgemeinheit erhalten und gewährleisten will, dass Beamtinnen und Beamte die ihnen zugewiesene Aufgabe, im politischen Kräftespiel und bei wechselnden Mehrheitsverhältnissen eine stabile, gesetzestreue Verwaltung zu sichern,27 aufgrund der ihnen zukommenden persönlichen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit auch tatsächlich 22

BVerfGE 83, 37 ff. – Kommunales Ausländerwahlrecht S. H.; 83, 60 ff. – Kommunales Ausländerwahlrecht H. H. 23 ABl. 1994 Nr. L 368/38. 24 BVerfG, Beschl. v. 31.3.2016  – 2 BvR 1576/13; BayVfGH, Entsch. v. 12.6.2013– Vf. ­11-VII-11. 25 BVerfGE 142, 123 (192 f. Rn. 131) – OMT; 146, 216 (256 Rn. 59) – PSPP-Vorlage; BVerfG, Urt. v. 30.7.2019  – 2 BvR 1685/14, Rn. 130 f.  – Bankenunion; Huber (Fn. 21), S. 423 (424); ­Huber, Peter M., Weniger Staat im Umweltschutz, DVBl. 1999, S. 489 (495). Der Begriff geht in seinem verwaltungswissenschaftlichen Kern zurück auf Wagener, Frido, Typen der verselbständigten Erfüllung öffentlicher Aufgaben, in: Wagner, Frido (Hrsg.), Verselbständigung von Verwaltungsträgern, Bonn 1976, S. 40; Storr, Stefan, Verfassungsrechtliche Direktiven des demokratischen Prinzips für die Nutzung privatrechtlicher Organisations- und Kooperationsformen durch die öffentliche Verwaltung, in: Bauer, Hartmut / Huber, Peter M. / Sommermann, Karl-Peter (Hrsg.), Demokratie in Europa, Tübingen 2005, S. 411 (424 ff.). 26 Vgl. BVerfGE 106, 225 (231 f.); 117, 330 (344); 117, 372 (379); 119, 247 (260); 139, 64 (111 Rn. 92); 141, 56 (69 Rn. 33); 145, 249 (270 Rn. 45); 148, 296 (345 Rn. 118); 149, 1 (15 f. Rn. 33); 150, 169 (177 f. Rn. 24). 27 Vgl. BVerfGE 8, 1 (14, 16); 11, 203 (216 f.); 21, 329 (345); 64, 367 (379); 119, 247 (264); 139, 64 (121 Rn. 119); 140, 240 (291 Rn. 104); 141, 56 (71 Rn. 38); 145, 249 (270 Rn. 45); 148, 296 (347 Rn. 122).

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erfüllen können. Er sichert die Bindung der Verwaltung an die Verfassung sowie an Gesetz und Recht ab und dient damit der Effektivierung sowohl des Demokratie(Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) als auch des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG). Das Berufsbeamtentum erscheint damit als tragendes Element des Rechtsstaates28 wie auch der Demokratie.29 Vor diesem Hintergrund verbürgt Art. 33 Abs. 2 GG allen Deutschen nach ihrer Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt. Nach der Vorstellung des Grundgesetzes kommen wegen des engen Zusammenhangs des Berufsbeamtentums mit den Staatsstrukturprinzipien des Rechtsstaats und der Demokratie daher grundsätzlich nur Deutsche für die Beklei­dung öffentlicher Ämter in Betracht. Die h. M. erkennt diesen Zusammenhang freilich ebenso wenig30 wie die Verbindung mit Art. 33 Abs. 1 GG, der allen Deutschen die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten verheißt und damit eine weitere Brücke zum demokratischen Prinzip des Art. 20 Abs. 1 und 2 GG schlägt. Hinzu kommt, dass auch der Zugang zum Beamtenverhältnis dem Schutz von Art. 12 Abs. 1 GG unterfällt, bei dem es sich nicht von ungefähr um ein Deutschengrundrecht handelt. Die Öffnung der Beamtenlaufbahnen für Unionsbürger anderer Mitgliedstaaten, wie sie sich aus Art. 45 Abs. 1 und 4 AEUV und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU31 ergibt, ist daher keine  a priori politische Entscheidung. Sie steht vielmehr in einem Spannungsverhältnis zu Art. 33 Abs. 1 und 2 GG, was in der Staatspraxis auch nicht zu einer vollständigen Gleichstellung von Deutschen und Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten geführt hat. Unklar bleibt allerdings, ob sich die Vorbehalte in § 7 Abs. 2 BBG/§ 7 Abs. 2 BeamtStG und Art. 45 Abs. 4 AEUV decken. Jenseits dieser Ausnahmeregelung treten Art. 33 Abs. 1 und 2 GG allerdings zurück, ohne dass diese selbst unionsrechtswidrig würden. In ihrem Anwendungsbereich  – in der Ministerialverwaltung, bei der Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse durch die Exekutive oder in der Justiz – erscheint die Beteiligung von Nicht-Staatsangehörigen hingegen problematisch.

28

Vgl. BVerfGE 121, 205 (221); 141, 56 (71 Rn. 38); 149, 1 (17 f. Rn. 35); st. Rspr. Sondervotum Huber, BVerfG, Beschl. v. 14.1.2020 – 2 BvR 2055/16, Rn. 3. 30 Kunig, Philip, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), GG, Bd. I, 6. Aufl., München 2012, Art. 33 Rn. 19; Jachmann-Michel, Monika / Kaiser, Anna-Bettina, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Band 2, 7. Aufl., München 2018, Art. 33 Abs. 2 Rn. 14; Brosius-Gersdorf, Frauke, in: Dreier (Hrsg.), Bd. 2, 3. Aufl., Tübingen 2015, Art. 33 Rn. 74; Rieckhoff, Thomas, Die Entwicklung des Berufsbeamtentums in Europa, Baden-Baden 1993, S. 22 f. 31 EuGH, Urt. v. 3.7.1986, C-66/85, ECLI:EU:C:1986:284 – Lawrie Blum; Urt. v. 30.5.1989, C-33/88, ECLI:EU:C:1989:222  – Allué und Coonan; Urt. v. 27.11.1991, C-4/91, ECLI:EU:​ C:1991:448 – Annegret Bleis. 29

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III. Verschiebungen in der Funktionenordnung (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) Die unionsrechtlich induzierte Relativierung von Parlamentsvorbehalt und Wesentlichkeitsdoktrin verändert zugleich die in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG niedergelegte Funktionenordnung32 und verschiebt die Gewichte noch mehr zugunsten der Exekutive. Über den Europäischen Rat (Art. 15 EUV) und den Rat der EU (Art. 16 EUV) bestimmen vor allem die Regierungen der Mitgliedstaaten über die Entwicklung der EU und ihre Rechtsetzung. Schon in der nationalen Verfassungswirklichkeit mächtiger, als es der Blick in das Grundgesetz vermuten lässt,33 sind sie durch die Exekutivlastigkeit des Rechtsetzungsverbundes der EU noch mehr zum Gravitationszentrum des politischen Systems geworden. Auch wenn die Entwicklung des Staaten-, Verfassungs-, Rechtsetzungs-, Verwaltungs- und Gerichtsverbundes der EU insgesamt nicht als Verfallsprozess des europäischen Parlamentarismus beschrieben werden kann,34 so hat sie doch zu einem substantiellen Funktionsverlust der nationalen Parlamente geführt,35 der durch das gewachsene Gewicht des Europäischen Parlaments im Legitimationsverbund der EU nicht hinreichend ausgeglichen wird und auch nicht ausgeglichen werden kann.36 In dem Maße, in dem Aufgaben und Befugnisse auf die EU, ihre Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen übertragen werden, verlieren die nationalen Parlamente an Entscheidungsbefugnissen. Das wird als Demokratie­

32 Huber, Peter M., Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in VVDStRL 60 (2001), S. 194 (224). 33 Huber, Peter M., Regierung und Opposition, in: Isensee, Josef / K irchhof, Paul (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl., Heidelberg 2005, § 47 Rn. 10 ff. 34 V. Bogdandy, Armin, Parlamentarismus in Europa: eine Verfalls- oder Erfolgsgeschichte?, AöR 130 (2005), S. 445 (462 ff.). 35 Huber, Peter M., Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl., München 2002, § 7 Rn. 16 ff.; Huber, Peter M., Offene Staatlichkeit: Vergleich, in: v. Bogdandy, Armin / Cruz Villalón, Pedro / Huber, Peter M. (Hrsg.), IPE II, Heidelberg 2008, § 26 Rn. 47 ff. mwN. Bezogen auf die einzelnen Mitgliedstaaten: Højesteret, Urt. v. 6.4.1998, I 361/1997, ZaöRV 1998, S. 901 – Maastricht (für Dänemark); BVerfGE 89, 155 (184 ff.) – Maastricht; Haguenau-Moizard, Catherine, Offene Staatlichkeit: Frankreich, in: v. Bogdandy, Armin / Cruz Villalón, Pedro / ​­Huber, Peter M. (Hrsg.) IPE II, Heidelberg 2008, § 15 Rn. 16; Birkinshaw, Patrick, in: Schwarze, Jürgen (Hrsg.), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung, BadenBaden 2000, S. 250 (für Großbritannien); Wessel, Ramses A. / van de Griendt, Wim E., Offene Staatlichkeit: Niederlande, in: v. Bogdandy, Armin / Cruz Villalón, Pedro / Huber, Peter M. (Hrsg.), IPE II, Heidelberg 2008, § 19 Rn. 24; Grabenwarter, Christoph, Offene Staatlichkeit: Österreich, in: v. Bogdandy, Armin / Cruz Villalón, Pedro / Huber, Peter M. (Hrsg.), IPE II, Heidelberg 2008, § 20 Rn. 16; Biernat, Stanislaw, Offene Staatlichkeit: Polen, in: v. Bogdandy, Armin / Cruz Villalón, Pedro / Huber, Peter M. (Hrsg.), IPE II, Heidelberg 2008, § 21 Rn. 15; López Castillo, Antonio, Offene Staatlichkeit: Spanien, in: v. Bogdandy, Armin / Cruz Villalón, Pedro / Huber, Peter M. (Hrsg.) IPE II, Heidelberg 2008, § 24 Rn. 55. 36 Kritisch Biernat (Fn.35), § 21 Rn. 52.

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prinzip und Volkssouveränität beschränkender und damit rechtfertigungsbedürftiger Einflussknick betrachtet.37 Seit Jahrzehnten38 ranken sich die Bemühungen um eine Behebung des Demokratiedefizits in der EU vor diesem Hintergrund deshalb auch zu Recht darum, die als unzureichend empfundene Beteiligung der nationalen Parlamente an der unionalen Rechtsetzung zu verbessern.39 Das ist sowohl auf EU-Ebene (Art. 12 EUV, ProtNPEU, ProtSV) als auch in den meisten Staaten des europäischen Rechtsraumes (theoretisch) zumindest ein Stück weit gelungen.40

IV. Bundesstaatliche Kompetenzverteilung Die Übertragung von Hoheitsrechten ist nach Art. 23 Abs. 1 GG Sache des Bundes, auch wenn es sich um Gegenstände handelt, die in die Gesetzgebungs- oder Verwaltungskompetenz der Länder (Art. 30, 70, 83 ff. GG) fallen. Damit modifiziert beinahe jede Übertragung von Hoheitsrechten materiell auch die vom Grundgesetz vorgesehene Balance zwischen Bund und Ländern zulasten letzterer. Die sprichwörtliche „Landesblindheit“ des Unionsrechts41 hat die Gestaltungs-

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Birkinshaw, Patrick / Künnecke, Martina, Offene Staatlichkeit: Großbritannien, in: v. Bogdandy, Armin / Cruz Villalón, Pedro / Huber, Peter M. (Hrsg.), IPE II, Heidelberg 2008, § 17 Rn. 27, 32 und 69; Birkinshaw, Patrick, European Public Law, 2. Aufl., Alphen aan den Rijn 2014, S. 327 ff.; Panara, Carlo, Offene Staatlichkeit: Italien: v. Bogdandy, Armin / Cruz Villalón, Pedro / Huber, Peter M. (Hrsg.), IPE II, Heidelberg 2008, § 18 Rn. 44. 38 Bericht Vedel, Bull. EG Beilage 4/72, S. 67 f.; Europäisches Parlament, Entschließung v. 17.5.1995, ABl. 1995 C 151/63, Ziff. 24; BT-Drucks. 14/2233, S. 4 (Antrag der CDU / CSU-Fraktion); Bericht der Assemblée Nationale, Quelles réformes pour l’Europe de demain?, Rapport d’information no. 1939, S. 94; Huber (Fn. 32), S. 194 (238). 39 Højesteret, Urt. v. 6.4.1998, I 361/1997, ZaöRV 1998, S. 901, 906 Ziff. 9.9.; Birkin­ shaw / Künnecke (Fn. 37), § 17 Rn. 28; Cassese, Sabino, Is there really a „democratic deficit“?, in: EuropEos (Hrsg.), Institutional reforms in the European Union – Memorandum for the Convention, 2002, S. 19 (26 ff.); Buche, Jonas, Europäisierung parlamentarischer Kontrolle im Norden Europas: Dänemark, Finnland und Schweden im Vergleich, in: Eberbach-Born, Birgit u. a. (Hrsg.), Parlamentarische Kontrolle und Europäische Union, Baden-Baden 2013, S. 367; Curtin, Deidre, The constitutional structure of the Union: A Europe of bits and pieces, CMLRev. 1993, S. 17 (68); Haguenau-Moizard (Fn. 35), § 15 Rn. 23; Herdegen, Matthias, Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL 62 (2003), S. 7 (26); Huber, Peter M., Die Rolle der nationalen Parlamente bei der Rechtsetzung der EU, München 2001, S. 54; Weber-Panariello, Philippe A., Nationale Parlamente in der Europäischen Union, Baden-Baden 1995. 40 Für Deutschland vgl. Art. 23 Abs. 2 bis 7 GG, EUZBBG, EUZBLG; Huber, Peter M., Die Integrationsverantwortung von Bundestag und Bundesregierung, ZSE 15 (2017), S. 286, 302. 41 Hirsch, Günter, Landesverfassung im Lichte des Europäischen Rechts, SächsVBl. 1998, S. 101 ff.; Huber, Integration (Fn. 35), § 5 Rn. 45; Ipsen, Hans Peter, Als Bundesstaat in der Gemeinschaft, in: v. Caemmerer, Ernst (Hrsg.), Probleme des europäischen Rechts: Festschrift für Walter Hallstein zu seinem 65. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1966, S. 248 (256).

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spielräume der Landesgesetzgeber auch in den Ländern verbliebenen Regelungs­ bereichen weiter beschränkt,42 weil sich praktisch alle Gegenstände der Landes­ gesetzgebung – vom Rundfunkrecht über das Bildungswesen (Art. 165 f. AEUV) bis zur Kultur (Art. 167 AEUV) – zunehmenden unionsrechtlichen Überlagerungen ausgesetzt sehen.43

V. Grundrechte 1. Modifikation des Schutzniveaus Auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 GG kann der Integrationsgesetzgeber – wie bereits eingangs dargestellt – nicht nur Organe und Stellen der EU, soweit sie in Deutschland öffentliche Gewalt ausüben, von einer umfassenden Bindung an die Grundrechte und andere Gewährleistungen des Grundgesetzes freistellen, sondern auch deutsche Stellen, die Unionsrecht vollziehen.44 Das gilt auch für die Gesetzgeber auf Bundes- und Landesebene, wenn diese Sekundär- oder Tertiärrecht umsetzen, ohne dabei über einen Gestaltungsspielraum zu verfügen.45 Völlig beiseite schieben kann er sie jedoch nicht. So sind die entsprechenden Integrationsgesetze als Akte deutscher Staatsgewalt an die im Grundgesetz verbürgten Grundrechte gebunden, deren Wesensgehalt (Art. 19 Abs. 2 GG) sie auch in Ansehung der supranationalen Hoheitsgewalt sicherzustellen haben. An dieser – mit den Solange I- und II-Beschlüssen begründeten Rechtsprechungslinie46 – hat das Bundesverfassungsgericht auch nach Einfügung des Art. 23 GG in das Grundgesetz im Jahre 1992 festgehalten und die generelle Gewährleistung des Wesensgehalts der Grundrechte als den vom Grundgesetz geforderten Mindeststandard an Grundrechtsschutz bei Verabschiedung und Vollzug eines Integrationsprogramms

42 Janssen, Albert, Wege aus der Krise des deutschen Bundesstaates, ZG 2000, Sonderheft, S. 41 (42 f). 43 Dolzer, Rudolf, Das parlamentarische Regierungssystem und der Bundesrat – Entwicklungsstand und Reformbedarf, VVDStRL 58 (1999), 7 (33 f.); Huber, Integration (Fn. 35), § 4 Rn. 4, § 23 Rn. 9; Nettesheim, Martin, Wettbewerbsföderalismus und Grundgesetz, in: Huber, Peter M. / Brenner, Michael / Möstl, Markus (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel: Festschrift für Peter Badura zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 2004, S. 363 (364); Hilf, Meinhard, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz?, VVDStRL 53 (1994), S. 8 ff.; Stein, Torsten, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz?, VVDStRL 53 (1994), S. 27 ff.; Schweitzer, Michael, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz?, VVDStRL 53 (1994), S. 97 ff. 44 BVerfGE 140, 317 (335 Rn. 39) – Identitätskontrolle I; Streinz (Fn. 9), S. 247 ff. 45 Vgl. BVerfGE 118, 79 (95); 122, 1 (20); 140, 317 (335 Rn. 39) – Identitätskontrolle I. 46 Vgl. BVerfGE 37, 271 (280 ff.) – Solange I; 73, 339 (387) – Solange II; auch BVerfGE 58, 1 (40) – Eurocontrol.

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beschrieben.47 Zugleich trifft den Integrationsgesetzgeber die Pflicht, die Gewährleistung des vom Grundgesetz geforderten Minimums an Grundrechtsschutz sicherzustellen. Insoweit darf er Hoheitsrechte auf die EU oder eine andere zwischenstaatliche Einrichtung nur übertragen, wenn diese einen adäquaten Grundrechtsschutz aufweist.48 Darüber hinaus sind alle Verfassungsorgane im Rahmen ihrer Kompetenzen verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass die vom Grundgesetz geforderten Mindeststandards nicht unterschritten werden.49 Die im Grundgesetz verbrieften Grundrechte erfordern darüber hinaus nicht nur bei der Übertragung von Hoheitsrechten Beachtung, sondern auch beim Vollzug des Integrationsprogramms.50 Sie können auch dazu führen, dass ein zunächst verfassungsmäßiges Integrationsgesetz nachträglich verfassungswidrig wird, wenn eine verfassungswidrige Anwendungspraxis auf das Integrationsgesetz selbst zurückzuführen ist und darin ein strukturbedingtes normatives Regelungsdefizit zum Ausdruck kommt.51 Schließlich dulden die in Art. 23 Abs. 1 S. 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG für integrationsfest erklärten Schutzgüter auch keine Relativierung im Einzelfall.52 Dies gilt insbesondere mit Blick auf Art. 1 Abs. 1 GG. Die Menschenwürde stellt den höchsten Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung dar.53 Ihre Achtung und ihr Schutz gehören zu den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes,54 denen auch der in der Präambel und in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG zum Ausdruck kommende Integrationsauftrag und die Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes55 Rechnung tragen müssen. Vor diesem Hintergrund gewährleistet das Bundesverfassungsgericht im Wege der Identitätskontrolle den gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 1 GG unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz uneingeschränkt und im Einzelfall.56 47

Vgl. BVerfGE 89, 155 (174 f.) – Maastricht; 102, 147 (164) – Bananenmarkt; 118, 79 (95) – TEHG; auch BVerfGE 123, 267 (334) – Lissabon; 126, 286 (302) – Honeywell; 133, 277 (316 Rn. 91) – Antiterrordatei; 140, 317 (337 Rn. 43) – Identitätskontrolle I. 48 BVerfGE 149, 346 (362 Rn. 31) – Europäische Schulen. 49 BVerfGE 149, 346 (362 Rn. 31) – Europäische Schulen; Wollenschläger, Ferdinand, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 1, 3. Aufl., Tübingen 2013, Art. 24 Rn. 44; Walter, Christian, Grundrechtsschutz gegen Hoheitsakte internationaler Organisationen, AöR 129 (2004), S. 39 (68). 50 Vgl. in Bezug auf die Europäische Union BVerfGE 123, 267 (353, 364 f., 389 f., 391 f., 413 f., 419 f.) – Lissabon; 134, 366 (395 f. Rn. 49, 397 Rn. 53) – OMT-Vorlage; 142, 123 (211 Rn. 70) – OMT; 149, 346 (362 Rn. 32) – Europäische Schulen. 51 Vgl. BVerfGE 73, 339 (372) – Solange II; 143, 216 (245 Rn. 71). 52 Vgl. BVerfGE 113, 273 (295 ff.); 123, 267 (344); 126, 286 (302 f.) – Lissabon; 129, 78 (100); 129, 124 (177 ff.); 132, 195 (239 ff. Rn. 106 ff.) e. A. ESM; 134, 366 (384 ff. Rn. 27 ff.) – OMT-Vorlage; 140, 317 (341 Rn. 49) – Identitätskontrolle I. 53 Vgl. BVerfGE 27, 1 (6); 30, 173 (193); 32, 98 (108); 117, 71 (89). 54 Vgl. BVerfGE 45, 187 (227); 131, 268 (286); st. Rspr. 55 Vgl. BVerfGE 123, 267 (354) – Lissabon; 126, 286 (303) – Honeywell; 129, 124 (172) – EFSF und Griechenlandhilfe; 132, 287 (292 Rn. 11); 140, 317 (341 Rn. 49) – Identitätskon­trolle I. 56 BVerfGE 140, 317 (341 Rn. 49) – Identitätskontrolle I; später BVerfGE 142, 123 (194 f. Rn. 136) – OMT; 146, 216 (253 f. Rn. 54) – PSPP-Vorlage; BVerfG, Urt. v. 30.7.2019 – 2 BvR 1685/14, Rn. 120 ff. – Bankenunion.

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2. Europäisierung der Deutschen-Grundrechte Die Europäisierung des Grundrechtsschutzes erfasst auch den personellen Schutzbereich der Grundrechte. Soweit sich insbesondere die Art. 8 Abs. 1, 9 Abs. 1, 11 Abs. 1 und 12 Abs. 1 GG ihrem Wortlaut nach als Deutschengrundrechte darstellen, kann daran im Anwendungsbereich des EUV im Ergebnis nicht festgehalten werden.57 Zwar steht der Wortlaut des Art. 116 Abs. 1 GG einer unionsrechtskonformen Interpretation des „Deutschen“-Begriffs entgegen; über eine differenzierte Interpretation des Art. 2 Abs. 1 GG im Lichte von Art. 18 und Art. 28 ff. AEUV kann jedoch sichergestellt werden, dass die Allgemeine Handlungsfreiheit Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten denselben effektiven Schutz und dieselben Rechtsschutzmöglichkeiten vermittelt wie dies Deutschengrundrechte tun. 3. Grundrechtsberechtigung juristischer Personen (Art. 19 Abs. 3 GG) Art. 19 Abs. 3 GG beschränkt den Grundrechtsschutz schließlich auf inländische juristische Personen, also auf Personen, die ihren Sitz in Deutschland haben. Inwieweit die Grundrechte auch für juristischen Personen und Personenvereinigungen gelten, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der EU haben, ist dagegen umstritten.58 Während im älteren Schrifttum vor allem mit Blick auf die Bürgerrechte59 – für Art. 19 Abs. 3 GG gilt insoweit jedoch nichts grundlegend anderes – das Gebot einer grundrechtlichen Gleichstellung überwiegend pauschal geleugnet wurde, versucht man diese, insbesondere in jüngerer Zeit, mit einem nicht minder pauschalen Hinweis auf die Diskriminierungsverbote des Unionsrechts zu begründen.60 Eine grundrechtliche Gleichstellung von juristischen Personen mit Sitz in 57

Bauer, Hartmut / Kahl, Wolfgang, Europäische Unionsbürger als Träger von DeutschenGrundrechten?, JZ 1995, S. 1077 ff. 58 Befürwortend Drathen, Klaus, Deutschengrundrechte im Lichte des Gemeinschaftsrechts, Bonn 1994; Dreier, Horst, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 1, 3. Aufl., Tübingen 2013, Art. 19 Abs. 3 Rn. 21 f., 83 ff.; Kotzur, Markus, Der Begriff der inländischen juristischen Personen nach Art. 19 Abs. 3 GG im Kontext der EU, DÖV 2001, S. 192 (195 ff.); Remmert, Klaus, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 3 Rn. 93 ff., München (Mai 2009); abl. Bethge, Herbert, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach Art. 19 Abs. 3 Grundgesetz, Passau 1985, S. 46 ff.; Quaritsch, Helmut, in: Isensee, Josef / K irchhof, Paul (Hrsg.), HStR V, 2. Aufl., Heidelberg 2005, § 120 Rn. 36 ff.; Weinzierl, Rupert, Europäisierung des deutschen Grundrechtsschutzes?, Regensburg 2006; Scholz, Rupert, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 12 Rn. 105, München (Juni 2006). 59  Bethge, Herbert, Grundrechtsträgerschaft juristischer Personen, AöR 104 (1979), S. 54 (86); Ipsen, Hans P., Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972, S. 640; Stern, Klaus, Staatsrecht III/1, München 1988, S. 1035. 60  Breuer, Rüdiger, Freiheit des Berufs, in: Isensee, Josef / K irchhof, Paul (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl., Heidelberg 2010, § 170 Rn. 23; Jarass, Hans D., in: Jarass / Pieroth (Hrsg.), GG, 15. Aufl., München 2018, Art. 12 Rn. 12; so bereits Zuleeg, Manfred, Zur staatsrechtlichen Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, DÖV 1973, S. 361 (364 f.).

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anderen Mitgliedstaaten kommt jedenfalls nur dort in Betracht, wo das Unionsrecht auch tatsächlich Diskriminierungsverbote normiert. Das ist insbesondere in Art. 18 AEUV und den ihn bereichsspezifisch konkretisierenden Grundfreiheiten der Fall, die überwiegend61 auch auf juristische Personen anwendbar62 sind. In seiner Cassina-Entscheidung vom 19.7.2011 hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts ausgeführt, dass die Grundrechte nach dem Wortlaut von Art. 19 Abs. 3 GG für inländische juristische Personen gelten und sich angesichts dieser klaren Regelung eine Anwendungserweiterung verbiete: „Es würde die Wortlautgrenze übersteigen, wollte man seine unionsrechtskonforme Auslegung auf eine Deutung des Merkmals ‚inländische‘ als ‚deutsche einschließlich europäische‘ juristische Personen stützen. Auch wenn das Territorium der Mitgliedstaaten der EU angesichts des ihren Bürgern gewährleisteten Raumes ‚der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen‘ mit freiem Personenverkehr (Art. 3 Abs. 2 EUV) nicht mehr ‚Ausland‘ im klassischen Sinne sein mag, wird es dadurch nicht zum ‚Inland‘ im Sinne der territorialen Gebietshoheit.“63 Statt dessen hat der Erste Senat mit der Begründung, bei Erlass des Grundgesetzes habe man die Entwicklung der EU nicht voraussehen können, eine Grundrechtserstreckung aber keinesfalls verbieten wollen und hat anschließend unmittelbar auf Art. 18 AEUV etc. zurückgegriffen, um dann festzustellen, dass die Anwendungserweiterung des Art. 19 Abs. 3 GG auf juristische Personen aus anderen Mitgliedstaaten auf die europäische Vertrags- und Rechtsentwicklung reagiere und eine Kollision mit dem Unionsrecht vermeide. Die Anwendungserweiterung beachte zudem den Grundsatz, dass das supranational begründete Unionsrecht keine derogierende Wirkung gegenüber dem mitgliedstaatlichen Recht entfalte, sondern nur dessen Anwendung soweit zurückdränge, wie es die Verträge erforderten und es die durch das Zustimmungsgesetz erteilten Rechtsanwendungsbefehle erlaubten. Mit der vertraglichen Zustimmung Deutschlands zu Art. 18 AEUV und den Grundfreiheiten sei der Anwendungsvorrang der unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote mit der von Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG geforderten Mehrheit gebilligt worden. Das wirke sich auch auf den Anwendungsbereich der Grundrechte aus, sofern eine Erstreckung der Grundrechtsgeltung auf juristische Personen aus der EU veranlasst sei, um eine Ungleichbehandlung hinsichtlich der Grundrechts­ trägerschaft zu vermeiden.64 61

 Huber, Integration (Fn. 35), § 8 Rn. 8.   Siehe Art. 54 AEUV für die Niederlassungsfreiheit; Art. 62 AEUV für die Dienstleistungsfreiheit; zur Anwendung von Art. 18 AEUV auf juristische Personen EuGH, Urt. v. 20.10.1993, C-92/92, ECLI:EU:C:1993:847, Rn. 30 – Collins; Epiney, Astrid, in: ­Calliess / ​ ­Ruffert (Hrsg.), EUV / A EUV, 5. Aufl., München 2016, Art. 18 Rn. 41; Rossi, Matthias, Das Diskriminierungsverbot nach Art 12 EG-Vertrag, EuR 2000, S. 197 (200 f.); Rust, Ursula, in: v. d. Groeben / Schwarze / Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl., Baden-Baden 2015, Art. 18 Rn. 46. 63 BVerfGE 129, 78 (96) – Cassina. 64 BVerfGE 129, 78 (99 f.) – Cassina. 62

Die Einwirkungen des Unionsrechts und der EMRK auf das Grundgesetz 

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Mit ähnlicher Begründung hat wiederum der Erste Senat in seinem Urteil zum Atomausstieg die Grundrechtsberechtigung des vollständig im Eigentum des Königreichs Schweden stehenden Energieversorgers Vattenfall gerechtfertigt. Zwar fehle es auch in Fällen ausländischer staatlicher Rechtsträgerschaft an den hinter diesen Organisationseinheiten stehenden Menschen, die gegen hoheitliche Übergriffe zu schützen und deren Möglichkeiten einer freien Mitwirkung und Mitgestaltung im Gemeinwesen zu sichern letztlich Sinn von Art. 19 Abs. 3 GG sei. Der Versagung von Grundrechtsschutz stünde jedoch entgegen, dass die sog. Konfusionsthese bei einer von einem ausländischen Staat gehaltenen juristischen Person des Privatrechts nicht passe. Eine solche juristische Person verfüge weder unmittelbar noch mittelbar über innerstaatliche Machtbefugnisse. Ihr drohe vielmehr eine spezifische Gefährdungssituation, falls ihr die Berufung auf die Grundrechte völlig versagt bleibe, so dass sie – im Gegensatz zu allen anderen Marktteilnehmern – gegenüber staatlichen Eingriffen durch Gesetz rechtsschutzlos gestellt wäre. Angesichts dieser besonderen Umstände des Falles sei die insoweit offene Auslegung von Art. 19 Abs. 3 GG im Lichte der unionsrechtlich geschützten Niederlassungsfreiheit des Art. 49 AEUV vorzunehmen. Dadurch könnten auch Brüche zwischen der deutschen und der europäischen Rechtsordnung vermieden werden.65 Diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überzeugt im Ergebnis, nicht jedoch in der Begründung. Es ist inkonsistent, einerseits mit Blick auf eine unionsrechtskonforme Auslegung des Tatbestandsmerkmals „inländisch“ eine skrupulöse Zurückhaltung zu praktizieren, im nächsten Atemzug jedoch zu betonen, dass Art 19 Abs. 3 GG eine offene Auslegung ermögliche. Noch fragwürdiger ist der unmittelbare Rückgriff auf das Unionsrecht, das ausweislich der unmissverständlichen Regelung des Art. 93 GG kein Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts ist. Dies ist allein das Grundgesetz.66 Nur durch dieses „Nadelöhr“ kann das deutsche Verfassungsrecht unionsrechtliche Fragestellungen thematisieren und beantworten. Es erscheint daher nach wie vor vorzugswürdig, im Anwendungsbereich der Art. 18, 34, 49, 56 AEUV etc. doch eine unionsrechtskonforme Auslegung des Tatbestandsmerkmals „inländisch“ vorzunehmen,67 so dass insoweit alle in der EU ansässigen juristischen Personen und Personenvereinigungen einen diskriminierungsfreien Zugang zum Grundrechtsschutz unter dem Grundgesetz besitzen.

65

BVerfGE 143, 246 (316 ff. Rn. 195 ff.) – Atomausstieg. Nun aber in eine andere Richtung BVerfG, Beschl. v. 6.11.2019 – 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II. 67  Ähnlich Drathen (Fn. 58), S. 208 ff.; Dreier (Fn. 58), Art. 19 Abs. 3 Rn. 21 f.; Zuck, Rüdiger, Die Verfassungsbeschwerdefähigkeit ausländischer juristischer Personen, EuGRZ 2008, S. 680 (684). 66

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VI. EMRK 1. Zur Stellung der EMRK in der deutschen Rechtsordnung Nach 60-jähriger Randexistenz drängen seit Mitte der 2000er Jahre auch die Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in das Bewusstsein der Rechtsunterworfenen in Deutschland vor. Zwar handelt es sich bei der EMRK und ihren Zusatzprotokollen, formal gesehen, lediglich um völkerrechtliche Verträge, die es den Vertragsparteien überlassen, in welcher Weise sie ihrer Pflicht zur Beachtung der Vertragsvorschriften genügen.68 Der Bundesgesetzgeber hat den genannten Übereinkommen jeweils mit förmlichem Gesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 GG zugestimmt69 und damit einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl erteilt. In Deutschland stehen die EMRK und ihre Zusatzprotokolle – soweit sie für die Bundesrepublik Deutschland gelten – daher im Range eines Bundesgesetzes.70 Gleichwohl besitzen die Gewährleistungen der EMRK verfassungsrechtliche Bedeutung, indem sie die Auslegung der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes beeinflussen.71 Die inhaltliche Ausrichtung des Grundgesetzes auf die Menschenrechte kommt insbesondere in dem Bekenntnis des deutschen Volkes zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten in Art. 1 Abs. 2 GG zum Ausdruck. Das Grundgesetz weist mit Art. 1 Abs. 2 GG dem Kernbestand an Menschenrechten einen besonderen Schutz zu. Dieser ist in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG die Grundlage für die verfassungsrechtliche Pflicht, auch bei der Anwendung der deutschen Grundrechte die EMRK in ihrer konkreten Ausgestaltung als Auslegungshilfe heranzuziehen. Art. 1 Abs. 2 GG ist daher zwar kein Einfallstor für einen unmittelbaren Verfassungsrang der EMRK, die Vorschrift ist aber mehr als ein unverbindlicher Programmsatz, indem sie eine Maxime für die Auslegung des Grundgesetzes vorgibt und verdeutlicht, dass seine Grundrechte auch als Ausprägung der allgemeinen Menschenrechte zu verstehen sind und diese als Mindeststandard in sich aufgenommen haben.72 68

Vgl. BVerfGE 111, 307 (316) – Görgülü mwN. Gesetz über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 7.8.1952, BGBl II S. 685; die Konvention ist gemäß der Bekanntmachung v. 15.12.1953, BGBl II 1954 S. 14, am 3.9.1953 für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten; Neubekanntmachung der Konvention in der Fassung des 11. Zusatzprotokolls in BGBl II 2002 S. 1054. 70 Vgl. BVerfGE 74, 358 (370); 111, 307 (316 f.); 148, 296 ( 350 ff. Rn. 127 ff.). 71 Vgl. BVerfGE 74, 358 (370); 83, 119 (128); 111, 307 (316 f., 329) – Görgülü; 120, 180 (200 f.); 128, 326 (367 f.) – Sicherungsverwahrung II; 148, 296 (351 Rn. 128) – Streikverbot für Beamte. 72 Vgl. BVerfGE 74, 358 (370); 111, 307 (329) – Görgülü; 128, 326 (369) – Sicherungsverwahrung II; 148, 296 (352 f. Rn. 130) – Streikverbot für Beamte; Dreier (Fn. 58), Art. 1 Abs. 2 Rn. 21; Herdegen, Matthias, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 1 Abs. 2 Rn. 47, München (März 2006); Giegerich, Thomas, in: Dörr / Grote / Marauhn, (Hrsg.), EMRK / GG, Bd. I, 2. Aufl., Tübingen 2013, Kap. 2 Rn. 71 ff. 69

Die Einwirkungen des Unionsrechts und der EMRK auf das Grundgesetz 

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Der Konventionstext und die Rechtsprechung des EGMR dienen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts daher auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes, sofern dies nicht zu einer – von der Konvention selbst nicht gewollten (vgl. Art. 53 EMRK)  – Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt.73 Die Entscheidungen des EGMR in Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland sind nach Art. 46 EMRK zu befolgen. Sie sind aber auch dann zu berücksichtigen, wenn sie nicht denselben Streitgegenstand betreffen. Dies beruht auf der jedenfalls faktischen Orientierungs- und Leitfunktion, die der Rechtsprechung des EGMR für die Auslegung der EMRK auch über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zukommt.74 Vor dem Hintergrund der zumindest faktischen Präzedenzwirkung der Entscheidungen internationaler Gerichte will das Grundgesetz Konflikte zwischen den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland und dem nationalen Recht nach Möglichkeit vermeiden75 und setzt insoweit auf einen Dialog der Gerichte. Zudem kann die Heranziehung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR Verurteilungen Deutschlands vermeiden helfen.76 Die völkerrechtsfreundliche Auslegung erfordert allerdings keine s­ chematische Parallelisierung der Aussagen des Grundgesetzes mit denen der EMRK,77 sondern eine Wirkungsgleichheit im Ergebnis. Entscheidend ist, dass sich das von der EMRK in der Auslegung des EGMR vorgegebene Ergebnis auch unter den Anforderungen des Grundgesetzes konstruieren lässt.78 Allerdings zieht das Grundgesetz dieser Pflicht zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung auch Grenzen. Die Berücksichtigung der EMRK darf namentlich wie bereits erwähnt nicht dazu führen, dass der Grundrechtsschutz nach dem Grundgesetz eingeschränkt wird.79 Das kann vor allem in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen relevant werden, in denen das „Mehr“ an Freiheit für den einen Grundrechtsträger zugleich ein „­Weniger“ für den anderen bedeutet. Ferner scheidet sie dort aus, wo eine völkerrechtsfreundliche Auslegung nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint.80 73

Vgl. BVerfGE 74, 358 (370); 111, 307 (317) – Görgülü; 120, 180 (200 f.); 148, 296 (351 Rn. 128) – Streikverbot für Beamte. 74 Vgl. BVerfGE 111, 307 (320) – Görgülü; 128, 326 (368) – Sicherungsverwahrung II; 148, 296 (351 f. Rn. 129) – Streikverbot für Beamte. 75 Vgl. BVerfGE 111, 307 (328) – Görgülü; 112, 1 (25 f.); 148, 296 (351 f. Rn. 129) – Streikverbot für Beamte. 76 BVerfGE 128, 326 (369) – Sicherungsverwahrung II; 148, 296 (352 Rn. 130) – Streik­ verbot für Beamte. 77 BVerfGE 111, 307 (323 ff.). 78 BVerfGE 128, 326 (370) – Sicherungsverwahrung II; instruktiv Grabenwarter, Christoph, Die deutsche Sicherungsverwahrung als Treffpunkt grundrechtlicher Parallelwelten, EuGRZ 2012, S. 507 ff. 79 BVerfGE 128, 326 (371) – Sicherungsverwahrung II. 80 BVerfGE 128, 326 (371) – Sicherungsverwahrung II.

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2. Konfliktfelder Gleichwohl kommt es auch im Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und dem EGMR immer wieder zu Rechtsprechungsdivergenzen: bei der Aus­ tarierung des Persönlichkeitsschutzes Prominenter mit der Pressefreiheit,81 bei der familienrechtlichen Stellung biologischer Väter,82 im Recht der Sicherungsverwahrung oder beim Streikrecht für Beamte. Im Spannungsverhältnis zwischen dem Persönlichkeitsschutz Prominenter und der Pressefreiheit hat das Bundesverfassungsgericht von Anfang an83 eine die Pressefreiheit tendenziell privilegierende Linie verfolgt, weil u. a. dieses Grundrecht für die freiheitlich demokratische Grundordnung schlechthin konstituierend ist. So hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung ­Caroline von Monaco II die von der zivilgerichtlichen Rechtsprechung entwickelte Figur der „absoluten Person der Zeitgeschichte“ grundsätzlich gebilligt und auch Personen des öffentlichen Lebens, die nicht Inhaber eines öffentlichen Amtes sind, angesonnen, Berichterstattungen über die eigene Person in einem weiteren Umfang hinzunehmen, als dies sonst der Fall ist.84 Die Öffentlichkeit habe insoweit ein „berechtigtes Interesse daran zu erfahren, ob solche Personen, die oft als Idol oder Vorbild gelten, funktionales und persönliches Verhalten überzeugend in Übereinstimmung bringen.“85 Demgegenüber hat der EGMR im Urteil v. Hannover ./. Deutschland vom 24.6.2004 ein Überwiegen von Belangen der durch Art. 10 EMRK geschützten Pressefreiheit verneint und zieht dies danach nur für den Fall in Betracht, dass in der Berichterstattung politische oder sonst bedeutsame Fragen zumindest in gewissem Umfang behandelt würden.86 Die deutschen Fachgerichte haben die einzelfallbezogene Abwägung der kollidierenden Grundrechtsinteressen daraufhin weitgehend an den (engeren) Kriterien des EGMR ausgerichtet. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in seinem Beschluss Caroline von Hannover (bzw. Caroline von Monaco III) als nicht minder verfassungskonforme Auflösung der Grundrechtskollision gebilligt.87

81 EGMR, Urt. v. 24.6.2004, Nr. 59320/00 = NJW 2004, S. 2647 – v. Hannover / Deutschland; 97, 125 – Caroline von Monaco I; 101, 361 – Caroline von Monaco II. 82 EGMR, Urt. v. 26.2.2004 Nr. 74969/01 = NJW 2004, S. 3397 – Görgülü / Deutschland; BVerfGE 111, 307 – Görgülü. 83 Ansatzweise schon BVerfGE 7, 198 (221 f.) – Lüth. 84 BVerfGE 101, 361 (390 ff.) – Caroline von Monaco II; früher schon BVerfGE 34, 269 (283). 85 BVerfGE 101, 361 (393) – Caroline von Monaco II. 86 EGMR, Urt. v. 24.6.2004, Nr. 59320/00, Rn. 64 = NJW 2004, S. 2647 (2650) – v. Hannover / Deutschland; siehe ferner EGMR – Urt. v. 16.11.2004, Nr. 53678/00, Rn. 45 – Karhuvaara und Iltalehti / Finnland. 87 BVerfGE 120, 180 (220 f.) – Caroline von Hannover.

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In seinem Görgülü-Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts Entscheidungen der Fachgerichte zum Sorge- und Umgangsrecht des Vaters eines nicht ehelichen Kindes aufgehoben, weil sie eine vorgängige erfolgreiche Menschenrechtsbeschwerde des Vaters88 nicht ausreichend berücksichtigt hatten.89 Die EMRK habe am Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) teil und müsse insoweit auch von den Fachgerichten beachtet werden. „Berücksichtigen“ bedeute allerdings nicht strikte Befolgung, sondern „die Konventionsbestimmungen in der Auslegung des Gerichtshofs zur Kenntnis zu nehmen und auf den Fall anzuwenden, soweit die Anwendung nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere Verfassungsrecht verstoßt.“90 Von Bedeutung sei insoweit auch, „wie sich die Berücksichtigung der Entscheidung im System des jeweiligen Rechtsgebietes“ darstelle, so dass der Konvention auch kein automatischer Vorrang vor anderem (einfachen) Bundesrecht zukomme. Schließlich sei zu beachten, dass das Verfahren vor dem Straßburger Gerichtshof die beteiligten Rechtspositionen und Interessen in mehrpoligen, namentlich zivilrechtlichen Rechtsverhältnissen nicht ausreichend abbilde.91 Im Fall der Sicherungsverwahrung hatte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts die nachträgliche Entfristung der Sicherungsverwahrung im Jahre 2004 zunächst im Grundsatz gebilligt.92 Als der EGMR 2009 darin jedoch ebenso einen Verstoß gegen Art. 5 und Art. 7 Abs. 1 EMRK sah wie im Institut der nachträglichen Sicherungsverwahrung,93 nahm das Bundesverfassungsgericht dies in seinem Urteil Sicherungsverwahrung II vom 4.5.2011 zum Anlass, seine ursprüngliche Rechtsprechung zu korrigieren. Zwar hat es betont, dass die Heranziehung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR (nur) „ergebnisorientiert“ erfolgen müsse;94 die Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung bzw. die nachträgliche Verlängerung ihrer Höchstdauer hat es jedoch  – anders als der Straßburger Gerichtshof  – nicht als Rückwirkungsproblem unter Art. 103 Abs. 2 GG begriffen, sondern als grundsätzlich unverhältnismäßige Beeinträchtigung des Grundrechts auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 GG).95 Im Ergebnis ist es damit zu einer Beanstandung der nachträglichen Sicherungsverwahrung in ihrer konkreten Ausgestaltung bzw. der nachträglichen Verlängerung ihrer Höchstdauer gelangt, wobei die Wertungen der EMRK besonders berücksichtigt wurden.96 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat das mehrfach ausdrücklich begrüßt.97 88

EGMR, Urt. v. 26.2.2004 Nr. 74969/01 = NJW 2004, S. 3397 – Görgülü / Deutschland. BVerfGE 111, 307 (330 ff.) – Görgülü. 90 BVerfGE 111, 307 (329) – Görgülü. 91 BVerfGE 111, 307 (328 f.) – Görgülü. 92 BVerfGE 109, 133 (159) – Sicherungsverwahrung I. 93 Grundlegend EGMR, Urt. v. 17.12.2009, Nr. 19359/09, Mücke / Deutschland. 94 BVerfGE 128, 326 (370) – Sicherungsverwahrung II; dazu Grabenwarter (Fn. 78), S. 507. 95 BVerfGE 128, 326 (372 ff., 392 f.) – Sicherungsverwahrung II. 96 BVerfGE 128, 326 (388 ff., 391 ff.) –Sicherungsverwahrung II. 97 EGMR, Urt. v. 19.4.2012, Nr. 61272/09 = EuGRZ 2012, S. 383 (389, 390) – B / Deutschland 89

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Auf eine Ausnahme von dem grundsätzlichen Verbot der nachträglichen Sicherungsverwahrung hat es jedoch für den Fall erkannt, dass „eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umstanden in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung […] leidet“. Dabei hat es sich – ohne dass dem entsprechende Hinweise des EGMR zugrunde gelegen hatten  – auf Art. 5 Abs. 1 Buchstabe  e EMRK gestützt.98 In späteren Beschlüssen, unter anderem zum Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) hat der Senat diesen Ansatz weiter vertieft und sich ausführlich mit dem Begriff der psychischen Krankheit (engl. „unsound mind“ oder „true mental disorder“) auseinandergesetzt.99 Der EGMR hat das mittlerweile gebilligt.100 Die weitgehend an der ERMK und der Rechtsprechung des EGMR orientierte Auslegung der deutschen Grundrechte bedeutet somit nicht, dass es in Zukunft keine Konflikte zwischen Karlsruhe und Straßburg mehr geben wird. Das Streikverbot für Beamte, das der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 12.6.2018 bestätigt hat,101 wird der nächste Testfall für den Verfassungsgerichtsverbund sein.

VII. Fazit Die Einwirkungen des Unionsrechts und der EMRK auf das Grundgesetz, letzte auch verstärkt über Art. 52 Abs. 3 und Art. 53 der Charta der Grundrechte der EU, sind so zahlreich und so flächendeckend, dass das Grundgesetz nur mehr als Fundament einer Teilrechtsordnung im europäischen Rechtsraum erscheint. Es wäre freilich zu kurz gegriffen, diese Einwirkungen lediglich als Einbahnstraße zu begreifen. Während das Grundgesetz und seine Wertungen auf der einen Seite europäisiert werden, strahlt dieses zugleich über seinen Anwendungsbereich hinaus aus und leitet die Interpretation des Unionsrechts ebenso an wie die Auslegung der EMRK. Dafür bietet die jüngere Rechtsprechung aus Karlsruhe, Luxemburg und Straßburg reichlich Anschauungsmaterial. Das aber wäre ein anderes Thema.

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BVerfGE 128, 326 (332, 396 ff.) – Sicherungsverwahrung II. BVerfGE 133, 40 ff.; 134, 33 ff., mit Sondervotum Huber S. 95 ff. 100 EGMR, Urt. v. 7.1.2016, Nr. 23279/14  – Bergmann / Deutschland; Urt. v. 2.6.2016, Nr. 6281/13 – Petschulies / Deutschland; Urt. v. 6.10.2016, Nr. 55594/13 – W. P. / Deutschland; Urt. v. 2.2.2017, Nr.10211/12 – Ilnseher / Deutschland; Urt. v. 4.12.2018, Nr. 10211/12 – Ilnseher / Deutschland. 101 BVerfGE 148, 296 – Streikverbot für Beamte. 99

Die Einwirkungen des Unionsrechts und der EMRK auf die nationalen Verfassungen

Einwirkungen des Unionsrechts und der EMRK auf nationale Verfassungen

Der Fall Spanien Francisco Balaguer Callejón

I. Methodologische Vorfragen Der Einfluss des Unionsrechts und der EMRK auf die nationalen Verfassungen wirft eine Reihe methodologischer Fragen auf, die im Vorfeld erörtert werden müssen, um einen umfassenderen Überblick über den Umfang der Beziehungen zwischen diesen überstaatlichen Institutionen und der nationalen Verfassung zu erhalten. Zunächst muss klargestellt werden, dass wir vor einem strukturellen Wandel der nationalen Rechtsordnungen stehen, die zu einer anderen Gestalt des Nationalstaates führen. Der Einfluss des Unionsrechts führt zu einem Strukturwandel auf allen Ebenen des nationalen Verfassungsrechts, beginnend mit der verfassungsgebenden Gewalt bis hin zur Rechtsprechungstätigkeit, Gewaltenteilung, den Grundrechten und der Verfassungsnormativität sowie der territorialen Dezentralisierung.1 Um uns mit diesen Änderungen auseinandersetzen zu können, sollten wir von einer spezifischen Methodik, wie sie von Peter Häberle entwickelt wurde, ausgehen. Sie sollte auf der Analyse der Interaktionen zwischen den verschiedenen Teilverfassungen (EU, nationale sowie regionale Verfassungen) gründen, denn sie stellen das europäische Verfassungsrecht im weiteren Sinne dar – im Gegensatz zu seiner engeren Bedeutung, die im materiellen Verfassungsrecht der EU zum Ausdruck kommt.2 Eine dialektische Interaktion, die sich auf beide Seiten, also im nationalen Verfassungsrecht als auch im Unionsrecht, auswirkt, spiegelt sich in den europäischen Grundnormen wider, die sowohl eine normative als auch eine hermeneuti-

1

Siehe Balaguer Callejón, Francisco, El Tratado de Lisboa en el Diván. Una reflexión sobre constitucionalidad, estatalidad y Unión Europea, Revista Española de Derecho Constitucional, 83/2008; italienische Version: Il Trattato di Lisbona sul lettino dell’analista. Riflessioni su statualità e dimensione costituzionale dell’unione europea, Quaderni della Rassegna di Diritto Pubblico Europeo, 5/2009, S. 13–52; portugiesische Version: O Tratado de Lisboa no divã. Uma reflexão sobre estatalidade, constitucionalidade e União Européia, Revista Brasileira de Estudos Constitucionais, 7/2008. 2 Siehe Häberle, Peter, Europa – eine Verfassungsgemeinschaft?, in: Häberle, Peter, Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien, Baden-Baden 1999, S. 84 ff.

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Francisco Balaguer Callejón

sche Funktion des nationalen Verfassungsrechts artikulieren.3 So verleiht Art. 6 Abs. 3 EUV den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ eine spezifische normative Funktion und bestimmt sie als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts. Gleichermaßen integrierend verfährt die Bestimmung mit den „Grundrechten, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind“. Die hermeneutische Funktion ist in Art. 52 Abs. 4 der EU-Grundrechtecharta (GRC) festgelegt; aber auch Art. 52 Abs. 3 und Art. 53 GRC nehmen Bezug auf die EMRK. Die Grenzbereiche dieses Zusammenspiels werden in Art. 53 GRC sichtbar sowie in Art. 4 Abs. 2 EUV, der eine Aussage zur Verfassungsidentität der EU-Mitgliedstaaten trifft. Sie fungieren als eine Art Sicherungsventil in der Rechtsprechung des EuGH, wodurch die Beziehungen zwischen der supranationalen und den nationalen Rechtsordnungen angepasst werden und so die Gefahr einer Überspannung vermieden wird, so wie dies mittels des Instituts des Ermessensspielraums („margin of appreciation“) in der Rechtsprechung des EGMR der Fall ist.4 Ausgehend von der Analyse dieser dialektischen Wechselspiele ist es nun erforderlich, die unterschiedliche normative „Dichte“ der drei Rechtssysteme (EU, EMRK, nationale Verfassung) zu bewerten. Erst eine gewisse substantiell-normative Dichte kann eine besondere Verfassungsstruktur, also ein supranationales Verfassungsrecht, hervorbringen.5 Während den nationalen Verfassungen eine vollständige „Dichte“ zu attestieren ist, die sich vor allem in der Wechselwirkung zwischen Verfassung, Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit niederschlägt und zudem auf dem Grundsatz der pluralistischen Demokratie beruht, weichen die Ausgestaltung der Rechtsordnung der EU und die EMRK hiervon ab, und zwar aufgrund des Fehlens eines dieser Elemente bzw. aufgrund einer defizitären verfassungsrechtlichen Konfiguration.6 So kann infolge einer auf der Ebene der Union fehlenden 3 Siehe Balaguer Callejón, Francisco, Profili metodologici del Diritto Costituzionale europeo, La cittadinanza europea, 1/2015, S. 39–62; französische Version: La méthodologie du droit constitutionnel européen, in Le Droit constitutionnel Européen à l’épreuve de la crise économique et démocratique de l’Europe. Sous la direction scientifique de F. Balaguer Callejón, S. Pinon et A. Viala, Institut Universitaire Varenne, Paris 2015; portugiesische Version: Perfis metodológicos do Direito Constitucional Europeu, in Vasco Pereira da Silva y Francisco Balaguer Callejón (coordenadores) O constitucionalismo do séc. XXI na sua dimensão estadual, supranacional e global, Instituto de Ciências Jurídico-Políticas da Faculdade de Direito da Universidade de Lisboa 2015, S. 19–20. 4 Siehe, in Bezug auf den margin of appreciation, Saiz Arnaiz, Alejandro, Tribunal Europeo de Derechos Humanos y procesos políticos nacionales: democracia convencional y margen de apreciación, Teoría y Realidad Constitucional, 42/2018, S. 221–245. 5 Siehe Balaguer Callejón, Francisco, Constitución y Estado en el contexto de la integración supranacional y de la globalización, in: Carbonell, Miguel / Fix-Fierro, Héctor / González Pérez, Luis Raúl / Valadés, Diego (Hrsg.), Estado constitucional, Derechos humanos, Justicia y vida universitaria. Estudios en homenaje a Jorge Carpizo, UNAM, Tomo IV, Volumen 1, México 2015, S.197–211. 6 Siehe Balaguer Callejón, Francisco, La proyección de la Constitución sobre el ordenamiento jurídico, Suprema Corte de Justicia de la Nación, México D. F. 2015; italienische Ver-

Einwirkungen des Unionsrechts und der EMRK auf nationale Verfassungen

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pluralistischen Demokratie, die mit dem demokratischen Leben in den Mitgliedstaaten vergleichbar ist, gesagt werden, dass auf europäischer Ebene der grund­ legende Antagonismus zwischen der Mehrheit und der Opposition fehlt. Ein solcher Prozess der Personalisierung und Politisierung des Europäischen Parlaments ist indes die Voraussetzung für die Entwicklung staatlicher Verfassungssysteme.7

II. Strukturwandel des nationalen Verfassungsrechts Die strukturellen Veränderungen des nationalen Verfassungsrechts, die als das Ergebnis der supranationalen Integration anzusehen sind, können wir kurz wie folgt aufzeigen: Die Fragmentierung der verfassungsgebenden Gewalt ist eine Konsequenz der Errichtung von Schranken im supranationalen Recht. Sie haben das Ausmaß möglicher mitgliedstaatlicher Verfassungsreformen zunehmend begrenzt und damit zugleich die verfassungsgebende Gewalt der Staaten. Die verfassungsrechtlichen Materien sind nicht mehr allein in der Staatsverfassung kanonisiert, was zur Folge hat, dass eine Verfassungsreform nicht gänzlich und ausschließlich aus der Perspektive des Nationalstaates analysiert werden kann. Dies muss namentlich zu einer differenzierten Bewertung von Ewigkeitsklauseln im Kontext der europäischen Integration führen.8 Der Parameter der Verfassungsmäßigkeit, der nunmehr auch das europäische Recht und nicht nur die nationale Verfassung aufnehmen muss, hat sich erweitert. Auch hier zeigt sich eine Folgewirkung der supranationalen Verfassungsräume, die zu einer Fragmentierung oder Teilung der Verfassungswirklichkeit führt.9 In diesem Punkt sind spezifische Schwierigkeiten in der spanischen Rechtsordnung aufgetreten, die auf die Zurückhaltung des spanischen Verfassungsgerichts zurückzuführen sind, wenn auch bei gewissen Anzeichen einer Trendwende, die danach jedoch nicht konkretisiert wurde. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang der Beschluss des Verfassungsgerichts in der Rechtssache 86/2011, in dem es dem sion: La proiezione della Costituzione sull’ordinamento giuridico, Bari 2012; portugiesische Version: A Projeção da Constituição Sobre o Ordenamento Jurídico, São Paulo 2014. 7 Siehe Balaguer Callejón, Francisco, Il modello europeo di integrazione e la sua incidenza sulle Corti costituzionali e sui Parlamenti nazionali, in: Lanchester, Fulco, Parlamenti nazionale e Unione Europea nella governance multilivello, Milano 2016, S. 695–714; vgl. auch BVerfG, Urteil des Zweiten Senats v. 26.2.2014, 2 BvE 2/13, Rn. 71 f., 75 – Dreiprozent-Sperrklausel. 8 Siehe Balaguer Callejón, Francisco, European Integration and Limitation of the Power of Constitutional Reform, in: Arnold, Rainer (Hrsg.), Limitations of National Sovereignty through European Integration, 2016, S. 15–25. 9 Siehe Balaguer Callejón, Francisco, in: Balaguer Callejón, Francisco (Coordinador), Gregorio Cámara Villar, Juan Fernando López Aguilar, María Luisa Balaguer Callejón, José Antonio Montilla Martos, Manual de Derecho Constitucional, Vol. I, 14. Aufl., Madrid 2019, S. 264 ff.

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Europäischen Gerichtshof die Frage der Auslegung und gegebenenfalls der Gültigkeit von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten vor dem Hintergrund der in Art. 24 Abs. 2 der span. Verfassung vorgesehenen Verteidigungsrechte sowie der Garantien des wirksamen Rechtsschutzes und der Achtung der Verteidigungsrechte (Art. 47 und 48 GRC) vorlegte.10 Dabei ging es um die Verfassungsbeschwerde des in Italien in Abwesenheit verurteilten Stefano Melloni gegen seine Ausweisung an Italien (unten sub IV.2). Ein weiteres Phänomen des Wandels zeigt sich in der Änderung der Haltung der rechtsprechenden Organe gegenüber dem Gesetz,11 sofern die Gesetze, die gegen europäisches Recht verstoßen, als nicht anwendbar zu betrachten sind. Es sollte jedoch beachtet werden, dass der Vorrang nicht dem Grundsatz der normativen Hierarchie entspringt, da er eine mit dem Prinzip der Hierarchie unvereinbare kompetenzielle Dimension aufweist. Aus diesem Grund führt eine gegen Unionsrecht verstoßende nationale Regelung nicht zu dessen Ungültigkeit, so wie dies bei der innerstaatlichen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen der Fall ist, sondern nur zu ihrer Nichtanwendbarkeit. Diese Feststellung ist Teil der Funktionen, die den Richtern hinsichtlich der Prüfung von Gesetzen zugewiesen sind. Die Folge ist vergleichbar mit dem Fall der Nichtanwendung von Gesetzen aufgrund des Grundsatzes „lex posterior derogat legi priori“.12 Andere, ebenfalls relevante Aspekte beziehen sich auf die Überformung des nationalen Grundsatzes der Gewaltenteilung sowie auf die Auswirkungen des Unionsrechts auf die territoriale Staatsorganisation, auch wenn das Prinzip der regionalen und lokalen Selbstverwaltung im supranationalen Recht bestätigt wurde, derzeit als Element der Wahrung der Verfassungsidentität gemäß Art. 4 Abs. 2 EUV. Zu erwähnen sind auch die Folgen des Unionsrechts für die nationale Demokratie oder die Normativität der Verfassung.13

10

Art. 4 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses zählt die Gründe auf, aus denen eine Auslieferung abgelehnt werden kann. Zum Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vgl. Rs. C-399/11 (Melloni) v. 26.2.2013. Das spanische Verfassungsgericht hat in seinem Urteil 26/2014 sodann auf der Grundlage der Entscheidung des EuGH die Verfassungsbeschwerde als unbegründet verworfen. 11 Siehe Muñoz Machado, Santiago, La Unión europea y las mutaciones del Estado, Madrid 1993; Randazzo, Alberto, La tutela dei diritti fondamentali tra CEDU e Costituzione, Milano 2017. 12 Siehe Balaguer Callejón, Francisco, La constitucionalización de la Unión Europea y la articulación de los ordenamientos europeo y estatal, in: Miguel Ángel García Herrera (Hrsg.), El constitucionalismo en la crisis del Estado social, Universidad del País Vasco, Bilbao 1997, S. 593–612. 13 Siehe Balaguer Callejón, Francisco, Diritto e giustizia nell’ordinamento costituzionale europeo, in: Giustizia e diritto nella scienza giuridica contemporanea, a cura di Antonio Cantaro, Torino 2011, S. 31–49; spanische Version: Derecho y Justicia en el ordenamiento constitucional europeo Revista de Derecho Constitucional Europeo, 16/2011.

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Dabei können wir nicht außer Acht lassen, dass das europäische Integrationsprojekt als äußerer Schutzschild demokratischen Rückbildungen innerhalb der Mitgliedstaaten entgegenwirkt, auch wenn dieser Schutz mit Blick auf einige Mitgliedstaaten nicht so effektiv ist, wie man es sich gewünscht hätte. Hervorgehoben werden muss schließlich die Rolle, die die supranationalen Institutionen unter dem Aspekt der Fortentwicklung der nationalen Verfassungen spielen, vor allem auf dem Gebiet der Grundrechte, und zwar mittels der wechselseitigen Beziehung zwischen der europäischen und der nationalen Rechtsordnung. Neben diesen Erscheinungen eines strukturellen Wandels ist es notwendig, die Einflüsse zu benennen, welche die „Europaoffenheit“ der nationalen Verfassungen auf die übrigen Rechtsordnungen hat, weil sie in Übereinstimmung mit dem Unionsrecht sowie mit den Schutzstandards der EMRK und der sie auslegenden Rechtsprechung des EGMR stehen oder entsprechend ausgelegt werden müssen.14

III. Die Einwirkung der EMRK auf die spanische Verfassungsordnung Auch wenn es im spanischen Verfassungsrecht Reformen im Zusammenhang mit Erfordernissen gab, die sich aus dem Unionsrecht ergeben, wurde die spanische Verfassung nicht reformiert, um sie an die EMRK anzupassen. Dies könnte etwa hinsichtlich des in Spanien im April 2010 in Kraft getretenen „Zusatzprotokolls zur Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen“ als erforderlich angesehen werden. Denn nach dem Wortlaut der Verfassung bleibt ihre Vollstreckung zulässig, „sofern sie […] in militärischen Strafgesetzen für Kriegszeiten vorgesehen ist“. Die Abschaffung fand aber auf einfach-gesetzlicher Ebene statt, und zwar mittels der Änderung des Militärstrafrechtes (durch das Organgesetz 11/1995), ohne zuvor die Verfassung zu ändern. Auf gesetzlicher Ebene sind das Organgesetz 7/2015 und das Gesetz 41/2015 zu erwähnen. Beide eröffnen die Möglichkeit, Revisionsverfahren vor dem Obersten Gerichtshof gegen rechtskräftige Entscheidungen einzuleiten, falls der EGMR geurteilt hat, dass eine Verletzung eines der in der EMRK anerkannten Rechte vorliegt.15 Obwohl das Verfassungsgericht schon vor geraumer Zeit erklärt hat, dass die Rechtsprechung des EGMR gemäß Art. 10 Abs. 2 der span. Verfassung in der spanischen Rechtsordnung unmittelbar anwendbar sein soll (Urteil 303/1993), fehlte es noch an einer entsprechenden gesetzlichen Anordnung. Allein die gesetzliche Anordnung dieses spezifischen Mechanismus könnte die unmittelbare 14

Siehe Balaguer Callejón, Francisco, A Carta dos Direitos Fundamentais da União Europeia, Direitos Fundamentais & Justiça, 11/2010. 15 Siehe Guillén López, Enrique, Ejecutar en España las sentencias del Tribunal Europeo de Derechos Humanos. una perspectiva de Derecho Constitucional Europeo, Teoría y Realidad Constitucional, 42/2018, S. 335–370.

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Maßstäblichkeit der Rechtsprechung des EGMR für sämtliche Handlungen der öffentlichen Gewalt sicherstellen, unter Einbeziehung von Entscheidungen mit Rechtskraft.16 Eine Bilanz der Rechtsprechung des EGMR macht deutlich, dass Spanien nicht sehr häufig durch Entscheidungen dieses Organs „verurteilt“ wird oder dass gegen spanische Akte öffentlicher Gewalt nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs oftmals die Individualbeschwerde (Art. 34 EMRK) eingelegt wird. Viele der Verurteilungen beziehen sich, wie bei anderen Konventionsstaaten, auf das Justizwesen, namentlich auf Mängel in der Gestaltung unseres Prozessrechts, die später korrigiert wurden. Insgesamt ist zu betonen, dass Spanien bis heute statistisch im Vergleich zu Deutschland nur halb so oft verurteilt wurde; im Vergleich zu Italien sind es sogar nur ungefähr 10 % der Rechtssachen, die gegen Spanien anhängig gemacht wurden, obwohl Spanien dem Europarat erst am 24. November 1977 beigetreten ist und der zu berücksichtigende Zeitraum deshalb kürzer ist.17 Demzufolge ist es verständlich, dass der unmittelbare Einfluss dieser Entscheidungen auf die innerstaatliche Ordnung geringer ist, unbeschadet der Tatsache, dass die Rechtsprechung des EGMR unabhängig von den verfassungsrechtlichen Normen, die die Wirkung dieser Entscheidungen innerhalb der staatlichen Rechtsordnung regeln, vor allem von den nationalen Gerichten, immer berücksichtigt werden muss.18 Die Reformen der einfachen Gesetzgebung, die sich aus der Anwendung der Rechtsprechung des EGMR herleiten, betrafen eine große Anzahl von bedeutenden Gesetzen, wie namentlich das Strafrecht, das Zivil- und Strafprozessrecht oder das Organgesetz über die richterliche Gewalt. Deutlich wird dies beispielsweise anhand des Organgesetzes 7/1988 über die Strafgerichte,19 das auf eine Entscheidung des EGMR zurückgeht, nach der eine Tätigkeit als Untersuchungsrichter im Strafverfahren mit der Unparteilichkeit des Richters unvereinbar ist. So verhält es sich auch mit dem Organgesetz 6/2007, durch welches das Organgesetz 2/1979 vom 3. Oktober 1979 über die Verfassungsgerichtsbarkeit geändert und die Möglichkeit eingeführt wurde, dass die Parteien eines Gerichtsverfahrens innerhalb des laufenden Verfahrens vor dem Verfassungsgericht eine konkrete Normenkontrolle anhängig machen können (Art. 4420). So bestätigt es auch das Gesetz 41/2015 über

16 Siehe Ripol Carulla, Santiago, La ejecución de las sentencias del Tribunal Europeo de Derechos Humanos en el ordenamiento jurídico español, Revista Europea de Derechos Fundamentales, 15/1er Semestre/2010, S. 75–112. 17 Siehe Matía Portilla, Javier, Examen de las sentencias del Tribunal de Estrasburgo que afectan al Reino de España, in: Teoría y Realidad Constitucional, 42/2018, S. 273 ff. 18 Siehe Queralt Jiménez, Argelia, Las sentencias piloto como ejemplo paradigmático de la transformación del Tribunal Europeo de Derechos Humanos, in: Teoría y Realidad Constitucional, 42/2018, S. 395 ff. 19 Ley Orgánica 7/1988 de los Juzgados de lo Penal, y por la que se modifican diversos preceptos de las Leyes Orgánica del Poder Judicial y de Enjuiciamiento Criminal, v. 28.12.1988. 20 In der Fassung des Organgesetzes 6/2007 v. 24.5.2007, BOE Nr. 125, v. 25.5.2007, S. 22541 ff.

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das Strafverfahren,21 das im Kern die Rechtsprechung der EMRK zur Beweiserhebung in der zweiten Strafinstanz umsetzt. Andere Urteile des EGMR beziehen sich auf den Rechtsschutz in den unterschiedlichen Instanzen; hierzu gehört in der spanischen Rechtsordnung auch die Verfassungsbeschwerde. Die zugrundeliegenden Entscheidungen behandeln verschiedene Rechtsfragen, die prozessuale Aspekte ebenso umfassen wie materielle. Gemäß Art. 5 Abs. 1 des Organgesetzes 6/1985 über die richterliche Gewalt muss die richterliche Gewalt, also Richter und Gerichte, die Gesetze und Verordnungen gemäß den verfassungsrechtlichen Grundsätzen und Normen interpretieren sowie anwenden, und zwar in der Auslegung, die in den Entscheidungen des Verfassungsgerichts in ständiger Rechtsprechung zum Ausdruck kommt. Auch wenn keine Gesetzesänderungen erfolgen, um die innerstaatliche Rechtsordnung an die Rechtsprechung des EGMR anzupassen, muss diese europäische Rechtsprechung dennoch mittels der Rechtsprechung des nationalen Verfassungsgerichts für Richter und Gerichte umgesetzt werden (Urteil 184/2003, Rechtsgrundlage 7), und zwar bis der Gesetzgeber die Notwendigkeit erkannt hat, dass es einer Neuregulierung bedarf, um den verfassungsrechtlichen Erfordernissen zu entsprechen („sobald wie möglich“). Einige Entscheidungen des EGMR hatten insbesondere eine innerstaatliche Bedeutung, da sie in Verbindung mit der strafrechtlichen Behandlung des Terrorismus standen und zu Diskussionen über den EGMR Anlass gaben, ohne die Legitimität seiner Zuständigkeit letzten Endes in Frage zu stellen. Generell lässt sich festhalten, dass die Akzeptanz der mit der Zeit immer aktiveren und wachsenden Rolle des EGMR im Rahmen der nationalen Verfassungsdebatten in unserer Rechtsordnung unbestritten ist.

IV. Die Einwirkung des Unionsrechts in der spanischen Verfassungsordnung 1. Verfassungsreformen und Konfliktverhältnisse zwischen EU-Recht und nationalem Verfassungsrecht Was die Auswirkungen des EU-Rechts auf die nationalen Rechtsordnungen angeht, muss unter dem Aspekt des Verhältnisses zwischen europäischem Recht und innerstaatlichem Recht zwischen der verfassungsrechtlichen und der infrakonstitutionellen Ebene unterschieden werden. Die einzigen beiden Verfassungsreformen, die im Text der Verfassung von 1978 stattgefunden haben, bezogen sich auf Erfordernisse, die sich aus dem Prozess der europäischen Integration ergeben. Insbesondere wurde in Art. 13 Abs. 2 der spanischen Verfassung das passive 21 Ley 41/2015 de modificación de la Ley de enjuiciamiento criminal para la agilización de la justicia penal y el fortalecimiento de las garantías procesales, v. 5.10.2015.

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Wahlrecht der Unionsbürger bei Kommunalwahlen normiert (zuvor war nur das aktive Wahlrecht garantiert). In Art. 135 der Verfassung wurden die sich aus dem „Fiscal Compact“ ergebenden Anforderungen verankert, aufgrund der wegen der seinerzeitigen Eurokrise gebotenen Dringlichkeit sogar noch vor Inkrafttreten des Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion. Über diese speziellen Reformen hinaus muss zwischen osmotischen und konfliktiven Beziehungen im Verhältnis von Verfassungsrecht und Europarecht unterschieden werden. Es muss daher zwischen einer möglichen Kollision zwischen europäischem Recht und nationalem Verfassungsrecht einerseits und der eventuellen Integration des Unionsrechts in die nationale Verfassungsordnung auf der anderen unterschieden werden. Es gibt zwischen dem Europarecht und dem nationalen Verfassungsrecht nicht nur Situationen des Widerstreits, sondern auch der osmotischen Verbindung, so dass anhand dieses Parameters, der das Ergebnis der partiellen Verbindung beider Ordnungen ist, die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit einer infra-konstitutionellen Norm festgestellt werden kann. Beide Dimensionen kommen im Topos der Verfassungsidentität zum Ausdruck.22 Er beinhaltet zum einen die Vorstellung eines Verfassungskerns, der potenziell resistent gegenüber dem Grundsatz des Vorranges des Unionsrechts ist und daher der supranationalen Rechtsordnung eine Schranke zieht. Zum anderen bringt er zum Ausdruck, wie der EuGH die Verfassungseigenheiten der Mitgliedstaaten, die als Verfassungsidentität bezeichnet werden, rechtlich behandelt, um die Anwendung des Grundsatzes des Vorrangs im Einzelfall auszugestalten. Insoweit wird auch die Appellfunktion deutlich, die der Prozess der osmotischen Beziehungen zwischen den beiden Rechtsordnungen erfüllt.23 Dieses Beziehungsgeflecht auszugestalten, obliegt auf nationaler Ebene den Verfassungsgerichten, gegebenenfalls mittels der Auffüllung der an ihre Prüfung anzulegenden Maßstabsnormen mit europarechtlichen Gehalten. Im Ergebnis kann so auf mitgliedstaatlicher Seite die dialektische Beziehung zwischen dem nationalen Verfassungsrecht und dem Unionsrecht gestaltet werden. Es ist dann das Europarecht, das dazu beiträgt, die Inhalte des nationalen Verfassungsrechts auszulegen und so über die Verfassungsidentität im weiteren Sinne zu entscheiden.24 Die konfliktive Dimension der Verfassungsidentität ist demgegenüber d­ iejenige, in der es um die Identifizierung eines verfassungsrechtlichen Kerns geht, der mög 22

In Bezug auf das Prinzip der Verfassungsidentität siehe Azpitarte Sánchez, Miguel. Identidad nacional y legitimidad del tribunal de justicia, in: Teoría y Realidad Constitucional, 39/2017, S. 413–448. 23 Siehe Balaguer Callejón, Francisco, A relação dialética entre identidade constitucional nacional e europeia, no quadro do Direito Constitucional Europeu, UNIO – EU Law Journal, 1/2017. 24 Siehe Balaguer Callejón, Francisco, Primato del diritto europeo e identità costituzionale nell’esperienza spagnola, in: I Controlimiti – Primato delle norme europee e difesa dei principi costituzionali, a cura di Alessandro Bernardi, Napoli 2017, S. 113–133.

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licherweise gegenüber Einwirkungen des Europarechts resistent ist, wenn er nämlich als „domaine reservé“ die Verfassungsidentität des Staates im engeren Sinne ausmacht. Es ist genau dieser Punkt, an dem eine potentielle Spannungslage zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht auftreten kann. Die Inhalte der nationalen Identität, also die europarechtsresistenten Kerngehalte des nationalen Verfassungsrechts, müssen inhaltlich bestimmt werden, so dass diese in ihrer Bedeutung als „Grenz-Konzept“ wirklich nur als letzter Ausweg zur Anwendung gelangen, und zwar in den Fällen, in denen ein Konflikt zwischen Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht anders nicht verhindert werden kann. Wegen solcher rechtlichen Konfliktsituationen hat das spanische Verfassungsgericht in seiner Eigenschaft als letzter Garant der Verfassungsidentität den klaren Grundsatz aufgestellt, dass die Anwendung des Unionsrechts nicht gegen die Verfassung verstoßen darf, weil der Beitritt zur Europäischen Union an der Bindung der öffentlichen Gewalt an die Verfassung nichts geändert hat. Die Doktrin des Verfassungsgerichts ist eindeutig. In der Entscheidung 64/1991 wird ausdrücklich darauf hingewiesen, „die Übertragung von Befugnissen zugunsten von supranationalen Organisationen [bedeute nicht], dass die nationalen Institutionen nicht mehr der innerstaatlichen Rechtsordnung unterliegen, und zwar auch bei der Erfüllung von Verpflichtungen gegenüber diesen Organisationen, weil die öffentliche Gewalt auch dann weiterhin der Verfassung und dem übrigen spanischen Rechtssystem unterliegt (Art. 9.1 span. Verfassung).“25 Dieses allgemeine Prinzip bedeutet, dass alle Verfahren vor dem Verfassungsgericht zur Überprüfung von Handlungen der öffentlichen Gewalt weiterhin offenstehen, auch dann, wenn staatliche Maßnahmen zur Umsetzung des Unionsrechts erlassen werden. In der spanischen Verfassungsrechtsprechung wurde die Frage eines möglichen Verfassungskonflikts dann anlässlich der Ratifizierung des Europäischen Verfassungsvertrags (2005) erneut aufgeworfen. Dieser (letztlich gescheiterte) Vertrag über eine Verfassung für Europa normierte bekanntlich ausdrücklich den „Grundsatz des Vorrangs“ in Art. I-6: „Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der der Union übertragenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten.“ Diese Bestimmung, die in den Vertrag von Lissabon dann nur noch im Rang einer Erklärung (Nr. 17) aufgenommen wurde, führte zu der Frage, ob dies nicht in einem möglichen Widerspruch zu Art. 9.1 der spanischen Verfassung („Die Bürger und die öffentlichen Gewalten sind an die Verfassung und die übrige Rechtsordnung gebunden.“) stehe.

25 Vgl. Urteil des span. Verfassungsgerichts 64/1991 v. 22.3.1991, Rechtsgrundlage 4 in fine: „No puede ser de otra forma, ya que la cesión del ejercicio de competencias en favor de organismos supranacionales no implica que las autoridades nacionales dejen de estar sometidas al ordenamiento interno cuando actúan cumpliendo obligaciones adquiridas frente a ­tales organismos, pues también en estos casos siguen siendo poder público que está sujeto a la Constitución y al resto del ordenamiento jurídico español (art. 9.1 C. E.).“

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Diese Frage stellte der Staatsrat (Consejo de Estado) in einem Gutachten zum Verfassungsvertrag für Europa.26 Der spanischen Regierung schlug er vor, von Art. 95 Abs. 2 der spanischen Verfassung Gebrauch zu machen und beim Verfassungsgericht die Abgabe einer Erklärung hinsichtlich einer möglichen Verfassungswidrigkeit des Verfassungsvertrages zu beantragen. In diesem Fall hätte vor Abschluss des Vertrages die Verfassung geändert werden müssen (Art. 95 Abs. 1 span. Verfassung). Das Verfassungsgericht bestätigte in der Erklärung 1/2004 vom 13. Dezember 2004, dass kein Widerspruch zwischen der spanischen Verfassung und dem Verfassungsvertrag bestehe.27 Das Verfassungsgericht behält in dieser Erklärung die bisherige Doktrin bei, und zwar in dem Sinne, dass ein möglicher Widerspruch zwischen dem Europarecht und der spanischen Verfassung eine Stellungnahme des Verfassungsgerichts zwingend erfordert. „In dem kaum vorstellbaren Fall, dass dieser Rechtsakt in der weiteren Dynamik des Unionsrechts mit der spanischen Verfassung unvereinbar werden würde, ohne dass die hypothetischen Exzesse des europäischen Rechts hinsichtlich der europäischen Verfassung selbst durch die hierin vorgesehenen üblichen Verfahren beseitigt werden, könnte in letzter Instanz der Wahrung der Souveränität des spanischen Volkes und die damit verbundene oberste Herrschaft der Verfassung dazu führen, dass der Gerichtshof die Probleme angeht, die sich in einem solchen Fall ergeben, die aber aus heutiger Sicht, angesichts der einschlägigen verfassungsrechtlichen Verfahren, als nicht existent anzusehen sind. Abgesehen davon, dass die Wahrung dieser Souveränität immer durch Art. I-60 des Vertrags [Recht zum Austritt aus der Union] als einem echten Kontrapunkt zu Art. I-6 gewährleistet ist, erlaubt es uns [dieses Austrittsrecht], den in [Art. 6 Verfassungsvertrag] proklamierten Vorrang in seiner wirklichen Dimension zu bestimmen.“28

26 Consejo de Estado, Expediente relativo al Tratado por el que se establece la Constitución Europea, 21.10.2004, verfügbar unter https://www.boe.es/buscar/doc.php?id=CE-D-​20042544. 27 Span. Verfassungsgericht, Erklärung 1/2004 v. 13.12.2004, verfügbar unter http://hj.​ tribunalconstitucional.es/es-ES/Resolucion/Show/6945. 28 Span. Verfassungsgericht, Erklärung 1/2004 v. 13.12.2004, Rechtsgrundlage 4 in fine: „En el caso difícilmente concebible de que en la ulterior dinámica del Derecho de la Unión Europea llegase a resultar inconciliable este Derecho con la Constitución española, sin que los hipotéticos excesos del Derecho europeo respecto de la propia Constitución europea fueran remediados por los ordinarios cauces previstos en ésta, en última instancia la conservación de la soberanía del pueblo español y de la supremacía de la Constitución que éste se ha dado podrían llevar a este Tribunal a abordar los problemas que en tal caso se suscitaran, que desde la perspectiva actual se consideran inexistentes, a través de los procedimientos constitucionales pertinentes, ello aparte de que la salvaguarda de la referida soberanía siempre resulta a la postre asegurada por el art. I-60 del Tratado, verdadero contrapunto de su art. I-6, y que permite definir en su real dimensión la primacía proclamada en este último, incapaz de sobreponerse al ejercicio de una renuncia, que queda reservada a la voluntad soberana, suprema, de los Estados miembros.“

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2. Osmotische Beziehungen zwischen dem EU-Recht und dem nationalen Verfassungsrecht Angesichts der osmotischen Beziehungen zwischen dem EU-Recht und der nationalen Verfassungsordnung stellt sich für die spanische Verfassungsordnung die Frage, ob die europarechtlichen Normen auch in den sogenannten „Block der Verfassungsmäßigkeit“ (bloque de constitucionalidad) integriert oder in einem weiteren Sinne als Parameter der Verfassungsmäßigkeit angesehen werden können. Das spanische Verfassungsgericht hat diese Frage verneint, da es die Meinung vertritt, dass das Europarecht weder in den Block der Verfassungsmäßigkeit integriert ist noch in den Parameter der Verfassungsmäßigkeit aufgenommen werden kann. Das Verfassungsgericht ist insoweit einer sehr zurückhaltenden Rechtsprechung gefolgt, um zu vermeiden, dass ihm Fragen vorgelegt werden, die sich aus der Anwendung des Unionsrechts ergeben. Zu diesem Zweck hat es versucht, dieser Art von Vorlagefragen einen „infra-konstitutionellen“ Charakter zu verleihen, was nicht akzeptabel ist, da es sich tatsächlich um Probleme konstitutioneller Natur handelt. Denn jeder Verstoß gegen geltendes europäisches Recht impliziert aus meiner Sicht zwangsläufig auch die Verletzung der in Art. 93 der spanischen Verfassung festgelegten Entscheidung zugunsten der Übertragung von verfassungsrechtlichen Kompetenzen auf internationale Organisationen. Diese Auslegung des in Art. 93 der spanischen Verfassung normierten Integrationshebels bedeutet jedoch nicht, dass das Verfassungsgericht in die Entscheidung über Konflikte zwischen Europarecht und innerstaatlichem Recht eingreift, obwohl es dann intervenieren kann, wenn andere Verfassungsbestimmungen durch eine Maßnahme der Europäischen Union betroffen sind (Urteile 58/2004 und 194/2006). Ein solches Eingreifen ist indes nur dann erforderlich, wenn die Beziehungen zwischen beiden Rechtsordnungen einem hierarchischen Prinzip folgten, das zur Nichtigkeit nationaler, mit dem Unionsrecht unvereinbarer Regelungen führen würde. Der Grundsatz des Vorrangs bedeutet aber allein, dass die nationalen Regelungen nicht anwendbar sind, weil die Bestimmungen des Primär- und Sekundärrechts der Union anzuwenden sind. Es handelt sich also um eine Frage der Anwendbarkeit und nicht um eine solche der Geltung, über die der angerufene Richter entscheiden muss (oben sub II). So hat es das Verfassungsgericht auch für den Fall eines Widerspruchs zwischen innerstaatlichen Rechtsnormen und den von Spanien ratifizierten internationalen Verträgen entschieden.29 29 Span. Verfassungsgericht, Urteil 140/2018 v. 20.12.2018, Rechtsgrundlage 6: „El marco jurídico constitucional existente erige, pues, al control de convencionalidad en el sistema español en una mera regla de selección de derecho aplicable, que corresponde realizar, en cada caso concreto, a los jueces y magistrados de la jurisdicción ordinaria. Como viene estableciendo de forma incontrovertida la jurisprudencia previa, la determinación de cuál sea la norma aplicable al caso concreto es una cuestión de legalidad que no le corresponde resolver al Tribunal Constitucional sino, en principio, a los jueces y tribunales ordinarios en el ejercicio de la función jurisdiccional que, con carácter exclusivo, les atribuye el artículo 117.3 CE […].“

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Über die rechtstechnischen Fragen der Anwendung der Normen internationaler Verträge innerhalb der spanischen Rechtsordnung hinaus und ungeachtet der Doktrin des spanischen Verfassungsgerichts ist es in der Tat so, dass das Unionsrecht sich in die spanische Rechtsordnung einfügen muss. Dies führt zu einer Inter­ aktion zwischen der innerstaatlichen Rechtsordnung und dem Unionsrecht, die sich auch auf das Verfassungsrecht auswirkt. Dieses Wechselspiel wird schrittweise zunehmen, und zwar im Maße der Intensivierung des europäischen Integrationsprozesses. Dieses Problem zu leugnen – wie es das spanische Verfassungsgericht tut – trägt nicht dazu bei, es zu lösen oder seine Auswirkungen zu kontrollieren. Eine wichtige Neuerung in Bezug auf die mögliche Einbeziehung des Europarechts in den Parameter der Verfassungsmäßigkeit brachte der Beschluss des Verfassungsgerichtes 86/2011 vom 9. Juni 1986, mit dem das Plenum dem Gerichtshof der EU drei Fragen zur Vorabentscheidung vorlegte, über die der EuGH sodann durch Urteil vom 26. Februar 2013 entschieden hat (oben sub II). Das Verfassungsgericht räumte in diesem Beschluss ein, dass das Unionsrecht Teil der Parameter der Verfassungsmäßigkeit sein könne. So führte es aus: „In der vorliegenden Verfassungsbeschwerde muss sich der Gerichtshof einem Problem stellen, dessen Lösung zum größten Teil von der Auslegung und Gültigkeit der einschlägigen Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 abhängt sowie von der Auslegung des Art. 53 GRC und den Schlussfolgerungen, die sich aus diesen Vorschriften ergeben.“ Denn „der Kontrollparameter, den wir zugrunde legen müssen […] beinhaltet unter anderem die Rechtsnormen der Europäischen Union, die die entsprechenden Grundrechte schützen, sowie diejenigen Bestimmungen, die den europäischen Haftbefehl regeln“.30 Eine wesentliche Änderung der bisher vom spanischen Verfassungsgericht entwickelten Doktrin schien daher zum Greifen nahe zu sein. Dies kam dann aber doch nicht so, wie das Urteil 26/2014 vom 13. Februar 2014 belegt, das in Umsetzung der vom EuGH in der Rechtssache Melloni beantworteten Vorlagefragen erging. Hier entschied das Verfassungsgericht über das Auslieferungsgesuch Italiens auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 2 der spanischen Verfassung,31 wobei es die Reichweite der verfassungsrechtlich

30 Span. Verfassungsgericht, Beschluss 86/2011 v. 9.6.2011, Rechtsgrundlage 4 b: „[…] el canon de control que debemos aplicar para enjuiciar la constitucionalidad del Auto de la Sección Primera de la Sala de lo Penal de la Audiencia Nacional de 12 de septiembre de 2008, por el que se autorizó la entrega del demandante de amparo a las autoridades italianas, ha de ser integrado a partir, entre otras, de las normas de Derecho de la Unión Europea que protegen los correspondientes derechos fundamentales, así como de las que regulan la orden europea de detención y entrega, de donde deriva claramente la trascendencia constitucional de la interpretación que haya de darse a esas disposiciones del Derecho de la Unión.“ 31 Art. 10 Abs. 2 der span. Verfassung lautet: „Die Normen, die sich auf die in der Verfassung anerkannten Grundrechte und Grundfreiheiten beziehen, sind in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den von Spanien ratifizierten internationalen Verträgen und Abkommen über diese Materien auszulegen.“

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gewährleisteten Grundrechte am Maßstab des Unionsrechts prüfte, ohne es indes zum integralen Bestandteil des Parameters der Verfassungsmäßigkeit zu machen.32 3. Die Einwirkung des Unionsrechts auf der infra-konstitutionellen Ebene der nationalen Rechtsordnung Auf infra-konstitutioneller Ebene ist ein Spannungsverhältnis zwischen dem Unionsrecht und dem innerstaatlichen Recht in Spanien nicht erkennbar. Im Gegenteil, die Grundsätze der unmittelbaren Wirkung und des Vorrangs des Unionsrechts sind von unserem Verfassungsgericht gänzlich übernommen worden. Insofern ist die Bindungswirkung des Unionsrechts für alle öffentlichen Gewalten bereits durch die Entscheidung des Verfassungsgerichts 28/1991 klar festgestellt worden. In der Rechtsgrundlage 4 heißt es hier: „Das Königreich Spanien ist ab dem Tag des Beitritts an das primäre und abgeleitete Recht der Europäischen Gemeinschaften gebunden, das – um es in den Worten des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zu sagen – eine eigene Rechtsordnung schafft, die in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten eingeflossen und von ihren Gerichten anzuwenden ist (Urteil Costa / E. N. E. L. vom 15. Juli 1964).“ Jedoch gibt es Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Richtlinien. Spanien befindet sich auf der Liste der Mitgliedstaaten, die ihre insoweit bestehenden Verpflichtungen nur unzureichend erfüllen, auf einer der vorderen Plätze.33 Daher müssen die Verfahren verbessert werden, um diese Mängel abzustellen. In Anbetracht dessen, dass unser Staat in hohem Maße territorial dezentralisiert ist und insoweit einem föderalen Modell entspricht, folgt aus diesem Befund andererseits, dass das Prinzip der institutionellen Autonomie eingehalten werden muss. Die Autonomen Gemeinschaften müssen deshalb das Unionsrecht im Bereich ihrer Zuständigkeiten anwenden. Jedoch gab es auf die Frage nach der Verantwortung im Fall der Nichterfüllung dieser Verpflichtung bis vor kurzem keine Antwort des spanischen Gesetzgebers. Sie erfolgte erst mit den Regelungen des Organgesetzes 2/2012 und dem Dekret 515/2013 vom 5. Juli 2013. Hier werden Kriterien fest­gelegt, die bestimmen, wer für innerstaatliche Verstöße bei der Umsetzung des EU-Rechts verantwortlich ist.

32 So auch die Kritik im Sondervotum der Richterin Adela Asua Batarrita (13.2.2014) an der von der Mehrheit der Richter Urteil 26/2014 getroffenen Entscheidung; http://hj. tribunalconstitucional.es/HJ/es/Resolucion/Show/23814. 33 Siehe Delgado, Isaac Martín, La repercusión de la responsabilidad por incumplimiento del Derecho de la Unión Europea en el contexto del Estado Autonómico, Revista de Administración Pública, 199/2016, S. 51 ff.

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V. Schlussfolgerungen Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir bei der Analyse des Einflusses supranationaler Systeme auf die nationale Verfassung zuvörderst das Konzept „Verfassung“ überdenken müssen. Dieser Begriff stellt eine komplexe Realität dar,34 die nicht mehr nur auf die nationalen Verfassungstexte eingeschränkt werden kann. Man darf also das Verhältnis zwischen den Rechtsordnungen nicht mehr nur im Sinne der Begriffsdefinition des Nationalstaates verstehen, wenn  – wie F. Carne­lutti es formulierte – alles das, was von einer Rechtsordnung in eine andere Rechtsordnung eindringt, als „Tatsache“ und nicht als „Recht“ verstanden werden muss. Es gibt sowohl ein supranationales Verfassungsrecht als auch ein territoriales Verfassungsrecht, das staatenübergreifend zugleich in Deutschland, Spanien oder Italien sowie zusammen mit dem ureigenen nationalen Verfassungsrecht gilt. Die Beziehungen zwischen diesen Dimensionen des Verfassungsrechts stellen das große Thema der Rechtsquellentheorie unserer Zeit dar. Die zweifellos europafreundliche Orientierung der spanischen Rechtsordnung ging nicht immer mit einer angemessenen Formulierung der Beziehungen zwischen der Rechtsordnung der Union und der nationalen Rechtsordnung einher, wenn auch in der Praxis die Anwendung des EU-Rechtes nicht infrage gestellt wurde. Was die EMRK betrifft, so stimmte die Anerkennung der vollen Wirksamkeit der Rechtsprechung des EGMR nicht mit einer adäquaten Formulierung in der nationalen Gesetzgebung überein, ungeachtet der vielen Gesetzesreformen, die zur Anpassung der spanischen Rechtsordnung an die Rechtsprechung des Gerichtshofes unternommen wurden. Erst vor kurzem wurde ein gesetzlicher Rahmen für diese Beziehung geschaffen, und zwar durch das Organgesetz 7/2015 sowie das Gesetz 41/2015, die anlässlich der Stärkung des Rechtsmittels der Revision eine Regelung über den Zugang zur Revisionsinstanz für den Fall der Verletzung eines Konventionsrechts aufgenommen haben. Demgemäß stellen Urteile des EGMR, die die Verletzung eines in der Konvention oder in einem ihrer Protokolle garantierten Rechte feststellen, einen ausreichenden Grund dar, um eine Revision gegen ein bereits bestandskräftiges Urteil beim Richter „a quo“ einzulegen oder einen bestandskräftigen gerichtlichen Beschluss im Wege der Revision anzufechten.35 Hervorzuheben ist schließlich, dass die Wandlungen, die wir in den letzten Jahren sowohl im Unionsrecht als auch im Bereich des Straßburger Systems beobachten, von großer Bedeutung sind. Dies wirkt sich auch auf die Konfiguration der Gerichte selbst und ihre Funktionen in Bezug auf die nationalen Rechtsordnungen aus. Was den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angeht, ist 34

Siehe Häberle, Peter, Europäische Verfassungslehre, Baden-Baden 2011, S. 209 ff. Vgl. Art. 328 Abs. 2 der Ley Orgánica 7/2015, 21 de julio, por la que se modifica la Ley Orgánica 6/1985, de 1 de julio, del Poder Judicial bzw. Art. 954 Abs. 3 der Ley 41/2015, de 5 de octubre, de modificación de la Ley de Enjuiciamiento Criminal para la agilización de la justicia penal y el fortalecimiento de las garantías procesales. 35

Einwirkungen des Unionsrechts und der EMRK auf nationale Verfassungen

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diese Entwicklung deshalb bemerkenswert, weil seine Rechtsprechung nun eine verfassungsrechtliche Dimension aufweist und sich hier eine zunehmende Annäherung an die Parameter einer konstitutionellen Gerichtsbarkeit zeigt, auch wenn dem System insgesamt noch weitere Elemente fehlen, die für eine vollständige verfassungsrechtliche Ausgestaltung typisch sind. Durch das Inkrafttreten der Grundrechtecharta der EU ist mit Blick auf den EuGH ebenfalls ein Wandel zu verzeichnen, der vor allem in seiner fortschreitenden Hinwendung zu Rechtsfragen wahrnehmbar ist, die mit der wachsenden Verfassungsdichte des Unionsrechts zusammenhängen. Dies alles führt notwendigerweise zu neuen Formen der Kooperation mit den nationalen Höchstgerichten, wie dies namentlich bei der Bestimmung der Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten zum Ausdruck kommt.

Die Einwirkung des EU-Rechts auf die italienische Verfassung Diana-Urania Galetta

I. Welche Einwirkungen? Die europäische Integration beeinflusst vielfältig das Verfassungsrecht Italiens, so wie alle Verfassungen der Mitgliedstaaten. Einerseits geschieht das durch die Einwirkung der Rechtsordnung des Europarates, der 47 Staaten versammelt und vor allem den Menschenrechtsschutz und internationale Instrumente und Mittel vorsieht, um diesen Schutz zu schaffen. Andererseits gehören 28/27 Staaten (als Folge des Brexit) zu der Europäischen Union. Wie bekannt, überlagert die Wirkung der Europäischen Union teilweise den Einfluss des Europarates, weil der Gerichtshof der EU die Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention als allgemeine Grundsätze des EU-Rechts anwendet. Dieser Bericht beschäftigt sich deswegen insbesondere mit der Wirkung des EU-Rechts auf die nationale Verfassung. Dieses Recht wirkt auf die Verfassung im formellen Sinn, aber noch viel mehr auf die Verfassung im materiellen Sinn mit dem Ziel, die nationalen Verfassungen an die Erfordernisse der europäischen Integration und des europäischen Verfassungsverbundes am besten anzupassen. Die Verfassung im formellen Sinn darf aber in diesem Sinne nicht nur mit ihrem Text identifiziert werden. Verfassung im formellen Sinn bedeutet hier die Menge der Normen, welche Verfassungsrang haben. Die Grundlage für die Anerkennung der Gültigkeit dieser Normen sind nicht nur der Text der Verfassung, sondern auch die Rechtslehre, die verfassungsrechtliche Praxis und die Verfassungsrechtsprechung, die Auslegungsregeln formulieren und gewisse Rechtsbegriffe erklären bzw. präzisieren.1 Die europäische Integration beeinflusst die nationale Verfassung im formellen Sinn auf verschiedene Weisen. Diese Wirkungen umfassen den Text der Verfassung, ihre Auslegung, ihre Stabilität und ihre Funktionen.

1 S. dazu Wojtyczek, Krzysztof, Die Europäisierung der Verfassung am Beispiel Polens, in: Sileikis, Egidijus (Hrsg.), Verfassungsentwicklung in Litauen und Polen im Kontext der Europäisierung, Vilnius 2010, S. 49 ff.

Die Einwirkung des EU-Rechts auf die italienische Verfassung 

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II. Die Bedingungen der Mitgliedschaft in der Europäischen Union als Grenzen der nationalen Verfassungsgebung Die europäische Integration wirkt auf verschiedene Weisen auf die „nationale Verfassung im formellen Sinn“. Zuerst bestimmen das EU-Recht und das Recht des Europarates den allgemeinen Rahmen und die Grenzen der nationalen verfassungsgebenden Gewalt. Das EU-Recht und das Recht des Europarates setzen sehr generelle Bedingungen für die Mitgliedschaft in der EU, die den allgemeinen Rahmen und die Grenzen der Verfassungsgebung bestimmen. Gemäß Art. 2, 6 und 7 EU-Vertrag müssen die Mitgliedstaaten die Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit sowie die Grundfreiheiten beachten. Der nationale Verfassungsgeber muss deshalb nicht nur diese Grundsätze in der Verfassung entwickeln, sondern auch die Umstände schaffen, die die effektive Vollziehung des EU-Rechtes ermöglichen. In dem Kontext der gemeinsamen Rechtstraditionen der EU-Mitgliedstaaten sind diese allgemeinen Grenzen selbstverständlich und bilden keine wirkliche Begrenzung der effektiven Freiheit des Verfassungsgebers, sind eher eine supranationale Garantie der fundamentalen Grundsätze der nationalen Verfassungen. Die politische Entwicklung der letzten Zeit in vielen Mitgliedstaaten wirft aber die Besorgnis auf, ob die Lage auch weiterhin so bleiben wird.2 Damit ist es vielleicht heute noch wichtiger als gestern, sich daran zu erinnern, dass es diese Grundsätze im Rahmen des europäischen Raumes gibt. Ich beziehe mich insbesondere auf die Vorschrift des Art. 2 EU-Vertrag, wonach „die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte“ allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind.3

III. Die Einwirkung auf den Text der nationalen Verfassung Als Einwirkung der europäischen Integration auf die „nationale Verfassung im formellen Sinn“ gelten selbstverständlich auch die im Text der nationalen Verfassung eingeführten EU-Klauseln, die dazu dienen sollen, die Übertragung von Kompetenzen auf die EU zu ermöglichen. Manchmal handelt es sich um eine „substantielle Klausel“, wie im Falle von Art. 23 des deutschen Grundgesetzes, der die für die Hoheitsrechtsübertragung maßgebliche Ermächtigungsgrundlage enthält.4 In anderen Fällen handelt es sich vor allem um eine prozedurale Klausel, wie es 2 S. in Bezug auf Polen EuGH v. 24.6.2019, C-619/18, ECLI:EU:C:2019:615; v. 5.11.2018, C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924; v. 19.11.2019, C-585/18, C-624/18 und C-625/18, A. K., ECLI:​ EU:C:2019:982. 3 S. zuletzt insbes. EuGH v. 19.11.2019, A. K., (Fn. 2), Rn. 120. 4 S. Di Fabio, Udo, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes: Positivierung vollzogenen Verfassungswandels oder Verfassungsneuschöpfung?, Der Staat 1993, S.191 ff.

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z. B. für die EU-Klausel in der polnischen Verfassung der Fall ist. Diese Klausel regelt im Wesentlichen nur das Verfahren für die Übertragung von Kompetenzen und lässt viele wichtige Fragen offen.5 Trotz der langen Debatte darüber in der Lehre hat der italienische Verfassungsgeber so etwas wie eine Europa-Klausel in der Verfassung nicht eingeführt. Art. 11 der Verfassung von 1948 – der der Verfassung neben Art. 10 hinzugefügt wurde – dient deshalb weiterhin dazu, die Öffnung Italiens für spezielle Souveränitätsbeschränkungen zu erlauben und zugleich die Grenzen dieser Souveränitätsbeschränkungen zugunsten ganz besonderer zwischenstaatlicher Ordnungen festzulegen, wie es vom italienischen Verfassungsgericht schon 1973 geklärt wurde.6 Laut Art. 11 der Verfassung stimmt Italien – unter der Bedingung der Gleichstellung mit den übrigen Staaten  – denjenigen Souveränitätsbeschränkungen zu, die für eine den Frieden und die Gerechtigkeit unter den Völkern gewährleistende zwischenstaatliche Ordnung erforderlich sind; zudem fördert und begünstigt es die auf diesen Zweck ausgerichteten internationalen Organisationen. Zur Zeit des Maastrichter Vertrags wurde die Debatte zur Notwendigkeit der Einfügung einer speziellen Europa-Klausel in der Verfassung von der italienischen Lehre wieder ausgelöst. Die europäischen Institutionen seien nunmehr überall anwesend und tätig, und deswegen sei es sinnlos, weiter zu behaupten, es gebe eine strenge Kompetenztrennung zwischen der nationalen und der gemeinschaftlichen Souveränitätssphäre.7 Man behauptete damals, dass bezüglich des Europarechts das „dualistische Modell“ einer strengen Trennung zwischen Völkerrecht und

5

S. dazu Wojtyczek, Krzysztof, Die Europäisierung der Verfassung am Beispiel Polens (Fn. 1); Czapliński, Władysław, L’intégration européenne dans la Constitution polonaise de 1997, Revue du Marché Commun 2000, S. 168 ff. 6 Dies hat das italienische Verfassungsgericht ausdrücklich geklärt im Urteil v. 27.12.1973, Nr. 183 (Rivista di diritto internazionale 1974, S. 130 ff.); s. dazu Carrino, Agostino, L’Europa e il futuro delle Costituzioni, Torino 2002, S. 169 ff., 185 ff.; Cartabia, Marta / Weiler, Joseph, L’Italia in Europa: profili istituzionali  e costituzionali, Bologna 2000, S. 133 ff.; Luciani, Massimo, La Costituzione italiana e gli ostacoli all’integrazione europea, Politica del diritto 1992, S. 588 ff.; Onida, Valerio, „Armonia tra diversi“ e problemi aperti. La giurisprudenza costituzionale sui rapporti tra ordinamento interno  e ordinamento comunitario, Quaderni costituzionali 2002, S. 549 ff.; Sorrentino, Federico, La nascita della costituzione europea: un’istantanea, in: Segado, Francisco Fernandez (Hrsg.), The Spanish Constitution in the European Constitutional Context, Madrid 2003, S. 8 ff.; Vacca, Michele, La costruzione dell’ordinamento giuridico comunitario ed i Paesi membri, Milano 1996, S. 94 ff. 7 So insbes. De Marco, Eugenio, La sovranità dello Stato tra „pluralismo“ e integrazione sovranazionale, 1989; Rivista di diritto pubblico e scienze politiche 1994, S. 233 ff. (269 ff.); Sorrentino, Federico, La nascita della costituzione europea: un’istantanea (Fn. 6), S. 7 ff. Für weitere Hinweise s. Galetta, Diana-Urania, La previsione di cui all’articolo 3, comma 1, cpv. 1, della legge di revisione del titolo V della costituzione come definitivo superamento della teoria dualista degli ordinamenti, in: Problemi del federalismo, Milano 2001, S. 293 ff.; Carrino, Agostino, L’Europa e il futuro delle Costituzioni (Fn. 6), S. 174 ff.; Califano, Licia, La costituzione europea e la carta dei diritti fondamentali, Rimini 2005, S. 24 ff.

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Landesrecht unbefriedigend war,8 und dass Art. 11 der Verfassung deshalb eine unzureichende Ermächtigungsgrundlage für die immer neuen Kompetenzübertragungen auf die Europäische Gemeinschaft geworden war.9 In die italienische Verfassung ist hingegen anlässlich der Novellierung vom März 200110 nur ein problematischer Hinweis eingefügt worden. Der modifizierte Art. 117 Abs. 1 lautet nunmehr: „Die gesetzgebende Gewalt wird vom Staat und von den Regionen gemäß der Verfassung und entsprechend den aus der EU-Rechtsordnung und aus den völkerrechtlichen Verpflichtungen entstehenden Verbindlichkeiten ausgeübt“.11 Dieser novellierte Art. 117 Abs. 1, der sich in dem spezifisch den Regionen und ihren Zuständigkeiten gewidmeten Titel V der Verfassung befindet, hat praktisch von Anfang an nur Zweifel und Probleme mit sich gebracht.12 Auf keinen Fall wurde durch ihn das Problem der verfassungsrechtlichen Ermächtigung zu Kompetenzübertragungen auf die Europäische Union gelöst. Grundlage bleibt insoweit die Vorschrift des Art. 11 der Verfassung,13 wie es vom Verfassungsgericht 2007 geklärt wurde. Mit seinem Urteil Nr. 348/07 hat das Verfassungsgericht insbesondere festgestellt, dass sich die verfassungsrechtliche Grundlage der unmittelbaren Wirkung von Gemeinschaftsrecht in Art. 11 der Verfassung findet. Art. 117 Abs.1 der Verfassung – in der neuen Fassung von 2001 – habe diese Orientierung einfach bestätigt und zwischen denjenigen Einschränkungen unterschieden, die sich aus der „Gemeinschaftsordnung“ oder aus „internationalen Verpflichtungen“ ergeben.14 Italien sei Teil einer umfassenderen supranationalen Ordnung und habe einen Teil seiner Souveränität an die Europäische Union abgegeben mit der einzigen Einschränkung der Unantastbarkeit der durch die Verfassung garantierten Grundprinzipien und Rechte (sog. Gegengrenzen – controlimiti).15

8 Dazu zuletzt Sorrentino, Federico, La nascita della costituzione europea: un’istantanea (Fn. 6), S. 7 ff.; s. aber auch Capotosti, Piero Alberto, Quali prospettive nei rapporti tra Corte Costituzionale e Corte di giustizia, Quaderni costituzionali 2002, S. 559 ff. 9 S. Carrino, Agostino, L’Europa e il futuro delle Costituzioni (Fn. 6), S. 178 ff. 10 Verfassungsgesetz v. 18.10.2001, Nr. 3, Modifiche al Titolo V della parte seconda della Costituzione, Gazzetta Ufficiale, Nr. 248 v. 24.10.2001; s. dazu Modugno, Franco / Celotto, Alfonso / Ruotolo, Marco (Hrsg.), Aggiornamenti sulle riforme costituzionali (1999–2002), Torino 2003. 11 Meine Übersetzung. 12 So z. B. Cartabia, Marta, Riflessioni sulla Convenzione di Laeken: come se si trattasse di un processo costituente, Quaderni costituzionali 2002, S. 445; s. dazu auch meine Überlegungen in Galetta, Diana-Urania, La previsione di cui all’articolo 3, comma 1, cpv. 1, della legge di revisione del titolo V della costituzione come definitivo superamento della teoria dualista degli ordinamenti (Fn. 7), S. 293 ff. 13 S. dazu, statt vieler, Cartabia, Marta, Riflessioni sulla Convenzione di Laeken: come se si trattasse di un processo costituente (Fn. 12), S. 446. 14 Urteil des italienischen Verfassungsgerichts v. 22.10.2007, Nr. 348, https://www.corte​ costituzionale.it. 15 S. insbes. Urteil Frontini des italienischen Verfassungsgerichts v. 27.12.1973, Nr. 183 (Fn. 6).

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Bevor ich mich mit den sog. „Gegengrenzen“ (controlimiti) beschäftige, muss ich aber noch auf eine wichtige Änderung im Text der italienischen Verfassung Bezug nehmen, die tatsächlich mit der europäischen Integration zu tun hat. Ich beziehe mich auf das Verfassungsänderungsgesetz Nr. 1/2012,16 womit sich das italienische Parlament an die vom sog. „Fiskalpakt“ (Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion) stammenden Verpflichtungen angepasst hat.17 Demzufolge wurde in Art. 97 der italienischen Verfassung ein neuer Abs. 1 eingefügt, wonach „staatliche Stellen im Einklang mit dem Unionsrecht einen ausgeglichenen Haushalt und die Tragfähigkeit der öffentlichen Schulden sicherstellen müssen“.18 Die Bestimmung des neuen Abs. 1 des Art. 97 (manchmal auch als „Absatz Null“ bezeichnet) hat in Italien eine erbitterte Debatte ausgelöst, und nicht nur in Bezug auf die Tatsache, dass er als unangemessen oder ungeeignet für diesen Zweck angesehen wurde, sondern auch  – und viele italienische Autoren haben dieses Thema angesprochen – weil eine solche Bestimmung letztlich dazu führe, dass der Schutz der Rechte nicht nur mit dem Betrag, sondern auch mit der Verfügbarkeit von finanziellen Mitteln gebunden sei. Auf den Schutz der Grundrechte möchte ich mich jetzt konzentrieren, wobei ich die Rechtsprechung der obersten Gerichte Italiens zu diesem Thema und insbesondere die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts berücksichtigen muss.

IV. Die die negativen Effekte der Übertragung von Kompetenzen kompensierenden Klauseln (die sog. „controlimiti Klauseln“ des italienischen Verfassungsgerichts) Drittens wirkt die europäische Integration auf die „nationale Verfassung im formellen Sinn“, indem Klauseln erfunden wurden, welche die negativen Effekte der Übertragung von Kompetenzen auf die Ebene des Verfassungssystems kompensieren. In Italien handelt es sich – wie schon erwähnt – um die sog. „Gegengrenzen“ (controlimiti). Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts ging diesbezüglich im Wesentlichen durch vier Phasen. Eine erste Phase (von 1964 bis 1973), in der das Verfassungsgericht den Vorrang des Gemeinschaftsrechts nicht anerkannte und der Auffassung war, dass das nachfolgende nationale Recht das bisherige Gemeinschaftsrecht nach dem zeitlichen Kriterium aufheben könnte. Dann kam das bekannte Urteil Frontini von 1973,19 womit das Verfassungsgericht seine Rechtsprechung änderte, indem es Art. 11 der Verfassung als Quelle der Souveränitätsbeschränkungen identifizierte, die wegen der Teilnahme am EU-Sys 16

Verfassungsgesetz v. 20.4.2012, Nr. 1, http://www.parlamento.it, Par. 3.3. Der Vertrag ist am 1.1.2013 in Kraft getreten. 18 Meine Übersetzung. 19 Urteil des italienischen Verfassungsgerichts v. 27.12.1973, Nr. 183 (Fn. 6). 17

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tem stattgefunden hatten. Das Verfassungsgericht entschied daher, dass etwaige Widersprüche zwischen staatlichen Gesetzen und dem Gemeinschaftsrecht durch seine Intervention zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit dieser staatlichen Vorschriften zu lösen seien. Es stellte aber zur gleichen Zeit fest, dass die Beschränkung der Souveränität auf der Grundlage von Art. 11 der Verfassung die Einhaltung der Grundprinzipien des italienischen Rechtssystems betraf. Die dritte Phase verlief von 1984 bis 2008. Die wichtigste Entscheidung dieser Phase ist das Granital-Urteil von 1984.20 Darin stellte das Verfassungsgericht fest, dass das innerstaatliche und das gemeinschaftliche Rechtssystem autonom und voneinander getrennt sind, und dass die Beziehung zwischen den beiden auf der Zuweisung bestimmter Zuständigkeiten an die Gemeinschaft beruht. Es stellte weiter fest, dass im Falle einer Kompetenzzuweisung an die Europäische Gemeinschaft die Unanwendbarkeit des nationalen Rechts (durch Richter und öffentliche Verwaltung) die Folge sein muss – für den Fall eines Widerspruchs zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht. Laut der Granital-Rechtsprechung ist es darum Sache der ordentlichen Richter, dem Europäischen Gerichtshof ein eventuelles Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen. Demzufolge hatte das Verfassungsgericht klar festgestellt, dass die Frage der Vereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht eine logische und juristische Priorität in Bezug auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit besaß, weil sie die Anwendbarkeit der angefochtenen Bestimmung und damit die Relevanz der Frage der Verfassungsmäßigkeit mit sich brachte.21 Dies war die Phase, in der sich das Verfassungsgericht als Interpret der großen Öffnung der italienischen Rechtsordnung für externe Rechtsquellen profilierte, eine Öffnung, die übrigens schon die entsprechenden Bestimmungen der Verfassung festlegen.22 Nach der Granital-Rechtsprechung hatte man aber in der Lehre negativ fest­ gestellt,23 dass sich das Verfassungsgericht auf diese Weise selbst vom Dialog mit dem EuGH marginalisiert hatte, und dies mit Ausnahme der Fälle, in denen es sich um eine Verletzung der Grundprinzipien der Verfassungsordnung oder der unan 20

Urteil des italienischen Verfassungsgerichts vom 8.6.1984, Nr. 170, https://www.corte​ costituzionale.it. 21 Urteil des italienischen Verfassungsgerichts v. 13.7.2007, Nr. 284, https://www.corte​ costituzionale.it, mit dem das Gericht die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit von Art. 4 des Gesetzes v. 13.12.1989, Nr. 401 (Maßnahmen im Bereich der Glücksspiele und illegalen Wetten sowie zum Schutz der Fairness bei Sportveranstaltungen) für unzulässig erklärte. 22 S. Strozzi, Gerolamo, Limiti e controlimiti nell’applicazione del diritto comunitario, Studi sull’integrazione Europea 2009, S. 23 ff.; Villani, Ugo, Limitazioni di sovranità, controlimiti e diritti fondamentali nella Costituzione italiana, Studi sull’integrazione Europea 2017, S. 489 ff.; Mastroianni, Roberto, Da Tarrico a Bolognesi, passando per la Ceramica Sant’Agostino: il difficile cammino verso una nuova sistemazione del rapporto tra carte e corti, Osservatorio sulle fonti 2018, S. 1 ff. (23 ff.). 23 Cassese, Sabino, Ordine giuridico europeo e ordine nazionale, Giornale di diritto amministrativo 2010, S. 319 ff.

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tastbaren Menschenrechte durch EU-Recht handelt. Diese beiden Grundprinzipien sind bekanntlich die berühmten „Gegengrenzen“ (controlimiti). Das spielt meines Erachtens eine große Rolle in der aktuellen Stellungnahme des italienischen Verfassungsgerichts (mit verschiedenen Urteilen in den Jahren 2017–2019) bezüglich der Frage der doppelten Vorabentscheidungsersuchen (doppia pregiudizialità). Es ist ein sehr heikles Thema, worauf ich in meiner Schlussbemerkung zurückkommen werde. Um jetzt zur „Gegengrenzen“-Theorie zurückzukehren, meint das Verfassungsgericht noch heute, dass es in diesen zwei Fällen (und nur in diesen zwei Fällen) seine Rolle als „Hüter“ dieser Grundprinzipien und Menschenrechte ist, sich mit Fällen einer potenziellen Verletzung derselben durch EU-Recht zu befassen.24 Auf jeden Fall – und bis zu den jüngsten Entwicklungen in seiner Rechtsprechung – war das Verfassungsgericht aber auch deutlich der Meinung, dass es zuerst nötig sei, über die korrekte Auslegung der EU-Normen zu verfügen, bevor das Verfassungsgericht eine eventuelle Unvereinbarkeit dieser EU-Normen mit Grundprinzipien der nationalen Verfassungsordnung oder mit unantastbaren Menschenrechten feststellen könnte, und dass für diese vorherige Auslegung der EU-Normen nur der EuGH zuständig sei. Das erklärt auch, warum eine vierte Phase in den Beziehungen zwischen dem Verfassungsgericht und dem EuGH 2008 begonnen hatte, und zwar ein sehr positiver Dialog, konkret eingeleitet mit dem ersten Vorabentscheidungsersuchen des Verfassungsgerichts.25 Dem folgte 2013 ein zweites Vorabentscheidungs­ ersuchen des Verfassungsgerichts in einem Fall, wo das Verfassungsgericht selber in Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens zu entscheiden hatte (giudizio in via incidentale).26 Die vorletzte Entwicklung ist die sogenannte „Taricco Saga“, bei der es sich eigentlich um eine konkrete Anwendung der „Gegengrenzendoktrin“ (controlimiti) handelte.27 Wie bekannt, betraf das Vorabentscheidungsersuchen des italienischen Verfassungsgerichts28 die Auslegung von Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV in der Auslegung durch das Urteil Taricco I vom 8.9.2015.29 Mit seinem Urteil

24 S. z. B. Urteil des italienischen Verfassungsgerichts v. 21.4.1989, Nr. 232, https://www. corte​costituzionale.it. 25 Beschluss des italienischen Verfassungsgerichts v. 15.4.2008, Nr. 103, https://www.corte​ costituzionale.it. 26 Beschluss des italienischen Verfassungsgerichts v. 18.7.2013, Nr. 207, https://www.corte​ costituzionale.it. 27 S. insbes. Ruggeri, Antonio, Ultimatum della Consulta alla Corte di giustizia su Taricco, in una pronunzia che espone, ma non ancora oppone, i controlimiti (a margine di Corte cost. n. 24 del 2017), Consulta online, Studi, 2017, S. 81 ff. 28 Beschluss des italienischen Verfassungsgerichts vom 26.1.2017, Nr. 24, https://www. cortecostituzionale.it. 29 EuGH v. 8.9.2015, C-105/14, Taricco I, ECLI:EU:C:2015:555.

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Taricco II vom 5.12.201730 entschied der EuGH, dass die nationalen Gerichte verpflichtet sind, im Rahmen eines Strafverfahrens wegen Mehrwertsteuerstraftaten innerstaatliche Verjährungsvorschriften unangewendet zu lassen, die zum nationalen materiellen Recht gehören und der Verhängung wirksamer und abschreckender strafrechtlicher Sanktionen in einer beträchtlichen Anzahl von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichteten schweren Betrugsfällen entgegenstehen, oder für schwere Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union kürzere Verjährungsfristen vorsehen als für Fälle zum Nachteil der finanziellen Interessen des betreffenden Mitgliedstaats, es sei denn, ihre Nichtanwendung führt wegen mangelnder Bestimmtheit der anwendbaren Rechtsnorm oder wegen der rückwirkenden Anwendung von Rechtsvorschriften, die strengere Strafbarkeitsbedingungen aufstellen als die zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat geltenden Rechtsvorschriften, zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen. Wie man in der italienischen Lehre sehr effektiv ausgedrückt hat, ging es hier eigentlich wie beim Tangotanz eines Paares zu: der EuGH hat zwar einen eleganten Schritt zurück gemacht, um die Umarmung mit seiner Partnerin (dem italienischen Verfassungsgericht) nicht zu verlieren; gleichzeitig, und um das Verfassungsgericht in dieser Umarmung festzuhalten, hat der EuGH jedoch auch einen festen Anhaltspunkt bestimmt, nämlich eine Art Drehpunkt, um den sich das italienische Verfassungsgericht drehen soll, um seine eigenen Tanzschritte an denjenigen eines gemeinsamen Tanzes auszurichten.31

V. Die fünfte Phase in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichts: zwischen dem Schutz der Grundrechte und der Frage der doppelten Vorabentscheidungsersuchen Obwohl die Haltung des EuGH in der „Taricco Saga“ sicherlich im Rahmen einer Bereitschaft zum Dialog einzuordnen ist, hat das italienische Verfassungsgericht mit seinem Urteil Nr. 269 von 2017 eine neue (und fünfte)  Phase seiner Recht­ sprechung angefangen. Diese Phase ist noch im Gange und schwer zu begreifen und zu erklären, es sei denn, man zieht die von mir oben erwähnte Perspektive in Betracht, wonach es sich um eine Art und Weise handelt, die ab der GranitalRechtsprechung verlorene Zentralität innerhalb des Dialogs zwischen Richtern wiederzugewinnen.

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EuGH v. 5.12.2017, C-42/17, Taricco II, ECLI:EU:C:2017:936. Bin, Roberto, Taricco Tango. Quale sarà il prossimo passo?, in: Amalfitano, Chiara (Hrsg.), Primato del diritto dell’Unione europea e controlimiti alla prova della „Saga Taricco“, Milano 2018, S. 227 ff. (S. 227). 31

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In der Tat scheint das Verfassungsgericht mit dieser jüngsten Rechtsprechung seine lang etablierte Granital-Rechtsprechung wieder in Frage zu stellen. Obwohl es sich eigentlich nur um ein obiter dictum handelt,32 hat es mit seinem Urteil Nr. 269/2017 in die Rolle und Position der ordentlichen Richter direkt eingegriffen und versucht, deren Befugnis zum direkten Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH, für diejenigen Fälle einzuschränken, in denen die vorzulegende Frage mit dem Schutz der Grundrechte verbunden ist. Mit dieser Rechtsprechung hat das Verfassungsgericht versucht, die Kontrolle bezüglich des Schutzes der Grundrechte bei sich zu zentralisieren, und zwar auch für den Fall, wo die Quelle dieser Grundrechte die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist.33 Zu diesem Zweck nimmt das Verfassungsgericht auf die Rechtssachen Melki und A gegen B34 Bezug und stellt ausdrücklich fest, dass der nationale Richter bei Streitigkeiten, die sowohl Fragen der verfassungsmäßigen Legitimität als auch Fragen der Vereinbarkeit mit dem EU-Recht aufwerfen, zunächst die erste Frage vorbringen muss. Diese Stellungnahme ist aber nicht nur fragwürdig aus der unionsrechtlichen Perspektive (und aus der Perspektive einer korrekten Auslegung der Melki-Rechtsprechung),35 sondern steht auch direkt im Widerspruch zu der schon seit langem konsolidierten Granital-Rechtsprechung und stellt dar, was in der Lehre als ein Wiederaufleben der „Re-Zentralisierung“ beim Verfassungs­gericht36 sehr effektiv beschrieben wurde.37 32 Dazu hat man in der Lehre polemisch festgestellt, dass diese in einem obiter dictum entwickelte „Neuorientierung“ des Verfassungsgerichts nicht erforderlich und total exzentrisch in Bezug auf den Sachverhalt war; s. Tesauro, Giuseppe / De Pasquale, Patrizia, Rapporti tra Corti e retroattività della lex mitior, I Post di AISDUE, 2019, S. 31; vgl. auch Rossi, Lucia Serena, La sentenza 269/17 della Corte costituzionale italiana: obiter creativi (o distruttivi?) sul ruolo dei giudici italiani di fronte al diritto dell’Unione europea, www.federalismi.it, 2018, S. 1 ff. 33 Urteil v. 7.11.2017, Nr. 269, https://www.cortecostituzionale.it, wo das Verfassungsgericht feststellt, dass „Verletzungen der Rechte des Einzelnen die Notwendigkeit einer Intervention dieses Gerichtshofs erfordern“ und dass das Verfassungsgericht daher „im Lichte der internen und gegebenenfalls europäischen Parameter (ex Artikel 11 und 117 der It. Verfassung) in der jeweils angemessenen Reihenfolge urteilen wird, auch um sicherzustellen, dass die durch die Charta der Grundrechte garantierten Rechte im Einklang mit den Verfassungstraditionen ausgelegt werden, die auch in Art. 6 des Vertrags über die Europäische Union und in Art. 52 Abs. 4 der Grundrechte Charta als relevante Quellen in diesem Bereich genannt werden“ (Abs. 5.2). Meine Übersetzung. 34 EuGH v. 22.6.2010, C-188 und 189/10, ECLI:EU:C:2010:363, und EuGH v. 11.9.2014, C-112/13, ECLI:EU:C:2014:2195. 35 S. dazu Galetta, Diana-Urania, Autonomia procedurale e dialogo costruttivo fra giudici alla luce della sentenza Melki, Il Diritto dell’Unione europea 2011, S. 221 ff. 36 Dazu hat man in der Lehre betont, dass die EU-Grundrechtecharta nach wie vor eine eigenständige und autonome Rechtsquelle ist, so dass ihre Auslegung nicht im Zuständigkeitsbereich der Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten „angezogen“ werden kann; s. Tesauro, Giuseppe / De Pasquale, Patrizia, Rapporti tra Corti e retroattività della lex mitior (Fn. 32), S. 33. 37 Ruggeri, Antonio, Giudice o giudici nell’Italia postmoderna, Giustizia insieme, 10.4.2019, S. 1 ff., wo er den genauen Ausdruck „rigurgito di ‚riaccentramento‘ del sindacato presso la Consulta“ benutzt (S. 6); sehr kritisch auch Tesauro, Giuseppe / De Pasquale, Patrizia, Rap-

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Im Hintergrund steht die Sorge um maßgebliche Spillover-Effekte der EUGrundrechtecharta, die – so wird zumindest befürchtet – zur fortschreitenden Marginalisierung der nationalen Verfassung und der darin zum Ausdruck gebrachten Identitätswerte führen würden.38 Dabei impliziert diese neue Rechtsprechung des Verfassungsgerichts auch eine Art unklare Homologation der EU-Grundrechtecharta zu internationalen Verträgen unterschiedlicher Herkunft sowie unter­ schiedlicher subjektiver und objektiver Wirkungsbereiche mit dem Ergebnis eines Verlustes ihrer Autonomie und ihrer unionsrechtlichen Natur,39 ein Phänomen, das in den jüngsten Urteilen Nr. 20 und Nr. 63 von 201940 sehr deutlich zu erkennen ist. Nach Ansicht des Verfassungsgerichts handelt es sich bei dem Urteil Nr. 20/2019 (so wie bei dem vorherigen Urteil Nr. 279/2017) um einen positiven Beitrag zur Identifizierung derjenigen gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitglied­ staaten, auf die sich auch Art. 52 Abs. 4 der EU-Grundrechtecharta bezieht.41 Nun ist klar, dass die gemeinsamen Verfassungstraditionen diejenigen Werte zum Ausdruck bringen, die aus der nationalen Rechtsprechung in Bezug auf Grundrechte hervorgehen, und die bei der Anwendung der jeweiligen Verfassungen entstanden sind. Es ist aber Sache des EuGH, die Definition dieser Verfassungstraditionen festzulegen, die allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind.42 Nur mittels dieser Ausarbeitung durch den EuGH kann dasjenige „europäische Verfassungserbe“ geschaf­fen werden, das die Bildung eines gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten ermöglicht.43

porti tra Corti e retroattività della lex mitior (Fn. 32), S. 27 ff.; Schepisi, Cristina, La Corte costituzionale e il dopo Taricco. Un altro colpo al primato e all’efficacia diretta? Il Diritto dell’Unione Europea, Dezember 2017, S. 1 ff. 38 So ausdrücklich Barbera, Augusto, La Carta dei diritti: per un dialogo fra la Corte italiana e la Corte di Giustizia, Rivista AIC 2017, S. 1 ff. (Par. 2). 39 S. Mori, Paola, La Corte costituzionale e la Carta dei diritti fondamentali dell’UE: dalla sentenza 269/2017 all’ordinanza 117/2019. Un rapporto in mutazione?, I Post di AISDUE, 2019 (3.9.2019), S. 55 ff. (S. 60 f.). 40 Urteile des italienischen Verfassungsgerichts v. 23.1,2019, Nr. 20 und v. 21.3.2019, Nr. 63, https://www.cortecostituzionale.it. 41 Urteil Nr. 20/2019, Par. 2.3 „Questa Corte deve pertanto esprimere la propria valutazione, alla luce innanzitutto dei parametri costituzionali interni, su disposizioni che, come quelle ora in esame, pur soggette alla disciplina del diritto europeo, incidono su principi e diritti fondamentali tutelati dalla Costituzione italiana  e riconosciuti dalla stessa giurisprudenza costituzionale. Ciò anche allo scopo di contribuire, per la propria parte, a rendere effettiva la possibilità, di cui ragiona l’art. 6 del Trattato sull’Unione europea (TUE) (…) che i corrispondenti diritti fondamentali garantiti dal diritto europeo, e in particolare dalla CDFUE, siano interpretati in armonia con le tradizioni costituzionali comuni agli Stati membri, richiamate anche dall’art. 52, paragrafo 4, della stessa CDFUE come fonti rilevanti“. 42 S. dazu Mori, Paola, La Corte costituzionale e la Carta dei diritti fondamentali dell’UE: dalla sentenza 269/2017 all’ordinanza 117/2019 (Fn. 39), S. 63. 43 Vgl. EuGH, Gutachten Nr. 2/13 v. 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:2454, Rn. 168.

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Diana-Urania Galetta

Wenn es um eine Frage geht, die mit dem Schutz der sowohl in der nationalen Verfassung als auch in der EU-Grundrechtecharta verankerten Grundrechte zu tun hat, wird zuletzt mit dem Urteil Nr. 63/2019 vom Verfassungsgericht glück­ licherweise wieder klargestellt, dass es Sache des ordentlichen Gerichts ist zu entscheiden, ob eine Frage zur Vorabentscheidung zuerst an den EuGH oder an das Verfassungsgericht zu richten ist. Auch wird wieder klargestellt, dass es sowieso Sache des ordentlichen Gerichts ist zu entscheiden, ob es sich um einen Fall handelt, wo diejenigen nationalen Vorschriften, die im Gegensatz zu den in der EU-Grundrechtecharta verankerten Rechten stehen,44 nur nicht anzuwenden sind. Trotz dieser letzten Milderung seiner „souveränistischen“ Haltung,45 die sicherlich zu begrüßen ist,46 stimme ich jedoch Augusto Barbera zu, wenn er bezüglich des Urteils Nr. 63/2019 auch kritisch bemerkt, dass das italienische Verfassungs­ gericht damit eine zu große Verantwortung auf die Schultern der ordentlichen Richter legt.47 Dabei besteht hier auch die konkrete Gefahr, dass der Mechanismus der direkten Anwendung in einer unvorhersehbaren Anzahl von Fällen aufgehoben wird, weil die ordentlichen Richter, statt andere Wege zu beschreiten, sich vielleicht lieber für die Vorabentscheidung an das Verfassungsgericht entscheiden werden, in der Hoffnung, eine Beseitigung der im Widerspruch zu den Grundrechten stehenden Bestimmung mit erga omnes-Effekt zu erzielen. In diesem letzten Fall ist aber auch allzu offensichtlich, dass das nationale Gericht dann nicht mehr in der Lage wäre, beim EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen einzureichen – mit sehr negativen Auswirkungen auf die Dauer und den gemeinsamen Prozess der supranationalen Integration auf EU-Ebene, der mit diesem Instrument vom Anfang an stets sichergestellt wurde.

VI. Das Urteil Nr. 20/2019 des italienischen Verfassungsgerichts: die allgemeinen Grundsätze des EU-Rechts als Parameter für die Abwägung zwischen kollidierenden Verfassungsrechten Zum Schluss möchte ich auf eine letzte, weniger offensichtliche, aber meines Erachtens genauso wichtige Einwirkung vom EU-Recht auf die italienische Verfassung Bezug nehmen. Es handelt sich um ein Phänomen, mit dem ich mich schon seit vielen Jahren beschäftige, nämlich der Entwicklung von allgemeinen 44

Urteil Nr. 63/2019, Par. 4.3. In der Lehre hat man ausdrücklich von einem „souveränistischen“ Urteil des Verfassungsgerichts gesprochen, so Tesauro, Giuseppe / De Pasquale, Patrizia, Rapporti tra Corti e retroattività della lex mitior, S. 1 ff. 46 In diesem Urteil nimmt man zwar auf die in den Urteilen Nr. 269/2017 und Nr. 20/2019 festgelegten Prinzipien Bezug (Par. 4.3. des Urteils Nr. 63/2019); trotzdem ist es klar, dass man sich hier davon maßgeblich distanziert. 47 S. Barbera, Augusto, La Carta dei diritti: per un dialogo fra la Corte italiana e la Corte di Giustizia (Fn. 38), insbes. S. 6. 45

Die Einwirkung des EU-Rechts auf die italienische Verfassung 

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Grundsätzen des EU-Rechts, die dann von den nationalen Gerichten (sogar Verfassungsgerichten) auch als Parameter für die Abwägung zwischen kollidierenden Verfassungsrechten genutzt werden.48 Eines der wichtigsten Beispiele ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der kürzlich vom italienischen Verfassungsgericht in seinem schon erwähnten Urteil Nr. 20/2019 herangezogen wurde, um das Gleichgewicht zwischen Transparenz und Schutz des Rechts auf Privatsphäre zu bestimmen. Die Prämisse, von der das Verfassungsgericht ausgeht, ist, dass man sich hier in einem Kontext befindet, wo sich die in der EU-Grundrechtecharta enthaltenen Prinzipien und Rechte mit den durch die nationale Verfassung garantierten grundlegenden Prinzipien und Rechte kreuzen. Das Vorabentscheidungsersuchen beim Verfassungsgericht durch das Regionale Verwaltungsgericht von Lazio (TAR Lazio) bezog sich insoweit auf die 2016 erfolgte Novellierung einiger Vorschriften des italienischen „Transparenzdekrets 2013“,49 eine Novellierung, durch die man das Recht auf Zugang zu den Dokumenten und die Verpflichtung zur Publizität, Transparenz und Verbreitung von Informationen durch die öffentlichen Verwaltungen erweitert hatte, ohne sich jedoch genügend um das im Gegensatz dazu stehende Recht auf Schutz der Privatsphäre zu kümmern. „Der verweisende Richter ist im Recht,“ stellt das Verfassungsgericht diesbezüglich fest, „wenn er betont, dass die umstrittenen Vorschriften des sogenannten Transparenzdekrets im Gegensatz zum Gleichheitsgrundsatz und wiederum zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stehen, die jede Balance zwischen antagonistischen Grundrechten leiten sollte.“50 Dies ist selbstverständlich nur ein Beispiel, und mir bleibt hier kein Raum für weitere Beispiele. Es ist aber meines Erachtens schon ausreichend, um meine letzte These zu unterstützen, und zwar, dass sich die Auswirkung des EU-Rechts auf die nationalen Verfassungen auch auf diese Art und Weise darstellt.

48 S. dazu zuletzt Galetta, Diana-Urania, General Principles of EU Law as Evidence of the Development of a Common European Legal Thinking: the Example of the Proportionality Principle (from the Italian Perspective), in: Blanke, Hermann-Josef / Cruz Villalón, Pedro / ​ Klein, Tonio / Ziller, Jacques (Hrsg.), Common European Legal Thinking. Essays in Honour of Albrecht Weber, Heidelberg-Dordrecht-London-New York 2016, S. 221 ff. 49 Gesetzesdekret Nr. 33 v. 14.3.2013, Reorganisation der Disziplin bezüglich der Verpflichtungen zur Offenlegung, Transparenz und Verbreitung von Informationen durch die öffent­ lichen Verwaltungen, geändert durch Gesetzesdekret Nr. 97 v. 25.5.2016, Revision und Vereinfachung der Bestimmungen zur Verhinderung von Korruption, Öffentlichkeit und Transparenz, Korrektur des Gesetzes Nr. 190 v. 6.11.2012 und des Gesetzesdekrets Nr. 33 v. 14.3.2013 gemäß Art. 7 des Gesetzes Nr. 124 vom 7.8.2015 über die Reorganisation der öffentlichen Verwal­ tungen. 50 Urteil Nr. 20/2019, Par. 4. Meine Übersetzung.

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Diana-Urania Galetta

VII. Thesen 1. Das EU-Recht wirkt auf die Verfassung im formellen Sinn, aber noch viel mehr auf die Verfassung im materiellen Sinn mit dem Ziel, die nationalen Verfassungen an die Erfordernisse der europäischen Integration und des europäischen Verfassungsverbundes am besten anzupassen. Diese Einwirkungen umfassen den Text der Verfassung, ihre Auslegung, ihre Stabilität und ihre Funktionen. 2. Zunächst bestimmt das EU-Recht den allgemeinen Rahmen und die Grenzen der nationalen verfassungsgebenden Gewalt. 3. Zweitens gelten als Einwirkung der europäischen Integration auf die nationalen Verfassungen selbstverständlich die im Text der nationalen Verfassungen enthaltenen EU-Klauseln, die dazu dienen sollen, die Übertragung von Kompetenzen auf die EU zu ermöglichen. In die italienische Verfassung ist diesbezüglich nur ein problematischer Hinweis eingefügt worden (Art. 117 Abs. 1). 4. Wichtig und problematisch ist auch die Verfassungsänderung, mit der sich das italienische Parlament an die vom sog. „Fiskalpakt“ (Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion) stammenden Verpflichtungen angepasst hat (Art. 97 Abs. 1). 5. Drittens wirkt die europäische Integration auf die nationalen Verfassungen, indem Klauseln erfunden wurden, welche die negativen Effekte der Übertragung von Kompetenzen auf die Ebene des Verfassungssystems kompensieren. In Italien handelt es sich bekanntlich um die sog. „Gegengrenzen-Theorie“ (teoria die controlimiti), die sich in der jüngsten Rechtsprechung des Verfassungsgerichts in einer besonders problematischen Richtung entwickelt hat. 6. Viertens gibt es eine weniger offensichtliche, aber genauso wichtige Einwirkung des EU-Rechts auf die nationalen Verfassungen, und zwar durch die Entwicklung von allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts, die von den nationalen Verfassungsgerichten als Parameter für die Abwägung zwischen kollidierenden Verfassungsrechten genutzt werden.

Die Einwirkungen des Unionsrechts und der EMRK auf die nationalen Verfassungen Kommentar Rosario Leñero Bohórquez

I. Einleitung Jedweder Versuch, einen vollständigen und systematischen Überblick darüber zu geben, wie sich das Unionsrecht und die EMRK auf die nationalen Verfassungen auswirken, ist zum Scheitern verurteilt. Die einzige umsetzbare Herangehensweise besteht in der Wahl einiger weniger Themen oder Perspektiven; eine Wahl, bei der die disziplinäre Spezialisierung, die geografische Herkunft sowie die Erfahrung der Autorin dieser Zeilen notwendigerweise maßgeblich sind. Jedoch ist es nicht einfach, Reflexionen anzustellen, die nicht in irgendeiner Weise Fragen berühren, die schon von den vorangehenden Autoren angesprochen wurden. Diese Koinzidenz unter Juristen verschiedener Laufbahnen im Bereich des öffentlichen Rechts rührt nicht mehr nur von einem Vergleich der Verfassungen zwischen Italien, Deutschland und Spanien, sondern von der Entstehung eines neuen, gemeinsamen verfassungsrechtlichen Raums her. Und genau hier liegt die bedeutendste Auswirkung des Unionsrechts und der EMRK im Verfassungsbereich. Dank beider beschränkt sich die Verfassungs­ debatte nicht mehr nur auf den Umfang der nationalen Texte. Das Verfassungsphänomen überschreitet in der Gegenwart staatliche Grenzen und manifestiert sich in einem komplexen Interaktionsnetzwerk auf verschiedenen institutionellen und geografischen Ebenen – ein Netzwerk, in dem die Gleichgewichte und Gegenkräfte nach und nach definiert werden, und zwar mehr als Resultat von Meilenstein-Urteilen von verfassungsrechtlicher Transzendenz,1 denn als Ergebnis formalisierter Normgebungsprozesse. Wenn wir unsere Überlegungen auf die Auswirkungen beschränken, die das Unionsrecht und die EMRK auf die nationalen Verfassungen gehabt haben, sind zwei Bereiche hervorzuheben, auf die ich mich in den folgenden Zeilen konzentrieren werde: die Grundrechte und die in den Verfassungen festgelegten institutionellen Gleichgewichte. Aufgrund der Natur des Unionsrechts und der EMRK ist ihr Einfluss keinesfalls homogen und weist weder eine gleichmäßige Intensität noch 1

Sarmiento, Daniel, Poder judicial e integración europea, Madrid 2004, S. 301 ff.

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Rosario Leñero Bohórquez

einen gleichbleibenden Umfang auf. Seit dem Inkrafttreten des Protokolls Nr. 11 im Jahr 1998 und der Verwandlung der EMRK in ein System zur Gewährleistung von Rechten, zu dem die Bürger direkten Zugang haben, hat die verfassungsrechtliche Bedeutung der EMRK zugenommen. Dazu kommt das progressive Dekantieren einer quasi-verfassungsgerichtlichen Funktion des EGMR, dessen Urteile, über die Aufnahme von sehr konkreten Vollzugsaufträgen hinaus, gelegentlich die Reform der nationalen Rechtssysteme fordern.2 Dennoch, und ohne die Bedeutung der EMRK geringzuschätzen, hat das Unionsrecht sich deutlich intensiver auf die staatlichen Verfassungen ausgewirkt. Dies erklärt sich sowohl aus dem umfassenden Regelungsbereich dieser Ordnung, obwohl die Befugnisse der Union lediglich auf Einzelermächtigung beruhen, als auch aus den Grundsätzen des Vorrangs des Unionsrecht und seiner unmittel­baren Wirkung, die unvermeidlich zu Spannungen mit den nationalen Verfassungsordnungen führen. In jedem Fall ist der Einfluss bekanntlich nicht unidirektional, von Europa auf die Einzelstaaten, sondern wirkt er auch in die umgekehrte Richtung.

II. Die Grundrechte in einem pluralistischen Verfassungskontext Der Weg zur Gründung der Europäischen Union zeigt die Kraft der Prozesse wirtschaftlicher Integration und ihre unvermeidliche politische Dimension, angetrieben vom EuGH selbst, welcher durch die Festlegung der Grundsätze der unmittelbaren Wirkung3 und des Vorrangs4 des europäischen Rechts diesem einen quasi-föderalen Status verliehen hat. Sobald sich, entgegen anfänglichen Einschätzungen, die erheblichen politischen Integrationsfolgen zeigten, stellte sich die Frage des Legitimationsdefizits, und es erwuchs die Notwendigkeit, funktionell verfassungsrechtliche Werkzeuge zu schaffen, die in den Gründungsverträgen ursprünglich so nicht enthalten waren. Dafür war noch einmal die kreative Arbeit des EuGH im Dialog und im Spannungsfeld mit den Verfassungsgerichten der Mitgliedstaaten von wesentlicher Bedeutung. So fand eine rein formelle Kategorie wie die der Grundrechte früh ihren Platz in der Union, obwohl sie keine Rechtsordnung mit einer fest hierarchisierten Struktur aufweist.5 In diesem Zusammenhang sind die Inhalte der nationalen Verfassungen, die „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“,

2 López Guerra, Luis, La evolución del sistema europeo de protección de derechos humanos, Teoría y realidad constitucional, 42/2018, S. 111 ff. 3 EuGH, Urteil v. 5.2.1963, Van Gend & Loos, Rs. 26/62, ECLI: EU:C:1963:1. 4 EuGH, Urteil v. 15.7.1964, Costa / E. N. E. L., Rs. C-6/64, ECLI:EU:C:1964:66. 5 Rubio Llorente, Francisco, Derechos fundamentales, principios estructurales y respeto por la identidad nacional de los Estados miembros de la Unión Europea, Anuario de la ­Facultad de Derecho de la Universidad Autónoma de Madrid, 17/2013, S. 520.

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wie der klassische Ausdruck des EuGH lautet,6 Garanten für die europäische Integration geworden, sowohl für ihre Lebensfähigkeit als auch für ihre Entfaltung als demokratisches und rechtsstaatliches Projekt. Dasselbe gilt für das Primärrecht hinsichtlich der Mitgliedstaaten, soweit die Verträge an „Verfassungsdichte“ gewonnen haben.7 Die Legitimitätsfrage ruft vor allem zu den Grundrechten auf. Die Aufnahme des Grundrechtsdiskurses durch den Gerichtshof ist der wohl größte Beleg der Verfassungsdimension der europäischen Integration.8 Die in nationalen Verfassungen verankerten und von der Rechtsprechung des EGMR bereicherten Grundrechte9 schaffen nicht nur eine neue Funktion als eventuelle controlimiti10 für einen Gesetzgeber, der sich außerhalb des staatlichen Verfassungsrahmens befindet. Sie fördern auch den Aufbau eines selbstständigen Standards für den Rechtsschutz in Europa,11 welcher notwendig ist, um die Wirksamkeit des Unionsrechts und die führende Stellung des EuGH bei dessen Auslegung zu wahren. Die Aufnahme des Grundrechtsdiskurses durch den EuGH war eine Bedingung für die Erhaltung der „judicial deference“ der nationalen Verfassungsgerichte gegenüber dem europäischen Gesetzgeber, welche von der Vermutung abhängt, dass das Unionsrecht einen grundlegenden Grundrechtsschutz bereitstellt, der „im Wesentlichen gleichwertig“ mit dem nationaler Verfassungen ist.12 Diese „entente cordiale“ hat es ermöglicht, die Diskussion darüber, wer bei der Festlegung des Schutzniveaus das letzte Wort hat, vorläufig auszusetzen. In jedem Fall kann diese Debatte nicht als endgültig abgeschlossen betrachtet werden. Vielmehr scheint sie zu einer gewissen Konkurrenz der Kontrollniveaus in Übereinstimmung mit der pluralistischen Verfassungsstruktur zu führen, die die europäische Integration mit sich bringt.13 Die Entwicklung eines eigenen Standards für den Rechtschutz, der in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union kodifiziert wurde, in Verbindung mit der Tatsache, dass die nationalen Verfassungsgerichte sich vor Kurzem der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen beim EuGH angeschlossen haben, ermöglicht es, dass die nationalen verfassungsrechtlichen Prozesse gegebenenfalls als 6 EuGH, Urteil v. 17.12.1970, Internationale Handelsgesellschaft, Rs. C-11/70, ECLI:EU:​ C:1970:114, Rn. 4. 7 Art. 7 EUV. 8 Weiler, Joseph H. H., The Transformation of Europe, Yale Law Journal 1991, S. 2417. 9 EuGH, Urteil v. 13.12.1979, Hauer, Rs. C-44/79, ECLI:EU:C:1979:290, Rn. 15 und 17.  10 Urteile des Italienischen Verfassungsgerichtshof Nr. 183/1973, 170/1984, 1146/1988 und 232/1989 ex plurimis; siehe hierzu Galetta, Diana Urania, La Unión Europea en el marco constitucional de los Estados miembros: El caso de Italia, Foro, Nueva época, 16/2013, S. 287–290. 11 EuGH, Urteil vom 13.12.1979, Hauer, Rs. C-44/79, ECLI:EU:C:1979:290, Rn. 14. 12 Solange II Beschluss v. 22.10.1986 (2 BvR 197/83), BVerfGE 73, 339. 13 Wendel, Matthias, El Tribunal Constitucional Federal Alemán entre protección jurídica y exceso competencial. Sobre la eficacia de los controles constitucionales nacionales en tiempos de crisis europea, Teoría y realidad constitucional, 39/2017, S. 124.

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­ echanismen zur Gewährleistung von Rechten zu den im Unionsrecht vorgeseM henen Bedingungen wirken können.14 Ebenso hat die Charta den Rechten und Prinzipien mit geringer verfassungsrechtlicher Anerkennung bei der Anwendung des Unionsrechts neues Leben eingehaucht. Dies ist beispielsweise beim Verbraucherschutz der Fall.15 Es kann jedoch die Frage gestellt werden, ob damit der Grundrechtsdiskurs in der Union an seine Grenzen gestoßen ist, oder ob, wie vorgeschlagen worden ist,16 die Unionsbürgerschaft ein Instrument sein könnte, durch das der Standard der Charta auch jenseits des Anwendungsbereiches des Unionsrechts projiziert wird, soweit nachgewiesen werden kann, dass nationale Rechtsordnungen keinen der Charta im Wesentlichen gleichwertigen Schutz gewähren.

III. Das interne institutionelle Gleichgewicht: Zwischen Verfassungsreform und -mutation Es ist allgemein anerkannt, dass die wesentlichen Auswirkungen der europä­ ischen Integration eine gewisse Entparlamentarisierung der Rechtsetzungstätigkeit und eine Stärkung der Position der nationalen Exekutivgewalten sind. Die Gegenkräfte, die die nationalen Rechtsordnungen angesichts dieses Phänomens aktiviert haben, lassen verschiedene Urteile hinsichtlich ihrer Wirksamkeit zu.17 So lässt sich sagen, dass das nationale institutionelle Gleichgewicht mit der Annahme des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit vom Unionsrecht gewahrt wurde. Aber die Herausforderungen der Wirtschafts- und Finanzkrise führten zu neuen Erfordernissen, die sowohl in Reformen als auch im Wandel der nationalen Verfassungen ihren Ausdruck fanden. Durch Reformen wurden die Grundsätze der Haushaltsstabilität und der Tragfähigkeit der Staatsverschuldung in die Verfassungstexte einiger Mitgliedstaaten aufgenommen, ein Weg, den Deutschland 2009 eingeschlagen hat, gefolgt von Spanien und Italien in den Jahren 2011 und 2012,

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Arzoz Santisteban, Xabier, La tutela de los derechos fundamentales de la Unión Europea por el Tribunal Constitucional, Madrid 2015, S. 41–63. 15 Carmona Contreras, Ana María, La construcción por el Tribunal de Justicia de la Unión Europea de un stándard común de protección de derechos del consumidor en los procedimientos de ejecución hipotecaria, Teoría y Realidad Constitucional, 39/2017, S. 307 ff. 16 Von Bogdandy, Armin / Kottmann, Matthias / Antpöhler, Carlino / Dickschen, Johanna / ​ Hentrei, Simon / Smrkolj, Maja, Eine Rettungsschirm für europäische Grundrechte. Grundlagen einer unionsrechtlichen Solange-Doktrin gegenüber Mitgliedstaaten, ZaöRV 2012, S. 45 ff. 17 Huber, Peter M., Estatalidad abierta: Un análisis comparado, in: von Bogdandy, Armin / ​ Cruz Villalón, Pedro / Huber, Peter M. (Hrsg.), El Derecho Constitucional en el Espacio Jurídico Europeo, Valencia 2013, S. 97–103.

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noch vor der Annahme des Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion. Als einen neuen Schritt in der europäischen Verfassungswerdung, mit der Besonderheit, dass in diesem Fall die Konstitutionalisierung durch die Summe der Einzelentscheidungen der Mitgliedstaaten erfolgte, die ihren Willen zum weiteren Voranschreiten der europäischen Integration zum Ausdruck brachten, sind diese Verfassungsreformen beschrieben worden.18 Die Verfassungsgerichte werden wieder zu Garanten des Projekts, diesmal seiner wirtschaftlichen Tragfähigkeit. Dennoch sind die kritischen Stimmen hervorzuheben, die darauf hinweisen, dass diese Reformen eine gewisse Denaturierung der Verfassungssysteme mit sich bringen.19 So gelten die Verfassungen in diesem konkreten Bereich nicht mehr als formelle Kanäle für die Lösung von Konflikten in einem pluralistischen politischen Kontext, sondern verleihen der höchsten rechtlichen Ebene nun eine bestimmte Option der Wirtschaftspolitik, welche sich als unvermeidbar zeigt. Dadurch bleiben die politischen Alternativen bei den von den Verfassungen geschützten demokratischen politischen Prozessen außen vor. In jedem Fall brachte die Notwendigkeit einer Wirtschaftsregierung einen Verfassungswandel, der über Verfassungsreformen hinausgeht. Ich will zwei Bereiche hervorheben: die interne territoriale Organisation und die Stärkung des Modells unabhängiger Verwaltungsbehörden. Was den ersten Bereich angeht, hat die Haushaltsdisziplin, die die Zugehörigkeit zur Eurozone verlangt, in der Phase der Anwendung des Unionsrechts eine Dynamik politischer Zentralisierung ausgelöst, für die einige nationale Verfassungen – ich denke hierbei insbesondere an Spanien20 – keine ausreichenden Gegengewichte vorgesehen haben. Betreffend den zweiten Bereich hat das Sekundärrecht, über die durch das Primärrecht bedingte Autonomie der Zentralbanken der Eurozone und das höhere Gewicht der EZB bei der wirtschaftlichen Steuerung der Union seit der letzten Krise hinaus,21 zur Schaffung nationaler unabhängiger Verwaltungsbehörden für die Regulierung und Überwachung von Märkten geführt. Diese sind in europä­ ische Netzwerke eingebunden – denkt man etwa an die europäischen Aufsichts­ behörden für Finanzmärkte.22 Das zielt auf größere Kohärenz bei der Anwendung 18

Pérez Royo, Javier, La reforma constitucional en perspectiva, Gastkommentar erschienen in der Tageszeitung El País vom 5.9.2011, https://elpais.com/diario/. 19 Balaguer Callejón, Francisco, Crisis económica y crisis constitucional en Europa, Revista Española de Derecho Constitucional 98/2013, S. 91–94. 20 Medina Guerrero, Manuel, La constitucionalización de la regla del equilibrio presupuestario: integración europea, centralización estatal, Revista de Estudios políticos (nueva época) 165/2014, S. 189 ff. 21 Menéndez, Agustín José, La mutación constitucional de la Unión Europea, Revista Española de Derecho Constitucional 96/2012, S.78–79. 22 Darnaculleta Gardella, Maria Mercè, Las respuestas de la Unión Europea  a la crisis financiera global. Especial referencia a la nueva arquitectura europea de regulación y supervisión de los mercados financieros, Noticias de la Unión Europea 325/2012, S. 25 ff.

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Rosario Leñero Bohórquez

des Unionsrechts ab. Aber so hat sich die Union einen eigenen dezentralisierten Verwaltungskomplex geschaffenen, der im Widerspruch zu den Bestimmungen einiger nationaler Verfassungen den Grundsatz der Führung der Verwaltung durch die Regierung in Frage stellt.23

23 Álvarez Conde, Gerardo, La Unión Europea como „Estado regulador“ y las Administraciones independientes, Revista de Administración Pública 194/2014, S.79 ff.

Verfassung und Verwaltung Moderation: Santiago González-Varas Ibáñez

Verfassung und Verwaltung in Italien Cristina Fraenkel-Haeberle

I. Einleitung und Fragestellung Im Unterschied zu Deutschland wurde die italienische Verfassung nicht mehrmals aktualisiert, sondern nur marginal geändert. Es wurde z. B. kein Europaartikel (Art. 23 GG)1 oder keine Staatszielbestimmung über den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (Art. 20a GG)2 eingeführt. Mit der Ausnahme des Titels V über die Regelung der Gebietskörperschaften (Regionen, Provinzen und Gemeinden), der 2001 neugefasst wurde, hat es seit der Verfassungsverabschiedung keine einschneidenden Reformen gegeben.3 So könnte man sich fragen, ob die Schere zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit inzwischen zu weit auseinanderklafft. Dabei muss bedacht werden, dass in Italien nicht das Prinzip der „Einheitsverfassung“ herrscht, d. h. dass das Verfassungsrecht nicht mit dem Verfassungswortlaut gleichgesetzt wird. Die „lebende Verfassung“ (Costituzione vivente) ergibt sich vielmehr aus der Exegese der Verfassungsbestimmungen anhand ihrer Bedeutung im Zusammenhang mit externen Rechtsquellen und mit der geschichtlichen Dynamik.4 Die Wahrnehmung der öffentlichen Verwaltung, so wie man sie im italienischen Verfassungstext von 1948 vorfindet und wie sie die heutige Zeit praktisch unverändert erreicht hat, trägt die Spuren des kulturellen Hintergrunds der Verfassungsväter, die noch unter dem Einfluss eines obrigkeitlichen Staatsverständnisses standen. Demnach wurde die Verwaltung eher aus der Perspektive der staatlichen Organisation als aus derjenigen der italienischen Gesellschaft gesehen.5 Angesichts der schwer zu bewältigenden Erneuerung des Staatswesens sind jedoch die 1 Art. 23 eingefügt durch G. v. 21.12.1992 (BGBl. I S. 2086); aktuelle Fassung aufgrund des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 23, 45 und 93) v. 8.10.2008 (BGBl. I S. 1926), in Kraft getreten am 1.12.2009. 2 Art. 20a GG eingefügt durch G. v. 27.10.1994 (BGBl. I S. 3146); aktuelle Fassung aufgrund des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Staatsziel Tierschutz) v. 26.7.2002 (BGBl. I S. 2862), in Kraft getreten am 1.8.2002. 3 Verfassungsgesetz Nr. 3 v. 18.10.2001 (Modifiche al titolo V della parte seconda della Costituzione), G. U. Nr. 248 v. 24.10.2001. 4 D’Orlando, Elena, Lo statuto costituzionale della Pubblica Amministrazione, Padova 2013, S. 171. 5 Allegretti, Umberto, L’amministrazione dall’attuazione costituzionale alla democrazia partecipativa, Milano 2009, S. 128 ff.

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Cristina Fraenkel-Haeberle

Verfassungsbestimmungen über die öffentliche Verwaltung äußerst „weitmaschig ausgefallen“.6 Somit wurde ihre dynamische Entwicklung ermöglicht und ihre Anpassung an den aufstrebenden demokratischen Sozialstaat erreicht. Allgemein kann zum italienischen Verwaltungsrecht festgehalten werden, dass es durch ein umfassendes System von Prinzipien geregelt wird, die ein Sonderrecht gegenüber der Regelung der Beziehungen zwischen Privaten darstellen und die für dieses Sonderrecht ganz wesentlich sind. Obwohl in den letzten Jahrzehnten der italienische Gesetzgeber eine Systematisierung dieser Prinzipien, insbesondere durch das Verwaltungsverfahrensgesetz 19907 und die Verwaltungsprozessordnung 2010,8 vorgenommen hat, handelt es sich dabei eher um eine „nachholende Modernisierung“,9 d. h. um die Kodifizierung von Grundsätzen, die von der Rechtsprechung und der Rechtswissenschaft in einer hundert Jahre bestehenden Tätigkeit entwickelt worden waren, sowie um die Exegese und Konkretisierung der in diesem Aufsatz zu erläuternden verfassungsrechtlichen Prinzipien.10

II. Die drei Leitkonzepte der italienischen Verfassung Die italienischen Verfassungsbestimmungen über die öffentliche Verwaltung können nach Mario Nigro plakativ auf drei wesentlichen Leitkonzepte und auf das wechselseitige Spannungsverhältnis zueinander zurückgeführt werden.11 Zunächst ist das Modell der Verwaltung als dienender Apparat der Regierung sowie der Ministerialverantwortlichkeit (Art. 95 Abs. 1 und 95 Abs. 2 Verf.) zu erwähnen.12 Die Verfassung regelt die Beziehung zwischen der politischen Spitze 6

Caridà, Rossana, Principi costituzionali e pubblica amministrazione, Consulta Online v. 12.7.2014, S. 4. 7 Verwaltungsverfahrensgesetz (Legge sul procedimento amministrativo) Nr. 241 v. 7.8.1990, G. U. Nr. 192 v. 18.8.1990. 8 Gesetzesvertretendes Dekret (Codice del processo amministrativo) Nr. 104 v. 2.7.2010, G. U. Nr. 156 v. 7.7.2010. 9 Sommermann, Karl-Peter, Européanisation et transformation de la justice administrative en Europe, in: Ziller (Hrsg.), What’s New in European Administrative Law / Quoi de neuf en droit administratif européen?, EUI Working Paper Law Nr. 2005/10, San Domenico 2005, S. 19 ff. 10 de Pretis, Daria, Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive, in: Bogdandy / Casses / Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. V, Heidelberg 2014, Rn. 1. 11 Nigro, Mario, La pubblica amministrazione tra Costituzione formale e Costituzione materiale, in V. V., Scritti in memoria di Vittorio Bachelet, II, Milano 1987, S. 387 ff. 12 Art. 95 Verf.: „Der Präsident des Ministerrates bestimmt die allgemeine Politik der Regierung und übernimmt dafür die Verantwortung. Er wahrt die Einheitlichkeit der Ausrichtung in Politik und Verwaltung, indem er die Tätigkeit der Minister fördert und koordiniert. Die Minister sind gemeinsam für die Handlungen des Ministerrates und einzeln für die Handlungen ihres Geschäftsbereiches verantwortlich. Das Gesetz regelt den Aufbau des Präsidiums des Ministerrates und setzt die Anzahl, den Aufgabenbereich und die Organisation der Ministerien fest“.

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und dem Verwaltungsapparat, indem der Ministerpräsident die „allgemeine Politik“ bestimmt (Art. 95 Abs. 1 Verf.), die von der Exekutive durchgeführt wird und für welche die Regierung aufgrund ihrer Vertrauensbeziehung zum Parlament haftet.13 Dabei gesellt sich die individuelle Ministerhaftung zur Haftung bei Amtspflichtverletzungen nach Art. 28 Verf. und erfüllt somit eine Anforderung, die bereits in Art. 15 der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung14 feierlich verbürgt worden war: „La société a le droit de demander compte à tout agent public de son administration.“ Zweitens kommt das Modell der autonomen und polyzentrischen Verwaltung und des institutionellen und administrativen Pluralismus nach Art. 5 Verf. ins Spiel.15 Im Zuge der durch die Verfassungsreform 2001 eingeführten institutionellen Dezentralisierung wurde ein Teil der ursprünglich zentralisierten Verwaltungsaufgaben an die Regionen und an die Lokalautonomien übertragen.16 Demnach kann nicht mehr von einer monolithischen Verwaltung, sondern vielmehr von „öffentlichen Verwaltungen“ im Plural gesprochen werden. Drittens das Modell der Verwaltung als unabhängige, gesetzlich geregelte Organisation (Art. 97 und 98 Verf.). In meinen Ausführungen werde ich mich insbesondere auf diese dritte Auffassung und die hier vorgesehenen Prinzipien konzentrieren, jedoch auch auf die Wechselbeziehungen zu den anderen Modellen eingehen.17 Art. 97 Verf.18 verbürgt das Prinzip der „guten Führung und Unparteilichkeit der Verwaltung“ (imparzialità e buon andamento). Hierbei wird nach dem Verfassungswortlaut das Hauptaugenmerk auf die Organisation der öffentlichen Verwaltung gelegt, wenn auch die von Lehre und Rechtsprechung durchgeführte Auslegung dieser Prinzipien sie ebenso der materiellen Dimension der Verwaltungstätigkeit zuschreibt.19 13

Caridà (Fn. 6), S. 3. Déclaration des droits de l’homme et du citoyen, 1789. 15 Art. 5 Verf.: „Die eine, unteilbare Republik anerkennt und fördert die örtlichen Selbstverwaltungen; sie verwirklicht in den Dienstbereichen, die vom Staate abhängen, die weitgehendste Dezentralisierung der Verwaltung; sie passt die Grundsätze und Formen ihrer Gesetzgebung den Erfordernissen der Selbstverwaltung und Dezentralisierung an“. 16 Caridà (Fn. 6), S. 3 ff. Die Autorin unterscheidet zwischen drei Regionalisierungsphasen: 1. Diejenige des Scheinregionalismus in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts; 2. Der „Verwaltungsföderalismus“ unter dem Druck des gemeinschaftsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips ohne Verfassungsänderung in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts (sog. Bassanini-Gesetze); 3. Die Verfassungsreform von 2001 mit der Neuverteilung der Verwaltungsbefugnisse zugunsten der regionalen und lokalen Verwaltungen. 17 Zu erwähnen sind ferner Art. 100 über die Hilfsorgane der Regierung und die Artikel 24, 113, 125 über die rechtsprechenden Organe. 18 Art. 97 Verf.: „Die öffentlichen Ämter werden nach den gesetzlichen Bestimmungen in der Weise organisiert, dass die gute Führung und die Unparteilichkeit der Verwaltung gewährleistet sind. In der Ämterordnung sind die Zuständigkeitsbereiche, die Befugnisse und die Eigenverantwortung der Beamten festgelegt. Der Zugang zu den Stellen der öffentlichen Verwaltung erfolgt, vorbehaltlich der durch Gesetz bestimmten Fälle, durch Wettbewerb“. 19 de Pretis (Fn. 10), Rn. 5. 14

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Im italienischen Recht fehlt hingegen eine ausdrückliche Bestimmung, die ähnlich wie Art. 20 Abs. 3 GG die Verwaltung an Gesetz und Recht bindet, wenn auch das Legalitätsprinzip in seiner doppelten Ausprägung des Vorrangs und des Vorbehalts des Gesetzes genau wie in Deutschland den Dreh- und Angelpunkt des italienischen Verwaltungssystems darstellt. Dieser Grundsatz wird einerseits von Art. 23 Verf. abgeleitet, laut dem alle persönlichen oder vermögensrechtlichen Leistungen nur durch Gesetz auferlegt werden können. Andererseits ergibt sich dieser Grundsatz implizit aus Art. 97 Verf., der die Organisation der Behörden und die Festlegung der Aufgaben der Beamten dem Gesetz vorbehält.20 Drittens schafft das Legalitätsprinzip die Grundlage für einen effektiven Rechtsschutz legitimer Interessen und subjektiver Rechte, der genau wie in Art. 19 Abs. 4 GG ausnahmslos gewährt wird.21 Die Rechtsweggarantie wird nämlich auch von der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs zu den vorrangigen Grundsätzen der Verfassungsordnung gezählt, da „die Garantie des ausnahmslosen und für jeden Rechtsstreit bestehenden Zugangs zu einem Richter und zu einem Gerichtsverfahren, im engsten Zusammenhang zum Demokratieprinzip steht“.22 Es erscheint inzwischen unbestreitbar, dass der Gesetzesvorbehalt über die Behördenorganisation nach Art. 97 Verf. relativen Charakter haben soll, weswegen – ähnlich dem „Wesentlichkeitsprinzip“ – die nicht grundlegenden Aspekte vom Sekundärrecht geregelt werden können. Es wäre nämlich kontraproduktiv, jedes Detail gesetzlich festzulegen. Außerdem würde diese Tätigkeit das Parlament einfach überfordern.23 Der Gesetzesvorbehalt wurde ursprünglich als Reaktion auf die traditionelle Praxis der Regierung eingeführt, die Verwaltungsorganisation autonom zu regeln.24 Er sollte dieser Vorgehensweise entgegenwirken und die administrative Unparteilichkeit und gute Verwaltungsführung auf eine gesetzliche Grundlage stellen. Gleichzeitig wurde der Verwaltung die Aufgabe erteilt, konkrete organisatorische Maßnahmen zu treffen, weswegen sich die Verfassungsregelung eher als „Organisationsvorbehalt zugunsten der Exekutive“25 erwiesen hat.26 Daher wird auf das Prinzip der guten Verwaltungsführung die ab 20

de Pretis (Fn. 10), Rn. 6. Vgl. Art. 24 Verf.: „Jedermann darf zum Schutz der eigenen Rechte und der legitimen Interessen vor einem Gericht Klage erheben.“ Art. 113 Abs. 1 Verf.: „Gegen die Akte der öffentlichen Verwaltung ist der Rechtsweg zum Schutz der Rechte und der legitimen Interessen vor den Organen der ordentlichen Gerichtsbarkeit oder der Verwaltungsgerichtsbarkeit immer zulässig.“ 22 „È intimamente connesso con lo stesso principio di democrazia l’assicurare a tutti e sempre, per qualsiasi controversia, un giudice e un giudizio“ (Corte cost. Nr. 18/1982). 23 Caridà (Fn. 6), S. 8. 24 Vgl. das Gesetz Nr. 100 v. 31.1.1926 (Sulla facoltà del potere esecutivo di emanare norme giuridiche), G. U. n. 25 v. 2.2.1926; Saltelli, Carlo, Potere esecutivo e norme giuridiche. La legge 31 gennaio 1926 n. 100 commentata e illustrata, Roma 1926. 25 Vgl. Gesetz Nr. 400 v. 23.8.1988 (Disciplina dell’attività di Governo e ordinamento della Presidenza del Consiglio dei Ministri), G. U. Nr. 214 v. 12.9.1988, Art. 17 Abs. 1 Buchst. d) und Art. 17 Abs. 4bis. 26 D’Orlando (Fn. 4), S. 191. 21

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den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts festzustellende Tendenz zur exekutiven Rechtsetzung (delegificazione) der Verwaltungsorganisation zurückgeführt. Die dahinterstehende Überlegung ist, dass eine gesetzlich geregelte Organisation sich als extrem unflexibel erweist. Auch hier wurde ein Vorbehalt zugunsten der Selbstorganisation ermittelt.27 Als weitere Entwicklung hat sich Italien seit den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts vom Modell der hierarchisch organisierten Ministerialverwaltung mit dem Ministerrat an der Schnittstelle zum Parlament, an dessen Vertrauen die Regierung gebunden ist (Art. 94 Verf.), also vom Prinzip „der ungebrochenen Legitimationskette“ nach deutscher Tradition immer weiter entfernt. Das ist erstens auf die Verfassungsreform von 2001 zurückzuführen, die den Titel V Verf. geändert und die Organisationsprinzipien der Autonomie und Dezentralisierung nach Art. 5 Verf. durch den Ausbau der regionalen Befugnisse umgesetzt hat, womit eine polyzentrische Verwaltungsorganisation entstanden ist.28 Zweitens wurde die Notwendigkeit verspürt, die Leitlinien der politischen Führung von der Tätigkeit der Verwaltungsbürokratie zu trennen. Nach diesem Kriterium werden den gewählten Mandatsträgern politische Weisungsbefugnisse zur Festlegung von Zielen und Programmen und zur Überprüfung der erzielten Ergebnisse zuerkannt, wohingegen den bürokratisch-administrativen Organen die Führungsaufgaben und die Befugnis zum Erlass von Verwaltungsakten und zum Abschluss von Verträgen sowie die fachliche und finanzielle Gebarung übertragen werden.29 So ist seit den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts eine organisatorische Trennung zwischen politischen und administrativen Tätigkeiten und Ämtern vor allem auf der Ebene der staatlichen Verwaltung zu verzeichnen. Nach diesem Grundsatz übernehmen die politischen Organe aufgrund ihrer politischen Legitimation die politischen Funktionen und die Verwaltungsorgane aufgrund ihrer fachlichen Legitimation die Verwaltungsfunktionen zur Konkretisierung der politisch festgelegten Ziele.30 Die Leitung der öffentlichen Verwaltung (dirigenza amministrativa) genießt in diesem Zusammenhang einen besonderen Status. Etwa nach dem Prinzip „Politik vergeht Bürokratie besteht“ wurde die Beziehung der administrativen Führungskräfte zu den politischen Organen neu definiert, indem ein großer Teil der Befugnisse auf die „dirigenti“ übertragen wurde. Als Ausgleich dafür wurde der politischen Führung die einschneidende Befugnis eingeräumt, Leitungsverantwortung zu übertragen und zu widerrufen. Es gilt grundsätzlich folgendes Prinzip: 27

D’Orlando (Fn. 4), S. 199. Einschränkend ist jedoch hervorzuheben, dass die Organisation der Regionen, Provinzen und Gemeinden mutatis mutandis dem Modell des Zentralstaates nachgebildet bleibt. 29 Caridà (Fn. 6), S. 3. 30 de Pretis (Fn. 10), Rn. 30. 28

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Im Unterschied zum Anstellungsverhältnis, das dauerhaft ist, ist die Leitungs­ verantwortung befristet und wird auf Vertrauensbasis von einem politischen Organ übertragen.31 Der automatische Widerruf eines Führungsauftrags infolge der Erneuerung dieses politischen Organs, das sog. spoils system,32 war jedoch wiederholt Gegenstand von Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs, der einen Ausgleich mit dem Prinzip der Unparteilichkeit und der guten Verwaltungsführung herstellen musste.33 Dabei ist der Verfassungsgerichtshof davon ausgegangen, dass das spoils system Art. 97 Verf. in zweifacher Hinsicht verletzen kann: Erstens, weil es gegen das Prinzip des gerechten Verfahrens verstößt, da der Betroffene keine Möglichkeit erhält, am Verfahren beteiligt zu werden und die Gründe seiner Absetzung zu erfahren; zweitens, weil es gegen den Grundsatz der Effizienz und Wirtschaftlichkeit des Verwaltungshandelns verstößt, da der Status einer Führungskraft nicht von einer sachlichen Bewertung ihrer Sachkenntnis und ihres Sachverstands abhängig gemacht wird.34 Als dritten Faktor der Entfernung von der Legitimationskette hat die zunehmende Verbreitung unabhängiger Verwaltungsbehörden – genau wie in Deutschland  – Legitimationsprobleme aufgeworfen. Diese Entwicklung wurde sowohl durch den Einfluss des Europarechts als auch aufgrund der Schwäche der italienischen politischen Institutionen begünstigt.35 Man hat in diesem Zusammenhang sogar von einer vierten Gewalt gesprochen.36 Durch die Entstehung unabhängiger Verwaltungsstrukturen ist das italienische Verwaltungssystem viel komplexer und netzartiger geworden. Den unabhängigen Behörden wurde eine eigene, von der Politik getrennte verfassungsrechtliche Legitimation über Art. 97 Abs. 1 Verf. eingeräumt.37 Sowohl die fachliche Legitimation als auch der kollegiale Aufbau dieser Behörden sind in der Lage, die fehlenden politischen Legitimationsstränge auszugleichen. Es wurde ferner die neutrale Stellung der Behörden betont, die eine Garantiefunktion ausüben, da ihre „accountability“ keine politische ist. Sie sind – ähnlich wie die Gerichte – Kontrollorgane, welche die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen überwachen.38

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de Pretis (Fn. 10), Rn. 44. Vgl. das Legislativdekret Nr. 165/2001, Art. 10. 33 Corte cost. 453/1990; 333/1993; 193/2002;103 und 104/2007; 390/2008. 34 Vgl. Corte Cost 34/2010; 104/2017 in de Pretis (Hrsg.), La discrezionalità dell’amministrazione nella giurisprudenza della Corte costituzionale, Prolusione all’inaugurazione dell’anno accademico 2015/2016 della Scuola di Specializzazione in Studi sull’Amministrazione Pubblica v. 15.1.2016, S. 15. 35 de Pretis (Fn. 10), Rn. 35. 36 Roppo, Vincenzo, Sulla posizione e sul ruolo istituzionale delle nuove autorità indipendenti, Politica del diritto 1/2000, S. 164. 37 Lazzara, Paolo, Autorità indipendenti e discrezionalità, Padova 2001, S. 29. 38 Riviezzo, Antonio, Autorità amministrative indipendenti e ordinamento costituzionale, Quaderni costituzionali 2/2005, S. 327. 32

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Außerdem wurde bei diesen Behörden, die (auch) eine administrative Funktion wahrnehmen, eine Output-Legitimation durch die Garantie des gerechten Verfahrens und die gerichtliche Nachprüfung ihrer Tätigkeit sowie die besonders ausführliche Begründung ihrer Maßnahmen und die Transparenz ihres Handelns angenommen.39 Darüber hinaus wurde nach der Verfassungsreform 2001 bei jenen Behörden, die – wie die Kartellbehörde, die Energiebehörde, die Telekommunikationsbehörde und die Datenschutzbehörde  – unter dem Druck des Europarechts eingerichtet wurden, eine indirekte Legitimation über Art. 117 Abs. 1 Verf. ermittelt.40 Danach unterliegt die Gesetzgebungsbefugnis von Staat und Regionen den „aus der gemeinschaftlichen (jetzt unionsrechtlichen) Rechtsordnung und aus den internationalen Verpflichtungen erwachsenden Einschränkungen“. Daraus ergibt sich eine überstaatliche Legitimation infolge des Vorrangs des Europarechts.41

III. Auslegung und Konkretisierung der Verfassungsprinzipien Auch für das italienische Recht gilt genau wie in Deutschland die Maxime von Fritz Werner „Verwaltungsrecht ist konkretisiertes Verfassungsrecht“.42 So hat das Prinzip der guten Verwaltungsführung anfänglich unter der Unbestimmtheit der Verfassungsformulierung gelitten. Es wurde von Lehre und Rechtsprechung lange Zeit eher als Programmnorm betrachtet.43 Heute gibt es hingegen praktisch keinen Bereich der öffentlichen Verwaltung, der davon nicht erfasst wäre. Für diese Entwicklung gibt es verschiedene Gründe. Erst relativ spät, im Jahr 1990, wurde in Italien ein Verwaltungsverfahrensgesetz erlassen.44 Davor hatte der italienische Verfassungsgerichtshof bereits in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts das Prinzip des „gerechten Verfahrens“ (giusto procedimento) als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips (rule of law) entwickelt. Laut diesem Grundsatz sollte der Gesetzgeber im Falle einer Einschränkung von Bürgerrechten abstrakte Bestimmungen treffen und dabei ein Verwaltungsverfahren regeln. Dadurch wurden die betroffenen Privatsubjekte in die Lage versetzt, ihre Argumente sowohl im eigenen Interesse als auch im Interesse des Allgemeinwohls vor den zuständigen Behörden darzulegen.45 Wenngleich der Verfassungsrang dieses 39 Aperio Bella, Flaminia, Tra procedimento e processo. Contributo allo studio delle tutele nei confronti della pubblica amministrazione, Napoli 2017, S. 439 ff. 40 Riviezzo (Fn. 38), S. 337. 41 Rigano, Francesco, Le autorità indipendenti nel sistema costituzionale, Analisi giuridica dell’economia 2/2002, S. 360. 42 Werner, Fritz, Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, DVBl 1959, S. 527. 43 D’Orlando (Fn. 4), S. 197. 44 Gesetz v. 7.8.1990, Nr. 241 (Nuove norme in materia di procedimento amministrativo e di diritto di accesso ai documenti amministrativi), G. U. v. 18.8.1990, Nr. 192. 45 Corte cost. 13/1962; 23/1978; 234/1985.

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Grundsatzes vom Verfassungsgerichtshof verneint worden war, weswegen der Gesetzgeber davon abweichen konnte, wurde das gerechte Verfahren trotzdem als allgemeines Prinzip der italienischen Rechtsordnung und als „Orientierungsrahmen für den Gesetzgeber und den Interpreten“46 anerkannt.47 Es wurde von Art. 97 Verf., also vom Gebot der Unparteilichkeit und der guten Verwaltungsführung, abgeleitet, das zusammen mit dem Prinzip der Volkssouveränität und des vorgelagerten Rechtsschutzes diese Partizipationsform empfahl. Demnach wurde das Verwaltungsverfahren sowohl als partizipatorische Ausübung der Verwaltungstätigkeit als auch als organisationsrechtliches Steuerungsinstrument angesehen.48 Insbesondere wurden die Prinzipien der Unparteilichkeit und der guten Verwaltungsführung vom Verwaltungsverfahrensgesetz 199049 und den nachfolgen­ den Reformen50 unmittelbar konkretisiert und in die Gebote der Wirtschaftlichkeit, Effektivität, Unparteilichkeit, Publizität und Transparenz übersetzt.51 Somit wurden das Verhältnis zwischen geplanten und erreichten Zielen (Effektivität), das Gebot des optimalen Ressourceneinsatzes (Wirtschaftlichkeit), das Gebot der Bekanntgabe öffentlichkeitsrelevanter Informationen (Publizität) sowie ihrer inhaltlichen Verständlichkeit (Transparenz)  – ähnlich dem deutschen Bestimmtheitsgebot – kodifiziert. Das Prinzip der guten Verwaltungsführung findet ferner Anwendung in verschiedenen anderen Vorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes, wie z. B. in derjenigen über den Verfahrensverantwortlichen,52 der für die ordnungsgemäße Durchführung des Verwaltungsverfahrens nach innen und nach außen haftet, sowie über die vorgesehene maximale Verfahrensfrist,53 über das Verbot der Verfahrensverschleppung54 und über die Verwaltungsvereinfachung, etwa in der Form der Dienststellenkonferenz,55 der Anzeige über den Tätigkeitsbeginn56 und der Selbstbescheinigung.57 Diesbezüglich wurde von der italienischen Lehre betont, dass im Verhältnis zum Prinzip der „guten Verwaltung“ nach Art. 41 GRCh der Begriff der guten Verwaltungsführung sowohl enger als auch weiter ausgelegt werden kann.58 Einerseits 46

Corte cost. 210/1995. Caridà (6), S. 13. 48 de Pretis, Daria / Fraenkel-Haeberle, Cristina, Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Italien, in: Sommermann / Schaffarzik (Hrsg), Handbuch der Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland und Europa, Bd. 2, Berlin 2019. S. 1399. 49 Gesetz Nr. 241/1990, Art. 1. 50 Insbesondere das Verwaltungsverfahrensänderungsgesetz Nr. 15/2005. 51 Gesetz 241/1990, Art. 1 Abs. 1. 52 Gesetz 241/1990, Art. 5 ff. 53 Gesetz 241/1990, Art. 5 ff. 54 Gesetz 241/1990, Art. 1 Abs. 2. 55 Gesetz 241/1990, Art. 14 ff. 56 Gesetz 241/1990, Art. 19. 57 Gesetz 241/1990, Art. 18. 58 de Pretis (Fn. 10), Rn. 188. 47

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dient die gute Verwaltungsführung funktional der Verfolgung des Gemeinwohls. Andererseits wird in Italien das Grundrecht auf eine gute Verwaltung als nachrangig gegenüber einer effizienten und effektiven Verwaltungsführung eingestuft. Nach dem Europarecht ist die „gute Verwaltung“ ein Bürgerrecht, nach Art. 97 Verf. handelte es sich – mindestens im ursprünglichen Sinne – um eine Pflicht der öffentlichen Verwaltungsbehörden, die insbesondere die Gesetzmäßigkeit ihres Handelns bestimmte, da das öffentliche Interesse an einer unparteiischen und effizienten Verwaltungsführung im Mittelpunkt stand.59 Nach dieser Auffassung bedeutet gute Verwaltungsführung insbesondere Effektivität und Wirtschaftlichkeit nach unternehmerischen Maßstäben.60 Die Verwaltung soll demnach performance oriented und ergebnisorientiert handeln (amministrazione di risultato), was einen Konflikt zu den Zielen der Unparteilichkeit und Transparenz verursachen kann, wenn auch auf diese Weise die organisatorischen Voraussetzungen zur Verwirklichung der Unparteilichkeit geschaffen werden.61 Auf das Prinzip der guten Verwaltungsführung wurde z. B. die Einführung eines Controlling gestützt, das sowohl eine Kosten-Leistungs-Rechnung (controllo di gestione) als auch eine Ergebniskontrolle auf der Grundlage im Voraus festgelegter Ziele (controllo strategico) zum Gegenstand hat.62 Das Verfassungsprinzip der guten Verwaltungsführung bezieht sich nicht auf den einzelnen Bediensteten, sondern auf die ihn beschäftigende Körperschaft.63Als Ausprägung dieses Prinzips und im Zuge des New Public Management hat außerdem das Bedürfnis nach einer effizienteren Verwaltung zu einer Privatisierung des öffentlichen Dienstes geführt.64 Seitdem sind mit wenigen Ausnahmen, die mit dem Nukleus staatlicher Souveränität verbunden sind (Streitkräfte, Diplomaten, Universitätsprofessoren, Richter und Polizeikräfte), die zivilrechtlichen Bestimmungen des Arbeitnehmerstatuts für den öffentlichen Dienst anwendbar geworden.65

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D’Orlando (Fn. 4), S. 202 mwN. D’Orlando (Fn. 4), S. 208. 61 Das Prinzip der guten Verwaltungsführung wird ferner zum Maßstab für eine strenge Überprüfung der Maßnahmen- und Heilungsgesetze (Corte Cost. 306/1995; 1/1996; 205/1996; 153/1997; 14/1999) sowie der Gesetze, die Ausnahmen von öffentlichen Wettbewerben vorsehen (Corte Cost. 363/2006); vgl. Iannuccilli, Loris / de Tura, Antonmichele, Il principio di buon andamento dell’amministrazione nella giurisprudenza della Corte costituzionale, 2009 mwN, www.cortecostituzionale.it (2.3.2019). 62 D’Orlando (Fn. 4), S. 197 ff. 63 Dieses Prinzip darf nicht mit der Pflicht zur guten Verwaltungsführung der einzelnen öffentlichen Angestellten verwechselt werden, wie sie z. B. vom Legislativdekret Nr. 267/2000 (Testo unico delle leggi sull’ordinamento degli enti locali), Art. 78 Abs. 1 geregelt wird. 64 Legislativdekret Nr. 29/93 und anschließend Nr. 165/2001 sowie Legislativdekret Nr. 150/​ 2009. 65 Auch für den öffentlichen Dienst ist somit das Arbeitnehmerstatut (Statuto dei lavoratori) anwendbar geworden. Es handelt sich um das Gesetz Nr. 300 v. 20.5.1970, G. U. Nr. 131 v. 27.05.1970. 60

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IV. Schluss: Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit Wie eingangs erwähnt, lässt sich die italienische Verfassung nur schwer ändern. Verschiedene Änderungsversuche sind erfolglos geblieben. Zum Beispiel war von der 2006 gescheiterten Verfassungsreform von Premierminister Berlusconi die verfassungsmäßige Verankerung der unabhängigen Verwaltungsbehörden in Art. 98bis Verf. vorgesehen worden.66 Ebenfalls hatte die ebenso 2016 gescheiterte Verfassungsreform von Premier Renzi die Einfügung des Prinzips der Transparenz in Art. 97 Verf. vorgesehen.67 Inzwischen hat der Transparenzgedanke, der mit dem Verwaltungsverfahrensgesetz erstmalig Eingang in die italienische Rechtsordnung gefunden hatte, mehrere unterschiedliche Facetten angenommen und dient u. a. sowohl ökologischen Anliegen (informazione ambientale) als auch der Korruptionsbekämpfung.68 In der Tat schwankt die italienische Verfassung zwischen recht allgemeinen impliziten und expliziten Verfassungsprinzipien (Legalität, Unparteilichkeit und gute Verwaltungsführung) und spezifischen Detailregelungen wie zum Beispiel zum öffentlichen Dienst (Prinzip der Bestenauslese durch ein wettbewerbliches Verfahren,69 Beförderung von Parlamentsmitgliedern bzw. Beschränkungen des Rechts auf Einschreibung in politische Parteien für bestimmte Beamtenkategorien sowie Vorgaben über die pflichtgetreue und gewissenhafte Aufgabenwahrnehmung).70 Es fehlt sozusagen „die Zwischenstufe“, z. B. die Verbürgung der Prinzipien der Partizipation und des Parteiengehörs im Verwaltungsverfahren, weswegen eine Ergänzung durch Rechtsprechung, Lehre und Gesetzgebung notwendig gewesen ist.71 Diese Grundsätze wurden zunächst vom Verwaltungsverfahrensgesetz (sog. „Transparenzgesetz“) eingeführt, welches das Prinzip des „gerechten Verfah-

66 Verfassungsgesetzesentwurf A. S. 2544-D v. 16.11.2005, G. U. Nr. 269 v. 18.11.2005, Art. 35. 67 Verfassungsgesetzesentwurf A. C. 2613-D v. 12.4.2016, G. U. Nr. 88 v. 15.4.2016, Art. 27. 68 Man denke an das Umweltinformationsrecht (Legislativdekret Nr. 195/2005, Art. 1 Abs. 1) an das „Bürgerzugangsrecht“ (accesso civico) nach dem Legislativdekret Nr. 33/2013, Art. 5, sowie an das „Transparenzdekret“ Nr. 97/2016 (Revisione e semplificazione delle disposizioni in materia di prevenzione della corruzione, pubblicità e trasparenza). 69 Art. 97 Abs. 3 Verf. 70 Vgl. Art. 98: „Die öffentlichen Angestellten stehen im ausschließlichen Dienst der Nation. Wenn sie Parlamentsmitglieder sind, können sie eine Beförderung nur auf Grund des Dienstalters erlangen. Mit Gesetz können Beschränkungen des Rechts auf Einschreibung in politische Parteien für die Richter, die Berufssoldaten im aktiven Dienst, die Polizeibeamten und für die diplomatischen und konsularischen Vertreter im Ausland festgesetzt werden“. Art. 51 Abs. 1 Verf.: „Alle Staatsbürger beiderlei Geschlechts haben unter gleichen Bedingungen gemäß den durch Gesetz bestimmten Erfordernissen Zugang zu den öffentlichen Ämtern und zu den Wahl­mandaten.“ Art. 54 Abs. 2 Verf.: „Die Staatsbürger, denen öffentliche Aufgaben anvertraut sind, haben die Pflicht, sie pflichtgetreu und gewissenhaft zu erfüllen und in den durch das Gesetz bestimmten Fällen einen Eid zu leisten“. 71 D’Orlando (Fn. 4), S. 172.

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rens“ konkretisiert. Dieses Prinzip ist inzwischen nicht nur zum Kriterium für die Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns, sondern auch zum Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung geworden.72 Auf diese Weise wurde ein Kompromiss zwischen einem autoritativen und einem demokratischen Behördenbegriff erreicht. Diese Entwicklung wurde durch die Verabschiedung der Verwaltungsprozessordnung 2010,73 welche die Prinzipien des effektiven Verwaltungsrechtsschutzes (Art. 1) und des „fairen Gerichtsverfahrens“ durch die Festschreibung der Gleichheit der Parteien, des rechtlichen Gehörs (Art. 2), der angemessenen Verfahrensdauer, der Begründungspflicht und der gerafften Form der Prozessakten näher konkretisiert (Art. 3). Zu einer Verwaltung „auf Augenhöhe“ haben sicher auch das Mehrebenensystem und der Einfluss des Europarechts, insbesondere der EU-Verträge und der EMRK beigetragen. Art. 1 Abs. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz enthält einen mobilen Verweis auf die Grundsätze des Unionsrechts, also auf die vom EuGH entwickelten Prinzipien sowie auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und – über die Bresche von Art. 6 Abs. 2 EUV – auf die EMRK.74 Seit der Verfassungsreform 2001 stellen außerdem das Völkerrecht und das Unionsrecht eine Schranke für den staatlichen und die regionalen Gesetzgeber dar (Art. 117 Abs. 1 Verf.).75 Über das Europarecht haben das Verhältnismäßigkeitsprinzip und der Vertrauensschutz als Grundsätze deutscher Herkunft in das italienische Verwaltungsrecht Einzug gehalten, zu denen sich auch sektorale Prinzipien, wie z. B. das umweltrechtliche Verursacher- und Vorsorgeprinzip gesellten.76 Die Prinzipien und Werte des italienischen Verwaltungsrechts stehen inzwischen den grundlegenden Werten der Europäischen Union und der EMRK in nichts nach. Die Spannungen, die sich aus diesem „Grundrechtsverbund“ ergeben haben, betreffen nicht so sehr die Vereinbarkeit zwischen nationalen und europäischen Prinzipien, sondern vielmehr

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D’Orlando (Fn. 4), S. 172. Codice del processo amministrativo – c.p.a., Legislativdekret Nr. 104/2010. 74 Man denke z. B. an den Schutz des Privat- und Familienlebens (Art. 8); an die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9); an die Meinungsfreiheit (Art. 10) und an die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11). 75 Laut dem italienischen Verfassungsgerichtshof (Corte cost. Nr. 348 und 349/2007) liegt der Unterschied jedoch darin, dass während im Verhältnis zu den unionsrechtlichen Bestimmungen die Unvereinbarkeit mit dem Nationalrecht infolge des Anwendungsvorrangs zur Nicht-Anwendbarkeit des Letzteren führt, bei den Bestimmungen der EMRK der nationale Richter die Angelegenheit der Corte costituzionale im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle vorzulegen hat. Die Corte soll nach Feststellung der Vereinbarkeit der Konventionsbestimmung mit der italienischen Verfassung und den obersten Prinzipien der italienischen Rechtsordnung diese als Maßstab für die Prüfung der nationalen Vorschrift heranziehen (Art. 117 Abs. 1 Verf.). 76 Gesetz Nr. 152 v. 3.4.2006 (Codice dell’ambiente), G. U. Nr. 88 v. 14.4.2006, Art. 3 ff. 73

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den Grad ihrer Verwirklichung.77 So haben das Europarecht und insbesondere das europarechtliche Vergaberecht maßgeblich zum Ausbau eines effektiven Rechtsschutzes durch die Einführung einstweiliger Anordnungen und Schadenersatzmöglichkeiten in das italienische Verwaltungsprozessrecht beigetragen. Daher kann man zu Recht davon ausgehen, dass sich das originäre Verwaltungsverständnis auch ohne Verfassungsänderung seit 1948 erheblich geändert hat. Die erwähnten Beispiele zeigen, dass der Verfassungswortlaut nicht mehr ausreicht, um die verfassungsrechtliche Dimension des Verwaltungsrechts zu erfassen. Sie beweisen jedoch auch den Weitblick des Verfassungsgesetzgebers sowie die Anpassungsfähigkeit der damals erarbeiteten Verfassungsprinzipien, die nach sieben Jahrzehnten noch immer Bestand haben und auch für die Zukunft wegweisend sein können.

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de Pretis (Fn. 10), Rn. 13 f.

Verfassung und Verwaltung Zum 40. Jahrestag der spanischen Verfassung von 1978 Javier Barnes

I. Der historische Kontext der Verfassung von 1978 Im sogenannten „politischen Übergang“ (1975–1978) wurden vier grundlegende Fragen aufgeworfen, auf die die Verfassung eine angemessene Antwort geben sollte: die Wiedergründung eines neuen Staates auf der Grundlage der Grundsätze des sozialen und demokratischen Rechtsstaats; die Schaffung eines Regimes politischer Freiheiten; die vollständige Eingliederung Spaniens in die europä­ ischen Organisationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden; und die territoriale Dezentralisierung des Staates. Die Monarchie übernahm die Rolle des Schiedsrichters und moderierte den Übergang zu diesem neuen Staat und zur Annahme der Verfassung. Zwei Vergleichsmodelle wurden im verfassungsgebenden Prozess besonders berücksichtigt, das italienische und das deutsche. Hinzukommt das entscheidende Gewicht der Spanischen Verfassung von 1931 in der Frage der territorialen Machtverteilung. Diese Verfassung war infolge des Spanischen Bürgerkriegs (Juli 1936 bis April 1939) und somit der unter ihrer Ägide entstandenen Regionalisierung beseitigt worden. Die Verfassung von 1978 wollte ihr Kontinuität verleihen, nicht nur inspiriert von der dort entworfenen Struktur der territorialen Organisation (sub III.), sondern auch durch die Privilegierung einzelner Regionen (Katalonien, Baskenland und Galizien), deren Autonomiestatute vor dem kriegerischen Konflikt im Wege einer Volksabstimmung genehmigt worden waren (1932 und 1936, zweite Übergangsbestimmung der Verfassung von 1978). Mit unterschiedlicher Intensität und auch im Umfang je nach Thema ganz verschieden, kam dem Verwaltungsrecht bei der effektiven Umsetzung der neuen Verfassung eine unverkennbare Bedeutung zu.

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II. Der Einfluss der Verfassung von 1978 und des Europarechts auf das spanische Verwaltungsrecht: eine Erfolgsgeschichte Die vollständige Erneuerung des spanischen Verwaltungsrechts ist auf die Verfassung von 1978 und den Beitritt Spaniens zu den europäischen Organisationen zurückzuführen: 1977 und 1979 zum Europarat und zur EMRK, 1985 erfolgte dann die Aufnahme in die Europäischen Gemeinschaften. Dies ist ein doppelter Prozess – Konstitutionalisierung und Europäisierung –, der eng miteinander verflochten war und eine besondere Intensität in sehr kurzer Zeit aufwies. Im Fall Italiens und Deutschlands entwickelten sich beide Prozesse in gradueller und zeitlicher Stufung. Auf den Konstitutionalisierungsprozess in den späten 1940er Jahren folgte in den 1950er Jahren mit einem eigenen Tempo eine schrittweise Europäisierung. Man muss mit Blick auf den Prozess der Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts im Auge behalten, dass die Verfassung von 1978 die modernste Verfassung in unserer Geschichte ist, die wie keine zuvor einen historischen und politischen Übergang gestaltet hat. Ihre Auswirkungen auf das gesamte Rechtssystem, insbesondere auf das Verwaltungsrecht, waren gewaltig. Einerseits ging es um die Schaffung eines neuen sozialen und demokratischen Rechtsstaates, um die Anerkennung eines modernen Katalogs von Rechten, um die Typologisierung einer Vielzahl der von der Verwaltung zu verfolgenden Ziele sowie die Schaffung neuer Einrichtungen und Regierungsebenen. Andererseits war diese Verfassung von Anfang an als eine echte Rechtsnorm konzipiert, die unmittelbar anwendbar ist und deren Gewährleistungen vor Gericht einklagbar sind, ohne dass der Gesetzgeber oder die Verwaltung einwenden konnten, ihnen habe nicht genügend Zeit für ihre Entwicklung zur Verfügung gestanden. Um den Einfluss der Verfassung von 1978 auf das spanische Verwaltungsrecht zu verstehen, ist zu beachten, dass sie insoweit mehr Vorgaben als die italienische oder die deutsche Verfassung enthält. So legt die Spanische Verfassung Kriterien für die Staatshaftung fest. Weiterhin regelt sie das Verwaltungsverfahren, die gerichtliche Überprüfung der Verwaltung, die Grundsätze, denen die Verwaltung unterworfen ist, insbesondere das Prinzip der Rechtmäßigkeit und ihrer Bindung an Gesetz und Recht. Auch enthält sie Aussagen über die Transparenz und den Zugang zu öffentlichen Informationen, die Garantie der lokalen Autonomie, die Universitätsautonomie, die Normierung verschiedener Verwaltungseinrichtungen, die öffentlichen Dienstleistungen sowie die öffentlichen Güter, das Organ des Staatsrats, und regelt sie zudem viele andere grundsätzliche Fragen. Als Ausdruck des Sozialstaates legt die Verfassung ferner die Leitprinzipien des wirtschaftlichen und sozialen Lebens sowie die Gegenstände und Ziele fest, die von der Verwaltung zu verfolgen sind. Andererseits ist es eine Verfassung, die ein angemessenes Gleichgewicht zwischen der Ebene des Verfassungsrechts und des einfachen Gesetzgebers schafft. Wie die Verfassungsrechtsprechung schon früh betonte, enthält die Verfassung

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von 1978 einen ausreichend breiten Bezugsrahmen, um eine Vielzahl politischer Entscheidungen zu ermöglichen, die vom freien, demokratischen Gesetzgeber getroffen werden können. Dies ist angesichts von Stimmen der Gegenwart beachtlich, die sich dafür aussprechen, die Verfassung in eine Art Verordnung mit einem vollständigen Fahrplan für die künftige öffentliche Politik umzuwandeln. Dies geschähe dann in Nachahmung einiger lateinamerikanischer Verfassungen und von Autonomiestatuten der zweiten Generation, in denen ein dichtes und detailliertes politisches Programm verankert wird, das dem normativen Charakter der Verfassung von 1978 nicht entspricht. Sie hat diesen Fehler nicht begangen und hält am klassischen Leitbild einer Verfassung fest, die die parlamentarische Demokratie wertschätzt und sie ihrer Funktionen nicht beraubt.1 Für die Eingliederung Spaniens in Europa war es notwendig, eine lange Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und darüber hinaus den immensen „acquis communautaire“ in die spanische Rechtsordnung umzusetzen, der bereits 1985 bestand. Die Auswirkungen dieses Vorgangs betrafen vorwiegend das Verwaltungsrecht.

III. Die territoriale Organisation des Staates und das Verwaltungsrecht 1. Die Strategie der Verfassung von 1978 zur Organisation der territorialen Machtverteilung Die Verfassung von 1978 beschloss, den Staat – also die territoriale Machtverteilung – in zwei Phasen zu organisieren. Es ist daher eine „zweiphasige“ Konstitution. Dies ist ein rechtlicher Schlüssel zu ihrem Verständnis, wenn dies auch häufig vergessen wird. In einer ersten Phase stellt die Verfassung selbst nur vorläufige Regeln auf und fordert diejenigen, die an ihrer Entwicklung teilnehmen wollen, auf, ihre Präferenzen innerhalb eines gemeinsamen Rahmens zu nennen (Dispositionsprinzip). So entstanden namentlich die Autonomen Gemeinschaften, die von einem Prozess von unten nach oben zeugen. Es sind die Autonomiestatute, die nach dem Konzept der Verfassung das Ergebnis der eigenen Initiative der jeweiligen Gemeinschaft sind. Angesichts der Zahl der Autonomen Gemeinschaften, die aus eigener Initiative geschaffen wurden, sowie des jeweils von ihnen übernommenen Kompetenzniveaus sollte der Staat als Ganzes erst zu einem späteren Zeitpunkt organisiert werden. Das war und ist der Plan dieser Verfassung. Anschaulich gesprochen: Zu 1

Anlässlich der Verfassung von 1931 hatte Manuel Azana ausdrücklich gesagt: „So wenig Verfassung wie möglich“; das bestätigt José Maria Ridao im Prolog des Buches Manuel Azana, José Ortega y Gasset. Zwei Visionen von Spanien, in der digitalen Ausgabe von Titivillus, 2017.

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nächst sollten sich die Spieler und ihre Optionen etablieren; erst in einer zweiten Phase sollten sie dann in einem neuen Kapitel der Verfassung stabile Regeln aufstellen, die das Spiel zwischen allen ermöglichen und das Funktionieren des Systems als Ganzes sichern sollten. Es sollte sich in dieser zweiten Phase um einen Prozess handeln, der von oben nach unten verläuft. Ihn sollte die Verfassung organisieren, nicht die Autonomiestatute. Dies ist das Modell unserer Verfassung von 1978, welches bereits in der Verfassung von 1931 angelegt war und in die jetzige Verfassung übertragen werden sollte. In diesem Zwei-Phasen-Modell ist ein Schritt ohne den anderen nicht verständlich. Das Dach und andere gemeinsame Elemente des Gebäudes können erst dann fertiggestellt werden, wenn die Räume bereits errichtet sind. Die gemeinsamen Elemente sind dabei unerlässlich. Die Verfassungen zeichnen gewöhnlich „von oben“ und endgültig die territoriale Karte auf den verschiedenen Ebenen des Staates und nennen die notwendigen Bauelemente. Dies ist etwa in der Weise möglich, dass sie die Wesensmerkmale der staatlichen Organisation verankern, wie es die amerikanische Verfassung von 1787 getan hat, die nur wenige Änderungen in mehr als zwei Jahrhunderten erlebt hat. Oder wie es im Detail in Gestalt des deutschen Grundgesetzes erkennbar ist, das mehr als sechzig Mal in siebzig Jahren geändert wurde, wobei 36 Reformen sein föderales Modell betrafen. In diesem Zusammenhang hat die Verfassung von 1978 bemerkenswerte Offenheit gezeigt und den noch „ungeborenen“ Parteien – den damaligen „vorautonomen“ Körperschaften – eine vergleichsweise ungewöhnliche Bedeutung zuerkannt. Diese Großzügigkeit wurde jedoch von den nationalistischen Kräften in einigen der Autonomen Gemeinschaften, die sich schon etabliert hatten, nicht erwidert. Der zweite verfassungsrechtliche Moment konnte bereits 1992 eingeläutet werden, als die erste Phase als abgeschlossen gelten konnte. Damals war die „Autonomie- Karte“ mittels der Bildung aller Autonomen Gemeinschaften fertiggestellt und die von den Autonomien übernommenen Kompetenzen wurden aufgrund der von den großen politischen Parteien in jenem Jahr unterzeichneten Abkommen über die „Autonomen Gemeinschaften“ homogenisiert. Nun war die Zeit für das normale Funktionieren des Systems gekommen, doch dafür gab es einfach keine Regeln in der Verfassung, außer ein paar provisorische und unzureichende Hinweise, die eigentlich für die Gründung der Autonomen Gemeinschaften und nicht für den Tag danach bestimmt waren. Um die erhebliche Schwierigkeit eines zusammengesetzten Staates ohne Verfassung zu verstehen, wie dies für Spanien zu diagnostizieren ist, ist es nicht notwendig, das komplexe innere Funktionieren der Vereinigten Staaten oder Deutschlands zu kennen oder ein Spezialist in dieser Angelegenheit zu sein. Es genügt, die Verfassungen dieser Staaten zu vergleichen, um festzustellen, wie viel uns fehlt. Zu diesen Mängeln in der Spanischen Verfassung ist folgendes zu sagen: Erstens gibt es in dieser Verfassung kaum Kriterien oder Grundsätze, die das Verhältnis

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zwischen Gesetzen auf staatlicher und regionaler Ebene, geschweige denn das System der Rechtsquellen im Allgemeinen, regeln. Zweitens finden sich mit Blick auf die Unterhaltung der kooperativen, aufgrund des europäischen Rechts sehr intensiven Beziehungen zwischen den verschiedenen Verwaltungsebenen keine wesentlichen Hinweise in der Verfassung. Dies führt häufig zu einer „autonomen“ Aktion der lokalen Behörden sowie der Autonomen Gemeinschaften. Drittens sind die Wirtschaftsverfassung und die Finanzverfassung nur durch wenige Parameter in der Verfassung ausgestaltet, so dass vieles in den Händen des Gesetzgebers liegt und von dem sich wandelnden Gesetzesrecht (Organgesetze, einfache Gesetze) abhängt. Viertens sind die Bestimmungen über die Zusammensetzung und die Funktionen der Parlamentskammern veraltet. Dies betrifft zunächst den Senat, der in der Verfassung als Kammer der Vertretung der Provinzen konzipiert wurde und damit eine autonome Lesart der grundlegenden Gesetze des Staates erheblich erschwert. Der Kongress wurde mangels eines übereilten und unklaren Konzepts des Verfassungsgebers teilweise seiner Rolle beraubt; dabei handelt es sich auch um Auswirkungen des Wahlrechts, die vielleicht unvorhergesehen waren. Während das Schrifttum und die politischen Akteure seit Jahrzehnten die Notwendigkeit einer Senatsreform betonen, ist der Kongress der Abgeordneten – das Unterhaus – zum Teil zu einer Kammer der territorialen Repräsentation geworden, im Gegensatz zu der ursprünglichen Rolle, die ihm zugedacht war. Dies liegt daran, dass es die Wahlgesetzgebung einer lokalen oder regionalen politischen Partei erlaubt, in einem einzigen Wahlkreis, ohne jede Repräsentanz auf nationaler Ebene, anzutreten, um dann auf einfachere Weise eine Vertretung im Kongress zu haben als es einer nationalen Partei möglich ist, die weit mehr Stimmen im ganzen Land hat. Damit ist die Zahl der Abgeordneten, die in diesem System Sitz und Stimme im Kongress haben, keineswegs irrelevant. Fünftens ist das System der Kompetenzverteilung zwischen Staat und Autonomen Gemeinschaften dringend zu aktualisieren. In der Tat beruht es auf komplexen Regelungen, die nach dem Inkrafttreten der Verfassung den Zugang zur Autonomie eröffnen sollten. Zu nennen sind auch die nicht nur wegen der aktuellen Entwicklungen wichtigen Phänomene wie Globalisierung und Privatisierung, die in vielen Bereichen neue Wege der Politik und damit der Verteilung erfordern, vor allem, weil der Dialog „Verfassung – Autonomiestatute“ sich insoweit erschöpft hat. Erneuerung kann nur aus einer Gesamtschau und nicht aus der Bilateralität eines jeden Autonomiestatuts kommen. Sechstens: Viele Grundrechte erfordern Anpassungen mit Blick auf ihre Wirksamkeit im „zusammengesetzten Staat“, angefangen von der Sprache bis hin zu der Freizügigkeit der öffentlichen Bediensteten, nicht nur im Bereich der Universitäten. Andererseits könnten das Recht, ein Referendum abzuhalten, sowie die dafür geltenden Regeln und erforderlichen Mehrheiten, insbesondere aber auch seine nur konsultative oder verbindliche Bedeutung in den Grundzügen nur in der Verfassung anstatt in einem bloßen Statut verankert werden.

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Diese und andere Fragen wurden in eine zweite Phase der Verfassungsentwicklung verschoben, die bisher aber nicht eingetreten ist, wie nachfolgend ausgeführt werden soll. Die notwendige Verteilung der territorialen Macht durch die Verfassung steht weiterhin aus. 2. Politischer Kontext Die verfassungsgebende Versammlung setzte nicht auf ein Haus ohne Dach. Warum wurde diese zweite Phase der Verfassungsentwicklung bisher nicht eingeleitet? Einerseits, weil einige politische Akteure nicht daran interessiert sind, das Verfassungsmodell zu vervollständigen, darunter insbesondere die „ausschließenden“ Nationalisten, die sich auf der Grundlage einer einzigen lokalen Identität und damit in Konfrontation mit einer gemeinsamen Identität definieren. So nutzten sie eine Verfassungsordnung, die unvollständig ist und geschwächt bleibt. Auf der anderen Seite, weil viele – und nicht nur politische Akteure, sondern auch nicht wenige Juristen – unser zweiphasiges Verfassungsmodell nicht verstanden haben und dachten, dass es ausreiche, den Senat und ggfs. ein weiteres Element der Verfassung zu reformieren, während es darum ging, die ursprünglichen Regeln, die nur zur Errichtung der Autonomen Gemeinschaften dienen sollten, durch andere zu ersetzen, die es ermöglichen, das Funktionieren des gesamten Staats im Lichte des Erreichten lebensfähig zu machen. Es ist daher nicht so, dass die Bestimmungen der Verfassung über die territoriale Organisation des Staates mehrdeutig waren oder obsolet wurden, wie einige Autoren meinen. Vielmehr wurden sie für einen Zweck geschaffen, der inzwischen erreicht ist. Trotzdem akzeptierten politische Akteure im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts eine neue Generation von Autonomiestatuten, ohne die Bereitschaft zu zeigen, die Verfassung zu vollenden. Dadurch verschärften sich die Funktionsstörungen des Systems insgesamt, ohne dass eine kohärente Vision entwickelt wurde. In einer Gesamtschau führt dieses verfassungsrechtliche Defizit zu rechtlicher Ineffizienz sowie politischer Instabilität und stößt auf internationaler Ebene auf wenig Verständnis. Der Hinweis ist nicht gewagt, dass das Fehlen einer Verfassung für die territoriale Organisation des Staates im Mittelpunkt der Probleme steht, unter denen das Land in diesen Jahren auf staatlicher Ebene leidet. Die Lösung besteht nicht darin, die Vergangenheit in Frage zu stellen. Vielmehr muss die Verfassung vervollständigt werden, um einen Rahmen für den zusammengesetzten Staat zu schaffen, ähnlich wie dies in anderen Verfassungsordnungen praktiziert wurde. Jede andere Verfassungsreform muss bis dahin warten. Jede andere Regierungskoalition, die unserer Meinung nach sich nicht aufgefordert sieht, das Verfassungswerk zu vollenden, muss warten. Bekanntlich leidet Spanien seit relativ kurzer Zeit unter zwei Polarisierungen: einerseits dem Sezessionismus, der auf jene Gegenbewegung stößt, die beim Staat

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der Autonomien den Rückwärtsgang einlegen will, und andererseits unter dem Auseinanderdriften zwischen links und rechts. Dennoch bleibt die Mehrheit jener, die auf der Seite der Verfassung stehen, überwältigend. Es ist in der Tat eine Mehrheit, die sich für eine liberale, parlamentarische und verfassungskonforme Demokratie im Sinne der Verfassung von 1978 entschieden hat. Daher ist davon auszugehen, dass diese Mehrheit sie vollenden will. Es ist ein Grund, mit offenem Visier und ausgestreckter Hand die überfällige Aufgabe anzugehen und die „Regeln über die Errichtung“ des autonomen Staates durch „Regeln über das Funktionieren“ zu ersetzen. Der Sozialstaat, den die Verfassung schützt – was nicht mit dem Erbe der Linken oder der Rechten gleichzusetzen ist – steht nicht auf dem Spiel, sondern allein die demokratische Rechtsstaatlichkeit, die in den Händen aktiver Minderheiten entleert zu werden droht.

3. Das Verwaltungsrecht des Autonomen Staates im Wartestand Um zur rechtlichen Analyse der Beziehungen zwischen Verfassung und Verwaltungsrecht zurückzukehren, scheint es klar zu sein, dass das Fehlen einer Verfassung, die die territoriale Verteilung der Macht des Staates regelt, negative Folgen für alles Handeln hat, das auf dem Verwaltungsrecht beruht. Denn insbesondere die Exekutive und die Verwaltungen verlangen grundlegende Orientierungen in elementaren Fragen, wie etwa das System der Rechtsquellen und seine diachrone Funktion, die Grundsätze der vertikalen und horizontalen Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Regierungs- und Verwaltungsebenen, die Kriterien, die für den Zugang zum öffentlichen Dienst und die Mobilität des Arbeitnehmers im öffentlichen Dienst entscheidend sind, die Grundregeln der öffentlichen Finanzen und die Verschuldungsregeln, aber auch viele andere Themen. Das Fehlen von Verfassungsbestimmungen zu solchen grundlegenden Fragen impliziert, dass das Verwaltungsrecht des autonomen Staates etwas anämisch oder minimalistisch oder – wenn man so will – asymmetrisch wirkt: Es war nicht in der Lage, die ihm innewohnenden Elemente zu entwickeln, auf die hier zuvor Bezug genommen wurde. Die Ursache hierfür ist auch insoweit in der – entgegen ihrer eigenen Logik und ihrem eigenen Geist – unvollendeten Verfassung auszumachen. Das Problem liegt also nicht in ihrer überfälligen Reform, sondern in der bisher unbeachtet gebliebenen Notwendigkeit ihrer Vollendung.

IV. Wechselbeziehungen zwischen Verfassungsund Verwaltungsrecht Die Beziehungen zwischen Verfassung und Verwaltungsrecht werden oft sehr vereinfacht verstanden. Nach einer solchen Auffassung ist das Verwaltungsrecht nur ein bloßer Transmissionsriemen der Verfassung, eine Brücke, die die verfas-

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sungsrechtlichen Gebote an das Ufer der einfachen Gesetzgebung trägt. Gewiss, die Verfassung gibt dem Verwaltungsrecht innerhalb eines Prozesses von oben nach unten Impulse. In diesem Sinne impliziert es eine Umsetzung des Verfassungsrechts. So könnte man sagen, dass das Verwaltungsrecht Verfassungsrecht „entwickelt“ anstatt es nur „konkretisiert“, um die falsche Vorstellung zu vermeiden, dass die Verfassung eine ganz gewöhnliche, gleichsam mechanische, von vornherein eindeutige Anwendung ohne Handlungsspielraum verlangt. Denn das Zusammenspiel ist viel komplexer, aber auch interessanter. 1. Funktionen des Verfassungsrechts im Verwaltungsrecht Zu den einschlägigen Funktionen, die die Verfassung über das Verwaltungsrecht ausübt, sind drei hervorzuheben: die zivilisierende Funktion des gesamten Systems des Verwaltungsrechts, so dass es sich nicht um eine einfache Technik im Dienste der Macht handelt; die zielgerichtete Funktion, aus der sich ergibt, dass die Mittel und Instrumente des Verwaltungsrechts auf die in der Verfassung festgelegten Ziele bezogen sind; und schließlich die Funktion der Ausstrahlung oder Erhellung der neuen Realitäten, auf die das Verwaltungsrecht dergestalt reagieren soll, dass die in der Verfassung verankerten Werte, Grundsätze und Rechte ordnungsgemäß in den neuen Szenarien umgesetzt werden, die sich in jeder Zeit ergeben. Erstens übt das Verfassungsrecht eine zivilisierende Funktion zugunsten des Verwaltungsrechts aus, so dass es infolge seiner Prägung durch die Grundzüge der Verfassung nicht zu einer bloßen Herrschaftstechnik wird, sondern als ein Instrument der gesellschaftlichen Transformation unter voller Achtung von Gleichheit und Freiheit dient. Zu diesen verfassungsrechtlichen Prinzipien gehören der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit (Art. 1.1 SpV); die Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht (Art. 9.3 und 103.1 SpV); das Verbot der Willkür und das Gebot der Begründung von Verwaltungsentscheidungen (Art. 9.3 SpV); die Beteiligung interessierter Kreise (Art. 9.2 und 105.a SpV); die Staatshaftung (Art. 9.3 und 121 SpV); die Vermögensgarantie (Art. 33.3 SpV); die Verhältnismäßigkeit (Art. 1.1 SpV); die Nichtverfügbarkeit von Grundrechten (Art. 53.1 SpV) und die Straf­ gewalt (Art. 25 SpV). Zweitens erfüllt die Verfassung eine Art „Kompass“-Funktion, die für das Verwaltungsrecht bestimmend ist, soweit in der Grundnorm die Aufgaben der Exekutive und der Verwaltung festgelegt werden, und zwar selbst in den Fällen, in denen eine Wahlfreiheit besteht. Die Ziele des Verwaltungsrechts werden unter anderem durch Grundsätze wie Gleichheit und Freiheit (Art. 9.2 SpV), Grundrechte (Art. 14–38 SpV), die Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik (Art. 39–52, 128, 130 SpV) oder die Finanzverfassung verwirklicht. Die Verfassung liefert insoweit eine zielgerichtete Orientierung und führt nicht zu einer rein mechanischen Anwendung, da sie der einfachen Gesetzgebung und zugleich der Verwaltung genügend Spielraum gewährt. Das Verwaltungsrecht knüpft an einige

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verfassungsrechtliche Zwecke an, ohne auf diese Weise seine Autonomie hinsichtlich der von ihm eingesetzten Instrumente zu verlieren. Drittens dient die Verfassung dazu, Licht auf die neuen Realitäten zu werfen, denen das Verwaltungsrecht in jeder Zeit und an jedem Ort begegnet. Es sollte nicht vergessen werden, dass die Verwaltung häufig in Grenzgebieten2 arbeitet, die noch nicht erschlossen sind. Und gerade in diesen Bereichen (von der Informationsgesellschaft bis zur Robotik, von der genetischen Revolution bis zur Globalisierung) ist die Verfassung in der Lage, die Werte, Grundsätze und Rechte zu beleuchten, die gewahrt werden müssen, um die aktuellen Rechtsfragen beantworten zu können, auch wenn es keine gesammelte Rechtserfahrung gibt, die uns sagt, wie in unserer Zeit mit diesen und anderen Phänomenen umzugehen ist. 2. Funktionen des Verwaltungsrechts im Verfassungsrecht Das Verwaltungsrecht entwickelt weitere Funktionen, die dazu dienen, der Verfassung eine größere Wirkung zu verleihen. Unter ihnen können wir drei unterscheiden: Transpositions- und Brückenfunktion, Rückwirkungsfunktion und Aufsichts- sowie Warnfunktion. Die erste Funktion ist die offensichtlichste und bekannteste  – wir haben sie bereits erwähnt. Das Verwaltungsrecht trägt zur Verwirklichung der Ziele und Rechte bei, die die Verfassung anerkennt. Das besondere Gewicht dieses Rechtsgebiets ist besser zu verstehen, wenn man erstens davon ausgeht, dass das eigentliche Ziel der Verwaltung und des Verwaltungsrechts anlässlich der Umsetzung der verfassungsrechtlichen Vorgaben darin besteht, das Leben in der Gesellschaft zu organisieren, und zweitens sicherzustellen, dass ein Staat das ist, was seine Verwaltung ist. Errungenschaften eines Staates hängen unmittelbar von der guten Arbeit seiner Verwaltung ab. Dies ergibt sich aus zahlreichen Vorgaben der Spanischen Verfassung, in denen der Verwaltung eine Funktion der Leistung und der Garantie eines bestimmten Ergebnisses zugewiesen wird („Gewährleistungsfunktion“). Dies spiegelt sich beispielsweise in den Artikeln 9.2, 16.3, 21.2, 23.2, 27, 38, 39–51, 128.2, 129.2, 130.1 SpV. Zweitens dient das Verwaltungsrecht der Vermittlung von Erfahrungen und Informationen für das Verfassungsrecht sowie ihrer Rückkopplung („feedback“). Aus dem Verwaltungsrecht von „unten“ wird ein Verwaltungsrecht nach „oben“. Der dem Verwaltungsrecht ureigene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist ein anschauliches Beispiel für diesen Prozess. Die Spanische Verfassung hat insoweit Erfahrungen aus dem traditionellen, zuvor beschriebenen Verwaltungsrecht rezi 2

Schmitt Glaeser spricht vom Verwaltungsrecht als „Frontwissenschaft“; siehe Schmitt Glaeser, Walter, Die Position des Bürgers als Beteiligter im Entscheidungsverfahren gestaltender Verwaltung, in Lerche, Peter / Schmitt Glaeser, Walter / Schmidt-Aßmann, Eberhard (Hrsg.), Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, Heidelberg 1984, S. 37.

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piert, unter denen wir hier auf die Artikel 18.2, 20.2, 21.1, 22.3, 25, 27.10, 103–107, 121, 132.2, 135, 137 SpV hinweisen können. Eine dritte, oft vernachlässigte Funktion, die das Verwaltungsrecht zu erfüllen hat, besteht darin, die ordnungsgemäße Umsetzung der Verfassung in der Praxis zu überwachen und vor Umsetzungsfehlern zu warnen. Ihr widmen wir den folgenden Abschnitt. 3. Rückwirkungs-, Aufsichts- und Warnfunktion Es ist notwendig, die Funktion der Überwachung und Warnung einerseits von der im Wesentlichen gerichtlichen Funktion eines Verfassungsgerichts andererseits zu unterscheiden, auch wenn die Grenze zwischen beiden in einigen Fällen fließend sein kann. Ein Verfassungsgericht fördert die Verteidigung und Wirksamkeit der Verfassung, indem es die mit der Verfassung unvereinbaren Regeln und Rechtsakte ausschließt. Die Wirksamkeit und Fülle der Verfassung ist jedoch durch solche typischen gerichtlichen Maßnahmen nicht vollständig gewährleistet, weil es möglich ist, dass ein einfaches Gesetz mit dem Verfassungstext in Einklang steht und dennoch aus Sicht der Verfassung unvorhergesehene oder unerwünschte Auswirkungen hat. Wir können in diesem Sinne zwei Ebenen identifizieren. Die erste setzt sich aus den Normen und anderen Rechtsakten zusammen, die mit der Verfassung unvereinbar sind. Dazu zählen auch die Widersprüche zwischen der Verfassung und den einfach-gesetzlichen Rechtsakten infolge einer sachlich nicht nachvollziehbaren bzw. ungenügenden Konkretisierung der Verfassung oder einer bloßen Unterlassung seitens des ordentlichen Gesetzgebers oder der Verwaltung. Über beide Konstellationen kann ein Gericht befinden, auch wenn Unterlassungen weit schwerer überprüfbar sind. Die zweite Ebene beinhaltet Normen und andere Rechtsakte, die zwar textlich verfassungskonform sind, aber in der Praxis zu Funktionsstörungen oder Abweichungen führen, so dass die Verfassung nicht ordnungsgemäß angewendet wird. Das Verwaltungsrecht kann ungenügende Umsetzungen des Verfassungsrechts aufdecken. Wenn eine Norm unerwünschte oder unvorhergesehene Auswirkungen hat, ist es nicht Sache eines Gerichts, sie aufzuheben. Unserer Ansicht nach ist es Aufgabe des Verwaltungsrechts, letztlich des Gesetzgebers, diese Überwachungsund Warnfunktion wahrzunehmen, um festzustellen, ob solche Abweichungen oder Mängel tatsächlich in einem bestimmten Bereich auftreten. Hier geht es zusammenfassend darum, Dysfunktionen im Verhältnis von Verfassung und Rechtswirklichkeit zu erkennen. Aufgrund seiner Nähe zur Rechtswirklichkeit und seines Status als „Frontwissenschaft“ ist das Verwaltungsrecht in einer privilegierten Position, um zu be-

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stimmen, welche Institutionen, Bereiche oder Sektoren reformbedürftig sind, um sich besser auf die Verfassung einzustimmen und damit solche unvorhergesehenen oder unerwünschten Auswirkungen zu vermeiden, auch dann, wenn – wie ausgeführt – die geltenden Vorschriften dem Wortlaut nach mit ihr vereinbar sind. Für eine solche Analyse der Wirksamkeit und tatsächlichen Geltungskraft der Verfassung kann das Verwaltungsrecht nicht-juristische Fachkenntnisse und Instrumente heranziehen, aber es kann diese Aufgabe in der Regel auch erfüllen, ohne auf solche Sachkenntnisse zurückzugreifen. Denn es geht nicht darum, etwa eine statistische, wirtschaftliche oder soziologische Studie durchzuführen, sondern zu verstehen, ob das Ergebnis letztlich das von der Verfassung gewollte ist. Regeln und Rechtsakte, die oftmals in dieser Weise ausgelegt und angewendet werden, sprechen zumindest tendenziell dafür. So kann beispielsweise das Verwaltungsrecht feststellen, dass die bestehenden Rechtsvorschriften über Verwaltungsverfahren für die Ausarbeitung bestimmter Arten von Verordnungen nicht ausreichen, um die von der Verfassung vorgesehene Beteiligung sicherzustellen; dass bestimmte Regulierungsbehörden des Wettbewerbs angesichts ihrer Organisationsstrukturen nicht auf Zweifel an ihrer notwendigen fachlichen Legitimität reagieren, um so ihre Unabhängigkeit nachzuwiesen; dass die Ausübung der lokalen Autonomie im Bereich der Stadtplanung in der Praxis zu undurchlässigen Abgrenzungen führen wird, ohne die notwendige Zusammenarbeit mit den Behörden der benachbarten Gemeinden oder höheren Verwaltungsbehörden usw. zu fördern. Die Überwachungs- und Warnfunktion, die keine gerichtliche Tätigkeit darstellt, kann von den Akteuren innerhalb der anderen öffentlichen Gewalten ausgeübt werden, auch wenn der Gesetzgeber der erste unter ihnen ist, der die für notwendig befundenen Maßnahmen ergreifen muss. Die Wahrnehmung dieser Aufgabe deckt einen Handlungsbereich ab, für den ein Verfassungsgericht keine Zuständigkeit hat, und überwindet damit die Zufälligkeit in Situationen, in denen die Sonne nicht in Gestalt verfassungsmäßiger Güter, Werte, Prinzipien und Rechte scheint, auch wenn die einschlägigen infra-konstitutionellen Rechtstexte nach ihren Buchstaben mit der Verfassung vereinbar sind. Im Fall Spaniens deutet die Wahrnehmung dieser Warn- und Überwachungsfunktion wohl auf eine deutliche Verbesserung der Situation hin. Beispielhaft können insoweit genannt werden: einige Exzesse der kommunalen und universitären Selbstverwaltung; die Rolle der Gewerkschaften innerhalb der Verwaltung; Probleme beim Zugang zum öffentlichen Dienst; Verwaltungsverfahren zum Erlass von Rechtsverordnungen; Verwaltungstätigkeit außerhalb des Staates usw. Das Verwaltungsrecht hat aber auch insoweit noch eine große Aufgabe vor sich.

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4. Verfassungsverwaltungsrecht Schließlich wollen wir noch auf eine Perspektive hinweisen, die in den Rechtssystemen der europäisch-kontinentalen Tradition (oder des „civil law“) tendenziell unterschätzt wird. Es handelt sich um den Umstand, dass die Verfassungen, obwohl sie Frucht und Ergebnis der verfassungsgebenden Versammlungen sind und daher der Volkssouveränität unterliegen, weitgehend historische Traditionen, Prinzipien und Werte widerspiegeln, die als unveräußerlich angesehen werden. Der Schwerpunkt liegt auf dem Willen des konstituierenden Gesetzgebers, was sich zum Nachteil des historischen Elements auswirken kann. Es ist jedoch eine unbestreitbare Tatsache, dass die Verfassungen historischen Errungenschaften huldigen, d. h. „Sie schreiben sie ins Reine“. Dies gilt etwa für die Anforderungen an ein zivilisiertes Strafrecht oder ein Verwaltungsrecht, das in dem Einzelnen einen Bürger sieht, der mit Würde ausgestattet und kein Untertan ist. Bisweilen aber schweigen die Verfassungen hinsichtlich fundamentaler Elemente  – so im Fall der Spanischen Verfassung etwa zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – und dennoch versteht die Rechtsprechung, dass ein solches Prinzip implizit in der Verfassung angelegt ist. Dies heißt nach der Tradition des Common Law, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Teil unseres historischen Besitzstands, unserer materiellen Verfassung ist. In diesem Sinne hat die Verfassung von 1978 zahlreiche Errungenschaften des Verwaltungsrechts aufgenommen, nicht unbedingt des spanischen, sondern des westlichen Verwaltungsrechts: von den Grundsätzen der Verwaltungssanktionen bis hin zum gerichtlichen Schutz gegen die Verwaltung, vom Grundrecht auf Rechtsschutz gegenüber Exekutive und Verwaltung bis hin zur Anhörung des Beteiligten in einem Verwaltungsverfahrenen. Diese Errungenschaften können materiell als verfassungsgemäß betrachtet werden, auch wenn unsere Verfassung keine Ewigkeitsklausel enthält und wir auch nicht in die Rechtstradition des Common Law eingebettet sind, in der die konsolidierte Geschichte als selbstverständliche Quelle der Legitimation gilt. Eine Verfassung, die die Anhörung eines Beteiligten im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens, in dem Entscheidungen getroffen werden, nicht ausdrücklich garantiert, obwohl seine Rechte und Interessen ernsthaft beeinträchtigt werden können, könnte auf zwei verschiedene Arten ausgelegt werden. Nach klassischer Methode könnte dieses Erfordernis als in unserer Verfassung implizit angelegt betrachtet werden. Eine andere, in unserer Rechtskultur neue Weise des Verständnisses wäre es hingegen, warnend daran zu erinnern, dass das Verwaltungsrecht ebenso wie andere Rechtsgebiete einen irreduziblen Kern enthält, der auf einer gefestigten Geschichte beruht und somit einen stark verfassungsgeprägten Charakter aufweist. Daraus folgt, dass eine Verwaltungsrechtsordnung, die etwa einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz nicht zulässt, einen solchen Namen nicht verdient.

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Diese zweite Betrachtungsweise, die nur ergänzend zur ersten hinzutritt, bietet einen unbestrittenen Vorteil, weil sie sich gegenüber den verschiedenen Rechtsgebieten weniger passiv verhält, als es heute oft der Fall ist. Nicht alles kommt auf uns von oben herab wie Regen. Nicht alles ist zu unserer Bequemlichkeit buchstäblich in eine Verfassungsnorm gegossen, nicht jede Realität darin eingeschlossen. Die Geschichte unserer Rechtsinstitutionen erhellt dies ebenso wie die Rechtsüberzeugungen, die sich im Laufe der Geschichte als prägend erwiesen haben. Dies im Kontext zu erkunden, bildet eine weitere Herausforderung für das zeitgenössische Verwaltungsrecht.

Das Verhältnis zwischen Verfassung und Verwaltung aus rechtsvergleichender Perspektive Kommentar Angela Ferrari Zumbini

I. Einleitung Das Verhältnis zwischen Verfassung und Verwaltung weist in Bezug auf die anderen vorher diskutierten Themen Besonderheiten auf, da diese Beziehung noch stärker als andere Bereiche von nationalen Besonderheiten geprägt ist. Die Verwaltung gehört zu den Organisationsfunktionen der Verfassung, die mit Blick auf eine gegenseitige Befruchtung der Rechtsordnungen traditionell schwieriger zu erfassen sind. Deswegen ist ein Rechtsvergleich komplexer. Verwaltungsrecht wird traditionell als mit dem Staat und dem nationalen Volksgeist untrennbar verbunden betrachtet, so dass die vergleichende Methode im Verwaltungsrecht weniger entwickelt ist als im Privatrecht, allerdings mit einigen Ausnahmen.1 Es ist jedoch möglich, zwei grundlegende Thesen zu identifizieren, die bei der Untersuchung der Beziehung zwischen Verfassung und Verwaltung einander gegenübergestellt werden. Die Vertreter der ersten These behaupten, dass die Verfassung den Verwaltungsapparat relativ wenig beeinflusst hat, da er über eigene Stärke verfügt, die ihn fast undurchlässig macht. Nach der Gegenthese hat die Verfassung die Verwaltung grundlegend erneuert und an die neuen Verfassungsprinzipien angepasst. Einfach ausgedrückt, könnten wir diese zwei gegensätzlichen Thesen durch die vielzitierten Formeln „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“ (Otto Mayer) und „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“ (Fritz ­Werner) beschreiben. Beide Thesen sind, wenn sie absolut betrachtet werden, nicht ganz befriedigend, da sie in keiner der drei untersuchten Rechtsordnungen in ihrer ganzen Breite mit der Realität übereinstimmen.

1 Vgl. della Cananea, Giacinto, Administrative Law in Europe: A Historical and Comparative Perspective, Italian Journal of Public Law 2009, S. 162 ff.

Kommentar

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II. Die Regelung des Verwaltungsverfahrens als Lackmustest Ein nützliches Beispiel, um die Beständigkeit dieser beiden Theorien zu testen, sind die für den Einzelnen garantierten Verfahrensrechte im Rahmen des Verwaltungsverfahrensrechts. Feliciano Benvenuti hat das Verwaltungsverfahren und seine Regelungen als Erscheinung des Staates, als Ausdruck seiner Souveränität definiert.2 Es scheint also sinnvoll zu sein, das Verhältnis von Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht durch das Prisma des Verwaltungsverfahrens zu betrachten. In diesem kurzen Beitrag muss die Analyse auf ein spezifisches Profil fokussiert werden, um das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern herauszuarbeiten. Die Auswahl ist hier auf das „right to a hearing“ gefallen, denn die Anhörung der Parteien ist der Kern aller Verfahrensrechte. Zu jeder der untersuchten Rechtsordnungen werden, kurz zusammengefasst, drei Aspekte herausgestellt: erstens, ob das Verwaltungsverfahren bereits vor Inkrafttreten der Verfassung geregelt war und gegebenenfalls, welche Rechte dem Einzelnen eingeräumt wurden; zweitens, ob und wenn ja, welche Normen das Verwaltungsverfahren regulieren und welche Verfahrensrechte garantiert werden; drittens, welche Auswirkung das Inkrafttreten der Verfassung auf das Verwaltungsverfahren hat. 1. Spanien In Spanien gab es schon vor der Verfassung von 1978 ein Gesetz zum Verwaltungsverfahren. Ein erstes Gesetz zum Verwaltungsverfahren wurde 1889 erlassen und war damit der erste europäische Gesetzesakt, der Verfahrensregeln zum Verwaltungsakt beinhaltete. Bereits in diesem Gesetz wurden zugunsten des Einzelnen bestimmte Garantien normiert, wie zum Beispiel das Recht auf Anhörung.3 Im Juli 1958 wurde sodann die „Ley sobre Procedimiento Administrativo“ erlassen, die eine große Anzahl von verfahrensrechtlichen Garantien beinhaltete.4 Neben dem Anspruch auf Gehör waren sowohl die Öffentlichkeitsbeteiligung im Rahmen des Verwaltungsverfahrens als auch die Begründungspflicht vorgesehen. Das Gesetz enthielt auch die ausdrückliche Erwähnung von Zweckmäßigkeitsgrundsätzen, denen gemäß „das Verwaltungshandeln sich nach Regeln der Wirtschaftlichkeit, Zügigkeit und Effizienz zu richten habe“ (Art. 29), sowie dem Verbot der ungerechtfertigten Verfahrenserschwerung unterlag (Art. 122 f.). Während der Ära des nicht-demokratischen Franco-Regimes wurde somit ein Gesetz 2

Benvenuti, Feliciano, Introduzione ai lavori, Problemi di amministrazione pubblica 1981, S. 9. 3 Pastori, Giorgio, La procedura amministrativa, Vicenza 1964, S. 384 ff. 4 Langrod, Georges, Procédure administrative et droit administratif, Rev. int. sc. adm. 1956, S. 43 ff.; vgl. auch Pérez, Jesús González, El procedimiento administrativo, Madrid 1964, S. 83–108.

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zum Verwaltungsverfahren mit einer ausgeprägten Garantie des effektiven Rechtsschutzes auf den Weg gebracht. Mit dem Erlass der Verfassung von 1978 änderte sich das Verhältnis zwischen Bürgern und öffentlicher Gewalt grundlegend. Im Einzelnen hat Art. 105 eine Reihe von Grundsätzen verfassungsrechtlich verankert: den Grundsatz des Gesetzesvorbehalts, die Beteiligung der Bürger an Entscheidungen, die sie angehen, auch mit Hilfe von Vereinigungen, die ihre Interessen schützen sowie das Recht auf Akteneinsicht und das Recht auf Anhörung. Als Folge der Anpassung an diese Verfassungsgebote änderte sich das verwaltungsverfahrensrechtliche Regime entscheidend, namentlich durch das 1992 erlassene Gesetz zur rechtlichen Regelung der öffentlichen Verwaltung und des gemeinsamen Verwaltungsverfahrens (Ley 30/1992 de Régimen Juridico de las Administraciones Públicas y del Procedimiento Administrativo Común).5 Art. 53 ff. dieses Gesetzes regelt die Rechte der Beteiligten im Verwaltungsverfahren und beinhaltet eine Reihe verfahrensrechtlicher Garantien. Die Verfassung hat daher in substantieller Weise auf die Regeln des Verwaltungsverfahrens eingewirkt, indem sie die Erweiterung der Rechte der Bürger vorsieht und ihr Verhältnis zur Verwaltung ändert. Dennoch baut die Verfassung hier auf bereits bestehenden Verfahrensregeln auf, die zur Zeit des nicht-liberalen Regimes erlassen worden waren, aber bereits wichtige Verfahrensrechte beinhalteten. 2. Deutschland Das deutsche Grundgesetz (GG) hat den Grundsatz verankert, dass die „vollziehende Gewalt“ und die Rechtsprechung „an Gesetz und Recht“ gebunden sind (Art. 20 Abs. 3 GG). Darüber hinaus konkretisiert Art. 19 Abs. 4 GG das Rechtsstaatsprinzip, indem er demjenigen („jemand“), der sich von der öffentlichen Gewalt in seinen Rechten verletzt sieht, das Recht gewährt, sich an einen Richter zum Schutz seiner Rechte zu wenden. Nach Inkrafttreten des Grundgesetzes gab es unter anderem intensive akademische Diskussionen über die mögliche Regelung des Verwaltungsverfahrens.6 Ein Bezugspunkt war dabei das österreichische Gesetz von 1925, das zahlreiche Verfahrensrechte enthielt, wie zum Beispiel das Recht auf Anhörung. Viele Rechtswissenschaftler waren der Ansicht, dass der im österreichischen Gesetz vorgesehene Rechtsschutz zugunsten der Bürger in der deutschen Rechtsordnung bereits vorhanden war. Diese herrschende Meinung sah dabei den Schutz des Bürgers gegenüber der Verwaltung „in reichem, vielleicht allzu reichem, jedenfalls aber 5

Vgl. nunmehr Ley 39/2015 del Procedimiento Administrativo Común de las Administraciones Públicas, das am 2.10.2015 in Kraft getreten ist. 6 Hill, Hermann / Sommermann, Karl-Peter / Stelkens, Ulrich / Ziekow, Jan (Hrsg.), 35 Jahre Verwaltungsverfahrensgesetz – Bilanz und Perspektiven, Berlin 2011.

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ausreichendem Maße durch die Verwaltungs- und Verfassungsgerichte gewährleistet“.7 In der Tat erachteten viele Wissenschaftler unter Berufung auf Mayers Theorie die Verwaltungsrechtsprechung als ausreichend, um die Rechte des Einzelnen gegenüber der Verwaltung zu schützen.8 Auch unter den Wissenschaftlern, die sich eine geschriebene Rechtsordnung mit weiterem Rechtsschutz, einschließlich Akteneinsichts- und Mitwirkungsrechten, wünschten, überwog die Meinung, dass die Rechtsprechung eventuelle verfahrensrechtliche Defizite zum Schutze des Einzelnen kompensieren werde. Die gelungene „je-desto“-Formel von Carl Hermann Ule fasst die wechselseitige Beziehung zwischen Verwaltungsverfahren und verwaltungsgerichtlichem Rechtsschutz zusammen.9 Der verfassungsrechtliche Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes wurde 1960 anlässlich des Erlasses der Verwaltungsgerichtsordnung konkretisiert. In den fünfziger und sechziger Jahren erließen viele deutsche Länder Verwaltungsverfahrensgesetze, die weitgehende Rechte für die Beteiligten vorsahen.10 Bekanntermaßen wurde am Ende einer langen und hitzigen Debatte im Jahr 1976 das Verwaltungsverfahrensgesetz erlassen, das die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und des effektiven Rechtsschutzes im Rahmen eines Bundesgesetzes verankert, indem es unter anderem eine Reihe von Verfahrensrechten, wie die Anhörung der am Verwaltungsverfahren Beteiligten, vorsieht.11 3. Italien Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat die Verwaltungsrechtsprechung auch in Italien, trotz des Fehlens eines Gesetzestextes auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrens, eine Reihe von Grundsätzen zum Verwaltungshandeln sowie zum Schutz der Rechte des Einzelnen herausgearbeitet.12 Dennoch stellt sich die materielle Regelung des Verwaltungshandelns als chaotisch und fragmentarisch dar.13 1940 widmet Aldo M.  Sandulli dem Verwaltungsverfahren eine Monografie, die ein

7 Bettermann, Karl August, Das Verwaltungsverfahren, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 17 (1959), Berlin, S. 168. 8 Bachof, Otto, Nochmals: Verwaltungsverfahren und Verwaltungsgerichtsbarkeit, DVBl 1958, S. 6 ff. 9 Ule, Carl Hermann, Verfassungsrecht und Verwaltungsprozeßrecht, DVBl 1957, S. 537 ff. 10 Schneider, Jens-Peter, Chapter 10. Germany, in Auby, Jean-Bernard (Hrsg.), Codification of Administrative Procedure, Taipei 2012. 11 Hoffmann Riem, Wolfgang / Schmidt-Aßmann, Eberhard / Voßkuhle, Andreas (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 2. Aufl., München 2012. 12 Sandulli, Aldo, Il procedimento amministrativo in Trattato di diritto amministrativo, Vol. II, Milano 2003, S. 1035 ff. 13 Benvenuti, Feliciano, L’attività amministrativa e la sua disciplina generale, in Atti del Convivium regionale di studi giuridici, Trento 1958, S. 49 ff.

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Werk der juristischen Definition und Systematisierung ist14 und mit der er die Bedeutung des Begriffs „Verwaltungsverfahren“ hervorhob.15 Die italienische Verfassung bekräftigte die Grundsätze der „imparzialità“ (Unparteilichkeit der Verwaltung) und des „buon andamento“ (ordnungsgemäße Verwaltung), deren mangelnde Bindungskraft von einem Teil der Rechtslehre hervorgehoben wurde, um so die notwendige Verrechtlichung des Verwaltungsrechts zu unterstreichen. In der Tat ist das Prinzip der Unparteilichkeit ausdrücklich nur auf die Organisation öffentlicher Ämter bezogen, indes nicht nur vom Verfassungsgerichtshof als ein Grundsatz definiert worden, der für das gesamte Verwaltungshandeln gleichermaßen gelten soll. Nach Inkrafttreten der italienischen Verfassung (1948) wurde umgehend die Notwendigkeit eines allgemeinen Gesetzes bekräftigt, welches das Verwaltungsverfahren kodifiziert. Dies nicht so sehr mit dem Ziel einer Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Grundsätze, sondern eher aus Gründen der Systematisierung. Jedoch beinhaltete der Gesetzesentwurf über die öffentliche Verwaltung, der 1948 von einer Kommission unter Leitung von Ugo Forti vorgelegt wurde, „nur die normative Formulierung jener Grundsätze, die ihre Bestätigung in einer maßgeblichen und unwidersprochenen Doktrin finden und einer ständigen Rechtsprechung entsprechen“.16 Der legislative Weg, der zur Annahme eines Gesetzes über das Verwaltungsverfahren führte, war besonders lang und mühselig, trotz des allgemeinen Konsenses über die Notwendigkeit einer solchen Regelung. Der Gesetzesentwurf der Kommission Forti wurde nicht angenommen, ebenso wenig wie der folgende, 1958 von Roberto Lucifredi präsentierte Gesetzesvorschlag, der den Vorschlag von Forti im Grunde wieder aufnahm. Anfang der achtziger Jahre wurde eine von Mario Nigro geleitete Kommission zur Vorbereitung eines neuen Gesetzesprojekts eingesetzt. Ihre Arbeit endete fast zehn Jahre später mit der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 241 vom 7. August 1990 unter dem Titel „Neue Normen auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrens und zum Recht auf Akteneinsicht im Verwaltungsverfahren“. Dieses Gesetz legt wichtige Grundsätze zum Verwaltungshandeln und zahlreiche Rechte der Beteiligten fest. Zudem beinhaltet es (schon seit seiner ursprünglichen Version von 1990) einen ganzen Abschnitt zur Verfahrensbeteiligung und einen weiteren zur Akteneinsicht. In Italien hatte die Rechtsprechung schon zuvor verschiedene Verfahrensgarantien zugunsten der beteiligten Bürger herausgearbeitet. Die Verfassung von 1948 führte neue und grundlegende demokratische Prinzipien ein, war aber lückenhaft bei der Regelung des Verwaltungsverfahrens. Das italienische Verwaltungsverfah 14

Sandulli, Aldo Maria, Il procedimento amministrativo, Milano 1940. Bekanntlich war der Begriff des Verwaltungsverfahrens in Österreich schon von Friedrich Tezner in seinem Handbuch des österreichischen Administrativverfahrens, Wien 1896, herausgearbeitet. 16 Presidenza del Consiglio dei Ministri, Commissione per la riforma dell’amministrazione, La legge generale sulla pubblica amministrazione, Roma 1948. 15

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rensgesetz von 1990 hat aber, zusammen mit seinen späteren Änderungen, auch zahlreiche Verfahrensrechte zugunsten des Einzelnen normiert. Das Verhältnis zwischen Verwaltungsrecht und Verfassungsrecht können wir hinsichtlich Italiens mit den Worten von Sabino Cassese so zusammenfassen: „Das Thema der verfassungsrechtlichen Grundlagen des Verwaltungsrechts wird normalerweise in der Weise behandelt, dass man die spärlichen Bestimmungen der formellen Verfassung über die Verwaltung analysiert, anstatt nach einer Befruchtung der öffentlichen Verwaltung durch die Verfassung im materiellen Sinne zu suchen.“17

III. Abschließende Überlegungen Die Verfassungen nehmen nicht immer Bezug auf Verfahrensrechte und auf Verwaltungsverfahrensgesetze. In Spanien wurde das Verwaltungsverfahrensgesetz sogar vor der Verfassung beschlossen. Die Umsetzung der verfassungsrechtlichen Grundsätze hat jedoch sicherlich zur Durchsetzung neuer Verfahrensrechte geführt, die über den Grundsatz der reinen Gesetzmäßigkeit hinausgehen. Zusammenfassend kann man sagen, dass in allen drei Rechtsordnungen der Widerstreit der Thesen von der verfassungsrechtlichen Neutralität des Verwaltungsrechts einerseits und der Verfassungsabhängigkeit der Verwaltung und des Verwaltungsrechts anderseits nicht ganz zufriedenstellend aufgelöst wird, wenn man ihn denn als absolut betrachtet. Eine wissenschaftliche Bewertung dieses Streits müsste ausführlicher ausfallen. In diesem kurzen Beitrag muss ich mich auf die Feststellung beschränken, dass wir eine schrittweise Annäherung der Verfahrensrechte an allgemeine Grundsätze des Verwaltungsprozessrechts beobachten können, wie zum Beispiel im Fall des „due process“ Grundsatzes.18 Diese allgemeinen Grundsätze, die nicht immer in den Verfassungen ausdrücklich garantiert sind, stellen einen gemeinsamen Kern des Verwaltungsrechts auch der hier in den Blick genommenen drei Staaten dar.19 Wie Karl Freiherr von Lemayer schreibt, ist „die Idee eines Rechtsschutzes für den Einzelnen in seinen Beziehungen zu den öffentlichen Gewalten (Rechtsschutz im öffentlichen Rechte) naturgemäß so alt wie Staat und Recht selbst“.20 17

Cassese, Sabino, Le basi costituzionali, in Trattato di diritto amministrativo, Vol. I, Milano 2003, S. 207–208. 18 Zum Grundsatz des „due process“ vgl. della Cananea, Giacinto, Due Process of Law Beyond the State, Oxford 2016. 19 Zur Möglichkeit, einen gemeinsamen Kern der verschiedenen Verwaltungsrechte in Europa zu bestimmen, vgl. della Cananea, G. / Bussani, M., The ‚Common Core‘ of admin­ istrative laws in Europe: A framework for analysis, in Maastricht Journal of European and Comparative Law 2019, S. 217 ff. 20 Lemayer, Karl, Der Begriff des Rechtsschutzes im öffentlichen Recht (Verwaltungsgerichtsbarkeit); im Zusammenhange der Wandlungen der Staatsauffassung betrachtet, Festschrift aus Anlass der Feier des 25-jährigen Bestandes des Österreichischen Verwaltungsgerichtshofes, Wien 1902, S. 1.

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Selbst wenn es eine inhaltliche Konvergenz des abstrakten Inhalts einiger Grundsätze des materiellen Verwaltungsrechts zwischen den nationalen Rechtsordnungen gibt, so ist doch die für die konkrete Anwendung dieser Prinzipien vorgesehene Morphologie der Verfahrensrechte äußerst variabel und kontext­spezifisch. Während zum Beispiel in Deutschland die Beteiligung der Bürger sowohl schriftlich als auch mündlich erfolgen kann, haben die Beteiligten in Italien nur das Recht, sich schriftlich, nämlich in Form von Schriftsätzen und Dokumenten, zu äußern.

Föderalismus, Autonomiestatus, Regionalismus Moderation: Johann-Christian Pielow

Föderalismus, Autonomiestatus, Regionalismus aus deutscher Sicht Günter Krings Von Konrad Adenauer ist aus der unmittelbaren Nachkriegszeit der Satz überliefert: „Die Gemeinde ist für uns die Keimzelle jedes staatlichen Lebens, in ihr üben sich die politischen Kräfte, und durch sie erst, durch die Arbeit in ihr erhält der Bürger ein konkretes Staatsgefühl und ein konkretes Verantwortungsgefühl.“1 Diese Aussage ist ein wesentliches Leitmotiv sowohl für die Ausgestaltung der kommunalen Selbstverwaltung als auch für die Neugestaltung des Föderalismus aus dem Geiste des Subsidiaritätsgedankens. Und aus dem Munde Adenauers ist dieses Bekenntnis auch deshalb so hoch zu bewerten, weil er als erster Kanzler der Bundesrepublik Deutschland sich mitunter auch nicht gescheut hat, vehement eine zentralstaatliche Position zu vertreten. Welche Entwicklung hat der Föderalismus vor und nach Konrad Adenauer durchlaufen und wie ist der heutige Stand? Die Veranstalter haben darum gebeten, dass in den Vorträgen der wissenschaftlichen Repräsentanten oder Praktiker aus dem jeweiligen Land zuvörderst die Entwicklungen des eigenen Landes analysiert werden. Lassen Sie mich daher mit ein paar grundsätzlichen Bemerkungen zur deutschen Verfassungsrechtslage beginnen.

I. Verfassungsrechtliche Grundlagen Die Bundesrepublik Deutschland ist ein kooperativer Bundesstaat. Artikel 20 des Grundgesetzes befördert den Föderalismus zu einem der wesentlichen Staatsstrukturprinzipien und macht ihn zum Grundpfeiler des politischen Systems. Der Bundesstaat des Grundgesetzes, so formulierte es schon der renommierte Staatsrechtler Josef Isensee, „ist Staatsform genuin deutscher Herkunft und deutscher Prägung. Er wurzelt im politischen Boden Deutschlands und lässt sich von ihm nicht ablösen“.2 Im föderalen Bundesstaat der Bundesrepublik Deutschland sind die staatlichen Aufgaben zwischen Bund und Gliedstaaten so aufgeteilt, dass beide politischen 1

Zitiert nach einer CDU-Veranstaltung vom 7.4.1946 in Bonn. Isensee, Josef, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: Isensee, Josef / ​ Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI, § 126, Heidelberg 2008, Rn. 1 ff. 2

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Ebenen für bestimmte verfassungsrechtlich verbürgte Aufgaben selbst und originär zuständig sind. Die Autonomie der Gliedstaaten zeigt sich darin, dass die Mitglieder des Bundes über eigene Legitimität, Rechte und Kompetenzen verfügen. So hat jedes Land eine eigene Landesverfassung und dementsprechend eigenständige politische Institutionen für Legislative, Exekutive und Judikative. Ein Austritt eines Landes aus der Bundesrepublik wie etwa von der Bayernpartei verfolgt, ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht möglich. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: „In der Bundesrepublik Deutschland als auf der verfassungs­ gebenden Gewalt des deutschen Volkes beruhendem Nationalstaat sind die Länder nicht ‚Herren des Grundgesetzes‘. Für Sezessionsbestrebungen einzelner Länder ist unter dem Grundgesetz daher kein Raum. Sie verstoßen gegen die verfassungsmäßige Ordnung.“3 Föderalismus hat eben auch seine Grenzen. Das Austrittsrecht macht gerade einen ganz wesentlichen Unterschied zwischen einem Bundesstaat und einem Staatenbund aus. In diesem Sinne ist auch das in Art. 50 des EU-Vertrages verbriefte Austrittsrecht aus der Europäischen Union als Grundentscheidung gegen einen Bundesstaat zu werten. Die Bestrebungen einer bayrischen Kleinpartei sind für Deutschland daher zu Recht untypisch, während sie wiederum im europäischen Bereich ansonsten nicht singulär sind. Zunehmend und immer extremer werden vor allem in Südeuropa Forderungen nach Abspaltungen laut wie das absurde Beispiel „Padanien“4 in Italien oder Katalonien in Spanien.

II. Föderalismus in der deutschen Verfassungsgeschichte Statt der Perspektive des geographischen möchte ich lieber die Perspektive des historischen Vergleichs einnehmen. Denn nach einem bekannten Satz des amerikanischen Richters Oliver Wendell Holmes gilt: „A page of history is worth a volume of logic.“5 Gerade in Deutschland ist der Föderalismus nicht nur eine Erscheinung der neueren Zeit. Wie ein roter Faden durchzieht er die Verfassungsgeschichte. Auf das 1806 aufgelöste Alte Reich möchte ich nicht zurückgreifen, das dem Staatsbegriff der Neuzeit nur gerecht wurde durch eine „zusammengesetzte Staatlichkeit“.6 Reich und Reichsstände erfüllten eben nur in der Zusammenschau die Kriterien moderner Staatlichkeit.

3

BVerfG, Beschluss v. 16.12.2016 – 2 BvR 349/16. Branbilla, Michele, Träume von einem neuen Staat, in: Süddeutsche Zeitung, 26.12.2012. 5 New York Trust Co. v. Eisner, 256 U. S. 345, 349 (1921). 6 Vgl. Schmidt, Georg, Neue Deutsche Geschichte, Band VI, Wandel durch Vernunft, München 2009, S. 57. 4

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Das 1871 wieder begründete Reich konstituierte sich als Fürstenbund.7 Dementsprechend enthielt die Reichsverfassung starke föderalistische Elemente, die zum Teil auch schon auf den Verfassungsentwurf von 1849 sowie auf den Norddeutschen Bund zurückgehen.8 Aspekte dieses Reichsföderalismus bestehen bis heute fort. Ein kleines Beispiel: Damals hatte das Königreich Preußen ein Vetorecht gegen Verfassungsänderungen, da es die dafür erforderlichen Stimmen im Bundesrat besaß.9 Auch heute noch ist es ein Kennzeichen des deutschen Föderalismus, dass die Länder der Bundesrepublik im Bundesrat nicht paritätisch vertreten sind, sondern je nach Einwohnerzahl unterschiedlich viele Stimmen haben – ohne dass damit freiwillig eine strenge Proportionalität gegeben ist. Das Ende des Kaiserreichs und die Ablösung der Monarchie durch die Demokratie sowie der Beginn der Weimarer Republik brachten auch einen ganz erheblichen Einschnitt für den deutschen Föderalismus – ohne dass sich freilich radikale Forderungen nach seiner Abschaffung durchsetzen konnten.10 Da das übergreifende Thema der Tagung die Verfassungsjubiläen unserer Länder sind und das deutsche Verfassungsjubiläum mit 100 Jahren Weimarer Reichsverfassung besonders „rund“ ist, sollte dieser Dekade eine besondere Aufmerk­ samkeit geschenkt werden. Festzuhalten ist, dass Deutschland bereits im ersten Weltkrieg eine bis dahin beispiellose wirtschaftliche und staatliche Zentralisierung erlebte.11 Alle Fäden im System eines Kriegssozialismus liefen in Berlin zusammen. Regiert wurde das Reich vier Jahre lang mittels Notverordnungen über den Bundesrat.12 Es entstanden ferner eine Reihe neuer Reichsbehörden zur Zwangsbewirtschaftung.13 Der Kriegszentralismus war gleichsam das Vorzeichen für den künftigen Bundesstaat: Die Weimarer Republik war unitarisch organisiert, fast schon ein Einheitsstaat mit föderalem Beiwerk.14 Der besonders stark unitarische Kurs der Reichsregierung in der Gründungsphase der Weimarer Republik stieß

7

Huber, Ernst R., Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band III, Bismarck und das Reich, Stuttgart 1960, S. 788 ff. 8 Vogel, Bernhard / Nohlen, Dieter / Schultze, Rainer-Olaf, Wahlen in Deutschland: Theorie, Geschichte, Dokumente 1848–1970, Berlin 1971, S. 96. 9 Ostermann, Tim, Die verfassungsrechtliche Stellung des Deutschen Kaisers nach der Reichsverfassung von 1871, Frankfurt am Main 2009, S. 128. 10 Ritter, Gerhard, Föderalismus und Parlamentarismus in Deutschland in Geschichte und Gegenwart, München 2005, S. 35 ff. 11 Funk, Albert, Kleine Geschichte des Föderalismus, Paderborn 2010, S. 249. 12 Funk, Albert, Kleine Geschichte des Föderalismus, Paderborn 2010, S. 250. 13 Düwell, Kurt, Zwischen Föderalismus, Unitarismus und Zentralismus, in: Janz, Oliver (Hrsg.), Zentralismus und Föderalismus im 19. und 20. Jahrhundert: Deutschland und Italien im Vergleich, S. 25. 14 Düwell, Kurt, Zwischen Föderalismus, Unitarismus und Zentralismus, in: Janz, Oliver (Hrsg.), Zentralismus und Föderalismus im 19. und 20. Jahrhundert: Deutschland und Italien im Vergleich, S. 217.

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aber auf keine große Resonanz  – weder in den Landesregierungen noch in der Bevölkerung.15 Aber der geringer gewordene Raum für ländereigene Regelungen wurde durch eine stärkere Mitwirkung der Länder an der Bundesgesetzgebung kompensiert. Bereits ab der 2. Legislaturperiode bedurften etwa 50 bis 60 Prozent aller Gesetze der Zustimmung des Bundesrates.16 Der Begriff des kooperativen Föderalismus kam insbesondere bei der Finanzverfassungsreform und der damit verbundenen Einführung der sog. Gemeinschaftsaufgaben von 1969 auf.17 Dies sind Länderaufgaben, soweit diese für die Gesamtheit bedeutsam sind und eine Mitwirkung des Bundes zur Verbesserung der Lebensverhältnisse erforderlich ist. Der Bund hatte nun „goldene Zügel“ in der Hand; als Geldgeber hatte er nicht zu unterschätzende Möglichkeiten, auch in die Länderverwaltung einzugreifen.18 Diese Entwicklung sorgte für Kritik. Man könne nicht mehr erkennen, wer für welche Entscheidungen verantwortlich sei.

III. Föderalismusreformen Aber auch in jüngerer Zeit wandelt sich der deutsche Föderalismus. Im Einigungsvertrag von 1990 war vereinbart worden, dass sich die gesetzgebenden Körperschaften des wiedervereinten Deutschlands innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes befassen sollten.19 In der daraufhin eingesetzten gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat war das Verhältnis zwischen Bund und Ländern einer der Schwerpunkte der Beratungen. Vor allem die westdeutschen Länder waren sehr daran interessiert, den im Laufe der Zeit eingetretenen Zuwachs an Gesetzgebungskompetenzen des Bundes zu begrenzen und diese Entwicklung möglichst sogar zurückzudrehen.20 Demgegenüber sah jedenfalls die Mehrheit der ostdeutschen Länder den Bund eher als Helfer bei der noch zu leistenden Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West. Sie waren zumindest damals weniger an einer Konfrontation mit dem Bund und einem prinzipiellen Zuwachs an Kompetenzen für die Länder interessiert als die westdeutschen Länder. Hinzu kamen aber auch die An 15 Preuß, Hugo, Zur Verabschiedung der neuen Reichsverfassung, in: Lehnert, Detlef (Hrsg.), Vierter Band, Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, S. 85 f. 16 Dästner, Christian, Zur Entwicklung der Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen seit 1949, Zeitschrift für Parlamentsfragen 2001, S. 293. 17 Sturm, Roland, Föderalismus. Eine Einführung, Baden-Baden 2010, S. 242. 18 Gillen, Tobias, Die Rolle des Bundes in der Schulpolitik der Bundesrepublik, Heidelberg 2006, S. 37. 19 Art. 5 des Einigungsvertrags vom 31.8.1990 (BGBl. 1990 II S. 889), der zuletzt durch Art. 32 Abs. 3 des Gesetzes vom 27.6.2017 (BGBl. I S. 1966) geändert worden ist. 20 Scharpf, Fritz, Zwischen Baum und Borke, in: Die Zeit, 14.9.1990.

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forderungen der fortschreitenden europäischen Einigung mit einer zunehmenden Determinierung der nationalen Rechtsordnung durch das europäische Recht. Dies erklärt vielleicht, dass die Verfassungsreform von 1994 lediglich zu verhältnismäßig kleinen Korrekturen der Kompetenzverteilung, z. B. im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung, geführt hat. Rund 10 Jahre später öffnete sich dann aber ein weiteres Zeitfenster für eine – zumindest von den handelnden Akteuren so angestrebte – grundlegendere Reform des Bund / Länder-Verhältnisses. Ausgangspunkt war ein seinerzeit allgemein konstatierter föderaler „Reformstau“, dem mit einer sowohl die Gesetzgebung als auch die Finanzbeziehungen umfassenden Neuordnung begegnet werden sollte.21 Aus Sicht des Bundes kam es vor allem darauf an, die Möglichkeiten einer politisch motivierten Blockade der Bundesgesetzgebung durch den Bundesrat zu begrenzen. Mit der ersten Stufe der Föderalismusreform von 2006 wurden die Zustimmungstatbestände für Bundesgesetze reduziert. An die Stelle des Zustimmungsrechts der Länder ist deren Recht getreten, von Verfahrensregelungen und bestimmten materiellen Vorgaben des Bundes abzuweichen. Die oft in den Vermittlungsausschuss verlagerte Suche nach einem Kompromiss wird damit in vielen Fällen entbehrlich.22 Dies führt zu Transparenz und Entflechtung im Gesetzgebungsverfahren. Zudem haben die Länder eine große Anzahl von Gesetzgebungsmaterien erhalten. Das stärkt ihre Handlungsautonomie. Außerdem wurden durch die Abschaffung der Rahmengesetzgebung unnötige Verflechtungen beseitigt. Das zeigt sich insbesondere bei der Umsetzung von EU-Recht, weil statt bisher 17 Umsetzungsakten von Bund und Ländern oftmals nur noch ein Bundesgesetz erforderlich ist. Die Transparenz der Zuständigkeiten wie auch die Handlungsfähigkeit von Bund und Ländern wurden massiv gestärkt. Das lobte auch die OECD.23 Mit der durch die zweite Stufe der Föderalismusreform von 2009 unter anderem eingeführten Schuldenbremse wurde der Grundstein dafür gelegt, die Staatsverschuldung wirkungsvoller als bisher zu begrenzen. Die mit den in dieser Reformstufe vorgenommenen weiteren Änderungen der Bund / Länder-Finanzbeziehungen wurden dann mit einer weiteren umfangreichen Verfassungsänderung im Jahr 2017 fortgeführt und zum Teil aber auch wieder in Richtung auf einen kooperativen Föderalismus modifiziert.24 Der Föderalismus bleibt eine immerwährende Baustelle. Das zeigte sich zuletzt im Zusammenhang mit dem Digitalpakt, mit dem der Bund eine Möglichkeit zur 21

Sturm, Roland, Föderalismusreform: Kein Erkenntnisproblem, warum aber ein Entscheidungs- und Gestaltungsproblem?, PVS 2005, S. 198. 22 Risse, Horst, Zur Entwicklung der Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen nach der Föderalismusreform 2006, Zeitschrift für Parlamentsfragen 2007, S. 709. 23 Bericht der OECD (2019): Bessere Rechtsetzung in Europa: Deutschland, S. 14, https:// www.oecd.org/berlin/45069131.pdf. 24 Gamper, Anna, Tausch und Reform: Die Änderungen des Grundgesetzes 2017, in: Europäischen Zentrum für Föderalismus-Forschung (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus, BadenBaden 2017, S. 115 ff.

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finanziellen Unterstützung der Länder bei der Digitalisierung in den Schulen erhält. Kritiker sahen durch die dazu vom Bundestag beschlossene Grundgesetzänderung die Eigenstaatlichkeit der Länder in Gefahr, sprachen sogar von einem Fundamentalangriff auf den Föderalismus. Die Grundgesetzänderung stelle einen weiteren Schritt in Richtung einer schleichenden Erosion der Bundesstaatlichkeit dar.25 Auf diese Weise werde Schritt für Schritt aus dem Bundesstaat Bundesrepublik Deutschland faktisch ein unitarischer Einheitsstaat gemacht, in dem dann irgendwann die Bundesländer nicht mehr über eigene Staatlichkeit verfügten, sondern zu Verwaltungsprovinzen würden. Das war natürlich übertrieben und jedenfalls zum Teil Theaterdonner. Nach Anrufung des Vermittlungsausschusses haben sich Bund und Länder aber einmal mehr geeinigt. Danach kann der Bund den Ländern künftig Finanzhilfen zur Steigerung der Leistungsfähigkeit der kommunalen Bildungsinfrastruktur gewähren. Auch unmittelbar damit verbundene und befristete Aufgaben der Länder und Gemeinden können nach der Neufassung des Artikels 104c des Grundgesetzes finanziert werden. Hierzu bestimmt der inzwischen in Kraft getretene Artikel 104b des Grundgesetzes, dass die Mittel des Bundes zusätzlich zu eigenen Mitteln der Länder bereitgestellt werden können.26 Der vom Bundestag beschlossene Gesetzestext sah vor, dass sich die Länder immer in gleicher Höhe wie der Bund beteiligen müssen. Es ging also wohl nicht in erster Linie um grundlegende staatsrechtliche Bedenken, sondern einmal mehr ums Geld.

IV. Ergebnis Der Föderalismus hat sich bewährt. Die öffentliche Meinung neigt zwar dazu, einheitliche Lösungen zu favorisieren. Gerade wenn Probleme als groß erkannt werden, gibt es schnell den Ruf nach zentralen Regelungen. Allerdings garantiert der Föderalismus Bürgernähe. Er lässt den Wettbewerb um die beste Lösung zu und er macht zugleich gemeinsam getragene, nationale Kraftanstrengungen möglich. Zwar verlangsamen erforderliche Abstimmungen zwischen Bund und Ländern regelmäßig politische Prozesse; jedoch lehrt uns die historische Erfahrung, dass eine kompromisslose Abkehr von der Beteiligung der Gliedstaaten am Gesetzgebungsverfahren ein schlechtes Ende nehmen kann. Für die zukünftige Entwicklung des Föderalismus müssen wir uns die Vorteile von Machtbegrenzung und Mäßigung verstärkt vor Augen führen, ebenso die Überlegenheit ortsnaher Lösungen. Die effiziente Verwendung von Mitteln und persönliche Verantwortung sind lokal viel besser zu erreichen. Die Menschen bringen sich dort eher ein, wo sie sich unmittelbar angesprochen und betroffen fühlen. Think global, act local. Außerdem ist 25 Papier, Hans-Jürgen, DW-Interview vom 15.3.2019, https://www.dw.com/de/papier-miss​ billigung-der-f%C3%B6deralen-ordnung/a-47829022. 26 Zuletzt geändert durch Art. 1 Gesetz vom 28.03.2019 (BGBl. I S. 404).

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der Bundesstaat auch eine gute Grundlage dafür, um die kulturelle und regionale Vielfalt unseres Landes zu erhalten. Föderalismus bedeutet nicht Land gegen Bund. Er bedeutet auch nicht Land gegen Land. Da, wo es sinnvoll ist, entsteht eine Kooperation zwischen den Körperschaften. Es ist ein guter Kompromiss zwischen Solidarität und Wettbewerb, der unser Land seit 70 Jahren in Frieden eint. Vielfalt in Einheit, das ist das Motto, an das es sich zu halten gilt. Wir sollten unsere Form des staatlichen Föderalismus als lernendes System begreifen. Die bundesstaatliche Ordnung hat sich bisher als anpassungsfähig erwiesen. Sie kann das Verhältnis von Kooperation, Solidarität und Eigenständigkeit jeweils an den gesellschaftlichen Anforderungen ausrichten und damit auf die globale Beeinflussung der Politik und die zur Verfügung stehenden finanziellen Möglichkeiten reagieren. Gerade das ist die Stärke unseres Landes, gerade in der Grenzenlosigkeit der modernen Welt, in der eben auch das Bedürfnis nach Nähe und Vertrautheit wächst.

Der Autonomiestaat – Die Geschichte des spanischen Regionalismus Birgit Aschmann Bei der territorialen Ordnung handelt es sich um einen neuralgischen Punkt des spanischen Staates. „Sie ist“, so der Verfassungshistoriker Joaquín Varela Suanzes-​Carpegna, „das größte Problem …, an dem Spanien leidet und das am schwierigsten zu lösen ist.“1 Welche territoriale Lösung hat man in der Verfassung von 1978 für den spani­ schen Staat gefunden? Nach offizieller Sprachregelung ist es ein sogenannter „Auto­nomiestaat“, bzw. ein Staat, der gegliedert ist in inzwischen 17 Autonome Gemeinschaften. Es ist kein Bundesstaat; die autonomen Gemeinschaften haben keine „Staatsqualität“ wie die Bundesländer, und es gibt keine Symmetrie der Machtverteilung. Die Kompetenzen, die die autonomen Gemeinschaften haben, wurden nicht in der Verfassung festgelegt, sondern in den jeweiligen Autonomiestatuten individuell ausgehandelt und festgeschrieben. Allerdings verfügen die autonomen Gemeinschaften heute über zahlreiche Kompetenzen, die sogar die der Bundesstaaten in den Schatten stellen. Außerdem hat sich der Umfang der Kompetenzen der verschiedenen autonomen Gemeinschaften im Zuge diverser Aushandlungsprozesse inzwischen weitgehend angenähert. Entsprechend wird die territoriale Ordnung Spaniens in der Literatur auch gern mit dem unpräzisen Begriff „quasiföderal“ bezeichnet. Will man die Bedeutung bzw. Problematik der territorialen Ordnung Spaniens angemessen erfassen, reicht es nicht, danach zu fragen, ob die materiellen Interessen berücksichtigt oder die Funktionalität der Verwaltungsebene gewährleistet ist. Vielmehr muss die Frage nach der Akzeptanz des Autonomiestaates gestellt werden, was eine emotionale Dimension in den Vordergrund rückt. Bilden die jeweiligen autonomen Gemeinschaften  – wie die Emotionshistorikerin in mir fragt – „emotional communities“, die noch mit dem Gesamtstaat in Einklang zu bringen sind, oder verhindern die in den Regionen geschürten Emotionen eine für

1 „Sin minusvalorar otros muchos problemas“, schrieb Joaquín Varela, „creo que el de la orga­nización territorial del Estado es el más grave que sufre España y el más difícil de ­resolver“; vgl. Varela Suanzes-Carpegna, Joaquín, La Cuestión territorial en España ­(1873–1936), Del fracaso del federalismo a la liquidación del Estado integral, in: ders. (Hrsg.), Política y Constitución, Madrid 2007, S. 775–811, S. 775.

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einen Staatszusammenhalt nötige affektive Einstellung?2 Inwiefern bedarf es dieser affektiven Einstellung, und wenn ja, wie wäre sie herzustellen und zu sichern? Es liegt auf der Hand, dass aktuell insbesondere von Katalonien die Rede sein muss. Dabei zeigen andere Stimmen, wie die von Daniele Conversi, dass die Situation nicht immer gleichermaßen vertrackt war. Noch im Jahr 2002 hatte er die Einbindung Kataloniens in den spanischen Staat als mustergültiges Beispiel für die erfolgreiche Transition und als Ausweis einer stabilen spanischen Demokratie gerühmt.3 Es bleibt die Frage: Ist das Problem nun ein altes oder ein neues? Dafür bietet sich ein Blick in die Geschichte an, die man schon deshalb als Erklärungsfaktor heranziehen muss, weil sich erstens einige Missverständnisse dabei klären und zweitens weil sich aus ihrem Arsenal die katalanischen Separatisten mit Munition versorgen. So hilft z. B. ein Blick in die Geschichte, um zu klären, dass Spanien kein Zentralstaat nach „französischem Modell“ ist. Wer Spanien in eine solche Tradition stellt, hat nicht ganz unrecht, weil es immer wieder Regime gab, die den Staat zentral ausrichteten. Zugleich blendet dies aber einen zweiten Entwicklungsstrang aus. Schließlich folgten auf Phasen zentralstaatlicher Organisation immer wieder Zeiten, in denen Spanien stärker föderal gegliedert war. Diese Tradition geht bis in das Mittelalter und die Frühe Neuzeit zurück, als sich der spanische Staat aus einer „zusammengesetzten Monarchie“ entwickelte. Verschiedene Königreiche mit eigenen Rechtstraditionen wurden seit den Katholischen Königen des 15. Jahrhunderts durch eine Personalunion zusammengehalten.4 Als im 17. Jahrhundert die Zentralisierung zunahm, nicht zuletzt, weil auch Katalonien an den militärischen Lasten während des Dreißigjährigen Kriegs beteiligt werden sollte, nutzten die Katalanen die erste Gelegenheit zur Abkehr vom spanischen Staat und schlossen sich 1640 Frankreich an.5 Bezeichnenderweise nutzte nun auch Portugal den Moment, in dem Spaniens Truppen an der Nordgrenze gebunden waren, um sich seinerseits unabhängig zu erklären, nachdem Portugal für 60 Jahre zum spanischen Staat gezählt hatte. Spanien ließ die Portugiesen ziehen und konzentrierte sich auf Katalonien, das nach kurzer Zeit wieder in den spanischen Staatsverband eingegliedert werden konnte, sich aber im Vorfeld die Beibehaltung der früheren Privilegien hatte zusichern lassen. 2

Zum Konzept der „Emotional Communities“ vgl. u. a. Rosenwein, Barbara, Emotional Communities in the Middle Ages, Ithaca 2006. 3 Conversi, Daniele, The Smooth Transition: Spain’s 1978 Constitution and the Nationalities Question, in: National Identities Bd. 4 (2002), Nr. 3, S. 223–244, S. 238. 4 Zum Folgenden vgl. Arrieta Alberdi, Jon, Entre monarquía compuesta y estado de las autonomías. Rasgos básicos de la experiencia histórica española en la formación de una estructura política plural, Ius Fugit 16 (2009–2010), S. 9–72; Elliott, John H., A Europe of Composite Monarchies, in: Elliott, John H. (Hrsg.), Spain, Europe & the wider world, New Haven / London 2009, S. 3–24. 5 Elliot, John H., The revolt of the Catalans: a study in the decline of Spain (1598–1640), Cambridge 1984.

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Erst 60 Jahre später sollte Katalonien diese Privilegien endgültig verlieren, als es 1714 im Spanischen Erbfolgekrieg von französisch-spanischen Truppen besiegt wurde. Diese Vergangenheit ist kein Schnee von gestern, sondern ragt in die Gegenwart. Die katalanische Hymne erinnert an die Unabhängigkeitserklärung 1640 und der nationale Feiertag, die „Diada“, an den 11.9.1714, an dem Barcelona – so die aktuelle Deutung – von „Spanien“ besiegt und gedemütigt worden war.6 Das 18. Jahrhundert war von einer Intensivierung der Zentralisierungspolitik geprägt, die die Katalanen mit der seitdem in Spanien regierenden Bourbonendynastie verknüpfen, aus der noch heute der König stammt, der ausgerechnet als Philipp VI. in unmittelbarer Tradition zu Philipp V. steht, der nach dem Erbfolgekrieg in Spanien das Zepter übernahm, und dem die Demütigungen einerseits und Zentralisierungsmaßnahmen andererseits angelastet werden. Allerdings griff auch hier der Zentralstaat nicht gänzlich durch: Das Baskenland behielt seine Privilegien, die Fueros, bis zum 19. Jahrhundert. Der liberale Verfassungsstaat des 19. Jahrhunderts war ein zentralstaatliches Projekt. Einen Sonderstatus einzelner Regionen sollte es nicht geben. Dem entsprach die so unglaublich progressive Verfassung von Cadiz aus dem Jahr 1812, und es spiegelte sich in der Verwaltungsreform von 1833, die das Land gleichmäßig in 49 (heute 50) Provinzen einteilte.7 Die Kriege, die im Laufe des 19. Jahrhunderts die Liberalen gegen die konservativen Karlisten führten, die insbesondere im Norden der Halbinsel beheimatet waren, nutzte der liberale Staat, um nach der Niederlage der Karlisten auch die Privilegien des Baskenlandes zu kassieren – wiederum nicht gänzlich: Finanzielle Vorrechte konnten – im Grunde bis auf den heutigen Tag – die verschiedenen Systembrüche in der spanischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts überdauern. Diese haben insofern wiederum mit der Gegenwart zu tun, als die Finanzautonomie die Basken aktuell recht zufrieden stellt, während dieses Privileg der Basken für die Katalanen ein Dorn im Auge ist. Die Schwäche des spanischen Liberalismus im 19. Jahrhundert zeigt sich nicht zuletzt in den Problemen des zentralstaatlichen Projekts: In diesem Säkulum wurden die Weichen für die Entwicklung der peripheren Nationalismen gestellt. Dies hatte vermutlich zuvörderst mit dem machtstaatlichen Niedergang Spaniens zu tun, der konträr zur Entwicklung in anderen zentralen Staaten Europas verlief. Statt zu „Einigungskriegen“ (wie in Deutschland oder Italien) kam es zu „Bür 6

Vgl. Anguera, Pere, L’Onze de Setembre. Història de la Diada, Barcelona 2008; zu den historischen Ereignissen vgl. Elliott, John H.: Imperial Spain. 1469–1716, London 2002; zur katalanischen Erinnerungskultur siehe Michonneau, Stéphane, Barcelona: memòria i identitat. Monuments, commemoracions i mites, Vic 2001; Martínez Fiol, David, Creadores de mitos. El „Onze de Setembre“ de 1714 en la cultura política del catalanismo, Manuscrits 15 (1997), S. 341–361. 7 Vgl. u. a. Gómez Díaz, Juan, División territorial de España. Provincias y partidos judiciales, Toletum: boletín de la Real Academia de Bellas Artes y Ciencias Históricas de Toledo 55 (2008). S. 151–175, S. 166 ff.

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gerkriegen“; statt zur imperialen Machtentfaltung (wie in Großbritannien) kam es zum Niedergang des spanischen Kolonialreiches; statt zu einem integrativen Sozialstaats­projekt kam es zu Arbeitskämpfen und anarchistischen Attentaten; und statt von einer allseits verehrten Queen wurde Spanien von einer Monarchin regiert, die schließlich mit pornographischen Darstellungen diskreditiert und 1868 gestürzt wurde. 1873 kam es – nach einer kurzen Episode mit einem König italienischer Herkunft – zur Ersten Spanischen Republik, die schon deshalb von linken Kräften dominiert wurde, weil sich die Konservativen der Republik verweigerten. Diese linke Mehrheit wollte nicht nur die sozialen und politischen Verhältnisse, sondern auch die territoriale Ordnung Spaniens verändern. Spanien sollte eine „República democrática federal“ werden, ein Bundesstaat nach US-amerikanischem Vorbild.8 Die ungewöhnlich ausführliche Präambel des nie realisierten Verfassungsentwurfs verwies auf die Notwendigkeit einer territorialen Gliederung, die einerseits die nationale Einheit wahren, aber zugleich „unseren historischen Erinnerungen und unseren Unterschieden“ („nuestros recuerdos históricos y … nuestras diferencias“)9 gerecht werden sollte. Im ersten Artikel wurde sodann festgehalten, aus welchen „Staaten“ sich die „spanische Nation“ zusammensetzen sollte. Abgesehen davon, dass auch Kuba und Puerto Rico genannt wurden, entspricht diese Gliederung weitgehend den heute bekannten Autonomen Gemeinschaften. Diese Staaten sollten sich eigene Verfassungen geben dürfen, die aber nicht mit der Bundesverfassung kollidieren dürften und darüber hinaus von den Cortes federales (als einer Art „Bundestag“) angenommen werden müssten. Diese Verfassung blieb ein Entwurf, schon weil die Erste Republik nicht lange genug währte, um sie überhaupt umzusetzen. Die Regierung hatte mit zu vielen Schwierigkeiten gleichzeitig zu kämpfen. Es wurde erstens Krieg geführt gegen die Unabhängigkeitsbewegung in Kuba, zweitens Krieg gegen die Karlisten, und drittens forderten auch die sich im Sommer wie ein Flächenbrand ausbreitenden Aufstände der Kantonalisten (von den Anarchisten gestützte, extreme Föderalisten) das Gewaltmonopol des Staates heraus. Keine zwölf Monate nach Ausrufung der Republik wurde sie 1874 durch Militärintervention beendet.10

8

Schon die Verfassung von 1869 war an den USA orientiert; vgl. Oltra, Joaquín, La influencia norteamericana en la Constitución española de 1869, Madrid 1972. Das Lob der Präambel von 1873 auf „los grandes fundadores de la Federación en el mundo moderno“, deren Beispiel man folge, bezog sich auf die USA; vgl. Varela Suanzes-Carpegna, Joaquín, La Cuestión territorial en España (1873–1936), Del fracaso del federalismo a la liquidación del Estado integral, in: Varela Suanzes-Carpegna, Joaquín, (Hrsg.), Política y Constitución, Madrid 2007, S. 780; siehe Vorwort zum „Projeycto de Constitución Federal de la República Española“, http//www. congreso.es/docu/constituciones/1869/cons1873_cd.pdf (12.2.2019). 9 Wie Fn. 8. 10 Vgl. Villares, Ramón / Moreno Luzón, Javier, Restauración y dictadura, Barcelona 2016, S. 24–32.

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Folgenlos blieb die Kombination aus politischer Erfahrung und Verfassungsentwurf nicht. Für die einen wurde der Föderalismus zum Teil ihres Erwartungshorizontes.11 Für die anderen wurde er etwas, was nicht erwartet, sondern befürchtet wurde. Durch die Erfahrungen in der Republik wurden „Föderalismus“ und „Anarchie“ so miteinander verkoppelt, dass die überwältigende Mehrheit der spanischen Bürgerlichen mit dem einen zugleich auch das andere ablehnte. Vielmehr wurde das föderale Konzept mit Vorstellungen beantwortet, die die unauflösliche, naturgegebene Einheit der spanischen Gesamtnation beschworen.12 Die Verfassung von 1873 hatte noch nach einer Balance gesucht zwischen der „Liebe zum Lokalen“ („amor a la localidad“), die auch durch alle Zentralisierungsbemühungen und durch die Gewalt des Absolutismus nicht hätte ausgelöscht werden können, und dem „heiligen Fanatismus“ für die Nation, „la gran Patria española“.13 In der Verfassung von 1876 jedoch trat das regionale Element ganz zugunsten des zentralstaatlichen Zuschnitts zurück. Hier war nicht mehr die Rede von Regionen oder gar „Staaten“, sondern ausschließlich von Rathäusern und Provinzen.14 Dies war gleichbedeutend mit der Rückkehr zum zentralistischen System von 1833. Gerade aber dies provozierte die Katalanen, die bereits zu Beginn der Ersten Republik den „katalanischen Staat“ ausgerufen hatten.15 Die neuerliche Zurücksetzung forcierte die Umorientierung von Konzepten eines katalanischen Staates innerhalb der spanischen Nation hin zu Konzepten einer katalanischen Nation innerhalb des spanischen Staates.16 Diese wurde umso mehr Referenzpunkt, je stärker die katalanische Politik und Kultur durch den spanischen Staat unter Druck gerieten. Insofern formierte sich der Katalanismus gerade in der Zeit der Unterdrückung durch die zentralistisch ausgerichtete Diktatur Miguel Primo de Riveras (1923–1929).17 11

Zum Zusammenhang von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont und den Verschiebungen nach der Revolution von 1789 vgl. den klassischen Beitrag von Koselleck, Reinhart, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien, in: Engelhardt, Ulrich / Sellin, Volker / Stuke, Horst (Hrsg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung, Stuttgart 1976, S. 13–33. 12 So Cánovas del Castillo: „El vínculo de nacionalidad que sujeta y conserva las naciones es, por su naturaleza, indisoluble“, Discurso im Ateneo, 6.11.1882, Problemas Contemporáneos, Madrid 1884, Bd. 2, S. 57; bzw. Cánovas del Castillo, Antonio, Discurso sobre la nación, Madrid 1997. 13 Vgl. http://www.congreso.es/docu/constituciones/1869/cons1873_cd.pdf (19.2.2019). 14 Vgl. Abschnitt 10 zu „las diputaciones provinciales y de los ayuntamientos“, in der Verfassung von 1876, http://www.senado.es. 15 Varela Suanzes-Carpegna, Joaquín, La Cuestión territorial en España (1873–1936), Del fracaso del federalismo a la liquidación del Estado integral, in: Varela Suanzes-Carpegna, Joaquín (Hrsg.), Política y Constitución, Madrid 2007, S. 786. 16 Als Beispiel dafür siehe Almirall, Valentí, Bases para la Constitución federal de la nación española y para la del Estado de Cataluña. Observaciones sobre el modo de plantear la confederación de España (1868), in: Trías Vejarano, Juan José / Elorza, Antoni (Hrsg.), Federalismo y reforma social en España (1840–1870), Madrid 1975, S. 432–450. 17 Zur Diktatur vgl. Ben-Ami, Shlomo, El cirujano de hierro: la dictadura de Primo de R ­ ivera (1923–1930), Barcelona 2012.

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Als nach der Abdankung des Diktators im Anschluss an Gemeindewahlen im April 1931 die Zweite Republik ausgerufen wurde, witterten die Katalanen ihre Chance. Sofort wurde in Barcelona abermals ein katalanischer Staat ausgerufen. Zwar wurde dieser Schritt auf Intervention der Zentralregierung hin rückgängig gemacht, aber die Katalanen erhielten im Gegenzug unter dem alten Begriff der „Generalitat“ das Recht einer autonomen Regierung. Ohne zu zögern machte sich diese daran, ein Autonomiestatut auszuarbeiten, das sie durch ein Referendum der katalanischen Bevölkerung annehmen ließ und dem neu gewählten Parlament der Republik vorlegen konnte, noch bevor dort überhaupt über die territoriale Verfasstheit der spanischen Republik diskutiert worden war. In der Nacht vom 25. auf den 26. September 1931 wurden diese Fragen in einer extrem hitzigen Debatte diskutiert, schließlich war die territoriale Frage neben der Religion das Hauptstreitthema dieser Cortes.18 Dabei konzentrierte sich die Aufmerksamkeit vor allem auf die Katalonienfrage. Letztlich wurde Einigkeit erzielt über die Formulierung, die als goldener Kompromiss einen dritten Weg zwischen Zentralismus und Föderalismus weisen sollte. Die spanische Republik sollte ein „integraler Staat“ werden, ein „estado integral“19 – ohne dass klar wurde, was das genau bedeuten sollte. Offenbar entlieh man den Begriff der deutschen Integrationslehre, so wie die Weimarer Verfassung von 1919 eines der Vorbilder für die republikanische Verfassung war.20 Als nach vierzigjährigem zentralistischem Regime unter Franco die Frage nach der territorialen Verfasstheit Spaniens abermals diskutiert wurde, konnte auf vieles von dem zurückgegriffen werden, was 1931 entwickelt worden war. So lassen sich in doppelter Hinsicht deutsche Einflüsse nachweisen: über die Wiederaufnahme von Elementen, die schon 1931 von Weimar inspiriert waren, und über die direkte Beratung der spanischen Verfassungsväter von 1978.21 Erneut entschied man sich gegen eine klare föderale Lösung, wollte aber jene Elemente nicht vernachlässigen, die 1873 als „Liebe zum Lokalen“ bzw. als „Unterschiede“ bezeichnet worden waren, die „unsere historischen Erinnerungen“ prägen würden.22 Insofern kam es zu einer Lösung, die sich an dem „integralen Staat“ von 1931 orientierte. Spanien wurde jetzt ein „Staat der Autonomen Gemeinschaften“. 18 Vgl. Diario de Sesiones de las Cortes Constituyentes de la República Española, Sesión celebrada el día 25 de septiembre de 1931; No. 45, S. 1163–1258, https://app.congreso.es/est_ sesiones/ (19.2.2019). 19 „La República constituye un Estado integral, compatible con la autonomía de los Municipios y las Regiones“, hieß es im Artikel 1 der Verfassung von 1931, http://www.congreso.es/ docu/constituciones/1931/1931_cd.pdf (19.2.2019). 20 Varela Suanzes-Carpegna, Joaquín, La Constitución española de 1931. Reflexiones sobre una constitución de Vanguardia, in: ders. (Hrsg.), Política y Constitución, Madrid 2007, S. 735–750 (737). 21 Vgl. dazu u. a. den Bericht von Hans-Peter Schneider, der als einer von drei deutschen Juristen vom Verfassungsausschuss gebeten worden war, an den Beratungen teilzunehmen; Schneider, Hans-Peter, Madrid – Von der Diktatur zur Monarchie, in: ders. (Hrsg.), Verfassungszeit. Ortstermine von Jena bis Tripolis, Jena 2012, S. 67–83. 22 Siehe oben sowie das Verfassungsprojekt von 1873, http://www.congreso.es/docu/constitu​ ciones/1869/cons1873_cd.pdf (19.2.2019).

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Schon 1931 hatte die Republik keine territoriale Lösung fixiert, sondern eine Option angeboten: So sei es  – formulierte Artikel 11  – aneinandergrenzenden Provinzen möglich, sich zu einer „autonomen Region“ zusammenzuschließen, um „innerhalb des spanischen Staates“ einen „politisch-administrativen Kern“ zu bilden.23 Die entscheidenden Passagen übernahm die Verfassung 1978 in Artikel 143, der nunmehr „Autonome Gemeinschaften“ mit Selbstregierung in Aussicht stellte, wenn sich – so die identische Formulierung – „die aneinandergrenzenden Provinzen mit gemeinsamen historischen, kulturellen und wirtschaftlichen Gegebenheiten“ dazu entschlössen. Aus der „autonomen Region“ war dadurch eine „autonome Gemeinschaft“ geworden. Die stärkere affektive Relevanz wurde durch die mehrfache Betonung historischer Wurzeln hervorgehoben. De facto hatte sich vor allem in Katalonien und im Baskenland, aber auch in geringerem Maße in Galicien längst das Selbstverständnis verbreitet, aufgrund historischer, kultureller und nicht zuletzt sprachlicher Gemeinsamkeiten bzw. Besonderheiten eine Nation zu sein. Über diese Realität gehen die Passagen der Verfassung, die „die territoriale Gliederung des Staates“ und ganz besonders die „Autonomen Gemeinschaften“ regeln (Titel VIII, Kapitel III) hinweg. Ausschließlich in Artikel 2 der Verfassung blitzt die Problematik kurz auf, indem plötzlich vom „Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen“ die Rede ist, die allesamt „Bestandteil der Nation“ seien, deren „unauflösliche Einheit“ festgeschrieben wird. Schon sprachlich wurde zwischen „Regionen“ und „Nationalitäten“ unterschieden, die offenbar etwas anderes waren als nur eine geographisch naheliegende Verwaltungseinheit. Hatte der Verfassungsentwurf von 1873 von „Staaten“ gesprochen, die die Nation zusammensetzten, und die Verfassung von 1931 von „autonomen Regionen“ innerhalb des spanischen „integralen Staates“, war nun – ohne dass Konsequenzen oder Folgen in den Blick genommen worden wären – von „Nationalitäten“ innerhalb der „Nation“ die Rede. Der Verzicht darauf, die Unterschiede zwischen „Nationalität“ und „Nation“ zu klären, ermöglichte es, divergierende Erwartungshaltungen zu entwickeln. Die dadurch angelegten Konflikte traten offen zu Tage, als die katalanische Regierung im Jahr 2006 ein neues Autonomiestatut vorlegte, das Katalonien als Nation bezeichnete. Nachdem das spanische Verfassungsgericht vier Jahre später dies als unvereinbar mit der Verfassung zurückgewiesen hatte, wurde schließlich für die Präambel des Autonomiestatuts eine Formulierung gefunden, wonach das katalanische Parlament Katalonien als Nation anerkenne, während die „nationale Realität“ gemäß der spanischen Verfassung als „Nationalität“ zu verstehen sei.24 Im Kontext der Debatte um die Entscheidung des Verfassungsgerichts von 2010 begann eine neue Phase auf dem Weg hin zum Unabhängigkeitsprozess, deren ent 23

So Artikel 11 der Verfassung von 1931, http://www.congreso.es/docu/constituciones/​ 1931/1931_cd.pdf (19.2.2019). 24 Vgl. Preámbulo des Autonomiestatus von 2006, abrufbar unter: http://www.congreso.es/​ consti/estatutos/estatutos.jsp?com=67&tipo=1&ini=1&fin=1&ini_sub=1&fin_sub=1 (21.2.2019).

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scheidendes Merkmal eine massive Emotionalisierung und schließlich Radikalisierung war. Ausschlaggebend dafür war nicht zuletzt, dass die Bewegung nunmehr weniger von der Politik als von zivilgesellschaftlichen Organisationen vorangetrieben wurde. Wissen Politiker zumeist um die Notwendigkeit von Konsens und Kompromiss, gilt das für zivilgesellschaftliche Organisationen nicht unbedingt. Inoffizielle Referenden, die in unzähligen katalanischen Gemeinden zugunsten der Unabhängigkeit abgehalten wurden, und die Massendemonstrationen zur Diada prägten Bilder, Einstellungen und Emotionen. Bezeichnenderweise beruft sich das katalanische Autonomiestatut von 2006 bei der Bezeichnung Kataloniens als „Nation“ auf „das Gefühl und den Willen“ der katalanischen Bürgerinnen und Bürger.25 Das Gefühl wird hier zur zentralen Legitimationsgrundlage politischen Handelns nobilitiert. Zugleich ist es etwas, was nicht so einfach da ist, sondern das bewirtschaftet, hergestellt, gelenkt, manipuliert wird. Die Emotionen der katalanischen Nationalisten vor der Jahrtausendwende ermöglichten immer wieder Kooperationen. Wer aber – wie die Separatisten seit 2010 – auf eine Trennung vom spanischen Staat setzt, braucht und schürt andere Emotionen. Viele Katalanen berichten heute vom Hass – einer Emotion, von der schon Ernst Moritz Arndt wusste, wie ideal sie als Grenzwall taugt. „Gefühle“ sind daher inzwischen ein Politikum geworden, welches auch Verfassungsjuristen nicht kalt lassen kann. Wie mit einer Verfassung regiert werden kann, wenn ein signifikanter Bevölkerungsteil einer Region sie nicht akzeptiert und sich abgestoßen fühlt, bzw. sich zugehörig fühlt zu einer separaten Gruppe, einer alternativen nationalen „emotional community“, die im Konflikt zum spanischen Staat steht, gehört zu den bislang nicht wirklich beantworteten Fragen in diesem Konflikt.

25 Der Abschnitt in der Präambel gehört zu den umstrittenen Passagen, die versuchen, das nationale Selbstverständnis der Katalanen mit dem Nationsverständnis Spaniens in Einklang zu bringen, das nur eine Nation (mit mehreren „Nationalitäten“) kennt: „El Parlamento de Cataluña, recogiendo el sentimiento y la voluntad de la ciudadanía de Cataluña, ha definido de forma ampliamente mayoritaria a Cataluña como nación. La Constitución Española, en su artículo segundo, reconoce la realidad nacional de Cataluña como nacionalidad.“; vgl. die Präambel des Autonomiestatuts von 2006, https://app.congreso.es/consti/estatutos/estatutos. jsp?com=67&tipo=1&ini=1&fin=1&ini_sub=1&fin_sub=1.

Zukunftsperspektiven des spanischen Autonomienstaates: Blockade oder Neuformulierung? María Jesús García Morales

I. Einleitung Die territoriale Staatsorganisation (cuestión territorial) war ein beständiges Problem in der spanischen Verfassungsgeschichte und zugleich eines der konfliktträchtigsten Themen in der spanischen Demokratie seit ihren Anfängen. Die spanische Verfassung aus dem Jahr 1978 (CE) entwarf den sogenannten Autonomien­ staat. Er war eine Neuheit und blieb gleichzeitig ein Rätsel. Spanien entwickelte sich rasch zu einem System, das sich durch eine hohe territoriale Dezentralisierung auszeichnet. Dennoch stellte sich im Laufe der Jahre heraus, dass die Verfassung vor allem ein Problem nicht zu lösen vermochte: die territoriale Staatsorganisation. Ihre Relevanz geht über die territoriale Herrschaftsteilung hinaus und hat sich zu der Frage mit der größten Auswirkung auf Verfassungsleben, Politik und Zusammenleben in Spanien entwickelt. Nach 40-jähriger Geltung der spanischen Verfassung ist man dazu übergegangen, den Autonomienstaat weniger als Erfolg und mehr als Misserfolg anzusehen. Gleichwohl zeigen die Daten, dass das Modell den mehrheitlichen Zuspruch in nahezu allen Gebieten hat (II). Die Krise des Autonomienstaates ist in Wahrheit nicht eine, sondern es sind zwei unterschiedliche, gleich verlaufende und zum Teil aufeinander folgende Krisen (III). Zum einen die Krise des Modells der territorialen Organisation nach 40 Jahren Bestand. Zum anderen die Sezessionsbestrebungen in Katalonien. Beide Krisen bedürfen unterschiedlicher Lösungen (IV). Tatsächlich eilt die Neuformulierung des spanischen Autonomienstaates. Der Föderalismus ist gleichsam der Spiegel, der zeigt, wie andere Staaten mit Problemen territorialer Herrschaftsteilung verfahren. Die Veränderungen sind notwendig, aber ungewiss (V).

Zukunftsperspektiven des spanischen Autonomienstaates

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II. Ausgangspunkt: Der Autonomienstaat hat einen mehrheitlichen Zuspruch. Geschichte eines Erfolgs und Misserfolgs Spanien war in seiner Geschichte die meiste Zeit ein Staat ohne autonome Regionen. Die Geschichte des spanischen Konstitutionalismus begann 1812 und wurde besonders durch das französische Modell beeinflusst. Spanien war seit jeher fast ununterbrochen ein Einheitsstaat1 und damit aus vergleichender Sicht ein bedeutsamer Fall, wie sich ein territoriales Modell napoleonischer Herkunft föderalisiert hat.2 Die Dezentralisierung als Staatsorganisation galt im Jahr 1978 als die Lösung, um zwei Gebiete mit einer starken regionalen Identität und mit Autonomiebestrebungen in Spanien einzugliedern: das Baskenland und Katalonien. Das spanische Staatsgebiet erstreckt sich auf eine von Fläche 506.000 km2 und zählt 46,5 Millionen Einwohner. Das Baskenland hat eine Fläche von 7.233 km2 (etwa zehn Mal so groß wie Hamburg) mit 2.170.868 Einwohnern. Die Fläche Kataloniens dagegen beträgt 32.106 km2 (etwas kleiner als Nordrhein-Westfalen), auf der 7.488.717 Einwohner leben. Beide Gebiete gelten als finanzstark. Besonders Katalonien leistet einen der bedeutendsten Beiträge zur spanischen Wirtschaft.3 Katalonien und das Baskenland haben eine eigene Geschichte, eine eigene Kultur und eine eigene Sprache.4 Beide Gebiete beanspruchen die Anerkennung einer Sonderstellung. Art. 2 CE, eine der meistdiskutierten Vorschriften während der Ausarbeitung der Verfassung, spiegelt die Unbestimmtheit des Modells territorialer Herrschaftsteilung in Spanien wider: „Die Verfassung … anerkennt und gewährleistet das Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen, die Bestandteil der Nation sind …“.5 Diese ambige Formulierung ist das Ergebnis gegensätzlicher politischer Standpunkte. Sie verhalf dem gemäßigten Nationalismus seiner Zeit dazu, sich in die Verfassung zu integrieren.6

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Abgesehen von einer kurzen Unterbrechung in der Zweiten Republik; vgl. Aja, Eliseo, Estado autonómico y reforma federal, Barcelona 2014, S. 31 ff. 2 Kuhlmann, Sabine / Wollmann, Hellmut, Introduction to Comparative Public Adminis­ tration, 2. Aufl., Cheltenham / Northampton 2019, S. 149. 3 Contabilidad Regional de España. Revisión estadística 2019. INE: Im Jahr 2018 trug Katalonien 19 % des BIP Spaniens bei und lag damit nur leicht hinter Madrid (19,2 %),https:// www.ine.es. 4 Mehr als 20 % der Bevölkerung spricht Baskisch, eine Sprache nicht lateinischen Ursprungs: 22,3 % im Jahr 1991 und 28,4 % im Jahr 2016, VI Encuesta Sociolingüística 2016, http://www.euskadi.eus. In Katalonien verstehen 94,4 % der Bevölkerung Katalanisch, eine Sprache lateinischen Ursprungs, 81,2 % sprechen sie, wohingegen es im Jahr 1981 nur 31,5 % waren, Enquesta d’usos lingüístics de la població 2018, https://www.idescat.cat. 5 Übersetzung der spanischen Verfassung ins Deutsche aus dem Boletín Oficial del Estado, https://www.boe.es. 6 Solé Tura, Jordi, Nacionalidades y Nacionalismos, Barcelona 2019, S. 135.

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Der achte Abschnitt der spanischen Verfassung konkretisiert Art. 2 CE. Der Abschnitt führt aus, dass Spanien in Autonome Gemeinschaften gegliedert ist. An keiner Stelle spricht die Verfassung jedoch davon, dass Spanien ein Autonomien­ staat sei. Auch werden die einzelnen Autonomen Gemeinschaften nicht aufgezählt, die den Autonomienstaat bilden. Die Verfassung lässt zwar ein dezentrales System zu, entwickelt es aber nicht.7 Die Verfassung gab vielmehr ein offenes und mit der Zeit konkretisierungsbedürftiges Modell vor.8 Sie verlagerte die Verantwortlichkeit auf die politischen Akteure. 1978 wäre eine politische Autonomie nur für das Baskenland, Katalonien und Galizien möglich gewesen (die sog. Comunidades históricas),9 während für die restlichen Gebiete die administrative Dezentralisierung möglich gewesen wäre. Auf der Suche nach der Formel, um die baskischen und katalanischen Nationalisten in Spanien zu integrieren, wurde das Staatsgebiet schließlich in 17 Autonome Gemeinschaften unterteilt, die jeweils ein Parlament, eine Regierung und ihre eigenen Institutionen haben, aber keine Gerichtsbarkeit. Zusätzlich gibt es zwei Autonome Städte im Norden Afrikas (Ceuta und Melilla) mit eigener Regierung, aber ohne Parlament. Heutzutage ist die Selbstverwaltung kein Bereich, der nur Katalonien und das Baskenland betrifft, sondern alle 17 Autonome Gemeinschaften. Die Möglichkeit eines asymmetrischen Staates mit einer Sonderstellung für das Baskenland und Katalonien endete schließlich doch in einer Symmetrie mit einer beträchtlichen Gleichheit zwischen allen Autonomen Gemeinschaften – mit einigen Ausnahmen, wie das Finanzsystem des Baskenlands. Die großen Volksparteien lenkten diese Entwicklung durch ihre politischen Vereinbarungen, die sog. Pactos Autonómicos.10 Der Autonomienstaat wurde seitens der Bürger und seitens der politischen Parteien unterschiedlich wahrgenommen. Umfragen aus dem Jahr 2019 zufolge stieg die Befürwortung durch die Einwohner allmählich an, bis sie über 65 % lag.11 Die Per­ 7

Cruz Villalón, Pedro, La estructura del Estado o la curiosidad del jurista persa, Revista de la Facultad de Derecho de la Universidad Complutense, 4/1981, S. 53 ff. 8 López Guerra, Luis, El modelo autonómico, Autonomies. Revista Catalana de Dret Públic, 20/1995, S. 189. 9 Diese Bezeichnung findet man nicht in der Verfassung. Sie wird verwendet, um die drei Gebiete zu bezeichnen die unter der Zweiten Republik durch Volksentscheid über ein Projekt des Autonomiestatuts abstimmten; indirekt anerkannt als zweite Übergangsbestimmung der CE. Im Gegensatz zum Baskenland und zu Katalonien sind die regionale Identität und das nationalistische Gefühl in Galizien nicht so stark. 10 Mit den I Acuerdos Autonómicos aus 1981 (UCD-PSOE) wurde die Karte der Autonomen Gemeinschaften, und mit den II Pactos Autonómicos aus 1992 (PSOE-PP) wurde die Angleichung der Kompetenzen zwischen den Autonomen Gemeinschaften beschlossen. 11 Die Mehrheit der Spanierinnen und Spanier steht auf dem Standpunkt, den Autonomienstaat beibehalten zu wollen, 43,3 % im Juni 2019 gegenüber 32,6 % im Juli 2013. Die Prozentsätze derjenigen hingegen, die eine geringere oder größere Autonomie für die Autonomen Gemeinschaften wollen, sind niedriger und bleiben zeitlich stabil, ca. 13 % bzw. 12 %, Barómetros CIS, http://www.cis.es.

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sonen, die sich einen Staat ohne Autonome Gemeinschaften wünschen (15,9 %),12 oder solche, die für die Möglichkeit einer Unabhängigkeit der Autonomen Gemeinschaften sind (7,9 %),13 stellen eine Minderheit dar. Es ist jedoch zu differenzieren: Das Baskenland und Katalonien sind zwar Gebiete, in denen die Sezessionsbestrebungen größer sind als im Rest Spaniens. Aber auch in diesen beiden Regionen stimmt die Mehrheit für die Einheit des Landes. Die Unabhängigkeit wird von nur knapp einem Viertel der Basken bevorzugt (22 %), während in Katalonien die Zahl der Befürworter sich der Hälfte der Bevölkerung nähert (43,7 %).14 Die Bewertung des Autonomienstaates durch die politischen Parteien fällt oftmals negativer aus als durch die Bürger. Die großen Volksparteien, also die Sozialdemokraten (PSOE) und die Konservativen (PP) sowie andere Parteien auf staatlichem Gebiet, wie die Liberalen (Ciudadanos) und die Linksorientierten (Podemos), unterstützen den Autonomienstaat. Allerdings können sie sich alle nicht darüber einigen, wie die territoriale Staatsorganisation weiterzuentwickeln ist. Nur die rechtsradikale Partei tritt für eine Abschaffung des Autonomienstaates ein. Die nationalistischen und separatistischen Parteien im Baskenland und in Katalonien kritisieren ihn gewöhnlich. Gleichwohl nehmen Letztere eine Schlüsselrolle bei der Durchdringung des Verfassungslebens und der territorialen Frage in Spanien ein. Das liegt nicht nur daran, dass sie fast ununterbrochen in diesen Autonomen Gemeinschaften regiert haben, sondern auch daran, dass sie entscheidenden Einfluss auf das Zentralparlament und auf die Zentralregierung ausüben. Das gilt vor allem dann, wenn keine der beiden Volksparteien die absolute Mehrheit hat und es damit nur eine Minderheitsregierung gibt. Zu diesem Umstand kommt es in Spanien häufig, weil Koalitionen in Madrid unüblich sind.15 Diese Parteien können nicht verboten werden, auch wenn sie für verfassungsfeindliche Ziele eintreten, wie etwa für den Bruch der territorialen Integrität. Das liegt daran, dass das spanische Verfassungsgericht den Grundsatz der wehrhaften Demokratie abgelehnt hat.16 Jenseits der Wahrnehmung durch die Bürger und durch die Parteien bemisst sich die Geschichte des Autonomienstaats an objektiven Ereignissen. Obwohl nach wie vor eine Kluft zwischen den finanzschwächeren und den finanzstärkeren Autonomen Gemeinschaften besteht,17 ist das gewaltige wirtschaftliche Ge 12

Barómetros CIS: 15,9 % (Juni 2019) gegenüber 9,7 % (Juli 2019), http://www.cis.es. Barómetros CIS: 7,9 % (Juni 2019) gegenüber 12,4 % (November 2014), http://www.cis.es. 14 Baskenland: Euskobarómetro Juni 2019 S. 42, https://www.ehu.eu; Katalonien: CEO Dossier de premsa del BOP. 3a onada 2019 S. 63; der Höhepunkt waren 48,7 % im Oktober 2017, http://www.ceo.gencat.cat. 15 Die erste Koalition in Spanien (PSOE-Podemos) seit der Zweiten Republik ist am 30.12.2019 angetreten. 16 SSTC 48/2003, 235/2007, 12/2008. 17 Die Autonomen Gemeinschaften mit dem höchsten pro-Kopf-BIP sind in dieser Reihenfolge: Madrid, das Baskenland, Navarra und Katalonien, INE, España en cifras 2019, Madrid 2019, S. 29, http://ine.es 13

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fälle zwischen den Gebieten zurückgegangen. Der Sozialstaat wurde in Spanien mit dem Autonomienstaat eingeführt, weil sich die Mehrheit der Bereiche in der Sozialpolitik (Sozialhilfe, Gesundheitswesen und Bildung) innerhalb der jeweiligen Autonomen Gemeinschaften selbst weiterentwickelt hat. Das Baskenland und Katalonien hatten unter der Geltung der Verfassung das höchste Niveau an Autonomie in ihrer Geschichte. Die Billigung des Autonomienstaates begann jedoch seit dem Jahr 2008 zu bröckeln. Die Wirtschaftskrise war nicht die einzige Ursache. Die Autonomen Gemeinschaften veranlassten Kürzungen der Sozialleistungen, und es wurden die überschüssigen Ausgaben der Autonomen Gemeinschaften in Frage gestellt. Die Dezentralisierung wurde als teuer, ineffizient und, seitens der nationalistischen und separatistischen Parteien, auch als unzulänglich eingestuft. Gleichzeitig zur Wirtschaftskrise nahmen im Baskenland und in Katalonien die Forderungen nach mehr Autonomie zu. Während diese Tendenzen im Baskenland stabil blieben, verstärkten sie sich in Katalonien weiter, bis sie die eben skizzierten, noch nie zuvor bestehenden Ausmaße erreichten. Das alles ist ein deutlicher Indikator dafür, dass der Autonomienstaat es entgegen der ursprünglichen Zielvorstellung nicht bewältigt hat, diese Gebiete in ein gemeinsames Projekt namens Spanien einzugliedern.18

III. Die Probleme: Der Autonomienstaat hat zwei unterschiedliche Krisen zu bewältigen Der Autonomienstaat hat zwei unterschiedliche Krisen zu bewältigen: Die Krise der territorialen Staatsorganisation und die Katalonienkrise. Der einseitige Abspaltungsversuch im Rahmen der Katalonienkrise ist nicht die Ursache, sondern die Wirkung einer schon vorherigen Krise des Autonomienstaates. 1. Der „Verschleiß“ der territorialen Staatsorganisation nach 40 Jahren Bestand Der Konflikt in Katalonien lässt sich nicht erfassen, ohne dass man auf die strukturellen und funktionellen Probleme eingeht, die jahrelang nicht gelöst wurden.19 Die Problematiken liegen im Bereich der Finanzierung, der Kompetenzverteilung und des Verhältnisses zwischen Zentralstaat und Autonomen Gemeinschaften. Die spanische Verfassung normiert keine Finanzverfassung im Sinne des Grund­ gesetzes. Daher wird in Spanien stattdessen von Finanzsystemen gesprochen. Es 18

Siehe zur Änderung der Bewertung des Autonomienstaats Tudela Aranda, José, El fracasado éxito del Estado autonómico, Buenos Aires, Madrid, Barcelona, São Paulo, S. 185 ff. 19 Muñoz Machado, Santiago, Crisis y reconstitución de la estructura territorial del Estado, Madrid 2013, S. 14 ff.

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gibt zwei Finanzsysteme: eines im Baskenland und in Navarra, welches in der ersten Zusatzbestimmung der CE verfassungsrechtlich garantiert ist und ein anderes für die restlichen Autonomen Gemeinschaften. Das im Baskenland und in Navarra geltende System ist ein historisches Privileg, das zu einer größeren Finanzautonomie beider Gebiete führt, aber zu einem geringeren Beitrag zu der territorialen Solidarität. Katalonien ist eine der Autonomen Gemeinschaften, die im Verhältnis zu dem was sie im Finanzausgleich erhält, viel beiträgt.20 Dieses Ungleichgewicht war ein Schlüsselelement bei der zunehmenden Anzahl der Unabhängigkeitsbefürworter. Was die Kompetenzverteilung betrifft, beruht diese in vielen Bereichen auf Grundsätzen (sog. bases oder legislación básica). Diese Grundsätze gehören dem Zentralstaat an und ihre Ausführung gehört zum Parlament und zur Regierung der Autonomen Gemeinschaften (z. B. „Grundlagen und Koordination der allgemeinen Wirtschaftsplanung“, vgl. Art. 149 Abs. 1 Nr. 13 CE). Dieses System hat dazu geführt, dass der Zentralstaat in nahezu alle Kompetenzen der Autonomen Gemeinschaften eingreifen kann. Dieser Umstand wiederum hat zu vielen Konflikten geführt, insbesondere mit dem Baskenland und mit Katalonien. Diese Konflikte wurden juristisch vor dem Verfassungsgericht ausgetragen. Diese Aufgabe der Kompetenzbeschränkung zwischen Zentralstaat und Autonomen Gemeinschaften war eine der wichtigsten, die dem spanischen Verfassungsgericht je oblag.21 Die Lösungen des Verfassungsgerichtes sind rein rechtlicher Natur und für eine Seite immer politisch unbefriedigend. Ein wichtiges Problem sind auch die Beziehungen zwischen dem Zentralstaat und den Autonomen Gemeinschaften sowie zwischen den Autonomen Gemeinschaften untereinander. Es gibt keine Einrichtungen, in denen der Zentralstaat und die Autonomen Gemeinschaften bei der Ausarbeitung von Zentralgesetzen kooperieren, die die autonomen Kompetenzen betreffen. Der Senat selbst ist kein Organ der territorialen Vertretung. Mangels einer solchen politischen Institution, in der solche Probleme diskutiert werden können, kehren die Konflikte immer wieder. Die Kooperation im Autonomienstaat stellt ein Problem dar.22 In Spanien gibt es fast keine formalisierte Zusammenarbeit zwischen den Autonomen Gemeinschaften untereinander (horizontale Kooperation). Es gibt weder eine Ministerpräsidentenkonferenz noch Fachministerkonferenzen der Autonomen Gemeinschaften. Horizontale Staatsverträge existieren auch nicht; Verwaltungsabkommen 20

In 2019: Katalonien steht an dritter Stelle der Autonomen Gemeinschaften, die am meisten Ressourcen pro Einwohner (nach Madrid und den Balearen) beitragen und an zehnter Stelle in Bezug auf die Einkünfte. Siehe Ministerio de Hacienda, Informe sobre financiación definitiva de las Comunidades Autónomas  a través del sistema de financiación 2017, http:// hacienda.gob.es. 21 Cruz Villalón, Pedro, La construcción jurisprudencial del Estado de las Autonomías, Revista Vasca de Administración Pública, 31/1991, S. 249 ff. 22 García Morales, María Jesús, El Gobierno central y los Gobiernos autonómicos en España… ¿trabajan juntos?, Istituzioni del federalismo, 1/2016, S. 117 ff.

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sind sehr selten. Es fehlt eine Selbstkoordinierung zwischen den Autonomen Gemeinschaften. Die bestehende Zusammenarbeit findet zwischen Zentralstaat und Autonomen Gemeinschaften (vertikale Kooperation) statt. Es gibt eine 2004 gegründete Konferenz von Regierungschefs, deren Treffen nicht regelmäßig sind. Es überrascht, dass die politischen Akteure es bisher nicht für notwendig erachtet haben, eine solche Institution zu gründen. Sie stünde zugleich als höchstes Symbol für den interterritorialen Dialog. Das wichtigste kooperative Instrument sind die multilateralen Fachministerkonferenzen (z. B. für Landwirtschaft, Umwelt und Gesundheit). Die Mitwirkung der Autonomen Gemeinschaften an europäischen Angelegenheiten vollzieht sich im Rahmen der Fachministerkonferenzen. Dort nimmt der jeweilige Minister des Zentralstaates teil sowie die Minister der Autonomen Gemeinschaften. Den Vorsitz hat aber immer der jeweiligen Fachminister der Zentralregierung inne. Die Autonomen Gemeinschaften sehen diese Konferenzen aber nicht als Mittel zur Teilhabe an, sondern vielmehr als Einrichtungen des Zentralstaates. Häufig abwesend sind die Vertreter des Baskenlandes und Kataloniens. Nationalistische und separatistische Regierungen bevorzugen das bilaterale Verfahren, nicht das multilaterale. Die bilaterale Kooperation durch die sog. Bilateralen Kommissionen zwischen dem Zentralstaat und jeder Autonomen Gemeinschaft ist eine spanische Besonderheit. Dennoch besitzt die Bilateralität in der nationalistischen Vorstellung eine starke symbolische Kraft. Sie repräsentiert den Dualismus (z. B. katalanisch vs. spanisch), wo zwei Regierungen in Beziehung treten und wo den betreffenden Gebieten im Vergleich zu den anderen eine Sonderstellung zuerkannt wird. In der Praxis ist es schwierig, Themen zu finden, die der Zentralstaat nur mit einer Autonomen Gemeinschaft verhandeln kann.23 2. Die Katalonienkrise Seit 2010 ist noch eine weitere Herausforderung hinzugetreten – die wichtigste, der sich der Autonomienstaat stellen muss: die Katalonienkrise und die Sezessionsbestrebungen. Die Zentralregierung ist mit der Krise äußerst ungeschickt umgegangen. Statt eine politische Antwort zu geben, hat sie das Problem nur auf die Gerichte verlagert, die ihrerseits auf nationaler oder europäischer Ebene eine juristische Antwort gegeben haben, welche die Krise naturgemäß nicht zu lösen

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García Morales, María Jesús, Intergovernmental Relations in Spain and the Constitutional Court Ruling on the Statute of Autonomy of Catalonia: What’s Next?, in: López Basaguren, Alberto / Escajedo San Epifanio, Leire (Eds.), The Ways of Federalism in Western Countries and the Horizons of Territorial Autonomy in Spain, Volume 2, Berlin / Heidelberg 2013, S. 92 ff.

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vermochte.24 Die Nationalisten (später Separatisten) waren darauf ausgerichtet, eine „katalanische Nation“ innerhalb Spaniens zu errichten. Sie haben aber eine neue Phase eingeleitet, die auf einem schweren Fehler beruhte: auf der Zuwiderhandlung gegen den Rechtstaat und gegen die Verfassung25 sowie die einseitige Forderung nach Unabhängigkeit am Rande der rule of law. Die Alarmglocken läuteten schon vor zehn Jahren: Die Zahl der Anhänger einer Abspaltung in Katalonien stieg rasant an. Im Jahr 2007 waren noch 14,5 % Anhänger einer Unabhängigkeit.26 Schon zehn Jahre später betrug der Prozentsatz mehr als 40 %. Der Aufstieg der separatistischen Bewegung hat mehrere Gründe, aber ein ausschlaggebendes Datum.27 Im Jahr 2010 hatte das Verfassungsgericht Normen aus dem katalanischen Autonomiestatut (vergleichbar mit einer Landesverfassung) für verfassungswidrig erklärt. Diese Normen regelten sehr empfindliche Aspekte und waren für Katalonien von besonderer Bedeutung: Dazu gehörten beispielsweise die Selbstbezeichnung Kataloniens als Nation in der Präambel, die katalanische Sprache bevorzugt als Schulsprache, in der öffentlichen Verwaltung und in den katalanischen Medien, sowie die Errichtung eines Finanzsystems ähnlich dem baskischen Modell.28 Das neue Autonomiestatut wollte Katalonien in eine besonders prominente Stellung rücken, ohne eine vorherige Verfassungsreform zu verabschieden. Das Urteil des Verfassungsgerichts löste eine tiefe Frustration bei einem Teil der katalanischen Bevölkerung aus. Im Anschluss an diese Entscheidung forderte die konservative nationalistische Partei erneut die Einführung des geplanten Finanzsystems. Diesem Verlangen wurde seitens der Zentralregierung aber nicht nachgekommen. Daraufhin wechselte der konservative katalanische Nationalismus, der in Katalonien mehr als 20 Jahre regiert und die Minderheitsregierungen in Madrid (sowohl PSOE als auch PP) unterstützt hatte, seinen Kurs in Richtung Unabhängigkeit. In der spanischen Verfassung ist das Selbstbestimmungsrecht nicht verankert. Die beratende Volksabstimmung ist für politische Entscheidungen mit besonderer Tragweite vorgesehen. Die formelle Entscheidung zur Einberufung obliegt dem König, wohingegen der Vorschlag und die materielle Entscheidung nach vorheriger Zustimmung seitens des Kongresses dem Regierungschef obliegen (Art. 92 CE). Autonome Gemeinschaften können nur Volksbefragungen durchführen, jedoch

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STS 459/2019 v. 14.10.2019; EuGH, C-502/19 (Junqueras i Vies). Quintero Olivares, Gonzalo, La tormenta catalana y la capacidad del Derecho Penal: sobre la Sentencia 459/2019, de 14 de octubre de 2019, El Cronista del Estado Social y Democrático de Derecho, 82–83/2019, S. 68. 26 Sondeig Opinió Catalunya, 2019, ICPS, https://www.icps.cat. 27 Zu einer wichtigen Stellungnahme in Bezug auf die Frage, wer „Letrado Mayor“ des katalanischen Parlaments ist, siehe Bayona, Antoni, No todo vale. La mirada de un jurista a las entrañas del procés, 2. Aufl., Barcelona 2019, S. 105 ff. 28 STC 31/2010. 25

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ohne die Zustimmung des Zentralstaats keine Referenda abhalten (Art. 149 Abs.1 Nr. 32  CE). Diese Regelung ist restriktiver als in anderen Rechtsordnungen, was auf die Versuche der nationalistischen und separatistischen Parteien in Spanien zur Abhaltung von Volksabstimmungen zur Abspaltung zurückzuführen ist.29 Das Verfassungsgericht hält ein Referendum über die Unabhängigkeit zwar grundsätzlich für möglich, aber nur unter zwei Bedingungen. Erstens kann ein Teilgebiet Spaniens nicht über die territoriale Integrität alleine entscheiden, sondern nur Spanien als Ganzes. Zweitens ist eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit nur bei einer vorherigen Verfassungsreform zulässig, weil die Verfassung die Einheit und Unteilbarkeit des spanischen Territoriums in Art. 2 CE anerkennt.30 Die Verfassung erlaubt es einer politischen Partei zwar, für die Unabhängigkeit einzutreten. Sie billigt aber nicht, dass eine Regierung und ein Parlament einer Autonomen Gemeinschaft ein Referendum zur Selbstbestimmung abhalten. Trotz der zuvor ausgesprochenen Verbote des Verfassungsgerichts wurde am 1.10.2017 in Katalonien ein illegales Referendum abgehalten und daraufhin wenige Tage später die Unabhängigkeit einseitig ausgerufen.31 Die erstmalige Anwendung des Art. 155 CE (eine Übernahme des deutschen Bundeszwangs gemäß Art. 37 GG) war die Antwort des Zentralstaates auf das mehrmalige Zuwiderhandeln seitens der Regierung und des Parlaments in Katalonien. Die erstmalige Anwendung des Art. 155 CE führte zu empfindlichen Zwangsmaßnahmen, wie etwa zur Amtsenthebung des katalanischen Regierungschefs und der katalanischen Regierung sowie zur Auflösung des katalanischen Parlaments.32 Die Anwendung des Art. 155 CE hat den Sezessionsprozess aufgehalten. Die Maßnahme diente der Wiederherstellung der Einhaltung der Verfassung auf einem Teil des Staatsgebiets. Die Katalonienkrise wurde dadurch aber nicht gelöst. Der spanische Bundeszwang ist kein geeignetes Instrument zur Wiederherstellung der Verfassungsordnung, wenn das Problem politischer Natur ist und auf einem Abspaltungsversuch beruht, der von einem beachtlichen Teil der Bevölkerung befürwortet wird.33 Nach Anwendung des Art. 155 CE haben bei den Wahlen in Kata 29

Garrido López, Carlos / Saénz Royo, Eva, El referéndum autonómico y la peculiaridad española, in: Garrido López, Carlos / Saénz Royo, Eva (Coords.), Referéndums y consultas populares en el Estado autonómico, Madrid 2019, S. 15 ff.; aus vergleichender Sicht Sommermann, Karl-Peter, Citizen Participation in Multi-Level Democracies: An Introduction, in: Fraenkel-Haeberle, Christina / K ropp, Sabine / Palermo, Francesco / Sommermann, Karl-Peter (Ed.), Citizen Participation in Multi-Level Democracies, Leiden / Boston 2015, S. 11. 30 SSTC 103/2008, 114/2017. STC 114/2017 greift ausdrücklich zurück auf die Reference Re Secession of Quebec des Obersten kanadischen Gerichts vom 20.8.1998. 31 Plaza, Carmen, Catalonia’s secession process at the Constitutional Court: A Never-­Ending Story?, European Public Law, 3/2018, S. 373 ff. 32 In Kraft vom 27.10.2017 bis zum 02.06.2018; zu den verfassungsmäßig erklärten Maßnahmen siehe SSTC 89/2019, 90/2019. 33 García Morales, María Jesús, Bundeszwang und Sezession in Spanien: Der Fall Katalonien, DÖV 2019, S. 1 ff.

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lonien erneut die separatistischen Parteien gewonnen. Es gibt eine Regierung und ein Parlament, die darauf beharren, gegen die Verfassungsordnung zu handeln. Mehr als zwei Millionen Personen (von fünf Millionen Wahlberechtigten) glauben nicht an die Verfassungsordnung, billigen das Zuwiderhandeln gegen Verfassungsnormen und wollen keine Spanier sein. Es ist wichtig zu betonen, dass die Separatisten bis zum jetzigen Stand nie 50 % der Stimmen erreicht haben. In den letzten Wahlen erreichten sie 47,3 %. 51,7 % fordern nicht die Unabhängigkeit.34 Allerdings hatten die Separatisten die Mehrheit im katalanischen Parlament, was auf das geltende Wahlsystem zurückzuführen ist. Das Wahlsystem sieht vier Wahlkreise für Katalonien vor, in denen die ländlichen und weniger dicht besiedelten Gebiete überrepräsentiert werden.35 Die Separatisten haben in den katalanischen Wahlen keine Mehrheit an Stimmen erreicht und auch vorher noch nie. Seit 2012 ist aber die Zahl der Menschen in Katalonien, die keine Spanier mehr sein wollen, beachtenswert hoch und damit ein Grund zur Beunruhigung.

IV. Die Auswege: Neuformulierung des Autonomienstaates und des Föderalismus in Spanien? Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche möglichen Szenarien und Auswege es gibt. Die Auflösung des Autonomienstaates erscheint nicht denkbar. Der Autonomienstaat hat den mehrheitlichen Zuspruch der Bevölkerung und die Auflösung aufgrund der Unabhängigkeitsforderung findet dementsprechend keine Mehrheit, weder in Katalonien noch im Baskenland. Das unveränderte Beibehalten des Autonomienstaates wird die derzeitige Pattsituation weiter aufrechterhalten. Der Autonomienstaat erfordert eine Neuformulierung. Ideal wäre eine große Reform des Autonomienstaates, die die bestehenden Probleme in den Blick nimmt und dabei berücksichtigt, wie andere föderale Staaten oder Staaten mit einer ähnlichen Dezentralisierung mit diesen Problemen umgegangen sind.

34 Regionalwahlen vom 21.12.2017; Pallarés, Francesc, Las elecciones catalanas del 21-D2017, in: Informe Comunidades Autónomas 2017, Barcelona 2018, S. 437. 35 Zur Proportionalität in wenig dicht besiedelten Gegenden siehe Frowein, Jochen Abr. / ​ Peukert, Wolfgang, Europäische Menschenrechtskonvention EMRK-Kommentar, 3. Aufl., Kehl am Rhein / Straßburg / A rlington 2009, S. 684 f.; zum spanischen Fall, Nohlen, Dieter / ​ Schultze, Rainer-Olaf, Los efectos del sistema electoral español sobre la relación entre sufra­ gios y escaños. Un estudio con motivo de las elecciones a Cortes de 1982, Revista E ­ spañola de Investigaciones Sociológicas, 30/1985, S 183.

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1. Bemerkungen zum Föderalismus in Spanien Spanien kennt die föderale Tradition nicht. In der spanischen Verfassungs­ geschichte herrschte der Wille zur Bildung eines Staats nach dem Modell eines einsprachigen Einheitsstaats vor. Der Föderalismus hatte in Spanien mehr Gegner als Befürworter. Seinen Gegnern zufolge ist in Diversität und Föderalismus das potentielle Risiko der Spaltung angelegt, wohingegen seine Befürworter darin gerade der Weg der Integration und der Vermeidung von Abspaltung sahen.36 Der föderale Gedanke wurde zudem regelmäßig mit einer Ideologie und insbesondere mit Katalonien verknüpft.37 Auf der föderalen Schiene konnte auf diesem Gebiet Autonomie und Anerkennung einer eigenen regionalen Identität innerhalb Spaniens erzielt werden. Die föderalen Vorstellungen waren wichtig für die katalanistische Bewegung sowie für die Arbeiter- und Anarchistenbewegung.38 Die Möglichkeit des Föderalismus war zur Zeit der Ausarbeitung der Verfassung von 1978 durchaus präsent. Es ist kein Zufall, dass die Verfassung den Begriff „föderal“ vermeidet.39 Mit den Worten „föderal“ oder „Föderalismus“ wäre kein Konsens möglich gewesen. Man ist sich in der spanischen Wissenschaft weitestgehend darüber einig, dass der Autonomienstaat in der Praxis wie ein föderaler Staat funktioniert. Der Föderalismus hat ein großes Interesse unter den Wissenschaftlern und insbesondere in der Staatsrechtlehre geweckt. Dennoch ist der Föderalismus bei der Mehrheit der politischen Parteien nicht von Belang. Er hat keinen Eingang in den politischen Diskurs, weder der konservativen noch der liberalen Partei, gefunden. Sie zeigen für den Begriff keine Empathie. Auch die nationalistischen und separatistischen Parteien können dem Begriff nichts abgewinnen, weil er für Gleichheit und Bündnis steht und sie eine Sonderstellung bzw. die Unabhängigkeit befürworten. Die einzige Partei, die den Föderalismus in ihren Diskurs aufgenommen hat, ist die Sozialdemokratie, besonders die katalanische.40 Wenige Politiker und ebenso wenige Bürger wissen, was Föderalismus heißt und was es bedeutet, ein föderaler Staat zu sein. 36

Arbós Marín, Xavier, Doctrinas constitucionales y federalismo en España, Barcelona 2006, S. 16. 37 Der wichtigste Vertreter und Verfechter des Föderalismus in Spanien war ein katalanischer Politiker und Wissenschaftler, Francesc Pi i Margall, Präsident der Ersten Spanischen Republik (1873–1874), unter deren Geltung das gescheiterte Projekt der föderalen Verfassung aus dem Jahr 1873 erarbeitet wurde. 38 Trujillo Fernández, Gumersindo, Introducción al federalismo español, 2. Aufl., Madrid 1967, S. 91 ff. Der Katalanismus ist eine Bewegung, die den Regionalismus und die katalanische Kultur fördert. Seine politische Relevanz begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, siehe Elliott, John H., Catalanes y Escoceses, Barcelona 2018, S. 249. 39 Dazu Arbós Marín, Xavier, (Fn. 36), S. 35. 40 Die PSC repräsentiert die PSOE in Katalonien; die Erklärungen der PSOE über den Föderalismus: Declaración de Granada (2013) und Declaración de Barcelona (2017), http://www. psoe.es.

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In Spanien ist der Föderalismus keine neutrale Regierungsart. Er ist parteigeprägt, ein Vorschlag einer politischen Partei, der durch andere Parteien nicht einstimmig akzeptiert wird. Aus diesem Grund wird sich der Autonomienstaat schwerlich bei einer eventuellen Reform als föderal bezeichnen. Zwar stuft man den Föderalismus anders als damals nicht mehr als einen eventuellen Faktor für eine Destabilisierung ein, der Begriff „föderal“ wird aber dennoch weiterhin vermieden und sein Ausspruch löst in manchen Bereichen immer noch völlige Ablehnung hervor. 2. Ziele und Inhalte einer föderalen Reform: great expectations, aber große Diskrepanzen a) Wozu der Föderalismus und welche Modelle? Der dringend reformbedürftige Teil der Verfassung ist der über die territoriale Staatsorganisation. Ein sehr hoher Prozentsatz der Bevölkerung in Katalonien hält an der Unterstützung der Unabhängigkeit fest, steht aber gleichzeitig einer Verfassungsreform positiv gegenüber, die den Autonomen Gemeinschaften mehr Autonomie gibt.41 Die Verfassungsreform des Autonomienstaates im föderalen Sinn ist der Vorschlag, der in der Staatsrechtslehre am meisten Anklang findet.42 Der föderale Gedanke in Spanien kann nur im Zusammenhang mit dem Nationalismus verstanden werden.43 Das vorrangige Ziel wiederholt sich im Laufe der spanischen Geschichte: die Eingliederung der Nationalisten und Separatisten in das Staatswesen mittels Autonomie und Anerkennung von regionalen Identitäten. Die Erreichung dieses Ziels gestaltet sich als überaus schwierig. Es stellt sich auch die Frage, ob es überhaupt möglich ist und bejahendenfalls, wie. Es ist zwar sehr unwahrscheinlich, dass die Ausdrücke „föderal“ oder „Föderalismus“ in einer zukünftigen Verfassungsreform auftauchen. Dafür ist aber gewiss, dass eine solche Reform Elemente des Föderalismus einführen wird. Der Föderalismus dient der Integration der Diversität und kann eine Alternative zur Abspaltung sein. Die Gewährung von Autonomie und die Mitwirkung auf Bundesebene sind bewiesenermaßen Instrumente zur Verminderung interner Anspannungen und zur Wiederherstellung der Stabilität des Staats und Staatswesens.44 In Europa gibt es keine Bundesstaaten, 41

71,9 % in Katalonien gegenüber 45,4 % in ganz Spanien, CEO Dossier de premsa de l’enquesta „Percepció sobre el debat territorial a Espanya. 2019“, S. 38, http://www.ceo.gencat.cat. 42 Siehe u. a. Ideas para la reforma de la Constitución, 2017, http://www.idp.net. 43 Solozábal Echavarría, Juan José, Pensamiento político federal español: Azaloa, Solé Tura y Trujillo, Revista de Estudios Políticos, 178/2017, 15 f. 44 Hilpold, Peter, Die Sezession – zum Versuch der Verrechtlichung eines faktischen Phänomens, ZÖR, 2008, S. 177; López Basaguren, Alberto, Crisis del sistema autonómico y demandas de secesión: ¿es el sistema federal „la alternativa“?, Teoría y Derecho, 19/2016, S. 55; über Kanada nach den zwei Referenda in Quebec Laforest, Guy, The meaning of Canadian Federalism in Quebec, Revista d’Estudis Federals i Autonòmics, 11/2010, S. 11.

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die einst föderal waren und es nicht mehr sind. Traditionelle Einheitsstaaten haben sich dagegen durchaus bundesstaatliche Elemente zu eigen gemacht.45 Die Rechtsvergleichung kann hier die richtigen Weichen stellen.46 Es gibt eine Pluralität von föderalen Systemen. Der deutsche Föderalismus ist eines der Paradigmen, aber auch Kanada und das Vereinigte Königreich sind andere zu berücksichtigende Modelle, weil es auch dort Sezessionsbestrebungen gibt. Spanien muss jedenfalls sein eigenes Modell finden, das seinen eigenen Kontext versteht. Die Rechtsvergleichung muss dazu dienen, ausländische Lösungen kennen zu lernen und zu diskutieren. Die Übernahme ausländischer Lösungen hat vorsichtig zu erfolgen. Sie birgt die hohe Gefahr, dass sie im Inland nicht funktionieren.47 b) Lösungswege für andauernde Probleme des Autonomienstaates: rechtliche und nicht rechtliche Änderungen Es muss klar sein, was eine Verfassungsreform leisten kann und was nicht. Eine föderale Reform kann aber nicht nur zum Zwecke der Erhöhung der Autonomie in Übereinstimmung mit dem stärkeren Gefühl nach Selbstverwaltung in einem Gebiet erfolgen, sondern auch zur Verbesserung aller andauernden Probleme des Autonomienstaats aufgrund eines neuen Verfassungspakts. Sie kann einen besseren rechtlichen Rahmen schaffen, der versucht, strukturelle und funktionelle Probleme zu lösen, und der es zulässt, dass Gebiete, in denen die Sezessionsbestrebungen am stärksten sind, sich wieder als Teil eines Ganzen fühlen. Diese föderale Verfassungsreform des Autonomienstaates muss die Bestandteile verbessern, die Spanien auch mit anderen föderalen Staaten teilt. Es muss eine klarere und effizientere Kompetenzverteilung erreicht werden, ein solidarisches und gleichmäßiges Finanzsystem und Beziehungen zwischen Zentralstaat und Autonomen Gemeinschaften, insbesondere eine Reform des Senats, die eine Integration der Gebiete in den Staat als Ganzes ermöglichen. Eine föderale Verfassungsreform selbst wird nicht ausreichen, wenn nicht auch eine institutionelle Loyalität seitens des Zentralstaates und seitens der Autonomen Gemeinschaften gegeben ist oder wenn keine föderale Kultur vorliegt. In Spanien ist das Prinzip der institutionellen Loyalität, das der deutschen Bundestreue entspricht, ein ungeschriebener Verfassungsgrundsatz, aber in der Rechtsprechung des

45 Cruz Villalón, Pedro, Rasgos básicos del Derecho Constitucional de los Estados en perspectiva comparada, in: von Bogdandy, Armin / Cruz Villalón, Pedro / Huber, Peter M., El ­Derecho Constitucional en el Espacio Jurídico Europeo, Valencia 2013, S. 59. 46 Zur zunehmenden Relevanz der Rechtsvergleichung im Europäischen Bereich von Bogdandy, Armin, Historia y futuro del Derecho Constitucional en Europa, in: von Bogdandy, Armin / Cruz Villalón, Pedro / Huber, Peter M., (Fn. 45), S. 177. 47 Hofmeister, Wilhelm / Tudela, José, Prefacio, in: Hofmeister, Wilhelm / Tudela, José (Ed.), Sistemas federales. Una comparación internacional, Madrid / Zaragoza 2017 S. 12.

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spanischen Verfassungsgerichts ist das Prinzip nur eine Art soft law und weder im Zentralstaat noch in den Autonomen Gemeinschaften verinnerlicht.48 Es bleibt das Problem des thinking federal.49 In Spanien ist eine andere Sichtweise auf Vielfalt notwendig – angefangen bei den Politikern und Beamten. Kein Regierungschef des Zentralstaates in Spanien hat zuvor eine Karriere in der Regionalpolitik gemacht und nahezu alle Beamten in Madrid kommen auch aus Madrid und nicht aus anderen Autonomen Gemeinschaften. Der Blick auf die Probleme bleibt daher beschränkt. Ein weiterer Umstand, über den es nachzudenken gilt, ist, dass die große Mehrheit der spanischen Bevölkerung nie länger als ein Jahr außerhalb ihrer Autonomen Gemeinschaft gelebt hat.50 Das Verständnis der Vielfalt erfordert Mobilität. c) Lösungswege für die Sezessionsbestrebungen: „Plurinationalität“, Asymmetrie und ein Abspaltungsrecht? Eine Reform nur dieser genannten Aspekte wird das Problem in Katalonien nicht lösen können. Katalonien und das Baskenland sind ein sehr spanisches Thema, das zum ewigen Problem der spanischen Geschichte und des Autonomienstaates führt: die Anerkennung und Gewährleistung von Gebieten mit einer eigenen und differenzierten regionalen Identität. In diesem Zusammenhang sind drei altbekannte Fragen wieder zutage getreten: die sog. „Plurinationalität“, die Asymmetrie und ein eventuelles Abspaltungsrecht. Die Bezeichnung als plurinationaler Staat ist in den europäischen Verfassungen nicht ausdrücklich niedergelegt.51 Bei der Ausarbeitung der spanischen Verfassung wollte Katalonien sich als „Nation“ bezeichnen, eine Formulierung, die nicht gebilligt wurde.52 Stattdessen wurde der Begriff der „Nationalität“ in Art. 2 CE

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Cruz Villalón, Pedro, La doctrina constitucional sobre el principio de cooperación, in: Cano Bueso, Juan (Coord.), Comunidades Autónomas e instrumentos de cooperación interterritorial, Madrid / Sevilla 1990, S. 121; allgemein zur Loyalität in Spanien, Álvarez Álvarez, Leonardo, La función de la lealtad en el Estado autonómico, Teoría y Realidad Constitucional, 22/2008, S. 493 ff. 49 Elazar, Daniel J., Exploración del federalismo, Barcelona 1990, S. 33. 50 In Katalonien 78,2 % und im Rest Spaniens 73,4 %, CEO Dossier de premsa de l’enquesta „Percepció sobre el debat territorial a Espanya. 2019“, S. 51, http://www.ceo.gencat.cat. 51 Dagegen wird die Plurinationalität in einigen lateinamerikanischen Verfassungen genannt. Die Verfassung von Bolivien aus dem Jahr 2009 regelt sogar die eindeutige Anerkennung als plurinationaler Staat. Im europäischen Bereich wird es z. B. in Großbritannien sprachlich akzeptiert, Schottland als eine Nation zu bezeichnen, Keating, Michael, The Scottish Independence Referendum and After, Revista d’Estudis Federals i Autonòmics, 21/2015, S. 74. 52 Interview mit Miquel Roca, einer der „Väter“ der Verfassung in: La Vanguardia (06.12.2018), https://www.lavanguardia.com.

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eingefügt. Dort heißt es, dass das „Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen … anerk[a]nnt und gewährleistet“ wird. Die drei Ausdrücke (Nation, Nationalität und Plurinationalität) sind in der deutschen Rechtssprache ungewöhnlich, weil stattdessen normalerweise von regionalen Identitäten gesprochen wird. Der Vorschlag, bei einer Verfassungsreform die Formulierung „Nation der Nationen“ oder „plurinationaler Staat“ aufzunehmen, bezweckt die höhere Anerkennung Kataloniens und des Baskenlands, welches ohnehin nicht weniger billigen wird, und vor allem die Besänftigung der separatistischen Forderungen. Diese Formulierungen stützen sich auf die Unterscheidung zweierlei Vorstellungen des Begriffs Nation: kulturell und politisch. Zwar wäre die einzige politische Nation Spanien. In dieser Einheit könnten jedoch mehrere kulturelle Nationen neben­ einander bestehen.53 Der Begriff der Plurinationalität führt allerdings zu zahlreichen rechtlichen Unklarheiten: wie viele kulturelle Nationen gibt es? Wer entscheidet darüber, ob ein bestimmtes Gebiet eine Nation ist und aufgrund welcher Kriterien? Welche Konsequenzen lassen sich daraus ziehen? Aus politischer Sicht ist die Anerkennung der Plurinationalität für die Separatisten nicht ausreichend. Denn sie fordern das Selbstbestimmungsrecht. Etwas Anderes würde lediglich dann gelten, wenn die Plurinationalität als Vorstufe zum Abspaltungsrecht interpretiert werden würde. Auch die Frage der Asymmetrie ist weder in Spanien noch im vergleichenden Föderalismus, z. B. in Kanada oder in Italien, neu. Die spanische Verfassung anerkennt die Asymmetrie und lässt sie zu.54 Die Frage nach der Asymmetrie existiert in der heutigen Verfassung auf Grundlage der sogenannten „differenzierten Tatbestände“ (hechos diferenciales) einiger Autonomer Gemeinschaften. Dabei handelt es sich um objektive Umstände, z. B. Geschichte oder Sprache, denen zufolge diese Autonomen Gemeinschaften eine Sonderstellung gegenüber den anderen innehaben. Das größte Privileg, das die spanische Verfassung vereinzelten Autonomen Gemeinschaften zuerkennt, ist das eigene Finanzsystem des Baskenlandes und von Navarra mit Grundlage in den historischen Rechten, den sogenannten Foralrechten. Eine Streichung dieses Privilegs aus der Verfassung wäre undenkbar. Eine Aus­weitung des baskischen Systems auch auf andere Autonome Gemeinschaften

53

In der Staatsrechtslehre befürwortend Solozábal Echavarría, Juan José, España: Nación de Naciones, El Cronista del Estado social y democrático de Derecho, 68/2017, S. 16 ff.; sehr kritisch Blanco Valdés, Roberto L., Nacionalidades históricas y Regiones sin historia, Madrid 2005, S. 119 ff.; Sosa Wagner, Francisco / Sosa Mayor, Igor, El Estado fragmentado, 4. Aufl., Madrid 2007, S. 167 ff.; unter den Historikern Álvarez Junco, José, Dioses útiles. Naciones y nacionalismos, Barcelona 2016, S. 213 ff. 54 López Guerra, Luis, (Fn. 8), S. 178; Fossas, Enric, Asimetría y plurinacionalidad en el Estado autonómico, in: Fossas, Enric / Requejo, Ferran (Ed.), Asimetría y Estado plurinacional, Madrid 1999, S. 275 ff.

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würde zusätzlich zu den rechtlichen Bedenken auch wirtschaftliche Probleme aufwerfen. Katalonien und andere Autonome Gemeinschaften besitzen Kompetenzen hinsichtlich der Sprache, die sich auch auf ihre Kompetenzen im Bereich Kultur und Bildung übertragen lassen. Auf diesem Gebiet gibt es eine starke emotionale Komponente zur Bewahrung der katalanischen Sprache. In Katalonien gibt es ein Schulbildungssystem, in dem die Unterrichtssprache Katalanisch ist. Ebenso hat Katalonien die Kompetenz für das Zivilrecht. Zugleich ist sie die Autonome Gemeinschaft, die von diesen Kompetenzen am meisten Gebrauch gemacht hat, bis zu dem Punkt, dass Katalonien ein eigenes BGB hat. Ein derzeit diskutierter Weg, um neue Asymmetrien einzuführen, ist das Einfügen einer neuen Zusatzbestimmung in die Verfassung, die Kataloniens historische Rechte anerkennt. Momentan gibt es eine Zusatzbestimmung (die erste der Verfassung) für das Baskenland und für Navarra. Auf Grundlage einer solchen neuen Bestimmung könnte Katalonien sodann ein eigenes Finanzsystem wie im Baskenland einfordern und das eigene Schulbildungssystem auf Katalanisch gewährleisten, was zum Kern der katalanischen Autonomienansprüche gehört. Und die anderen Autonomen Gemeinschaften? Werden sie diese Asymmetrien annehmen? Die Asymmetrien könnten zu nicht hinnehmbaren Ungleichbehandlungen für die restlichen Gebiete führen. Obwohl die Gleichheit aller Territorien der Grundstein der föderalen Strukturen ist, zeigt der Blick in das Ausland, z. B. nach Kanada, dass vereinzelte Asymmetrien durchaus möglich sind. Die spanische Verfassung lässt solche auch grundsätzlich zu, wenn auch nur in sehr begrenzten Fällen. Die Erfahrung mit dem baskischen Finanzierungssystem lässt jedenfalls erkennen, dass Asymmetrien konfliktträchtig und für die anderen Gebiete nur schwer tragbar sind.55 Die Anerkennung und Gewährleistung von Plurinationalität und Asymmetrie ist mit Sicherheit kein einfaches Unterfangen. Dennoch besteht ein begrenzter rechtlicher Spielraum. Obwohl die spanische Verfassung weder eine Ewigkeitsklausel noch den Grundsatz der wehrhaften Demokratie kennt, ist die Anerkennung und Gewährleistung der ius secessionis sehr schwierig. Das spanische Verfassungsgericht hat es ganz klar abgelehnt, dass in der Verfassung ein Abspaltungsrecht enthalten ist. Ebenso hat das Gericht ein „Recht zu Entscheiden“ (derecho a decidir) abgelehnt, einen Begriff, den die Unabhängigkeitsbefürworter verwenden, und der im Grunde synonym zum Selbstbestimmungsrecht verwendet wird. Das Verfassungsgericht hat daran erinnert, dass bei der Ausarbeitung des Verfassungstextes der Vorschlag, ein Selbstbestimmungsrecht zuzubilligen, versagt wurde.56 Auch im ausländischen öffentlichen Recht 55 Zu den Asymmetrieproblemen siehe Dion, Stephan, El federalismo fuertemente asimétrico: improbable e indeseable, in Fossas, Enric / Requejo, Ferran (Ed.), (Fn. 54), S. 197 ff. 56 STC 114/2017 und STS 459/2019 v. 14.10.2019.

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und im Völkerrecht bleibt die Zuerkennung des ius secessionis selbst in föderalen und politisch dezentralisierten Staaten beispiellos.57 3. Die föderalen Ideen und die Verfassungspolitik: die föderale (Verfassungs-)Reform als mission impossible, oder gibt es doch einen Ausweg? Eine Verfassungsreform wäre die optimale Option. Die Verfassung ist der Ort, an dem die Grundnormen über die territoriale Herrschaftsteilung niedergelegt sein müssen. Dennoch ist eine Verfassungsreform eine politische Entscheidung, die eine politische Vereinbarung erfordert. In Spanien gibt es jedoch keine Kultur zur Konsensfindung. Im Gegensatz zu vielen europäischen Staaten, hat es in Madrid noch nie eine große Koalition gegeben. Es gibt auch keine Koalitionstradition – die erste Koalition erfolgte im Dezember 2019. Es gibt eine Veranlagung zum Konflikt und zur Polarisierung. Die Politik basiert auf der Logik, dass zwischen Freund und Gegner zu unterscheiden ist. Wer paktiert, gibt nach, und wer nachgibt, ist ein Verräter. Demnach sind Verfassungsreformen unüblich.58 Es wäre auch ein schwerer Fehler, eine Reform und sonstige relevante Reformen zum Zeitpunkt gewaltiger Anspannung und schlechter Stimmung anzugehen. Eine Einigung der beiden großen Parteien über den Autonomienstaat erscheint undenkbar, da beide Parteien gegensätzliche Standpunkte vertreten. Aber eine Reform des Autonomienstaates erfordert die Einigung beider Parteien. Eine Verfassungsreform in Bezug auf die territoriale Herrschaftsteilung muss auch die nationalistischen und separatistischen Parteien mit einbeziehen. Ihre Forderungen sind für die beiden großen Volksparteien in Spanien aber schlicht inakzeptabel. Das Wort „Dialog“ ist zum Zwecke der Konfliktbewältigung in aller Munde, aber um in einen Dialog zu treten, müssen konkrete Themen in Angriff genommen werden. Es ist undenkbar, dass eine Verfassungsreform das Abspaltungsrecht vorsieht, das von den separatistischen Parteien beansprucht wird. Die Anordnung

57

STC 114/2017 erinnert als „anekdotische Ausnahme“ Äthiopien und das Archipel von San Cristóbal und Las Nieves; zudem verweist das Gericht auf die Verfassungen von Südafrika (Abschnitt 235 der Verfassung), Kanada (Reference Re Secession of Quebec des Obersten Gerichts vom 20.8.1998) oder der Vereinigten Staaten (Texas vs. White) des Obersten Gerichts von 1868), die auch kein Abspaltungsrecht normieren. Das spanische Verfassungsgericht zeigt auch auf, dass die völkerrechtlichen Texte im Zusammenhang mit der Dekolonisation das Selbstbestimmungsrecht vorsehen; siehe Tornos, Joaquín, La inexistencia del derecho a decidir y la inexistencia de una causa de exoneración de responsabilidad penal, El Cronista del Estado Social y Democrático de Derecho, 82–83/2019, S. 19 f.; allgemein zum Selbstbestimmungsrecht, Hilpold, Peter (Fn. 44), S. 117 ff. 58 In 40 Jahren wurden nur zwei durchgeführt, im Jahr 1992, Art. 13 Abs. 2 CE, zum aktiven Wahlrecht von Unionsbürgern für die Kommunalwahlen und im Jahr 2011, Art. 135 CE, zur Schuldenbremse.

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eines Referendums über die Selbstbestimmung, die mit dem Zentralstaat vereinbart wurde, ist keine mögliche rechtliche Option ohne vorherige Verfassungs­reform, weil die Einheit und Unteilbarkeit Spaniens verfassungsrechtlich gewährleistet ist (Art. 2 CE).59 Ob ein Staat die Sezession zulässt oder nicht, zählt zu seiner „jeweiligen nationalen Identität“ (Art. 4 Abs. 2 EU-Vertrag). Eine Reform mit derartigen Inhalten ist aber selbst nicht möglich, sodass die Sackgasse nicht durchbrochen werden kann. Nun stellt sich die Frage, ob es noch andere Auswege gibt. Diejenigen Aspekte, die in der Verfassung fehlerhaft normiert sind, müssen im Wege einer Verfassungsreform korrigiert werden, z. B. die Vorgaben des Senats. Bei anderen Punkten ist eine Reform dagegen nicht erforderlich, denn eine Änderung der politischen Dynamiken würde bereits ausreichen, z. B. zur Verbesserung der vertikalen und horizontalen Kooperation. Gelegentlich lässt die spanische Verfassung auch Änderungen ohne vorherige Verfassungsreform zu, z. B. bei der Finanzierung oder bei der Übertragung von Kompetenzen vom Zentralstaat auf die Autonomen Gemeinschaften. Wahrscheinlich ist, dass die Krisenbewältigung zu einer Anerkennung größerer finanzieller Asymmetrie und zu mehr Asymmetrienkompetenzen führen muss. Das spanische Verfassungsgericht hat in seiner Entscheidung über das katalanische Autonomienstatut aus dem Jahr 2006 erklärt, dass viele Forderungen inhaltlich nicht verfassungswidrig sind. Das Gericht stellte klar, dass sie nicht in einem Autonomienstatut geregelt werden können, da es Fragen gibt, die nur der Zentralstaat selbst regeln kann, z. B. die Finanzierungsfrage, und nicht ein Autonomienstatut einer Autonomen Gemeinschaft. Die Finanzierungsfrage war einer der Gründe, der am meisten zur Unterstützung der Abspaltung beigetragen hat. Die spanische Verfassung normiert sie nicht, sondern vielmehr ein Zentralgesetz (Art. 157 CE). Die Verfassung verfügt über Instrumente, um Kompetenzasymmetrien zu schaffen. Dabei handelt es sich um eine besondere Art von Zentralgesetzen, die Befugnisse in Materien zentralstaatlicher Zuständigkeit auf alle oder vereinzelte Autonome Gemeinschaften übertragen oder delegieren können (Art. 150 Abs. 2 CE). Beide Gesetze müssen Organgesetze sein, die durch absolute Mehrheit im Kongress verabschiedet werden müssen. Die Anerkennung neuer Asymmetrien über die in der Verfassung niedergelegten „differenzierten Tatbestände“ hinaus ist nur in sehr engem Rahmen möglich. Ihre denkbare Anerkennung würde zu Mehrdeutigkeiten führen und wäre Nährboden für neue Konflikte. Die Verwendung von mehrdeutigen Formulierungen wird das Problem nicht lösen und wird die Interpretation von politisch geprägten Themen auf das spanische Verfassungsgericht verlagern. Letztlich wäre die Annahme leichtgläubig, dass die Autonomen Gemeinschaften die Privilegien für jeweils an-

59 Für weitere Nachweise zur Unteilbarkeit in anderen europäischen Verfassungen siehe Weber, Albrecht, European Constitutions Compared, München 2019, S. 177.

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dere wortlos hinnehmen und dass die separatistischen Parteien weitere Forderungen zur Erreichung ihres endgültigen Ziels, der Selbstbestimmungen, aufgeben. Es muss akzeptiert werden, dass die Lösungen zur Krise höchstwahrscheinlich nur vorübergehend sein werden. Die Geschichte wird sich wiederholen.

V. Fazit: Die Zukunft des Autonomienstaates bleibt ein Rätsel Das aktuelle Spanien ist als gemeinsames Projekt ohne die weit überwiegende Anerkennung der territorialen Selbstverwaltung nicht möglich. Der Autonomien­ staat wurde wegen des Drucks gegründet, den das Baskenland und Katalonien ausübten, um mehr Autonomie zu erhalten. Die Entwicklung des Autonomien­ staats als symmetrisches Modell zwischen den Autonomen Gemeinschaften (mit eigenen Ausnahmen) ist gescheitert. Eine Verfassungsreform, die Katalonien eine besondere Position innerhalb Spaniens einräumt, könnte theoretisch ein Lösungsweg sein. Praktisch aber wird das Problem darin bestehen, zu konkretisieren und auszuhandeln, worin diese Sonderstellung Kataloniens bestehen soll. Undenkbar ist jedenfalls der Umstand, dass ein Selbstbestimmungsrecht anerkannt und garantiert wird. Es muss die Frage aufgeworfen werden, warum in Katalonien mehr als zwei Millionen Personen in den letzten zehn Jahren keine Spanier mehr sein wollen und sich damit rühmen, dass die Verfassung missachtet wird. In Katalonien wird die Verfassung am wenigsten unterstützt.60 Die Bindung an die Verfassung muss wiederhergestellt werden. Eine Verfassungsordnung funktioniert nur, wenn die Menschen an sie glauben und sie respektieren. Andernfalls zerfällt das Mitein­ ander und das System bricht zusammen.61 Es bedarf besserer Sichtweise über Pluralität und besserer Bildung über Verfassungswerte, die zugleich auch europäische Werte sind. In Spanien muss man mit dem Separatismus leben. Er hat immer schon be­ standen.62 Die Verfassungsordnung lässt zwar diese Ideologie zu, aber nicht die einseitige Sezession. Es obliegt dem Staat, der Bevölkerung ein attraktives gemeinsames Projekt mit guten Argumenten vorzuschlagen. Die Separatisten haben es vollbracht, einen affektiven Bruch mit Spanien und eine sehr starke emotionale Bindung zur Abspaltung herzustellen. In der Realität ist eine Unabhängigkeit aber keineswegs einfach. Die wirtschaftlichen Konsequenzen sind schwer und es gibt derzeit keine Mehrheit.

60

Im Jahr 1978 haben in Katalonien mehr als 90 % der Wähler für die Verfassung gestimmt; heute sind es etwas mehr als 50 %. 61 Smend, Rudolf, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Smend, Rudolf, Staatrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 4. Aufl., Berlin 2010, S. 136 ff. 62 Ortega y Gasset, José, España invertebrada, Madrid 1999, S. 24 f.

Zukunftsperspektiven des spanischen Autonomienstaates

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Es wäre wünschenswert, dass die politischen Akteure zur Reformierung des derzeitigen Autonomienstaates den Konsens wiederherstellen, der schon im Jahre 1978 Schlüssel für die Verabschiedung der Verfassung war. Die Zukunft des Autonomienstaates ist jetzt rätselhafter denn je. Dennoch muss eine Lösung gefunden werden. Andernfalls sei versichert: ohne politische und rechtliche Änderungen werden sich die Probleme des Autonomienstaates weiter und schneller denn je zuspitzen.

Föderalismus, Autonomiestatus, Regionalismus aus italienischer Sicht Raffaele Bifulco

I. Einleitung Die komplexe und schwierige Entwicklung des italienischen Regionalismus ist eng mit dem parteipolitischen System verbunden. Anders als in den „klassischen“ Bundesstaaten, die aus Vereinigungsprozessen hervorgegangen sind, spielen in den dissoziativen Föderalisierungsprozessen, zu denen man auch die Entwicklung der Italienischen Republik zählen kann, die Parteien eine sehr viel entscheidendere Rolle. Hier finden wir ein Wechselspiel föderaler Dissoziationsprozesse mit zentralisierten Parteien innerhalb symmetrischer Parteiensysteme. In einigen Fällen gelingt es den Parteien, ihre Struktur, Organisation und ursprüngliche Form beizubehalten. Dies ist zum Beispiel in Italien, Spanien, dem Vereinigten Königreich und Kanada der Fall. In anderen Fällen, wie etwa in Belgien, erfahren die Parteien infolge des föderalen Prozesses grundlegende Veränderungen. In allen genannten Beispielen gehören die Parteien aber zu den wichtigsten Akteuren der Föderalisierung. Es ist kein Zufall, dass gerade im Rahmen dieser Prozesse ein im Verhältnis zu den klassischen föderalen Modellen völlig neues und durchschlagendes Phänomen in Form regionaler Parteien entsteht, die in den traditionellen Bundesstaaten mit Ausnahme Kanadas im Wesentlichen fehlen. Diese neue Art der Parteienbildung ist mit anderen Worten Ausdruck des „Wandels“ der Parteien auf Grundlage territorialer Grenzziehungen. Die ganz grundlegende Prägung des italienischen Regionalismus durch das Parteiensystem zeigt sich bei der Betrachtung der wesentlichsten Etappen seiner Entwicklung. Zunächst besitzt der Föderalismus auch in Italien noble Vordenker. Vor allem in der Debatte der verfassungsgebenden Versammlung fanden sich glühende Verfechter der föderalen Idee und des regionalistischen Programms der Democrazia Cristiana (Christliche Demokratische Partei). Die Bestrebungen dieser Partei, zu einer regionalen Autonomie zu gelangen, setzten sich jedoch erst nach der Krise im Mai-Juni 1947 durch, genauer gesagt, nach dem Ausschluss der Linken und insbesondere der Partito Comunista Italiano (Italienische Kommunistische Partei) aus der Regierung. Hier zeigt sich, dass der italienische Regionalismus von Beginn an durch konkrete strategische Entscheidungen des „Akteurs“ in Gestalt der Parteien bedingt ist. Dieser genetische Fingerabdruck spiegelt sich in allen folgenden Entwicklungsschritten des republikanischen Italiens wider. Die unterlassene Einrichtung der Re-

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gionen mit Normalstatut, welche bis zum Anfang der 1970er Jahre hinausgezögert wurde, ist letztlich das Ergebnis einer grundlegenden und bewussten Entscheidung der größten Regierungspartei. Insoweit kann man nicht genug betonen, dass die Entwicklung des Regionalismus und des Parteiensystems einen ganz anderen Verlauf genommen hätte, wenn die Regionen mit Normalstatut nach Inkrafttreten der ital. Verfassung (1. Januar 1948) unverzüglich eingerichtet worden wären. Auch bei dieser Einrichtung der Regionen mit Normalstatut und den Verfassungsreformen von 1999–2001 waren die Parteien wesentlicher Urheber. In beiden Fällen beginnt der föderale Prozess im Moment der größten Krise der politischen Ordnung und des Parteiensystems. In den siebziger und auch in den neunziger Jahren hat das Parteiensystem die „Peripherie“ genutzt, um neue Kraft zu schöpfen oder jedenfalls die Krise, von der es umfangen war, zu „verlagern“. In beiden Reformphasen erwuchs die Stärkung der regionalen Autonomie also aus der Notwendigkeit, funktionsuntüchtige politische Steuerungsmechanismen wiederzubeleben und durch eine erweiterte Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen – zumindest auf lokaler Ebene – das politische System insgesamt neu zu legitimieren. Insbesondere die Verfassungsreform von 2001, die den verfassungsrechtlichen Rahmen der Autonomie grundlegend veränderte, ist Auswirkung einer präzisen parteipolitischen Kalkulation der Mitte-Links-Regierung. Sie entschied sich mit absoluter Mehrheit für eine Verfassungsreform, um den Druck auf die Lega Nord zu erhöhen. Dahinter stand die Absicht, den Forderungen der Lega Nord nach einem Bundesstaat bzw. starker Autonomie entgegenzukommen und auf diese Weise die Wünsche der norditalienischen Wählerschaft aufzufangen. Diese Strategie barg das Risiko, dass die Verfassungsreform erstmals für aktuelle politische Erfordernisse oder besser für die Erfordernisse einer politischen Partei genutzt bzw. zweckentfremdet werden würde. Tatsächlich wurde die Reform mit absoluter Mehrheit verabschiedet und im anschließenden Volksentscheid bestätigt.1 Hiermit begann ein Zeitraum, der dadurch gekennzeichnet ist, dass Verfassungsreformen mit absoluter Mehrheit verabschiedet und im Rahmen eines anschließenden Volksentscheids angenommen wurden. Dies aber führte dazu, dass diese Verfassungsänderungen ihres langen Atems beraubt wurden, der sie eigentlich auszeichnen sollte. Denn ein sehr bedeutsamer Nebeneffekt von Verfassungsreformen durch Mehrheitsentscheid ist die Gefahr einer nur dürftigen oder gänzlich fehlenden Umsetzung, wenn in der Umsetzungsphase diejenigen Parteien die Regierung bilden, welche sich zuvor ausdrücklich gegen die Reform ausgesprochen hatten. Genau dies geschah im Jahr 2001, als die Mitte-Links-Regierung, welche die Reform im März 2001 verabschiedet hatte, im Mai desselben Jahres von einer Mitte-Rechts-Regierung abgelöst wurde. Sie wiederum unternahm wenig bis nichts 1

Gemäß Art. 138 der ital. Verfassung bedarf ein die Verfassung änderndes Gesetz, welches in beiden Kammern eine jeweilige Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder erzielt, keiner anschließenden Bestätigung im Rahmen eines Volksentscheids; im Fall der Verabschiedung mit absoluter Mehrheit kann ein solcher Volksentscheid hingegen notwendig sein.

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zur Umsetzung der Reform.2 Im Zeitraum 2005–2006 verabschiedete die Mitte-​ Rechts-Regierung sogar eine „Reform der Reform“, die jedoch im Volksentscheid vom 25. und 26. Juni 2006 nicht die Zustimmung der Wähler erhielt. Jedenfalls wurde die Reform des Jahres 2001 durch einen Volksentscheid bestätigt, der durch eine sehr geringe Wahlbeteiligung von nur 34,1 % der Wahlberechtigten gekennzeichnet war, jedoch eine deutliche Mehrheit von 64 % der abgegebenen Stimmen zugunsten der Reform verzeichnete. Im Folgenden soll ein Überblick über die wichtigsten Entwicklungen des italienischen Regionalismus der letzten zehn Jahre gegeben werden. Hierzu wird es notwendig sein, die wesentlichen Neuerungen der Verfassungsreformen von 1999 und 2001 zu betrachten (2), ohne die Lage der Regionen mit Sonderstatut aus den Augen zu verlieren (3). Anschließend wird die zentrale Rolle des Verfassungs­ gerichtshofs untersucht (4). Die jüngsten Ereignisse, die über den italienischen Regionalismus zu berichten sind, stehen im Zeichen des 2016 im Volksentscheid gescheiterten Reformversuchs der Regierung Renzi (5) sowie der Verhandlungen der Regierung mit den drei norditalienischen Regionen Emilia-Romagna, Lombardei und Venetien über einen differenzierten Regionalismus (6).

II. Die wichtigsten Neuerungen der Verfassungsreformen von 1999 und 2001 Das Verfassungsgesetz 3/2001 und das Verfassungsgesetz 1/1999 haben die Verfassungsbestimmungen zu den Regionen und zur Gebietsautonomie grundlegend geändert. Die Verfassungsreformen zielten auf die endgültige Umsetzung des Regionalstaates nach Maßgabe des Art. 5 der ital. Verfassung, welcher besagt: „Die Republik ist unteilbar. Sie anerkennt und fördert die kommunale und regionale Selbstverwaltung. Sie verwirklicht in den vom Staat abhängigen Dienstbereichen eine weitestgehende Dezentralisierung der Verwaltung. Sie passt Grundsätze und Formen der Gesetzgebung den Erfordernissen der Selbstverwaltung und Dezen­ tralisierung an.“ Aus diesem Blickwinkel hat der neue Art. 114 zu Beginn des Titels V der ital. Verfassung auch eine symbolische Funktion, indem er Gemeinden, Provinzen, Metropolen, Regionen und Staat gleichberechtigt nebeneinanderstellt. All diese Gebietskörperschaften sind konstitutive Bestandteile der Italienischen Republik, während in der vorangehenden Fassung die Regionen, Provinzen und Gemeinden nur bloße staatliche Untereinheiten darstellten.

2

Nicht unerwähnt bleiben darf allerdings die Verabschiedung des Gesetzes 131/2003 durch die Mitte-Rechts-Regierung, das die „Bestimmungen zur Anpassung der Grundordnung der Republik an das Verfassungsgesetz Nr. 3 vom 18. Oktober 2001“ enthielt.

Föderalismus, Autonomiestatus, Regionalismus aus italienischer Sicht 

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1. Die neuen Regionalstatute Hauptgegenstand der Verfassungsreform von 1999 ist die Änderung der Zuständigkeit für den Erlass der Statuten durch die Regionen, mit Blick sowohl auf das nunmehr gänzlich regionale Verfahren als auch auf die Inhalte wie Regierungsform und interne Organisation. Im Anschluss an diese Reform haben sich die Regionen mit Normalstatut bereits neue Statuten gegeben, welche vollständig durch die regionalen Organe verabschiedet wurden. Alle Regionen haben sich für eine Regierungsform entschieden, die aus der Nähe betrachtet an das britische System mit einem Premierminister an der Spitze erinnert, und in welcher das Volk den Regionalpräsidenten direkt wählt. Dieser ernennt und beruft dann die Mitglieder der Regionalregierung ab. Nur die Region Aostatal und die Provinz Bozen haben sich für eine „traditionelle“ Regierungsform entschieden, in welcher der Regionalpräsident vom Regionalrat gewählt wird. Von der Verfassungsreform des Jahres 1999 ist auch der Art. 122 der ital. Verfassung betroffen. Hiernach regelt ein Regionalgesetz „das Wahlsystem sowie die für den Präsidenten und die übrigen Mitglieder der Regionalregierung wie auch für die Mitglieder des Regionalrats geltenden Fälle der Nichtwählbarkeit und der parlamentarischen Inkompatibilität […], und zwar im Rahmen der durch ein staatliches Gesetz festgelegten Grundprinzipien, wobei das betreffende staatliche Gesetz auch die Amtsdauer der gewählten Organe festsetzt“. Das Rahmengesetz des Staates zur Festlegung der Grundprinzipien ist das Gesetz 165/2004. Alles in allem ist dies der Teil der Reform, der vollständig umgesetzt wurde, auch weil er im Wesentlichen den Regionen überantwortet wurde und nicht der Zusammenarbeit von Staat und Regionen unterlag. 2. Die Gesetzgebungsbefugnisse im Rahmen eines vollständigen Zweikammersystems Sehr viel komplexer und einschneidender ist die Verfassungsreform, die im Jahr 2001 beschlossen wurde. Mit dem Verfassungsgesetz 3/2001 wurden insbesondere folgende Änderungen eingeführt: die Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen, die Normierung von Kriterien für die Zuweisung von Verwaltungsaufgaben, die Bestimmung der Bereiche regionaler Finanzautonomie, die Schaffung einer Ersatzzuständigkeit des Staates gegenüber den Regionen sowie die Festlegung einer Kontrolle der Regionalgesetze durch den Verfassungsgerichtshof. Diese für jeden mehrgliedrigen Staat so wichtigen Rechtsinstitute haben stark unter der fehlenden Umsetzung durch die nach dem Jahr 2001 regierenden politischen Kräfte gelitten. Der reformierte Art. 117 zur Neuverteilung der Gesetzgebungskompetenzen orientiert sich an den föderalen Modellen, die zwei Zuständigkeitsbereiche aufweisen: einmal die Angelegenheiten, die in der ausschließlichen Zuständigkeit des Staates liegen (Abs. 2) sowie diejenigen Angelegenheiten, die die konkurrierende

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Zuständigkeit von Staat und Regionen betreffen, hier jedoch nach „italienischer Art“. Mithin legt der Staat im Rahmen der konkurrierenden Zuständigkeiten die Grundprinzipien fest und die Regionen erlassen die Detailgesetze (Abs. 3). Abs. 4 enthält schließlich eine Generalklausel, welche den Regionen alle Angelegenheiten zuweist, die nicht in den beiden Auflistungen enthalten sind. Der Konflikt hierüber wurde vor dem Verfassungsgerichtshof intensiv und hitzig geführt. Hervorgerufen wurde er zum einen durch sogenannte Querschnittsangelegenheiten wie Umweltschutz und Wettbewerb, die es dem Staat ermöglichten, auch in den eigentlich den Regionen zugewiesenen Angelegenheiten tätig zu werden, und zum anderen durch allzu detaillierte oder auch gänzlich fehlende Rahmengesetze. Der Verfassungsgerichtshof wurde somit in die Rolle des Ersatzgesetzgebers gedrängt, trug den Autonomiebedürfnissen jedoch wenig Rechnung. Was vor allem fehlt, ist eine zweite Kammer, in welcher Staat und Regionen bei der Gesetzgebung gleichermaßen eingebunden sind. Hier setzten denn auch die Versuche einer „Reform der Reform“ an, die sowohl die Regierung Berlusconi in den Jahren 2005–2006 als auch die Regierung Renzi in den Jahren 2014–2016 unternahmen. In beiden Fällen sollte die Reform einerseits die Mängel der neuen Zuständigkeitsverteilung beheben und andererseits das sogenannte „perfekte Zweikammersystem“ ändern, in dem beide Kammern gleichen Einfluss auf die Gesetzgebung haben. Nach einhelliger Ansicht ist dieses System eigentlich nicht vertretbar. Nach der geplanten Reform der Regierung Berlusconi sollten die Mitglieder des Senats der Republik zeitgleich mit dem Regionalrat direkt von der regionalen Wählerschaft gewählt werden. Nach dem jüngeren Plan der Regierung Renzi sollte sich der Senat aus Mitgliedern der Regionalräte und aus von den Regionalräten gewählten Bürgermeistern zusammensetzen. Beide Reformen wurden jedoch im Volksentscheid abgelehnt. Bis heute wurde noch nicht einmal die im Verfassungsgesetz 3/2001 ausdrücklich vorgeschriebene und weniger einschneidende Reform umgesetzt, wonach die Regionen in das Verfahren der nationalen Gesetzgebungskammern eingebunden werden sollten. Der letzte Artikel dieses Gesetzes regelt, dass die Geschäftsordnungen der Abgeordnetenkammer und des Senats die Beteiligung von Vertretern der Regionen, der autonomen Provinzen und der subnationalen Gebietskörperschaften im parlamentarischen Ausschuss für Regionalfragen vorsehen sollen. Der derart ergänzte Ausschuss wäre befugt, eine Stellungnahme zu den Gesetzen abzugeben, welche der konkurrierenden Gesetzgebung unterliegen oder die Finanzautonomie betreffen; im Falle einer ablehnenden Stellungnahme könnte sich die parlamentarische Versammlung nur mit der absoluten Mehrheit ihrer Mitglieder darüber hinwegsetzen. In Ermangelung all dessen stützt sich die Koordinierung zwischen den staatlichen und den regionalen Regierungen in der Praxis auf das sogenannte System der Konferenzen. Zu diesem gehören die Ständige Konferenz für die Beziehungen zwischen dem Staat, den Regionen und den autonomen Provinzen Trient und Bozen

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(Staat-Regionen-Konferenz), die Konferenz Staat, Städte und lokale Autonomien (Staat-Städte-Konferenz), die beide Konferenzen umfassende Große Konferenz sowie die Konferenz der Regionalpräsidenten. Dieses System ist begrenzt, da die hiernach getroffenen Vereinbarungen nur die Ausführung der auf der ersten Stufe bereits erlassenen Gesetze und die Umsetzung bereits getroffener Entscheidungen betreffen, nicht jedoch die erste Stufe in Form der Gesetzgebung. Dennoch hat ein jüngeres Urteil des Verfassungsgerichtshofs, welches wenige Tage vor dem Volksentscheid über die geplante Verfassungsreform der Regierung Renzi erging, die Grundlage für eine Erweiterung der Staat-Regionen-Konferenz geschaffen. Im Urteil 251/2016 hat der Verfassungsgerichtshof entschieden, dass dann, wenn die Regierung im Auftrag des Parlaments Rechtsinstitute reformiert, die sowohl in die staatliche als auch in die regionale Zuständigkeit fallen, es der Einigung mit den Regionen und nicht bloß deren Stellungnahme bedarf. Die Einigung in der Konferenz muss vor der Verabschiedung der Gesetzesverordnung erzielt werden. Diese Rechtsprechung wurde mit dem Urteil 261/2017 bestätigt. 3. Die Verwaltungsautonomie Ein kurzer Blick sei der Verteilung der Verwaltungsaufgaben gewidmet. Dies­ bezüglich hat sich das Verfassungsgesetz 3/2001 von der vorher geregelten Parallelität der Aufgaben von Gesetzgeber und Verwaltung gelöst, als den Regionen die Verwaltungsaufgaben in eben jenen Bereichen zugewiesen waren, in denen ihnen die Verfassung auch die Gesetzgebungszuständigkeit übertragen hat. Nach dem neuen Art. 118 der ital. Verfassung liegen die Verwaltungsaufgaben nunmehr grundsätzlich bei den Gemeinden, „es sei denn, sie sind den Provinzen, den Metropolen, den Regionen oder dem Staat übertragen zwecks einheitlicher Ausführung nach den Grundsätzen der Subsidiarität, Differenzierung und Angemessenheit“. Angemerkt sei, dass bereits das parlamentarische Ermächtigungsgesetz 59/1997 und die darauf beruhenden Gesetzesverordnungen (unter anderem die Gesetzesverordnung 112/1998) eine kraftvolle Entwicklung zur Übertragung von Verwaltungsaufgaben an die subnationalen Gebietskörperschaften angestoßen hatten. Einer italienischen Tradition zufolge liegt die Gesetzgebung in grundsätzlichen Fragen der politischen Ordnung (zumindest im Hinblick auf das Wahlrecht, die Regierungsorgane und die wesentlichen Aufgaben) gemäß Art. 117 Abs. 2 lit. (p) der Verfassung in der ausschließlichen Zuständigkeit des Staates. Der einschlägigen staatlichen Gesetzgebung ist es nach 2001 aber nicht gelungen, die eigenen Aufgaben der subnationalen Gebietskörperschaften mit hinreichender Klarheit zu bestimmen. Erwähnt sei insoweit etwa der Art. 7.1 des Gesetzes 131/2003, demzufolge der Staat und die Regionen verpflichtet sind, die von ihnen ausgeübten Verwaltungsaufgaben auf die Provinzen, Metropolen, Regionen und den Staat zu verteilen. Die Übertragung muss auf Grundlage der Prinzipien der Subsidiarität, Differenzierung und Angemessenheit erfolgen. Sie muss sich allerdings auf „jene

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Aufgaben [beschränken], die zur Gewährleistung des Erfolgs, der Effizienz oder der Wirksamkeit der Verwaltungsmaßnahmen oder aus funktionalen oder wirtschaftlichen Gründen oder aufgrund von Planungserfordernissen oder der territorialen Homogenität wegen einheitlich ausgeübt werden müssen“. „Alle nicht anderweitig zugewiesenen Verwaltungsaufgaben“, so schließt die zitierte Bestimmung, „obliegen den Gemeinden“. Es wird deutlich, dass die Bestimmung Raum für eigene Maßnahmen des Gesetzgebers eröffnet, wenn auch nur implizit (Art. 2.1). Die Regierung jedenfalls hat den in Art. 2.1 enthaltenen Auftrag nicht erfüllt, wonach sie die Aufgaben hätte benennen müssen, welche gemäß der Definition desselben Artikels notwendig sind, um die Funktionstüchtigkeit der Gemeinden, Provinzen und Metropolen sowie die Erfüllung von Grundbedürfnissen der betreffenden Gemeinschaften sicherzustellen. Die anschließenden Versuche einer organischen Zuweisung von Verwaltungsaufgaben liefen ins Leere. Nur im Gesetz 42/2009 über den Föderalismus in Finanzfragen wurden als Übergangslösung und zum Zweck der Umsetzung des Art. 119 der ital. Verfassung die grundlegenden Aufgaben der subnationalen Gebietskörperschaften konkretisiert.

4. Die Finanzautonomie Ein weiterer wichtiger Aspekt der Verfassungsreform des Jahres 2001 ist die Finanzautonomie der Regionen und der subnationalen Gebietskörperschaften. Unter Anwendung des Art. 114 weist Art. 119 der ital. Verfassung den Regionen die folgenden Einnahmequellen zu: eigene Steuern, Beteiligung an anderen Steuern und Anteile des Ausgleichsfonds. Die konkrete Bestimmung dieser Einnahmequellen unterliegt einerseits der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Staates („Steuer- und Rechnungslegungssystem“ und „Finanzausgleich der öffentlichen Haushalte“) und andererseits der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz von Staat und Regionen („Koordinierung der öffentlichen Finanzen“). Im Wesentlichen ist es also der Staat, der das italienische Steuersystem regelt. Unmittelbar nach dem Inkrafttreten der Reform wurden die konkreten Gesetzgebungszuständigkeiten der Regionen debattiert. Tatsächlich sind diese sehr begrenzt. Hinzu kommen die Auswirkungen der schwerwiegenden Wirtschaftsund Finanzkrise der letzten Jahre, die den Hoffnungen der Regionen auf echte Besteuerungsbefugnisse ein endgültiges Ende bereitet haben. Der Staat hat seine Zuständigkeit für die „Koordinierung der öffentlichen Finanzen“ letztlich dazu genutzt, um Gesetzgebungskompetenzen schrittweise zu zentralisieren. Diese Zentralisierungsbestrebungen des Staates hat der Verfassungsgerichtshof gestützt und beispielsweise die folgenden Regelungen gebilligt: Obergrenzen für die Vergütung sämtlicher Angestellten der Regionen und subnationalen Gebietskörper-

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schaften;3 Einstellungsverbote zulasten der Regionen4 und neue Formen der Kontrolle durch den Rechnungshof aufgrund von Verpflichtungen im Rahmen der Zugehörigkeit zur Europäischen Union.5 Der Verfassungsgerichtshof hat darüber hinaus eine horizontale und vertikale Erweiterung des Kompetenzbereichs „Koor­ dinierung der öffentlichen Finanzen“ vorgenommen: In der Horizontalen hat er deren funktionalen Charakter anerkannt6 und in der Vertikalen die Anwendbarkeit der Grundsätze der Koordinierung der öffentlichen Finanzen auch im Verhältnis zu den Regionen mit Sonderstatut festgestellt.7 Sehr großzügig hat der Verfassungsgerichtshof anschließend den Unterschied zwischen Grundprinzip und Detail verstanden und entschieden, dass im Finanzbereich auch sehr spezifische Bestimmungen als solche von prinzipieller Natur angesehen werden können.8 Dies rechtfertigt ausweislich der Vorläufigkeit9 der Bestimmungen und des nicht abschließenden Charakters der zur Zweckerreichung eingesetzten Mittel10 auch sehr tiefgreifende Maßnahmen. Zuletzt hat der Verfassungsgerichtshof die „Koordinierung der öffentlichen Finanzen“ mit weiterreichenden Prinzipien wie dem „Interesse an der Finanzverfassungsmäßigkeit der Gesetze“ und dem „Schutz der wirtschaftlichen Einheit der Republik“ verbunden, die er der mit Gesetz 1/2012 verwirklichten Verfassungsreform mit dem Ziel eines ausgeglichenen Haushalts entnommen hat.11

III. Die Regionen mit Sonderstatut nach den Verfassungsreformen von 1999 und 2001 Die italienische Verfassung unterschied und unterscheidet noch immer zwischen Regionen mit Sonderstatut gemäß Art. 116 und Regionen mit Normalstatut gemäß Art. 123. Der Unterschied ist tiefgreifend und betrifft die rechtliche Gültigkeit des Statuts selbst, das Verfahren für dessen Aufstellung und seine rechtlichen Grenzen. Gerade die Statute derjenigen Regionen, welche definitionsgemäß größere Autonomie benötigen, werden durch Verfassungsgesetz verabschiedet, also durch ein vom nationalen Parlament in einem erschwerten Verfahren anzunehmendes Gesetz, mithin durch eine Maßnahme des Staates und nicht der Region.

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Urteile 215/2012; 61/2014. Urteil 27/2014. 5 Urteil 39/2014. 6 Urteile 36/2004; 390/2004; 414/2004. 7 Aus der Vielzahl von Urteilen des Verfassungsgerichtshofs vgl. 169/2007; 120/2008; 229/2011; 3/2013; 39/2014; 72/2014; 127/2014; 175/2014. 8 Urteil 430/2007. 9 Urteil 141/2016. 10 Vgl. statt vieler das Urteil 169/2007. 11 Vgl. in diesem Sinne die Urteile 39/2014 und 88/2014. 4

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Nicht vernachlässigt werden dürfen die konkreten historischen Umstände, unter denen einige Sonderstatute verabschiedet wurden. Vor allem die Verfassungsgesetze 2/1948 und 5/1948, mit denen die Sonderstatute für Sizilien und TrentinoSüdtirol erlassen wurden, beschränkten sich jeweils auf die unveränderte Annahme vorhandener Regelungen, im ersten Fall eines Statuts, welches sich die politischen und gesellschaftlichen Kräfte Siziliens bereits zwei Jahre zuvor gegeben hatten, und im zweiten Fall inhaltlich durch ein italienisch-österreichisches Übereinkommen geprägt, welches 1946 in Paris zwischen De Gasperi und Gruber geschlossen worden war und auf den umfassenden Schutz der beträchtlichen deutschsprachigen Minderheit abzielte. Da beide Sonderstatute durch Verfassungsgesetz verabschiedet wurden, also kraft eines Gesetzes, das auf gleicher Rangstufe mit der Verfassung steht, können diese Statute auch Regelungen enthalten, die anderenfalls nicht mit der Verfassung vereinbar wären und dementsprechend für nichtig erklärt werden müssten. Um die Neuerungen des Verfassungsgesetzes 1/1999 auch auf die Regionen mit Sonderstatut auszuweiten, wurde das Verfassungsgesetz 2/2001 erlassen (mit der entsprechenden Bezeichnung „Bestimmungen zur Direktwahl der Präsidenten der Regionen mit Sonderstatut und der autonomen Provinzen Trient und Bozen“). Dieses Gesetz erkennt den Regionen mit Sonderstatut die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz hinsichtlich der Regierungsform zu, wobei für jede Region ein entsprechendes Verfahren zur Annahme dieses Gesetzes vorgesehen ist. Mit der Annahme sind die einzelnen Regionalgesetze dann hinreichende Rechtsgrundlage zur Ersetzung der Bestimmungen der Sonderstatute über die Regierungsform (Wahlverfahren für den Regionalpräsidenten, Ernennung und Abberufung der Minister, parlamentarische Inkompatibilität und die verfassungsrechtlich nicht vorgesehene Wahl der Regionalräte sowie der Minister). Im Hinblick auf die Auswirkungen der Reform von 2001 auf die Gesetzgebungskompetenzen der Regionen mit Sonderstatut ist der Ausgangspunkt der Status quo ante. Bekanntlich sind die den Regionen mit Sonderstatut zugewiesenen Gesetzgebungszuständigkeiten, abseits einzelner Unterschiede, unterteilt in eigene Primärzuständigkeiten, konkurrierende Kompetenzen (welche nur im Aostatal fehlen) sowie ergänzende Zuständigkeiten. Zu dieser Dreiteilung gesellt sich die im Verfassungsgesetz 2/1993 allen Regionen mit Sonderstatut verliehene konkrete Zuständigkeit zur Ordnung der Verhältnisse der untergeordneten Gebietskörperschaften. Die Verfassungsreform von 2001 hat durch die Zuerkennung größerer Autonomie an die Regionen mit Normalstatut ein Ungleichgewicht geschaffen und das vorherige Verhältnis in den Beziehungen zwischen den Regionen mit Normalstatut und jenen mit Sonderstatut in der Tendenz umgekehrt. Aufgrund der Verfassungsreform verfügen die Regionen mit Normalstatut mit anderen Worten in vielen Bereichen über größere Autonomie als sie in den Sonderstatuten der anderen Regionen vorgesehen sind.

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Um diesem Zustand abzuhelfen, sieht Art. 10 des Verfassungsgesetzes 3/2001 vor, dass „bis zur Anpassung der betreffenden Statute“ (sprich übergangsweise) die Bestimmungen des Verfassungsgesetzes 3/2001 „auch auf die Regionen mit Sonderstatut und auf die autonomen Provinzen Trient und Bozen Anwendung finden, soweit sie weiterreichende Autonomierechte als die bereits zugewiesenen gewähren“. Art. 10 statuiert also ein Günstigkeitsprinzip, kraft dessen diejenige Norm Anwendung findet, welche der Gebietskörperschaft mit Sonderstatut die weitestgehende Autonomie gewährt.

IV. Verfassungsgerichtshof und nationales Parlament Der Verfassungsgerichtshof hat nicht nur im oben untersuchten Bereich der Finanzbeziehungen eine zentrale Rolle gespielt. Infolge der durch die Verfassungsgesetze 1/1999 und 3/2001 eingeleiteten Verfassungsreformen wurden die Beziehungen zwischen Staat und Regionen stark von der Verfassungsrechtsprechung beeinflusst. Von 1999/2001 bis zum heutigen Tag gibt es mit Blick auf das aktuelle italienische Regionalrecht keinen Bereich, in welchem die Urteile des Verfassungsgerichtshofs dem nationalen Gesetzgeber nicht die Richtung gewiesen hätten. Diese gewissermaßen als Geburtshilfe anzusehende Rechtsprechung erreichte ihren Höhepunkt in der Auslegung der in Art. 117 Abs. 2 bis 4 der ital. Verfassung aufgelisteten Kompetenzbereiche. Um es an dieser Stelle klar zu sagen, ist all das ein sehr negatives Zeichen für den Zustand des italienischen Regionalismus, denn in einem dezentralisierten Staat kann der Verfassungsgerichtshof sicher nicht das Zünglein an der Waage sein, um das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie zu bestimmen. Diese Abweichung vom Sollzustand wurde vom Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs „offiziell“ bestätigt, wenn er den Gerichtshof „ungefragt und ungewünscht“ in die Rolle eines Ersatzgesetzgebers gedrängt sieht.12 Nun gibt es verschiedene Gründe dafür, dass dem Verfassungsgerichtshof nach 2001 eine derart zentrale Rolle bei der Gestaltung des italienischen Regionalrechts zugewachsen ist. Diese reichen von der unzureichenden Qualität des reformierten Verfassungstextes über fehlende Übergangsvorschriften, die langsame und mangelhafte Umsetzung der Verfassungsreformen bis hin zu dem starken politischen Gegenwind, den sie nach ihrer Verabschiedung in der Folgezeit erlebt haben. Einfluss hierauf hatte auch die Wirtschafts- und Finanzkrise, die eine fortschreitende Zentralisierung und infolgedessen eine Neuordnung der Beziehungen von Staat und Regionen verursachte. Diese Vielzahl von Gründen, von denen jeder eine gültige Erklärung liefert, kann vielleicht folgendermaßen zusammengefasst werden: Die zentrale Rolle des 12

Pressekonferenz vom 2.4.2004.

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Verfassungsgerichtshofs bei der Gestaltung der Beziehungen zwischen Staat und Regionen beruht einerseits auf der Einseitigkeit und Unvollständigkeit der Verfassungsreformen aus den Jahren 1999 und 2001 sowie andererseits auf dem fehlenden Willen des institutionellen Umfelds, die beschlossenen Reformen umzusetzen. Die Bedeutung der Verfassungsrechtsprechung wird auch in der Anzahl an Entscheidungen deutlich, die infolge der Verfassungsreformen (1999/2001) ergangen sind.13 Sie verpflichten zwar in hohem Maße zur Gewährung regionaler Autonomie und sind ohne Zweifel die bedeutendsten seit dem Inkrafttreten der Verfassung im Jahr 1948. Doch steht hinter den Reformen keine institutionelle Strategie, welche die politischen Ziele konkretisieren und ihnen Nachhaltigkeit verleihen. Gewiss hat sich der Gesetzgeber jener Jahre bemüht, den Regionen möglichst viele autonome Rechte zu gewähren, aber die nachfolgenden Umsetzungsmaßnahmen blieben unzureichend und die Aufgabe, die notwendigen Gegengewichte zur Ausbalancierung der geänderten Autonomiebestimmungen zu schaffen, wurde übergangen bzw. wissentlich vernachlässigt. Im Hinblick auf die Umsetzungsverfahren muss man sich, wie oben ausgeführt, nur die fehlende zweite Kammer zur Vertretung der Regionen oder das unterlassene Ins-Werk-Setzen des sie ergänzenden parlamentarischen Ausschusses für Regionalfragen vor Augen führen. Dieser Ausschuss war nach Maßgabe des Art. 11 des Verfassungsgesetzes 3/2001 einzurichten. In ihrer Umsetzung hätten beide Maßnahmen starke politische Akteure schaffen können, die wiederum die auf dem Rücken des Verfassungsgerichtshofs ausgetragenen Auseinandersetzungen zwischen Staat und Regionen hätten abfedern oder sogar ganz vermeiden können. Von ebenso grundlegender Bedeutung für ein ausbalanciertes Funktionieren des italienischen Regionalismus wäre eine sofortige oder zumindest schnelle Umsetzung des neuen Art. 119 der Verfassung in Sachen Finanzautonomie gewesen. Bekanntlich hat der Gesetzgeber erst im Jahr 2009 das Ermächtigungsgesetz 42 verabschiedet, dessen Umsetzung aber im Wesentlichen stockt. Auf das Fehlen dieser beiden zentralen Elemente der Staatsorganisation hat der Verfassungsgerichtshof vor allem in den beiden Jahren deutlich hingewiesen, die auf die Reform von 2001 folgten. Das Fehlen einer echten Finanzautonomie der Regionen hat sich auch auf die Verteilung der Gesetzgebungsbefugnisse ausgewirkt, jedenfalls nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofs, der eine möglichst enge Abstimmung des Finanzsystems mit der Aufgabenverteilung für notwendig hält. Auf diese Weise sollen die Aufgabenerfüllung nebst den finanziellen Lasten auf der einen und die verfügbaren Finanzmittel bzw. das zugewiesene Steueraufkommen oder die sons-

13 Seit 2004 hält sich die Anzahl an Entscheidungen des Gerichtshofs zu den Beziehungen zwischen Staat und Regionen auf dauerhaft hohem Niveau mit durchschnittlich knapp 100 Entscheidungen und Spitzenwerten von 140 Entscheidungen pro Jahr zwischen 2010 und 2013. Im Jahr 2007 waren die wenigsten Entscheidungen zu den Beziehungen von Staat und Regionen zu verzeichnen, nämlich (nur!) 72.

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tigen Finanzierungsmechanismen auf der anderen Seite miteinander in Einklang gebracht werden.14 Zuletzt fehlte es auch am Erlass neuer Rahmengesetze oder wenigstens einer ernsthaften Benennung von inhaltlichen Grundprinzipien, wie dies von Art. 1 des Gesetzes 131/2003 gefordert wird.15 Der neue Art. 114 der ital. Verfassung zementiert die tendenzielle Gleichstellung sämtlicher Gebietskörperschaften der Republik. Für den zur Wahrung der allen Ebenen gemeinsamen Bedürfnisse und Interessen berufenen Staat hätte es als Gegengewicht angemessener Instrumente bedurft, um die Zentrifugalkräfte bestimmter regionaler Gesetze nach 2001 ausgleichen zu können. Auch mit diesem Problem musste sich der Verfassungsgerichtshof beschäftigen und löste es durch einen kreativen Rückgriff auf den Grundsatz der Subsidiarität, der es dem Staat erlaubt, die Gesetzgebung auch in Angelegenheiten regionaler Zuständigkeit an sich zu ziehen.16 Im Grunde hat die nach dem Jahr 2001 zunehmend geforderte Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs ein Ausmaß angenommen, das wenige Jahre zuvor noch undenkbar gewesen wäre.

V. Der (gescheiterte) Reformversuch von 2014–2016 Ich komme zur Analyse des letzten Versuchs des italienischen Gesetzgebers, eine Verfassungsreform im Bereich der italienischen Staatsorganisation auf den Weg zu bringen. Es geht namentlich um die von der Regierung Renzi (2014–2016) angestrebte Reform, mittels eines Verfassungsgesetzes die „Bestimmungen zur Überwindung des perfekten Zweikammersystems, Herabsetzung der Anzahl der Abgeordneten, Eindämmung der Kosten für den Betrieb der Institutionen, Abschaffung des Rats für Wirtschaft und Arbeit (CNEL) sowie zur Reform von Teil II Titel V der Verfassung“ in Kraft zu setzen.17 Als letzter Versuch innerhalb einer

14 So der Verfassungsgerichtshof im Urteil 97/2013 im Anschluss an die Urteile 138/1999 und 241/2012. Nebenbei bemerkt, erlaubt das fehlende Finanzierungssystem dem Staat die Abschaffung von Steuern, deren Erträge den Regionen zugewiesen sind, wodurch den Regionen weniger Mittel zur Verfügung stehen, auch jenen mit Sonderstatut. 15 Seltene Ausnahmen sind zum Beispiel die Gesetzesvertretende Verordnung (Decreto legislativo) 30/2006 zum Berufswesen und die Gesetzesvertretende Verordnung (Decreto legislativo) 171/2006 hinsichtlich der Sparkassen. 16 Grundlegend ist insoweit das Urteil 303/2003. 17 Das mit absoluter Mehrheit verabschiedete Gesetz wurde im italienischen Amtsblatt (G. U. R. I. = Gazzetta Ufficiale della Repubblica Italiana)  88 vom 15.4.2016 veröffentlicht und dem Volksentscheid vom 4.12.2016 unterzogen. Der Volksentscheid fiel gegen das Gesetz aus.

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langen Reihe von Reformbemühungen bewegte sich dieser Vorschlag in einem Kontext, der weit über Italien hinausgeht.18 Im Laufe des Jahres 2013 haben die vom damaligen Staatspräsidenten G ­ iorgio Napolitano ernannten Arbeitsgruppen für institutionelle Reformen und der vom seinerzeitigen Ministerpräsidenten Enrico Letta eingerichtete Ausschuss zur Reform der Verfassung betont, dass die Notwendigkeit einer solchen Reform nicht nur aus rein nationalen Erwägungen erwächst, sondern sich auch wegen der Einflüsse der europäischen und sogar der globalen Ebene als notwendig erweist. Hinzu kommt der berühmte und, um es nicht noch deutlicher zu sagen, vertragsverletzende Brief des Präsidenten und Vizepräsidenten der EZB vom August 2011 an die Regierung Berlusconi. Zu erwähnen ist aber auch der gesamte europäische Prozess im Rahmen der Reform der Haushaltsführung („Fiskalpakt“) und die entsprechende italienische Verfassungsreform von 2012 sowie die Neuordnung der Provinzen und die Einrichtung der Metropolen durch das Gesetz 56/2014. All diese Ereignisse sind als Teil eines Prozesses zur Reform der Institutionen und der Verfassung anzusehen und können nicht allein im nationalen Kontext betrachtet werden. Mit anderen Worten, auch die Verfassungsreformen erschließen sich nur aus einer post-nationalen Perspektive. Die von der Regierung Renzi vorgelegte Reform sollte der langen Phase von Reformversuchen ein Ende setzen, die niemals bis zum Kern der Staatsorganisation vorgedrungen waren. Ich bin geneigt zu sagen, dass sie dennoch in einer Linie mit diesen Versuchen steht. Bei näherer Betrachtung ist nicht zu übersehen, dass sämtliche hier genannten Reformpläne zur Änderung des „perfekten Zweikammersystems“ demselben roten Faden folgten, der sich in den folgenden Erwägungen stark verkürzt zusammenfassen lässt. Das erste gemeinsame Element aller genannten Pläne liegt in ihrer Ausrichtung auf eine indirekte Wahl der Senatoren, wobei zwei Varianten möglich sind: entweder ein vollständig aus indirekt gewählten Mitgliedern zusammengesetzter Senat oder eine Ergänzung des bestehenden Senates durch Vertreter der Gebietskörperschaften in gesonderten Sitzungen. Eine Ausnahme bildet insoweit allein der Reformplan der Regierung Berlusconi aus den Jahren 2005–2006, der eine Direktwahl der Senatoren vorsah; dieser Plan Berlusconis erhielt letztlich die Zustimmung beider Kammern. Das zweite gemeinsame Element aller genannten Pläne ist die Repräsentanz der substaatlichen Ebenen im Senat, durch Vertreter der Regionen und – in unter 18 Das Gesetz fügt sich insgesamt in die seit mindestens 1994 anhaltende lange Phase von Entwürfen und Vorschlägen zur Verfassungsreform ein. Im Jahr 1994 hatte der sogenannte Speroni-Ausschuss einen ersten Vorschlag für die Reform des Zweikammersystems unterbreitet und damit einen bis heute andauernden Prozess eingeleitet, welcher den D’Alema-Ausschuss im Jahr 1997, die Verfassungsreformen von 1999 und 2001, die „Gegenreform“ der Regierung Berlusconi in den Jahren 2005–2006 und den sogenannten Entwurf Violante von 2009 auslöste, ganz zu schweigen von den weiteren „Entwürfen“, „Entschlüssen“ und sonstigen fehlgeschlagenen Reformversuchen.

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schiedlicher Weise – auch durch Vertreter der anderen Gebietskörperschaften. Die Reform Renzi, die mit Volksentscheid vom 4. Dezember 2016 abgelehnt wurde, setzte diese in zweierlei Hinsicht gemeinsame Linie fort. Auch hier waren die indirekte Wahl und die Einbindung von Bürgermeistern und Regionalräten in den Senat zentrale Punkte. Anders und aus meiner Sicht differenzierter ist das Reformprojekt von Renzi im Hinblick auf die Beziehung von Staat und Regionen zu beurteilen. Die Reform stand im Einklang mit der angestrebten Zentralisierung von Zuständigkeiten, die der nationale Gesetzgeber mit Unterstützung des Verfassungsgerichtshofs in den letzten zehn Jahren umgesetzt hat. Ohne jeden Zweifel ist diese Verschiebung von Gesetzgebungskompetenzen hin zum Staat sehr umfangreich. Dies müsste aber – anders als während der Reformkampagne oftmals behauptet – nicht notwendigerweise zur Verminderung der regionalen Autonomie führen. Die Reform hätte vielmehr Gelegenheit für eine doppelte Neugestaltung der Regionen bieten können: einerseits durch die Neubelebung der regionalen politischen Klasse, die im Parlament zu den großen nationalen Fragen Stellung nimmt, und andererseits durch eine Überarbeitung des Modells der Regionen, das ihre Zuständigkeit eher auf die Ausführung von Gesetzen als auf die Gesetzgebung selbst fokussiert. Unabhängig von den vorgenannten fachlichen Aspekten der Beziehung von Staat und Regionen muss, meiner Ansicht nach, auch auf ein im Grunde institutionelles Problem hingewiesen werden. Während der gesamten Reformdebatte sind die Regionen als Akteure passiv geblieben und haben den Reformeifer widerstandslos und ohne substanzielle Gegenvorschläge erduldet. In den nächsten Jahren wird letztlich der Eindruck haften bleiben, dass die Regionen hinsichtlich ihres eigenen politischen Schicksals höchst unentschlossen waren.

VI. Die jüngsten Entwicklungen: Hin zu einem differenzierten Regionalismus? Nach dem Scheitern der Reform begann die Phase differenzierter Autonomie. Im Jahr 2001 wurde Art. 116 der ital. Verfassung geändert. Dessen dritter Absatz erlaubt es, den Regionen mit Normalstatut in einem komplexen Verfahren weitergehende Autonomierechte zu gewähren.19 Die Angelegenheiten, die Gegenstand solcher weitergehenden autonomen Kompetenzen sein können, betreffen im We 19 Art. 116 Abs. 3 der ital. Verfassung lautet: „Auf Initiative der daran interessierten Region können, nach Anhören der örtlichen Körperschaften und unter Wahrung der Grundsätze laut Art. 119, den anderen Regionen mit Staatsgesetz weitere Formen und besondere Arten der Autonomie zuerkannt werden; dies gilt für die Sachgebiete gemäß Art. 117 Abs. 3 und Abs. 2 desselben Artikels unter Buchst. l), beschränkt auf die Friedensgerichtsbarkeit, und Buchst. n) und s). Das entsprechende Gesetz wird von beiden Kammern mit absoluter Stimmenmehrheit ihrer Mitglieder auf der Grundlage des Einvernehmens zwischen Staat und entsprechender Region genehmigt.“

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sentlichen sämtliche Angelegenheiten, die der konkurrierenden Gesetzgebung unterfallen, sowie eine begrenzte Reihe von Angelegenheiten, die die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Staates betreffen (Ausgestaltung der Friedensgerichtsbarkeit, allgemeine Vorschriften zu Bildung und zum Schutz von Umwelt, Ökosystemen und Kulturgütern). Am Ende der XVII. Legislaturperiode (also am Ende des Jahres 2017) hat die Regierung die Verhandlungen mit den Regionen Emilia-Romagna, Lombardei und Venetien aufgenommen. Diese haben am 28. Februar 2018 zur Unterzeichnung von drei verschiedenen und vorläufigen Vereinbarungen geführt, in welchen die Beteiligten ihren Konsens hinsichtlich der allgemeinen Grundsätze erklärt und eine Liste konkreter Angelegenheiten vereinbart haben, über die verhandelt werden soll, um zu einem endgültigen Einvernehmen zu gelangen. Im Wesentlichen betrifft die Einigung in allen drei vorläufigen Abkommen die folgenden Angelegenheiten: Schutz der Umwelt und der Ökosysteme; Schutz der Gesundheit; Bildung; Schutz der Arbeit; internationale Beziehungen und Beziehungen zur Europäischen Union. In der XVIII. Legislaturperiode, die mit den Wahlen im März 2018 begonnen hat und noch andauert, wurde dieses Verfahren fortgeführt, auch kraft der ausdrücklichen Vorgabe im Programm der ersten Regierung Conte (bestehend aus der 5-Sterne-Bewegung und der Lega Nord), einen differenzierten Regionalismus zu verwirklichen. Die Anträge der Regionen haben sich in dieser zweiten Phase beträchtlich vermehrt: Die der Lombardei und Venetiens beziehen sich auf praktisch sämtliche Angelegenheiten der konkurrierenden Gesetzgebung sowie auf drei Angelegenheiten im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebung des Staates (insgesamt 23 Angelegenheiten im Fall Venetiens und 20 im Fall der Lombardei). Die Emilia-Romagna hat einen Antrag zu 16 Angelegenheiten gestellt. Auch andere Regionen (Piemont, Ligurien, Toskana, Umbrien, Marken und Kampanien) haben zwischenzeitlich erklärt, den Weg hin zur Stärkung ihrer autonomen Rechte beschreiten zu wollen. Im Februar 2019 wurden die Texte der Entwürfe, die mit den drei Regionen vereinbart wurden, auf der Webseite der dem Ministerrat unterstehenden Abteilung für regionale Angelegenheiten veröffentlicht, wobei der jeweilige Text zwischen der Regierung und der betroffenen Region abgestimmt und auf den allgemeinen Teil beschränkt wurde. Die zu übertragenden Angelegenheiten sind also in diesem publizierten Dokument nicht aufgelistet. Die Vorstellungen der drei Regionen sind bei einem Teil der gegenwärtigen Regierung (nämlich der 5-Sterne-Bewegung) und bei der in institutionellen Fragen aufmerksameren süditalienischen Öffentlichkeit auf starken Widerstand gestoßen. Die Entwürfe weisen nicht nur einen allzu weit gefassten Katalog von Angelegenheiten auf, die in die regionale Zuständigkeit übergehen sollen (etwa Umwelt, Bildung, Infrastruktur, Gesundheit), sondern auch deutliche Mängel im Hinblick auf die Finanzierung der den Regionen zu übertragenden Aufgaben. Abseits dieser konkreten Probleme erscheint es angebracht, einige Fragen zur Bedeutung dieser jüngeren Entwicklungen in den Beziehungen zwischen Staat

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und Regionen aufzuwerfen, und zwar unter Rückgriff auf die Erfahrung, welche andere mehrgliedrige Staatsordnungen bei der Bewältigung von Asymmetrien bereits gemacht haben. Bei genauer Betrachtung betreffen solche Asymmetrien die Sozialordnung einer föderal oder regionalistisch organisierten Gemeinschaft noch vor deren Verfassungsordnung. Die Asymmetrien finden hinsichtlich bestimmter Merkmale einen Ausdruck im Verfassungsrecht, vor allem im Fall der Existenz von Nationalitäten oder Ethnien. Als Merkmale sind in diesem Zusammenhang geografische (Isolierung vom Rest des Staatsgebiets) oder demografische Besonderheiten (staatliche Untereinheiten mit zu hoher oder zu geringer Bevölkerung im Verhältnis zu den restlichen Untereinheiten) oder der Wille hervorzuheben, einen existierenden Staat in weitere Untereinheiten zu gliedern. Es sind also sehr starke Kräfte, welche zu diesen Asymmetrien führen. Im Falle Italiens sind diese Merkmale jedoch nicht vorhanden, so dass sich die Frage hier anders stellt. Art. 116 Abs. 3 der ital. Verfassung, der das Verfahren zur Übernahme weiterer Kompetenzen durch die Regionen regelt, steht in engem Zusammenhang mit den ungelösten Problemen der Einheit Italiens und dem historisch bedingten wirtschaftlichen Ungleichgewicht zwischen Nord- und Süditalien. Dieses Ungleichgewicht wurde niemals wirklich angegangen und ist dadurch zu einem strukturellen Problem geworden, weshalb sich die treibende wirtschaftliche Kraft vor allem in einigen norditalienischen Regionen konzentriert. Die Zuerkennung einer größeren Autonomie zugunsten dieser Regionen würde es ihnen erlauben, die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen besser einzusetzen. Im Übrigen waren die Forderungen nach territorialer Autonomie und dementsprechend auch die Reaktionen der Politik und der Parteien hierauf bislang stets einheitlich und gleichlautend, so dass die verschiedenen Forderungen der genannten drei Regionen bei der politischen Klasse und in der Öffentlichkeit nunmehr zu Verunsicherungen führen. Mit Blick allein auf die letzten Jahre ist festzustellen, dass die Politik von einem Reformvorschlag mit starker Tendenz zur Zentralisierung und auf einer symmetrischen Grundlage aufbauend20 zu einer direkten Begünstigung stark asymmetrischer Kräfte übergegangen ist. Es scheint also eine Verbindung zwischen den gescheiterten Versuchen zur Reform des Zweikammersystems und des Teils II Titel V der Verfassung einerseits und den Anträgen nach Art. 116 Abs. 3 der Verfassung andererseits zu geben. So konfus sie auch sein mögen, basierten die Reform­ versuche doch allesamt auf einer grundlegenden Idee: Eine schwerpunktmäßig auf den Regionen mit Normalstatut und ihrer inhaltlichen und formalen Homogenität beruhende Philosophie des Regionalismus sollte hiernach in die zentralstaatlichen Institutionen hineingetragen werden.

20 Gemeint ist hier das Vorhaben der Regierung Renzi, das durch Volksentscheid im Jahr 2016 abgelehnt wurde.

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Festzuhalten ist die zwiespältige Reaktion des politischen Betriebs auf die Frage der Autonomie und das Schwanken zwischen politischen Phasen, die den Autonomiebestrebungen wohlwollend gegenüberstehen, und dem abrupten Umschwung des politischen Systems in genau die entgegengesetzte Richtung. All dies darf bei der Bewertung der Forderungen zur Aktivierung des Art. 116 Abs. 3 der ital. Verfassung nicht außer Acht gelassen werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die endgültige Festschreibung derart asymmetrische Regelungen, wie sie im Laufe des Jahres 2019 verhandelt wurden, das ohnehin bestehende wirtschaftliche und soziale Ungleichgewicht innerhalb Italiens noch weiter verschärfen würde – mit möglichen Auswirkungen auch auf den Grundsatz der Einheit des Staates und den wichtigen Grundsatz der regionalen Gleichheit. Die These, die davon ausgeht, dass ein größerer Wettbewerb zwischen den Regionen das gesamte System der Autonomien verbessern könnte, mag unter dem Aspekt der Effizienz von Verwaltung und Wirtschaft ihre Berechtigung haben, aber nur dort, wo sie sehr präzise und für genau bestimmte Bereiche umgesetzt wird.

VII. Was bleibt vom italienischen Regionalismus? Der Volksentscheid vom Dezember 2016 zur Bestätigung der von der Regierung Renzi beabsichtigten Verfassungsreform hat insgesamt die Grenzen eines Vorhabens deutlich gemacht, das in den Kammern zuvor lediglich eine absolute Mehrheit erhalten hatte. Ich habe bereits eine Vielzahl der seit 1994 bis heute wechselnden Reformpläne genannt. Betrachtet man sie aus einer verfahrenstechnischen Perspektive, so stellt sich heraus, dass die zugrunde liegenden Verfassungsgesetze den Art. 138 der ital. Verfassung dreimal ändern wollten. 1993 wurde dieser Vorschlag vom sog. De Mita-Iotti-Ausschuss, 1997 vom sog. D’Alema-Ausschuss und zuletzt (2013) im Rahmen des von der Regierung Letta unternommenen Reformvorhabens gemacht. In keinem dieser Fälle wurde die geplante Verfassungsreform erfolgreich umgesetzt. Hinzu kommt, dass in drei Fällen, nämlich in den Jahren 2001, 2006 und 2016, das Reformvorhaben zwar im Parlament mit absoluter Mehrheit verabschiedet wurde, im anschließenden Volksentscheid aber in zwei Fällen bei der Wählerschaft durchfiel. Allein im Jahr 2001 war das Vorhaben erfolgreich, allerdings beteiligten sich am damaligen Volksentscheid nur 33,9 % der Wahlberechtigten. Eine grundlegende Erkenntnis ist demnach, dass der Verfassungsgesetzgeber seine vorherige Selbstbeschränkung auf Verfassungsreformen, die einer Zweidrittelmehrheit seiner Mitglieder bedürfen, nach den Umbrüchen, die sich zu Beginn der neunziger Jahre auf der parteipolitischen Bühne vollzogen, aufgegeben hat. Der Ausgang der Volksentscheide macht einen zweiten wesentlichen Aspekt deutlich, nämlich die Krise des Parlaments, das angesichts des verlorenen Volks-

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entscheids unter allen staatlichen Akteuren die meiste Legitimation eingebüßt hat. Es ist, als ob die Souveränität des Parlaments und die Souveränität des Volkes mehrfach miteinander in Konflikt geraten wären, ohne dass eine Vermittlung zwischen den entgegengesetzten Positionen letztlich gelungen ist. Der Missbrauch, eine Verfassungsreform auf der Grundlage einer lediglich absoluten Mehrheit zu beschließen, hat schließlich auch nachteilige Rückwirkungen auf die Verfassung selbst und ihre normative Kraft. Verloren hat letztlich der italienische Regionalismus, der ganz sicher keine frontale Auseinandersetzung nötig hatte, sondern eine vorsichtige und konsensuale Instandsetzung.

Föderalismus, Autonomiestatus, Regionalismus Kommentar Dian Schefold

I. Unterschiedliche Ausgestaltungen des Mehrebenensystems Die im vorliegenden Band vereinten Tagungsbeiträge betreffen unter zahlreichen Aspekten das Mehrebenensystem der untersuchten Staaten. Das gilt schon für das Verhältnis der Europäischen Union zu den Mitgliedstaaten und die Einwirkungen des Europarechts auf die nationalen Verfassungen, sodann für die Entwicklungen im Mehrebenensystem, sowie schließlich die Finanzverfassung im Mehrebenensystem. In diesem Zusammenhang betrifft der folgende Kommentar das Verhältnis von Föderalismus, Autonomiestatus und Regionalismus. Das legt nahe, sich insofern auf Wesensmerkmale, Unterschiede und Entwicklungstendenzen dieser Formen des Mehrebenensystems zu konzentrieren, die in der Tat für alle drei untersuchten Verfassungssysteme von Bedeutung sind. Dabei zeigen freilich die drei Landesreferate die Eigenarten der Verfassungsordnungen in ihrer konkreten Besonderheit. Zusätzlich haben sich alle drei Ordnungen stark entwickelt und dabei möglicherweise auch ihren Charakter verändert. All dies steht einer begrifflich scharfen Systematisierung entgegen und spricht dafür, die Eigenständigkeit jedes dieser Systeme zu respektieren und als solche zur Kenntnis zu nehmen. Wenn Alessandro Pace seinem vor gut zwanzig Jahren erschienenen vergleichenden Tagungsband den Titel „Welcher der vielen Föderalismen?“1 gegeben hat, so drückt dies die unterschiedliche politische Kultur und deren unterschiedliche Entwicklung in allen untersuchten Staaten aus. Schon deshalb fragt sich, ob und wie weit die einzelnen Mehrebenensysteme begrifflich zu erfassen und voneinander zu unterscheiden sind. Föderalismus und Regionalismus erscheinen zwar als durch die historische Entwicklung legitimierte begriffliche Gegensätze (II).2 Realiter gibt es jedoch Übergänge und sind Ausgestaltungen möglich, die den unterschiedlichen politischen Kulturen Rechnung tragen (III). Das ermöglicht unterschiedliche Varianten eines Mehrebenensystems (IV). 1

Pace, Alessandro, Quale, dei tanti federalismi? Padova 1997. Dazu und zum Folgenden D’Atena, Antonio, Diritto regionale, 4. Aufl., Torino 2019, S. 1 ff., der – von italienischer Warte – aus gründlicher Kenntnis Spaniens und Deutschlands die begrifflichen Gegensätze herausarbeitet.

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II. Begriffliche Unterscheidung von Föderalismus und Regionalismus Der historisch begründete Gegensatz versteht den Föderalismus als Ergebnis des Zusammenschlusses vorbestehender unabhängiger Staaten, die sich, wie am Beispiel Deutschlands im Beitrag Krings dargelegt, zu einer Nation und zu einem Bundesstaat vereinen, aber ihre Eigenständigkeit, Eigenstaatlichkeit und namentlich Verfassungsautonomie behalten. Die dogmatische Deutung dieser Staatlichkeit auf zwei Ebenen wirft, wenn am Konzept des souveränen Staates festgehalten wird, kaum überzeugend lösbare, aber durch Theoriebildungen bearbeitete Probleme auf.3 Regionalismus entsteht dagegen durch Dezentralisierung eines einheitlichen, souveränen Staates, der den Regionen – wie kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften – Autonomie einräumt und damit eine zusätzliche Ebene öffentlicher Gewalt und demokratischer Strukturen schafft. Aus diesem Gegensatz werden Folgerungen abgeleitet, etwa: – Regionen sind keine Staaten, ihre Bevölkerung keine Nationen; – Regionen dürfen keine Verfassungen, sondern nur thematisch eng begrenzte oder durch Einigung mit der Zentralgewalt bestimmte Regionalstatute, daher auch keine Verfassungsgerichte haben; – der Zuständigkeitsbereich des Bundes ist auf die ihm durch die Verfassung ausdrücklich zugewiesenen Materien begrenzt und alle anderen Aufgaben bleiben den Gliedstaaten überlassen, während Regionen nur die ihnen zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen haben; – während Gliedstaaten an der Entscheidungsfindung im Bund beteiligt werden, vor allem bei Änderungen der Verfassung, sollen Regionen im zentralstaatlichen Entscheidungsprozess nicht mitwirken und sind auch zweite Kammern von Regionalstaaten auf Zentralebene nicht als Vertretungen der Regionen ausgestaltet; – aus Regionalismus kann kein Föderalismus entstehen, weil die Regionen, anders als Gliedstaaten eines Bundesstaats, keine ursprüngliche Eigenzuständigkeit und daher keine Residualkompetenzen (Art. 117 Abs. 4 ital. Verf.) haben; – Gliedstaaten sind in ihrem Bestand geschützt, meist auf Verfassungsstufe, während Regionen zur Disposition des Zentralstaats stehen.

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Klassisch die Auseinandersetzungen im deutschen Kaiserreich; dazu Preuß, Hugo, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, Berlin 1889; dazu Schefold, Dian, Einleitung, zu Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 2009, S. 1 (10 ff.). Zum heutigen Stand in Deutschland Hesse, Konrad, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Neudruck der 20. Aufl., Heidelberg 1996, S. 96 ff.

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III. Annäherungen und Übergänge Aber diese Entgegensetzung ist begriffsjuristisch, d. h. sie definiert die Begriffe so, dass mögliche Entwicklungen ausgeschlossen werden. Es scheint, dass diese Begriffsbildung auch die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte beeinflusst. Das trägt weder der Realität noch der historischen Entwicklung Rechnung. Beispiele: – Zunächst lassen sich föderalistische Ordnungen in einem bisher einheitlichen Staat schaffen. Neueres Beispiel dafür ist Belgien, aber auch der angelsächsische Rechtskreis (Indien, Kanada, Australien usw.) und Südamerika kennen Beispiele. Auch das Deutschland der NS-Zeit und der folgenden Besatzung war ein Einheitsstaat, bis die Länder gebildet wurden und sich gemäß den Frankfurter Dokumenten der Militärgouverneure zu einem Bundesstaat vereinen sollten. – Umgekehrt haben die Beiträge Aschmann und auch García Morales zur spanischen Entwicklung gezeigt, dass der Weg vom Einheitsstaat zum Regionalstaat zwar mehrfach – 1931 und 1978 – konstatiert werden konnte, dass sich aber seit dem 19. Jahrhundert zentralisierende und dezentralisierende Tendenzen, zentralistische, föderale und regionale Verfassungselemente abgelöst haben. – Auch der italienische Einheitsstaat des 19. Jahrhunderts ist zwar vom französischen Vorbild geprägt, hat sich aber gegen ausgesprochen föderalistische Bestrebungen durchsetzen müssen. Diese beeinflussen die neuere Regionalisierungsdiskussion, vor allem in den Regionen mit Spezialstatut und dem Versuch anderer Regionen zur Entwicklung in dieser Richtung. – Allerdings ist der Weg des föderalen Zusammenschlusses bisher unabhängiger Staaten oft, wenn nicht meist von gar nicht föderalen, sondern machtbestimmten Kräften geprägt. So annektierte Preußen 1867, ähnlich wie Piemont bei der italienischen Einigung, andere potentielle Bundesglieder; die preußische Hegemonie, von Heinrich Triepel als Grundlage des Föderalismus gepriesen,4 bestimmte das Bismarck-Reich. Für die Weimarer Verfassung war, gerade im Denken von Hugo Preuß, eine zentral zu organisierende Neugliederung5 essentiell. Die Föderierung ganz überwiegend künstlich zusammengefügter deutscher Länder 1948/49 beruhte auf der Besatzungsherrschaft und auf Zwängen gegenüber Bayern und dann Südbaden. 4 Triepel, Heinrich, Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten, Stuttgart 1938; dazu von Arnauld, Andreas, Heinrich Triepel, in: Häberle / K ilian / Wolff, Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, 2. Aufl., Berlin 2018, S. 165 (176 f.). 5 Zu deren Begründung Preuß, Hugo, Artikel 18 der Reichsverfassung. Seine Entstehung und Bedeutung, Berlin 1922, jetzt in: Preuß, Hugo, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Tübingen 2015, S. 297 f., 396 ff., der zwar in seinem ersten Verfassungsentwurf vom 3.1.1919, in: Gesammelte Schriften Bd. 3, S. 533 ff., § 11, „Dem deutschen Volke … ohne Rücksicht auf die bisherigen Landesgrenzen neue deutsche Freistaaten innerhalb des Reichs zu errichten“ gestatten wollte, im Lauf der Beratungen aber sich auf die weitgehend vom Reich bestimmte Neugliederungsprozedur nach Art. 18 WRV, dem Vorbild des heutigen Art. 29 GG, einlassen musste.

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– Auch die Regionen und autonomen Gemeinschaften in Italien und Spanien gehen großenteils auf vorbestandene Staaten zurück. Diese sind zwar vom Einheitsstaat absorbiert worden, beweisen aber ihre eigene Integrationskraft – bis hin zu sezessionistischen Bestrebungen, denen ein Bundesstaat wirksamer entgegentreten kann als ein Beharren auf souveräner Zentralstaatlichkeit.

IV. Folgerungen Schon bei der Begrenzung auf die für Deutschland, Italien und Spanien entwickelten Lösungen zeigt der Vergleich die großen Unterschiede der Ausgestaltung von Mehrebenensystemen und die Unmöglichkeit, diese nach den Begriffen von Föderalismus und Regionalismus zu klassifizieren. Vielmehr sind alle drei verglichenen Modelle von historischen Besonderheiten geprägt, vor allem von unterschiedlichen staatlichen Traditionen in Teilen der heutigen Zentralstaaten, denen die heutige Organisation in unterschiedlicher Weise Rechnung tragen muss und trägt. Hinzu kommt – neben dem Ziel eines einheitlichen Rechtsstaats- und Rechtsschutzkonzepts – der Bedarf nach ausgeglichenen, gleichwertigen Lebensverhältnissen, denen sich moderne soziale Rechtsstaaten nicht entziehen können. Deshalb tendiert jedes Mehrebenensystem zu Zentralisierung und stößt der eigene, autonome Zuständigkeitsbereich nicht nur der Regionen, sondern auch der Bundesglieder an tendenziell immer engere Grenzen. Es liegt nahe, dass daraus Konflikte entstehen, von der Abwehr finanzieller Ausgleichsversuche über künstliche und immer wieder durchbrochene Ausweitungen der Landeszuständigkeiten sowie über die Gewichtsverlagerungen auf periphere, mit der Zentralgewalt konkurrierende Zentren bis hin zu Sezessionsbestrebungen.6 Solche Konflikte geben Anlass, der Landes- und Regionalebene entgegenzukommen, soweit es mit den Erfordernissen gesamtstaatlicher Einheit und gleichwertiger Lebensverhältnisse vereinbar ist. Deshalb hat es seinen guten Sinn, dass das Land Bayern auch nach der Bildung der Bundesrepublik die Befugnis, sich als „Freistaat“ zu konstituieren und zu bezeichnen, behalten und nach der Wieder­ vereinigung insofern Sachsen und Thüringen als Vorbild gedient hat. Auch die Verfassungskultur der deutschen Länder, die in den Regionalstatuten der Autonomen Gemeinschaften Spaniens und der italienischen Regionen – vor allem mit Spezialstatut  – eine gewisse Parallele findet, liegt nicht nur in der praktischen Relevanz und belegt nicht nur ihre Eigenständigkeit, sondern auch die Kohärenz des Gesamtstaats. Ähnliche Bedeutung hat die italienische Verfassungsreform von 2001 für das Selbstverständnis der verschiedenen Ebenen entfaltet.7 6

Dass diese auch in Deutschland auftreten können, zeigt der – allerdings lakonische – Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16.12.2016 – 2 BvR 349/16. 7 Insofern ist namentlich die Formulierung des Art. 114 der Verfassung von Bedeutung, freilich durch die Abwertung der Provinzen relativiert.

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Diesem Bild widerspricht es allerdings, wenn die Zentralregierungen die Kontrolle über die Regionalstatute ausweiten. Dabei geht es weniger um konkrete Normkonflikte mit der zentralstaatlichen Ordnung, als um symbolisch allerdings wichtige Bezugnahmen auf den eigenständigen Charakter von Regionen und autonomen Gemeinschaften. So hat der italienische Verfassungsgerichtshof einer Region untersagt, ihre Volksvertretung als „Parlament“ zu bezeichnen.8 Obwohl auch die zentralstaatliche Verfassung die Gesetzgebungshoheit der Regionen betont, wären demnach deren Gesetze keine Parlamentsgesetze. Das passt schlecht zu demokratischer Rechtsstaatlichkeit. Das spanische Tribunal Constitucional hat in seinem Urteil zum katalanischen Regionalstatut9 zwar einige konkrete Normkonflikte zwischen dem Statut und der zentralstaatlichen Verfassung zu korrigieren gehabt, dabei jedoch zahlreiche weitere Beanstandungen und Um-Interpretationen angebracht, die zwar mit dem Konzept eines einheitlichen Staates begründet werden konnten, aber das im gleichen Verfassungsartikel (Art. 2) gewährleistete Autonomieprinzip hintanstellten. Das dürfte den Konflikt zwischen zentraler und katalanischer Regierung verschärft haben. Im Gegensatz dazu erfordern die notwendigen Verflechtungen der Ebenen deren Kooperation, wenn die komplexer gewordenen Staatsaufgaben erfüllt und die Zuständigkeitsbereiche auf einander abgestimmt werden sollen. Als Mittel dazu kommt das Zweikammersystem in Betracht, und klassische Bundesstaats-Modelle, etwa der USA und der Schweiz, nutzen es zu diesem Zweck. Die deutsche Tradition hat dem, staatenbündische Institutionen fortbildend, das Prinzip eines Bundesrats als Vertretung der Landesregierungen gegenübergestellt. In Italien und Spanien ist die Stellung des Senats jedoch nicht primär und im praktischen Ergebnis kaum auf die Vertretung der Regionen ausgerichtet. Daher gibt es auch dort eine Tendenz, das Modell des Bundesrats ganz oder teilweise zu übernehmen, etwa bei den gescheiterten italienischen Verfassungsreform-Versuchen von 2006 und 2016. Aber dabei werden die historischen Grundlagen und die auch in der deutschen Diskussion erörterten Nachteile des Einflusses gliedstaatlicher Regierungen auf den demokratischen Parlamentarismus des Zentralstaats zu wenig beachtet. Hinzu kommt, dass nicht nur in den Bundesstaaten mit föderativ strukturierter zweiter Kammer, sondern auch in Deutschland – neben dem Bundesrat – die Abstimmung zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten sowie unter diesen in weiteren Koordinationsgremien wie Bund-Länder-Konferenzen, Ministerkonferenzen und weiteren Spezialgremien stattfindet – ganz ähnlich wie in den Konferenzen von Staat und Regionen in Italien und Spanien. Deren Fortentwicklung, die möglicherweise an die Stelle der zweiten Kammer treten könnte, erscheint deshalb als die der Entwicklung des Regionalismus besser entsprechende Alternative.

8

Corte costituzionale, sent. 10.4.2002 n. 106 und 20.6.2002 n. 306. Tribunal Constitucional, sent. 31/2010. Ich stütze mich dabei auf Iacometti, Miryam, La sentenza n. 31 del 2010 sullo Statuto catalano, Diritto Pubblico Comparato ed Europeo 2011 I, S. 24 ff. 9

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Sie fügt sich auch in die Absprachen mit einzelnen Regionen ein, die in Italien und Spanien Elemente asymmetrischer Mehrebenensysteme normiert haben. Sie gewinnen gegenwärtig, wie der Beitrag Bifulco ausführt, in Italien aufgrund des Art. 116 Abs. 3 der Verfassung an Bedeutung, vor allem als Instrument der wirtschaftlich stärkeren Regionen. In der Tat sind sowohl das spanische Vorbild mit den für die einzelnen autonomen Gemeinschaften separat zugeschnittenen Zuständigkeiten, als auch die Stellung der Regionen mit Spezialstatut in Italien Modelle, die den konkreten Sonderbedürfnissen und Traditionen Rechnung tragen können. Allerdings lassen die Beiträge erkennen, dass dadurch die Gefahr einer Spaltung der Regionalebene in arm und reich wächst, so dass das Ziel der gleichwertigen Lebensverhältnisse ferner rückt. Dieses Ziel im Blick zu behalten und mit den Sonderbedürfnissen einzelner Teile in Einklang zu bringen, wird daher zum Kernproblem des Mehrebenensystems. Schärfster Ausdruck der Heterogenität sind Sezessionsbestrebungen, wie sie vor allem im Beitrag García Morales am Beispiel von Katalonien zur Diskussion gestellt werden. Dass das positive Verfassungsrecht dem Sezessionsrecht eines Teilgebiets entgegensteht, dürfte – anders als für die Europäische Union – für alle hier verglichenen Verfassungsordnungen feststehen. Referenden über die Sezession bedürfen daher der verfassungsrechtlichen Grundlage auf zentralstaatlicher und, wenn das sezessionswillige Teilgebiet weiter der Europäischen Union angehören will, auch auf europäischer Ebene. Die im Völkerrecht erwogenen Ausnahmen für koloniale und postkoloniale Verhältnisse10 sind auf demokratisch legitimierte Verfassungsstaaten nicht übertragbar. Aber eben dank dieser demokratischen Legitimation ist die Ausübung von Gewalt durch den Zentralstaat in Form des Bundeszwangs (Art. 37 GG) und des diesem nachgebildeten Art. 155 der spanischen Verfassung allenfalls punktueller Notbehelf zur kurzfristigen Entspannung eines Konflikts, aber keine Dauerlösung gegen Sezessionsbestrebungen.11 Fälle wie Quebec und Schottland haben gezeigt, dass mit Zustimmung der zentralstaatlichen Organe ein Ausgleich zwischen zentralstaatlicher und regionaler Demokratie erarbeitet werden kann, der zwar nicht ausschließliche Souveränitätsansprüche durchsetzt, wohl aber die für ein Mehrebenensystem notwendige Verbindung der Ebenen aufrecht erhält.

10

Dazu Wildhaber, Luzius, Québec, Schottland, Katalonien – Gedanken zu Sezessionen in Demokratien, in: Biaggini / Diggelmann / Kaufmann (Hrsg.), Polis und Kosmopolis, Festschrift für Daniel Thürer, Zürich 2015, S. 803 ff., insb. unter Hinweis auf die Reference re Secession of Quebec, (1998) 2 S. C. R. 217, § 154, § 138. 11 So auch die eingehendere Darstellung durch García Morales, Maria Jesus, Bundeszwang und Sezession in Spanien: Der Fall Katalonien, Die Öffentliche Verwaltung 2019, S. 1 ff.

Entwicklungslinien im Mehrebenensystem Moderation: Hermann-Josef Blanke

Die verfassungspolitische Logik des europäischen Mehrebenensystems Roland Sturm EU-Länder sind eingebettet in ein Kompetenz- und Entscheidungsgeflecht, das sich über die Ebenen EU-Nationalstaat-Region (Kommune) erstreckt. Die Ausprägung und das Zusammenspiel der unterschiedlichen Ebenen lässt ein Gutteil von Varianz zu. Erstens ist es nicht mehr selbstverständlich, die Ebenen als institutionelle Ebenen im engeren Sinne zu begreifen. Regiert wird im gesellschaftlichen Zusammenhang  – aus government ist governance geworden. Gesellschaftliche Kräfte wirken auf allen Ebenen des Entscheidens mit und verändern teilweise hierarchisches Entscheiden durch Kooperationsbeziehungen, welche gesteuert durch Wissen, Geld und zivilgesellschaftliche Werte über formalisierte Zusammenarbeit hinaus ein reichhaltiges informelles Inventar entwickeln. Zweitens findet eine gegenseitige Durchdringung der Handlungsebenen statt. Im deutschen Föderalismus ist dies selbstverständlich und lange bekannt. Auf der Ebene der Beziehung von EU-Ländern und EU hat sich eine doppelte Verbindung hergestellt. Einerseits die europäische Integration, also der Souveränitätstransfer von den Nationalstaaten auf die europäische Ebene. Dessen Wünschbarkeit und Grenzen und schon gar dessen Finalität (Stichwort: Vereinigte Staaten von Europa) sind höchst umstritten. Ebenso umstritten ist die aus der Tätigkeit europäischer Institutionen sich ergebende Europäisierung nationaler Politik, vor allem die Ausgestaltung bzw. Prägung nationaler Politikfelder durch europäische Gesetzgebung und Rechtsprechung. Die Richtung, in die Mehrebenpolitik gehen soll, bleibt ein Konfliktthema. In den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts dachten einige ökonomisch erfolgreiche Regionen in Europa, das Bonmot des amerikanischen Soziologen Daniel Bell würde Gestalt annehmen und ein Europa der Regionen sei die Zukunft. Von den drei Ebenen EU, Nationalstaat und Region habe der Nationalstaat keine Über­ lebenschancen, weil er zu klein wäre für die großen weltpolitischen Probleme, aber gleichzeitig zu groß für die Probleme in den EU-Mitgliedsländern vor Ort. Schon länger und immer wieder haben die europäischen Föderalisten argumentiert, es gebe eine neofunktionalistische Logik, die durch permanente spill overEffekte und damit einhergehend einer Kompetenzverlagerung nach oben quasi auf einer Einbahnstraße zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ führe. Recht behielten diejenigen, die keinen Ersatz für die legitimatorische und emotionale Binde­wirkung des Nationalstaats sahen. In der europäischen Mehrebenenpolitik

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hat sich der ­Nationalstaat behauptet und verursacht, entgegen der Erwartungen der Neofunktionalisten, sogar Desintegrationstendenzen. Bei EU-Institutionen ist von einem begrenzten Willen der Priorisierung nationalstaatlicher Politik auszugehen. Ihre Emanzipation von Nationalstaaten erschwert Verhandlungsprozesse, zumal europäische Institutionen ihrer eigenen Organisationslogik folgen. In den einzelnen Institutionen, vor allem in der Kommission, dem Ministerrat bzw. einzelnen Ratsformationen, dem Europaparlament und dem Ausschuss der Regionen, auch im Europäischen Rat, ist die Tendenz zu beobachten, im Zweifelsfall gegenüber den anderen europäischen Institutionen, die Reihen zu schließen, damit die jeweilige Institution gegenüber anderen Institutionen erfolgreich sein kann. Der institutionelle Wettbewerb in der EU hat zwar seinen Referenzpunkt in der Kompetenzverteilung, die die europäischen Verträge vorsehen. In der Tagespolitik ist aber die informelle Dimension des institutionellen Wettbewerbs die entscheidendere. Europäische Institutionen sind zu Absprachen fähig, die die Verträge „dehnen“ und „interpretieren“. Sie arbeiten mit interinstitutionellen Vereinbarungen zur Verbreiterung ihrer Kompetenzen.1 Zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission hat sich aufgrund deren organisatorischen (vor allem der policy-Orientierung von Entscheidungen) und strategischen Ausrichtungen (vor allem der Definition eines europäischen Interesses) ein symbiotisches Verhältnis zum gegenseitigen Vorteil entwickelt, wie die empirische Forschung zeigen konnte.2 Konstant bleibt die Selbstbezogenheit der institutionellen Akteure, die sich aus der Organisationsrationalität ableiten lässt. Mehr Europa bedeutet aus dieser Sicht, so Graf Kielmansegg,3 „nicht etwa mehr europäische Handlungsfähigkeit nach außen, sondern eine weitere Verdichtung des Netzes europäischen Rechts, einen Fortgang der Binnenhomogenisierung Europas“. Das Europäische Parlament (EP) hat in der Geschichte der EU seine Stellung schrittweise ausgebaut. Dafür gab es angesichts der EU als Gebilde sui generis keine offensichtliche funktionale Notwendigkeit. Das Parlament nutzte seine Chance, den Diskurs über das demokratische Defizit der Union für sich zu erschließen, und damit eine legitimatorische Notwendigkeit für die Stärkung seiner Rolle zu schaffen. Dazu galt es, den „Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung“ (Artikel 5 Absatz 2 EUV) in den Hintergrund treten zu lassen ebenso wie die Tatsache der bloßen Kodezionsaufgabe des Parlaments in der europäischen Gesetzgebung und dem EP dis-

1

Vgl. Kitz, Daniela / Slominski, Peter / Maurer, Andreas / Puntscher Riekmann, Sonja, Interinstitutionelle Vereinbarungen in der Europäischen Union. Wegbereiter der Verfassungsentwicklung, Baden-Baden 2011. 2 Vgl. Egeberg, Morten / Gornitzka, Åse / Trondal, Jarle, A Not So Technocratic Executive? Everyday Interaction between the European Parliament and the Commission, West European Politics 2014, S. 1–18. 3 Kielmansegg, Peter Graf, Wohin des Wegs, Europa? Beiträge zu einer überfälligen Debatte, Baden-Baden 2015, S. 23.

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kursiv einen Modus der Aufgabenwahrnehmung zuzuweisen, die dem nationaler Parlament entspricht. Wenn einmal der Leitsatz geglaubt wird, dass je mehr Rechte das Europäische Parlament hat, desto demokratischer (und damit legitimierter) die Europäische Union sei, ist es nicht nur naheliegend, sondern zwingend erforderlich, das Parlament zum einen aus Wahlen aller EU-Bürgerinnen und -Bürger hervorgehen zu lassen und es zum anderen zu einem (Mit-)entscheider in der europäischen Politik zu machen. So erreichte das Parlament über Vorformen der Mitberatung in der organisatorischen Konkurrenz mit dem Rat der EU weitgehende Gleichstellung im Gesetzgebungsverfahren (ordentliches Gesetzgebungsverfahren), nationalen Parlamente vergleichbare Kontrollrechte, aber zunächst weder eine für den EURaum ausreichende politische Kommunikationsform noch die Wahlfunktion im Hinblick auf die EU-„Regierungsbildung“ (Wahl des Kommissionspräsidenten). Für die andere, am europäischen Gesetzgebungsprozess beteiligte Institution, den Ministerrat, stellte sich die Frage der Etablierung im Konzert der europäischen Institutionen nicht. Organisationsrationalität spielt aber auch in seinem Falle eine Rolle. Der Ministerrat kann in den meisten Fragen mit Mehrheitsentscheidungen Raum für politisch rationale Entscheidungsprozesse geben. Informell hat sich allerdings das organisationskompatible Konsens-Modell politischen Entscheidens durchgesetzt. Wenn es zu Abstimmungen kommt, ist, wie empirisch nachgewiesen wurde,4 Dissens selten. Dieses Modell verdankt sich einerseits der Logik des Bargaining Prozesses innerhalb des Rates, andererseits aber auch der Erkenntnis, dass der Rat im Gesetzgebungsprozess sich als Ganzes mit dem Europäischen Parlament auseinandersetzen muss.5 Die Europäische Kommission sollte nach ihrem Vertragsstatus die am meisten geschlossene EU-Formation sein. Sie ist als Verkörperung des europäischen Interesses konzipiert, sowohl bei der Umsetzung der sich aus den Verträgen ergebenden Politik, als auch perspektivisch, als „Motor“ der Europäischen Integration. Dadurch wird der Ministerrat formal gesehen eine Art natürlicher Gegenspieler zur Kommission, der sich um die Summe nationaler Interessen kümmert, während das Parlament mit der Kommission konkurriert, weil es ebenso wie die Kommission den Anspruch erhebt, das europäische Gesamtinteresse zu vertreten. Als Hauptkonkurrent im institutionellen Wettbewerb hat sich für die Kommission allerdings der Europäische Rat etabliert. Er verweist auf seine Kompetenzkompetenz bei der Organisationsentwicklung der EU und sieht sich im Besitz einer weiteren Exper-

4 Vgl. Arregui, Javier / T homson, Robert, Domestic adjustment costs, interdependence and dissent in the Council of the European Union, European Journal of Political Research 2014, S. 692–708 (S. 705). 5 Vgl. Heisenberg, Dorothee, The institution of „consensus“ in the European Union: Formal versus informal decision-making in the Council, European Journal of Political Research 2005, S. 65–90.

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tise als diejenige der Kommission. Spätestens seit der Finanzkrise 2008 ff. ließ die Kommission die Zurückhaltung bei Policy-Entscheidungen fallen. Dies war keine Politikwende, sondern führte Entscheidungen fort, die sich aus der Logik der Organisationsrationalität schon früher als Strategie der Konkurrenz mit dem Europäischen Rat nachweisen lassen.6 Die Weiterentwicklung der Europäischen Wirtschafts-und Währungsunion, beispielsweise, wurde in der institutionellen Konkurrenz zu einem Parallelprojekt von Kommission und Europäischem Rat (mit dem Europäischen Rat als entscheidender Stimme). Die Idee Jean-Claude Junckers, aus seiner quasi-Direktwahl als Kommissionspräsident abzuleiten, dass der Kommission eine politische Führungsfunktion in der EU zukommt, Juncker also als „Regierungschef“ Europas agieren könne, stieß im Rat und in den nationalen Regierungen nur auf sehr begrenztes Verständnis. Dies zeigte sich sowohl bei den Vorstößen des Kommissionspräsidenten bei der Griechenlandhilfe7 als auch bei der Bewältigung der Flüchtlings- und Grenzsicherungskrise der EU. Juncker ließ sich von solchen Einwänden aber nicht beirren und schuf Tatsachen wie den sogenannten „Juncker-Fonds“, den Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI), der innerhalb der Europäischen Investitionsbank angesiedelt wurde.8 In besonderem Maße sehen sich „verspätete Institutionen“,9 zu denen auf europäischer Ebene der Ausschuss der Regionen (AdR) gehört, herausgefordert, sich im interinstitutionellen Wettbewerb zu bewähren. Der AdR wurde mit dem Vertrag von Maastricht geschaffen und begann 1994 zunächst ohne eigenen organisatorischen Unterbau. Das Europäische Parlament sah den AdR anfangs als überflüssigen Konkurrenten bei der Wahrnehmung der Aufgabe territorialer Repräsentation. Inzwischen hat sich sowohl eine eigenständige AdR-Organisation herausgebildet als auch ein Kooperationsverhältnis zum Europäischen Parlament. Dies ändert aber nichts daran, dass der AdR ein Beratungs- und kein Entscheidungsorgan der EU ist – ein entscheidender Mangel im institutionellen Wettbewerb. Der AdR versucht, diesen Mangel durch eine eigenwillige Interpretation der Multi-level governance der EU auszugleichen, und ist dabei aus seiner Sicht durchaus erfolgreich. Gleich was in den Verträgen steht, so die Argumentation, führt die Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips und die damit verbundene Anerkennung der lokalen und regionalen Ebene der Politik zu einer automatischen 6

Vgl. Bocquillon, Pierre / Dobbels, Mathias, An elephant on the 13th floor of the Berlaymont? European Council and Commission relations in legislative agenda setting, Journal of European Public Policy 2014, S. 20–38. 7 Vgl. Mussler, Werner, Die EU schwächen?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 30.7.2015, S. 1. 8 Vgl. Schmitz-Temming, Anna, Der Juncker-Plan: in Europa investieren, Gesellschaft-Wirtschaft-Politik 2015, S. 451–456. 9 Rudolf Wildenmann hat diesen Begriff für die Bundesbank und das Bundeskartellamt geprägt; vgl. Wildenmann, Rudolf, Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts und der Deutschen Bundesbank in der politischen Willensbildung, Stuttgart 1969.

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Machtzuweisung und einem Vertretungsrecht ihres Repräsentanten, des AdR, bei Entscheidungen der EU.10 Innerstaatlich spielt der AdR in den Mitgliedsländern keine Rolle. Regionen verlieren eher gegenüber den Nationalstaaten. Einige von ihnen pflegen nationalstaatliche Visionen im Konflikt mit den etablierten Nationalstaaten. Unterhalb dieser Schwelle passiert häufig das Gegenteil. Regionale Autonomie wird Kooperation und Zentralisierung geopfert. Hierfür ist Deutschlands Föderalismus ein gutes Beispiel. Der deutsche Föderalismus hat vor allen Dingen zwei Wurzeln, eine historische und eine demokratiesichernde. Die Vorgeschichte des Föderalismus wird nicht selten mit einer Vielzahl staatlicher Einheiten auf deutschem Boden gleichgesetzt. Betrachtet man die deutsche Geschichte aus dieser Perspektive, so kann man die Ursprünge des deutschen Föderalismus bis zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (962–1806) zurückverfolgen. Das Problem der historischen Betrachtung liegt darin, dass Vielfalt – im Sinne der Autonomie von Gliedstaaten – sich vor der Durchsetzung einer demokratischen und republikanischen Verfassung in Deutschland am stärksten entfaltete. Dies galt auch für das 1871 gegründete Deutsche Reich. Die ihm nachfolgende Weimarer Republik (1919–1933) verband mit der Demokratie weniger den Föderalismus als vielmehr den dezentralisierten Einheitsstaat. Erst die Gründung der Bundesrepublik erlaubte – nicht zuletzt auf Drängen der Alliierten und wegen der abschreckenden Wirkung der nationalsozialistischen Diktatur im Einheitsstaat – einen neuen Anlauf, die demokratiesichernden Möglichkeiten des Föderalismus auszuschöpfen. Föderalismus in Deutschland gründet sich heute in erster Linie auf die Idee der vertikalen Gewaltenteilung zwischen den politischen Ebenen des Bundes und der Länder in Ergänzung zur klassischen horizontalen Gewaltenteilung zwischen ausführender, gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt. Die Landesebene ist nach föderalem Verständnis eine weitere Ebene der deutschen Demokratie, die in doppelter Weise dazu beitragen soll, diese zu sichern: Zum einen durch die Möglichkeiten der zusätzlichen Teilhabe und der Bürgernähe, welche die Landesebene bietet, und zum anderen durch die Kontrolle der Bundesund Europapolitik, die durch eine Machtteilung erreicht wird, da die Länder im Bundesrat die Bundesgesetze mitgestalten. Das Bild eines von den Ländern deutlich beeinflussten Bundesstaates und des Gewichtes der Demokratiesicherung durch die föderale Ordnung muss mit Blick auf die Entwicklung des deutschen Föderalismus nach 1949 allerdings deutlich eingeschränkt werden. 10 Dies illustriert u. a. der Beitrag von Carroll, William E., The Committee of the Regions: A Functional Analysis of the CoR’s Institutional Capacity, in: Regional and Federal Studies 21(2), 2011, S. 341–354; Stahl, Gerhard, Neues Regieren in Partnerschaft: Das Weißbuch des Ausschusses der Regionen zur Multi-Level-Governance in der EU, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus 2010, Baden-Baden 2010, S. 426–434.

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Eine Reihe von Gründen ist hierfür verantwortlich: Erstens ist zu beobachten, dass Argumente der Effizienz von Regierungshandeln auf Bundesebene in Konkurrenz traten mit der Forderung nach Teilhabe der Länder. Der deutsche Föderalismus, so wie ihn die Verfassung konzipiert hat, hat eine blinde Stelle. Er stellt den Parteienwettbewerb nicht in Rechnung. Parteien rekrutieren das Personal für Regierungen auch der Länder und geben so als Richtschnur von Länderpolitik parteiliche Geschlossenheit bei bestimmten Themen bundesweit vor. Im Parteienwettbewerb steht der Konkurrenzgedanke im Vordergrund, der nicht immer mit dem durch den Bundesrat verkörperten Kooperationsgedanken („die Länder wirken mit“) vereinbar ist. Hinzu kommt, dass das Ministerpräsidentenamt in den Ländern nicht selten als wichtiger Schritt für eine bundespolitische Karriere gilt, so dass schon das Eigeninteresse der politisch Handelnden sich nicht ausschließlich an der Landespolitik und an der Konfliktschlichtung parteipolitischer Kontroversen orientiert. Der zweite Grund, weshalb die Landespolitik als wichtige politische Arena weniger Beachtung findet, ist der Bedeutungsverlust der Länder in Zeiten einer sich immer stärker internationalisierenden Politik, die viele Bereiche des politischen Lebens betrifft und v. a. im Hinblick auf eine fortschreitende Europäisierung der deutschen Politik greifbar wird. Der Präsident bzw. die Präsidentin des Bundesrates wählt jährlich bis zu 200 EU-Vorhaben von Belang für die Länder und damit für eine Beratung in den Ausschüssen aus.11 Der Versuch der Länder, dem durch die Europäisierung der deutschen Politik erzeugten Bedeutungsverlust, also ihrer Herabstufung zur dritten Ebene der Politik nach der EU und dem Bund, durch stärkere Beteiligung an der Politikgestaltung auf europäischer Ebene entgegenzuwirken, war bisher nur mäßig erfolgreich. Der Vertrag von Lissabon räumt dem Bundesrat ein Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof ein, um Kompetenzüberschreitungen der EU, wenn es um Länderkompetenzen geht, zu stoppen. Mit anderen Parlamenten zusammen kann der Bundesrat mit aufschiebender Wirkung auch Einspruch gegen Rechtsakte der EU erheben. Das Problem ist nur, diese politischen Instrumente kommen sehr spät, die wichtigsten Integrationsschritte wurden bereits gegangen, und die erwähnten Eingriffe der Länder in die EU-Politik gestalten nicht, sie verhindern Entscheidungen nur (falls sie überhaupt greifen). Die Föderalismusreform des Jahres 2006 hat deutlich gemacht, wo die Länder unangefochten für die Bundesrepublik Deutschland in der EU sprechen können, weil sie auf diesen Politikfeldern zuständig sind. Artikel 23 Absatz 6 Grundgesetz nennt schulische Bildung, Kultur und Rundfunk. Ein dritter Grund für die Verschiebung der Gewichte im deutschen Föderalismus zugunsten des Bundes ist im deutschen Verständnis des sozialen Bundesstaates zu suchen. Der Ausbau des Sozialstaates bedeutete einen Aufgabenzuwachs für den 11 Souris, Antonios, Europa im Parteienstreit in den Ausschüssen des Bundesrates, Integra­ tion 2018, S. 210–227 (S. 212).

Die verfassungspolitische Logik des europäischen Mehrebenensystems 

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Bund, vor allem aber weckte er die Erwartung, „einheitliche Lebensverhältnisse“ seien garantiert  – eine Erwartungshaltung, die sich nach der deutschen Einheit politisch noch stärker bemerkbar machte. Das Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber nicht zu einer solchen Politik der „einheitlichen Lebensverhältnisse“.12 Aber der deutsche Föderalismus wurde in der öffentlichen Debatte längst nicht mehr an den Chancen gemessen, die er für politische Beteiligung und landesspezifische Innovation bot, sondern vielmehr an seinem Beitrag zu politischen Entscheidungen, die individuelle Lebensstandards verbessern. Damit tauchte das Effizienzargument in neuem Gewande auf. Der Mitgestaltungswunsch der Länder bei deutscher und europäischer Politik muss ohne das Einbeziehen der ursprünglichen demokratietheoretischen Begründung des Föderalismus in der Tat befremdlich erscheinen und hat in der politischen Debatte Vorschläge zur Verwaltungsmodernisierung provoziert. Diese Debatte geht aber am Kern des Problems vorbei. Mit der Festlegung, dass für eine gute föderale Ordnung nur das Ergebnis von Politik zählt, ist das Zustandekommen von Politik zweitrangig geworden, und die Länder müssen plötzlich begründen, weshalb sie nicht nur Verwalter, sondern auch Gestalter von Politik sein wollen. Sucht man nach der verfassungspolitischen Logik des europäischen Mehrebenensystems fällt dreierlei auf: die Eigenlogik der einzelnen Ebenen und ihre überraschend große Informalität, das Beharrungsvermögen des Nationalstaats und die zentrale Rolle der Exekutiven auf allen politischen Ebenen und deren Zusammenspiel.

12 Der Begriff kommt im Grundgesetz nur an einer Stelle vor (Art. 106 Abs. 3) und bezieht sich auf die Festsetzung der Umsatzsteuer.

Der Spanische Senat als Kammer der territorialen Vertretung Eine anstehende Verfassungsreform José María Porras Ramírez

I. Das gescheiterte Modell der Verfassung des Spanischen Senats Die spanische Verfassung von 1978 wurde unter anderem vor dem historischen Hintergrund erarbeitet, dass bei einigen Territorien der Wunsch nach Selbstverwaltung bestand. Sie ist deshalb insoweit auf einen im Wesentlichen prozeduralen Normcharakter beschränkt und soll nur für diejenigen Gebiete den Weg hin zur Selbstverwaltung ebnen, die danach verlangen. Die Verallgemeinerung dieser Forderung ermöglichte die endgültige Ausgestaltung eines stark dezentralisierten Staatsmodells, dessen grundlegende Merkmale jedoch nicht in der Verfassung festgelegt sind. Diese Tatsache erklärt ihre Unzulänglichkeiten, die das Ergebnis der Unvorhersehbarkeit einer politisch-territorialen Struktur des gesamten Staates sind.1 Zu diesen Lücken ist das Fehlen institutioneller Mechanismen zu zählen, welche die Umwandlung von Vielfalt zu einer wesentlichen Einheit ermöglichen, etwa indem Kanäle für die Beteiligung aller in die gemeinsame Willensbildung einzubeziehenden Positionen geschaffen werden. Dieses spürbare Defizit wird besonders deutlich, wenn man das Fehlen einer passenden Instanz betrachtet, die die territorialen, unmittelbar betroffenen Interessen artikuliert und damit in den Entscheidungsprozess einbringt.2 Um zur notwendigen Konstitutionalisierung der Kooperationsbeziehungen zwischen Staat und Autonomen Gemeinschaften beizutragen, hat die wissenschaftliche Literatur einhellig die Notwendigkeit einer Reform der derzeitigen Konfiguration des spanischen Senats hervorgehoben.3 1 Balaguer Callejón, Francisco, La constitucionalización del Estado autonómico, Anuario de Derecho Constitucional y Parlamentario 9/1997, S. 129–160. 2 García Morales, María Jesús, La colaboración a examen: retos y riesgos de las relaciones intergubernamentales en el Estado autonómico, Revista Española de Derecho Constitucional 86/2009, S. 65–117. 3 Rubio Llorente, Francisco / Álvarez Junco, José (Hrsg.), El informe del Consejo de Estado sobre la reforma constitucional. Texto del informe y debates académicos, Madrid, Centro de Estudios Políticos y Constitucionales, passim.

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Diese Parlamentskammer, die zusammen mit dem Abgeordnetenkongress die Cortes Generales bildet (Art. 66.1 Spanische Verfassung – SV), wird in der Grundnorm als „territoriale Repräsentationskammer“ (Art. 69.1 SV) beschrieben. Fehlerhafte verfassungsrechtliche Regelungen verhindern jedoch, dass sie die ihr zugeschriebene spezifische sowie charakteristische und somit existenzbegründende Funktion erfüllt. Es ist daher klar, dass weder ihre derzeitige Zusammensetzung noch ihre Befugnisse und die daraus resultierende institutionelle Position in Bezug auf den Kongress mit diesem Zweck in Einklang stehen.4 In Bezug auf die Zusammensetzung des derzeitigen Senats machen die von den autonomen Parlamenten ernannten Senatoren, die die territorialen Interessen vertreten, nur ein Fünftel seiner Gesamtzahl aus (Art. 69.5 SV). Ihre Bedeutung ist wesentlich geringer als die derjenigen Senatoren, die durch ein Mehrheitswahlsystem mit offenen Listen gewählt worden sind und daher von der Logik der Parteiendemokratie und der Wahlkreise in den Provinzen abhängen (Art. 69.2 und 69.3 SV).5 Es ist weiterhin festzustellen, dass der Senat hinsichtlich seiner Funktionen und Befugnisse eine eindeutig untergeordnete Stellung einnimmt. Insoweit besteht ein offensichtliches Ungleichgewicht im Vergleich zum Abgeordnetenkongress. Der Senat ist weder an der Wahl des Ministerpräsidenten beteiligt (Art. 99 SV) noch kann er die politische Verantwortung der Regierung einfordern, etwa durch einen Misstrauensantrag (Art. 113 SV). Er ist auch nicht berechtigt, über eine mögliche Vertrauensfrage abzustimmen (Art. 112 SV). In ähnlicher Weise wird seine untergeordnete Stellung im Vergleich zum Kongress auf dem Gebiet der Gesetzgebung deutlich. Der Kongress hat Vorrang bei der Bearbeitung von Gesetzesentwürfen (Art. 88 SV), die in direkter Weise die Interessen der Autonomen Gemeinschaften betreffen. In dieser Hinsicht ist der Senat als bloße Kammer für die zweite Lesung verfasst, die fast immer entbehrlich und daher überflüssig ist, um die zuvor im Kongress verabschiedeten Gesetzgebungsprojekte in einer kurzen Frist von nur zwei Monaten zu bestätigen – all das in dem Wissen, dass der Kongress die Änderungsanträge, die der Senat bei der Ausarbeitung der Gesetzentwürfe oder im Rahmen seines Vetorechts einbringt, unbeachtet lassen kann und so als Gesetzgeber immer das letzte Wort hat (Art. 90 SV).6 Eine ungewöhnliche Ausnahme von dieser allgemeinen Regel enthält jedoch das Organgesetz 2/2012 vom 27. April 2012 über Haushaltsstabilität und finanzielle 4

Solozábal Echavarría, Juan José (Hrsg.), Repensar el Senado. Estudios sobre su reforma, Secretaría General del Senado, Madrid 2008, passim. 5 García Escudero Márquez, Piedad, Los senadores designados por las Comunidades Autónomas, Centro de Estudios Constitucionales, Madrid 1985, passim. 6 Nach Art. 90 Abs. 2 SV wird das Veto des Senats gegen Gesetze, die vom Kongress verabschiedet wurden, mit absoluter Mehrheit eingebracht. Will der Kongress dieses Veto zurückweisen, muss er den ursprünglichen Text mit absoluter Mehrheit oder ihn, nach Ablauf von zwei Monaten nach Einlegung des Vetos, mit einfacher Mehrheit beschließen oder die Änderungsanträge mit einfacher Mehrheit annehmen oder es ablehnen, ihn aufzuheben.

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Nachhaltigkeit. Durch dieses Gesetz wird dem Senat das umstrittene Recht eingeräumt (Art. 15.6 SV), die von der Regierung vorgeschlagene Ausgabenobergrenze sowie die Genehmigung des jährlichen Haushaltsgesetzes abzulehnen.7 Diese Zuständigkeit, die der Gesetzgeber dem Senat überantwortet, findet in Art. 135 SV keine verfassungsrechtliche Grundlage. Das dem Senat einfach-gesetzlich eingeräumte Recht erscheint mithin angesichts der ihm zugeschriebenen Funktion als Kammer der territorialen Repräsentation nicht hinreichend gerechtfertigt. Es stellt auch eine Anomalie mit Blick auf die Ausübung der gesetzgebenden Funktion dar, weil der Kongress insoweit die Entscheidung der Verfassung stets als unverrückbar anerkannt hat. Daher wurde die Abschaffung dieser Zuständigkeit des Senats im Bereich der Haushalts- und Finanzgesetzgebung vorgeschlagen, um so die Kohärenz des verfassungsmäßigen Modells mit einem unwillkommenen Zweikammerparlamentarismus zu wahren. Es sichert dem Kongress eine klare Dominanz bei der Ausübung aller parlamentarischen Funktionen. Beweis hierfür ist auch, dass der Senat von der parlamentarischen Kontrolle der Gesetzesverordnungen ausgeschlossen ist, wenn ihre Behandlung nur dem Kongress vorbehalten ist (Art. 86.2 SV). So kann nur der Kongress etwa den Vorwurf des Verrats oder der Begehung eines anderen Verbrechens gegen die Sicherheit des Staates, gegen den Präsidenten und / oder andere Regierungsmitglieder erheben bzw. billigen (Art. 102.2 SV). Es liegt auch ausschließlich in der Verantwortung des Kongresses, den Ministerpräsidenten zu ermächtigen, konsultative Referenden abzuhalten (Art. 92 SV). Der Kongress hat auch einen klaren Vorrang im Fall der Erklärung des Alarm-, Ausnahme- und Belagerungszustandes (Art. 116 SV). Weiterhin spielt der Kongress eine entscheidende Rolle anlässlich des ordentlichen Verfahrens der Verfassungsänderung und der Annahme solcher Änderungen (Art. 167 SV).8 Daher sind Senat und Kongress nur dann verfassungsrechtlich gleichgestellt, wenn beide Kammern mit absoluter Mehrheit über die Notwendigkeit entscheiden, ein Gesetz zu verabschieden, das die Grundsätze festlegt, die zur Harmonisierung von Rechtsvorschriften erforderlich sind. Dies gilt etwa dann, wenn es um Gegenstände geht, die in die Zuständigkeit der Autonomen Gemeinschaften fallen, sofern es das Interesse der Allgemeinheit erfordert (Art. 150.3 SV).9 Der Senat hat Vorrang gegenüber dem Kongress bei der parlamentarischen Prüfung der von den Autonomen Gemeinschaften unterzeichneten Kooperationsabkommen, die jedoch nicht seiner Zustimmung unterliegen (Art. 74.2 und Art. 145.2 7 Llop Ribalta, María Dolores, El control presupuestario en el Parlamento, in: III Jornadas de Derecho Parlamentario Comparado, México y España, Zaragoza, Fundación Manuel Giménez Abad de Estudios Parlamentarios y Derecho Autonómico, 2011, S. 1–34. 8 Portero Molina, José Antonio, Contribución al debate sobre la reforma del Senado, Revista de Estudios Políticos 87/1995, S. 81–105. 9 Salas Hernández, Javier de, Estatutos de Autonomía, leyes básicas y leyes de armonización, Revista de Administración Pública 100–102/1983, S. 433–452.

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SV).10 Ausnahmsweise ragt der Senat gegenüber dem Kongress anlässlich der Bewertung der Verteilung der wirtschaftlichen Ressourcen heraus, die für Investitionsaufgaben aus den Gebietsausgleichsfonds im Verhältnis von Autonomen Gemeinschaften und ggfs. Provinzen bereitzustellen und damit zur Korrektur des wirtschaftlichen Ungleichgewichts zwischen den Gebieten bestimmt sind. Diese Fonds sind Ausdruck des Grundsatzes der Solidarität (Art. 74.2 und Art. 158.2 SV).11 Ausnahmsweise hat der Senat eine ausschließliche Zuständigkeit, wenn keine Intervention des Kongresses vorgesehen ist. Dies gilt in Ausnahmefällen, in denen die Regierung den Senat auffordert, mit absoluter Mehrheit die Maßnahmen zu genehmigen, die als notwendig angesehen werden, um das rechtswidrige Verhalten einer Autonomen Gemeinschaft zu beenden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die in der Verfassung und den Gesetzen festgelegten Verpflichtungen nicht beachtet werden oder ihr Handeln einen schweren Verstoß gegen die allgemeinen Interessen Spaniens darstellt, Dann muss die jeweilige Autonomie gezwungen werden, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um diese Verstöße zu beenden, also ihren Verpflichtungen nachzukommen oder das Allgemeininteresse zu wahren (Art. 155 SV).12 Aufgrund der außergewöhnlichen Natur und des begrenzten Umfangs des ausnahmsweisen Vorrangs des Senats muss von einem unausgeglichenen oder unvollkommenen parlamentarischen Zweikammersystem gesprochen werden, wobei der Senat in Angelegenheiten, in denen der Primat des Kongresses gilt, eindeutig untergeordnet ist. Gleichzeitig wird die Unzulänglichkeit des derzeitigen Modells des Senats überprüft, um ihn zu einer authentischen Kammer territorialer Repräsentation weiterzuentwickeln und so die Autonomen Gemeinschaften in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Aus seiner derzeitigen Ausgestaltung ergibt sich bisweilen eine merkliche Bedeutungslosigkeit des Senats, in anderen Fällen eine offenkundige Funktionsstörung dieses Organs, die sich auf die Wahrnehmung und Ausübung von parlamentarischen Aufgaben im eigentlichen Sinne auswirkt. Die aktuelle verfassungsrechtliche Konfiguration des Senats verlangsamt daher das Gesetzgebungsverfahrens übermäßig. Dieser Umstand wird häufig als Begründung für die missbräuchliche Anwendung der Gesetzesverordnungen durch die Regierung, etwa im Kontext der letzten Wirtschaftskrise, angeführt.13 Eine weitere erhebliche Funktionsstörung ist zu beobachten, wenn die Regierung, unter Ausnutzung des Beratungsstandes eines Gesetzesentwurfs, im Senat zusätzliche 10 Tajadura Tejada, Javier, Los convenios de cooperación entre Comunidades Autónomas, Revista d’Estudis Autonòmics i Federals 11/2010, S. 216–254. 11 Vidal Prado, Carlos, El Fondo de Compensación Interterritorial como instrumento de solidaridad, Granada 2001, S. 54. 12 Vírgala Foruria, Eduardo, La coacción estatal del art. 155 de la Constitución, Revista Española de Derecho Constitucional 73/2005, S. 55–109. 13 Aragón Reyes, Manuel, Uso y abuso del decreto-ley, Madrid 2016, S. 24.

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Regelungen und Gesetzesänderungen oder sogar andere Gesetzesvorlagen einbringt, die nichts mit dem zu tun haben, worüber in diesem Haus diskutiert wird.14 Insgesamt ist leicht erkennbar, wie weit das derzeitige verfassungsrechtliche Modell des Senats von der geplanten Wirklichkeit der Kammer der territorialen Repräsentation entfernt ist, da die meisten Entscheidungen, die die Autonomen Gemeinschaften betreffen, in die Zuständigkeit des Parlaments fallen. Dies ist namentlich bei Gesetzen der Fall, die zur Ratifikation von Reformen der Autonomiestatute notwendig sind, aber auch bei Gesetzen, die die Finanzierung der Autonomien oder die Übertragung und Delegation staatlicher Kompetenzen betreffen. Das Fehlen einer authentischen territorialen Repräsentationskammer in einem Staat, der so stark dezentralisiert ist wie Spanien, verhindert daher, dass die autonomen Interessen gegenüber denen des Staates in einem politischen Diskus­ sions- und Entscheidungsorgan vertreten und artikuliert werden. Dies impliziert, dass solche Interessen der Autonomen Gemeinschaften heute in informelle Kanäle umgeleitet werden müssen, denen aber Grundsätze wie die, welche die parlamentarischen Verfahren prägen, also Pluralismus, Transparenz und Öffentlichkeitsarbeit, fremd sind. Dies erklärt zum Beispiel, warum die Abkommen über die Finanzierung der Autonomen Gemeinschaften oder die Beteiligung der Autonomen Gemeinschaften an europäischen Angelegenheiten ein derart offensichtliches Defizit an demokratischer Legitimität aufweisen – ein Defizit, das nicht bestünde, wenn sie von einer territorialen Repräsentationskammer genehmigt worden wären, die eine loyale Zusammenarbeit zwischen dem Staat und den Autonomen Gemeinschaften ebenso wie die größtmögliche Achtung demokratischer Garantien abbildet.15 Zu diesem Zweck wurde 1994 versucht, die Senatsordnung zu reformieren. So wurde innerhalb der Kammer ein Allgemeiner Ausschuss für Angelegenheiten der Autonomen Gemeinschaften eingerichtet, dessen vorbereitende Arbeiten sodann dem Senatsplenum vorgelegt werden. Zugleich wurden einige weitere Neuerungen mit dem Ziel der Stärkung der territorialen Funktionen der Kammer eingeführt. So soll die Anwesenheit der Präsidenten und Minister der Regierungen der Autonomen Gemeinschaften ermöglicht werden, damit sie die Einberufung des genannten Ausschusses beantragen können. Auch die Vorlage von Gesetzesinitiativen durch die Autonomen Gemeinschaften wurde erleichtert und die Teilnahme der Autonomen Gemeinschaften an der Aufstellung der Tagesordnung der Kammer vorgesehen. Dabei gingen diese Vorschläge davon aus, dass der Ausschuss einmal im Jahr eine Sitzung abhalten würde, um eine Bestandsaufnahme der Lage der Auto-

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García-Escudero Márquez, Piedad, De enmiendas homogéneas, leyes heterogéneas y preceptos intrusos. ¿Es contradictoria la nueva doctrina del Tribunal Constitucional sobre la elaboración de leyes?, in: Teoría y Realidad Constitucional 31/2013, S. 199–236. 15 Aja Fernández, Eliseo, Estado autonómico y reforma federal, Madrid 2014, S. 32.

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nomen Gemeinschaften vorzunehmen, in deren Verlauf nach der obligatorischen Aussprache Anträge eingereicht werden können.16 Diese Reformen haben jedoch die Arbeitsweise des Senats nicht wesentlich verändert. Der Grund dafür ist, dass der neu geschaffene Ausschuss von der Zentralregierung und in der parteipolitischen Debatte als Kontrollinstanz genutzt wurde, jedoch nicht als Forum des Dialogs und der Auseinandersetzung über die Beziehungen zwischen den Autonomen Gemeinschaften und dem Staat sowie zwischen den Autonomen Gemeinschaften.17 Das Scheitern dieser institutionellen Reform belegt die Notwendigkeit einer Verfassungsreform. Dies ist der einzige Weg, um in wirksamer Weise Art, Zusammensetzung und Funktionen dieser Kammer zu ändern. Das Ziel muss es sein, den Senat in eine wirkliche parlamentarische Kammer umzuwandeln, die die Interessen der Autonomen Gemeinschaften vertritt. Nur dann ist ihre Existenz gerechtfertigt und trägt sie gleichzeitig zur Weiterentwicklung und besseren Funktionsweise des bestehenden Modells des zusammengesetzten Staates (Estado compuesto) bei.

II. Funktionen eines reformierten Senats In diesem Sinne ist in Anbetracht der Notwendigkeit, den Senat als authentische Kammer territorialer Repräsentation zu etablieren, zunächst zu prüfen, welche Funktionen diese Institution erfüllen muss – und dies alles ohne Beeinträchtigung der Arbeit des Kongresses, der als Kammer der parlamentarischen Vertretung der Bürgerinnen und Bürger ebenfalls verpflichtet ist, die Voraussetzungen für ein Zusammenspiel beider Kammern zu schaffen, damit sachgerechte Ergebnisse zustande kommen. Alleiniges Ziel ist es sicherzustellen, dass das Oberhaus eine entscheidende Rolle bei der Erfüllung genau dieser Aufgaben spielen kann. Sofern hingegen keine Interessen der Autonomen Gemeinschaften betroffen sind und somit die Befassung des Oberhauses nicht erforderlich ist, ist die Entscheidungsbefugnis allein dem Kongress vorzubehalten.18 Zunächst muss es hingegen der Senat sein, der über die staatlichen Gesetze berät und entscheidet, sobald Interessen der Autonomen Gemeinschaften in besonderer Weise betroffen sind. Zu diesem Zweck sowie zur Vermeidung einer extensiven

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Punset Blanco, Ramón, De un Senado a otro. Reflexiones y propuestas para la reforma constitucional, en Teoría y Realidad Constitucional, 17/2006, S. 107–142; Punset Blanco, Ramón, in: Rodríguez-Piñero y Bravo-Ferrer, Miguel (Hrsg.), Comentarios a la Constitución española, Vol. II, Madrid 2018, Art. 69, S. 59–68. 17 Aja Fernández, Eliseo, El Estado autonómico. Federalismo y hechos diferenciales, Madrid 2003, S. 245. 18 Aja Fernández, Eliseo / Albertí i Rovira, Enoch / Ruiz-Ruiz, Juan José, La reforma constitucional del Senado, Centro de Estudios Políticos y Constitucionales, Madrid 2005, passim; Solozábal Echavarría, Juan José (Fn. 4), passim.

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oder gar missbräuchlichen Auslegung einer künftigen Verfassungsbestimmung über den Senat muss die Verfassung in einem „numerus clausus“ die Materien aufzählen, die in erster Lesung eine Gesetzesberatung im Senat erfordern, um dann im Kongress beraten und ggfs. gebilligt zu werden. Bei Unstimmigkeiten ist ein Einvernehmen innerhalb eines Vermittlungsausschusses herzustellen, der sich aus Vertretern beider Kammern zusammensetzt.19 Auf den ersten Blick ist hiermit auch die Forderung nach einer maßgeblichen Beteiligung des Senats im Verfahren der Ausarbeitung und Billigung solcher staatlichen Gesetze vereinbar, die als „Grundlagen“ für die anschließend von den Autonomen Gemeinschaften in bestimmten Materien oder Bereichen auszugestaltenden Gesetzen dienen.20 Ebenso sollte auch die staatliche Gesetzgebung, die einer Ausführung durch die Autonomen Gemeinschaften bedarf, unter entscheidender Mitwirkung eines neu verfassten Senats genehmigt werden. Damit soll die schwierige Lage überwunden werden, in der sich die Autonomen Gemeinschaften oftmals insbesondere in Fällen befinden, in denen der Staat einseitig eine sehr komplexe Regelung in Ausübung seiner Befugnisse erlässt, ohne dabei auf die Konsequenzen zu achten, die ihre Umsetzung durch die autonomen Gebietskörperschaften hat.21 Gesetze, welche die Kompetenzverteilung ebenso wie das ordnungsgemäße Funktionieren des Staates und der Autonomien betreffen, sollten ebenfalls ein spezielles Gesetzgebungsverfahren durchlaufen, um die Beteiligung der Autonomen Gemeinschaften sowohl im Gesetzgebungsverfahren als auch bei der Verabschiedung der Gesetze im Rahmen eines künftigen Modells sicherzustellen, das den Senat als Vertreter der territorialen Interessen in den Blick nimmt.22 Dies sollte hinsichtlich der formellen Gesetze geschehen, welche die Reform von Autonomiestatuten bestätigen, aber auch für die Delegations- und Übertragungsgesetze (Art. 149 Abs. 3, Art. 150 Abs. 2 SV), die Harmonisierungsgesetze (Art. 131 SV), für die Gesetze zur Finanzierung der Autonomien, für das den territorialen Ausgleichsfonds regelnde Gesetz, für das Gesetz über die Haushaltsstabilität und die finanzielle Nachhaltigkeit sowie für die Gesetze, die die Zusammensetzung und das Verfahren der Ernennung der Mitglieder von Verfassungsorganen festlegen. Denn deren Entscheidungen sind mit Blick auf ihre Wirkungen und Folgen für die Autonomen Gemeinschaften von erheblicher Bedeutung, wie dies anhand

19 Albertí i Rovira, Eliseo, La reforma constitucional del Senado, in: XXVI Jornadas de Estudio de la Abogacía General del Estado, Ministerio de Justicia, Madrid 2005, 101 ff. 20 Aja Fernández, Eliseo, La reforma constitucional del Senado para convertirlo en una cámara autonómica, in: Aja Fernández, Eliseo / Albertí i Rovira, Eliseo / Ruiz-Ruiz, Juan José (Fn. 18), 20 ff. 21 Caamaño Domínguez, Francisco, El abandono de lo básico: Estado autonómico y mitos fundacionales, Anuario de Derecho Constitucional y Parlamentario 12–13/2000, S. 87–112. 22 Balaguer Callejón, Francisco, Competencias de ejecución. Legislación-ejecución, in: Balaguer Callejón, Francisco (Hrsg.), Reformas estatutarias y distribución de competencias, Sevilla, Instituto Andaluz de Administración Pública, 2007, S. 51–59.

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des Verfassungsgerichts und des Allgemeinen Rats der Justizbehörde deutlich wird.23 Zweitens ist der Senat so zu reformieren, dass er als ein idealer Raum dienen kann, um zur Entwicklung und Verbesserung der Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen dem Staat und den Autonomen Gemeinschaften sowie den Autonomen Gemeinschaften untereinander beizutragen. Er muss als ein multilaterales Forum für Diskussionen, Verhandlungen und politischen Entscheidungen verstanden werden, in dem der Austausch zwischen den verschiedenen territorialen Regierungsebenen erleichtert wird, das für Abkommen und Vereinbarungen förderlich ist und in dem eine außergerichtliche Lösung von Problemen und Kontroversen im gemeinsamen Interesse angestrebt wird. Diese Arbeit muss vom Senat in Verbindung mit den anderen Instrumenten oder Mechanismen der Zusammenarbeit vorangebracht werden, die wiederum in verfassungsgemäßer Weise zu regeln sind. Im Wesentlichen handelt es sich insoweit um die „Konferenz der Präsidenten“24 und die Sektorialkonferenzen (wie etwa für Tourismus).25 Drittens muss ein künftiger territorialer Senat als politischer Kanal dienen, durch den die regionale Beteiligung an europäischen Angelegenheiten gesichert und verstärkt werden kann. Er soll die Arbeiten ergänzen, die intern und damit eher im Sinne technischer Leitlinien im Rahmen der „Konferenz für Angelegenheiten der Europäischen Union“ entwickelt werden. Dabei muss es zu einer neuen und qualifizierteren Art der Diskussion und Einigung kommen, damit territoriale Interessen, die häufig von Entscheidungen der Organe der Europäischen Union betroffen sind, wie in anderen politisch dezentralisierten Mitgliedstaaten als einheitlicher staatlicher Wille später vor den Institutionen der Europäischen Union vertreten werden können.26 Nicht zuletzt mit Blick auf die normative Entwicklung des EU-Rechts hat ein neu konfigurierter Senat eine nicht weniger wichtige 23

Vgl. Albertí i Rovira, Enoch, La reforma constitucional del Senado a la hora de la verdad, in: Aja Fernández, Eliseo / Albertí i Rovira, Enoch / Ruiz-Ruiz. Juan José (Fn. 18), S. 38–39; insbesondere auch Urías Martínez, Joaquín, El Tribunal Constitucional ante la participación autonómica en el nombramiento de sus miembros, Revista d’Estudis Autonòmics i Federals 10/2010, S. 201–244. 24 Die „Konferenz der Präsidenten“ ist das auf der höchsten politischen Ebene Spaniens angesiedelte Organ der Zusammenarbeit zwischen der nationalen Regierung und den Autonomen Gemeinschaften. Es hat wie in vielen politisch dezentralisierten Staaten nur eine gewohnheitsrechtliche Grundlage. 25 García Morales, María Jesús, La cooperación en los federalismos europeos: significado de la experiencia comparada para el Estado autonómico, Revista de Estudios Autonómicos 1/2002, S. 103–124. 26 Pérez Tremps, Pablo, La reforma del Senado ante la Unión Europea, in: Generalitat de Catalunya-Institut d’Estudis Autonòmics (Hrsg.), Ante el futuro del Senado, Barcelona 1996, S. 433–450; Punset Blanco, Ramón, Senado, Comunidades Autónomas y Unión Europea, in: Generalitat de Catalunya, Institut d’Estudis Autonòmics, Barcelona 1996, S. 451–466; De Carreras i Serra, Francesc, Las funciones del Senado y la participación de las Comunidades Autónomas en la Unión Europea, in: Generalitat de Catalunya-Institut d’Estudis Autonòmics (Hrsg.), Ante el futuro del Senado, Barcelona 1996, S. 467–480.

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Mission zu erfüllen, die eine Wahrnehmung territorialer Interessen auch in den Fällen ermöglicht, in denen Spanien als Mitgliedstaat das Recht der Europäischen Union umsetzt.27 Um eine effektive normative Koordinierung zwischen dem Staat und den Autonomen Gemeinschaften zu gewährleisten, ist daher ein neu zu konzipierender Senat erforderlich, der zur Ausarbeitung der staatlichen Normen beiträgt und zu diesem Zweck auf die effektive Beteiligung der mit Selbstverwaltung ausgestatteten Gebiete bauen kann. Dies kann Fälle betreffen, in denen das Oberhaus die Grundsatzgesetzgebung und die Kooperationsabkommen zwischen Staat und Autonomen Gemeinschaften billigt, welche sich auf die innerstaatliche Umsetzung europäischer Richtlinien beziehen, und es als institutionelle Basis für eine politische Intervention der Vertreter der Autonomen Gemeinschaften dient, womit immer auch die Vitalität des demokratischen Prinzips zum Ausdruck kommt.28

III. Struktur und Zusammensetzung eines neu verfassten Territorial-Senats Nach dieser Diagnose des Problems der aktuellen Verfasstheit des Senats sowie im Sinne der skizzierten Vorschläge zu seinen künftigen Funktionen und Kompetenzen, ist nun zu erörtern, welches institutionelle Design und welche Zusammensetzung das neue Modell aufweisen sollte, damit der Senat die beschriebenen Aufgaben auch angemessen ausüben kann. Wenn wir vergleichend die Erfahrungen auswerten,29 die in föderalen Staaten mit „zweiten Kammern“ gemacht wurden, dann stellt das deutsche Modell zweifellos eine notwendige, wenn auch sicherlich nicht die einzige in Betracht kommende Referenz dar. Es ist nicht überraschend, dass die Bezugnahme auf institutionelle Erfahrungen anderer Staaten ihre Vorteile hat, aber eben auch Risiken birgt, da jede „Zweite Kammer“ in politisch dezentralisierten Staaten immer das Ergebnis der Geschichte selbst oder, wenn man so will, der jeweiligen Kultur oder Verfassungstradition ist. Sie trägt einmalige sowie zumeist im Laufe der Zeit in einem besonderen Rahmen entwickelte und daher nicht übertragbare Erfahrungen in sich. Mithin muss diese Erfahrung in ihrem eigentlichen Kontext interpretiert werden, wobei der Import eine „Risikooperation“ mit unvorhersehbaren Ergebnissen ist.

27

Ordóñez Solís, David, La ejecución del Derecho Comunitario europeo en España, Madrid 1993, 247 ff. 28 García Morales, María Jesús, Los convenios de colaboración en los sistemas federales europeos. Estudio comparativo de Alemania, Suiza, Austria y Bélgica, Madrid 1998, 246 ff. 29 Zum konstitutionellen Vergleich als fünfte Auslegungsmethode vgl. Häberle, Peter, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat. Zugleich zur Rechtsvergleichung als fünfter Auslegungsmethode, Juristenzeitung 1989, S. 913.

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Der Bundesrat ist keine parlamentarische Kammer und will es auch nicht sein. Seine Mitglieder werden nicht von Bürgern gewählt, noch richten sie sich nach den Regeln des Parlamentarismus. Daher ist sein Betrieb ununterbrochen und nicht von der Dauer der Legislaturperioden abhängig. Tatsächlich ist seine Bezeichnung nicht Ausdruck der parlamentarischen Realität. Der Name bezieht sich auf eine relativ kleine „Beratung“ oder „Diät“, in welche die Vertreter der Landesregierungen einbezogen sind, die je nach dem zu behandelnden Thema unterschiedliche fachliche Kompetenzen haben. Zu diesem Zweck verfügt jede Delegation eines deutschen Landes über eine der Bevölkerung seines Hoheitsgebiets annähernd entsprechende Stimmenzahl, die mindestens drei Stimmen pro Land bedeutet. Der Bundesrat ist daher keine parlamentarische Kammer, sondern nimmt vor allem am Gesetzgebungsverfahren des Bundes (Art. 50 GG) mit teils bindender und unentbehrlicher Stellungnahme („Zustimmungsgesetze“), teils in Form eines bloßen aufschiebenden Vetos („Einspruchsgesetze“) teil.30 Ebenso beteiligt sich der Bundesrat an der Annahme der von Deutschland unterzeichneten internationalen Verträge (Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG), an der Beratung und Entscheidung von Rechtsverordnungen der Bundesregierung oder eines Bundesministers (Art. 80 Abs. 2 GG), an der Ernennung von Mitgliedern bestimmter Bundesorgane, sodann anlässlich der Entscheidung über die Anwendung des sogenannten „Bundeszwangs“ auf ein Land (Art. 37 Abs. 1 GG) an der Inspektion der Länder, der Erklärung des Ausnahmezustands und im Rahmen der Festlegung der föderalen Position in Bezug auf europäische Angelegenheiten (Art. 50 GG). Daher ist sein Organcharakter als „sui generis“ zu bezeichnen und seine Prägung durch die Verfassungsgebräuche Deutschlands offenkundig. Daraus erklärt sich auch, dass trotz der unbestrittenen Bewunderung, die dieses Organ weltweit erfährt, es niemals in einen anderen Staat exportiert wurde – auch nicht in unseren, obwohl es eine große Gruppe von pro-deutschen Professoren des öffentlichen Rechts in Spanien gibt. So gibt es mehrere Zweifel oder sogar potenzielle Nachteile, die eine Übertragung des deutschen Modells auf Spanien hervorrufen würde, was zudem eine tiefgreifende Verfassungsreform erfordern würde, die nicht auf die Änderung der spezifischen verfassungsrechtlichen Bestimmungen über den Senat beschränkt werden könnte.31 Der Hauptgrund für diese Zweifel ergibt sich dabei aus Artikel 66 der spanischen Verfassung, der vorsieht, dass die Cortes Generales, also der Kongress der Abgeordneten sowie der Senat, das spanische Volk vertreten. Dies wäre unvereinbar mit der Schaffung eines Senats nach dem Modell des Bundes­rates,

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Schneider, Hans Peter, El nuevo Estado federal alemán. La reforma del federalismo y su implementación, in: Teoría y Realidad Constitucional 34/2014, S. 99–128; Oeter, Stefan / Wolff, Julia, La posición del Bundesrat tras la reforma del federalismo, Revista de Derecho Constitucional Europeo 6/2006, S. 29–123. 31 Solozábal Echavarría, Juan José, Una propuesta de cambio federal, in: Solozábal Echavarría, Juan José (Hrsg.), La reforma federal. España y sus siete espejos, Madrid 2014, S. 19–67.

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weil dessen Mitglieder von den Regierungen der Autonomen Gemeinschaften ernannt werden müssten und nicht vom Wahlorgan gewählt würden. Hinzu kommt die Bestimmung in Artikel 67 der spanischen Verfassung, wonach die Mitglieder der Cortes Generales nicht an ein Mandat gebunden sind. Dieses Verbot des gebundenen Mandats kollidiert offen mit der Logik, die dem deutschen Modell der territorialen Kammer innewohnt. Die Kollision mit dem Verbot aus Artikel 67 ist aber unvermeidlich, wenn die Vertreter der Territorialregierungen, die an den Sitzungen teilnehmen, je nach Thema der Debatte oder Diskussion eine Anweisung hinsichtlich ihres Stimmverhaltens erhalten. Diese Form der Stimmabgabe erlaubt theoretisch die getreue Umsetzung der Meinungen und Interessen der Territorialregierungen im Prozess der allgemeinen Willensbildung, kann sich aber nur auf eine mittelbare demokratische Legitimation stützen.32 Es ist jedoch auch bekannt, dass der Bundesrat bei vielen Gelegenheiten seinen Willen oder sein Interesse bekräftigt hat, politische Positionen unter Ausnutzung unterschiedlicher Mehrheitsverhältnisse in beiden Kammern gegen die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen / Parteien zu beziehen. Gleiches gilt für die offen bekundete Absicht des Bundesrates, die zuvor von der Regierungspartei vorgetragenen Kriterien zwecks Wahrung seiner eigenen politischen Identität schlicht zu übernehmen. Kurz gesagt, die Vorherrschaft von Parteiinteressen im Bundesrat vor den streng territorial definierten Interessen wurde oftmals kritisiert. Das lässt sich weder verschweigen noch sollte es unterschätzt werden.33 Dieser bisher formulierte zentrale Vorbehalt gegenüber einer Übernahme des deutschen Modells wird bei Berücksichtigung des demokratischen Prinzips noch verstärkt. Denn ein aus Vertretern der autonomen Regierungen zusammengesetzter Senat würde den politischen Minderheiten in den verschiedenen Territorien die angemessene Repräsentanz ihrer Interessen rauben, wodurch zugleich der innere politische Pluralismus dieses Organs neutralisiert würde. Auf diese Weise würde die Realität verfälscht oder verzerrt und würde den Schein von Einheit und Konsens erwecken. Das Erfordernis, dass die Stimmen eines Landes im deutschen Bundesrat nur einheitlich und nur durch anwesende Mitglieder oder deren Vertreter abgegeben werden können (Art. 50 Abs. 3 Satz 2 GG), macht dies deutlich. Ergänzend ist hinzuzufügen, dass das von den Mitgliedern des Bundesrats repräsentierte Profil einer Landesregierung, wenn auch nicht in einem technokratischen Sinne, den Zusammenhalt und die Effizienz maximieren soll und damit für das Verhandeln politischer Entscheidungen von enormer Bedeutung ist. Sie stehen am Ende eines Verfahrens, welches deutlich intransparenter ist und mit geringerer Öffentlichkeitsbeteiligung durchgeführt wird als dies in einem Parlament der 32

Mit Ausnahme des Art. 77 Abs. 2 GG; vgl. Meyer, Hans, Los votos en el Bundesrat, in: Teoría y Realidad Constitucional 17/2006, S. 65–105. 33 Cabellos Espiérrez, Miguel Ángel, Evolución y características actuales del federalismo alemán, in: Solozábal Echavarría, Juan José (Fn. 31), S. 159–201.

Der Spanische Senat als Kammer der territorialen Vertretung 

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Fall ist. Unter diesen Gesichtspunkten ist es schwierig, die Zuweisung von Gesetz­ gebungsbefugnissen an ein Organ zu rechtfertigen, das kein „loyaler“ Vertreter der Volkssouveränität ist.34 Diese Tatsache kann zu einem „Konflikt von Legitimitäten“ führen.35 Er wird dann eintreten, wenn die Positionen einer in direkter Wahl besetzten Kammer der Volksvertretung wie dem Kongress und eines Organs aufeinandertreffen, das sich aus Vertretern der Regionalregierungen zusammensetzt. All dies kann zu einem beunruhigenden „Fokus konstanter Spannung“ werden.36 In Anbetracht dessen halte ich ein territoriales Senatsmodell für erstrebenswert, das durch einen effektiv parlamentarischen Charakter gekennzeichnet ist.37 Ich bin der Meinung, dass ein neu verfasster Senat integraler Bestandteil eines Zweikammerparlaments sein sollte, so dass seine Mitglieder folglich von den Wahlgremien jeder Autonomen Gemeinschaft gewählt werden sollten, also direkt wie in der Schweiz und nicht indirekt von den Parlamenten der verschiedenen Territorien, wie dies in Österreich praktiziert wird, und zwar je nach dem Gewicht, das die Parteien in jeder einzelnen dieser Gebietskörperschaften besitzen.38 Auf diese Weise wird dem neuen Senat eine unmittelbare demokratische Legitimität verliehen, die als Grundlage für die einschlägigen politischen Entscheidungen dient, die das Organ trifft. Um den Status als Kammer der territorialen Vertretung hervorzuheben, muss die Wahl ihrer Mitglieder daher die Besonderheiten berücksichtigen, die sich aus dem geografischen Geltungsbereich der verschiedenen Autonomen Gemeinschaften ergeben. Diese Wahlen müssen gleichzeitig oder zusammen mit den Wahlen abgehalten werden, die zur Erneuerung der verschiedenen Regionalparlamente stattfinden. In diesem Sinne wird ein leicht korrigiertes Mehrheitswahlrecht, d. h. ein durch eingeschränktes Wahlrecht und / oder eine einzige übertragbare Stimme sowie auf die Berücksichtigung politischer Minderheiten mit Listen von nicht blockierten Kandidaten ausgerichtetes System, die wahrscheinliche Übereinstimmung der Senatoren mit der jeweiligen Ausrichtung der Regierungspolitik garantieren und dabei den Charakter der territorialen Repräsentation weitgehend einheitlich und homogen gewährleisten. Dies wird die Autonomie der gewählten Vertreter im Verhältnis zu ihrer jeweiligen Partei fördern und ihre Beziehungen zu den von ihnen repräsentierten Gebietskörperschaften stärken, wodurch der Senat daran gehindert wird, sich ähnlich zu verhalten wie der Kongress. In jedem Fall ist die Anzahl der in dieses neue Senatsmodell eingebundenen Vertreter notwendigerweise geringer als die des Unterhauses. Es wird für jede Autonome Gemeinschaft  – zwischen 34

Solozábal Echavarría, Juan José (Fn. 31), S. 59–60. Schneider, Hans-Peter, La reforma del federalismo en Alemania. Fines, negociaciones, resultados, Revista d’Estudis Autonòmics i Federals 8/2009, S. 11–36. 36 Albertí i Rovira, Enoch (Fn. 23), S. 42. 37 Punset Blanco, Ramón (Fn. 16), S. 123 ff. 38 Arroyo Gil, Antonio, Rasgos constitucionales del federalismo austriaco, in: Solozábal Echavarría, Juan José (Fn. 31), S. 203–258. 35

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José María Porras Ramírez

drei und fünf Senatoren – festgelegt und quotal um eine Person für jede Million Einwohner erhöht.39 Infolge der Wahrung des verfassungsrechtlichen Verbots des gebundenen Mandats wird es natürlich keine politische Einheit unter den gewählten Vertretern im Senat geben; aber gemäß ihrer politischen Zugehörigkeit und territorialen Zuordnung werden die politischen Vertreter entsprechend den jeweiligen Interessen ihres Gemeinwesens handeln und sowohl ideologischen als auch territorialen Pluralismus artikulieren. Ohne Zweifel besteht die Gefahr, dass die parteiische Logik bei der Verteidigung der territorialen Interessen vorgeht, wie dies in Österreich der Fall ist.40 Dies hängt indes auch davon ab, ob es gelingt, eine politische Kultur zu verbreiten, die in erster Linie darauf abzielt, den Senat in ein Organ der originären Interessenwahrnehmung der Autonomen Gemeinschaften zu verwandeln, wie dies in der Schweiz den Vertretern der Kantone in bewundernswerter Weise gelungen ist.41 Eine solche Reform ist weder Zauberformel noch Allheilmittel. Es ist aber gewiss, dass eine auf solchen Voraussetzungen beruhende Verfassungsreform in Verbindung mit einer effektiveren Regulierung anderer institutioneller Instrumente, die eine reibungslose Zusammenarbeit zwischen Staat und Autonomen Gemeinschaften sicherstellen müssen, die Funktionsweise des spanischen Modells eines zusammengesetzten Staates erheblich verbessern wird. Er gibt in einem allgemeinen, Demokratie und Freiheit garantierenden Rahmen das Zusammenspiel von Einheit und Vielfalt nicht nur vor, sondern will es in einem „täglichen Plebiszit“ gestalten.

39

Solozábal Echavarría, Juan José (Fn. 31), S. 59–60. Vernet i Llovet, Jaume, El sistema federal austriaco, Escola d’Administració Pública de Catalunya, Barcelona 1997, S. 126 ff. 41 Über den Schweizer Ständerat, ein wesentlicher Bestandteil seines bundesstaatlichen Modells, siehe Albertí i Rovira, Enoch (Fn. 23), S. 173; Rodríguez-Patrón, Patricia, El Consejo de Estados suizo, in: Solozábal Echavarría, Juan José (Fn. 4), S. 347 ff. 40

Das Mehrebenensystem im italienischen Regionalismus Entwicklungslinien und offene Probleme Giorgio Repetto

I. Die Tradition der lokalen Selbstverwaltung und der Wandel zur „Republik der Autonomien“ Seit Errichtung des italienischen Systems der Regionen in den siebziger Jahren1 hat dieser Regionalismus viele Spannungen erlebt.2 Die schwache Tradition der lokalen Selbstverwaltung, die seit der staatlichen Einigung (1861) stetig dem Druck des Zentralstaates ausgesetzt war, ist einer der Gründe für die nur schmale Legitimationsbasis der Autonomie der Regionen. Im Hinblick auf die anderen Verwaltungsebenen, also die Provinzen und Kommunen, hat das staatliche Gesetz eine tiefgreifende Gestaltungsmacht ausgeübt, sodass die ihnen zugewiesenen Verwaltungsaufgaben sowie ihre finanzielle Ausstattung vollständig von staatlichen Entscheidungen abhängig waren. Nach der Verfassungsreform von 2001 herrschte der Eindruck, dass das politische und institutionelle Gewicht der lokalen Körperschaften eine erhöhte Rolle spielen müsse, da die Neufassung des Fünften Titels der Verfassung ihnen neue Funktionen und Aufgaben übertragen hat. Dieser Prozess hat sich in einer Wiederbelebung von Sinn und Zweck des Art. 5 der ital. Verfassung widergespiegelt, nach dessen Wortlaut die Republik 1. „die lokalen Selbstverwaltungen [anerkennt und fördert]“ und 2. „in den Dienstbereichen, die vom Staate abhängen, die weitestgehende Dezentralisierung der Verwaltung [verwirklicht]“. In der geänderten Konstellation der „Republik der Autonomien“ kommt jetzt in Art. 5 der ital. Verfassung ein anderes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Ebenen zum Ausdruck, in dem der Zentralstaat den Großteil seiner Gesetzgebungs- sowie Verwaltungs 1

Obwohl die Verfassung von 1948 ein regionales System eingeführt hat, sind die Regionen als autonome Gebietskörperschaften erst im Jahre 1970 tätig geworden, da der nationale Gesetzgeber bis dahin den notwendigen Durchführungsakten nicht zugestimmt hatte. Mit dem Gesetz Nr. 281/1970 hat der Staat den Regionen finanzielle Mittel und Beamte zur Verfügung gestellt, sodass sie als politisch und rechtlich autonome Einheiten eingerichtet werden konnten. Vor 1970 wurden allein die fünf Regionen mit Sonderstatuts eingerichtet (Sardinien, Sizilien, Friaul, Südtirol und Vallée D’Aoste), deren Statute nach dem Zweiten Weltkrieg (im Einklang mit Art. 116 ital. Verfassung) mit Verfassungsgesetz genehmigt wurden. 2 Rolla, Giancarlo, L’evoluzione dello stato regionale in Italia: tra crisi del regionalismo omogeneo e aspirazioni a un’autonomia asimmetrica dei territori, Le Regioni, 2019, S. 141.

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Giorgio Repetto

kompetenzen zu Gunsten eines mehrpoligen Systems verlor. Nunmehr wurden die Regionen zu Gesetzgebungskörperschaften (Art. 117 der ital. Verfassung) und die Kommunen zur erstinstanzlichen Wahrnehmung von Verwaltungskompetenzen im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip berufen (Art. 118 der ital. Verfassung). Dieser Wandel in Richtung einer allgemeinen Dezentralisierung wird in der neuen Fassung des Art. 114 Abs. 1 der ital. Verfassung am deutlichsten zusammengefasst. Er besagt im Kern, dass die Republik von jenem Zeitpunkt an ihre Entscheidungsprozesse von „unten“ nach „oben“ zu organisieren hat.3 Was das Verhältnis zwischen Staat und Regionen mit Blick auf die jeweiligen Gesetzgebungs- sowie Verwaltungskompetenzen angeht, ist der allgemeine Ansatz der Verfassungsreform 2001 so gestaltet, dass den verschiedenen Ebenen im Staatsaufbau kein materieller Bereich an Aufgaben von der Verfassung zugewiesen wird, in denen sie Gesetzgebungs- sowie Verwaltungskompetenzen im Sinne eines einheitlichen Blocks ausüben können. Vor 2001 galt nämlich der Grundsatz der sog. „Parallelität“, wonach der Staat und die Regionen über Verwaltungskompetenzen in jenen Bereichen verfügten, in denen sie auch die Gesetzgebungskompetenzen ausübten. Im Unterschied zu einem solchem starren Kriterium, das dem Grundsatz der Parallelität zugrunde liegt, erweist sich der 2001 eingeführte Ansatz als flexibel. Hiernach sind Staat und Regionen zu einem Verhalten loyaler Zusammenarbeit (leale collaborazione) verpflichtet. Als Ergebnis dieser Verpflichtung wurden den beiden Ebenen jene Verwaltungskompetenzen zugewiesen, welche der Natur der zu erfüllenden Aufgaben im Sinne des allgemeinen Subsidiaritätsprinzips entspricht.4

II. Regionalismus und Politikverflechtung in der Debatte um die Verfassungsreformen: das Problem der zweiten Kammer Die Konsolidierung dieser mehrpoligen Institutionenverflechtung im Zeichen einer steigenden Dezentralisierung hat sich in den folgenden Jahren in der Staatspraxis nur teilweise durchsetzen können. Auf der einen Seite hat die Verfassungsreform 2001 unmittelbar einige Lücken und (rechts-) technische Probleme zu Tage treten lassen, die eng mit dem unzulänglichen Stand der Klärung des politischen Verhältnisses zwischen Staat und Regionen verbunden sind. Eine praxistaugliche Übertragung von Kompetenzen an die Regionen und an andere Gebietskörperschaften in einem flexiblen System hätte nämlich einen politischen Prozess und eine rechtliche Gesamtordnung vorausgesetzt, in deren Rahmen einige zentrale Probleme zwischen den beiden Ebenen zuvor hätten gelöst werden müssen. Insbesondere sind die Fragen hinsichtlich der notwendigen finanziellen Ausstattung 3

Art. 114 Abs. 1 der ital. Verfassung lautet: „Gemeinden, Provinzen, Großstädte mit besonderem Status, Regionen und Staat bilden die Republik.“ 4 Bin, Roberto, La funzione amministrativa nel nuovo Titolo V della Costituzione, Le Regioni, 2002, S. 365.

Das Mehrebenensystem im italienischen Regionalismus

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für die Ausübung der an die Regionen und Gemeinden übertragenen Verwaltungskompetenzen sowie der Art und Weise, wie diese Ausübung zwischen den beiden Ebenen zu koordinieren ist, auf zentraler Ebene weitgehend ungelöst geblieben. Der Grundansatz der politischen Akteure war es nämlich, dass die Durchführung dieser Reform ohne zusätzliche politische Entscheidung erfolgen sollte. Er war von der Vorstellung geleitet, dass die Verfassungsreform den Prozess der Neuordnung der Funktionen selbständig und ohne weitere rechtliche und politische Impulse auslösen könne und somit auch sich ändernde politische Mehrheiten nicht als Hemmfaktor wirken würden. Demzufolge hat dies eine kontinuierliche Pfadabhängigkeit notwendig gemacht. Sowohl im Bereich der Gesetzgebungszuständigkeiten als auch im Hinblick auf die finanzielle und politische Autonomie der Regionen haben sich von Anfang an einige (neu-)zentralistische Tendenzen durchgesetzt, die die unersetzliche Rolle des Zentralstaates und seiner Organe nochmals hervorgehoben haben. Der Verfassungsgerichtshof hat insbesondere klargestellt, dass, auch wenn Art. 117 Abs. 2 der insoweit reformierten ital. Verfassung den Zentralstaat nur als Inhaber einer an sich begrenzten ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeit ansieht, seine Kompetenzen eine Ausstrahlungswirkung haben, die den Raum der den Regionen zugewiesenen Zuständigkeiten (Art. 117 Abs. 3 und 4) weitgehend verengen können. Eine solche Verdrängung der Kompetenzverteilung zu Gunsten der staatlichen Gesetzgebung ist umso notwendiger, je verflochtener die materiellen Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen den beiden Ebenen sind und je mehr unitarische Interessen gewahrt werden müssen.5 Eine solche Politikverflechtung macht dann auch eine Schlichtungsinstanz notwendig, innerhalb derer der Staat und die Regionen die politischen Vereinbarungen über die Funktionenwahrnehmung und die dafür notwendigen organisatorischen sowie finanziellen Aspekte unter Beteiligung aller betroffenen Akteure treffen und in Form von rechtsverbindlichen Akten umsetzen können. Bekanntlich ist hierfür die fehlende Einrichtung einer zweiten Kammer ursächlich, in der die Regionen und die lokalen Gebietskörperschaften auf der zentralen Ebene vertreten und so in das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren einbezogen sind. Dieses Defizit wurde zu einem Faktor, der die oben genannten neuen 5 Als Beispiel einer solchen Ausstrahlungswirkung der staatlichen Gesetzgebung kann die Zuständigkeit im Bereich des Umweltschutzes (Art. 117 Abs. 2 lit. s) erwähnt werden. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs (Entscheidung Nr. 536/2002 und 307/2003 – ständige Rechtsprechung) ist nämlich Umweltschutz weder ein bestimmter noch ein a priori bestimmbarer Bereich, da hiermit ein Ziel bezeichnet wird, für dessen Verwirklichung das staatliche Gesetz auch in den Bereichen sorgen muss, die den Regionen zugewiesen sind (z. B. Gesundheitswesen oder Bauwesen). Eine umfassende Untersuchung, auch hinsichtlich weiterer Zuständigkeitsbereiche, findet sich in Bifulco, Raffaele / Celotto, Alfonso (Hrsg.), Le materie dell’art. 117 Cost. nella giurisprudenza costituzionale dopo il 2001: analisi sistematica della giurisprudenza costituzionale sul riparto di competenze tra Stato e Regioni 2001–2014, Napoli 2015.

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Giorgio Repetto

zentralistischen Tendenzen gefördert und die Verkehrung des Sinns und Zwecks der Verfassungsreform 2001 noch verschärft hat.6 Die fehlende Einrichtung eines „Senats der Autonomien“ hat in den jüngeren Entwicklungen des italienischen Mehrebenensystems sowohl systemische als auch institutionelle Folgen gezeitigt. Einerseits hat diese Lücke die Bedeutung des von Art. 5 der ital. Verfassung vorausgesetzten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit zwischen Staat und Regionen stark modifiziert. Vom parlamentarischen Prozess und von der Dynamik politischer Repräsentation auf der zentralen Ebene abgesehen, hat der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit eine schwächere, d. h. bloß verfahrensartige Rolle gespielt. Die Aufgabe, das Mehrebenensystem zu koordinieren, ist nämlich dem Parlament entglitten und zu einem bloß förmlichen Entscheidungsverfahren herabgestuft worden, das anderen politischen Akteuren (d. h. der nationalen Regierung und den regionalen Exekutiven) vorbehalten ist. Es überrascht deswegen nicht, dass der italienische Verfassungsgerichtshof schon im Jahre 2004 (Entscheidung Nr. 6) und zuletzt im Jahre 2016 (Entscheidung Nr. 7) mehrmals „die noch immer nicht zustande gekommene Reform der parlamentarischen Institutionen und der Gesetzgebungsprozesse“ kritisch betont hat. Andererseits hat die institutionelle Verdrängung der Interessen der Regionen und der anderen lokalen Gebietskörperschaften aus der parlamentarischen Repräsentation zu einer Koordinierung des Mehrebenensystems innerhalb einer informellen Praxis geführt. Eine zentrale Rolle hatte darin das sog. System der Konferenzen, insbesondere die Staat-Regionen-Konferenz (Conferenza Stato-Regioni), in der seit den achtziger Jahren die regionalen Exekutiven mit der nationalen Regierung im Rahmen eines Vollstreckungsregionalismus kooperieren und die Grundentscheidungen über die Durchführung von Reformgesetzen treffen. Eine weniger bedeutende Rolle spielen bislang die anderen Konferenzen (Stato-città und Conferenza unificata).7 Hinzu kommt, dass in den letzten Wahlperioden auch die Chance der U ­ msetzung des Art. 11 VerfG Nr. 3/2001 nicht genutzt wurde. Diese Bestimmung beauftragt das Parlament, einen Ausschuss einzurichten, der ein Gutachten über Gesetzesvorhaben erstellen muss, wenn die Interessen der Regionen im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten betroffen sind. Dieser Ausschuss soll paritätisch, also mit der gleichen Anzahl von Abgeordneten einerseits und Delegierten der Regionen andererseits, zusammengesetzt sein. Seine Gutachten sollen zwingend zu einem neuen Beschluss im Parlament führen. Aber auch die 6

Pizzetti, Franco, La ricerca del giusto equilibrio tra uniformità e differenza: il problematico rapporto tra il progetto originario della costituzione del 1948 e il progetto ispiratore della riforma costituzionale del 2001, Le Regioni, 2003, S. 599. Zu einer kritischen Würdigung der Debatte vgl. Ruggiu, Ilenia, Contro la Camera delle Regioni. Istituzioni e prassi della rappresentanza territoriale, Napoli 2006. 7 Caretti, Paolo, Il sistema delle Conferenze e i suoi riflessi sulla forma di governo nazionale e regionale, Le Regioni, 2000, S. 547.

Das Mehrebenensystem im italienischen Regionalismus

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ser „Ersatz-Senat“ ist bislang noch nicht eingerichtet worden. Daher hat sich ein alternatives Modell durchgesetzt, dessen Hauptdarsteller – obwohl mit ganz unterschiedlichen Rollen – die Corte costituzionale und, mit dem Ziel der Regierungskooperation, die Konferenzen sind.

III. Das Mehrebenensystem in der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs: Der Aufstieg des Grundsatzes des loyalen Verhaltens und seine Folgen im sog. „Konferenzsystem“ Das anhaltende Fehlen einer Institution, die die Interessen der Regionen und der anderen lokalen Körperschaften repräsentieren und die diesbezüglichen Konflikte schlichten kann, hat dazu geführt, dass der Verfassungsgerichtshof die schwierige Aufgabe übernommen hat, als rechtliche Schlichtungsersatzinstanz zu wirken. Mit seiner Judikatur übernimmt er nämlich nicht nur die Rolle der traditionellen Schiedsgerichtsbarkeit in Bundessachen. Seit 2001 hat er mit Hilfe der richterlichen Verfassungsrechtsfortbildung auch einige Lücken gefüllt, die das Ergebnis der Verfassungsreform sind. Im Mehrebenensystem hat dies u. a. zu der Rechtsprechung geführt, nach der die in der Verfassung nur knapp geregelte Verflechtung zwischen Gesetzgebungs- und Verwaltungszuständigkeiten von Staat und Regionen im Sinne einer „prozessualen Subsidiarität“ neu geregelt wurde. Wo nämlich ein unitarisches Interesse an der Wahrnehmung von Verwaltungszuständigkeiten besteht, wie z. B. im Autobahn- und Infrastrukturwesen, ist der Staat dazu verpflichtet, von der vorgesehenen Kompetenzverteilung abzusehen, sofern der Staat und die Regionen hinsichtlich einer solchen Wahrnehmung von Verwaltungskompetenzen zu einem Einverständnis (intesa)  gelangen.8 Nach der grundlegenden Entscheidung Nr. 303/2003 verpflichtet ein solches Einvernehmen den Staat, also die nationale Regierung, Verhandlungen mit den Regionen innerhalb der Konferenz zu führen, sodass die „Fliehkraft hin zum Zentrum“ zumindest zum Gegenstand politischer Verhandlungen gemacht wird. Dieses Verfahren bindet nämlich Staat und Regionen in einen Prozess ein, der zumeist im Sinne von politischen Verhandlungen über Kompetenzen und finanzielle Ressourcen zu verstehen ist. Sie haben oftmals auch tatsächlich zu Maßnahmen geführt, sodass ein Gleichgewicht zwischen den betroffenen Ebenen und den von ihnen vertretenen Interessen hergestellt werden konnte. Die Erfahrungen der letzten zehn Jahre zeigen, dass der Grundsatz, zu einem Einvernehmen zu gelangen, nun zu einem wichtigen Bestandteil der ordentlichen Regierungstätigkeit geworden ist. Jedes politische Reformvorhaben auf nationaler Ebene (wie z. B. die Bereitstellung eines Mindestmaßes an öffentlichen Leistun 8 Bartole, Sergio, Intrecci di competenze, legislazione statale  e ruolo della Conferenza Stato-​Regioni, Giurisprudenza costituzionale, 2017, S. 2801; Scaccia, Gino, Sussidiarietà isti­ tuzionale e poteri statali di unificazione normativa, Milano 2009.

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gen im Gesundheitswesen, die Reform der öffentlichen Verwaltung oder die jüngst beschlossene Gewährung eines Bürgereinkommens) muss vom Staat mit den Regionen verhandelt werden, sodass sie mit den notwendigen finanziellen Mitteln ausgestattet und ihre Verwaltungsaufgaben klar abgegrenzt werden können. Der Grundsatz, ein solches Einvernehmen herzustellen, wurde schon vor 2001 in einem ordentlichen Gesetz geregelt,9 hat aber – wie schon ausgeführt – nach 2003 eine besondere Bedeutung in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs erlangt. Es ist aber nicht die einzige Kooperationsweise, die in den letzten Jahren das Verhältnis zwischen Staat, Regionen und anderen Gebietskörperschaften bestimmt hat. Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit fordert nämlich auch, dass die verschiedenen Ebenen im Sinne loyaler Kooperation handeln.10 Dies bedeutet, dass über jede im Rahmen der Ausübung von Verwaltungskompetenzen ergriffene Maßnahme, die in die Zuständigkeitsbereiche anderer Ebenen eingreifen könnte, auf der Basis verschiedener prozeduraler Erfordernisse ein Einvernehmen hergestellt werden muss. Über dieses Einvernehmen hinaus sind die oben genannten Akteure (und insbesondere die nationale Regierung) verpflichtet, sich mit den anderen Ebenen zu beraten (consultazione)  oder ein obligatorisches Gutachten ­(parere obbligatorio) anzufordern. Im ersten Fall muss es der Staat ermöglichen, dass die von einer bestimmten Maßnahme betroffene Ebene ihren Standpunkt deutlich machen kann, auch wenn er nicht gehalten ist, ihm zu folgen. Im zweiten Fall (obligatorisches Gutachten) sind der Staat oder einzelne Regionen verpflichtet, die von den jeweils anderen Subjekten vertretenen Interessen und Positionen im Entscheidungsprozess zu berücksichtigen. Allerdings kann die nationale Regierung hiervon abweichen, wenn er seine Letztentscheidung angemessen begründet.11 Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs hat im letzten Jahrzehnt den Grundsatz des Einvernehmens in verschiedener Weise konturiert und damit zu Klärungen geführt. Auf der einen Seite haben verschiedene Entscheidungen den Unterschied zwischen so genannten „schwachen“ und „starken“ Einvernehmen – je nachdem, ob die nationale Maßnahme trotz eines Einspruchs der Regionen getroffen werden kann oder nicht – herausdestilliert und damit dieses Institut weiterent-

9

Art. 3 und Art. 9 der Gesetzesvertretenden Verordnung (Decreto legislativo) Nr. 281/1997. Verfassungsgerichtshof, Entscheidung Nr. 31/2006. 11 Besonders umstritten ist die Rolle der in der Konferenz getroffenen Vereinbarungen ­(accordi), die in Art. 4 des Gesetzgebungsdekrets Nr. 281/1997 geregelt sind. Nach dem Wortlaut dieses Artikels sind die Vereinbarungen zwischen Staat und Regionen darauf gerichtet, „die Wahrnehmung der jeweiligen Kompetenzen zu koordinieren und Tätigkeiten von gemeinsamem Interesse in Gang zu setzen“. Die Unbestimmtheit dieser Regelung und die Unklarheiten hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs haben dazu geführt, die Rolle und Funktion dieser Vereinbarungen entweder zu entwerten oder als eine flexible randständige Regelung zu qualifizieren; siehe hierzu ausführlich mit weiteren Nachweisen D’Atena, Antonio, Diritto Regionale, Turin 2018, S. 370, und Carpani, Guido, La Conferenza Stato-regioni. Competenze e modalità di funzionamento dall’istituzione ad oggi, Bologna 2007, S. 67 ff. 10

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wickelt. Nach Art. 3 des Gesetzesdekrets Nr. 281/199712 kann ein vom Gesetz als notwendig qualifiziertes Einvernehmen durch eine eigene Entscheidung der staatlichen Regierung ersetzt werden, wenn die Konferenz binnen 30 Tagen zu keinem Ergebnis kommt (Abs. 3) oder Gründe einer besonderen Dringlichkeit vorliegen (Abs. 4). In jedem Fall hat die Regierung das Recht, von dem Einvernehmen abzusehen und die Letztentscheidung zu treffen, auch wenn sie gemäß dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit einen Verhandlungsprozess führen muss. Der Verfassungsgerichtshof hat zudem einigen Formen des Einvernehmens eine höhere Rolle beigemessen und sich dabei auf jene staatlichen Maßnahmen bezogen, die tiefgreifend mit regionalen Zuständigkeiten verflochten sind. In solchen Fällen „stellt die Nichterfüllung der Herstellung eines Einvernehmens ein unüberwind­ liches Hindernis für den Abschluss des Verfahrens dar“ (Entscheidung Nr. 6/2004). Dies hat zur Folge, dass Staat und Regionen in diesem Fall als gleichrangig gelten und eine gemeinsame Entscheidung treffen müssen. Das Blockaderisiko hat jedoch den Verfassungsgerichtshof dazu geführt, die Folgen eines fehlenden Einvernehmens abzuschwächen und der staatlichen Regierung eine Residualkompetenz zuzuschreiben. Am Ende eines erweiterten Entscheidungsprozesses (mit speziellen Zustimmungsbedürfnissen) kann sie auf jeden Fall die aus ihrer Sicht notwendigen Maßnahmen treffen (Entscheidungen Nr. 7/2016, 179/2012, 165/2011). Es ist jedoch offenkundig, dass die Unterscheidung zwischen einem eher unverbindlichen und einem bindenden Einvernehmen nur von einem formalen Standpunkt aus möglich ist, weil die Abschwächung des Vetorechts der Regionen und der lokalen Gebietskörperschaften, die in den Konferenzen vertreten sind, es notwendig macht, dass einige Verfahrenserfordernisse erfüllt werden.13 Auf der anderen Seite hat der Verfassungsgerichtshof den Spielraum, den das Institut des Einvernehmens lässt, in einer Leitentscheidung aus dem Jahr 2016 (Nr. 251) erweitert. Bis dahin wurde dieses Entscheidungsverfahren ausschließlich im Bereich der Verwaltungszuständigkeiten praktiziert, sodass ein angemessener Ausgleich zwischen den Bedürfnissen der unitarischen Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben und der notwendigen Rücksicht auf die Interessen der Selbstverwaltung hergestellt werden musste. Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit und seine prozeduralen Ausdrucksformen betrafen dann nur die Durchführungsakte, die mit Blick auf die Umsetzung von Gesetzen notwendig sind, sofern sie die Verwaltungszuständigkeiten der Regionen und der anderen lokalen Gebietskörperschaften berühren. Sein Anwendungsbereich ist somit in diesen Fällen auf 12

Das Gesetzesvertretende Dekret (decreto legislativo) ist vor dem Hintergrund von Art. 76 ital. Verfassung zu verstehen. Danach darf „die Ausübung der gesetzgebenden Tätigkeit […] nicht der Regierung übertragen werden, außer unter Festlegung von Grundsätzen und Richtlinien und nur für begrenzte Zeit und bestimmte Gegenstände“. Für den Erlass eines Gesetzesvertretenden Dekrets ist mithin die vorherige Festlegung der Grundsätze, von Richtlinien, einer Frist und des Gegenstandes bzw. der Regelungsmaterie notwendig, in deren Rahmen die Regierung gesetzgeberisch tätig werden kann (sog. „Ermächtigungsgesetz“). 13 Bin, Roberto / Falcon, Giandomenico, Diritto regionale, Bologna 2018, S. 125.

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die Ebene des Verwaltungsvollzugs beschränkt. Das staatliche Gesetz muss solche Beteiligungsformen vorsehen und ihre Angemessenheit kann mit Blick auf die Natur und Weite der betroffenen Zuständigkeiten vom Verfassungsgerichtshof überprüft werden, doch das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren bleibt von solchen prozeduralen Beteiligungserfordernissen unberührt. Mit anderen Worten: Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit betraf zunächst nur den Gesetzes­ inhalt, aber nicht das Gesetzgebungsverfahren.14 Mit der oben genannten Entscheidung hat der Verfassungsgerichthof hingegen zum ersten Mal klargestellt, dass das Institut des Einvernehmens auch die Gesetzgebungszuständigkeit betrifft, insbesondere dann, wenn die Regierung zum Erlass einer legislativen Verordnung ermächtigt wird. Deswegen ist die Regierung – auch in Ausübung der ihr zugewiesenen gesetzgeberischen Aufgaben  – gehalten, zu einem „starken“ Einvernehmen mit den Regionen zu gelangen, wenn sich der Inhalt der Gesetzesvertretenden Dekrete mit den Gesetzgebungszuständigkeiten der Regionen in irgendeiner Weise deckt und im Fall einer solchen Verflechtung nicht behauptet werden kann, dass die dem Staat zugewiesenen Zuständigkeiten einen Vorrang besitzen.15 Eine solche Praxis bei der Herstellung des Einvernehmens soll jedoch nicht auf die parlamentarische Gesetzgebungstätigkeit durchgreifen und damit auch keine stillschweigende Verfassungsänderung herbeiführen. Dies hat der Staatsrat in seinem Gutachten Nr. 83/2017 bestätigt.

IV. Das Konferenzsystem und seine institutionelle Schwäche Wenn der Verfassungsgerichtshof als rechtliche Schlichtungsersatzinstanz im letzten Jahrzehnt tätig gewesen ist, so ist die Staat-Regionen Konferenz zum einzigen Ort der politischen Koordinierung im italienischen Mehrebenensystem geworden.16 Obwohl das Konferenzsystem schon in den achtziger Jahren geschaffen wurde, hat das letzte Jahrzehnt klar gezeigt, dass die Auseinandersetzungen zwischen den Ebenen, die aus der Verflechtung und Überlagerung von Verwaltungs- sowie Gesetzgebungskompetenzen herrühren, nur innerhalb der Verfahren 14 Padula, Carlo, Riflessioni (sparse) sulle autonomie territoriali, dopo la mancata riforma, Le Regioni, 2016, S. 858. 15 Vgl. hierzu Amoroso, Giovanni, Legge di delega e principio di leale collaborazione tra Stato e regioni, Foro italiano, 2017, S. 473 m. w. N.; Marchetti, Gloria, Le diverse declinazioni del principio di leale collaborazione nella delegazione legislativa elaborate dalla giurisprudenza costituzionale (alla luce della sent. n. 251 del 2016), Rivista dell’Associazione Italiana dei Costituzionalisti 2/2017 S. 1; Bifulco, Raffaele, L’onda lunga della sentenza 251/2016 della Corte costituzionale, Federalismi 3/2017, S. 1. 16 Die Konferenz wurde 1983 anhand einer Verordnung des Ministerpräsidenten (decreto del Presidente del Consiglio die ministri) eingerichtet und später im Jahre 1988 (Gesetz Nr. 400/1988) und 1997 (Gesetzesvertretendes Dekret – Decreto legislativo – Nr. 281/1997) neu geregelt. Zu dieser Entwicklung vgl. D’Atena, Antonio (Fn. 11), S. 367, und Carpino, ­R iccardo, Evoluzione del sistema delle Conferenze, Le istituzioni del federalismo, 2006, S. 13.

Das Mehrebenensystem im italienischen Regionalismus

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politischer Mediation und damit innerhalb der Konferenzen gelöst werden können. Wie zuvor aufgezeigt, ist die Staat-Regionen Konferenz zudem ein Akteur innerhalb eines umfassenderen Systems von Konferenzen, das auch die Kommunen sowie die Provinzen in Gestalt ihrer institutionellen Vertreter auf nationaler Ebene einbezieht. Durch die Staat-Kommunen Konferenz (Conferenza Stato-città ed autonomie locali)17 und die Konferenz, die die Ministerpräsidenten der Regionen18 und die nationalen Vertreter der lokalen Gebietskörperschaften versammelt (Conferenza unificata), werden die Konturen des italienischen Mehrebenensystems und die sich daraus ergebende Komplexität noch deutlicher. Die nationale Regierung, deren Mitglieder in jeder dieser Konferenzen sitzen und die Tagesordnungen festlegen, ist nämlich dauerhaft gezwungen, mit Blick auf jede geplante wichtige Reform mit den hiervon betroffenen Ebenen zu verhandeln. Hinzu kommt, dass in den letzten Jahren die starke politische Polarisierung sowohl auf nationaler als auch auf regionaler Ebene eine klare Tendenz aufweist. Die Konfliktlinie verläuft nicht mehr allein zwischen dem Staat und den Regionen, sondern infolge der unterschiedlichen politischen Orientierungen auch zwischen den Regionen selbst. Die Folge ist, dass die Regionen mehrmals in ihren Stellungnahmen gespalten waren, je nach den verschiedenen Mehrheitskoalitionen und ihrem Verhältnis zu der jeweiligen Mehrheitskoalition auf nationaler Ebene.19 Die Rolle der Konferenz ändert sich folglich und blendet zunehmend die Logik der territorialen Interessenvertretung zu Gunsten einer bloß politischen Dialektik aus. Die in ihrer Bedeutung wachsende Rolle der Konferenz hat jedoch auch viele andere Probleme und Kritiken aufgeworfen.20 In den Jahren 2016 und 2017 hat der Parlamentarische Ausschuss für Regionalfragen zwei Untersuchungen über das Konferenzsystem durchgeführt, die sich – auch im Lichte der im Dezember 2016 gescheiterten Verfassungsreform – mit dem Nebeneinander des neuen ­Senats und des Konferenzsystems eingehend befassen. Man hat nämlich viel über die Auswirkung der geplanten Verfassungsreform (sog. „Renzi-Boschi“) auf den derzeitigen Zustand des italienischen Mehrebenensystems diskutiert, doch war es für die herrschende Meinung von vornherein ganz klar, dass die Rolle und die Funktionsfähigkeit des Konferenzsystems nicht in Frage gestellt werden dürfe, auch wenn die Wähler die Verfassungsreform billigen würden. Der konzipierte „Senat der Autonomien“, dessen Rolle hingegen nicht so klar war, sollte nur auf die gesetz-

17

Die Vertreter der Kommunen und der Provinzen sind – zusammen mit weiteren von diesen Verbänden benannten Bürgermeistern und Provinzpräsidenten – normalerweise die Präsidenten der Associazione nazionale dei Comuni d’Italia (ANCI), der Unione delle province italiane (UPI), der Unione nazionale Comuni, Comunità ed Enti montani (UNCEM). 18 Nach Art. 2 Abs. 2 des Gesetzesvertretenden Dekrets (Decreto legislativo) Nr. 281/1997 können die Ministerpräsidenten auch einen regionalen Minister als Stellvertreter benennen. 19 Carpani (Fn. 11), S. 179 ff. 20 Tubertini, Claudia, Le Regioni e il sistema delle Conferenze: riflessioni sulle possibili riforme, Le Regioni, 2010, S. 93.

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geberischen Entscheidungen Einfluss nehmen dürfen, was die exekutivische Natur des Konferenzsystems nicht berühren sollte.21 Da sich das Konferenzsystem nach dem gescheiterten Referendum sogar noch stärker durchsetzt, hat der Parlamentarische Ausschuss dessen Hauptmängel, auch im Hinblick auf eine künftige Reform seiner gesetzlichen Grundlage, hervorgehoben. Zuvorderst liegt der Mangel des Konferenzsystems (und insbesondere der Staat-Regionen Konferenz) darin, dass alle seine Mitglieder der nationalen sowie den regionalen Exekutiven angehören. Obwohl eine solche institutionelle Herkunft zum Teil die Besonderheiten eines Vollzugsregionalismus widerspiegelt, erscheint die Tatsache höchst fragwürdig, dass das Parlament sowie die Regionalräte nur indirekt auf die Entscheidungen der Konferenz Einfluss nehmen können. Der Vorwurf der Entparlamentarisierung ist damit auch in der juristischen Literatur die schwerwiegendste Kritik, die an diesem System geübt wird.22 Ein weiteres Problem betrifft das Fehlen einer vollständigen Regulierung des Verfahrens in den Geschäftsordnungen der Konferenzen und somit auch die Undurchsichtigkeit seiner Arbeitsweisen.23 Diese Mängel sind mit der exekutivischen Natur ihrer Zusammensetzung eng verbunden. Die wachsende Rolle der Konferenzen soll es jedoch ermöglichen, die Verhandlungen nicht in einem rein informellen Rahmen zu führen und sie demzufolge – im Hinblick auf die Öffentlichkeit und demokratische Überwachung – als eine Art semi-parlamentarisches Organ zu behandeln. Drittens erscheint die aktuelle Situation in den Konferenzen angesichts der politischen sowie institutionellen Übermacht, die die nationale Regierung im Vergleich zu den Regionen und den anderen lokalen Körperschaften innehat, besonders fragwürdig. Sowohl institutionell als auch organisatorisch ist das Konferenzsystem nämlich in hohem Maße von der nationalen Regierung abhängig, die die Tagesordnung festlegt und die Themen der Debatte im Einklang mit ihren politischen Prioritäten bestimmt. Auch in dieser Hinsicht muss deswegen betont werden, dass je mehr die Rolle der Konferenzen von politischen und rechtlichen Gesichtspunkten bestimmt wird, desto offener und parlamentsadäquater ihre Funktionen und Arbeitsweise geprägt sein sollten.

21 Zu den institutionellen Widersprüchlichkeiten des Konferenzsystems vgl. Cortese, Fulvio, Spigolatura sul sistema delle Conferenze e sulle sue magnifiche sorti e progressive: una retrospettiva, un punto di vista e un auspicio, Le Regioni, 2017, S. 119. 22 D’Amico, Giacomo, Il sistema delle conferenze alla prova di maturità. Gli esiti di un’indagine conoscitiva, Quaderni costituzionali 2017, S. 142. 23 In der Praxis hat sich die Behauptung durchgesetzt, dass die Beschlüsse in der Konferenz einstimmig angenommen werden müssen; vgl. Carpani (Fn. 11), S. 191.

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V. Die ungeschickte Abschaffung der Provinzen und ihre Folgen Ein weiteres Thema, das im letzten Jahrzehnt das italienische Mehrebenen­ system erschüttert hat, betrifft die geplante Abschaffung der Provinzen. Die Provinzen stellten historisch eine mittlere Verwaltungsebene dar, deren Aufgabe es war, einige Verwaltungsfunktionen (meistens im Verkehrs- und Schulbauwesen) auszuüben und eine Koordinierung zwischen den Kommunen zu fördern. Die Verfassungsreform von 2001 hatte ihnen eine neue und verstärkte Rolle zugeschrieben, auch mit der Absicht, die seit den neunziger Jahren erlassenen Verwaltungsreformen (sog. „Bassanini“) zu vervollständigen. Allerdings hat die finanzielle Krise der letzten Jahre auf die Provinzen ein dunkles Licht geworfen.24 Sowohl in den Medien als auch in den politischen Debatten herrschte der Eindruck, dass sie öffentliche Gelder verschwenden, zudem nur ein sinnloses Duplikat der Kommunen darstellen und als Ursache von politischen Skandalen auf lokaler Ebene anzusehen sind. Auf der Welle solcher manchmal trivialen Klischees, die zum Teil auch ein Echo in einem berühmten Brief der Europäischen Zentralbank an die italienische Regierung im August 2011 fanden, haben die Regierungen Berlusconi,25 Monti26 und Renzi mehrmals versucht, die Rolle, die Funktionen sowie die finanzielle und persönliche Ausstattung der Provinzen zu reduzieren. Der Verfassungsgerichtshof hat erstmals in der Entscheidung Nr. 220/2013 klargestellt, dass über die Abschaffung der Provinzen nur durch ein Verfassungsgesetz entschieden werden könne, während das ordentliche Gesetz (im Rahmen der staatlichen Zuständigkeit, die Hauptfunktionen der lokalen Gebietskörperschaften gemäß Art. 117 § 2 lit. (p) festzulegen) die Funktionen und die Zusammensetzung der Organe der Provinzen neu ordnen könne.27 Die Verfassungsreform „Renzi-Boschi“ 24

Manetti, Michela und Frosini, Tommaso Edoardo, Riforma delle province e sistema delle autonomie locali, Maggioli, Santarcangelo di Romagna, 2013. 25 Mit dem Decreto legge (Verordnung mit Gesetzeskraft) Nr. 138/2011 versuchte die von Berlusconi geführte Regierung eine vorübergehende Regelung einzuführen, die eine Zusammenlegung der kleinsten Provinzen anstrebte. Diese Norm erhielt jedoch keine Zustimmung im Parlament. Die Verordnung mit Gesetzeskraft ist in Art. 77 Abs. 2, 3 ital. Verfassung normiert. Danach kann die Regierung eine Verordnung erlassen, die umgehend Gesetzeskraft erlangt, doch müssen ihr die gesetzgebenden Kammern innerhalb von 60 Tagen zustimmen. 26 Kraft des Art. 23 des Decreto legge (Verordnung mit Gesetzeskraft) Nr. 201/2011 v. 6. Dezember 2011. 27 Mit dieser Entscheidung sind einige Absätze des Art. 23 des Decreto legge (Verordnung mit Gesetzeskraft) Nr. 201/2011 für nichtig erklärt worden, weil diese Bestimmungen nicht als ein angemessenes Mittel angesehen wurden, auch nicht zur Neuregelung der verfassungsrechtlich geschützten Gebietskörperschaft „Provinzen“. Zu dieser Entscheidung vgl. Saputelli, Gabriella, Quando non è solo „una questione di principio“. I dubbi di legittimità non risolti della „riforma delle Province“, Giurisprudenza costituzionale, 2013, S. 3249; Padula, Carlo, Quale futuro per le Province? Riflessioni sui vincoli costituzionali in materia di Province, Le Regioni, 2013, S. 361; Massa, Michele, Come non si devono riformare le Province, Le Regioni, 2013, S. 1168.

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verfolgte dennoch das Ziel, die Provinzen aus dem Verfassungstext zu streichen, wobei zugleich die Einführung neuer lokaler Körperschaften (enti di area vasta: „Gebiets-Körperschaften mit einem weiten Gebiet“) in den Übergangsregelungen (Art. 40 Abs. 4) vorgesehen war und diese eine ganz ähnliche Rolle im territorialen Staatsaufbau Italiens gespielt hätten. Die legislative Neuordnung der Provinzen ist inzwischen durch Gesetz Nr. 56/​ 2014 erfolgt, dessen Zweck es ursprünglich war, in Form einer vorübergehenden Regelung die Verfassungsreform rechtlich vorzubereiten.28 Dieses Gesetz (Gesetz „Delrio“) hat erstens geregelt, dass die politischen Organe der erstmals eingeführten „enti di area vasta“, mithin der Präsident, der Provinzrat und der Rat der Bürgermeister, keine direkte Legitimation durch eine Bürgerwahl erhalten, da sie im Rahmen einer indirekten Wahl von den Räten der Kommunen zu bestimmen sind. In zehn Bezirken, die ungefähr dem Gebiet der zehn größten Städte Italiens entsprechen, werden die Funktionen der „enti di area vasta“ von den „Città metropolitane“ ausgeübt,29 die eine ganz ähnliche Funktion haben.30 Was sodann die Funktionen der „neuen“ Provinzen angeht, sind sie vom Gesetz in zwei Gruppen unterteilt worden. Die Grundfunktionen, die ungefähr dem vorherigen Katalog der Verwaltungsaufgaben der Provinzen entsprechen, betreffen nach Art. 1 Abs. 85 des Gesetzes Nr. 56/2014 Bereiche wie Bauplanung und Umweltschutz, Transportplanung, Schulbauwesen, EDV im Dienste der Gemeinde und die Förderung der Gleichstellung. Die anderen Funktionen sind 2014 durch ein Einvernehmen im Konferenzsystem definiert worden. Der Staat hat den Provinzen einige Verwaltungsaufgaben im Bereich des Minderheitenschutzes übertragen, während einzelne Regionen zusätzliche Funktionen durch Regionalgesetz den Provinzen übertragen haben. Die Wahrnehmung dieser Aufgaben gestaltete sich von Anfang an problematisch. Da die neuen Körperschaften der „enti di area vasta“ ihre Funktionen im Einklang mit den Aufgaben erfüllen müssen, wie sie den Regionen und Gemeinden zugewiesen wurden, war die Definition dieses Aufgabenkreises besonders bedeutsam. Die Einführung dieser Verwaltungsebene ist nämlich von der Vorstellung ge 28

Dieses Gesetz wurde erheblich von dem gleichzeitig laufenden Verfassungsreformprozess beeinflusst, sodass einige Vorschriften auf die damals anstehende verfassungsrechtliche Neuordnung der Provinzen verweisen (z. B. Art. 1 Abs. 5: „In Erwartung der Reform des Titels V des Zweiten Teils der Verfassung und der entsprechenden Durchführungsakte …“). 29 Hauptorgane der Città metropolitane sind der Rat (Consiglio metropolitano), die Konferenz (Conferenza) und der Bürgermeister (Sindaco metropolitano), der zugleich der Bürgermeister der Hauptstadt ist. Art. 1 Abs. 22 des Gesetzes Nr. 56/2014 erlaubt, dass die Hauptorgane der Città metropolitane durch direkte Bürgerwahl zusammengesetzt werden können. Die Statuten der drei Città metropolitane sehen vor, dass der Bürgermeister und der Rat von den Bürgern gewählt werden, jedoch hat diese Wahl bisher nicht stattfinden können, da das Parlament das betreffende Wahlgesetz noch nicht verabschiedet hat. 30 Mangiameli, Stelio, Province e funzioni di area vasta: dal processo storico di formazione alla ristrutturazione istituzionale, Roma 2012.

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leitet, dass Verwaltungsentscheidungen in einigen Sachbereichen einer besonderen territorialen Zwischengröße bedürfen und daher weder auf kommunaler noch auf regionaler Ebene angemessen durchgesetzt werden können.31 Dieser Besonderheit hätte dann durch die Zuweisung einer klar definierten Verwaltungstätigkeit unter den Aspekten der Leistungsfähigkeit der zu schaffenden Gebietskörperschaft entsprochen werden können, wenn und soweit diesen „neuen“ Provinzen eine selbständige institutionelle Stellung eingeräumt worden wäre und ihnen eine autonome Erfüllung der lokalen Bedürfnisse möglich gewesen wäre.32 Dieses Ziel wurde jedoch vom Gesetz Nr. 56/2014 weitestgehend verfehlt. Obwohl die oben genannten Aufgaben, wie sie den neuen „enti“ zugewiesen wurden, theoretisch mit diesem Konzept noch im Einklang stehen, stellen das Fehlen einer direkten Bürgerwahl und die damit verbundene Schmälerung ihrer Legitimationsbasis die größten Hindernisse dar, um es den „neuen“ Provinzen zu ermöglichen, ihren eigenen Platz innerhalb des jetzigen Mehrebenensystems zu finden.33 Der Verfassungsgerichtshof hat dieses Gesetz für verfassungskonform erklärt (Entscheidung Nr. 50/2015). Er hat insbesondere den Grundsatz der indirekten Wahl als zulässig erachtet, weil die Bestimmungen des Gesetzes Nr. 56/2014 aus seiner Sicht das demokratische Leben der Provinzen und Kommunen nicht beeinträchtigen.34 Trotz dieser Entscheidung haben die letzten fünf Jahre gezeigt, dass das Konzept und die Auswirkungen der Reform der Provinzen höchst fragwürdig erscheinen.35 Zum einen hat sich infolge des Scheiterns der übrigen Verfassungsreform im Jahre 2016 die Reform der Provinzen als bruchstückhaft erwiesen und sie „allein zurückgelassen“.36 Auch wenn die vorherigen Strukturen und Funktionen der Provinzen einer Neuregelung bedurften, hätte eine solche Reform innerhalb eines umfassend angelegten Reformprozesses erfolgen müssen. Die Ambivalenz der Verfassungsreform, die die Abschaffung der Provinzen anstrebte, aber eine ähnliche Institution in Form der „enti“ gleichzeitig vor einer Abschaffung bewahrt hat, machte eine solche Herangehensweise des Verfassungsgebers von vornherein unmöglich. 31

Mangiameli, Stelio, La vicenda delle riforme (maggio 2016), www.issirfa.it. Agosta, Stefano, Il risveglio (dopo una lunga anestesia) delle Province nella prospettiva di riordino del livello di area vasta, Le Regioni, S. 467. 33 Es ist übrigens kein Zufall, dass der Kongress für Regionen und Gemeinde im Europarat eine solche Ausschaltung im Jahre 2013 kritisch bewertet hat; s. Empfehlung 337(2013), https://rm.coe.int/1680718e7c. 34 Diese Entscheidung ist in der Literatur umfassend besprochen worden; siehe u. a. Salerno, Giulio, La sentenza n. 50 del 2015: argomentazioni efficientistiche o neo-centralismo repubblicano di impronta statalistica?, Federalismi 7/2015, S. 1 ff.; Spadaro, Antonino, La sentenza cost. n. 50/2015. Una novità rilevante: talvolta la democrazia è un optional, Rivista dell’Associazione italiana dei Costituzionalisti 2/2015, S. 1 ff. 35 Civitarese Matteucci, Stefano, Il governo delle Province dopo il referendum, Le istituzioni del federalismo, 2016, S. 623; Pinelli, Cesare, Gli enti di area vasta nella riforma del governo locale di livello intermedio, Le istituzioni del federalismo, 2015, S. 569. 36 Salerno, Giulio, Alla ricerca della Provincia: dalla parabola istituzionale al referendum costituzionale del 2016, Rassegna parlamentare 2016, S. 587. 32

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In diesem Sinne hat die Annahme des Gesetzes Nr. 56/2014 im Vorfeld der Verfassungsreform zu Widersprüchlichkeiten geführt, weil der Gesetzgeber von der Idee geleitet war, den Provinzen ein schnelles Ende zu bereiten. Das Gesetz lässt diese Zweideutigkeit erkennen, indem es den „neuen“ Provinzen widersprüchliche Aufträge erteilt hat. Zum einen stehen die ihnen zugewiesenen Aufgaben und Funktionen theoretisch im Einklang mit der Rolle und der Stellung einer lokalen Gebietskörperschaft, die sich um besondere territoriale Belange kümmern soll. Andererseits werden die Sachgerechtigkeit und Durchsetzungskraft ihrer Entscheidungen angesichts einer schmalen demokratischen Legitimationsbasis schwerwiegend beeinträchtigt. Dies ist insbesondere die Folge des Grundsatzes der indirekten Wahl ihrer Organe, aber auch der mangelnden staatlichen Finanzierung ihrer Aufgabenwahrnehmung. Zudem stellt die Art und Weise, in der der Gesetzgeber versucht hat, die institutionelle Frage der Provinzen zu lösen, ein klares Beispiel für eine misslungene Reform dar. Nach der Wirtschaftskrise der Jahre 2008–2010 wurde die Auffassung vertreten, dass das italienische Mehrebenensystem unter den Vorzeichen der Verschwendung öffentlicher Mittel zu betrachten sei. Nur sehr teilweise haben begründete und effizienzorientierte Erwägungen die öffentliche Debatte bestimmt, da alle politischen Kräfte das Volksgefühl befeuert haben, das sich gegen die Privilegien der Politik – pauschal als „Kaste“ bezeichnet – richtete. Am Anfang war der Prozess der Territorialreform noch vom Konsens der Bevölkerung getragen, doch erst am Ende (und dann zu spät) hat man verstanden, dass die Funktionen und die Rolle der „alten“ Provinzen der Logik des italienischen Mehrebenensystems zutiefst entsprachen. Sie stellten nämlich eine mittlere Ebene dar, die sich um ganz besondere Funktionen und Aufgaben kümmerten; diese können nur teilweise von den anderen Ebenen erfüllt werden. Hinzu kommt, dass eine solche Art der Interessenwahrnehmung einen Teil desjenigen territorialen Pluralismus bildet, der sowohl im Art. 5 der ital. Verfassung als auch in der Tradition der lokalen Selbstverwaltung verankert ist. Das existentielle Ende der „alten“ Provinzen hat mithin in diesen Jahren viele Probleme verursacht, die hier nur kurz aufgezeichnet werden können. 1. Die Provinzen bestehen zwar noch in einer veränderten Form fort, kämpfen aber mit erheblichen finanziellen Schwierigkeiten, weil ihre Finanzausstattung stetig knapper ausfällt. 2. Die übrigen Gebietskörperschaften, also Kommunen und Regionen, können die Interessen und Funktionen, wie sie zuvor von den Provinzen wahrgenommen wurden, nicht angemessen „übernehmen“, weil sie als Kommunen und Regionen territoriale Besonderheiten sowie eine bestimmte Verwaltungsstruktur aufweisen. 3. Die beabsichtigte Einsparung an Finanzmitteln hat sich nicht ergeben, weil schon im Jahre 2014 klar war, dass die Provinzen und ihre Organe nur ungefähr 60 Millionen Euro pro Jahr kosten.

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4. Das Absehen von der Notwendigkeit einer demokratischen Legitimation der neuen „enti“ in Form einer Bürgerwahl hat den Verfall ihrer Stellung und insgesamt einen Abstieg des italienischen Systems der Selbstverwaltung bewirkt.

VI. Das italienische Mehrebenensystem zwischen Anpassungsfähigkeit und Reformbedarf Das italienische Mehrebenensystem war im vergangenen Jahrzehnt ganz neuen Spannungen ausgesetzt. Die Verfassungsreform „Renzi-Boschi“ hat in den letzten Jahren die Debatte über die Struktur und die Probleme des italienischen Regionalismus in eine neue Richtung gelenkt. Anlässlich der vorherigen Verfassungsreform im Jahre 2001 hatten die öffentliche Debatte und die rechtswissenschaftliche Literatur eine weitgehende „föderalistische Begeisterung“ erlebt, von der heute nichts mehr übriggeblieben ist. Im letzten Jahrzehnt haben die Wirtschaftskrise und die Umwandlung des politischen Systems populistische Tendenzen sowie eine Renaissance des Zentralismus gefördert. Die im Jahre 2016 gescheiterte Verfassungsreform, die ein halbes Jahr lang die politische Debatte bestimmt und die italienische Gesellschaft gespalten hatte, wurde nur selten deshalb kritisiert, weil sie die Entscheidungszuständigkeiten der Regionen und der anderen lokalen Gebietskörperschaften unangemessen beschränkt. Obgleich sie dann wohl oder übel einen Wendepunkt hätte bilden können, hat sie zu Problemen geführt, die die Zukunft des italienischen Mehrebenensystems nachhaltig bestimmen werden. Insoweit sind die mangelnde Effizienz der Entscheidungsprozesse wie auch die damit zusammenhängende Schwierigkeit der lokalen Körperschaften hervorzuheben, ihre Interessen im Institutionengefüge zu artikulieren und zu vertreten. Dies macht eine Klärung der Frage notwendig, wie die zweite Kammer in der Staatsorganisation Italiens aussehen soll. Insoweit kommt entweder die Schaffung eines neugegliederten Senats der Autonomien oder eine verfassungsrechtliche Klarstellung der Funktionen und der Zusammensetzung des Konferenzsystems in Betracht. Es ist aber nicht zu leugnen, dass dieses Thema heute nicht mehr als so wichtig angesehen wird, wie es vor fünfzehn Jahren noch der Fall war. Trotz all dieser Probleme zeigt die Praxis des italienischen Mehrebenensystems eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit der Verfahren und der Institutionen, die zumeist, dank der Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs, ein insgesamt stabiles Gleichgewicht zwischen den unitarischen Bedürfnissen und der lokalen Selbstverwaltung gesichert haben. Die Flexibilität, die zu den Merkmalen des Mehrebenensystems gehört, hat nämlich den verschiedenen Ebenen einen breiten Raum gelassen, um durch Kompromisse sowie Verhandlungen zu Entscheidungen zu gelangen und sich so an die komplizierten wirtschaftlichen und politischen Bedingungen der letzten fünfzehn Jahre anzupassen.

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Andererseits aber mussten, wie die fehlende Einrichtung des Senats der Autonomien belegt, die institutionellen Lösungen und richterlichen Entscheidungen der sehr gering ausgeprägten Reformbereitschaft der politischen Akteure Rechnung tragen. So ist zwar eine Reaktion auf kritische politische Lagen und eine Anpassung an sich verändernde Situationen möglich, doch ist auf lange Sicht die Entscheidungsfähigkeit der politischen Akteure unabdingbar.

Zur Finanzverfassung im Mehrebenensystem Moderation: Monica Bonini

Zur Finanzverfassung im Mehrebenensystem: Die spanische Sichtweise Carlos Vidal Prado

I. Verfassungsrechtlicher Rahmen Die spanische Verfassung (SpVerf) bezieht sich in ihren Artikeln 156 bis 158 auf das Finanzsystem der Autonomen Gemeinschaften.1 Ebenso erkennt die Verfassung die Besonderheit der eigenständigen Gebiete mit Sonderrechten (Baskenland und Navarra)2 sowie der Kanarischen Inseln an. Art. 156 enthält die Grundsätze, die hierbei gelten: Finanzautonomie, Koordinierung und Solidarität.3 In Art. 157 werden die Mittel der Autonomen Gemeinschaften aufgezählt und für die Regelung auf ein hierzu zu erlassendes Organgesetz verwiesen.4 In Art. 158 werden die Instrumente festgelegt, die zur Durchsetzung des Solidaritätsprinzips anzuwenden sind.5 Außerdem beziehen sich die Erste Zusatzbestimmung auf die Gebiete mit Sonderrechten und die Dritte Zusatzbestimmung auf die Änderung des Wirtschafts- und Steuerwesens der Inselgruppe der Kanaren. Schließlich hat

1 Die spanischen Autonomen Gemeinschaften entsprechen in der Praxis – wenn auch nicht staatsrechtlich – den deutschen oder österreichischen Ländern. 2 Es handelt sich in diesen Autonomen Gemeinschaften um historisch begründete eigenständige Rechtsordnungen in den Bereichen Bürgerliches Recht, Steuerrecht sowie teilweise Verwaltungsrecht. 3 Artikel 156 SpVerf lautet: „1. Die Autonomen Gemeinschaften genießen, gemäß den Grundsätzen der Koordination mit der staatlichen Finanzverwaltung und der Solidarität zwischen allen Spaniern, bei der Entfaltung und Ausübung ihrer Zuständigkeiten finanzielle Autonomie. 2. Die Autonomen Gemeinschaften können entsprechend den Gesetzen und Statuten bei der Erhebung und Eintreibung der Staatssteuern als Delegierte oder Mitarbeiter des Staates auftreten.“ 4 Artikel 157 Abs. 1 SpVerf lautet: „Die Mittel der Autonomen Gemeinschaften setzen sich zusammen aus a) ganz oder teilweise vom Staat überlassenen Steuern, Staatssteueraufschlägen und anderen Anteilen an den Einnahmen des Staates; b) ihren eigenen Steuern, Gebühren und Sonderabgaben; c) Zuweisungen aus einem Interterritorialen Ausgleichsfonds und anderen zu Lasten des Staatshaushalts erfolgenden Zuwendungen; d) aus ihrem Vermögen stammenden Erträge und privatrechtlichen Einnahmen; e) dem Erlös aus den Kreditgeschäften.“ 5 Lucas Verdú, Pablo / Lucas Murillo de la Cueva, Pablo, La solidaridad interterritorial: artículo 158, in: Alzaga Villamil, Óscar (Hrsg.), Comentarios a la Constitución española de 1978, Madrid 1996–1999, Band X, S. 459–468; Art. 2 SpVerf lautet: „Die Verfassung stützt sich auf die unauflösliche Einheit der spanischen Nation, gemeinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier, und anerkennt und gewährleistet das Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen, die Bestandteil der Nation sind, und auf die Solidarität zwischen ihnen.“

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die Fünfte Übergangsbestimmung die Gründung der Autonomen Städte Ceuta und Melilla als Städte mit einem eigenen Autonomiestatut ermöglicht. In Spanien existieren somit zwei Modelle zur Finanzierung der Autonomen Gemeinschaften: das allgemeine Finanzsystem und das für die Gebiete mit Sonderrechten geltende Finanzsystem. Zu letzterem gehören das Baskenland und N ­ avarra, die ein autonomes Steuerwesen haben und ihre eigenen Steuern verwalten. Sie überweisen dem Staat ein Jahreskontingent, das sich nach den Bestimmungen des sogenannten „Wirtschaftlichen Übereinkommens“ (Concierto Económico) richtet. Die beiden privilegierten Autonomen Gemeinschaften handeln dies regelmäßig mit dem Staat aus.6 Innerhalb des allgemeinen Steuerwesens verfügen die Kanarischen Inseln aus historischen und geographischen Gründen über ein besonderes Wirtschafts- und Steuerrechtswesen. Es wurde unter Berücksichtigung der Bestimmungen der Europäischen Union für ultra-periphere Regionen normiert. Ceuta und Melilla sind zwei Städte, die gemäß ihren Autonomiestatuten und nach dem Finanzierungssystem der kommunalen Finanzverwaltungen am Finanzierungsmodell der Autonomien beteiligt sind. Ebenso verfügen sie über ein indirektes Sondersteuerwesen, das sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass in ihren Gebieten anstelle der Mehrwertsteuer (Umsatzsteuer) eine Steuer auf Produktion, Dienstleistungen und Einfuhren erhoben wird. Neben den Mitteln, die das Finanzierungssystem den Autonomen Gemeinschaften gewährt, muss man auch die weiteren Mittel hinzurechnen, über welche sie verfügen: eigene Steuern und Abgaben, Mittelzuweisungen aus dem Staatshaushalt, Förderungsmittel der Europäischen Union usw. In gleicher Weise können die Autonomen Gemeinschaften Finanzierung erhalten, indem sie Anleihen ausgeben, die durch die geltende Gesetzgebung geregelt sind.

II. Die finanzielle Selbständigkeit der Autonomen Gemeinschaften Eingereiht unter den politisch dezentral organisierten Staaten, in denen die politische Autonomie mit der entsprechenden finanziellen Autonomie einhergeht, erkennt die spanische Verfassung den Autonomen Gemeinschaften diese finanzielle Selbständigkeit in ihrem Art. 156 an. Die für diese Autonomen Gemeinschaften verfügbaren Mittel werden im nachfolgenden Art. 157 Abs. 1 nur in allgemein gefasster Weise beschrieben.

6

Nach Art. 41 Abs. 2 lit. d des Autonomiestatuts des Baskenlandes besteht „der vom Baskenland an den [span.] Staat zu leistende Beitrag in einem Pauschalkontingent, das sich aus den Einzelkontingenten seiner Territorien als Beitrag zu Aufwendungen des [span.] Staates zusammensetzt, die nicht von der Autonomen Gemeinschaft übernommenen werden“.

Zur Finanzverfassung im Mehrebenensystem: Die spanische Sichtweise 

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Die spanische Verfassung entwirft mit Blick auf die Autonomen Gemeinschaften kein geschlossenes Finanzierungssystem, sondern legt nur allgemeine Grundsätze fest und verweist wegen der weitergehenden Regelungen auf ein Organgesetz. Es handelt sich um ein gemischtes Finanzierungswesen, bei welchem dem Staat ein sehr großer Handlungsspielraum eingeräumt wird, um die Verteilung der finanziellen Kompetenzen durch ein Organgesetz zu regeln (Art. 157 Abs. 3). Innerhalb des vom Staat entworfenen Rahmens sind es dann die jeweiligen Autonomiestatuten, in denen das Finanzierungssystem im Einzelnen geregelt werden soll. Wie das spanische Verfassungsgericht festgestellt hat,7 ist die Beziehung zwischen dem Autonomiestatut und dem Organgesetz über die Finanzierung der Autonomen Gemeinschaften (LOFCA)8 nicht im Sinne eines hierarchischen Grundsatzes geregelt, sondern folgt dem Prinzip der Zuständigkeit. In diesem Falle ist es der Staat, der über das LOFCA die Fragen der Finanzierung koordiniert und entscheidet, welche für die Reichweite der finanziellen Selbständigkeit der Autonomen Gemeinschaften bestimmend sind. Denn nach der spanischen Verfassung ist diese Regelung einem staatlichen Organgesetz vorbehalten, das insoweit die Kompetenzen der Autonomien einschränkt (Art. 157 Abs. 3). Das ursprünglich durch das LOFCA entworfene Finanzwesen sichert den Autonomen Gemeinschaften einerseits durch die Zuweisung von Steuern, durch die Befugnis zur Erhebung von Gebühren für die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen sowie durch einen Anteil an den staatlichen Einnahmen eine ausreichende Finanzierung für die Ausübung ihrer Kompetenzen. Sie alle stellen frei verfügbare Einnahmequellen zugunsten der Autonomen Gemeinschaften dar (Art. 13 Abs. 1 SpVerf). Andererseits erscheinen die bestimmten Bedingungen folgenden weiteren staatlichen Finanzierungsquellen (territorialer Finanzausgleich9 und andere Ausgleichsinstrumente) eher als Ausnahmekriterien, die nur auf bestimmte Autonome Gemeinschaften anwendbar sind und zudem einer Anwendungsbeschränkung unterliegen; denn sie sind nur zu rechtfertigen, wenn sie einen Umverteilungszweck verfolgen. Wenngleich den Autonomen Gemeinschaften eine gewisse Finanzhoheit zuerkannt wird, die es ihnen erlaubt, ihre eigenen Steuern, Gebühren und Sonderabgaben festzulegen, ist diese Befugnis sehr stark durch die Verbote der Doppelbesteuerung und der doppelten Regelung eingeschränkt. Nach Art. 6 Abs. 2 LOFCA können die Autonomen Gemeinschaften keine Steuern oder Abgaben festlegen, die einen Besteuerungstatbestand zum Gegenstand haben, der bereits durch den Staat steuerlich erfasst wird. Diese Einschränkung der Finanzhoheit wurde außerdem durch die Auslegung verschärft, die das Verfassungsgericht hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Grenzen der Doppelbesteuerung vorgenommen hat, weil es 7

Urteil des spanischen Verfassungsgerichts STC 31/2010 v. 28.6.2010. Ley Orgánica 8/1980, de 22 de septiembre, de Financiación de las Comunidades Autónomas. 9 Entspricht in gewisser Weise dem Länderfinanzausgleich in Deutschland. 8

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die verschiedenen Regierungsebenen (Zentralstaat und Autonome Gemeinschaf­ ten) in einem steuerlichen Wettbewerb zueinander sieht.10 Daher wurde die in der spanischen Verfassung verankerte finanzielle Eigenständigkeit der Autonomen Gemeinschaften ursprünglich im Rahmen des LOFCA mit Blick auf die für die Wahrnehmung ihrer jeweiligen Kompetenzen frei verfügbaren Mittel als „ausreichend“ betrachtet, verstanden als „Befugnis“ zur Entscheidung über ihre eigenen Mittel.11 An dieser Stelle ist folgendes zu unterstreichen. Wie bereits ausgeführt, entwirft die spanische Verfassung kein System zur Finanzierung der Autonomen Gemeinschaften, sondern verweist auf ein Organgesetz. Dieses Gesetz dient dazu, juristisch die politischen Vereinbarungen zum Ausdruck zu bringen, die innerhalb des Rates für Steuer- und Finanzpolitik getroffen werden. Daher ist das Finanzierungssystem von den politischen Verhandlungen abhängig, die zwischen dem Staat und den Autonomen Gemeinschaften geführt werden. Dies hat in der Praxis dazu geführt, dass die Debatte über unser System der Finanzierung der Autonomien weitgehend auf eine Berichtigung der Berechnungen des Ausgabenbedarfs der Autonomen Gemeinschaften zielt. Der Vorwurf, dass die Finanzierung der Autonomen Gemeinschaften unzureichend sei, gründet sich hauptsächlich auf die unzureichende Berechnung des Bedarfs der einzelnen Autonomien. Dieses Berechnungssystem hat sich im Laufe der Zeit verändert. Gegenwärtig sind die Kennzahlen insoweit sehr unzureichend. Die Berechnungskriterien zur Bestimmung des Ausgabenbedarfs der einzelnen Autonomien sind variabel und ungenau. Daraus folgt, dass die Methode des politischen Aushandelns eine wesentliche Rolle spielt. Aufgrund der Dominanz der politischen Verhandlungen werden die Fragen der politischen Verantwortung für das gegenwärtige Steuersystem nicht ernsthaft diskutiert. Anstatt den Gesetzgeber aufzufordern, das System der Verteilung der Steuern im Verhältnis des Zentralstaats zu den Autonomien zu gestalten, ziehen es die Autonomen Gemeinschaften vor, eine Erhöhung ihres Anteils an den bereits durch die Zentralregierung eingenommenen Steuern zu verlangen. Denn eine Neugestaltung der Steuerverteilung würde zu höheren politischen Kosten zulasten der Bürger führen. Die Erhöhung des Anteils der Autonomien am Steueraufkommen wurde durch mehrere Vereinbarungen erreicht, die im Rat für Steuer- und Finanzpolitik getroffen wurden. Dies hat es den Autonomen Gemeinschaften ermöglicht, sich als politische Opfer darzustellen und ständig die Notwendigkeit zu betonen, dass weitere und höhere Anteile der Steuereinnahmen des Staates an die Autonomien abgetreten werden müssten. Das Finanzierungssystem hat sich so entwickelt, dass die frei verfügbaren Mittel der Autonomen Gemeinschaften zugenommen haben. So kann man sagen, dass dem Beispiel Deutschlands und der USA gefolgt wurde. Tatsächlich beruht das 10 11

Urteil des spanischen Verfassungsgerichts STC 74/2016 v. 14.4.2016. Urteil des spanischen Verfassungsgerichts STC 13/1992 v. 6.2.1992, Rechtsgrundlage 7.

Zur Finanzverfassung im Mehrebenensystem: Die spanische Sichtweise 

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deutsche Modell nicht auf dem Grundsatz der fiskalischen Mitverantwortung. Sein Zweck ist es vielmehr, den Ländern in ausreichendem Maße Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, damit sie ihre Kompetenzen ausüben können. In Spanien sollten wir auch in diese Richtung gehen und zugleich den Grundsatz der fiskalischen Mitverantwortung einer jeden Gebietskörperschaft hinsichtlich der Verausgabung ihrer Steuern stärken, um so die Kosten der politischen Entscheidungen sichtbarer zu machen und zudem die Effizienz unseres Systems der territorialen Organisation zu steigern.12

III. Die fiskalische Mitverantwortung In Spanien tragen die Autonomen Gemeinschaften eine zentrale Verantwortung für die Erbringung der grundlegenden Dienstleistungen des Sozialstaates,13 und zwar in solchem Maße, dass man von einem „Sozialstaat der Autonomien“ spricht. Die Verantwortung hierfür muss mit der Finanzierung dieser Dienstleistungen in Einklang stehen. Aber eine Sache ist die Erfüllung der Verwaltungsaufgaben und eine andere die Verantwortung für die Ausgaben.14 In den 1990er Jahren wurde angesichts der steigenden Abhängigkeit der Autonomen Gemeinschaften von den staatlichen Steuerzuweisungen die Notwendigkeit ins Auge gefasst, den Grundsatz der „fiskalischen Mitverantwortung der Autonomen Gemeinschaften“ zu stärken. Diese Mitverantwortung der Autonomien versuchte man im Wesentlichen folgendermaßen zu erreichen: a) Aufteilung der staatlichen Steuern nach gebietsabhängigen Anteilen, wobei dieser Anteil entweder 100 % beträgt oder aber schrittweise gesteigert wurde. Der Anteil an der Einkommenssteuer lag zunächst bei 15 %, liegt inzwischen aber bei 50 %; der Anteil an der Einkommens- und Umsatzsteuer erhöhte sich von 35 % auf 50 %; der Anteil an den Sondersteuern auf Brenn- und Treibstoffe, Alkohol und Tabakwaren erhöhte sich von 40 % auf 58 %. b) Anerkennung des Umstands, dass die Autonomen Gemeinschaften hinsichtlich der staatlichen Steuern eine Regelungsbefugnis erhalten sollen. Heute verfügen die Autonomen Gemeinschaften über eine Steuerhoheit nicht nur in Bezug auf 12 Sáenz Royo, Eva, La financiación autonómica: un diagnóstico desde la perspectiva constitucional, in Tudela Aranda, José / Garrido López, Carlos (Hrsg.), La organización territorial del Estado, hoy (XIII Congreso de la Asociación de Constitucionalistas de España), Valencia 2016; s. auch Sáenz Royo, Eva, La financiación autonómica después de cuarenta años: laberinto inextricable y reforma imprescindible, in: Pendás, Benigno (Hrsg.), España constitucional (1978–2018). Trayectorias y perspectivas, Centro de Estudios Políticos y Constitucionales, 2018, Band V, S. 4377–4389. 13 Alonso de Antonio, José Antonio, El Estado autonómico y el principio de solidaridad como colaboración legislativa, Congreso de los Diputados, Band I, Madrid 1986, S. 379 ff. 14 Sáenz Royo, Eva, La responsabilidad de gasto y de ingreso en el Estado autonómico: propuestas de mejora desde la perspectiva comparada, Revista d’Estudis Autonomics e Federals, 17.4.2013, S. 184–220.

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ihre eigenen Steuern (wie zum Beispiel auf Glücksspiele, Brenn- und Treibstoffe, Umweltabgaben), sondern ihre Regelungsgewalt erstreckt sich auch auf die vom Zentralstaat an sie abgetretenen Steuern und Abgaben (Vermögenssteuer, Erbschafts- und Schenkungssteuer, Vermögensübertragungssteuer, Beurkundungssteuer und die Besteuerung der Glücksspiele) sowie auf ihren Anteil an der Einkommenssteuer. Die Reform des LOFCA im Jahre 2012 führte zu Änderungen der Treibstoffsteuer. In Art. 11 werden nunmehr die Steuern aufgeführt, die vom Staat an die Autonomen Gemeinschaften abgetreten wurden, sowie einige Beschränkungen dieser Abtretungen. Das Ergebnis dieses Dezentralisierungsprozesses war eine wesentliche Erhöhung der Einnahmen der Autonomen Gemeinschaften, die der Theorie nach nicht an Bedingungen geknüpft sind, und gleichzeitig eine Stärkung ihrer Steuerhoheit. In beiden Fällen geschieht dies über die Figur der abgetretenen Steuereinnahmen. Während der zweiten Hälfte der 1980er Jahre und der ersten Hälfte der 1990er Jahre stellten die nicht an Bedingungen geknüpften Einnahmen um die 30 bis 40 % des gesamten Finanzvolumens dar, über das die autonomen Regierungen in Spanien verfügten. Seit der Reform von 2001 nahm das Gewicht dieser Mittel beträchtlich zu und erreichte schließlich einen Anteil von mehr als 70 %. Aber diese Zunahme der Steuereinnahmen wie auch die Ausweitung der Steuerhoheit der Autonomen Gemeinschaften hat zu keiner größeren Transparenz mit Blick auf die Kosten der politischen Entscheidungen der Regierungen der Autonomen Gemeinschaften geführt, weshalb man es nicht wirklich geschafft hat, den Grundsatz der fiskalischen Mitverantwortung besser zu verankern. In der Tat ist es so, dass 75 % dieser Einnahmen, die eigentlich „bedingungslos“ sein müssten, an den Garantiefonds für grundlegende Leistungen der Daseinsvorsorge gehen. Die Einrichtung dieses Fonds leitete sich von einer Auslegung des Art. 158 Abs. 1 SpVerf ab, der vorsieht, dass „im Staatshaushalt […] für die Autonomen Gemeinschaften Zuweisungen vorgesehen werden [können] im Verhältnis zum Umfang der von ihnen übernommenen staatlichen Dienstleistungen und Tätigkeiten sowie zur Gewährleistung eines Mindestniveaus der auf dem gesamten spanischen Territorium erbrachten grundlegenden öffentlichen Dienstleistungen“. Zugleich ergibt sich aus den in Art. 149 Abs. 1 SpVerf geregelten ausschließlichen Zuständigkeiten des Staates, dass es einen in allen Autonomien gemeinsamen Mindeststandard bei der Erbringung solcher Dienstleistungen wie Gesundheit, Bildung oder Betreuung suchtmittelabhängiger Menschen geben muss. Dies wird so verstanden, dass die Verantwortung des Staates in diesen Bereichen eine staatliche Finanzierung erfordert, um die Mindestleistungen sicherzustellen, und dies im Wirtschaftsbericht zum jeweiligen staatlichen Grundlagengesetz, das diese Dienste regelt, festgelegt wird. Indem die Verantwortung für die gesetzgeberische Entscheidung mit der Verantwortung für die finanziellen Folgen einer solchen Entscheidung gekoppelt wird, soll die „gute Praxis“ des Staates insgesamt gesichert werden.

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Außerdem sieht die spanische Verfassung in ihrem Art. 158 Abs. 2 die Einrichtung eines Interterritorialen Ausgleichsfonds (FCI)15 vor, der dazu dienen soll, das Ungleichgewicht zwischen den autonomen Gebieten auszugleichen. Allerdings ist die Bedeutung dieses „Solidaritätsfonds“ im Verlauf der verschiedenen Reformen des Finanzierungssystems immer mehr verloren gegangen, während unterschiedliche Arten von Fonds eingerichtet wurden, die als Instrumente für die Anpassung oder Umverteilung dienen. Dies hat dazu geführt, dass diese Ausgleichszuweisungen (aus dem Staatshaushalt) gegenwärtig in sehr diffuser Form erfolgen, wobei die gesetzgeberische Verantwortung von der Verantwortung für die Ausgaben abgekoppelt wird, vor allem über den Garantiefonds für grundlegende Leistungen der Daseinsvorsorge,16 aber auch über die Konvergenzfonds (Fonds für die Wettbewerbsfähigkeit und Fonds für Zusammenarbeit)17 sowie den „Suffizienzfonds“,18 die allesamt durch das Gesetz 22/2009 geschaffen wurden. Trotz dieser Vielzahl an Fonds ist es nicht gelungen, das Solidaritätsprinzip effektiv umzusetzen. Nach den Vorgaben des spanischen Verfassungsgerichts dürfen die Ausgleichsmechanismen zwischen den Autonomen Gemeinschaften nicht zu größeren Ungleichgewichten führen als jene Mechanismen, die dazu bestimmt sind, diese Ungleichgewichte zu korrigieren. Daher ist der Grundsatz der Rangordnung zu beachten, der bedeutet, dass die Solidaritätsmechanismen die Autonomen Gemeinschaften untereinander näherbringen sollen, ohne aber dadurch die ursprüngliche Reihenfolge bei der Pro-Kopf-Finanzierung umzudrehen. Das Problem besteht jedoch darin, dass kein wirklich wirksamer Ausgleich und damit auch keine Berichtigung der Ungleichgewichte erreicht werden. Somit wurde das Ziel, das sich der Verfassungsgeber bei der Einrichtung des Interterritorialen Ausgleichsfonds gesetzt hatte, nicht erreicht.

IV. Solidarität und Ausgleichsmechanismen Das wichtigste dieser Instrumente ist der Interterritoriale Ausgleichsfonds. Er wurde von der verfassungsgebenden Versammlung wohl als der zentrale Baustein im spanischen Finanzsystem angesehen, um die Solidarität zwischen den Autonomen Gemeinschaften zum Ausdruck zu bringen.19 Diese Aufgabe wurde jedoch nie wirklich erfüllt, denn den verschiedenen Regierungen der Autonomen Gemeinschaften ging es bei der unterschiedlichen Ausrichtung ihrer Finanzpolitik eher da 15

„Fondo de Compensación Interterritorial“ – Finanzausgleichsfonds; s. Vidal Prado, Carlos, El Fondo de Compensación Interterritorial, Granada 2001. 16 „Fondo de Garantía de los Servicios Públicos Fundamentales“ – Fonds für die grund­ legenden Leistungen der Daseinsvorsorge. 17 „Fondo de Competitividad“ und „Fondo de Cooperación“. 18 „Fondo de Suficiencia Global“; der Globale Suffizienzfonds ermöglicht die Finanzierung der Ausübung aller Kompetenzen seitens der Autonomen Gemeinschaften sowie der Städte mit einem Autonomiestatut (Ceuta und Melilla). 19 „Fondo de Compensación Interterritorial“.

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rum, sich kurzfristig um konjunkturelle Schwächen zu kümmern und konjunkturpolitische Zielsetzungen zu verfolgen, als den großen Aufgaben gerecht zu werden, die aus dem sozioökonomischen Ungleichgewicht in unserem Land erwachsen. Das Gesetz, das diesen Fonds regelt, wurde mehrfach geändert, zuletzt durch das Gesetz 22/2001 vom 27. Dezember 2001, das die Kriterien zur Verteilung von Fondsmitteln an die Autonomen Gemeinschaften neu bestimmt und den Bestimmungszweck der Mittel teilweise verändert. Die wichtigste Neuerung liegt in der Schaffung von zwei Interterritorialen Ausgleichsfonds, wobei einer unter der Bezeichnung „Ausgleichsfonds“ und der andere als „Ergänzungsfonds“ bezeichnet wird. Letztgenannter Fonds dient dazu, die laufenden Ausgaben zu finanzieren, die mit den Investitionen verbunden sind. Dies war nicht in Art. 158 Abs. 2 SpVerf vorgesehen, denn dort ist nur die Finanzierung der Investitionskosten geregelt. Daher entspricht nur der Ausgleichsfonds dem Verfassungsauftrag. Ausgehend von den durch die Reform festgelegten Kriterien werden beide Fonds jedes Jahr über den Staatshaushalt mit Mitteln ausgestattet. Obwohl die Modelle für die Finanzierung der Autonomien alle fünf Jahre verändert worden sind, wurde keiner der wesentlichen Aspekte des genannten Interterritorialen Ausgleichsfonds und der nachfolgenden alternativen Mechanismen reformiert, die als Ausgleichsinstrumente eingerichtet worden sind. Sie waren ihrerseits auch nicht so wirksam, dass sie die bestehenden Ungleichgewichte hätten ausgleichen können. Sowohl durch die Reform von 2001 als auch die von 2009 wurden alternative Anpassungs- oder Ausgleichsmechanismen geschaffen. So wurde 2001 ein Solidaritätsfonds eingerichtet, der dazu dienen soll, die Situation in den Fällen von regionalen Ungleichheiten auszugleichen. Ursprünglich wurde dieser Fonds als Garantiefonds bezeichnet, später kam der Suffizienzfonds hinzu. Beide Fonds wurden anlässlich der Reform von 2009 beibehalten. Der Garantiefonds für grundlegende Leistungen der Daseinsvorsorge, den wir bereits angesprochen haben, verfolgt den Zweck sicherzustellen, dass jede Autonome Gemeinschaft je Einwohner Mittel in gleicher Höhe erhält, um die öffentlichen Dienstleistungen zu finanzieren, die für den Wohlfahrtsstaat grundlegend sind. Dieser Fonds wird unter den Autonomen Gemeinschaften im Verhältnis zum relativen Gewicht der angepassten Bevölkerungskriterien oder auch „Bedarfseinheiten“ aufgeteilt. Das Gesetz legt dazu eine Gewichtung fest, bei der eine Reihe von demographischen und geographischen Variablen berücksichtigt wird, die eng mit den für die grundlegenden öffentlichen Dienstleistungen zu veranschlagenden Kosten verbunden sind (Gesundheitswesen, Bildung und soziale Dienste). Der Globale Suffizienzfonds ist ein Mechanismus, der das Ausgleichssystem deckelt, denn er gleicht den Unterschied zwischen dem Finanzierungsbedarf der einzelnen Autonomen Gemeinschaften und den Steuermitteln aus, die ihnen auf der Grundlage des Steuerverteilungssystems zugewiesen werden (gegenwärtig auf

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der Grundlage von 2007). Dieser Unterschied kann positiv oder negativ ausfallen. Außerdem handelt es sich um den Mechanismus für die Anpassung an die Änderungen, die sich im Sinne der Bestimmungen des Art. 21 des Gesetzes 22/2009 ergeben (Neufassung des Globalen Suffizienzfonds mit Blick auf die finanzielle Ausstattung). Eine Autonome Gemeinschaft verfügt über einen positiven Suffizienzfonds, wenn ihr Ausgabenbedarf höher ist als die steuerlichen Mittel, die ihr das Steuerverteilungswesen gewährt. Ist dieser Ausgabenbedarf negativ, ist auch der Fondsertrag für diese Autonome Gemeinschaft negativ. In Abhängigkeit davon kann die Autonome Gemeinschaft entweder Mittel erhalten oder muss den festgelegten Betrag an die Zentralregierung abführen. Diese alternativen Ausgleichsinstrumente können nur zu einem jährlichen Ausgleich zwischen den Einnahmen und den Ausgaben der einzelnen Autonomen Gemeinschaften führen, aber sie mindern keinesfalls die Unterschiede in der Wirtschaftskraft, die gegebenenfalls zwischen den einzelnen Gebieten bestehen. Allenfalls können sie erreichen, dass die Unterschiede nicht größer werden, obwohl dies sehr zweifelhaft ist, wenn wir bedenken, dass die reicheren Autonomien immer mehr Steuern einnehmen werden als die ärmeren. Diese Fonds stellen keinen Korrektionsmechanismus dar, sondern allenfalls einen Mechanismus zur konjunkturellen Angleichung, ohne aber die unterschiedlichen und weit voneinander entfernten Ausgangspositionen der Autonomen Gemeinschaften zu berücksichtigen. Außerdem wurden durch das Gesetz von 2009 die Konvergenzfonds (Fonds für Zusammenarbeit und Fonds für Wettbewerbsfähigkeit) eingerichtet, die den Zweck haben, die Autonomen Gemeinschaften mit einem üblichen Maß an Zuständigkeiten einander anzunähern. Die Finanzierung bestimmt sich hier nach der gewichteten Einwohnerzahl und soll die Gleichstellung der Autonomien begünstigen; ebenso soll das wirtschaftliche Gleichgewicht zwischen den Autonomen Gemeinschaften gefördert werden. Die neu vorgesehenen Fonds erfüllen nach ihrer Konzeption eine gegenüber dem Interterritorialen Ausgleichsfonds ergänzende Funktion, was aber nicht der Wirklichkeit entspricht. Ein klarer Beweis dafür ist der Umstand, dass alle Autonomen Gemeinschaften einen positiven Suffizienzfonds haben, mit Ausnahme Madrids, der Balearen, Valencias und Murcias. Es wird sogar über die Berechnung gestritten, denn manche Regionen wie Valencia fühlen sich benachteiligt, weil ihr Saldo einen negativen Betrag von 1.362.909,84 € ausweist. Es ist offensichtlich, dass nicht alle Autonomien Empfängerregionen sein sollten, sondern zumindest einige wenige (die reichsten) diejenigen sein sollten, die Mittel einzahlen, während andere – nämlich die am wenigsten begünstigten – Mittel erhalten sollten, wie dies über den Interterritorialen Ausgleichsfonds der Fall ist. Vor einiger Zeit haben manche von uns die Ansicht vertreten, dass das System überarbeitet werden müsse, um den Interterritorialen Ausgleichsfonds zu stärken. Man müsste sogar von der Notwendigkeit einer erheblichen Stärkung sprechen, damit die noch immer in unserem Land bestehenden wirtschaftlichen Unterschiede

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korrigiert werden können. Es ist klar, dass die Funktionsweise des Systems im Allgemeinen und der Ausgleichszuweisungen im Besonderen so manche technischen Unzulänglichkeiten gezeigt hat, die die Beachtung der sie lenkenden Grundsätze verhindern. Diese Prinzipien sind sowohl in der Verfassung als auch im LOFCA festgelegt, um das Finanzsystem der Autonomen Gemeinschaften zu fördern. Das einzige verfassungsrechtlich vorgesehene Instrument ist somit der Interterritoriale Ausgleichsfonds, denn er ist der einzige Mechanismus, der wirklich dazu beitragen kann, das Ungleichgewicht zwischen den Gebietseinheiten zu korrigieren. Wenn wir allerdings die jährlichen Haushaltsposten betrachten, die für den Interterritorialen Ausgleichsfonds bestimmt sind, und diese mit den Beträgen vergleichen, die für die anderen Fonds vorgesehen sind, wird deutlich, wie weit wir davon entfernt sind, dieses Ziel zu erreichen. Zu nennen sind hier die finanziellen Größenordnungen, die die unterschiedlichen Fonds bestimmen: Garantiefonds für die grundlegenden Leistungen der Daseins­ vorsorge (Fondo de Garantía de Servicios Públicos Fundamentales): 75.827.959,16 € (Ausgangsjahr 2007), im Jahr 2015 auf 80.670.609,00 € angestiegen; Globaler Suffizienzfonds (Fondo de Suficiencia Global): 1.031.527,13 € (im Jahr 2015); Konvergenzfonds für die Autonomien (Fondos de Convergencia autonómica) 6.117.553,98 (im Jahr 2017); Fonds für Zusammenarbeit (Fondo de Cooperación): 2.177.520,04 €; Fonds für Wettbewerbsfähigkeit (Fondo de Competitividad): 2.702.234,80 €. Der Interterritoriale Ausgleichsfonds (Fondo de Compensación Interterritorial) ist bei 425.810,96 € verblieben. Im Jahr 2014 hätte das System reformiert werden müssen, da fünf Jahre seit der letzten Reform vergangen waren.20 Das ist jedoch nicht geschehen. Inmitten der Wirtschaftskrise ergaben sich nicht die geeigneten Bedingungen, um diese Verhandlungen anzugehen, und die nachfolgenden Regierungen hatten nicht die notwendige Unterstützung, um diese Reform durchzusetzen. In diesem Zusammenhang bildete den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit Katalonien nicht das Urteil des Verfassungsgerichts über das Autonomie­statut,21 sondern die Ablehnung des katalanischen Vorschlags durch die Zentral­regierung in Madrid, einen „Steuerpakt“ (Fiskalpakt) zu schließen. Dieser Vorschlag verfolgte das Ziel, das mit dem Baskenland und Navarra vereinbarte Abkommen über das Pauschalkontingent für Katalonien anwendbar zu machen, um so eine Umkehrung der Finanzflüsse zu bewirken. Dies hätte bedeutet, dass es nicht mehr die Zentralregierung gewesen wäre, die Gelder an die Autonomien überweist, sondern umgekehrt.

20

Informe de la Comisión de Expertos para la revisión del modelo de financiación autonómica, Madrid 2017, http://www.hacienda.gob.es/CDI/sist%20financiacion%20y%20deuda/ informaci%C3%B3nccaa/informe_final_comisi%C3%B3n_reforma_sfa.pdf. 21 Urteil des spanischen Verfassungsgerichts STC 31/2010 v. 28.6.2010.

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Es ist offensichtlich, dass die Zugeständnisse, die an Katalonien im Wege einer solchen Übereinkunft hätten gemacht werden müssen, mittel- oder langfristig zu einer generellen Forderung nach einem solchen Verfahren (Fiskalpakt) auch zugunsten aller anderen Autonomen Gemeinschaften geführt hätten. Die spanische Verfassung bestimmt jedoch in Art. 138 Abs. 2, dass „die Unterschiede zwischen den Statuten der einzelnen Autonomen Gemeinschaften keinesfalls zu wirtschaftlichen oder sozialen Privilegien führen [dürfen]“. Dies bedeutet, dass das für Katalonien vorgeschlagene Finanzsystem ein Privileg darstellen würde und schon deshalb nicht genehmigt werden kann, weil es verfassungswidrig wäre. Andernfalls könnte jede beliebige Autonome Gemeinschaft verlangen, dass diese Vereinbarung auch auf sie Anwendung finden soll.22 Um in angemessener Weise dem Solidaritätsprinzip gerecht zu werden, müsste das „Kontingentsystem“ eine Zahlung beinhalten, die der Finanzierung der staatlichen Güter und Dienste dient und die für den Kohäsionsfonds sowie den Suffizienzfonds vorgesehenen Mittel umfasst. Diese Mittel müssten ausreichend sein, um die Mindestdienste erbringen zu können und einen besseren Ausgleich zwischen den Regionen herzustellen. Dieses Maß an Solidarität aufrechtzuerhalten, wäre indes mittelfristig schwierig, denn die Autonomien würden darum kämpfen, das Kontingent zu reduzieren und würden es damit erheblich gefährden. Außerdem wäre es dann nicht mehr möglich, eine Politik im Sinne individueller Umverteilung der Einkünfte, der wirtschaftlichen Stabilität oder einer umfassenden Weiterentwicklung des Landes zu betreiben, was gewöhnlich die Aufgabe des Zentralstaates ist. Eine Ausweitung des Kontingentsystems auf andere Autonome Gemeinschaften ist neben anderen Bedenken vor allem aus zwei Gründen nicht zu bewerkstelligen. Erstens: Wenn alle Autonomen Gemeinschaften Steuern eintrieben, verlöre die Zentralregierung jegliche Steuerhoheit. Sie wäre weltweit die einzige Regierung, die auf ihrem Staatsgebiet keine Steuern einnehmen könnte, und müsste dann von den Mittelzuweisungen der Regionen leben. Zweitens: Wenn man, wie dies Katalonien vorgeschlagen hat, die Gebiete mit Sonderrechten, also das Baskenland und Navarra, zum Vorbild für ein neues spanisches Finanzierungsmodell im Verhältnis von Staat und Autonomen Gemeinschaften macht, würde man den reichsten Regionen die meisten Mittel zugestehen, während die Einkünfte des Staates und der ärmeren Regionen drastisch gemindert würden. Im Ergebnis hätten sowohl die Zentralregierung als auch die ärmeren Regionen Schwierigkeiten, die zur Erfüllung ihrer Kompetenzen notwendigen Aufwendungen zu finanzieren.

22 Larraz, José, La Hacienda pública y el Estatuto Catalán. Editorial Ibérica, Madrid 1932; López Medel, Jesús, La obra de Larraz sobre el Estatuto de Cataluña, Anales de la Real Academia de Doctores de España 2009, S. 133–137.

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V. Der Bericht der Expertengruppe Die von der Partido Popular gestellte Regierung ging zwar diese Reform des Systems nicht an, beauftragte aber eine Expertengruppe mit der Erarbeitung eines Berichts, der Vorschläge für die Finanzierung der Autonomen Gemeinschaften beinhalten sollte. In ihrem 2017 vorgelegten Bericht schlagen die Experten vor, die Klausel abzuschaffen, die die Wahrung des Status Quo vorsieht. In ihr sehen die Experten die Ursache dafür, dass diejenigen Autonomen Gemeinschaften, die zu einem bestimmten Zeitpunkt ein höheres Maß an Kompetenzen in ihren Statuten übernommen haben, auch über einen finanziellen Vorteil verfügen, da jede dieser Autonomien pro Einwohner eine bessere Finanzierung aufweist. Dies gilt für Kantabrien, Extremadura, Aragonien, Galicien, La Rioja, Kastilien und León. Diese Situation auf Dauer beizubehalten, wird als völlig ungerechtfertigt ange­ sehen. Ferner empfiehlt die Expertengruppe, dass im Falle der „Abschaffung“ der Status-Quo-Klausel angestrebt werden solle, die den Autonomien in absoluten Zahlen zur Verfügung stehenden Mittel nicht zu verringern. Dies könnte zu einem schrittweisen Abbau der Status-Quo-Klausel führen, deren Effekte verringern und zugleich die Mitteleinbußen begrenzen. Während der Wirtschaftskrise haben sich viele Autonome Gemeinschaften beim Staat verschuldet, und zwar über den Liquiditätsfonds für die Autonomen Gemeinschaften. Die Mehrheit der Mitglieder der Expertengruppe lehnt eine mögliche Schuldenentlastung ab, denn dies werde „Anreize für die Zukunft schaffen und [sei] ungerecht gegenüber denjenigen Autonomien, die ihrerseits in höherem Maße ihren Zusagen nachgekommen sind, eine steuerliche Stabilität einzuhalten“. Dessen unbeschadet setzt die Expertengruppe sehr wohl auf eine „transparente Umstrukturierung“ der Verschuldung, die die Autonomen Gemeinschaften beim Staat eingegangen sind, und eine schrittweise Rückkehr an die Märkte. Dies zielt auf eine Verlängerung der Karenzzeiten und einen Nachlass bei den Zinssätzen. Der Expertenbericht bezieht sich zudem auf die Umsatzsteuer und schlägt vor, eine Autonomie-Tranche festzulegen, eine Maßnahme, die allerdings Probleme bereitet. Auf diese Weise sollen die Autonomen Gemeinschaften die Möglichkeit erhalten, Vorschläge zu machen und mitzuentscheiden, wenn es um hypothetische Mehrwertsteuererhöhungen geht, über die vom Rat für Steuer- und Finanzpolitik entschieden wird. Er schlägt der Regierung auch vor, die Harmonisierung der Erbschaftssteuer anzugehen, um die gegenwärtigen regionalen Unterschiede zu beseitigen. Das Gleiche gilt für die Vermögenssteuer, wenngleich auch gestattet werden soll, dass manche der Autonomien wie Madrid diese Steuer nicht erheben. Was den Grundsatz der Rangordnung angeht (sub III.), wird ein Grundfinanzierungsfonds vorgeschlagen, der sich aus einem Fonds mit Eigenmitteln und einem weiteren Fonds aus Mitteln zusammensetzt, die die Autonomen Gemeinschaften abgetreten haben. Zudem ist ein vertikaler Ausgleichsfonds ins Spiel gebracht worden, der von Mittelzuweisungen des Staates gespeist wird und dessen Ver-

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teilung dazu dienen soll, die „Ungleichheit abzubauen“, die unter den Autonomen Gemeinschaften besteht. Schließlich macht die Expertengruppe auf die Notwendigkeit aufmerksam, das baskische Kontingent und die Zahlungen an Navarra auf eine gerechtere und für Spanien insgesamt günstigere Weise neu zu berechnen: „Die Gebiete mit Sonderrechten [Baskenland und Navarra] sollen künftig zum territorialen Finanzausgleich beitragen.“ Nach meiner Auffassung sollte eine künftige Reform der Finanzierung der Autonomen Gemeinschaften diesen Vorschlägen folgen. Insoweit ist noch ein weiterer Aspekt relevant: Wenngleich der Trend in der letzten Zeit leider dahin geht, mit den Autonomen Gemeinschaften auf bilateraler Ebene zu verhandeln (zweifelsohne infolge der katalanischen Problematik), ist dies nicht der geeignete Weg. Wenn jede Autonome Gemeinschaft versucht, in bilateralen Verhandlungen mit der Zentralregierung die Finanzierungskriterien auszuhandeln, wird der Trend verstärkt, das für sich zu beanspruchen, was für die eigene Position am günstigsten ist. Daher ist es unverzichtbar, dass die Finanzierung der Autonomen Gemeinschaften Kriterien der multilateralen Verhandlung folgt und der Sitz für Verhandlungen der Rat für Steuer- und Finanzpolitik ist. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, was hierzu im LOFCA festgelegt ist, denn dabei handelt es sich um die insoweit einschlägige Grundlagengesetzgebung. Es erscheint auch unabweisbar, dass wir dann, wenn die Gefahr einseitiger Änderungen des Finanzsystems vermieden werden soll, uns mit der Frage beschäftigen müssen, wie die grundlegenden Kriterien für die Finanzierung der Autonomen Gemeinschaften in der Verfassung verankert werden können. Andernfalls kann es zu bedrohlichen Verfassungsmutationen kommen.

Die Finanzreform von 2012 und die Finanzierung der Ausgaben im italienischen Regionalismus Lorenza Violini Das Bundesministerium für Finanzen der Bundesrepublik Deutschland versteht unter dem Terminus Finanzverfassung „alle Regelungen, die das öffentliche Finanzwesen eines Staates betreffen. Dazu gehört insbesondere das Recht, zur Erfüllung seiner Aufgaben Steuern und andere Abgaben zu erheben (Finanzhoheit). Auch die Verteilung der Einnahmen und die Haushaltswirtschaft gehören dazu.“ Für diesen Beitrag wird diese offizielle Definition verwendet, wobei vorrangig auf die verfassungsrechtlichen und nicht auf die gesetzlichen Regelungen im Steuerrecht eingegangen wird. Auf folgende Aspekte der italienischen Finanzverfassung wird dabei ein besonderes Augenmerk gelegt: – die Verfassungsreformen der Jahre 2001 zur Verteilung der Kompetenzen zwischen dem Staat und den Regionen sowie zur entsprechenden Finanzausstattung und 2012 zur Haushaltswirtschaft, – die Auswirkungen der Krise 2009 auf die finanzielle Lage Italiens sowie – das Streben nach Wiederaufleben der Autonomie einiger italienischer Regionen und die neueste Rechtsprechung des Verfassungsgerichts (Urteile Nr. 6/2019 und 57/2019), die einen Richtungswechsel einleitete.

I. Ein Blick in die Geschichte Italiens: Zentralisierung als Weg zur nationalen Einheit Die italienische Finanzsituation wird von der Öffentlichkeit im In- und Ausland als sehr schwierig angesehen: Das nationale Finanzsystem leidet unter einer hohen Staatsverschuldung und die Regionen ihrerseits unter mangelnder Autonomie. Um aber nachvollziehen zu können, warum wir uns an diesem Punkt befinden, muss man sich zunächst über die Entwicklung Italiens ein Bild machen. Hierbei ist es hilfreich, auf einige geschichtliche Aspekte einzugehen, die vor der Entstehung des „vereinten Italiens“ liegen. Italien wurde Mitte des 18. Jahrhunderts als zentralistischer Einheitsstaat gegründet, wobei die Zentralisierung der Gesetzgebung und Verwaltung über 60 Jahre hinweg als Mittel zur Schaffung der italienischen Einheit galt. Italien war bereits

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seit seinen Anfängen im 18. Jahrhundert von Zersplitterung und Fremdherrschaft geprägt. So wuchs hier, anders als in Deutschland, das Streben nach nationaler Einheit. Seit dem Niedergang des Römischen Reichs war Italien dreigeteilt. Der Norden und Teile Mittelitaliens, die in die Strukturen des Heiligen Römischen Reichs eingebunden waren, gehörten zusammen. Im Jahr 1748 bildeten sich aus den zwölf italienischen Staaten vier Machtzentren: das Königreich Neapel und Sizilien, regiert von den Bourbonen, das Königreich Piemont-Sardinen unter der Herrschaft des Hauses Savoyen, die Lombardei, die zusammen mit Venetien und dem Großherzogtum Toskana zum Hause Habsburg-Lothringen gehörte, sowie der Kirchenstaat, der sich unter der Herrschaft des Pontifex befand. Erst in der Zeit der französischen Revolution erwachte das italienische Einheitsverlangen und -bewusstsein. Es wurde jedoch schnell von Napoleon untergraben und der Wunsch nach Einheit geriet wieder in Vergessenheit.1 Anstelle eines Einheitsverlangens gab es nun föderalistische Bestrebungen, die auf so viel Freiheit und Unabhängigkeit wie möglich zielten. Nach dem Scheitern des ersten Befreiungskriegs gegen Österreich und der Revolution 1848/49 wurden die strukturellen Probleme Italiens immer offenkundiger. Nicht nur das Land, sondern auch seine Politik war von Uneinigkeit geprägt. Die Fraktion der Moderati sah die Lösung für Italien in einem dynastischen Krieg und einer gewaltsamen Besetzung und Aneignung Österreichs mitsamt den zugehörigen Staaten. Die Democratici plädierten hingegen für einen Unabhängigkeitskrieg, der vom Volk ausgehen sollte, um so eine verfassungsgebende Versammlung der Völker Italiens zu schaffen. Giuseppe Ferrari, ein eiserner Verfechter des Föderalismus, stellte sich gegen die Moderati und forderte die Schaffung einer republikanischen Verfassung und einer verfassungsgebenden Nationalversammlung. Neben Ferrari gab es noch weitere Verfechter der föderalistischen Idee. Einer ihrer Anhänger war der Philosoph Cario Cattaneo, der der Ansicht war, dass die Regionen neben der Regierung wesentliche Entscheidungs- und Steuerungsfunktionen übernehmen sollten. Er war es auch, der das sogenannte „föderale Grundrecht“ einführen wollte. Letztendlich scheiterte dieser föderalistische Plan an den Liberalen, die sich im Süden Italiens (Mezzogiorno)2 für die zentralistische Lösung entschieden. Ihr endgültiges Ende fand die föderale Idee am 17. März 1861, als das Königreich Italien proklamiert und Vittorio Emanuele vom nationalen Parlament in Turin zum König gewählt wurde.3 In der Folgezeit geriet der Föderalismus ganz in Vergessenheit und man widmete sich der Umsetzung einer adäquaten Staatsorganisation, insbesondere der partiellen Dezentralisierung und damit der Übertragung von Kompetenzen auf erst zu schaffende subnationale Gebietskörperschaften sowie Städte und Gemeinden.4 1

Grasse, Alexander, Italiens Weg in den Regionalstaat, Opladen 2000, S. 43. Das Gebiet entspricht dem früheren Königreich beider Sizilien (1806–1860). 3 Grasse, Alexander, Italiens Weg in den Regionalstaat, Opladen 2000, S. 49–72. 4 Grasse, Alexander, Italiens Weg in den Regionalstaat, Opladen 2000, S. 73. 2

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Damit wurde der Regionalismus in Italien zum ersten Mal ein Thema der poli­ tischen Debatte. Ende des 19. Jahrhunderts befand sich Italien erneut in einer politischen Krise. Die Aufstände häuften sich zusehends, wobei die schwersten auf der Insel Sizilien stattfanden. Hier hatten sich Bauern, Land- und Industriearbeiter in den „fasci dei lavoratori“ organisiert. Die Forderung nach Autonomie der Insel wurde immer lauter. Man war der Ansicht, dass der Zentralismus auf der Insel erheblichen Schaden angerichtet habe und nur durch die Übertragung voller Autonomie wieder beseitigt werden könne. Die wirtschaftliche Entwicklung von Nord- und Süditalien war zu diesem Zeitpunkt durch Disparität gekennzeichnet. Der Norden entwickelte sich im Rahmen der wirtschaftlichen Hochkonjunktur nachhaltig, wohingegen es im Süden zu einer strukturellen Depression kam. Das Land war gespaltener denn je. Die Unterschiede manifestierten sich nicht nur in der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern auch in der unterschiedlichen Mentalität und Denkweise. Die Uneinigkeit führte sogar dazu, dass zwischen dem Norden und dem Süden von „Rassenunterschieden“ die Rede war.5 Alfredo Niceforo vertrat die These einer „rassischen Minderwertigkeit“ der Süditaliener. Die Situation verschärfte sich im 20. Jahrhundert beträchtlich. Durch den Wegfall der Schutzzölle auf Sizilien wurde der wirtschaftlich schwache Süden dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt, dem er indes nicht gewachsen war. Der zwölfjährige Handelskrieg mit Frankreich führte zu einem Einbruch des Landwirtschaftssektors, woraus sich zum Ende des Jahrhunderts eine unverhältnismäßig hohe Steuerbelastung im Süden Italiens ergab. Um die wirtschaftliche Situation in den Griff zu bekommen, wurde vorgeschlagen, dem Süden autonome Rechte zu übertragen, um so die Teilung Italiens zu verhindern. Alle föderalen und regionalen Vorschläge wurden allerdings zurückgewiesen. Zu groß war die Sorge, dass die 1861 errungene Einheit wieder verlorengehen könnte. Nach dem ersten Weltkrieg flammte die Föderalismusdebatte dann aber wieder auf.6 Der Zentralismus wurde damals erneut und in Anbetracht der faschistischen Ereignisse noch nachdrücklicher in Frage gestellt. Mit der Verfassung von 1948 wurden in den Art. 114–133 der ital. Verfassung die Regionen, Provinzen und Gemeinden verankert. Es wurden 20 Regionen geschaffen, 15 mit Normalstatut und 5 mit Sonderstatut (Aosta, Trentino-Südtirol, Friaul-Julisch Venetien, Sizilien und Sardinien).7 Die Verfassung definierte Italien nunmehr als „einen regionalen Einheitsstaat“. Die Regionalisierung Italiens ging in den Folgejahren nur schleppend voran. So fanden beispielsweise die ersten Regionalratswahlen erst

5

Grasse, Alexander, Italiens Weg in den Regionalstaat, Opladen 2000, S. 101–102. Grasse, Alexander, Italiens Weg in den Regionalstaat, Opladen 2000, S. 104. 7 Pallaver, Günther / Brunazzo, Marco, Das Pendel des „föderalen“ Regionalismus – Verfassungsreform und neuer Zentralismus in Italien, in: Gamper, Anna / Bußjäger, Peter / Karlhover, Ferdinand / Pallaver, Günther / Obwexer, Walter (Hrsg.), Föderale Kompetenzverteilung in Europa, Baden-Baden 2016, S. 283 (289). 6

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in den siebziger Jahren statt;8 noch heute muss dieser Prozess eine ganze Reihe von Hürden nehmen.

II. Überblick über die verfassungsrechtlichen Regelungen Viele Probleme, die aus der Geschichte Italiens resultieren, sind noch heute erkennbar.9 Dies zeigt sich insbesondere dann, wenn es um die Frage der Finanzen geht. Die Finanzverfassung der Italienischen Republik ist in Art. 81 und Art. 119 der Verfassung geregelt. Während der erstgenannte Artikel allgemeine Regelungen über die Aufstellung des Haushalts enthält, befasst sich der andere mit den Finanzen der Gemeinden, Regionen, Provinzen und Großstädte im Verhältnis zum Staat.10 Art. 81 lautet: „Der Staat gewährleistet unter Berücksichtigung der Konjunkturzyklen die Ausgeglichenheit von Einnahmen und Ausgaben im eigenen Haushalt. Die Verschuldung ist lediglich zur Beeinflussung des Konjunkturzyklus sowie, nach vorheriger Ermächtigung durch die beiden Kammern mit absoluter Mehrheit ihrer Mitglieder, nach Feststellung des Vorliegens außerordentlicher Umstände zulässig.“ Die Bestimmungen über einen ausgeglichenen Haushalt finden auch auf alle staatlichen Behörden (Art. 97 ital. Verfassung) sowie die Regionen und alle örtlichen Verwaltungen (Art. 119 ital. Verfassung) Anwendung. Was die Finanzbeziehungen zwischen Staat und Regionen angeht, so bestimmt Art. 119 Abs. 1 der ital. Verfassung: „Gemeinden, Provinzen, Großstädte, Regionen mit besonderem Status und ordentliche Regionen genießen Finanzautonomie mit Blick auf Einnahmen und Ausgaben und unter Beachtung ausgeglichener Haus 8

Bergner, Lutz, Der italienische Regionalismus. Ein Rechtsvergleich mit dezentralen und föderalen Systemen, insbesondere mit dem deutschen föderativen System, Hamburg 2008, S. 65. 9 Staiano, Sandro, Costituzione italiana: Articolo 5, Rom 2017, S. 1 ff.; Carli, Massimo, Diritto regionale. Le autonomie regionali, speciali e ordinarie, Torino 2018; Cecchetti, Marcello, Legge costituzionale n. 1 del 2012 e Titolo V della Parte II della Costituzione: profili di contro-riforma dell’autonomia regionale e locale, in Federalismi.it, 2012 Nr. 24, S. 1–12; Violini, Lorenza / Rovagnati, Andrea, Rileggendo la giurisprudenza costituzionale sui rapporti tra Stato e Regioni del 2012, in: Le Regioni 2012, S. 957–994; D’Atena, Antonio, Le Regioni, tra crisi e riforma, in Pace, Allesandro (Hrsg.), Quale, dei tanti federalismi?, Padova 1997, S. 9–30. 10 Antonini, Luca, L’autonomia finanziaria delle regioni tra riforme tentate, crisi economica  e prospettive, Rivista AIC (Associazione Italiana dei Costituzionalisti) 2014, Nr. 4, S. 1–17; Bifulco, Raffaele, Le relazioni intergovernative finanziarie negli Stati composti tra Costituzione, politiche costituzionali  e politiche di maggioranza, in: Federalismi fiscali  e Costituzioni, Torino 2001, S. 1–34; D’Atena, Antonio, Profili costituzionali dell’autonomia finanziaria delle Regioni, in: Gambino, Silvio (Hrsg.), Il federalismo fiscale in Europa, Milano 2014, S. 61–71; Mangiameli, Stelio, Le Regioni italiane tra crisi globale e neocentralismo, Milano 2013, S. 210; Verde, Giuseppe, La rinnovata definizione dell’assetto della finanza e dei tributi della Regione siciliana tra disposizioni dello Statuto e decreto-legge, in: Osservatoriosullefonti.it, 2016, Nr. 2, S. 1–21.

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halte.“ Darüber hinaus haben sie Anteil an den staatlichen Steuern, „die sich auf ihr Gebiet beziehen“. Außerdem besteht ein vom Staat verwalteter Ausgleichsfonds für „Gebiete mit geringerer Steuerkraft“ (Art. 119 Abs. 3 ital. Verfassung). Dieser Fonds soll genutzt werden, „um die wirtschaftliche Entwicklung, den sozialen Zusammenhalt und die soziale Solidarität zu fördern, wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten zu beseitigen, die effektive Ausübung der Rechte des Einzelnen zu fördern oder andere Zwecke zu erfüllen, die nicht jenen der ordentlichen Ausübung ihrer Befugnisse entsprechen“ (Art. 119 Abs. 5 ital. Verfassung). Die italienische Verfassung beinhaltet allerdings keine ausführlichen Regelungen über die Verteilung der Steuerhoheit zwischen Staat und Regionen. Zudem beschränken sich die verfassungsrechtlichen Bestimmungen auf die Festlegung allgemeiner Prinzipien; im Übrigen sind die einfachgesetzlichen Bestimmungen anzuwenden. Der Mangel an verfassungsrechtlichen Regelungen, die Aussagen über die angemessene Verteilung der finanziellen Mittel zwischen Staat und Regionen treffen, hat dazu geführt, dass die konkrete Ausgestaltung der Finanzverfassung der politischen Auseinandersetzung im nationalen Parlament überlassen ist. Infolgedessen hat sich in Italien inzwischen ein Steuergesetzgebungs- und Ausgabenbestimmungsmonopol überwiegend zugunsten des Zentralstaates herausgebildet, das nur wenige Ausnahmen enthält. Die Regionen sind in ihrer Einnahmenautonomie und mithin in der Entscheidung über Steuerfestsetzungen äußerst eingeschränkt. Auch wenn sie an den Verhandlungen über die Zuweisung der Mittel teilnehmen, die für die Erfüllung ihrer Aufgaben notwendig sind, ist ihre Ausgabenhoheit an strenge staatliche Weisungen gebunden. Im Zuge der Finanzkrise hat die Regierung im Jahr 2011 entschieden, die Mittel, die bisher für die Regionen und lokalen Behörden vorgesehen waren, zu kürzen. Dies haben die Regionen zum Anlass genommen, Klage vor dem Verfassungsgericht zu erheben, um so der einschränkenden Tendenz des Staates entgegenzutreten. Der Rechtsbehelf wurde jedoch als unbegründet zurückgewiesen. Das Gericht stellte klar, dass es sich bei den Mittelkürzungen nur um vorübergehende Maßnahmen handeln dürfe, die zeitlich beschränkt sein müssten und nicht länger als bis zum 1. Januar 2015 andauern dürften. Wie zu erwarten, hat der Gerichtshof betont, dass nicht einmal die Wirtschaftskrise die in der Verfassung vorgesehene Kompetenzverteilung ändern könne: „Die Verfassung schließt es aus, dass eine Notfallsituation den Staat dazu berechtigt, legislative Funktionen auszuüben, um die verfassungsmäßigen Garantien der Autonomie der Gebietskörperschaften auszusetzen“ (Urteile Nr. 148/2012, 151/2012 und 99/2014). In seinem Urteil Nr. 193/2012 hat der Gerichtshof den Gesetzgeber zudem daran erinnert, dass eine Umstrukturierung der Staatsausgaben nur durch echte Reformen und nicht durch lineare und zeitweilige Kürzungen möglich sei. Eine solche Reform setze aber voraus, dass eine Ausnahmesituation vorliege. Eine weitere verfassungsrechtliche Grenze zieht diese Rechtsprechung insoweit, als die Regionen an der Entscheidung über die Mittelzuweisung beteiligt werden

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müssen. Setzt sich der Staat mit den Regionen über die Mittelzuweisung nicht auseinander, muss er damit rechnen, dass das Verfassungsgericht die gesetzliche Regelung für verfassungswidrig erklärt. Dies geschieht entweder im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle oder eines Organstreitverfahrens. In seinem letzten Urteil (Nr. 78/2018) hat das Verfassungsgericht über die nationalen strategischen Fonds für die Öffentlichen Verkehrsmittel der Region Umbrien entschieden und in diesem Zusammenhang betont, dass die Grenze der zentralstaatlichen Finanzpolitik dort liege, wo es um die effektive Beteiligung der Regionen an den Entscheidungen über die Mittelzuweisung gehe. Mangels einer Zuständigkeit der zweiten legislativen Kammer (Senat) finden die Verhandlungen über die Mittelzuweisung im Rahmen der Staat-Regionen-Konferenzen statt.11 Als sich in der 16. Legislaturperiode die Lage der italienischen Staatsverschuldung verschärfte, hielt man es auf der Ebene der Europäischen Union für notwendig, strengere Regelungen zum Zweck der Haushaltskonsolidierung zu schaffen und eine Pflicht zur ausgeglichenen Haushaltsführung in die italienische Verfassung aufzunehmen. Durch das Verfassungsgesetz Nr. 1 vom 20. April 2012 wurde die Verpflichtung verankert, das strukturelle Gleichgewicht zwischen den Haushaltseinnahmen und -ausgaben zu wahren. Ziel dieser Regelung ist es, die nationale Regierung und die italienischen Gebietskörperschaften dazu zu zwingen, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Neben den Regelungen über einen ausgeglichenen Haushalt legt Art. 81 der ital. Verfassung die Grenzen der öffentlichen Verschuldung fest.

III. Die Verfassungsreform von 2012 und die Pflicht zur ausgeglichenen Haushaltsführung Die Entscheidung, die Verfassung zu reformieren, wurde von der Regierung Berlusconi IV getroffen und sodann von der Regierung Monti umgesetzt. Neben Art. 81 wurde auch Art. 117 der ital. Verfassung, der die Gesetzgebungszuständigkeiten des Staates und der Regionen festlegt, geändert. Dadurch wurde die ehemals konkurrierende Gesetzgebungskompetenz durch eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Staates in Angelegenheiten „des Steuersystems und des Rechnungswesens des Staates, der Harmonisierung der öffentlichen Haushalte und des Finanzausgleichs“ ersetzt. Hingegen bleibt es hinsichtlich der Koordinierung der öffentlichen Finanzen bei einer Rahmen-Gesetzgebungszuständigkeit des Staates. Dennoch wurde diese Rahmenkompetenz vom Verfassungsgericht oftmals als aus-

11

Belletti, Michele, Corte costituzionale  e spesa pubblica. Le dinamiche del coordinamento finanziario ai tempi dell’equilibrio di bilancio, Torino 2016, S. 1–224; Pinelli, Cesare, Prime pronunce delle Corti costituzionali sulle misure di contrasto alla crisi dell’eurozona. Un b­ ilancio critico, in: Melica, Luigi / Mezzetti, Luca / Piergigli Valeria (Hrsg.), Studi in onore di Giuseppe De Vergottini, Bd. III, Padova 2015, S. 2263–2282.

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schließliche Gesetzgebungskompetenz des Staates ausgelegt. Damit hat die Reform zu einer noch strengeren Kontrolle der örtlichen Finanzen geführt. Sekundäre Regelungen hierzu finden sich in dem ordentlichen Gesetz Nr. 243/12. Es bestimmt in seinem Art. 3, dass die Verpflichtung zur ausgeglichenen Haus­ haltführung, die alle öffentlichen Behörden rechtlich bindet, dem mittelfristigen Ziel (MTO), das heißt dem „Wert des strukturellen Gleichgewichts, der auf Grundlage europarechtlicher Regelungen festgelegt wurde,“ entsprechen muss. Dabei handelt es sich um Prinzipien, an die sich Italien durch die Ratifizierung des Fiskalpakts (Fiscal Compact) rechtlich gebunden hat. Durch dieses Gesetz wurden zugleich neue Korrekturmechanismen im Rahmen der Finanzordnung eingeführt. Die Regierung wurde außerdem verpflichtet, dem Parlament über getroffene Entscheidungen im Bereich der Finanzen zu berichten. Damit wurde dem Staat auch die Verpflichtung auferlegt, sich gegenüber der Öffentlichkeit für seine Entscheidungen zu rechtfertigen. Eine effektive Schuldenbremse, wie sie in Art. 109 GG geregelt ist, wurde hingegen nicht in die italienische Verfassung aufgenommen. Dem Staat obliegt somit lediglich eine Berichterstattungspflicht. Schließlich regelt das Gesetz auch die Grundlagen des Stabilitätspakts für diejenigen Gebietskörperschaften, die bestimmte Ausgaben- und Ressourcenbeschränkungen einhalten müssen. Dem Beispiel anderer Mitgliedstaaten folgend, sieht das Gesetz Nr. 243/12 die Gründung eines parlamentarischen Haushaltsamtes (Ufficio parlamentare di bilancio) vor. Dabei handelt es sich um ein unabhängiges Organ, dessen Zusammensetzung  – auf Vorschlag der zuständigen parlamentarischen Ausschüsse – von den Präsidenten der beiden Kammern bestimmt wird. Seine unabhängigen Mitglieder überprüfen vor allem die Auswirkungen der öffentlichen Finanzentscheidungen mit dem Ziel, einen ausgeglichenen Haushalt einzuhalten. Weichen die Entscheidungen der Regierung wesentlich von denen des Amtes ab, kann es vorkommen, dass die Regierung vor den parlamentarischen Ausschüssen ihre makroökonomischen Prognosen darlegen muss. Anhand des Haushaltsplans kann ein drastisches Missverhältnis zwischen den Steuereinnahmen und -ausgaben aufgedeckt werden. Bei Ausgaben in Höhe von ca. 575 Mrd. EUR (davon allein 78 Mrd. Zinsen, die auf die Staatsverschuldung zu zahlen sind) hat die öffentliche Verwaltung des Staates im Jahr 2018 den lokalen Behörden nur insgesamt 130 Mrd. (was 22,6 % entspricht) zugestanden. Bei der Verteilung dieser Mittel hatten die Regionen einen deutlichen Vorrang vor den anderen Gebietskörperschaften und mussten bereits ca. 111 Mrd. für die Kostendeckung des Gesundheitssystems aufwenden. Gleichwohl liegt eine Ausgabenentscheidung im Grunde bei der Regierung und nicht beim Parlament, welches sich häufig darüber beschwert, bei Entscheidungen, die sich auf die ausgeglichene Struktur des Haushalts auswirken, als Haushaltsgesetzgeber übergangen zu werden. Ein extremes Beispiel hierfür bildet der Konflikt, der im Dezember 2018 von der Opposition ausgelöst wurde. Der Widerstand der Opposition gegen die Verab-

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schiedung des Haushaltsgesetzes 2019, das angesichts des Ausmaßes der geplanten Neuverschuldung bis zum letzten Augenblick mit der Europäischen Kommission ausgehandelt werden musste, wurde durch die Regierung überspielt, indem das Gesetz mittels einer Verbindung mit der Vertrauensfrage, unter Ausschluss von Änderungsanträgen, erlassen wurde. Eine gegen dieses Haushaltsgesetz erhobene Klage wurde zurückgewiesen, doch hat das Verfassungsgericht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein solches Verhalten definitiv nicht tragbar sei und sich in keinem Fall wiederholen dürfe (Urteil Nr. 198/2018).

IV. Ein Blick auf die gegenwärtige Finanzlage des Zentralstaates Im Laufe des Jahres 2019 kam es im politischen System Italiens zu einschneiden­ den Änderungen, insbesondere durch den Übergang von einer gelb-grünen zu einer gelb-roten Regierung. Dies brachte viele Schwierigkeiten für die öffentlichen Finanzen mit sich. Die politische und finanzielle Situation des Landes ist bis heute sehr angespannt und hat leider dazu geführt, dass das Hauptziel, nämlich die Verringerung der Staatsverschuldung, nicht erreicht werden konnte. Eines ist allerdings nicht von der Hand zu weisen. Die Aufgabe, ein funktionierendes Finanzsystem für eine politische Ordnung zu schaffen, die sich in einer äußerst schwierigen Lage befindet, ist praktisch nicht möglich. Ein Beweis dafür ist das Haushaltsgesetz vom Dezember 2019. Daten zeigen, dass die öffentliche Verschuldung Italiens kontinuierlich angestiegen ist. Lag diese im Jahre 2005 noch bei rund 1.500.000 Mio. EUR ist im Jahre 2018 ein Anstieg auf knapp 2.400.000 Mio. EUR zu verzeichnen. Das BIP stieg hingegen nur leicht an. Im Jahre 2005 lag das BIP noch bei 1.400.000 Mio. EUR, stieg bis zum Jahre 2018 allerdings nur auf rund 1.800.000 Mio. EUR an.12 Die politische Instabilität Italiens ist ohne Zweifel kein Novum. Seit dem Verfassungsreferendum vom 4. Dezember 2016 steht Italien erneut im Zeichen des Umbruchs. Die Zusammensetzung des Parlaments ist ständigen Veränderungen unterworfen, und die Zusammenarbeit der Parteien gestaltet sich seit dem Referendum noch schwieriger als schon zuvor. Ministerpräsident P. Gentiloni, der nach dem Scheitern des Referendums auf M. Renzi folgte,13 setzte die politische Zusammenarbeit mit den europäischen Institutionen mit dem Ziel einer schrittweisen Verringerung der öffentlichen Schulden fort, so dass es gelang, die Schuldenquote im Verhältnis zum BIP auf einem gleichbleibenden Stand zu halten. Der Wahlsieg der 5-Sterne-Bewegung bei den Wahlen am 4. März 2018 (der indes keiner war) führte jedoch, nach einigen Monaten des politischen Chaos, zur Bildung der ersten

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Daten aus Eurostat, General government gross debt – annual data, Italien, www.eurostat.eu. P. Gentiloni ist nunmehr Kommissar für Wirtschaft und Währung sowie Kommissar für Steuern und Zollunion in der Kommission von der Leyen. 13

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Regierung G. Conte, einer Koalitionsregierung aus Lega Nord, eine durch euroskeptische und nationale Interessen geprägte Partei, sowie 5-Sterne-Bewegung. Die sogenannte gelb-grüne Regierung trug anlässlich des Verfahrens der Verabschiedung des Haushalts 2019 erhebliche Meinungsverschiedenheiten mit der Europäischen Kommission hinsichtlich der Höhe der Schuldenquote im Verhältnis zum BIP aus.14 Die zahlreichen Angriffe auf die europäischen Institutionen und die Regeln des Stabilitätspaktes seitens einiger prominenter Mitglieder der Regierung Conte I, namentlich des ehemaligen Innenministers M. Salvini, haben das Vertrauen in den italienischen Markt geschwächt und damit das Risiko einer neuen Schuldenkrise erhöht. Im Sommer 2019 führte eine erneute Regierungskrise (deren Gründe bis heute noch nicht umfassend geklärt sind) zum Platzen der gelb-grünen Koalition und – abermals unter Conte – zur Bildung einer gelb-roten Nachfolgeregierung, die sich aus 5-Sterne-Bewegung, Demokratischer Partei und anderen Politikern des Zentrums und der Linken zusammensetzt. Ob der Regierung Conte II die Verringerung der Staatsverschuldung gelingen wird, bleibt abzuwarten. Das zum 1. Januar 2020 in Kraft getretene Haushaltsgesetz 2020 sieht ein Defizit von 2,2 % des BIP vor.

V. Die Finanzen der Regionen Nach dieser Analyse der nationalen Finanzsituation soll nun die finanzielle Lage der italienischen Regionen genauer untersucht werden. Bis zur Reform im Jahre 2001 bestimmte die Verfassung, dass die Regionen „finanzielle Autonomie in den durch Gesetze der Republik festgelegten Formen und Grenzen“ haben sollten. Art. 119 der ital. Verfassung bestimmte ferner: „Den Regionen werden eigene Steuern und Anteile der Staatssteuern […] für die zur Ausübung ihrer ordentlichen Befugnisse notwendigen Ausgaben zugewiesen.“ Wie oben bereits erwähnt, hat diese Regelung eine umfassende sogenannte „abgeleitete Finanzierung“ geschaffen, bei der der nationale Gesetzgeber allein über die Steuererhebung entscheidet und zudem häufig als alleiniger Steuereinnehmer fungiert. Bereits gegen Ende der neunziger Jahre hatte der staatliche Gesetz­ geber den Regionen und den Gebietskörperschaften viele Verwaltungsfunktionen übertragen, sich insoweit jedoch die exklusive Befugnis vorbehalten, „die steuerpflichtigen Tatbestände, die gesetzliche Definition eines Steuerpflichtigen sowie die maximalen Steuersätze“ zu regeln (Art. 52 der Verordnung mit Gesetzeskraft 446/97). 2001 wurden den Regionen weitere gesetzgeberische und damit auch verwaltungsrechtliche Funktionen übertragen. Auch wenn die Verfassungsreform

14

Die damalige italienische Regierung sah eine Verschuldungsquote von 2,4 %, die Kommission eine Quote von weniger als 2 % als zulässig an. Die Einigung erfolgte schließlich bei 2,04 %.

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2001 ausdrücklich den Begriff „federalismo“ verwendete, hat sie nicht zu der vorgesehenen föderalen Verteilung der Finanzkompetenzen geführt. Da sich an der Gesetzgebungsbefugnis im Bereich der Finanzen und Steuern nur wenig geändert hat, obliegt es nämlich nach wie vor vorrangig dem staat­ lichen Gesetzgeber, die Steuersätze festzusetzen und die Steuern zu erheben. Im Jahre 2000 begann zwar ein Prozess, der das Ziel verfolgte, in Italien das Prinzip des Steuerföderalismus und der gemeinsamen Finanzierung durch den Staat und die Regionen in Ersetzung des Systems der „abgeleiteten Finanzierung“ zu implementieren. Wesentliche Änderungen hat es insoweit allerdings bisher nicht gegeben, da sich die erlassenen Regelungen angesichts der Einnahmeautonomie des Zentralstaates immer nur auf Steuern des Zentralstaates beziehen. Um das gesetzgeberische Ermessen des Parlaments im Bereich der Finanzen nicht einzuschränken, hat das Verfassungsgericht in seinen Urteilen Nr. 296/2003, 297/2003 und 311/2003 anlässlich des Streits zwischen dem Staat und den Regionen über die Finanzbefugnisse zugunsten des Staates entschieden.

VI. Die Verteilung der Steuereinnahmen zwischen Staat und Regionen Nach der geltenden Gesetzgebung stellt sich die Situation im Hinblick auf die Einnahmen aus Steuern wie folgt dar: a) Die Einkommenssteuer wird ausschließlich vom Staat geregelt.15 Die geltende Gesetzgebung sieht für natürliche Personen eine Steuerprogression – also eine stufenweise Erhöhung der Steuersätze in Abhängigkeit vom Einkommen – vor, während juristische Personen einen Steuersatz in Höhe von 24 % auf die jeweiligen Einnahmen zahlen. Der Staat kalkuliert die Steuerbemessungsgrundlage sowie die Abzüge und die Abschreibungen und zieht dann das gesamte Steueraufkommen ein. Die Regionen sind verpflichtet, einen zusätzlichen Steuersatz von 1,23 % zu erheben, den sie auf maximal 3,33 % erhöhen (oder auf Null senken) können;16 jedoch dürfen sie Abzüge für Familien festlegen. Die Regionen, die sich aufgrund eines übermäßigen Defizits im Gesundheitssektor in einer finanziellen Notlage befinden, sahen sich gezwungen, den zusätzlichen Steuersatz (1,23 %) um weitere 0,3 % zu erhöhen. Abzüge zugunsten der Steuerbürger konnten sie nicht vornehmen. b) Hinsichtlich der Mehrwertsteuer (geregelt durch die Gesetzesvertretende Verordnung 633/72) bestimmt der Staat, im europarechtlich harmonisierten Rahmen, sowohl die Höhe des Steuersatzes (22 % für den Großteil der Vermögenswerte) als auch das zu versteuernde Einkommen (Richtlinie 92/77/EWG). Die Regionen 15 16

Decreto legislativo (Gesetzesvertretende Verordnung) 917/86. Geregelt durch Decreto legge (Verordnung mit Gesetzeskraft) 138/11.

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haben hier keinen Handlungsspielraum, nehmen jedoch an dem Aufkommen der Mehrwertsteuer innerhalb ihres Territoriums teil. Im Jahr 2018 betrug das Gesamtsteueraufkommen 158 Mrd. EUR, wovon 114 Mrd. EUR an die Regionen zurückgeflossen sind. c) Der Staat führte durch Gesetz eine regionale Gewerbesteuer ein, durch die den Regionen ein gewisser Handlungsspielraum hinsichtlich der Reduzierung und Erhöhung des Basissteuersatzes von 3,9 % eingeräumt wurde. Die Regionen, die sich in einer finanziellen Notlage befinden, sind jedoch seit 2006 verpflichtet, den Grundsteuersatz bis zu 4,82 %17 zu erhöhen. d) Insgesamt ist festzustellen, dass die Regionen – selbst bei Berücksichtigung der ihnen zustehenden Steuern, die die Kommunen für die Ausführung öffentlicher Vorhaben (l’imposta di scopo)18 und die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen erheben – über einen sehr begrenzten finanziellen Handlungsspielraum verfügen. Die Einnahmen aus den Steuern für die Ausführung öffentlicher Vorhaben sowie die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen müssen ihnen jedenfalls in dem vom Parlament festgesetzten Rahmen und in Übereinstimmung mit den öffentlichen Finanzgrundsätzen verbleiben. Die jüngsten Versuche einiger Regionen, eine Kraftfahrzeugsteuer zu erheben, um den Gebrauch umweltbelastender Fahrzeuge einzudämmen, wurden vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt. Im Ergebnis werden die Ausgaben der Regionen mithin nur zu einem geringen Teil durch „eigene“ Steuern gedeckt.19 Der Rest des regionalen Finanzbedarfs wird in Form von Finanzzuweisungen des Staates gedeckt. Hierzu dienen insbesondere zweckgebundene Fonds (Gesundheit, Öffentliche Verkehrsmittel usw.), die die Zweckbindung der regionalen Ausgaben verdeutlichen. Das Ausgabenverhalten der Regionen wird durch den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit („Bundestreue“) begrenzt, was sich bereits in der Beteiligung der regionalen Führungskräfte an den Finanzverhandlungen widerspiegelt. Dieses Prinzip, das den Regionen einen gewissen autonomen Entscheidungsspielraum einräumt, dominiert inzwischen die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts. Das Streben des Staates nach Beschränkung der regionalen Autonomie basiert auf der Angst vor einem Kontrollverlust und vor einem Machtmissbrauch durch die Regionen.

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Das Gesetz kann im Einzelfall noch höhere Sätze vorsehen. Geregelt in den Abschnitten 145–151 des Art. 1 des Gesetzes Nr. 296/2006 und erstmals im Haushaltsjahr 2007 erhoben. 19 Diese Daten stammen aus dem konsolidierten Finanzbericht der Region Lombardei, 2018 (Delibera del Consiglio di approvazione del bilancio consolidato 2018), www.regione. lombardia.it. 18

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VII. Finanz- bzw. Steuerüberschüsse Bei den regionalen Finanzen geht es auch um den Steuerüberschuss oder, besser gesagt, um die Differenz zwischen der Summe, die die jeweilige Bevölkerung einer Region als Steueraufkommen an den Staat zahlt, und der Summe, die der Staat in den jeweiligen Regionen für die öffentlichen Dienste ausgibt. Die nördlichen Regionen Italiens (Lombardei, Venetien, Toskana, Emilia-Romagna und Piemont) haben seit Jahren einen beständigen Finanzüberschuss, der im Rahmen des Finanzausgleichs zugunsten des Mezzogiorno abgeschöpft wird. Die südlichen Regionen wie beispielsweise Sizilien, Apulien und Sardinien weisen ein negatives Steueraufkommen auf, wohingegen die nördlichen Regionen in diesem Zeitraum ausnahmslos einen Überschuss verzeichnen konnten, die Lombardei sogar mit einem Steuerüberschuss von rund 54 Mrd.20 Dieses Berechnungssystem wurde oftmals in Frage gestellt. Im politischen Wettkampf haben sich einige Parteien aus dem rechten Lager gegen die Idee der „Interregionalen Solidarität“ gewandt. Das Missverhältnis zwischen den „Geber“-Regionen und den „Nehmer“-Regionen ist höchst evident.

VIII. Die Auswirkungen der Krise auf die lokalen Finanzen Italien war gerade im Begriff, das lokale Finanzsystem durch das Gesetz Nr. 41/​ 2009 zum Finanzföderalismus (federalismo fiscale)21 zu überarbeiten als die Wirtschaftskrise ausbrach.22 Bereits seit den Anfängen der Krise im Jahre 2010 kam es zu grundlegenden Änderungen bei der Zusammensetzung und Höhe der Staatsausgaben (Verordnung mit Gesetzeskraft 78/2010). Ziel war es, das Vertrauen der internationalen Märkte wiederzugewinnen. Zu diesem Zwecke hatte Italien Schuldtitel in Höhe von ca. 250 Mrd. EUR emittiert, die der Refinanzierung fälliger Titel sowie zur Deckung der Staatsschulden dienen sollten. So entwickelte sich eine starke Marktabhängigkeit der italienischen Finanzen, die man durch eine Begrenzung der Staatsausgaben einzudämmen versuchte. Die finanziellen Kürzungen, die sogenannte „spending review“, die zur Eindämmung der Krise dienen sollten, betrafen fast alle öffentlichen Ausgabepositionen. So etwa die Haushaltstitel der Verfassungsorgane, die Versorgungsleistungen, die Schulbildung, das Gesundheitssystem und sogar die nationale Verteidigungspolitik. Diese Kürzun-

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Daten verfügbar unter https://www.truenumbers.it/residuo-fiscale/. „Delega al Governo in materia di federalismo fiscale, in attuazione dell’articolo 119 della Costituzione“ v. 5.5.2009. 22 Brancasi, Antonio, Il coordinamento della finanza pubblica nel federalismo fiscale, Diritto pubblico 2011, Nr. 2, S. 451–481; Grasso, Giorgio, Il costituzionalismo della crisi. Uno studio sui limiti del potere e sulla sua legittimazione al tempo della globalizzazione, Napoli 2012, S. 34–126. 21

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gen wurden zumeist „vertikal“ vorgenommen, ohne vorab zu entscheiden, welche Ausgaben als „unnötig“ anzusehen sind. Die Regionen sind in großen Teilen für die Finanzierung der Staatsausgaben verantwortlich, besitzen aber dennoch, wie die anderen Gebietskörperschaften, nur minimale Kompetenzen in der Finanzpolitik. Es sind aber gerade jene Regionen und Gebietskörperschaften, die von den Finanzierungskürzungen des Staates am stärksten betroffen sind. Eine Studie des Instituts CGIA di Mestre hat aufgezeigt, dass zulasten der Regionen und der übrigen subnationalen Gebietskörperschaften im Zeitraum zwischen 2009 und 2015 Mittel in Höhe von ca. 26,4 Mrd. gekürzt wurden (das entspricht ca. 11 % ihrer Ausgaben), während die finanziellen Mittel der staatlichen Verwaltung im selben Zeitraum um lediglich 6,4 Mrd. gekürzt wurden; dies sind gerade einmal 3 % der Staatsausgaben. Aus Studien geht hervor, dass die Regionen im gleichen Zeitraum eine Kürzung der finanziellen Mittel im Bereich des Gesundheitssystems von ca. 17,5 Mrd. zu bewältigen hatten. Um trotz der einschneidenden Kürzungen ein funktionierendes Gesundheitssystem gewährleisten zu können, wurden die Kosten umgelegt: So gab es beispielsweise eine Erhöhung des „Tickets“, welches bei der Erbringung von Gesundheitsleistungen in Krankenhäusern vom Patienten zu zahlen ist. Dabei handelt es sich allerdings nur um eine anteilige Kostenumlegung auf den Patienten, die aber parallel zu den Kürzungsmaßnahmen erhöht wurde. Gleichwohl hat sich der Nationale Gesundheitsfonds (Fondo Sanitario Nazionale)  im Jahre 2013 (um 1 Mrd.) reduziert und ist auch im gesamten Zeitraum nur unbedeutend angestiegen.23 Die Maßnahmen zur Eindämmung und Rationalisierung der Verschuldung waren besonders einschneidend für diejenigen Einrichtungen, die durch die Haushaltsbestimmungen verpflichtet wurden, von geplanten Investitionen oder Erhöhungen der sozialen Dienstleistungen Abstand zu nehmen;24 dies selbst dann, wenn sie über einen ausgeglichenen Etat verfügten oder sich sogar im Plus befanden. Hierbei darf nicht vergessen werden, dass auch die Gemeinden 50 % der Einnahmen aus der kommunalen Vermögenssteuer an den Staat abführen müssen. In seinen Grundsatzentscheidungen hat sich das Verfassungsgericht zur Untermauerung seiner Argumentation auch auf Art. 117 Abs. 3 der ital. Verfassung bezogen, der den Regionen die „konkurrierende“ Gesetzgebungskompetenz im Bereich der „Koordinierung der öffentlichen Finanzen und des Steuersystems“ zuweist (Urteil Nr. 219/2013). 23

Politi, Fabrizio, Il diritto alla salute fra esigenze di bilancio, tutela delle competenze regionali ed incomprimibilità dei livelli essenziali, in: Corti supreme e salute, 2018, Nr. 1, S. 39–58; Calzolaio, Simone, Il modello dei Piani di Rientro dal disavanzo sanitario dal punto di vista dell’equilibrio di bilancio, in Federalismi.it, 2014, Nr. 23. 24 Luciani, Massimo, Diritti sociali e livelli essenziali delle prestazioni pubbliche nei sessant’anni della Corte costituzionale, in: Rivista AIC, 2016, Nr. 3, S. 1–37; Boggero, Giovanni, La garanzia costituzionale della connessione adeguata tra funzioni e risorse. Un „mite“ tentativo di quadratura del cerchio tra bilancio, diritti e autonomie, in: Rivista AIC, Nr. 4/2019 v. 20.12.2019.

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Wie bereits erwähnt, wurden die Mittelkürzungen nur für einen begrenzten Zeitraum und nur zur Überwindung der Wirtschaftskrise für verfassungsgemäß erklärt. Es sei nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahmen allein aus der Notstandssituation heraus begründen ließ.

IX. Fazit Abschließend stellt sich die Frage, wieviel Autonomie den Regionen noch verbleibt. Insoweit sind zwei Gesichtspunkte hervorzuheben: zum einen das Phänomen des „differenzierten Regionalismus“ (regionalismo differenziato) und zum anderen ein deutlicher regionalfreundlicher Trend in der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Obgleich die Situation fast aussichtslos erscheint, haben sich einige Regionen zur Geltendmachung ihrer Autonomie erstmals auf das Verfahren gemäß Art. 116 Abs. 3 der ital. Verfassung berufen. Dieser lautet: „Auf Initiative der daran interessierten Region können, nach Anhören der örtlichen Körperschaften und unter Wahrung der Grundsätze laut Art. 119, den anderen Regionen mit Staatsgesetz weitere Formen und besondere Arten der Autonomie zuerkannt werden; dies gilt für die Sachgebiete gemäß Art. 117 Abs. 3 und Abs. 2 desselben Artikels unter Buchst. l), beschränkt auf die Friedensgerichtsbarkeit, und Buchst. n) und s)“. Zudem finden die Regionen mit ihren autonomen Anliegen seit einiger Zeit vermehrt Gehör in der höchstrichterlichen Rechtsprechung. 1. Das Verfahren nach Art. 116 Abs. 3 der ital. Verfassung Seit 2015 fordern die zentralen und nördlichen Regionen (Emilia-Romagna und Lombardei / Venezien) auf der Grundlage des Art. 116 Abs. 3 der Verfassung vom Staat die Zuerkennung „weiterer Formen und besonderer Arten der Autonomie“ im Rahmen eines Gesetzes.25 Zu diesem Zweck versuchen Staat und Regionen,

25 Zanardi, Alberto, Le richieste di federalismo differenziato: una nota sui profili di finanza pubblica, in: ASTRID Rassegna, 2017, n. 11, S. 1–9; Violini, Lorenza, I procedimenti per l’attuazione del regionalismo differenziato: luce e ombre dell’art. 116, 3° comma della Costituzione, Beitrag anlässlich der Tagung „Differenziazione e asimmetria nel regionalismo italiano“, am 29. Mai 2019 vom Centro Nazionale di Ricerca (CNR) organisiert (im Erscheinen); Violini, Lorenza, L’autonomia delle Regioni italiane dopo i referendum e le richieste di maggiori poteri ex art. 116, comma 3, Cost., in: Rivista AIC 2018, S. 319–365; Mezzanotte, Massimiliano, L’art. 116, comma 3, Cost. tra obblighi finanziari e vincoli di contenuto, in; Federalismi.it, 2019, Nr. 23/2019 v. 18.12.2019; Macciotta, Giorgio, L’attuazione dell’art. 116, comma 3 della Costituzione: un quadro di riferimento, in: ASTRID Rassegna 2018, Nr. 10, S. 1–22; Lucarelli, Alberto / Patroni, Griffi, Andrea / Tesauro, Giuseppe / Villone, Massimo, Regionalismo differenziato e trasformazione della forma di Stato, Audizione del 12 giugno

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eine Verständigung mittels eines Abkommens herbeizuführen. Die Erweiterung der autonomen Rechte und die für die Erfüllung der neuen Aufgaben notwendigen finanziellen Mittel sollen dabei in einer Wechselbeziehung stehen. Die Verhandlungen über eine solche Ausweitung der autonomen Rechte der Regionen befinden sich gegenwärtig (2020) in der Schlussphase. Das auszuhandelnde Gesetz sollte vom Parlament, mit einer absoluten Mehrheit in beiden Kammern, bereits im Jahr 2019 verabschiedet werden. Bislang ist allerdings noch keine Entscheidung ergangen und es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass es bald hierzu kommen wird. Auch wenn die Regionen zuvor bei ihrem ersten Versuch (2007) gescheitert sind,26 ein solches Abkommen abzuschließen, kämpfen sie weiterhin für mehr Eigenständigkeit. Die Lombardei und Venezien haben einen Volksentscheid durchgeführt, um das in Art. 116 Abs. 3 der ital. Verfassung geregelte Verfahren in Gang zu setzen (Urteil Nr. 118/2015). 2. Die regionalfreundliche Rechtsprechung des Verfassungsgerichts a) Das Urteil Nr. 57/2019 In der vom Verfassungsgericht zu entscheidenden Rechtssache ging es um einen Kompetenzstreit zwischen dem Staat und den regionalen Körperschaften der Region Umbrien, wobei die Region Umbrien den Staat beschuldigte, mittels einer Gesetzesnorm (Art. 7 Abs. 9 der Verordnung mit Gesetzeskraft Nr. 78 vom 19. Juni 2015) mehr als 18 Mio. EUR unterschlagen zu haben. Diese Norm war bereits zuvor vom Verfassungsgericht durch das Urteil Nr. 13/2017 für verfassungswidrig erklärt worden. Der Forderung seitens der Region nach Rückzahlung der unterschlagenen Summe begegnete der Staat mit Schweigen. Aus diesem Grund beanstandete die Region vor dem zuständigen Verwaltungsgericht die Untätigkeit des Staates und wendete sich zugleich an das Verfassungsgericht mit dem Begehren, das Schweigen für verfassungswidrig zu erklären. Das Verfassungsgericht gab der Beschwerde vollumfänglich statt und erkannte die „berechtigten regionalen Forderungen“ an. Das Verfassungsgericht bezog sich in seiner Entscheidung insbesondere auf Art. 117 Abs. 3 der ital. Verfassung, der den Regionen die Gesetzgebungskompetenz im Bereich der „Koordinierung der öffentlichen Finanzen“ (coordinamento della finanza pubblica e del sistema tributario) überträgt, sowie auf Art. 119 Abs. 1 und 2 der ital. Verfassung, der ihnen 2019, Commissione Bicamerale Federalismo Fiscale, Parlamento della Repubblica Italiana, „Autonomia finanziaria delle Regioni ed attuazione dell’art. 116, comma 3 della Costituzione“, in: Diritto Pubblico Europeo Rassegna online, Nr. 1/20, S. 1–67. 26 Violini, Lorenza, Le proposte di attuazione dell’art. 116, co. III, in: Le Regioni, 2/2007, S. 199–208; Violini, Lorenza, Regionalismo differenziato e utilizzazione dell’art. 116, co. 3, Cost. (con particolare riguardo al regime dei diritti sociali), in: Istituzioni del Federalismo 2008, S. 87–94.

Die Finanzreform von 2012 im italienischen Regionalismus

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finanzielle Autonomie garantiert. Die Rechtssache wurde vom Verfassungsgericht in einem vorläufigen Verfahren gemäß Art. 136 der ital. Verfassung entschieden. Dabei wurde es dem Staat untersagt, eine für verfassungswidrig erklärte Gesetzesnormen weiterhin anzuwenden oder Normen mit gleichem Inhalt zu erlassen. Darüber hinaus hat das Gericht im Verhalten des Staates eine Verletzung des Prinzips der loyalen Zusammenarbeit gesehen, das gemäß Art. 5 und Art. 117 der ital. Verfassung auch zwischen den staatlichen Behörden anwendbar sei. b) Das Urteil Nr. 6/2019 Die Region Sardinien zog vor das Verfassungsgericht, um Teile des staatlichen Haushaltsgesetzes aus dem Jahre 2018 (Art. 1, Abschnitt 851 des Gesetzes Nr. 205 vom 27. Dezember 2017) anzufechten. Die Region machte geltend, bei der Zuweisung zusätzlicher finanzieller Mittel, die zur Abdeckung eines finanziellen Rückstands dienen sollten, nicht angemessen berücksichtigt worden zu sein. Nach Ansicht der Klägerin waren die 15 Mio. EUR, die der Region gewährt worden waren, insbesondere in Anbetracht der Summen, die der Zentralstaat den anderen autonomen Regionen überwiesen hatte (die Region Valle d’Aosta erhielt 265 Mio., Friaul 240 Mio. EUR) sowie der Summen, die die Region Sardinien an den Staat gezahlt hatte (mehr als 600 Mio. EUR), völlig unangemessen. Die Region machte die Verletzung ihrer in den Statuten garantierten Finanzautonomie geltend, die zudem Verfassungsrang besitzt. Dabei verwies die Region auch auf das Prinzip der loyalen Zusammenarbeit, das zwischen Staat und Regionen gelte, und stellte sich auf den Standpunkt, dass die beanstandete Norm der Region für das gesamte Jahr 2019 keinen Verhandlungsspielraum lasse. Damit seien die sich aus dem Urteil Nr. 77/2015 des Verfassungsgerichts ergebenden Prinzipien verletzt, die dem Staat die Pflicht auferlegen, sich mit den autonomen Regionen im Bereich der öffentlichen Finanzen zu verständigen. Das Verfassungsgericht erkannte das Recht der Region Sardinien an, vom Staat „in angemessenem Umfang Mittel zu erhalten, die nach den in der Begründung [des Urteils] festgelegten Kriterien zu berechnen [seien]“. In diesem Zusammenhang erklärte das Verfassungsgericht die Gesetzesnorm, die für die Region Sardinien lediglich eine finanzielle Zuwendung von 15 Mio. EUR vorsah, für verfassungswidrig. Zugleich verpflichtete das Gericht den Staat, der Region Sardinien weitere finanzielle Mittel zu gewähren und mit den regionalen Behörden gemäß dem Grundsatz von Treu und Glauben hierüber zu verhandeln.

Resümee und Ausblick

Resümee und Ausblick  Jacques Ziller Wie Albrecht Weber in seiner Einleitung zur Tagung „Verfassungsentwicklungen im Vergleich“ betont hatte, waren „70 Jahre Grundgesetz, 40 Jahre spanische Verfassung und 71 Jahre italienische Verfassung ein willkommener Anlass, über die enorme Bestandskraft und Wirkungen dieser Verfassungen nachzudenken“. Als französischer Staatsrechtslehrer würde ich gerne hinzufügen, dass auch 61 Jahre französische Verfassung zum Nachdenken veranlassen sollten, da die Verfassung vom 4. Oktober 1958 nun fast so lange Zeit wie die Verfassungsgesetze von 1875 in Kraft geblieben ist. Im Unterschied zu den drei in diesem Band besprochenen Ländern hat aber Frankreich mit seiner Verfassung der Fünften Republik nur einen sehr geringen Einfluss in anderen europäischen Ländern gehabt – und von anderen europäischen Ländern empfangen. Es war mit der Verfassung der Vierten Republik – von 1946 bis 1958 in Kraft – anders, da diese sehr viele Gemeinsamkeiten mit den anderen Nachkriegsverfassungen hatte, vor allem mit der italienischen. Die Besonderheiten des heutigen französischen Verfassungsrechts liegen erstens darin, dass es nicht zu einem richtigen Grundrechtskatalog in den Bestimmungen der Verfassung kam, sondern nur zu einer Kompromiss-Präambel wegen der fehlenden Übereinstimmung zwischen Christdemokraten einerseits – die unter den Grundrechten in der Verfassung von 1946 die Freiheit der Bildung, d. h. eigentlich die katholischen Schulen schützen wollten – und andererseits der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei, die auf einer strikten Laizität der Bildung beharrten. Deswegen berief sich zwölf Jahre später das Verfassungsänderungsgesetz von 1958 – das als rechtliche Grundlage für die Verfassungsänderung galt und zu einer völlig neuen Verfassung führte – auf die Erklärung der Menschenrechte von 1789 sowie auf die Präambel der Verfassung von 1946 und auf die sog. „von den Gesetzen der Republik anerkannten Grundsätze“ („Principes fondamentaux reconnus par les lois de la République“). Diese Gesetze wurden nicht in der Präambel einzeln genannt, aber es war deutlich, dass es sich u. a. um das Gesetz von 1881 über die Pressefreiheit oder von 1901 über die Vereinigungsfreiheit handelte. Die Grundrechte sind also im französischen Recht nicht nur unbestimmte Grundsätze, sondern auch meistens nicht spezifisch geschrieben. Deswegen hat sich unter der Fünften Republik in Frankreich das Verfassungsrecht der Grundrechte vor allem durch die Rechtsprechung entwickelt. Auch hat die EMRK einen viel größeren Einfluss auf die Entscheidungen der Gerichte Frankreichs als auf jene Deutschlands, Italiens und Spaniens gehabt, denn sie diente zum Teil als Ersatz für einen förmlichen Grundrechtskatalog.

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Zweitens hat die Verfassung von 1958 als Reaktion auf die Regierungsinstabilität eine Reihe von besonderen Regeln zum Schutz der Exekutive eingeführt, die den französischen Parlamentarismus von jenem der drei anderen hier genannten Länder unterscheidet. Drittens gibt es in Frankreich zwar unterstaatliche Gebietskörperschaften auf Regionalebene, aber diese haben – anders als in Deutschland, Italien und Spanien – keine Gesetzgebungskompetenz. Viertens wurde mit der neuen Verfassung der Grundsatz des Vorrangs internationaler Verträge gegenüber Gesetzen verankert und mit einem Verfahren einer gerichtlichen Kontrolle der Vereinbarkeit künftiger Verträge mit der Verfassung ausgestattet. Während die Verfassung der Vierten Republik zum Teil eine Reaktion auf die Diktatur des Nationalstaats Marschall Petains 1940–1944 war, wie dies auch die Verfassungen Deutschlands, Italiens und Spaniens eine solche Reaktion waren, war die Verfassung der Fünften Republik in einem ganz anderen Kontext verankert, nämlich dem eines unstabilen Parlamentarismus, der zwar den Herausforderungen der Entkolonialisierung des Zweiten Kolonialreichs – das Erste war ja das Britische Reich – nicht gewachsen war, aber auch die Rolle Frankreichs in der Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften ermöglicht und unterstützt hatte. Ein Vergleich zwischen diesen vier Verfassungen würde die Fragestellung der Einflüsse, Konvergenzen und Divergenzen der Verfassungsordnungen in eine völlig andere Richtung als die Beiträge dieses Bandes lenken, und dieser wäre auch schwieriger zu gliedern. Diese Bemerkungen sind nicht als Kritik an dem Fehlen Frankreichs als Gegenstand der Tagung zu lesen, sondern als eine Einladung an den Leser, sich vor zu allgemeinen Schlussfolgerungen zu hüten. Zwar sind Deutschland, Italien und Spanien sicher besonders gültige Vorbilder des modernen Verfassungsstaats in Europa, aber andere europäische Erfahrungen sind sicher auch bemerkenswert. Dies gilt besonders für das Verfassungsrecht des Vereinigten Königreichs, das sich in den zwei letzten Jahrzehnten völlig verändert hat, vor allem durch ordentliche Gesetze wie den European Communities Act von 1972, die verschiedenen Gesetze zur Dezentralisierung zu Gunsten Schottlands, Wales und Nord-Irlands von 1998 bis 2006, den Human Rights Act von 1998, den ­Constitutional Reform Act von 2005, die Umwandlung der richterlichen Funktion des House of Lords in den Supreme Court of the United Kingdom und den Fixed Term Act von 2011, der das Verfahren zur Auflösung des Unterhauses radikal verändert hat, und nicht zuletzt die grundlegenden Entscheidungen des Supreme Court, die 2017 und 2019 im Rahmen der Brexit-Debatte gefällt wurden. Von der Gliederung der Berliner Tagung vom April 2019 etwas abweichend, enthält das folgende Resümee Betrachtungen, die in drei Hauptthemen gegliedert werden, nämlich Grundrechte, Eingliederung im Mehrebenensystem und Verwaltungsverfassungsrecht. Die Entwicklung des Verfassungsstaats in den letzten sieben Jahrzehnten in Deutschland und Italien und in vier Jahrzehnten in Spanien ist sicherlich in erster Hinsicht durch die Bedeutung der Grundrechte gekennzeichnet, deren Stärkung

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und Festigung ein unverzichtbarer Teil des modernen Rechtsstaates in den drei hier besprochenen Ländern ist. Auf den ersten Blick treten die Gemeinsamkeiten nach Inhalt und Vorrang der Grundrechte sowie der Kontrolltechniken hervor. Es handelt sich dabei nicht bloß um deren Festigung in einer „gefestigten Demokratie“ (wie von Azpitarte zutreffend gekennzeichnet), sondern auch um die Konsolidierung und Weiterentwicklung der Grundrechte in einer sozialen Marktwirtschaft, wobei sich die Begriffe „sozial“ und „Markt“wirtschaft bis zur Wirtschaftskrise 2008 in ziemlich vergleichbarer Weise entwickelten, allerdings nicht in derselben Zeit in Spanien. Seit 2010 stehen sie aber in Italien und Spanien in einem Spannungsverhältnis, das für Deutschland viel weniger relevant ist. Es ist wohl besonders wichtig, das Überwiegen der Gemeinsamkeiten niemals aus dem Auge zu verlieren, die sich aus den Beiträgen von Miguel Azpitarte, Daria de Pretis, María Jesús Montoro, Karl-Peter Sommermann und dem Kommentar Daniela Polis zum Thema „Entwicklungen der Grundrechte“ ergeben. Dies gilt eigentlich auch für die Beiträge von Mercè Darnaculleta, Jörg Luther und Susana de la Sierra zum Thema „Aktuelle Grundrechtsfragen in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung“ sowie von Francisco Balaguer und Diana-Urania Galetta und den Kommentar von Rosario Leñero zum Thema „Einwirkungen des Unionsrechts und der EMRK auf die nationalen Verfassungen“. Wie man jedoch aus einem Vergleich dieser Beiträge erkennen kann und während der Tagung besonders in den mündlichen Beiträgen sowie in der Diskussion betont wurde, gibt es auch deutliche Unterschiede zwischen den drei Ländern in der Bedeutung des Verhältnisses der einzelnen Grundrechte zueinander in Rechtsprechung, Lehre und öffentlicher Diskussion. Bemerkenswert sind unter anderem der Unterschied in der Gewichtung und die Schwerpunkte der Diskussion betreffend die Grundrechte der Migranten, die anscheinend weniger von unterschied­ lichen politisch-sozialen Hintergründen als von unterschiedlichen prozeduralen und dogmatischen Fragestellungen beeinflusst werden. Zum Beispiel ist die Tatsache sicher wichtig, dass es in der italienischen Verfassungsordnung keine direkte Verfassungsklage zum Verfassungsgericht gibt, anders als in Deutschland und vor allem in Spanien, was Unterschiede in der Rechtsstellung der Beschwerdeführer zwischen diesen Ländern erklärt. Bemerkenswert ist natürlich auch der Unterschied bei denjenigen Grundrechten, die vor den drei Verfassungsgerichtsbarkeiten im Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Finanzkrise Europas geltend gemacht werden: wo in Deutschland vor allem der Schutz des Eigentums in den Fokus rückt, stehen in Italien und Spanien soziale Rechte und der Vertrauensschutz im Vordergrund. Besonders bemerkenswert ist auch die deutsche Rechtsprechung zur Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen (Michael Eichberger, Peter M. Huber). Die Eingliederung der drei Länder im Mehrebenensystem zeigt ganz allgemein seit nun vier Jahrzehnten Konvergenztendenzen sowohl was die Mitgliedschaft im Europäischen Staatenverbund als auch das interne Mehrebenensystem betrifft.

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Dabei sind aber doch wichtige Nuancen zu beachten. Wo das italienische Verfassungsgericht wie das Bundesverfassungsgericht der Versuchung erlag, einen herausfordernden Ton zu wählen, mit dem Drohen des Einsatzes der „­Controlimiti“ (Integrationsschranken) bzw. der „Solange“-Theorie, ist das spanische Verfassungsgericht gegenüber den Luxemburger Richtern diplomatischer geblieben. Es bleibt die Tatsache, dass alle drei Verfassungsgerichte eine bis zu einem gewissen Grade ähnliche Dogmatik entwickelt haben, die sich auf den Grundsatz der Europafreundlichkeit stützt, aber vor allem die Fragestellung der möglichen Kollisionen zwischen EU- und nationalem Recht der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu überlassen. Was das interne Mehrebenensystem betrifft – mit den Schlagworten Föderalismus, Autonomiestatus und Regionalismus umschrieben – kennen alle drei Rechtsordnungen vergleichbare, wenn auch chronologisch nicht übereinstimmende, Pendelbewegungen zwischen zentripetalen und zentrifugalen Tendenzen, die zum großen Teil mit der Wirtschaftsentwicklung zu tun haben. Ein Sonderfall bleibt natürlich Spanien, dessen katalanischer Nationalismus weder in Deutschland noch in Italien ein richtiges Gegenstück hat. Daher haben sich weder das Bundesverfassungsgericht noch die Corte Costituzionale mit den politisch höchst sensiblen, dem Tribunal Constitucional gestellten Fragen beschäftigt, die den Hintergrund der Beiträge von Birgit Aschmann, María Jesús García Morales und Carlos Vidal bilden. Auf einer mehr technischen Ebene ist auf die komplizierten, aber höchst interessanten italienischen Bemühungen hinzuweisen, einen Finanzausgleich durch Mindeststandards in den öffentlichen Diensten zu entwickeln, die von Lorenza Violini untersucht werden. Das Thema „Verfassung und Verwaltung“ wurde auch während der Tagung für Spanien von Javier Barnes und für Italien von Cristina Fraenkel-Häberle in ausführlicher Weise behandelt. Zu betonen ist dabei, dass die Spanische Verfassung von 1978 zu den wenigen Texten gehört, die sich besonders mit der Verwaltung befassen, was sicher damit zu tun hat, dass sie jünger als die italienische und die deutsche ist. Die von Javier Barnes untersuchte Wechselbezüglichkeit von Verfassungs- und Verwaltungsrecht ist dabei besonders interessant und kann meines Erachtens auch auf die zwei anderen Rechtsordnungen sowie auf die französische Rechtsordnung erstreckt werden. Die Verfassungsrechtsvergleichung in Europa und weltweit kann sich leider nicht düsterer Ausblicke enthalten, die sich aus der politischen Entwicklung am Ende des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrtausends ergeben, vor allem (aber nicht nur) in Polen, Ungarn, Brasilien oder den Vereinigten Staaten. Als Schwerpunkt sollten deshalb in der Rechtsvergleichung die Dogmatik sowie der verfahrens- und materiellrechtliche Gehalt der „Streitbaren Demokratie“ wieder zum Tragen kommen, auf die in diesem Bande eigentlich mehr in historischer als in zeitgenössischer Weise hingewiesen wird.

Teilnehmerverzeichnis zum Tagungsband Prof. Dr. Birgit Aschmann, Humboldt Universität zu Berlin Prof. Dr. Miguel Azpitarte, Universidad de Granada Prof. Dr. Francisco Balaguer Callejón, Universidad de Granada Prof. Dr. Javier Barnes, Universidad de Huelva Prof. Dr. Raffaele Bifulco, Unversità di Roma LUISS – „Guido Carli“ Prof. Dr. Hermann-Josef Blanke, Universität Erfurt Prof. Dr. Monica Bonini, Università degli Studi di Milano-Bicocca Prof. Dr. M. Mercè Darnaculleta Gardella, Universitat de Girona Prof. Dr. Michael Eichberger, Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D. Prof. Dr. Angela Ferrari Zumbini, Università Federico II, Napoli Prof. Dr. Cristina Fraenkel-Haeberle, Deutsches Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung / Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Diana-Urania Galetta, Università degli Studi di Milano La Statale Prof. Dr. María Jesús García Morales, Universitat Autònoma de Barcelona Prof. Dr. Santiago Gonzáles-Varas Ibáñez, Universidad de Alicante Dr. Stephan Holthoff-Pförtner, Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Internationales des Landes Nordrhein-Westfalen Prof. Dr. Peter Michael Huber, Richter des Bundesverfassungsgerichts, LudwigMaximilians-Universität München Prof. Dr. Günter Krings, LL. M., Parlamentarischer Staatssekretär, Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat Prof. Dr. Norbert Lammert, Bundestagspräsident a. D., Vorsitzender der Konrad-Adenauer-​ Stiftung Dr. Rosario Leñero Bohórquez, Universidad de Huelva Prof. Dr. Jörg Luther †, Università del Piemonte Orientale, Alessandria Prof. Dr. Siegfried Magiera, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. María Jesús Montoro Chiner, Universitat de Barcelona Prof. Dr. Johann-Christian Pielow, Ruhr-Universität Bochum Prof. Dr. Stefan U. Pieper, Ministerialrat, Bundespräsidialamt, Berlin

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Teilnehmerverzeichnis zum Tagungsband

Dr. Maria Daniela Poli, Arendt & Medernach, Luxemburg Prof. Dr. José María Porras Ramírez, Universidad de Granada Prof. Dr. Daria de Pretis, Richterin des Italienischen Verfassungsgerichts, Università di Trento Prof. Dr. Giorgio Repetto, Università di Perugia Prof. em. Dr. Dian Schefold, Universität Bremen Prof. Dr. Susana de la Sierra, Universidad de Castilla-La Mancha Prof. Dr. Dr. h. c. Karl-Peter Sommermann, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Roland Sturm, Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Carlos Vidal Prado, Universidad Nacional de Educación a Distancia, Madrid Prof. Lorenza Violini, Università degli Studi di Milano La Statale Prof. em. Dr. Albrecht Weber, Universität Osnabrück Prof. Dr. Jacques Ziller, Università di Pavia, Präsident der Societas Iuris Publici Europaei – SIPE