Liberalismus im 19. Jahrhundert: Deutschland im europäischen Vergleich 9783666357411, 9783647357416, 3525357419, 9783525357415

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Liberalismus im 19. Jahrhundert: Deutschland im europäischen Vergleich
 9783666357411, 9783647357416, 3525357419, 9783525357415

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Ulrich Wehler

Band 79 Dieter Langewiesche (Hg.) Liberalismus im 19. Jahrhundert

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Liberalismus im 19. Jahrhundert Deutschland im europäischen Vergleich

Dreißig Beiträge Mit einem Vorwort von Jürgen Kocka Herausgegeben von

Dieter Langewiesche

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

CIP-Kurztitelaufnahmeder D eutschen Bibliothek Liberalismus im 19. [neunzehnten] Jahrhundert:

Deutschland im europ. Vergleich; 30 Beitr. / mit e. Vorw. von Jürgen Kocka. Hrsg. von Dieter Lange wiesche. Göttingen : Vandenhoeck u. Ruprecht, 1988 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 79) ISBN 3-525-35741-9 NE: Langewiesche, D ieter, [Hrsg.]; GT

Gedruckt mit Unterstützung der Universität Bielefeld © 1988 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. D as Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts­ gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. D ies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesetzt aus Bembo auf Linotron 202 System 4 (Linotype). Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Inhalt Vorwort von JÜRGEN KOCKA

9

DIETER LANGEWIESCHE

Deutscher Liberalismus im europäischen Vergleich. Konzeption und Ergebnisse

11

I. Liberalismus im innerdeutschen und deutsch-österreichischen Vergleich LOTHAR GALL

Einführung

23

JAMES J . SHEEHAN

Wie bürgerlich war der deutsche Liberalismus?

28

BARBARA VOGEL

Beamtenliberalismus in der Napolconischen Ära

45

KLAUS KOCH

Frühliberalismus in Österreich bis zum Vorabend der Revolution 1848

64

HERBERT OBENAUS

Region und politisches Interesse im Vormärzliberalismus Preußens . .

71

WOLFGANG KASCHUBA

Zwischen Deutscher Nation und Deutscher Provinz. Politische Horizonte und soziale Milieus im frühen Liberalismus . . . .

83

5 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

TONI OFFERMANN

Preußischer Liberalismus zwischen Revolution und Reichsgründung im regionalen Vergleich. Berliner und Kölner Fortschrittsliberalismus in der Konfliktszeit

109

HARM-HINRICH BRAND T

Liberalismus in Österreich zwischen Revolution und Großer Depression

136

LOTHAR HÖBELT

Die Deutschfreiheitlichen Österreichs. Bürgerliche Politik unter den Bedingungen eines katholischen Vielvölkerstaates

161

CHRISTOF DIPPER

Adelsliberalismus in Deutschland

172

GANGOLF HÜBINGER

Hochindustrialisierung und die Kulturwerte des deutschen Liberalismus

193

II. Liberalismus im britisch-deutschen Vergleich WOLFGANG J . MOMMSEN

Einführung: D eutscher und britischer Liberalismus. Versuch einer Bilanz

211

RUDOLF MUHS

Deutscher und britischer Liberalismus im Vergleich. Trägerschichten, Zielvorstellungen und Rahmenbedingungen (ca. 1830-1870)

223

GEOFF ELEY

Liberalismus 1860—1914. Deutschland und Großbritannien im Vergleich

6 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

260

III. Liberalismus in den ›romanischen‹ Ländern: Frankreich, Italien, Belgien und Spanien THOMAS NIPPERD EY

Einführung

279

HEINZ-GERHARD HAUPT

Ein soziales Milieu des nachrevolutionären Liberalismus in der französischen Provinz: Die Landbesitzer

282

AYÇOBERRY Freihandelsbewegungen in Deutschland und Frankreich in den 1840er und 1850er Jahren

296

PIERRE

HEINZ-GERHARD HAUPT/FRIED RICH LENGER

Liberalismus und Handwerk in Frankreich und D eutschland um die Mitte des 19. Jahrhunderts

305

RAINER HUD EMANN

Politische Reform und gesellschaftlicher Status quo. Thesen zum französischen Liberalismus im 19. Jahrhundert

332

GERD KRUMEICH

Der politische Liberalismus im parlamentarischen System Frankreichs vor dem Ersten Weltkrieg

353

MARCO MERIGGI

Der Adelsliberalismus in der Lombardei und in Venetien (1815-1860)

367

HARTMUT ULLRICH

Der italienische Liberalismus von der Nationalstaatsgründung bis zum Ersten Weltkrieg

378

JEAN STENGERS

Der belgische Liberalismus im 19. Jahrhundert

415

7 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

JOAQUIN ABELLÁN

Der Liberalismus in Spanien 1833-1868

440

IV. Südost- und Osteuropa: Ungarn und Rußland DIETRICH GEYER

Einführung

455

ANDRÁS GERGELY

Der ungarische Adel und der Liberalismus im Vormärz

458

ISTVÁN DIÓSZEGI

Die Liberalen am Steuer. Der Ausbau des bürgerlichen Staatssystems in Ungarn im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts

484

DIETRICH BEYRAU

Liberaler Adel und Reformbürokratie im Rußland Alexanders II . . . 499 HEINZ-DIETRICH LÖWE

Bürgertum, liberale Bewegung und gouvernementaler Liberalismus im Zarenreich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert

515

Abkürzungsverzeichnis

534

Tagungsteilnehmer und Autoren

536

8 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Vorwort Vom Oktober 1986 bis zum August 1987 bestand im Zentrum für Interdiszi­ plinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld eine Forschungsgruppe zum Thema »Bürgertum, Bürgerlichkeit und bürgerliche Gesellschaft. D as 19. Jahrhundert im europäischen Vergleich.« Etwa 40 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus verschiedenen D isziplinen und Ländern nahmen daran teil. Zu den Zielen gehörte es (a) das Bürgertum als gesellschaftliche Großgruppe (›Formation‹) des 19. Jahrhunderts näher zu untersuchen, (b) nach der Bedeutung, dem Realisierungsgrad und den Grenzen der Bürger­ lichkeit verschiedener, sozialer, kultureller, ökonomischer und politischer Bereiche (Literatur, Unternehmerverhalten, Liberalismus, Behandlung von Minderheiten etc.) zu fragen sowie (c) die deutsche Entwicklung im interna­ tionalen Vergleich zu erforschen, um herauszufinden, ob es in bezug auf das Bürgertum und die Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts so etwas wie einen deutschen ›Sonderweg‹ gab, inwiefern, warum und inwieweit nicht. D ie Ergebnisse dieser Forschungsgruppe werden gesondert veröffentlicht (J. Kocka, Hrsg., D as Bürgertum im 19. Jahrhundert. D eutschland im euro­ päischen Vergleich, München 1988). Im Rahmen dieses Projektes fanden mehrere Konferenzen statt, an denen auch Wissenschaftler teilnahmen, die nicht zur Forschungsgruppe gehörten. Nach einer Vorbereitungskonferenz, deren Ergebnisse bereits veröffentlicht wurden (J. Kocka, Hrsg., Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987) und einer Auftaktveranstaltung Anfang Oktober 1986 wurden Konferenzen zu folgenden Themen abgehalten: Bürgerliche Gesell­ schaft, Bürgertum und Geschlechterverhältnis im 19. Jahrhundert (Leitung: Ute Frevert); Bürgertum und Liberalismus im 19. Jahrhundert: Deutschland im europäischen Vergleich (Leitung: D ieter Langewiesche); das Bürgertum in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert (Leitung: Wladislaw D lugo­ borski); Professionalisierung und Bürgertum (Leitung: Hannes Siegrist). Nachdem die Ergebnisse der Tagung über Bürgertum und Geschlechter­ verhältnisse bereits in dieser Reihe veröffentlicht worden sind (siehe U. Fre­ vert [Hg.], Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahr­ hundert, Göttingen 1988), enthält der hiermit vorgelegte Band die Beiträge und Ergebnisse der Liberalismus-Konferenz (18.-21. 2. 1987), die D ieter Langewiesche auf Einladung der Forschungsgruppe vorbereitet und durch­ geführt hat. Mitglieder der Forschungsgruppe nahmen - zusammen mit den am Schluß des Bandes aufgeführten Wissenschaftlern - teil, die Ergebnisse der Konferenz fanden in die Arbeit der Forschungsgruppe Eingang. Teilneh9 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

men sollte auch Siegfried Schmidt, Jena, er verstarb vor Beginn der Konfe­ renz. Wie die Forschungsgruppe insgesamt, so wurde auch diese Liberalis­ mus-Konferenz vom Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld ermöglicht und beherbergt. Es unterstützte auch die Drucklegung dieses Bandes. Dafür gebührt ihm Dank. Das Verhältnis von Liberalismus und Bürgertum ist ein zentrales Problem der historischen Bürgertumsforschung. D aß im 19. Jahrhundert hauptsäch­ lich Bürger zur sozialen Basis des Liberalismus gehörten und im Liberalis­ mus bürgerliche Interessen, Erfahrungen und Erwartungen klassisch zum Ausdruck kamen, ist eine weithin akzeptierte Einsicht. Sie wird in den folgenden Beiträgen nicht wirklich in Frage gestellt, wenngleich sehr deut­ lich wird, wie sehr liberale Politik auch in anderen sozialen Kategorien etwa in Teilen des Adels - Unterstützung finden konnte und wie sehr die sozialen Stützpunkte der Liberalen von Land zu Land, oftmals von Region zu Region variierten. Überdies ist klar, daß bei weitem nicht alle Bürger liberal optierten, je später desto weniger. Zwar wird man weiterhin, vor allem für die ersten drei Viertel des 19. Jahrhunderts, von einer gewissen Affinität zwischen »bürgerlich« und »liberal« ausgehen dürfen, von einer stabilen Korrespondenz zwischen den von ihnen bezeichneten Phänomenen aber nicht. Die Beiträge dieses Bandes lassen den Liberalismus des 19. Jahrhunderts als in sich ungemein vielfältiges gesamteuropäisches Phänomen erkennen. Die politischen Zielsetzungen, die Gesellschaftsbilder, die Organisations­ formen der Liberalen variierten von Land zu Land und veränderten sich mit der Zeit; und das gilt auch für das wichtige Verhältnis von Liberalismus und Demokratie. Vor allem diese Themen werden im folgenden ausführlich vergleichend behandelt. D ie deutsche Entwicklung steht dabei im Zentrum, jedoch in strikt komparativer Perspektive. Zum einen geht es um den innerdeutschen Vergleich, die regionale Vielfalt der deutschen Verhältnisse (einschließlich D eutsch-Österreichs). Zum andern wird international ver­ glichen: nicht nur mit England, Frankreich und Belgien, sondern auch mit Italien, Ungarn und Rußland. D er häufigere Blick nach Westen wird damit durch den nach Süden und Osten ergänzt. D araus ergeben sich neue Er­ kenntnisse in das, was an der deutschen Entwicklung allgemein-europäisch, und in das, was an ihr spezifisch war. Jürgen Kocka

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DIETER LANGEWIESCHE

Deutscher Liberalismus im europäischen Vergleich: Konzeption und Ergebnisse1 Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert des Liberalismus. Mit dessen Wir­ kungsmächtigkeit konnte keine andere politische Ideologie, keine andere politische Bewegung konkurrieren. Liberale Ideen begleiteten und formten den Weg der europäischen Gesellschaften in die »Moderne«, aber nur selten konnten die Liberalen diesen Weg von den Schalthebeln der staatlichen Herrschaft aus steuern. D ie Allgegenwart des Liberalismus führte also die Liberalen keineswegs zwangsläufig in die Zentren der politischen Macht. Warum das so war, und warum die Entwicklung in den einzelnen Staaten so überaus unterschiedlich verlief, gehört zu den Kernproblemen, mit denen sich jeder Versuch, die europäische Geschichte vergleichend zu erforschen, auseinandersetzen muß. Nur der Vergleich läßt nationale Besonderheiten erkennen. D as ist in der Debatte über den »deutschen Sonderweg« oft verkannt worden, denn sie lebte mehr von behaupteten als von durchgeführten Vergleichen. Wer in der deutschen Geschichte einen Sonderweg auf »1933« hin angelegt sieht, in den von Deutschland erzwungenen Rückfall hinter all das, was in der Geschichte der Zivilisation erreicht und gesichert zu sein schien - wer so argumentiert, muß wissen, warum dem deutschen Bürgertum der Griff nach der Macht bis zum Ersten Weltkrieg nicht gelungen ist. Waren es doch bürgerliche Sozial­ kreise, welche die neuen politischen und gesellschaftlichen Leitbilder des 19. Jahrhunderts prägten, den ökonomischen Wandel zum modernen Indu­ striestaat vorantrieben und die kulturellen Normen schufen, die sich überall durchsetzten. Warum entstand in Deutschland im vergangenen Jahrhundert eine »bür­ gerliche Gesellschaft« ohne politische Herrschaft des Bürgertums? D ies zu fragen heißt, nach der Machtschwäche des Liberalismus zu fragen - ein Kernproblem der jüngeren deutschen Geschichte, zu dessen Erhellung die­ ser Band beitragen will, indem die deutsche Entwicklung in zweifacher Weise in eine Vergleichsperspektive gerückt wird: innerdeutsch und europä­ isch. Einen einheitlichen deutschen Liberalismus hat es nie gegeben. Neben der Spaltung in unterschiedliche politische Richtungen müssen deshalb die star­ ken regionalen D ifferenzierungen beachtet werden. D ieser Aufgabe wid11 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

men sich die Beiträge im Teil I, der auch drei Beiträge zur österreichischen Entwicklung umfaßt, die in den meisten Studien zum Liberalismus in Deutschland ausgeklammert wird. D arin mag sich die fortdauernde Wir­ kungsmacht des kleindeutsch-preußischen Nationalstaats ausdrücken, der über seinen Untergang hinaus das Geschichtsbild formt. D ie Geschichte des österreichischen Liberalismus verdeutlicht jedoch auch, in welch starkem Maße der Ausschluß Österreichs aus Deutschland 1866—71 sich zuvor be­ reits angebahnt hatte: Die österreichischen Liberalen hatten von Beginn an wenig Kontakte mit denen in den anderen Staaten des Deutschen Bundes ein Symptom für die frühzeitige Isolierung Österreichs von den politisch­ gesellschaftlichen Bewegungen und Ideen, die den bürgerlich geprägten deutschen Nationalstaat forderten und vorbereiteten. Die Beiträge in den Teilen II und III ergänzen den innerdeutschen Ver­ gleich um den europäischen. Gleichwohl bilden die Darstellungen zu Groß­ britannien, Frankreich, Italien, Belgien, Spanien, Ungarn und Rußland nicht bloße Folien, vor denen sich der deutsche Liberalismus abheben soll. Die nationalen Entwicklungen werden vielmehr in ihren jeweiligen Eigen­ heiten gewürdigt. Nur so lassen sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten erkennen. Voraussetzung ist jedoch, daß auch jene Beiträge, die nicht bereits selber den Vergleich durchführten, von gemeinsamen Fragestellungen aus­ gehen. D eshalb wurden die Autoren gebeten, soweit es das Thema, der Forschungsstand und die Quellenlage zulassen, folgende fünf Aspekte ein­ zubezichen: 1. Liberale Konzeptionen für die politische Herrschaftsordnung. Gefragt wird nach dem Ausmaß an Parlamentarisierung, das die Liberalen anstreb­ ten und erreichten, nach ihren Einstellungen zu den konfliktreichen Prozes­ sen der inneren Staatsbildung: Spannungen zwischen Zentralstaat und Föde­ ralismus oder Regionalismus, zwischen Nationsbildung und Nationalitä­ ten, und anderes mehr. 2. Liberale Gesellschaftsbilder: Mit welcher Intensität durchdrangen sie das soziale und ökonomische Leben? Gefragt wird nach den sozioökono­ mischen Gestaltungsvorstellungen von Liberalen und ihren Erfolgen und Mißerfolgen, nicht nach einem genaueren Vergleich der Sozial- und Wirt­ schaftsstruktur der einzelnen Staaten. Das wäre ein anderes Thema. 3. Kooperation und Abgrenzung in Politik und Gesellschaft.-Liberale Weltbilder imprägnierten zwar die Zukunftserwartungen des 19. Jahrhun­ derts, doch sie stießen stets auch auf Widerspruch und auf konkurrierende Modelle. Weit mehr noch gilt das für den Liberalismus als politische Bewe­ gung und Partei, der immer auf Bündnispartner angewiesen war, um sich behaupten und politisch wirken zu können. Zu fragen ist also nach dem Verhältnis von Liberalen zu Demokraten und Republikanern, zu Arbeitern und Arbeiterbewegungen, zu den Kirchen und anderen weltanschaulichen Organisationen, zum Adel und zu den staatlichen Funktionseliten, Bürokra­ tie und Militär. 12 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

4. Organisationsgrad und soziale Rekrutierungsfelder des Liberalismus. Das 19. Jahrhundert war ein vereinsseliges Säkulum. Wer etwas bewirken und sich in der Öffentlichkeit Gehör verschaffen wollte, mußte sich organi­ sieren. Der fortschreitende Prozeß der Organisierung und Bürokratisierung durchdrang alle Lebensbereiche, politische ebenso wie ökonomische, soziale und kulturelle. Wie reagierten die Liberalen, die angetreten waren, das Ideal des selbstverantwortlichen Individuums zu verwirklichen, auf diese Ent­ wicklungen, die den Einzelnen wieder in kollektive Bindungen einfügten? Das Problem, Interessen organisieren zu müssen, um sie durchsetzen zu können, wurde für die Liberalen noch brisanter, als im 19. Jahrhundert eine vielfältig geschichtete Klassengesellschaft entstand. Sie konfrontierte die Liberalen vor allem nach der Jahrhundertmitte mit den Ansprüchen neuer Sozialschichten, die nicht zum herkömmlichen Rekrutierungsreservoir des Liberalismus zählten. D iese Schichten an sich zu binden, wurde zur Lebens­ frage des Liberalismus. Wie stellte er sich ihr? 5. D as Verhältnis von Liberalismus und Bürgerlichkeit. Wenn liberale Ideen auch dort Gesellschaft und Politik mitgestalteten, wo dem Liberalis­ mus der Griff nach der Macht mißlang, liegt es nahe, von einer engen Verbindung zwischen liberalen Weltbildern und bürgerlichen Verhaltens­ normen auszugehen. Liberalismus und »bürgerliche Gesellschaft« scheinen eine Symbiose gebildet zu haben. Empirisch erhärtet wurde diese geläufige Vermutung bislang jedoch nicht. Zu fragen ist deshalb: In welchem Maße wurde Bürgerlichkeit als eine besondere Form der Lebensführung durch liberale Normen bestimmt? Und in welcher Weise hat der bürgerliche Tugendkatalog, den das 19. Jahrhundert ererbt hatte und zum Allgemeingut werden ließ, die Gesellschaft für liberale Ideen aufgeschlossen? Die Antworten, die in den Beiträgen auf diese Fragen gegeben werden, können hier nicht vorgestellt werden. Einige zentrale Ergebnisse und offene Forschungsprobleme seien jedoch aus der Sicht des Herausgebers kurz umrissen: 1. Liberale wollten die Welt verändern. D eshalb empfiehlt es sich, sie an ihren Taten zu messen. Da sie es mit höchst unterschiedlichen Handlungsbe­ dingungen zu tun hatten, auf die sie sich jeweils flexibel einstellten, um wirken zu können, entzieht sich der Liberalismus der Tat einer allgemein­ gültigen, überzeitlichen D efinition. D as erschwert generell den Vergleich. Um dabei nicht in Beliebigkeit und Willkür zu verfallen, müssen konkrete Untersuchungsfelder zeitlich und thematisch abgesteckt werden. D enn eine so veränderungsreiche Erscheinung wie der Liberalismus darf nicht auf einige »ewige« Grundprinzipien reduziert werden. Es gilt vielmehr zu erfas­ sen, welche Funktionen diese Prinzipien unter den verschiedenartigen Handlungsbedingungen erfüllten, wie sie sich unter dem Druck des politi13 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

schen und gesellschaftlichen Wandels veränderten, und welche Versuche unternommen wurden, sie zu verwirklichen. D iese Notwendigkeit, den Liberalismus als handlungsfähige Größe zu untersuchen, zwingt Studien über den europäischen Liberalismus zu einer weiten Vergleichsperspektive, die schwer zu konkretisieren ist, muß sie doch Gesellschaft und Staat glei­ chermaßen umfassen, um die Wirkungsmöglichkeiten des Liberalismus erhellen zu können. Dieses anspruchsvolle Programm läßt sich am ehesten einlösen, wenn Umbruchsphasen, in denen über die Handlungschancen von Liberalen neu entschieden wurde, in den Mittelpunkt gerückt werden. Als eine solche Phase - neben anderen, die von den Autoren ebenfalls behandelt werden weisen die Beiträge dieses Bandes die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts aus. Bis dahin unterschieden sich die Handlungsbedingungen der europäi­ schen Liberalen grundlegend, je nachdem ob sie in bereits gefestigten Natio­ nalstaaten lebten oder Nationen angehörten, welche die Staatsgründung noch nicht erreicht hatten. Als dann jedoch bis 1870/71 auch in Deutschland und Italien Nationalstaaten entstanden und die Autonomie des ungarischen Königreichs innerhalb der Habsburgermonarchie (1867) gesichert wurde, näherten sich die politischen Bedingungen, unter denen Liberale (und auch andere politische Richtungen) in West-, Süd- und Mitteleuropa wirkten, stärker einander an, als dies zuvor der Fall gewesen war. Bei allen großen Unterschieden, die fortbestanden, rückten nun überall nationale Parlamente mit weitgehenden Kompetenzen in den Brennpunkt der Politik. Und Politik bedeutete jetzt anderes als zuvor. Urbanisierung und Industrialisierung, verbunden mit steigenden Lebensansprüchen einer stark anschwellenden Bevölkerung, stellten die Politik vor neue Aufgaben der D aseinsvorsorge; der neuartige »politische Massenmarkt« (H. Rosenberg), der entstand, trieb die durchgreifende Organisierung der Gesellschaft voran. D ie Zeit der Honoratiorenpolitik lief aus, Parteien und Interessenverbände traten an ihre Stelle. Den Liberalen bereitete es überall große Schwierigkeiten, sich auf diese Formveränderungen der Politik einzustellen. Gleichwohl wird man trotz dieser europäischen Gemeinsamkeiten von einer deutschen Sonderentwick­ lung sprechen können, die mit Blick auf die politischen Handlungsbedin­ gungen des Liberalismus in der Reichsgründungsära einsetzte: Nur die deutschen Liberalen wurden auf nationaler Ebene mit der vollen Demokrati­ sierung des (Männer-) Wahlrechts bei gleichzeitig vorenthaltener Parlamen­ tarisierung konfrontiert. D iese Verbindung gab es in keinem der europäi­ schen Vergleichsstaaten. Entweder blieb das Wahlrecht eingeschränkt oder­ im Falle Frankreichs - das demokratische Wahlrecht wurde ergänzt durch die Parlamentarisierung der Herrschaftsordnung. Im Deutschen Reich trat bei­ des auseinander, was die politischen Gestaltungschancen der Liberalen aus verständlichen Gründen nachhaltig schwächte. D ie europäischen Liberalen hatten stets das demokratische Wahlrecht abgelehnt. Politischer Vollbürger 14 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

sollte nur sein, wer die liberalen Kriterien des Staatsbürgers erfüllte: ein gewisses Maß an Bildung und wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Auf den geistig und materiell unabhängigen Bürger waren die liberalen Leitbilder zugeschnitten, politisch, sozial, wirtschaftlich und auch kulturell. Wo dieser sozial begrenzte liberale Typus des Staatsbürgers über das eingeschränkte Wahlrecht die Parlamentspolitik bestimmte, konnten die liberalen Parteien sich länger gegen ihre Konkurrenten von links und rechts behaupten. Am wenigsten gelang dies dort, wo die Liberalen früh auf den »politischen Massenmarkt« angewiesen waren, ohne ihn aus der Regierung heraus beein­ flussen zu können. Abgeschnitten von der Regierungsverantwortung und in den Wahlen angewiesen auf die Zustimmung von Bevölkerungskreisen, denen das liberale Bürgerideal unerreichbar schien - diese Mischung aus blockierter Parlamentarisierung und gesellschaftlicher Fundamentalpoliti­ sierung gab es nur im deutschen Kaiserreich. Sie begrenzte offensichtlich die Durchsetzungschancen der Liberalen wirksam. Weitere Probleme kommen hinzu, die den deutschen Liberalismus seit der Reichsgründungsära deutlich vom Liberalismus der europäischen Ver­ gleichsstaaten abheben: 2. Bis zur Gründung des Nationalstaats bildeten die deutschen Liberalen keine Parteien neben anderen Parteien. Sie standen vielmehr an der Spitze einer breiten nationalen Bewegung, die durchtränkt war von liberalen Ide­ en, aber sozial und politisch weit über den Liberalismus hinausreichte. Vergleichbare Verhältnisse gab es in Ungarn, mit Abstrichen auch in Italien - aber nur solange, wie die Gründung des Nationalstaates (Italien) bzw. die Sicherung seiner Autonomie (Ungarn) noch nicht verwirklicht waren. Als dieses zentrale Ziel erreicht wurde, liefen die Entwicklungspfade auseinan­ der. In Ungarn und in Italien gelang es den Liberalen, das parlamentarische Regierungssystem nach westeuropäischem Vorbild durchzusetzen. In Deutschland hingegen scheiterte der Liberalismus in der sog. »zweiten« oder »inneren« Reichsgründung um 1878 bei seinem Versuch, die 1867 (Norddeutscher Bund) und erneut 1871 mißlungene Parlamentarisierung des Nationalstaats nachzuholen. D er Grund für diesen Mißerfolg ist aber nicht in einem Machtverzicht des deutschen liberalen Bürgertums zu sehen, wie so oft behauptet wurde. Im europäischen Vergleich treten andere Grün­ de für die deutsche Sonderentwicklung hervor. Ein zentraler Grund ist darin zu sehen, daß der kleindeutsche National­ staat so überraschend schnell von der deutschen Gesellschaft akzeptiert worden ist - und zwar auch von denen, die ihn zunächst abgelehnt hatten: die Konservativen, der großdeutsche Katholizismus und auch die Sozia­ listen. Sie wollten den Nationalstaat verändern, aber seine Existenz begrüß­ ten sie oder fanden sich mit ihr ab. D iese schnelle Billigung des deutschen Nationalstaats auch durch die ursprünglichen Gegner der Reichsgründung schwächte den Liberalismus, die eigentliche Reichsgründungspartei. D as 15 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

mag paradox klingen, verdeutlicht sich aber im Vergleich mit den beiden anderen Nationen, die in den 1860er Jahren ihre Staatlichkeit erreichten bzw. sicherten. In Ungarn wurde die Politik beherrscht durch die permanente Aufgabe, die nationale Autonomie gegen Österreich zu behaupten; in Italien entstand eine katholische Opposition, die den Nationalstaat grundsätzlich in Frage stellte. D ie nationalpolitischen Konflikte der nationalstaatlichen Gründungsära wurden also verstetigt. D as festigte die politische Position der Liberalen als Anwälte der nationalen Existenzsicherung. Im Deutschen Reich konnten die Liberalen eine solche Position nicht behaupten, da die preußischen Konservativen sich ab Mitte der 1870er Jahre mit dem Natio­ nalstaat abfanden und wenige Jahre später der Abbau des Kulturkampfes einsetzte. Indem die Konkurrenten um die bürgerlichen Wahlstimmen sich mit dem Nationalstaat arrangierten, stießen sie die deutschen Liberalen aus ihrer Ausnahmeposition, in die sie während der Reichsgründungsära hinein­ gewachsen waren. Auch die Gegnerschaft zur Sozialdemokratie, die zu »Reichsfeinden« stigmatisiert wurden, stärkte nicht die politische Position der Liberalen. D enn wer glaubte, das Reich nach links verteidigen zu müs­ sen, fand in den Konservativen Bündnispartner, die weit weniger als die Liberalen ihren Kampfwillen rechtsstaatlich zügelten. 3. In Deutschland war der Streit um den »richtigen« Weg zum Nationalstaat verbunden mit der konfessionellen Trennlinie zwischen Protestanten und Katholiken. D ie Ablehnung eines kirchlichen Weltdeutungsmonopols ge­ hörte zwar überall zum Glaubenskern des Liberalismus, doch in D eutsch­ land wirkte sich dieser Konflikt politisch anders aus als in den europäischen Vergleichsstaaten. In den katholischen Staaten Belgien, Frankreich und Ita­ lien stabilisierte der Laizismus der Liberalen deren politische Position, da hier Opposition zu kirchlichen Ansprüchen nicht mit dem Konflikt zwi­ schen rivalisierenden Kirchen verquickt war. In Deutschland dagegen hieß liberaler Widerspruch zum Katholizismus stets Bekenntnis zum Protestan­ tismus, und die protestantisch-kleindeutsche Reichsgründung wurde von den Liberalen gar zur politischen Vollendung der Reformation stilisiert. Den deutschen Liberalen gelang es zwar nicht, den Katholiken dauerhaft den Stempel der »Reichsfeinde« aufzudrücken, aber der konfessionelle Gegen­ satz war stark genug, um den Liberalen den Zugang zur katholischen Bevölkerung zu verstellen. Ein D rittel aller D eutschen schied also von vornherein als mögliche Wähler und Mitglieder liberaler Parteien aus. Der deutsche Liberalismus wurde mit der Reichsgründung zu einem rein prote­ stantischen Phänomen, aber der Protestantismus wurde nicht liberal. Er war vielmehr zu allen politischen Richtungen offen: Liberale und Konservative konkurrierten gemeinsam um die Stimmen des protestantischen Bürger­ tums; die protestantischen Arbeiter wählten zunehmend die Sozialdemokra­ tie, gegen die sich die Liberalen unter den Bedingungen des demokratischen Wahlrechts in der Konkurrenz um die Stimmen der Arbeiter nicht behaup­

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ten konnten. In Großbritannien dagegen besaßen die Liberalen einen festen Rückhalt in den nonkonformistischen Kirchen und auch bei den Katholiken, während die Konservativen im Anglikanismus ihre konfessionelle Haupt­ stütze fanden. Und das begrenzte Wahlrecht trug dazu bei, die Gründung einer eigenständigen Arbeiterpartei zu verzögern. All dies schuf dem briti­ schen Liberalismus Handlungsspielräume, die dem deutschen Liberalismus nicht offenstanden. 4. Im ausgehenden 19. Jahrhundert erlebte der Sozialliberalismus eine Re­ naissance. Vergleichende Studien dieser gemeineuropäischen Entwicklung, zu der die Beiträge einige Hinweise bieten, fehlen bislang. Sie wären nötig, um der Frage vertieft nachzugehen, ob es einen »Sonderweg« der deutschen Liberalen gegeben hat. Es scheint, daß der deutsche Sozialliberalismus auf zentralstaatlicher Ebene stärker als in anderen europäischen Staaten mit imperialistischen Zielen verbunden gewesen ist. Einbezogen werden müßte jedoch der kommunale Strang sozialliberaler Politik - ein bislang weitestge­ hend unerforschter Bereich, der auch in den folgenden Beiträgen nicht berücksichtigt wird. Der kommunale Liberalismus sollte künftig vorrangig erforscht werden, weil in den Städten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­ derts der moderne Daseinsvorsorgestaat entstanden ist. Eine vergleichende Analyse wird vermutlich die soziale Innovationskraft des deutschen Libera­ lismus weit stärker betonen als dies bislang üblich ist. Auch die hohe Bedeutung des Wahlrechts für die Wirkungschancen der Liberalen würde erneut bestätigt. D enn die deutschen Liberalen behaupteten sich in den Städten, den Zentren der Industrie und der Industriearbeiter, länger als in den Parlamenten auf Länder- und Reichsebene: Das undemokratische Kom­ munalwahlrecht schuf den Liberalen einen politischen Schutzraum, in dem sie bemerkenswerte soziale Leistungen vollbrachten. 5. D ie Bedeutung, die in diesem Band dem Adel fur die Geschichte des europäischen Liberalismus im 19. Jahrhundert zugemessen wird, mag man­ che Leser überraschen. D amit soll nicht etwa bestritten werden, daß der Liberalismus eine bürgerliche Bewegung gewesen ist. Aber es wird erneut zweierlei deutlich: Erstens, das liberale Ideal des Staatsbürgers zielte auf den Citoyen, nicht auf den Bourgeois. D arauf beruhte die klassen- und schich­ tenübergreifende Attraktivität des Liberalismus, die in dem Maße zurück­ ging, in dem das frühliberale Wunschbild der Mittelstandsgescllschaft ange­ sichts der industriekapitalistischen Klassengesellschaft seine Glaubwürdig­ keit einbüßte. Und zweitens verweist die hohe Bedeutung des Adels für den europäischen Liberalismus auf dessen Fähigkeit, sich flexibel den verschie­ denartigen Handlungsbedingungen in den europäischen Gesellschaften an­ zupassen. Wo der Adel seine politische, soziale und ökonomische Bedeutung behauptet hatte, fand er Zugangschancen zum Liberalismus. Voraussetzung dafür war allerdings eine Innovationsbereitschaft, die sowohl politische wie 17 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

ökonomische Wurzeln haben konnte. D ie Beiträge zu Italien und Ungarn machen dies deutlich. Hier wurde der Adel zu einem Kernelement der nationalen Bewegung, da deren antiösterreichische Ausrichtung den Inter­ essen des Adels entsprach. In Deutschland dagegen lagen die Bedingungen anders. Hier fehlte dieser gemeinsame äußere Gegner, so daß die inneren Konfliktlinien zwischen Adel und Bürgertum in den Vordergrund traten. Das gilt zumindest für die erste Jahrhunderthälfte. Danach wurde die Mög­ lichkeit zur politischen Zusammenarbeit von Bürgertum und Adel aufgrund der steckengebliebenen Parlamentarisierung begrenzt. D enn die Parlamen­ te, der zentrale politische Wirkungsort der Liberalen, besaßen in D eutsch­ land zu wenig Macht, um sich für die Interessendurchsetzung des Adels anzubieten - ein markanter Unterschied zu Großbritannien. D er deutsche Adel suchte Hilfe bei den Monarchen, nicht beim Parlament. 6. In der deutschen Geschichte haben die staatlichen Bürokratien in Re­ formphasen eine wichtige, zum Teil sogar eine zentrale Rolle gespielt. D ies scheint sich in dem hohen Anteil der Beamten in den Führungsgremien des deutschen Liberalismus widerzuspiegeln. Staatliche Modernisierung konnte liberale Gestaltungschancen erhöhen oder diese erst schaffen, wie vor allem die Beiträge zu D eutschland, Österreich und Rußland verdeutlichen. Sie zeigen jedoch zugleich, wie wichtig es ist, zwischen Modernisierung und Liberalisierung zu unterscheiden. Beides mußte nicht verknüpft sein. Da der gesellschaftliche Liberalismus die Selbstverantwortung des Einzelnen er­ weitern wollte, ist es fraglich, ob der gouvernmentale Liberalismus über­ haupt zur liberalen Bewegung gezählt werden kann. D iese Frage blieb auch in der D iskussion unter den Tagungsteilnehmern strittig. Zu beantworten ist sie wohl nur, wenn die Liberalität von staatlicher Modernisierungspolitik jeweils im konkreten Fall geprüft wird. 7. Für eine vergleichende Betrachtung von Liberalismus und Bürgerlichkeit fehlen bislang offensichtlich die notwendigen Vorarbeiten. Liberalismus wurde ganz überwiegend als politisch wirkungsmächtiges Ideenensemble oder als politische Organisation und Bewegung untersucht. Es gibt jedoch kaum Studien, die sich mit der Frage beschäftigen, in welcher Weise der Liberalismus bürgerliche Verhaltensnormen bis in das Alltagsleben hinein geprägt hat und selber durch diese Normen geprägt worden ist. Bedeuteten »bürgerliche Tugenden« für einen liberalen Bürger etwas anderes als für einen konservativen? Auch die These einer Feudalisierung des Bürgertums ließe sich nur angemessen prüfen, wenn wir mehr über bürgerliche Verhal­ tensmuster in den europäischen Staaten wüßten.

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Die Beiträge und die Tagungsdiskussionen sprechen nach Meinung des Herausgebers keineswegs dafür, aus der Perspektive des europäischen Libe­ ralismus die Annahme eines »deutschen Sonderwegs« zu den Akten zu legen. D er Weg des deutschen Liberalismus läßt vielmehr seit der Reichs­ gründungsära bemerkenswerte Besonderheiten erkennen. Und zwar nicht nur im Vergleich mit der westeuropäischen Entwicklung. Auch wenn man, wie es der Konzeption dieses Bandes entspricht, süd- und osteuropäische Staaten einbezieht, um D eutschland nicht im Vorgriff auf die Rolle der »verspäteten Nation« festzulegen, heben sich die Handlungsspielräume der deutschen Liberalen deutlich von denen in anderen europäischen Staaten ab. Dies festzustellen, bedeutet jedoch nicht, den verbreiteten Vorstellungen vom »Sonderweg« des liberalen Bürgertums in Deutschland zuzustimmen­ sofern diese, wie es meist der Fall ist, von einem Machtverzicht des deut­ schen Bürgertums oder, so die D D R-marxistischen Studien, von einem »Verrat« des Bürgertums an seiner historischen Mission ausgehen. D ieser Sicht liegt ein Kontrastbild zugrunde, das sich nicht aufrecht erhalten läßt. Denn es ist eine Illusion zu glauben, man könne einen macht- und klassenbe­ wußten bürgerlichen Liberalismus in Westeuropa abheben von einem schwachen liberalen Bürgertum in D eutschland, das seine Machtträume ohnmächtig, in freiwilliger Resignation oder aus welchen Gründen auch immer, aufgegeben habe. D iese Korrektur einer verbreiteten Fehleinschät­ zung ist ein Ergebnis, zu dem sich die Beiträge des Bandes runden. Ein anderes jedoch heißt: Eine Sonderentwicklung des deutschen Liberalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts läßt sich auch dann erkennen, wenn man auf dieses Kontrastbild verzichtet, das ohnehin mehr aus morali­ schen Wertungen als aus empirischen Vergleichsstudien entstanden ist. Künftig sollten weitere Staaten in den europäischen Vergleich einbezogen werden, vor allem die Niederlande und die Schweiz. Denn in den Niederlan­ den vollzog sich eine »Versäulung« der Politik, die Ähnlichkeiten mit der Bindung deutscher Parteien an »sozialmoralische Milieus« (M. R. Lepsius) aufzuweisen scheint. Und mit der Schweiz würde der Vergleich um einen föderativen Staat mit konfessionell gemischter Gesellschaft erweitert.

Anmerkung 1 Auf Anmerkungen wird verzichtet, da die Beiträge die einschlägige Literatur nennen. Ein umfangreicheres Resümee- mit anderer Fragestellung und weitere Vergleichsstaaten einbezie­ hend - bietet mein Beitrag: Liberalismus und Bürgertum in Europa, in: J . Kocka (Hg.), D as Bürgertum im 19. Jahrhundert. D eutschland im europäischen Vergleich, Band 3, München 1988. In der Wertung des deutschen Liberalismus folge ich meinem Buch: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt 1988 (mit Quellen- und Literaturangaben).

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I. Liberalismus im innerdeutschen und deutsch-österreichischen Vergleich

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LOTHAR GALL

Einführung

Das Generalthema der Tagung wie auch das Thema ihrer ersten Sektion vermeiden die Formulierung »deutscher Liberalismus«. D as mag man dis­ kussionsstrategisch verstehen, als Pointierung der Frage: Welche Gemein­ samkeiten erlauben es, vor 1871 von einem deutschen Liberalismus zu spre­ chen. Es hat aber auch von der Sache her und nicht zuletzt in methodischer Hinsicht seinen guten Grund: Der Begriff »deutscher Liberalismus« läßt, da ihm zunächst keine reale Einheit in den handelnden Personen, in einer gemeinsamen Partei oder »Bewegung«, im Publikum, in der Gesellschaft, auf der staatlichen oder auf der wirtschaftlichen Ebene korrespondiert, gleichsam automatisch die Gemeinsamkeit des Werte- und Überzeugungs­ katalogs ins Zentrum treten - mit der Gefahr, daß diese Gemeinsamkeit dann zwar noch differenziert, aber kaum mehr grundsätzlich in Frage ge­ stellt wird. D enn das Ergebnis wäre dann ja, zugespitzt gesagt, daß es den Gegenstand, über den man handelt, gar nicht gibt. Die übergreifende Frage, die sich aus der Themenstellung - »Liberalismus in Mitteleuropa« ergibt und die sich an die im Folgenden abgedruckten Einzelreferate stellen läßt, lautet also zunächst einmal: Was ist das Verbin­ dende, was ist das von Staat zu Staat, von Region zu Region Trennende? Auf welchen Ebenen liegen die Gemeinsamkeiten? Gibt es jeweils verwandte Typen von Liberalismus - die unter Umständen mit Typen außerhalb Mit­ teleuropas mehr Ähnlichkeit haben als mit anderen mitteleuropäischen? Was sind schließlich die tieferen Gründe für das Trennende und für das Gemein­ same auf der politischen, auf der gesellschaftlichen, auf der wirtschaftlichen, auch auf der kulturellen Ebene? Vor dem Vergleich, vor den übergreifenden Fragen hat aber auch hier zunächst einmal der Befund zu stehen, der Befund im jeweiligen einzelstaat­ lichen bzw. regionalen Rahmen, ausgehend von einem bestimmten perso­ nellen Zusammenhang innerhalb der dortigen liberalen Bewegung und späteren Partei. D ieser Rahmen und Zusammenhang bildet den Ausgangs­ punkt aller in dem folgenden Abschnitt zusammengefaßten Beiträge, bis auf zwei, deren Gegenstand - das Problem des Adelsliberalismus und die Frage der Krise des deutschen Liberalismus - sie von vornherein auf den überre­ gionalen Bereich verwies. Natürlich steckt in allen dabei zugleich das Sub­ strat eines allgemeinen Liberalismusverständnisses. Aber dominierend ist 23

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doch jeweils der konkrete Zusammenhang mit Akzentuierung ganz be­ stimmter Probleme. Aus ihnen seien hier einleitend einige herausgegriffen und hervorgeho­ ben, die immer wieder auftauchen, offenbar wiederholt eine zentrale Rolle spielten und sich so vielleicht am ehesten zu einer - das je Besondere wie das Übergreifende klärenden - vergleichenden Betrachtung eignen. Da ist einmal, als ein offenkundig zentrales Thema der frühen Zeit des Liberalismus und der liberalen Bewegung in Mitteleuropa, das Verhältnis zwischen aufgeklärtem Absolutismus, Reformbürokratie und Liberalismus. Es spielt vor allem in den Beiträgen von Barbara Vogel, Herbert Obenaus und Klaus Koch eine zentrale Rolle, aber auch in den Ausführungen von Harm­ Hinrich Brandt. Barbara Vogel entwickelt dazu die dezidierte These, »daß sich in den bürokratischen Apparaten der Einzelstaaten ein früher, originärer Liberalismus etablierte« in Gestalt einer liberalen Beamtenfraktion, die an die Nation appellierte und ein ganz spezifisches nachständisches, aber zu­ gleich vorrevolutionäres Gesellschaftsmodell entwickelte. Während Harm­ Hinrich Brandt speziell mit Blick auf Österreich und die österreichische Reformbürokratie ganz ähnlich argumentiert, betont Herbert Obenaus, daß die Reformen, weitgehend ohne Bezug auf die real vorhandenen gesell­ schaftlichen Kräfte konzipiert, in der Praxis auch im wesentlichen ohne Appell an sie und an die Öffentlichkeit durchgesetzt worden seien und daß dies die liberale Bewegung zunächst eher geschwächt habe. Diese habe sich in Preußen denn auch bezeichnenderweise nicht im Zusammenwirken mit dem Staat und seiner Bürokratie, sondern in Opposition zu ihnen vor allem auf der regionalen Ebene entwickelt, insbesondere in der Rheinprovinz und in Ost- und Westpreußen, der späteren Provinz Preußen. Ähnlich hebt auch Klaus Koch hervor, daß für den österreichischen Liberalismus der Josephi­ nismus zwar eine, aber durchaus nicht, wie man mit Winter lange Zeit gemeint hatte, die alleinige Wurzel gewesen sei. Eine mindestens ebenso wichtige Rolle habe - hier liefert sein Beitrag wie der von Harm-Hinrich Brandt zugleich eine gewichtige Ergänzung zu dem Referat von Christof Dipper - der an England orientierte freisinnige Adel auf der einen, die vom Wirtschaftsbürgertum und der Intelligenz getragene bürgerlich-liberale Be­ wegung im engeren Sinne auf der anderen Seite gespielt, die sich vor allem Frankreich und den französischen Liberalismus zum Vorbild nahm. Hiermit ist schon ein weiteres zentrales Thema angeschnitten, das in praktisch allen Beiträgen eine hervorgehobene Rolle spielt: die Frage nach dem Charakter der bürgerlich-liberalen Bewegung in politischer und vor allem in sozialer Hinsicht. Alle Autoren verstehen die liberale Bewegung in erster Linie als eine politische Bewegung, genauer gesagt als Verfassungsbewe­ gung mit dem Ziel zunächst der Etablierung einer modernen rechtsstaatlich­ parlamentarischen Verfassung und dann der inneren Umgestaltung der jeweiligen Staaten in ihrem Sinne. Dabei war die Trägerschicht offenbar von Region zu Region eine sehr unterschiedliche. Neben dem freisinnigen Adel, 24 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

der in Österreich und in den östlichen Provinzen Preußens, aber auch, wie Christof D ipper zeigt, in den süddeutschen Staaten eine erhebliche Rolle spielte, waren es zunächst vor allem Juristen und Publizisten, dann in zuneh­ mendem Maße Vertreter des Wirtschaftsbürgertums, die die liberale Bewe­ gung trugen. Charakteristisch war fast überall ihr dezidiert überständischer Charakter, und zwar eben nicht nur in programmatischer Hinsicht, sondern auch ganz konkret, in ihrer sozialen Zusammensetzung. Allerdings weist Wolfgang Kaschuba mit Recht darauf hin, daß dieser Befund zwar in der Grundtendenz sehr eindeutig ist, daß jedoch im einzelnen hier noch vieles im Dunkeln liegt und es - nicht zuletzt angesichts einer eher disparaten Quellen­ lage - noch einiger Anstrengungen bedarf, um in dieser Beziehung auf festen Grund zu gelangen. Wie Toni Offermann warnt er in diesem Zusammen­ hang davor, allzu rasch von den Repräsentanten auf die Repräsentierten zu schließen: Daß etwa die Vertreter der liberalen Bewegung auf der einen Seite und die der demokratischen auf der anderen, was ihre Herkunft, ihren Beruf und ihre soziale Stellung anging, ganz dem gleichen Milieu entstammten, läßt erkennen, daß hier andere Faktoren, vor allem das Prinzip der Ab­ kömmlichkeit, eine entscheidende Rolle spielten. Auf scheinbar sichereren Boden gelangt man in dieser Hinsicht von dem Zeitpunkt an, von dem an die bürgerlich-liberale Bewegung sich, vor allem nach 1848, organisatorisch zur Partei verfestigte. Toni Offermann zeigt jedoch, wie auch in anderen Zusammenhängen und unter etwas anderen Aspekten Harm-Hinrich Brandt und Lothar Höbelt, daß sowohl die spezifi­ sche politische Zielsetzung als auch die jeweilige soziale Struktur der Anhän­ gerschaft ganz entscheidend von dem politischen und sozialen Kontext abhingen und abhängig blieben, in dem die liberale Partei und Bewegung jeweils agierte. So hat etwa in Köln im Vergleich zu Berlin die Konkurrenz der katholischen Bewegung für die Liberalen den zunächst noch durchaus offenen Zugang zur Handwerkerschaft und auch zur Arbeiterschaft verengt. Lothar Höbelt glaubt mit Blick auf Österreich in dieser von Land zu Land bzw. auch von Region zu Region und Stadt zu Stadt unterschiedlichen Konkurrenzsituation mit anderen politischen Kräften sogar ein entscheiden­ des typenbildendes Element des Liberalismus und der liberalen Parteien zu erkennen: Wo die Liberalen hauptsächlich in Konkurrenz zu konservativen Kräften standen, habe sich der Typus der Fortschrittspartei gebildet. Wo der Hauptrivale die katholische Bewegung in ihren verschiedenen Spielarten und mit ihrer sehr weitreichenden Integrationskraft gewesen sei, habe sich der spezielle Typus der freisinnigen Partei herausgeformt. Das fuhrt unmittelbar zu einem dritten Komplex, der für den Liberalis­ mus vor allem seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine Schlüssel­ rolle spielte: das Verhältnis des Liberalismus zur »D emokratie« und zu den »Massen«. Einigkeit besteht weitgehend darüber, daß dies eine Schicksals­ frage für den Liberalismus gewesen sei, aber auch darüber, daß hier unser Wissensstand noch besonders fragmentarisch ist, insbesondere was die Frage 25 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

der sozialen Basis angeht. Auch stellt sich die Relation zwischen Basis und Programm offenbar komplizierter dar, als man zunächst annehmen möchte. So zeigt Toni Offermann, daß gerade dort, wo, wie in Köln, die soziale Basis aufgrund der Konkurrenzsituation mit der katholischen Bewegung eher eingeengt war, der Liberalismus besonders nachdrücklich an Öffentlichkeit und Volk als entscheidende Instanzen appellierte, dezidiert linksliberal-de­ mokratische Positionen vertrat und sich eindeutig zu der Forderung nach dem parlamentarischen Regierungssystem bekannte. Man wird von daher bei der Analyse wohl immer auch die Möglichkeit einer Art Flucht nach vorne in Rechnung stellen müssen, speziell dort, wo die eigene Basis rebus sie stantibus noch kein entsprechend breites Fundament bot. Von daher ergibt sich, ein weiterer wichtiger Punkt, bei der Betrachtung der Stellung des Liberalismus, der liberalen Bewegung zur Machtfrage ein sehr ambivalentes Bild. Harm-Hinrich Brandt vertritt hier im Hinblick auf Österreich noch einmal die schon öfter formulierte These, die Liberalen hätten, bei »schmaler sozialer Basis des parlamentarischen Liberalismus«, zunehmend die Anlehnung an den Staat gesucht. D emgegenüber zieht Toni Offermann aus seiner vergleichenden Analyse der Verhältnisse in Berlin und Köln den Schluß, die Tendenz zur Anlehnung an den Staat in seiner beste­ henden Form stehe nicht in direkter Relation zur Breite der sozialen Basis des Liberalismus. Lothar Höbelt schließlich betont, daß zumindest der öster­ reichische Liberalismus konsequent an dem Aufbau einer eigenständigen Machtposition als Partei der gesellschaftlichen Integration auf nationaler Basis gearbeitet, sich also als die eigentliche nationale Partei präsentiert habe. In der Tat ist wohl das Verhältnis zum nationalen Gedanken und zur National­ staatsidee speziell für den mitteleuropäischen Liberalismus das kardinale The­ ma gewesen, das seinen Charakter und seine Entwicklung entscheidend bestimmt hat und für seinen Erfolg und seinen Mißerfolg von zentraler Bedeutung gewesen ist. D ie liberalen Parteien wurden hier durchgehend zu nationalen Parteien, jedenfalls zu national fundierten Parteien. D as gilt für die preußische Fortschrittspartei ebenso wie für den österreichischen Libera­ lismus und die süddeutschen Liberalen. Auf diesem Gebiet waren sie zudem zunächst fast ohne Konkurrenten, denn weder die konservativen noch die katholischen Parteien waren anfangs nationale Parteien. Während also auf fast allen anderen Feldern des politischen und gesellschaftlichen Lebens die jeweilige Konkurrenz die spezifische Ausrichtung der betreffenden liberalen Gruppierung in Stadt, Region und Land bestimmt hat und damit ganz unterschiedliche Typen und Typengruppen entstehen ließ - mit den Ober­ gruppen, nach Lothar Höbelts Vorschlag, der »Fortschrittsparteien« hier und der »freisinnigen Parteien« dort-, vereinigte der nationale Gedanke alle liberalen Gruppen und Richtungen in dem Typus der »nationalen Partei«. Und alle gerieten sie in eine tiefe Krise, als sich seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts der nationale Gedanke von einem Prinzip, das den Wunsch nach politischer und gesellschaftlicher Veränderung bündelte, zu einer Idco26 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

logic des Status quo wandelte, also jene vielbeschriebene Entwicklung »vom linken zum rechten Nationalismus« (Η. Α. Winkler) in Gang kam. Diese Krise löste im gesamten liberalen Lager schärfste Auseinanderset­ zungen über den künftigen Kurs aus. Neben der vielbeschworenen Rechts­ wendung stand dabei auch eine sehr entschiedene Linkswendung eines Teils der Liberalen, im D eutschen Reich ebenso wie in der Habsburger Monar­ chie, wo sich diese Richtung, wie Lothar Höbelt zeigt, in den neunziger Jahren sogar weitgehend durchsetzte. D urchgehend kann man in diesem Zusammenhang von einem liberalen Revisionismus mit sehr unterschiedli­ chen Ergebnissen sprechen. Dieser Revisionismus war zugleich, wie vor allem Gangolf Hübinger in dem abschließenden Beitrag dieser Sektion betont, Teil und Ausdruck einer Modernisierungskrise, die jene politische und gesellschaftliche Bewegung, die sich lange Zeit hindurch als Speerspitze des Fortschritts, als Agent des politischen und gesellschaftlichen Wandels verstanden hatte, naturgemäß am härtesten traf. D ie »neue liberale Grundfrage«, so Hübinger, habe nun nicht mehr wie im Vormärz und auch noch in den unmittelbar folgenden Jahrzehnten gelautet, »wie kann ›Persönlichkcit‹ aus traditionalen Ord­ nungen entbunden werden, sondern neuformuliert, wie kann im Zeitalter der industriellen Riesenbetriebe und des allgewaltigen bürokratischen Machtstaates ›Persönlichkeit‹ erhalten werden«. Eine solche Frage konnte, etwa bei Friedrich Naumann und bei den entschieden linksliberal-demokra­ tischen Kräften, zu einer Öffnung gegenüber ganz neuen Ideen, zur Propa­ gierung ganz neuer Formen des politischen und gesellschaftlichen Zusam­ menlebens fuhren. Im Kern aber steckte in ihr mit der darin enthaltenen Neigung zur »Entkoppelung von Wirtschafts- und Kulturfortschritt« und zur Betonung der kulturellen anstelle der sozialen Frage doch vor allem die Tendenz, sich rückwärts zu orientieren, das Erbe vergangener »Bürgerlich­ keit« zu beschwören. Sic signalisierte zugleich, auf einem gewissen Höhe­ punkt des Einflusses des Bürgertums in Wirtschaft und Gesellschaft, in Kultur und Wissenschaft und zunehmend auch in der Politik, eine tiefe Krise dieses Bürgertums. D ie Frage nach ihren Gründen, nach ihrem Verlauf und ihrem Ausgang speziell in Mitteleuropa öffnet dabei auch hier wieder, wie in vielen früheren Phasen, den Blick auf den engen Zusammenhang, in dem die Geschichte des Liberalismus als politisch-soziale Bewegung und die Sozial­ geschichte des Bürgertums stehen, ein Zusammenhang, der, wie die Beiträ­ ge gerade dieser Sektion zeigen, immer mehr ins Zentrum der gegenwärti­ gen Liberalismusforschung rückt.

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JAMES J . SHEEHAN

Wie bürgerlich war der deutsche Liberalismus?*

»The nature of a political struggle is to divide a nation into two sides. There is no incompatibility between accepting the existence of this simple political dicho­ tomy and finding underneath the political struggle a much more complex social and economic nexus. The error [lies] ... in taking the political division as the basis for social history.« Alfred Cobban1

Diese Warnung von Cobban beschäftigt mich, seit ich mich mit dem Ver­ hältnis zwischen Liberalismus und Bürgerlichkeit auseinandersetze, genauer gesagt: mit der Frage, wie bürgerlich die liberale Bewegung war. Sie stim­ men mir sicher zu, wenn ich feststelle, daß die Beschäftigung mit dieser Frage auf einigen wenigen Seiten keine leichte Aufgabe ist. Vielleicht kann ich nicht mehr tun als klären, um was es eigentlich geht und was uns dabei helfen könnte, Antworten zu erkennen, die sich vielleicht im Verlauf der Tagung ergeben. D ies erfordert eine ausführliche D efinition, den Versuch, die Konturen von Bürgerlichkeit und Liberalismus innerhalb des geschicht­ lichen Rahmens herauszuarbeiten. Es sollte uns jedoch nicht überraschen, wenn sich keines der beiden Phänomene mit einer engmaschigen D efinition fassen läßt. D enn beide Konzepte entstanden zu einer Zeit, als die gesell­ schaftlichen, politischen und kulturellen Grenzen neu gezogen wurden, als die gewohnten Unterschiede verschwanden und die neuen noch nicht greif­ bar waren. D ie Schwierigkeiten, denen wir bei der Definition von Bürger­ lichkeit und Liberalismus begegnen, reflektieren auch die Unsicherheiten der damaligen Zeitgenossen; ihre historischen Probleme geben uns historio­ graphische Rätsel auf. Bei einem Thema wie dem vorliegenden sollten wir uns vor Vereinfachungen hüten. Ich glaube, es war Einstein, der einmal sagte, daß es die Aufgabe der Wissenschaft sei, die D inge so einfach wie möglich darzustellen - aber auch nicht einfacher. Mein Beitrag gliedert sich in drei Teile: Zunächst werde ich die Entwick­ lung von Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert skizzieren, die ich als ein Bündel von Werten und Einstellungen sehe, geschaffen von Gruppen, die noch zur 28 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

traditionellen ständischen Ordnung gehörten, aber nicht mehr ein fester Bestandteil von ihr waren; zweitens werde ich untersuchen, wie die liberale Bewegung das Phänomen Bürgerlichkeit verinnerlichte und erweiterte, um den gesellschaftlichen und politischen Forderungen des neuen Jahrhunderts gerecht zu werden; zum Schluß werde ich mich kurz mit dem Schicksal von Bürgerlichkeit und Liberalismus nach 1871 beschäftigen. D iese Gliederung entspricht meiner Überzeugung, daß die Definition dieser Phänomene nicht nach normativen bzw. universellen, sondern vielmehr nach deskriptiven und spezifischen Maßstäben erfolgen sollte. Wenn wir herausfinden wollen, ob der deutsche Liberalismus bürgerlich war oder nicht, besteht unsere Aufgabe darin, die Bedeutung dieser Begriffe zunächst innerhalb ihres spezi­ fischen Kontexts auszuloten, und nicht, sie mit vermeintlich »ausgereifte­ ren« Beispielen in anderen Gesellschaften zu vergleichen. Trotz der mir bekannten Einwände gegen ein solches historisierendes Vorgehen, halte ich es für richtig, daß wir unsere Betrachtungen in dieser Form beginnen sollten, sie aber nicht notwendigerweise so beschließen müssen.

1. Bürgerlichkeit Als Lessing 1755 dem Stück »Miss Sara Sampson« den Untertitel »Ein bürgerliches Trauerspiel« gab, was meinte er da mit bürgerlich? Weder die handelnden Personen (ein Adliger, seine Tochter, Geliebte sowie verschie­ dene Gefolgsleute), noch der Schauplatz (eine einfache Herberge), noch die Handlung (Liebe, Verrat, Tod) scheinen etwas mit dem zu tun zu haben, was wir mit Bürgertum verbinden. Aber das zeitgenössische Publikum dachte nicht so: für sie repräsentierte Lessings Stück eine D enkweise und ein Empfinden, die sie sofort als bürgerlich erkannten. D as bürgerliche Trauer­ spiel wurde schon bald zu einem etablierten Genre: als Lessing 1772 eine neue Ausgabe von Sara Sampson veröffentlichte, hielt er einen Untertitel nicht mehr für nötig. D er gesellschaftliche Standort und der moralische Zweck des Stückes bedurfte nun keiner näheren Erläuterung mehr. Den Zeitgenossen offenbarte sich die bürgerliche Qualität von Lessings Stück im wesentlichen durch das, was es nicht war. Man konnte »Sara Sampson« nicht mit einer jener barocken Tragödien, französischen Komö­ dien oder volkstümlichen Farcen verwechseln, die einst die deutschen Thea­ ter beherrscht hatten. D er Schauplatz war weniger großartig als vielmehr alltäglich, die Akteure, eher gewöhnlich als heroisch, die Tonart eher maß­ voll als blumig oder einfach vulgär. Bei »Sara Sampson« geht es, wie in den meisten bürgerlichen D ramen, um die Suche des Individuums nach Glück im persönlichen, häuslichen und beruflichen Bereich. D ie Figuren solcher Dramen streben nach emotionaler Zufriedenheit und sozialer Sicherheit was häufig eine gute Heirat bzw. einen angesehenen Beruf bedeutete oder 29 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

erst das eine, gefolgt vom anderen. Es ist bezeichnend, daß die Handlung jeweils auf einen moralischen Konflikt zwischen Echtheit und Erfindung, Aufrichtigkeit und Verrat - in Schillers klassischer Version zwischen Liebe und Intrige - hinausläuft. Weder Autor noch Publikum betrachteten diese Konflikte unter ausschließlich gesellschaftlichen Vorzeichen, und doch iden­ tifizierten sie sich eindeutig mit der von den Charakteren repräsentierten moralischen Ordnung. D as Publikum, das für Miss Sara Sampson weinte, reagierte damit auf umkämpfte Tugenden, die zugleich universelle Gültig­ keit besaßen, aber vor allem seine ureigenen waren. Lessing stellte moralische Ordnung aristokratischer Korruption gegen­ über, über die er eine der handelnden Personen folgendes sagen läßt: »nicht­ würdigste Gesellschaft von Spielern und Landstreichern«, und »ich nenne sie, was sie waren, und kehre mich an ihre Titel, Ritter, und dergleichen nicht.«2 Aber das bürgerliche Drama bildete auch einen Gegenpol zur plebe­ jischen Roheit. So bemerkte der Autor eines Aufsatzes über das bürgerliche Trauerspiel, der auch 1755 veröffentlicht wurde, daß solche Stücke nicht vom Pöbel handeln könnten, und zwar aus »Mangel der Erziehung und des Umgangs«. D ie Akteure sollten nach Ansicht dieses Autors stattdessen aus einem »gewissen Mittelstand zwischen dem Pöbel und den Großen« kom­ men. Hierzu gehörten »der Kaufmann, der Gelehrte, der Adel, kurz, jedwe­ der, der Gelegenheit gehabt hat, sein Herz zu verbessern, oder seinen Ver­ stand aufzuklären...«. Zugehörigkeit zum Mittelstand ist nicht für jeden möglich - dazu gehört ein gewisses Maß an Besitz und Bildung. Aber von jenen, die nicht zum Pöbel gehören, wird eine ganz bestimmte Art von Sensibilität und Intellekt gefordert. Wir begegnen hier einem Verständnis von Gesellschaft, das für Bürgerlichkeit wie auch Liberalismus typisch ist: mittels dieser Definition wird Bürgerlichkeit zugleich zu einer gesellschaftli­ chen und moralischen Kategorie erhoben, oder genauer gesagt, Bürgerlich­ keit hat gesellschaftliche Voraussetzungen, manifestiert sich jedoch auf einer moralischen Ebene.3 Bevor ich jedoch auf die gesellschaftliche Grundlage von Bürgerlichkeit eingehe, möchte ich kurz deren moralische Ordnung betrachten - jene Werte und Überzeugungen, die die Verbindung zwischen bürgerlicher Kul­ tur und liberaler Politik am deutlichsten manifestieren. Ein Kernaspekt von Bürgerlichkeit war das Verhältnis des Individuums zur gesellschaftlichen Welt. In der Kultur des 18. Jahrhunderts begegnen wir diesem Problem in der einen oder anderen Form immer wieder - in Episte­ mologie und Ethik, ökonomischer Theorie und Pädagogik, Rechtswissen­ schaft und Literaturwissenschaft. Um dieses Problem drehen sich zum Beispiel die autobiographischen Reflexionen von Jung Stilling und vielen anderen. Es war Antrieb für Kants heroische Bemühungen, den Fesseln der Subjektivität zu entkommen, und für Goethes Versuch, uns die Bildung des Charakters vor Augen zu fuhren. Und dieses Problem ist es ganz offensicht­ lich, für das der Liberalismus - vor einem andersgearteten historischen 30 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Hintergrund, aber mit ähnlichen kulturellen Ansprüchen - eine gesell­ schaftliche und politische Lösung zu finden versucht. Im 18. Jahrhundert stellte sich dieses Problem, als die Lockerung der traditionellen Werte und gesellschaftlichen Beziehungen zu einer neuen Erfahrung von individueller Autonomie und Isolation führte. Wie es Christian Garve in seiner faszinierenden Abhandlung »Über Gesellschaft und Einsamkeit« ausdrückt: » . . . immer hat jeder seine eigne Welt, in der er lebt, und jeder sieht diese Welt mit eignen Augen.«4 D ieses Bewußt­ sein von Individualität führte zu jenem Nachdenken über die Echtheit von Gefühlen und die Verläßlichkeit von Wahrnehmungen, das sich überall in der Literatur und Philosophie des 18. Jahrhunderts findet. D em gleichen Bewußtsein begegnen wir auch in jenem Ethos, das Leistung statt Zuschreibung betont, persönliches Können statt ständischer Identi­ tät. In Bilanzen und Prüfungsunterlagen, in der Verwaltungshierarchie und bei den beruflichen Monopolen, in Akten und Publikationslisten finden sich Beweise für diese Neigung, die individuelle Leistung zu mes­ sen und festzuhalten. In der bürgerlichen Kultur wird der Charakter zu einem Bündel von Persönlichkeitsmerkmalen, die an die Stelle der Zuge­ hörigkeit zu einem Stand bzw. Beruf treten: weder vererbt noch aufer­ legt ist der Charakter eine Form moralischer Identität, die man durch eine Kombination aus individuellem Bemühen und gesellschaftlichem Einfluß erwirbt. Für jene, die die Grundideen von Bürgerlichkeit über­ nommen hatten, war die Entwicklung des Charakters eine Quelle fort­ währender Faszination, wodurch der Bildungsroman zum bürgerlichen Genre schlechthin wurde. Die Tatsache, daß der Charakter durch das Zusammenspiel von Sub­ jekt und Verhältnissen geformt wird, führt uns zu einem weiteren, we­ sentlichen Anspruch der bürgerlichen Kultur - der Glaube an eine fort­ schrittliche Entwicklung sowohl des Individuums als auch der Gesell­ schaft. Auch dies kommt uns bekannt vor. D as 18. Jahrhundert ist ange­ füllt mit Büchern und Organisationen, die sich der Verbesserung aller nur denkbaren Unternehmungen verschrieben hatten, vom Weizenanbau bis zur Kindererziehung. Für unsere Zwecke ist es wichtig, uns zu ver­ gegenwärtigen, daß Verbesserung und Bürgerlichkeit häufig miteinander verbunden wurden wie zum Beispiel im Titel von D ohms berühmtem Werk »Über die bürgerliche Verbesserung der Juden«. In den englischen Versionen dieses Titels wird bürgerlich häufig mit civic übersetzt, aber der Originaltitel von D ohm ist umfassender und weniger rechtlich zu verste­ hen als der englische Begriff. Sein Ziel ist es, die den Juden auferlegten gesetzesmäßigen Beschränkungen zu beseitigen, um ihren Platz in der gesellschaftlichen Struktur - und damit ihre individuellen Charaktere zu verbessern. Es handelt sich hier um eine charakteristische Kombina­ tion aus moralischen und gesellschaftlichen Zielen, die durch den dualen Prozeß von Emanzipation und Integration verwirklicht werden sollen. 31 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Eine ähnliche Vermischung von Mittel und Zweck wurde später zu einem wesentlichen Merkmal liberalen politischen Handelns.5 Wenn sich die Reformer des 18. Jahrhunderts mit der Frage der Verbesse­ rung beschäftigten, so dachten sie in erster Linie an kulturelle und morali­ sche Fortschritte - was viele von ihnen mit Bildung bezeichnet hätten, ein weiterer Schlüsselbegriff aus dem Vokabular der Bürgerlichkeit - ein Be­ griff, der in seiner umfassenden und diffusen Bedeutung kein modernes Gegenstück kennt. Verwurzelt im Pietismus und mit Querverbindungen zu für das 18. Jahrhundert so charakteristischen Bereichen wie Literatur, Kunst und Erziehungswesen, liefert der Begriff Bildung wohl die beste Umschrei­ bung für die bürgerliche Kampagne zur kulturellen und moralischen Re­ form. So verbindet Mendelssohn in seiner Antwort auf die Frage »Was heißt aufklären?« Bildung mit Kultur und Aufklärung: alle drei, so schreibt er, »sind Modificationen des geselligen Lebens, Wirkungen des Fleiß und der Bemühungen der Menschen, ihren geselligen Zustand zu verbessern.«6 Bildung hatte sowohl moralische als auch gesellschaftliche Auswirkungen, sie befreite die Menschen von Unwissenheit und geistiger Knechtschaft und bewirkte eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten in einer freien, aufgeklär­ ten und fortschrittlichen kulturellen Sphäre. Das D oppelziel bürgerlicher Verbesserung - Emanzipation von der Knechtschaft und Integration in eine rationale neue Ordnung - hatte auch gesellschaftliche und politische Auswirkungen. Was Bildung für die Kultur leisten wollte, sollte die soziale Reform für die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft erreichen: auch hier sollten sinnlose Zwänge aufgehoben wer­ den, um die Begabungen und produktiven Kräfte der Menschen freizuset­ zen. D ie Vorstellung freier Individuen, die gemeinsam in einer offenen, emanzipierten Gesellschaft agieren, gefiel den deutschen Ökonomen, die Anhänger von Adam Smith waren, und den Beamten, die bestrebt waren, die restriktive Macht der Gilden und die Herrschaft der Landbesitzer einzu­ schränken. Sowohl hinsichtlich der kulturellen als auch der gesellschaftlichen Aspek­ te von Verbesserung schrieben eine Reihe von Denkern des 18. Jahrhunderts dem Staat eine zentrale Rolle zu. Als erzieherisches Instrument war der Staat - oder sollte es sein - eine primäre Quelle von Bildung. Als Instrument gesellschaftlicher Emanzipation war er - oder sollte es sein - ein Garant der bürgerlichen Gesellschaft. Ein bürgerliches Recht (civil law) sollte den Bür­ ger aus gesellschaftlichen Zwängen und rechtlichen Beschränkungen befrei­ en und den Staat von schädlichen Privilegien und gefährlicher Willkür reinigen. In den großen rechtlichen Kodifizierungsprojekten, die in den ausgehenden Jahrzehnten des alten Herrschaftssystems im Gange waren, wurden nach Meinung vieler Zeitgenossen die Ideale der Bürgerlichkeit am deutlichsten artikuliert und am nachdrücklichsten vertreten.7 Obgleich es sinnvoll ist, sich Bürgerlichkeit als ein kulturelles und morali­ sches System vorzustellen, hat sie gleichwohl gesellschaftliche Ursprünge 32 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

und einen gesellschaftlichen Standort. D ies kam all jenen Gruppen entge­ gen, deren gesellschaftliche Identität nun nicht mehr so tief in der Welt der Gilden, Pfarrbezirke, Kommunen und Fürstlichen Höfe verwurzelt war. Dazu gehörten Unternehmer, die durch die Bestimmungen der Gilden frustriert waren, weil sie von den neuen ökonomischen Möglichkeiten profitieren wollten. D ann gab es Bürokraten, deren Bildung und politische Position sie zu Gegnern ständischer Privilegien und etablierter Eliten mach­ ten. Es gab Moralisten, denen die Korruption der Höfe zuwider war, und Intellektuelle, die eine neue Art von Öffentlichkeit wollten. D ie meisten dieser Personen hatten ein Mindestmaß an Besitz und Bildung: sie waren Kaufleute, Beamte, Anwälte, Wissenschaftler, Kleriker, Buchhändler, Jour­ nalisten und Pächter. Weiter unten angesiedelt waren noch einige Handwer­ ker, untergeordnete Beamte, D orflehrer und sonstige Personen bescheide­ ner Herkunft, denen die Ideale der Bürgerlichkeit eine gewisse Hoffnung auf sozialen Aufstieg eröffneten.8 Zusammengenommen bildeten die Befürworter der Bürgerlichkeit kei­ nen Stand im traditionellen Sinn: es gab keine Sonderrechte oder Gewohn­ heitsrecht, durch die sie sich vom Rest des sozialen Gefüges unterschieden. Wenn wir sie mit einer geologischen Metapher beschreiben wollen, sollten wir sie uns nicht als eine Schicht vorstellen, die zwischen anderen, darunter und darüber befindlichen Schichten ruht, sondern als eine Erzader, die die gesellschaftliche Struktur durchzieht, die Unterbrechungen und Unregel­ mäßigkeiten in der Qualität und Stärke aufweist und häufig quer durch die fester etablierten gesellschaftlichen Gruppen verläuft, um manchmal darin zu verschwinden. Den klarsten institutionalisierten Ausdruck fand Bürgerlichkeit in den Lesevereinen, Freimaurerlogen und anderen Organisationen zur individuel­ len oder gesellschaftlichen Verbesserung, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts über ganz Mitteleuropa ausbreiteten. Wie die gesellschaftli­ chen Gruppen, die mit den bürgerlichen Werten sympathisierten, waren auch diese Institutionen nicht fest in der traditionellen Gesellschaftsordnung verankert: anders als bei Pfarrbezirken und Gilden war die Mitgliedschaft bei ihnen freiwillig; im Gegensatz zu Gilden oder Gesellenvereinen standen sie verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen offen; und anders als Klöster und Konvente waren sie nicht von der Welt abgeschnitten. Als Zusammen­ schlüsse von Gleichrangigen waren diese bürgerlichen Vereine Modelle einer aufgeklärten Geselligkeit und Instrumente sozialer Reformen. »Frei­ heit zu denken . . . ist der Geist unserer königlichen Kunst«, erklärten im Jahre 1786 einige Berliner Freimaurer; ihre Loge »verabscheut die Intrigen, wodurch man uns das edelste Vorrecht der Menschheit rauben will, und verschließt den Feinden gesunder Vernunft und wahrer Aufklärung ihr Heiligtum«. 9 Theoretisch waren die bürgerlichen Vereine allen frei zugänglich und im Gegensatz zur adligen Welt beziehungsweise zum Dorf und zur Stadt nicht 33 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

durch Sonderrechte oder regionale Besonderheiten abgegrenzt. Sie waren offen, wie es schon der Begriff der Öffentlichkeit als ein weiteres wichtiges Element des bürgerlichen Wortschatzes nahelegt. In einer öffentlichen Sphä­ re zu agieren, erforderte weder eine adlige Herkunft noch geheimes Wissen: wie die Statuten eines Stuttgarter Lesevereins stolz verkündeten, zählten nicht »Stand und äußerliche Vorzüge«, sondern »Vorzüge des Geistes und Herzens«.10 In Wirklichkeit reichten solche Eigenschaften jedoch nicht aus: nicht jeder konnte dem Stuttgarter Leseverein beitreten, dessen Gebühren hoch und dessen Mitgliederzahl beschränkt war. Es konnte auch nicht jeder erwarten, eine Rolle im öffentlichen Leben zu spielen - schon die Bedeutung des Begriffs ›Publikum‹ enthält eine gewisse D oppeldeutigkeit, denn er bezog sich sowohl auf den potentiellen Leser beziehungsweise Zuschauer als auch auf die kleinere Gruppe derjenigen, die in der Lage waren, den Preis für ein Buch oder eine Eintrittskarte zu bezahlen. Die Spannung zwischen Universalität und Beschränkung, der wir in der Welt der bürgerlichen Vereine begegnen, war ein wesentliches Element der Bürgerlichkeit als moralisches System. Auf der einen Seite bestanden seine Befürworter darauf, daß ihr Geschmack, ihre Werte und Ideale Geltung für alle Menschen besaßen - dies war schließlich ein Schlüsselelement ihres Anspruchs auf Überlegenheit gegenüber der traditionellen Kultur und Mo­ ral; auf der anderen Seite konstituierte Bürgerlichkeit eine moralische und gesellschaftliche Elite, der nicht jeder angehören konnte. Wie wir gesehen haben, konnte nicht jeder hoffen, eine Rolle in einem bürgerlichen Trauer­ spiel zu erhalten: »Kein Schneider, kein Schuster ist einer tragischen D en­ kungsart fähig.« Wörter wie Aufklärung und Kultur, so schrieb Mendels­ sohn, sind Teil der Büchersprache. »D er gemeine Haufe versteht sie kaum.« »Jeder wird als möglicher Staatsbürger geboren«, so Kant, »nur, damit er es werde, muß er ein Vermögen haben, es sei in Verdiensten oder in Sa­ chen . . . «. An anderer Stelle schrieb Kant, daß ein Bürger zu sein der »Unab­ hängigkeit« bedürfe - noch so ein schwammiger Begriff, der für die Libera­ len eine zentrale Bedeutung erlangen sollte.11

2. Bürgerlichkeit und Liberalismus Wie jedes moralische System war natürlich auch das der Bürgerlichkeit durch und durch politisch. Wenn sie Theaterstücke schrieben, Bücher rezen­ sierten, Bildungsvereinen beitraten oder aufklärerische Gesetze entwarfen, waren die Befürworter der Bürgerlichkeit davon überzeugt, daß sie für das Recht kämpften, den Geschmack, die privaten Werte und die öffentlichen Ideale ihrer Gesellschaft zu etablieren. Häufig genug gerieten diese Bemü­ hungen zu einer Art Kulturkampf, der sich gegen den schlechten Einfluß des höfischen Adels, die ausländische Literatur oder den weitverbreiteten Aber34 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

glauben richtete. Obschon es sich um kulturelle Ziele und Zwecke handelte, waren sie doch von politischen Ambitionen und Idealen inspiriert. D iese Ambitionen und Ideale betrafen jedoch nicht Themen, die wir gewöhnlich mit Politik verbinden: die Mehrzahl der Denker des 18. Jahrhunderts inter­ essierte sich kaum für Fragen, die mit der D efinition von Souveränität zusammenhängen, mit der Dimension monarchischer Macht oder mit der Frage, wieviel Mitspracherecht das Volk haben sollte - Fragen, die im politischen D enken und Handeln des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine maßgebliche Rolle spielten. Ebensowenig waren sie geneigt, klare Alterna­ tiven zur bestehenden Ordnung zu entwickeln: sie wollten Veränderungen, Reformen, Verbesserungen - womit ihrer Ansicht nach nicht so sehr beab­ sichtigt war, andersgeartete institutionelle Strukturen zu schaffen, als viel­ mehr die Art der Machtausübung innerhalb des bestehenden Systems zu beeinflussen. Wie so vieles andere verschwanden in der revolutionären Ära allmählich die Grenzen, die bis dahin der politischen Phantasie der Menschen gesetzt waren. In einem Vierteljahrhundert, das erfüllt war von Krieg und Aufruhr, alte Institutionen zerstörte, neue Staaten schuf und bis in alle Bereiche des öffentlichen Lebens spürbar wurde, konnte man sich Verfassungsfragen und institutionellen Alternativen nicht entziehen. D ie Deutschen begannen des­ halb damit, politische Ideologien zu formulieren- »kognitive Karten«, mit deren Hilfe sie sich in der historischen Landschaft orientieren wollten, die plötzlich ihrer Wegweiser beraubt schien. D iese Ideologien erwuchsen di­ rekt aus konstitutionellen Konflikten, die nach der Jahrhundertwende in allen deutschen Staaten ausgebrochen waren: in ihnen vermischten sich Werte, Interessen und Ambitionen zu mehr oder weniger kohärenten Aussa­ gen über die Richtung von Veränderungen, das Wesen politischer Autorität und den wahren Charakter der gesellschaftlichen Ordnung. Alle wichtigen deutschen Ideologien - Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus waren zwar nachhaltig beeinflußt von westeuropäischen D enkweisen und Institutionen, hatten aber gleichzeitig auch eine spezifisch deutsche Ausprä­ gung. Bis in die letzten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts war der Liberalis­ mus bei weitem die stärkste und erfolgreichste Ideologie. Überall in der deutschen Politik, Gesellschaft und Kultur finden wir den Niederschlag des liberalen Erfolgs: quantitativ läßt er sich an Wahlsiegen auf allen Regierungs­ ebenen und in fast allen Staaten ablesen; qualitativ an der Anziehungskraft, die der Liberalismus auf tatkräftige und talentierte Männer im Handel, im Bildungswesen, in den freien Berufen und in der Regierung ausübte. Mit wenigen Ausnahmen sympathisierten die führenden deutschen Unterneh­ mer und Kulturschaffenden mit dem Liberalismus; sogar viele Beamte in Verwaltung und Justiz identifizierten sich mit der liberalen Sache in einem Ausmaß, das ihre Vorgesetzten erschreckte. D as Echo des Liberalismus in der politischen Öffentlichkeit war so groß, daß auch das Debakel von 1849 35 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

nur einen vorübergehenden Rückschlag brachte; bereits in den frühen 1860er Jahren hatte die Bewegung noch mehr an Einfluß und Popularität gewonnen. In unserem Bemühen, das letztendliche Scheitern des Liberalismus zu erklären, haben wir es vielleicht versäumt, die Gründe für seinen unmittel­ baren Erfolg sorgfältiger herauszuarbeiten. Warum erwies sich der Libera­ lismus um die Mitte des Jahrhunderts als soviel attraktiver als seine Rivalen? Eine mögliche Antwort auf diese Frage scheidet jedoch sofort aus: der Erfolg des Liberalismus war nicht davon abhängig, daß er die Interessen einer bestimmten Klasse vertrat - einer wie auch immer definierten ›Bourgeoisie‹. Von den möglichen, eher plausiblen Antworten erscheint mir eine für unsere Belange besonders relevant: ein wichtiger Grund, warum der Liberalismus des 19. Jahrhunderts erfolgreich war, ist der, daß er an Ideen und Überzeu­ gungen anknüpfen konnte, die im öffentlichen D iskurs des 18. Jahrhunderts tief verwurzelt waren. Durch die Ausweitung und Übernahme von Bürger­ lichkeit konnten sich die Liberalen neuen Problemen zuwenden und Ant­ worten finden, die mit vertrauten Begriffen formuliert waren und sich auf anerkannte moralische Werte stützten. Nehmen wir zum Beispiel das Konzept der bürgerlichen Verbesserung, das, wie wir gesehen haben, ein wichtiger Bestandteil der Kultur der Bür­ gerlichkeit war. D ie Liberalen übernahmen das Konzept in ihre Ideologie und stellten es auf eine breitere, historisch orientierte Grundlage: sie spra­ chen von Fortschritt und Bewegung und gründeten ihre eigene Legitimation auf die Tatsache, daß sie als Partei die Bewegung und die Richtung des Wandels repräsentierten. Liberalismus, schrieb Theodor Mundt 1834, »will nichts als die Zukunft der Geschichte.«12 Im Kontext liberaler Ideologie behielt die Verbesserung jedoch den ihr eigenen, aus dem 18. Jahrhundert stammenden Charakter. Für die meisten Liberalen blieb Fortschritt ein dualer Prozeß von Emanzipation und Integration - das Durchbrechen alter Schranken und die Schaffung einer neuen, rationalen, kulturellen, sozialen und politischen Ordnung. Gemäß der historischen Perspektive dieses Pro­ zesses sahen sie eine Verbindung ihrer eigenen Unternehmungen mit Ent­ wicklungen im 18. Jahrhundert. Karl Biedermann entdeckte z. B. ein »Ent­ wicklungsgesetz«, das sich wie ein roter Faden durch das ganze 18. Jahrhun­ dert zog, von einer Erneuerung des deutschen Geistes kündete sowie von einer »Wiedererhebung des bürgerlichen Elements zu selbständigem Dasein und Bewußtsein.«13 Liberale Fortschrittsgedanken wie bürgerliche Verbesserung umschlossen Veränderungen in den Bereichen Kultur, Gesellschaft und Politik. In jedem dieser Bereiche trugen die liberalen Ideen unverkennbare Züge früherer Konzepte. D ie Betonung der öffentlichen Meinung im Liberalismus ver­ stärkte zum Beispiel noch die wichtige Rolle von Öffentlichkeit und Publi­ kum in der Kultur der Bürgerlichkeit. Ähnlich knüpften auch liberale Ideen von der Gesellschaft und Wirtschaft an Vorstellungen des 18. Jahrhunderts 36 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

an. Selbst im politischen Bereich, wo das liberale konstitutionelle D enken am deutlichsten und entschiedensten über die unentschlossene Politik der Bürgerlichkeit hinausging, läßt sich die Kontinuität zum 18. Jahrhundert nicht übersehen. D ie Liberalen des 19. Jahrhunderts, wie auch ihre Vorgän­ ger im 18. Jahrhundert, schätzten den Staat als Erzieher, Hüter, vielleicht sogar Begründer von bürgerlicher Kultur und Gesellschaft. D er Begriff »citizenship« hieß für die meisten Liberalen weiterhin Staatsbürgertum. Diese Kontinuität in den Einstellungen gründete sich auf die Kontinuität in der sozialen Zusammensetzung. Angesichts der uns vorliegenden verein­ zelten und ungleichmäßigen D aten über führende Liberale sticht die Ähn­ lichkeit mit vergleichbaren D aten über die Befürworter von Bürgerlichkeit ins Auge. In beiden Gruppen waren die Bildungseliten - Beamte, Akademi­ ker, Freiberufler-besonders stark vertreten, während Kaufleute, Landbesit­ zer und andere wirtschaftlich tätige Individuen eine untergeordnete, wenn­ gleich manchmal regional bedeutende Stellung einnahmen. Außer der Tat­ sache, daß diese Personen das besaßen, was Kant ein »Vermögen«, entweder an Bildung oder an Eigentum genannt hatte, hatten sie kaum etwas gemein­ sam. Wie die wirtschaftspolitischen Konflikte innerhalb des Liberalismus zeigen, hatten die führenden Kräfte der Bewegung überhaupt keine gemein­ samen Interessen bzw. eine gemeinsame Marktposition. Statt dessen finden wir unter ihnen Freihändler und Schutzzöllner, Fürsprecher der Industrie und Landwirtschaft, Bewunderer staatlicher Interventionen und einer freien Marktwirtschaft.14 Das will aber nicht heißen, daß der Liberalismus nichts mit den wirt­ schaftlichen Interessen und der sozialen Stellung seiner Anhänger zu tun hatte. Liberale unternahmen durchaus den Versuch, ihre Bewegung zur Unterstützung verschiedener Interessen und Gruppen einzusetzen. Aber je konkreter solche Fragen des ökonomischen Interesses und der Gesellschafts­ politik wurden, desto zerstörerischer wirkten sie sich auf liberale Organisa­ tionen aus. Wie die Befürworter von Bürgerlichkeit repräsentierte auch die liberale Führerschaft insgesamt eher eine Ansammlung von Überzeugungen als ein klar definiertes Bündel von Interessen. Wie Ferdinand Falkson es bei seiner Beschreibung des Liberalismus in Königsberg ausdrückte: »das Ge­ meinsame [. . .] also, wie man sich damals ausdrückte, [war] die Gesinnung. Die Kampfmittel waren das gedruckte und gesprochene Wort.«15 Während der ganzen Entstehungszeit des Liberalismus glichen Form und Stil liberaler Organisationen der institutionellen Grundlage von Bürgerlich­ keit. Gesellschaftliche Klubs, kulturelle Vereinigungen und Bildungsvereine hielten weiterhin die persönlichen Beziehungen aufrecht, auf die sich libera­ les Handeln gründete. In diesen Vereinen trafen sich Männer, um Meinun­ gen auszutauschen, Formen der Zusammenarbeit zu entwickeln und Füh­ rungspersönlichkeiten auszuwählen. Freilich war die Form dieses liberalen Vereinslebens zum großen Teil von den Staaten vorgegeben, deren Reprä­ sentanten die Existenz eindeutig politischer Organisationen nicht toleriert 37 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

hätten. Aber die kulturelle Ausrichtung dieser Institutionen war auch ein Spiegelbild der fortgesetzten liberalen Identifizierung von Politik und Bil­ dung, von öffentlichem Handeln und moralischer Reform. »Volksbildung« ist »Volksbefreiung«, erklärte ein Zeitgenosse, während ein anderer die Revolution von 1830 als Frucht der »langsam aber sicher gereifte[n] Bildung in Europa« ansah. Und wenn Liberale ihre Bewegung auf eine breitere gesellschaftliche Basis stellen wollten, taten sie dies meistens durch Bil­ dungsvereine, also Organisationen, die sich der Verbreitung bürgerlicher Tugenden und liberaler Ideale unter den ihnen würdig erscheinenden Ange­ hörigen der niedrigeren Schichten verschrieben hatten.16 Liberale sahen in ihrer Bewegung nicht nur eine politische Alternative. Wie die Bürgerlichkeit wurde auch der Liberalismus von seinen Anhängern als ein universelles System betrachtet - als die einzig legitime, vernünftige und fortschrittliche Reaktion auf die Probleme der modernen Gesellschaft. Liberale vertraten keine Sonderinteressen, sie sprachen im Namen des All­ gemeinwohls; Liberale vertraten keine bestimmte Meinung, sie repräsen­ tierten die aufgeklärte Meinung als solche; der Liberalismus verkörperte nicht eine Partei unter anderen, sondern die Partei der Bewegung, des Fortschritts und der Zukunft. D er Liberalismus sprach deshalb für das Volk und zum Volk, zur Nation, auf der sein Anspruch auf Allgemeingültigkeit letztlich beruhte. Der Liberalismus, schrieb Paul Pfizer einmal, vertritt, was das Volk »will oder wollen muß« - ein Beispiel für die für den Liberalismus wie auch für die Bürgerlichkeit typische Neigung, empirische und normati­ ve Kategorien zu verschmelzen.17 Im Liberalismus wie auch in der Bürgerlichkeit war die Universalität begrenzt. Beispielsweise beanspruchten die Liberalen für sich, »das eigentli­ che Volk«, wie sie es manchmal nannten, zu repräsentieren, und meinten damit all jene, die eine Kombination aus gesellschaftlichen und moralischen Bedingungen erfüllten. D ieses ›eigentliche Volk‹ setzte sich aus Angehöri­ gen des Mittelstandes zusammen, der selbst eine Kategorie darstellte, in der gesellschaftliche und geistige Faktoren eine Rolle spielten. Um dazuzugehö­ ren, mußte man bestimmte biologische, geistige und gesellschaftliche Be­ dingungen erfüllen: die ersten beiden Bedingungen machten keine Pro­ bleme, die erste, weil sie unmißverständlich und dauerhaft war (Erwachsen­ sein und männliches Geschlecht), die andere, weil sie vage und dehnbar war (moralische Rechtschaffenheit und intellektuelle Unabhängigkeit), aber die dritte geriet zum Gegenstand endloser D ebatten. D ie Liberalen waren zu­ tiefst zerstritten darüber, wie man gesellschaftliche und wirtschaftliche Un­ abhängigkeit messen sollte, stimmten jedoch darin überein, daß zwischen dem eigentlichen Volk und dem Pöbel eine Grenze gezogen werden mußte, da die geistige und physische Abhängigkeit des letzteren ihn zu einem möglichen Instrument von Tyrannei und Revolution machte.18 Diese Spannung zwischen Universalität und Exklusivität war ein Kerne­ lement liberaler Theorie und Praxis. Dies läßt sich besonders deutlich an den

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liberalen Ansichten zur Stimmrechtsfrage ablesen, doch in der einen oder anderen Form begegnen wir ihr bei fast allen liberalen Versuchen, eine gesellschaftliche Basis für die liberale Bewegung zu definieren und zu vertei­ digen. In umfangreichen und komplexen politischen Abhandlungen, auf der politischen Bühne der repräsentativen Institutionen und - was vielleicht am bedeutsamsten war - in der Alltagswelt der örtlichen Vereine unternahmen Liberale den Versuch, die Kluft zwischen dem eigentlichen Volk und dem Rest der Nation zu verstehen und zu überbrücken.

3. Bürgerlichkeit, Liberalismus und das Kaiserreich In groben Umrissen ist die Geschichte der liberalen Bemühungen zur Über­ brückung dieser Kluft einigermaßen klar. Bis zu den 1870er Jahren verzeich­ nen wir eigentlich nur Erfolge; danach litt der Liberalismus an einer inneren Zersplitterung und an einem plötzlichen relativen Verlust von Popularität. Trotz eines anhaltenden liberalen Einflusses in einigen Gebieten und trotz der Tatsache, daß die Liberalen in der Lage waren, einen konstanten Teil ihrer Wählerschaft an sich zu binden, kommen wir nicht um die Feststellung herum, daß die Bewegung gegen Ende des Jahrhunderts von Unsicherheit und Spaltung geprägt war und sich auf dem politischen Rückzug befand. Bei den letzten Reichstagswahlen hing das Fortbestehen der liberalen Partei auf der nationalen Ebene von Bündnissen mit größeren, stabileren und dynami­ scheren politischen Formationen ab. D er Spielraum der Liberalen für ein unabhängiges Handeln wurde immer enger. Bis vor kurzem neigten die meisten Historiker dazu, diesen Niedergang als Teil eines breiteren und umfassenderen Versagens bürgerlicher Werte und Institutionen im Deutschland des 19. Jahrhunderts zu deuten. Auf verschie­ dene Art und aus unterschiedlichen Perspektiven haben Ralf D ahrendorf, Fritz Fischer und Hans-Ulrich Wehler zu zeigen versucht, daß das Schicksal des Liberalismus die spezifischen Schwächen des deutschen Bürgertums widerspiegelte. Ich selber folgte diesem Ansatz, als ich meine Geschichte des Liberalismus mit einem Kapitel über »Liberalism in an Illiberal Society« begann. In den letzten Jahren wurde diese Position von David Blackbourn und Geoff Eley angegriffen, die von einer »lautlosen bürgerlichen Revolu­ tion« in den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Institutionen sprechen. Auch Thomas Nipperdey stellt in Frage, ob das Kaiserreich eine bloße »Untertanen-Gesellschaft« war. 19 Lassen Sie mich mit ein paar Überlegun­ gen zu dieser Debatte schließen. Eine Bemerkung vorab: Wann immer wir versuchen, die charakteristi­ schen Eigenschaften einer komplexen Gesellschaft zu bestimmen, ergeht es uns wie den sprichwörtlichen Blinden, deren Beschreibung eines Elefanten davon abhing, welchen Teil des Tiers sie gepackt hatten. Unsere Beschrei39 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

bung des Kaiserreichs wird weitgehend davon geprägt, worauf wir unser Augenmerk richten. Außerdem - und da ergeht es uns nicht anders als jenen Blinden - sind wir meist nicht in der Lage zu erkennen, ob oder gar wie das, was wir untersuchen, in ein größeres Ganzes paßt. Im folgenden möchte ich untersuchen, inwieweit das Kaiserreich die Werte und Überzeugungen übernahm, die zuerst in der Kultur der Bürger­ lichkeit formuliert und dann von der liberalen Bewegung umgestaltet und weitergegeben wurden. D ies wäre meines Erachtens ein wichtiger Ansatz­ punkt für unser Thema und zur Bestimmung unserer Kriterien für die Beurteilung der geschichtlichen Erfahrungen D eutschlands. Das stärkste Argument für den Fehlschlag des Liberalismus wird deutlich, wenn wir die Kommandospitzen des politischen und strategischen Entschei­ dungsapparats betrachten: die unverantwortete Autorität des Kaisers, die beständige Einflußnahme aristokratischer Eliten und die Immunität militä­ rischer Institutionen gegenüber einer politischen Kontrolle. Von Anfang an hatte die liberale Linke diese politischen Aspekte des Kaiserreichs kritisiert. Es bringt keinerlei Vorteil, diese Probleme zu unterschätzen bzw. ihre Auswirkungen auf die aktive Politik zu übersehen, besonders in den Jahren unmittelbar vor 1914. Dazu wäre jedoch anzumerken, daß nur einige weni­ ge der liberalen Kritiker des Kaiserreichs ein parlamentarisches System wünschten. D ie meisten lehnten die Art und Weise ab, wie solche Macht ausgeübt wurde bzw. wer sie ausübte, nicht aber die rechtliche bzw. konsti­ tutionelle Definition. So blieben sie denn auch den Traditionen des konstitu­ tionellen D ualismus treu, der für das liberale Denken von ausschlaggeben­ der Bedeutung war. Die Fragen nach dem Versagen des Liberalismus werden jedoch kompli­ zierter, wenn wir außer den Kommandospitzen andere Aspekte des politi­ schen Systems in Augenschein nehmen. Wie ich an anderer Stelle bemerkt habe, behielten die Liberalen in vielen Landesregierungen und den meisten Stadtverwaltungen eine Machtposition, denn sie beherrschten dort Politik und Verwaltung bis weit ins 20. Jahrhundert. Ebenso wichtig ist der Einfluß liberaler Werte auf das Rechtssystem, ein Problem, dem die meisten Histori­ ker, die sich mit dem deutschen Liberalismus beschäftigen, ich eingeschlos­ sen, zuwenig Beachtung geschenkt haben. Von den rechtlichen Reformen des späten 18. Jahrhunderts angefangen bis hin zum Bürgerlichen Gesetz­ buch und zum Handelsgesetzbuch, die nach der Reichsgründung entstan­ den, ist das Recht immer ein Instrument zur Verwirklichung der Ideale von Bürgerlichkeit und Liberalismus sowohl in der öffentlichen als auch in der privaten Sphäre gewesen. Es gab freilich auch illiberale Elemente im deut­ schen Rechtssystem, z. B. die Art von Beziehungen, denen wir in der sogenannten Gesindeordnung begegnen, in der von liberalen Grundsätzen einfach nicht die Rede sein konnte. Trotzdem stützte sich das Rechtssystem auf Begriffe wie Besitz, Vertrag, rechtliche Gleichstellung und gesellschaft­ liche Freiheit, die in der idealen Vorstellung der Liberalen von der bürgerli40 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

chen Gesellschaft eine tragende Rolle spielten. So sind denn auch die wesent­ lichen Elemente der bürgerlichen Gesellschaft ohne die, wie Blasius sie nennt, »bürgerliche Identität verbürgende Kraft bürgerlichen Rechts« kaum vorstellbar.20 Schließlich sind Marktwirtschaften nicht Teil der natürlichen Ordnung, sondern erfordern rechtliche, administrative und politische Grundlagen, die nur durch die Macht des Staates geschaffen und erhalten werden können. Viele Zeitgenossen waren überzeugt, daß die in der bürgerlichen Gesell­ schaft geltenden formalen und informellen Bestimmungen allmählich alle gesellschaftlichen Beziehungen erfassen würden. Niemand erkannte dies mit größerer Klarheit, aber auch im Verbund mit vielen Befürchtungen, als W. H. Riehl, der, indem er seine Untersuchung über die deutsche Gesell­ schaft »D ie bürgerliche Gesellschaft« betitelte, offensichtlich die Validität des bürgerlichen Anspruchs auf Allgemeingültigkeit erkannt hatte. »D as Bürgertum«, so glaubte Riehl, »ist unstreitig in unseren Tagen im Besitze der überwiegenden materiellen und moralischen Macht. Unsere ganze Zeit trägt einen bürgerlichen Charakter.«21 In den 1850er Jahren, als Riehl dies schrieb, war der wirtschaftliche und gesellschaftliche Triumph der bürgerli­ chen Gesellschaft kaum noch zu übersehen. Und wieder erleben wir diesen Triumph vor dem Hintergrund der entsprechenden Erwartungen des 18. Jahrhunderts: der Abbau traditioneller Handels- und Geschäftsbeschrän­ kungen und eine Mobilität, die von einem beispiellosen Wachstum an Pro­ duktivität begleitet war. Gleichzeitig wurde die Mitwirkung am öffentli­ chen Leben und die Position in der gesellschaftlichen Hierarchie immer stärker vom Besitz abhängig, und ererbte Stellung und Bräuche traten in den Hintergrund. Ob man wählen konnte und - so in Preußen, aber auch in anderen Ländern und in vielen Städten - wieviel die Stimme, die man abgab, zählte, wurde von wirtschaftlichen Faktoren bestimmt. D ieses auf Wettbe­ werb, Vertrag und kommerzieller Stärke aufbauende gesellschaftliche Sy­ stem war wohl die deutlichste Manifestation der »lautlosen bürgerlichen Revolution« in Deutschland. Viele Zeitgenossen waren zudem überzeugt, daß Bürgerlichkeit auch im kulturellen Bereich die Oberhand gewonnen hatte. Als Heinrich von Treitschke beispielsweise schrieb, daß »D eutschland vor allen anderen Völ­ kern ein Land des Mittelstandes [war]«, meinte er das »sittliche Urtheil und Kunstgeschmack«, die im 18. Jahrhundert zu beherrschenden Faktoren wurden.22 Gleich welche Kriterien wir anlegen, in der Zeit, die zwischen Lessing und Treitschke liegt, gewinnen die mit Bürgerlichkeit assoziierten Vorlieben und Werte zunehmend an Einfluß. D ie Vorlieben und Werte des höfischen Adels, die noch in den 1750er Jahren die Hochkultur weitgehend geprägt hatten, waren praktisch verschwunden; die Monarchen des 19. Jahr­ hunderts, die als Kunstmäzene auftraten, taten dies im Namen bürgerlicher Kunst und Künstler. D ie Volkskultur des Dorfes und der Gilde lebte fort, aber auch hier war der Einfluß von Bürgerlichkeit spürbar. Und die Instru41 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

mente dieses Einflusses entsprachen weitgehend den Erwartungen seiner Befürworter im 18. Jahrhundert. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren die deutschen Schulen durch den Fortschritt im Bildungswesen zum Gegen­ stand von Bewunderung und Nachahmung auf der ganzen Welt geworden. Gleichzeitig hatte sich die öffentliche Sphäre ausgedehnt und an Freiheit gewonnen: zeitlich gesehen beobachten wir eine enorme Steigerung in der Anzahl und Verschiedenartigkeit von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern. Trotz dieser Erfolge im Recht und in der Kommunalverwaltung, in den gesellschaftlichen Beziehungen und im kulturellen Leben litt das Kaiserreich auch weiterhin an einem, wie wir es nennen könnten, Defizit an Bürgerlich­ keit und Liberalismus. Eine Reihe der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Konflikte mit dem Reich entstanden aus den Bemühungen der liberalen Bewegung, ihre Vision eines bürgerlichen Rechts, einer bürgerli­ chen Gesellschaft und einer bürgerlichen Kultur voll zu verwirklichen. Fast ebenso wichtig sind hier aber auch eine Reihe von Auseinandersetzungen über den Sinn und die Anwendung liberaler Grundsätze im Recht, in der Gesell­ schaft und der Kultur. Das war wohl auch David Blackbourns Argument, als er schrieb, daß »das Hauptproblem der bürgerlichen Gesellschaft in Deutsch­ land nicht ihre Abwesenheit, sondern ihre D oppeldeutigkeit war«. 23 Ob­ gleich ich Blackbourns Überzeugung, daß dies das Hauptproblem war, nicht teile, glaube ich doch, daß uns seine Analyse zu Recht mahnt, daß sich die Konflikte im Kaiserreich nicht aufeinen Zweikampf zwischen Fortschritt und Reaktion, zwischen den Kräften der Bewegung und den Verfechtern von Rückständigkeit reduzieren lassen. Die »D oppeldeutigkeiten« (ambiguities), wie Blackbourn sie nennt, und was ich als die Spannungen bzw. Widersprüche in der liberalen Sicht von Gesellschaft und Kultur beschreiben würde, ziehen sich wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte des Kaiserreichs. Sie finden ihre klarste theore­ tische Formulierung in der Arbeit von Max Weber, dessen Unterstützung für liberale Grundsätze stets durch die Erkenntnis eingeschränkt wurde, daß daraus sowohl Emanzipation als auch Zwang erwachsen könnte. So brachte die Reduzierung von gesellschaftlichen Beziehungen auf eine Reihe von formal freiwilligen Verträgen keinesfalls immer einen universellen Nutzen: Inwieweit dadurch nun auch im praktischen Ergebnis eine Zunahme der individuellen Freiheit in der Bestimmung der Bedingungen der eigenen Lebensführung dargeboten worden oder inwieweit trotzdem, und zum Teil vielleicht in Verbindung damit, eine Zunahme der zwangsmäßigen Schematisierung der Lebensführung eingetreten ist, dies kann durchaus nicht aus der Entwicklung der Rechtsformen allein abgelesen werden. Denn die formal noch so große Mannigfaltigkeit der zulässigen Kontrakt­ schemata und auch die formale Ermächtigung, nach eigenem Belieben unter Absehen von allen offiziellen Schemata Kontraktinhalte zu schaffen, gewährleistet an sich in keiner Art, daß diese formalen Möglichkeiten auch tatsächlich jedermann zugänglich seien. Dies hindert vor allem die vom Recht garantierte Differenzierung der tatsächli­ chen Besitzverteilung.24 42 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Eine ganz ähnliche Aussage ließe sich über die Verfügbarkeit bürgerlicher Kultur machen, die auch, wie eine effektive gesellschaftliche Freiheit, auf jene beschränkt war, die über die notwendigen Mittel verfugten, um an den angeblich universellen Möglichkeiten teilzuhaben. Und so wie eine vertrag­ lich geregelte Freiheit die Herrschaft der Starken über die Schwachen legiti­ mieren konnte, legitimierte auch die Schaffung eines standardisierten freien Bildungssystems die Privilegien und die Macht bestimmter Gruppen auf Kosten anderer Gruppen.25 Wir sind hier an einem Punkt unserer Untersuchung angelangt, der uns weit vom ursprünglichen Thema abbringen würde. Lassen Sie mich mit zwei abschließenden Bemerkungen zum eigentlichen Gegenstand unserer Diskussion zurückkehren: Erstens meine ich, daß viele der Konflikte und Belastungen, unter denen das Kaiserreich litt, weniger von dem Kampf zwischen Befürwortern und Gegnern der Bürgerlichkeit herrührten, als von Auseinandersetzungen über Bedeutung und Relevanz des bürgerlichen Weltbildes. D iese zuletzt genannten Auseinandersetzungen verweisen auf eine meiner Ansicht nach grundliegende Spannung innerhalb der Bürger­ lichkeit, und zwar zwischen Universalität und Einschränkung, zwischen dem Wunsch, ein für alle Menschen gültiges Wertesystem zu proklamieren, und der Neigung, diese Werte nur mit denjenigen zu identifizieren, die bestimmten gesellschaftlichen und moralischen Ansprüchen genügen. Zweitens meine ich, daß diese Auseinandersetzungen, auch wenn sie spezi­ fisch deutsche Züge trugen, keinesfalls nur auf D eutschland beschränkt waren, sondern überall dort anzutreffen waren, wo eine bestimmte Variante des bürgerlichen Weltbildes eine beherrschende Rolle spielte. Die Frage, wie gut oder wie schlecht eine Gesellschaft mit diesen inneren Spannungen des bürgerlichen Weltbildes umzugehen weiß, gibt uns eine Möglichkeit, die Probleme des deutschen Kaiserreichs aus einer anderen Perspektive zu be­ trachten und sie mit entsprechenden Problemlagen in anderen Ländern zu vergleichen.

Anmerkungen * Mit diesem Vortrag wurde die Liberalismus-Tagung eröffnet. D er Vortragsstil wurde für den D ruck beibehalten. Deutsche Übersetzung von Adelheid Baker. 1 Λ. Cobban, Aspects of the French Revolution, New York 1968, S. 270. 2 Miss Sara Sampson, 1. Akt, 3. Szene. Norton, der treue Diener von Mellefont, sagt dies zu seinem unglücklichen Herrn. 3 (Anonym], Vom bürgerlichen Trauerspiele, zuerst veröffentlicht 1755, nachgedruckt in Karl Eibls Ausgabe von Miss Sara Sampson, Frankfurt 1971, S. 187. 4 Chr. Garve, Über Gesellschaft und Einsamkeit, Breslau 1797-1800), Bd. 1, S. 2. W. Rup­ perts, Bürgerlicher Wandel, Frankfurt/New York 1981 gibt eine gute Einführung in die Ent­ wicklungen, an die ich hierbei denke.

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5 Christian Wilhelm D ohm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin/Stettin 1781. Meine Interpretation von Dohms Verbesserungskonzept stützt sich weitgehend auf die Arbeiten von R. Rürup, vgl. z. B. seinen Aufsatz, The Tortuous Path to Legal Equality, in: Leo Baeck Institute, Yearbook 1986, S. 3-34. 6 M. Mendelssohn, Über die Frage: Was heißt aufklären?, in: ders., Schriften zur Philosophie, Ästhetik und Apologetik, Hildesheim 1968, Bd. 2, S. 246f. 7 Hierzu ist der Locus classicus natürlich R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revo­ lution, Stuttgart 1967 u. ö. 8 Für eine Zusammenstellung der D aten über die Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts vgl. H. Kiesel u. P. Münch, Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert, München 1977. 9 Zitiert in: R. Vierhaus, Aufklärung und Freimaurerei in D eutschland, in: R. v. Thadden u. a. (Hrsg.), Das Vergangene und die Geschichte, Göttingen 1973, S. 26. 10 Zitiert in: G. Erning, Das Leben und die Lesewut, Bad Heilbrunn 1974, S. 116. 11 M. Mendelssohn, S. 246. Kant, zitiert von M. Riedel, Bürger, Staatsbürger, Bürgertum, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, S. 696. In »Über den Gemeinspruch: D as mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis« (1793) teilte Kant »den bürgerlichen Zustand . . . bloß als rechtlicher Zustand betrachtet« in drei Grundsätze: »D ie Freiheit jedes Gliedes der Sozietät, als Menschen. D ie Gleichheit . . . als Untertan. D ie Selbständigkeit . . . als Bürger.« Nur die in der letztgenannten Kategorie waren aktive Mitwirkende, in Kants Worten »Mitgesetzgeber«. 12 Zitiert in: Sheehan, Der deutsche Liberalismus, München 1983, S. 23. 13 K. Biedermann, Deutschland im 18. Jahrhundert, 1857, Vorwort zu Bd. 2, Teil 1, S. VIII. 14 D ie jüngste D iskussion über die gesellschaftliche Zusammensetzung des Liberalismus findet sich in dem Themenheft: »La Bourgeoisie allemande« von: Le Mouvement social, Nr. 136, Juli-September 1986. Besonders interessant ist der Aufsatz von J. Droz. Meine eigenen Ansichten finden sich in Kap. 1, Teil 2 von: Der deutsche Liberalismus. 15 Falkson, D ie liberale Bewegung in Königsberg, 1840-1848, Breslau 1888, S. 70f. 16 Zitiert nach Sheehan, S. 22. Würde ich dieses Kapitel von »D er deutsche Liberalismus« neu schreiben, würde ich die vom Bildungsaspekt bestimmten Einstellungen der Liberalen zum öffentlichen Leben viel ernster nehmen. Ich vermute, daß die Grenzen ihrer Bewegung - und die Grenzen ihrer Unterstützung im Volk - den kulturellen wie auch gesellschaftlichen und politischen Trennlinien entsprachen. 17 Staatslexikon (Erstausgabe), Bd. 9, S. 714. 18 Vgl. hierzu Sheehan, Kap. 1. 19 D . Blackbourn u. G. Eley, The Peculiarities of German History, Oxford 1984. Nipperdeys Aufsatz ist nachgedruckt in: Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1986. Hehler befaßt sich mit den hier und in anderen Werken angeschnittenen Fragen in seinem Aufsatz: Wie bürgerlich war das Deutsche Kaiserreich?, in J. Kocka (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 243-280. 20 D ie Arbeiten von D . Blasius sind für das Verständnis der Rolle des Rechts bei der Schaffung der bürgerlichen Gesellschaft von besonderer Relevanz, vgl. z. Β. Bürgerliches Recht und bürgerliche Identität, in: H. Berding (Hrsg.), Vom Staat des Ancien Regime zum modernen Parteienstaat, München/Wien 1978. 21 Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft hrsg. von P. Steinbach, Frankfurt 1976, S. 153. 22 Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1, Leipzig 1882, S. 88. 23 Blackbourn, in: Blackbourn u. Eley, S. 206. 24 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Ausg., Tübingen 1976, Bd. 2, S. 439. 25 Zu den Widersprüchen bürgerlicher Kultur vgl. P. U. Hohendahl, Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus, 1830-1870, München 1985.

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BARBARA VOGEL

Beamtenliberalismus in der Napoleonischen Ära

Ob die Träger der Reformpolitik in den deutschen Einzelstaaten des frü­ hen 19. Jahrhunderts Liberale gewesen seien, ist eine unentschiedene Fra­ ge. Sie kann auf sich beruhen bleiben, wenn es um die Analyse von Inten­ tion und Wirkung der Reformpolitik geht, obwohl das historische Urteil über den Stellenwert der »partiellen Modernisierung« und der ihr voraus­ gehenden Reformpläne letztlich davon beeinflußt ist, ob es um eine Stabi­ lisierung des aufgeklärten absolutistischen politischen Systems oder um­ gekehrt um dessen Überwindung ging: wirkte in der Bürokratie mehr ein »Geist des 18. Jahrhunderts« oder eine Vision des »bürgerlichen« 19. Jahr­ hunderts als scheinbare Alternativen. Für eine Typologie der Erschei­ nungsformen des Liberalismus jedoch kann die Frage nach dem politi­ schen Standort der Reformbeamten nicht ausgeklammert werden, weil der Nachweis eines spezifischen Beamtenliberalismus in der Periode vom späten 18. Jahrhundert bis zum Ende der Napolconischen Ära das mögli­ che Deutungsspektrum des Liberalismus erweiterte. Der Begriff Beamtenliberalismus bedarf einer Erklärung, soll er nicht unnötige Mißverständnisse provozieren: Bürokratische Reformen und Li­ beralismus miteinander in Verbindung zu bringen, heißt nicht, den ge­ samten Komplex von Reformen mit dem Etikett liberal zu versehen. Re­ formen entsprangen und entspringen auch aus nichtliberalen Absichten. Überdies beschreibt sich die Reformpolitik in der Napoleonischen Ära eher als die dramatische Geschichte des Scheiterns von Reformen als strahlender Erfolge. An der Formulierung und D urchführung der Re­ formgesetze wie bei der Ausarbeitung von Mechanismen, um den Erfolg einzelner Reformmaßnahmen zu vergrößern (oder zu verhindern), waren überall, in Preußen und in den Rheinbundstaaten, verschiedene soziale Gruppen und innerhalb der Bürokratie Personen höchst unterschiedlicher politischer Einstellung und biographischen Hintergrunds beteiligt. Es kann deshalb nur um die Frage gehen, ob einige wichtige von ihnen, deren politischer Standort genauer zu beschreiben wäre, Liberale genannt werden können und ob diese Liberalen Richtung und Ziel der Reformpo­ litik beeinflußt haben. D er Ausdruck »Beamtenliberalismus« impliziert die Vermutung, daß der Status als »Staatsdiener« den politischen Grund­ sätzen und der Weitsicht der liberalen Beamten eine besondere Färbung 45

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gegeben hat, die sie von liberalen Wirtschaftsbürgern, Landadeligen oder Handwerkern unterschied. Um die These zu prüfen, daß sich in den bürokratischen Apparaten der Einzelstaaten ein früher, originärer Liberalismus etablierte und ob es unter den Beamten solche gab, deren politisches Handeln einem liberalen Pro­ gramm verpflichtet war, werden im folgenden zwei Wege eingeschlagen: Erstens sollen einige Überlegungen die Bedingungen der Möglichkeit für einen Beamtenliberalismus klären helfen. D iese Frage ist von besonderer Bedeutung, weil als ein allgemeines Merkmal des Liberalismus seine »Staatsferne« gilt. Liberale Opposition richtete sich gegen den allmächtigen Staat; dessen Allzuständigkeit wurde bestritten, statt dessen die Freiheit des bürgerlichen Individuums propagiert. D ie Beamten aber handelten aus dem Anspruch heraus, Repräsentanten des Staates zu sein und behaupteten im Konfliktfall entschieden die Priorität staatlicher Verfügungsgewalt. Zwei­ tens soll exemplarisch ein Gesellschaftsmodell des Beamtenliberalismus vorgestellt werden. Grundlage des Entwurfs bilden die D enkschriften des preußischen Staatsbeamten Christian Friedrich Scharnweber, der in den Jahren 1810 bis 1820 Richtung und Zielsetzung der preußischen Politik maßgeblich beeinflußte. Scharnwebers Gesellschaftsmodell orientierte sich weder am Leitbild einer klassenlosen Bürgergcsellschaft mittlerer Existen­ zen,1 noch läßt es sich auf den Nenner einer Klassenideologie des kapitalisti­ schen Wirtschaftsbürgertums2 bringen. Gleichwohl war es antiständisch, antiabsolutistisch und basierte auf den Prinzipien der bürgerlichen Gesell­ schaft, wie individuelle Selbständigkeit, Freiheit und Leistungsfähigkeit.

I. Es könnte für die Liberalismusdiskussion hilfreich sein, Karl Mannheims zur Analyse des Konservatismus vorgenommene Unterscheidung zwischen ei­ ner allgemeinmenschlichen D enkhaltung, bestimmten politisch-sozialen Wertvorstellungen einerseits und einem »Handeln im Sinne eines objektiv vorhandenen Strukturzusammenhangs« andererseits zu übernehmen.3 Wie Mannheim begrifflich und sachlich zwischen Traditionalismus und politi­ schem Konservatismus trennt, so ließe sich Liberalismus als politische Handlungsdoktrin von »liberaler D enkungsart« abgrenzen. Liberalität oder - in der Sprache des frühen 19. Jahrhunderts - »liberale Denkungsart« wäre als ein Denk- und Verhaltenskanon zu verstehen, der seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Gebildeten und von hier sich ausbreitend andere soziale Schichten erfaßt und seitdem die politische Kultur des »Westens« nachhaltig geprägt hat.4 Es müßte noch im einzelnen erforscht werden, in welchem Ausmaß im Vormärz politisch-soziale Begriffe mit liberalen Inhalten besetzt wurden, so daß vom Sprachgebrauch nicht ohne weiteres auf politische 46 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

»Partei«zugehörigkeitgeschlossen werden kann. Auch die »bürgerlichen Tugenden« waren insofern vorpolitisch, als sie das Normensystem einer breiten Öffentlichkeit prägten und nicht zur Abgrenzung politischer Optio­ nen taugen. Dagegen sollte Liberalismus die sich abhängig von der besonde­ ren Struktur und Eigenart einer Epoche und einer Region in politischem Wollen und Handeln funktionalisierende »liberale Denkungsart« bezeichnen. Mit dieser terminologischen Unterscheidung böte sich die Möglichkeit, den bisweilen von Konturlosigkeit bedrohten Liberalismusbegriff, insbesondere den »Vormärzliberalismus«, konkreter zu fassen, ihn gegen liberale Welt­ sicht und Philosophien abzugrenzen, um erst dadurch die Voraussetzung für interregionale und intertemporale Vergleiche politischer Bewegungen zu schaffen. Eine weitere These Mannheims wäre dann außerdem aufzugreifen: »Libe­ ral« und »konservativ« nennt Mannheim verschiedene Antworten aufstruk­ turelle politische Probleme,5 d. h. Liberalismus und Konservatismus sind aufeinander bezogen. D ie Diskussion um den vormärzlichen Liberalismus ordnet die liberale Bewegung vornehmlich in das Spannungsfeld »Staat und Gesellschaft« ein, macht die mehr oder weniger absolutistische Obrigkeit zum Gegenspieler des Liberalismus.6 Wenn Konservatismus in diesem Deu­ tungsmuster nicht schlechthin als politische D oktrin der Obrigkeit er­ scheint, bleibt er schemenhaft. Für den Vormärz besteht wenig Klarheit darüber, wer, wo und was Konservative waren. Liberal korrelativ zu kon­ servativ zu bestimmen, könnte die politischen Bewegungen klarer erkennen lassen. Eine solche Fragestellung ist geboten, weil die »bürgerliche Bewe­ gung« in Deutschland von ihrem Anfang im späten 18. Jahrhundert an vom Streit und von der Konkurrenz liberaler und konservativer Zukunftsbilder lebte.7 Es ist wenig wahrscheinlich, daß die breite bürgerliche Oppositionsbewe­ gung im Vormärz oder auch nur die bürgerliche Verfassungsbewegung über den Zusammenhang mit liberalen D enkmustern hinaus eine einheitlich liberale Bewegung gewesen sein sollte. Karl August Varnhagen von Ense, in diesen Jahren publizistischer Vertreter der Hardenbergschen Reformpolitik, bezweifelte die einheitliche Zielsetzung aller Fürsprecher einer »Konstitu­ tion«. »Unsere angeblichen Liberalen« - schrieb er im Mai 1820 in einem Artikel für die »Allgemeine Zeitung« - dürften oft von den echten Liberalen am wenigsten anerkannt werden, und sonach die Beurteilung der verschie­ denen Oppositionen oder der sich so nennenden Bemühungen mit Behut­ samkeit zu stellen sein!«8 Der Begriff »Fundamentalpolitisierung« bezeichnet offensichtlich vor­ sichtiger und treffender die politische Mobilisierung, die sich im Zuge der französischen Revolution, der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation durch Napoleon und der preußischen und rheinbündi­ schen Reformpolitik ausbreitete.9 Viele zeitgenössische Stimmen geben die beunruhigende Erfahrung allgemeiner Politisierung wieder, ohne daß damit 47 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

schon eine Aussage über Inhalte und Richtungen dieser Aufbruchstimmung verbunden gewesen wäre. Der preußische Staatsminister Altenstein erklärte hieraus die hochgehenden Wogen der öffentlichen Meinung und den Geist allgemeiner Widersetzlichkeit, den er ausdrücklich nicht pauschal als »revo­ lutionäre Umtriebe« interpretiert wissen wollte. Den tieferen Grund für die vom König gerügten Erscheinungen (denen die Vormächte des Deutschen Bundes dann im Zeichen der Restauration mit Repression zu begegnen suchten) sah Altenstein im »Wesen der Zeit«: »Es läßt sich nicht leugnen, daß sich eine allgemeine Teilnahme aller Völker für Wahrheit, Recht, Religion über die Grenzen einzelner Staaten hinaus gebildet hat. D ie Zeit hat viel Großes und Neues nicht [nur] in einem Lande, sondern in der Welt gestaltet und soll es noch ferner«.10 Zur D isposition und D iskussion standen - aus verschiedenen, einander wechselseitig beeinflussenden Gründen - Regierungssystem, Rechtsord­ nung und Gesellschaftsverfassung, über die im Rückgriff auf verschiedene philosophische Lehren und Weltanschauungen debattiert wurde.11 Zugleich erzwangen die alle bisherigen Erfahrungen übersteigenden Kosten der Na­ poleonischen Kriege und Kriegsfolgen eine Auseinandersetzung darüber, wie die nötigen Finanzmittel aufzubringen wären und welchen Anteil die verschiedenen sozialen Gruppen daran zu tragen haben würden. 12 D ie so­ ziale Position derjenigen, die an politischen Entscheidungen oder an der Meinungsbörse »Öffentlichkeit« beteiligt waren, ihre weltanschauliche Ausrichtung, Vorliebe für bestimmte Theorien und politisch-soziale Inter­ essenstandpunkte spalteten die Anteilnahme am öffentlichen Leben notwen­ dig von vornherein in konträre Vorstellungen darüber, wo politischer Handlungsbedarf vorhanden und wie er auszufüllen wäre. Von Anfang an lassen sich liberale und konservative D iagnosen und Lösungsvorschläge voneinander unterscheiden.13 Wegen der außerordentlichen Lasten, die allen Bevölkerungsschichten aufgebürdet wurden, verstärkte sich der Trend, Partizipationsforderungen zu erheben. D er Wunsch nach politischer Teilha­ be konnte zum Programm erhoben werden. Ein eindeutiges Kriterium für Liberalismus bildet die Forderung nach einer »Verfassung« jedoch nicht. Der Anspruch, daß mitreden will, wer zahlen muß, war den alten Landstän­ den wohl vertraut. D a die Ausgangslage für informelle oder formelle Ein­ flußnahme auf politische Entscheidungsprozesse unter den sozialen Ständen differierte, der Adelsstand und ständische Korporationen zum Beispiel be­ trächtlich größere Durchsetzungschancen besaßen als die »eximierten Bür­ ger«, die ihnen fehlende Organisationsstrukturen durch gesellige Vereine und Assoziationen auszugleichen versuchten, ist es schwierig, Einblick in etwaige Fraktionierunesprozesse zu gewinnen. »Parteipolitisch« relevant wurde die Vielfalt an Meinungen und Zielvor­ stellungen zuerst in den Kreisen, die formell zur Partizipation berechtigt oder aufgerufen waren. Hier schlossen sich die Träger übereinstimmender oder ähnlicher Ansichten in Zirkeln, Klubs oder Fraktionen, mehr oder 48 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

weniger organisiert, zusammen, um politische Willensbildung und Gesetz­ gebung in der Regierung zu beeinflussen. Orte geregelter Partizipation im frühen 19. Jahrhundert waren die Volksvertretungen aufgrund der frühkon­ stitutionellen Verfassungen und die fürstliche Beamtenschaft, die Gesetze und Verordnungen der Landesherren vorzubereiten hatte. Im Gegensatz zu Funktion und Arbeitsweise der Volksvertretungen sind die Meinungsbil­ dungs- und Entscheidungswege innerhalb der Bürokratie, die an Machtfülle und Kompetenzen immerhin die Volksvertretungen überragte, vereinigte sie doch Gesetzgebungsfunktionen und Exekutive auf sich, noch kaum erforscht. D ie Rechtsnatur der Bürokratie als weisungsgebundenes Instru­ ment der Fürsten hat die Aufmerksamkeit für die Kommunikationsstruktu­ ren innerhalb des Beamtenstands, für die sich unter den Beamten ausbilden­ den Geselligkeitsformen, in den Hintergrund treten lassen. Tatsächlich ist es aufschlußreich, Volksvertretungen und Bürokratie auf­ grund ihrer vergleichbaren Merkmale zu parallelisicren. Der Vergleich kann nicht deshalb illegitim sein, weil beide Institutionen verfassungsrechtlich verschiedenen Bereichen zuzurechnen sind. Nach dem Gewaltenteilungs­ prinzip repräsentierten Volksvertretungen und Beamtenapparate allerdings zwei konträre Gewalten; aber in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und, den Bedingungen der konstitutionellen Monarchie entsprechend, weit dar­ über hinaus lag die Legislative gemeinsam bei der Krone, d. h. faktisch bei der Bürokratie, und der Volksvertretung. D ie größere Kompetenzfülle sprach das politische System des Frühkonstitutionalismus der Bürokratie zu. In vorkonstitutionellen Staaten, wie z. B. in Preußen, blieb die Legislati­ ve ausschließlich der Bürokratie vorbehalten. Verfassungsgeschichtlich lassen sich zwei verschiedene - im historischen Ablauf nicht trennbare - Entwicklungslinien des Parlamentarismus nach­ zeichnen: zum einen der sich im Konflikt von absolutem Herrscher und Ständen manifestierende Freiheitsanspruch der Stände gegenüber dem Für­ sten und seinem Staatsdienerapparat14 und zum zweiten die aufgeklärtem Denken entspringende Forderung nach optimaler auf D iskurs mündiger Bürger beruhender Regierungsweise. 1809 fand diese Vorstellung in einen Paragraphen des »Einrichtungsplans für die gesamte Gesetzgebungssek­ tion« Eingang: »D er Zeitgeist und die Lage des preußischen Staats macht es dringend ratsam, daß die Regierung die Nation in sich aufnehme und ihre Intelligenz durch eine Stellvertretung um sich versammle. Eine solche Re­ präsentation ist also das Bessere, worauf hingearbeitet werden muß, und die jetzige Anordnung von ständischen Repräsentanten in der Gesetzgebung und Verwaltung nur eine Vorbereitung dazu, ein Übergang, ein Interimisti­ kum«. 15 Der Ausbau des bürokratischen Apparats im späten 18. Jahrhundert und nach 1806 die Reorganisation der Verwaltung mit geregeltem bürokrati­ schem Geschäftsgang und kollegialischer Entscheidungsfindung in den deutschen Einzelstaaten waren Schritte auf dem Wege, den Kreis der für 49 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Gesetzgebung und Verwaltung Verantwortlichen zu erweitern und die abso­ lute Gewalt des Herrschers zu beschränken. In diesen Zusammenhang gehö­ ren die vielen zeitgenössischen Aussagen über den hohen, die fehlende Verfassung kompensierenden Wert der Verwaltung. D ie Beamtenschaft repräsentierte den intelligenten Teil der Nation gegenüber dem Landesher­ ren. In Preußen - so drückte es der preußische Staatsminister Beyme aus war die Verwaltung »so geordnet, daß sie dieselben Wirkungen hervor­ brachte, die in anderen Staaten der Volksrepräsentation zugeschrieben wer­ den«. 16 Sozialgeschichtlich gehörten die Mitglieder von Volksvertretungen und der Bürokratie denselben sozialen Schichten an und verstanden sich als Fürsprecher der Nation. Ein Indiz der sozialen Homogenität beider Institu­ tionen ist der bekannt hohe Beamtenanteil in den frühkonstitutionellen Parlamenten. D och grundsätzlicher läßt sich die These vertreten, daß beide Institutionen von den »oberen Ständen« besetzt waren. D ie Spitze der »oberen Stände« bildete eine sich seit dem späten 18. Jahrhundert immer deutlicher herauskristallisierende, aus adlig-bürgerlicher Symbiose wach­ sende neue Elite. Sog. Kapitalisten, d. h. Bankiers und finanzkräftige Kauf­ leute und Unternehmer, fielen zahlenmäßig noch nicht ins Gewicht, wirk­ ten aber hier und da durch ihren individuell mächtigen Einfluß. Ein anderes Profil als die Beamtenschaft erhielten die frühkonstitutionellen Kammern durch die Vertreter des mittleren gewerblichen Bürgertums. Sie besaßen in Preußen ihren Ort in den Stadtverordnetenversammlungen, können jedoch nicht als Exponenten liberaler Politik gelten. D ie Frage, wieweit das Hand­ werk oder die Handwerkerbewegung im Vormärz ein liberales politisches Potential bildete, ist in der Forschung nach wie vor unentschieden.17 Wich­ tigste Klammer der »oberen Stände« war das Bildungsprivileg.18 D er Ham­ burger Buchhändler und Verleger Friedrich Perthes unterschied zwischen Volk und Nation, indem er »Nation« den besseren, den gebildeten Teil des »Volkes« nannte.19 Noch in der Nationalversammlung wehrte sich der Mannheimer Abgeordnete, D aniel Bassermann, gegen das Wahlrecht für Arbeiter, D ienstboten und Handwerksgesellen mit dem Argument: »Wol­ len wir nicht die niederste Stufe für das eigentliche Wesen halten, so müssen wir auch diesen Begriff des Volkes verwerfen. D enn was hat der deutschen Nation von je ihre Zierde und ihren Stolz gegeben? . . . Es war doch Herder ein Geistlicher, es war doch Goethe ein Minister, und es war doch Schiller einer der geschmähten Professoren?!«20 Das Bildungsprivileg definierte die Bürokratie, beherrschte ebenso die Kammern, wenn auch aufgelockert durch ständisch hergeleiteten Vertre­ tungsanspruch. D ie prinzipielle Übereinstimmung von Volksvertretern und Beamten erstreckt sich auf ihr am »Gemeinwohl« orientiertes Selbstver­ ständnis. In ihrem Anspruch, das Interesse der Nation zu verfolgen, stellver­ tretend für die Nation zu handeln, wetteiferten Parlamente und Bürokratie miteinander - nach dem Urteil der öffentlichen Meinung durchaus unent50 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

schieden. Es gab Stimmen, die die Bürokratie für unfähig hielten, die realen Beschwernisse des bürgerlichen Lebens zu erkennen, weil sie durch ihren ökonomisch gesicherten Beamtenstatus den wirtschaftlichen Konjunkturen entrückt seien.21 Es gab andere Stimmen, die gerade in der ökonomischen Unabhängigkeit der Beamten die Gewähr ihrer Unvoreingenommenheit erblickten.22 Das Gegensatzpaar - Volksvertreter als Repräsentanten der Gesellschaft, Beamte als Repräsentanten des Staates - hat für das frühe 19. Jahrhundert nur wenig Erklärungswert. »Staat« ist nicht nur ein institutioneller, sondern auch ein sozialer Begriff, in der zeitgenössischen Sprache oft synonom mit Nation gebraucht. Er meint als Kollektivsingular die Gesamtheit der Staats­ bürger. Man ist Bürger des Staates, Untertan nur im Verhältnis zum König. ›Sorge um den Staat‹ zu tragen, als Aufgabe der Beamten, steht deshalb nicht im Widerspruch zum Liberalismus. Liberale »Staatsfeindlichkeit« richtete sich gegen die bevormundende Obrigkeit. Ähnlich war das Handeln der liberalen Beamten durch die Erfahrung geprägt, gegen den absoluten Herr­ scher Politik durchzusetzen und Freiheitsräume für die Bürger, zu denen sich die Beamten selbst rechneten, zu erweitern. Volksvertreter wie Beamte appellierten, um ihre D urchsetzungschancen zu vergrößern, an Bevölkerungskreise außerhalb ihrer selbst: die Bürokratie an die »öffentliche Meinung«, weil die Beamten erkannt hatten, daß der Erfolg von Gesetzen und Maßnahmen direkt davon abhing, ob das »Publi­ kum« von deren Nutzen und Vorteilen überzeugt war. 23 Die Volksvertreter appellierten an die Wähler nicht nur, weil sie gewählt werden wollten, sondern weil die Zustimmung der Wähler ihren politischen Wünschen höhe­ re Legitimation verlieh.24 Beide, Beamte und Volksvertreter, benutzten regelmäßig und intensiv das Pressewesen, um ihren politischen Ansichten und ihrer Kritik am bestehen­ den Regiment größtmögliche Publizität zu sichern. Während der langwieri­ gen Erörterungen im preußischen Staatsministerium, ob und welche Schrit­ te gegen den »umstürzlerischen Zeitgeist« unternommen werden sollten, gingen alle Stellungnahmen unbeschadet ihrer unterschiedlichen Vorschläge davon aus, daß die sogenannten politischen Schriftsteller, die das Feuer im Herd politischer Unzufriedenheit schürten, zum größten Teil der Beamten­ schaft angehörten.25 In Vereinen, Klubs, Salons trafen Volksvertreter und Beamte einander. D ie Assoziationen des Aufklärungszeitalters werden oft als Pflanzschulen des Parlamentarismus und der Parteien verstanden; sie übten die Bürger darin, sich mit Fragen des Gemeinwohls auseinanderzuset­ zen. Beamte stellten überall in D eutschland einen hohen Anteil an den Mitgliedern in Vereinen.26 Die Fraktionsbildungsprozesse der frühkonstitutionellen Kammern sind keineswegs abschließend, immerhin schon recht gründlich erforscht.27 Et­ waige ähnliche Fraktionierungen innerhalb der Bürokratie haben viel weni­ ger Aufmerksamkeit gefunden, schon gar nicht unter der Fragestellung nach 51 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

einer liberalen Fraktion. Ein Grund für die Ausblendung dieses Aspekts liegt in der späteren historischen Entwicklung: D ie Karlsbader Beschlüsse unter­ brachen abrupt einen spätestens seit 1806 regen Parteibildungsprozeß inner­ halb und außerhalb des Beamtenstands. Diese Aussage gilt für Konservative wie Liberale gleichermaßen.28 In der Restaurationszeit geriet der Beamtenli­ beralismus in die Defensive. Liberale Beamte standen unter Jacobinismus­ verdacht; sie wurden gemaßregelt oder in ihrer Karriere benachteiligt. Komplementär zum Erstarken einer Verfassungsbewegung gegen die re­ staurative Obrigkeit wurde der Beamtenapparat zum Instrument der mo­ narchischen Exekutive umgeformt. D ie Beamtenschaft verlor im Vormärz wie Koselleck sagt - ihre Mittlerstellung zwischen Monarch und Nation;29 d. h. sie repräsentierte nicht länger die Nation gegenüber dem König, son­ dern das »monarchische Prinzip« gegenüber der Nation. Dieser Prozeß fand in Preußen seinen Abschluß, als nach der Gegenrevolution von 1849/50 die Beamtenschaft vollends zum Gegenspieler der liberalen Kräfte im Abgeord­ netenhaus aufgebaut wurde. D er konservative Abgeordnete Hermann Wa­ gener folgerte 1856 aus der »reinen Idee des Konstitutionalismus« die unbe­ dingte Absetzbarkeit aller Beamten durch den König: »Eine Regierung, in der gesetzgebenden Gewalt durch Stände, in der Ausführung der Gesetze durch die Selbständigkeit ihrer eigenen Beamten beschränkt, wäre eine bare Nullität.«30 Bis zum Einschnitt des Jahres 1819 jedoch und mit dem Vorzeichen rapiden Einflußverlustes der Liberalen noch darüberhinaus agierten in der preußischen Bürokratie verschiedene »Parteien« neben- und gegeneinander. Als sich das Staatsministerium mit der Aufforderung des Königs, Maßnah­ men gegen den »umstürzlerischen Zeitgeist« vorzuschlagen, auseinander­ setzte, gingen alle Stellungnahmen mit Selbstverständlichkeit davon aus, daß es Parteien in der Beamtenschaft gebe, wenn auch einige Minister diese Tatsache wegen der verbreiteten Vorbehalte gegen ein Parteiwesen herun­ terzuspielen bemüht waren. Parteipolitik war immer das, was der Gegner betrieb. Staatsminister Graf Bülow suchte, diesen Parteien den Ruch des Konspirativen anzuhängen: »Ferner glaube ich-schrieb er-, daß außer dem Dienste allerdings Verbindungen von Beamten existieren, um gewisse Zwecke zu verfolgen. Es scheint, als ob gewisse Beamte sich mit halben Worten verstehen und ohne sich persönlich genau zu kennen, doch über angenommene Systeme einig sind, und gegen Grundsätze und Personen schon deshalb eine bestimmte Abneigung haben, weil sie nach ihrer Mei­ nung nicht aus der rechten Schule kommen.« 31 Aus welchen Gründen Beamte der einen oder anderen Fraktion zuneigten, muß in jedem Einzelfall biographisch untersucht werden, ehe zuverlässige Vermutungen über typische Profile liberaler oder konservativer Beamter berechtigt wären. Als sicher kann angenommen werden, daß adlige oder bürgerliche Herkunft kein hinreichendes Unterscheidungsmerkmal abgibt, ebenfalls nicht signifikant ist das Lebensalter. Eine größere Rolle als familiä52 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

re Traditionen spielen offensichtlich die Universitätsausbildung, insbeson­ dere die Wahl des Hochschulortes, und die beruflichen Laufbahnen im und vor dem Beamtenstatus. Einen wichtigen, mangels detaillierter Forschung bisher schwer abzuschätzenden Faktor stellt das individuelle Umfeld dar. Das Feld informeller Sozialbeziehungen - in welchen Kreisen und Vereinen jemand verkehrte, wer zu seinen Freunden und Gönnern zählte-beeinflußte die politischen Ansichten des Beamten und wirkte in- und außerhalb des Dienstes fraktionsbildend.32 Die liberalen Beamten waren Initiatoren und Träger der Reformpolitik, die in individuellen Freiheitsrechten aller Bürger die Voraussetzung für einen erfolgreichen Wiederaufbau des »Staates« nach 1807 erblickte. D ie Einsicht in die Notwendigkeit einschneidender Maßnahmen allein wirkte noch nicht parteibildend; der Parteiengegensatz bildete sich erst an den unterschiedli­ chen Prognosen über die weitere gesellschaftliche und politische Entwick­ lung und an den Mitteln, wie die Verhältnisse zum Besseren zu wenden seien.33 Für die Liberalen unter den Beamten gehörten als »bürgerliche Freiheit« wirtschaftliche, politische und persönliche Freiheit eng zusammen, wenn sie auch individuell unterschiedliche Akzente setzten. Gemeinsame Grundgedanken der liberalen Beamten entsprangen der Einsicht, daß die Bedingungen in Preußen für eine auf Freiheit gründende Gesellschaftsver­ fassung nur schwach entwickelt waren und es vieler flankierender Maßnah­ men für eine erfolgreiche liberale Gesetzgebung bedürfe. An dieser Zielset­ zung entzündete sich der Streit mit den Konservativen, die prinzipiell die Mach- und Planbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse bestritten. Für die Liberalen resultiert aus ihrer Reformfreude der hohe Stellenwert, den sie der Bildung zuerkannten. Hieraus erklärt sich ferner ihre Bereitschaft, eine recht »illiberale« Kontrolle über die Bürger auszuüben, damit die verkündete Vertragsfreiheit nicht benutzt wurde, sich vertraglich aufs Neue in Unfrei­ heit zu begeben. Der autoritative Erziehungsauftrag begrenzt den Freiheitsgedanken des Beamtenliberalismus. Zwar war die Neigung, zu erziehen und zu belehren, dem Liberalismus überhaupt eigen, folgte aus dem Aufklärungsgedanken, daß Menschen durch Bildung zur Mündigkeit gelangen, aber Beamte besa­ ßen aufgrund ihrer Herrschaftsgewalt institutionelle Möglichkeiten, ihren Erziehungsanspruch durchzusetzen. D ie Grenzen zwischen Erziehen und Bevormunden sind niemals eindeutig zu ziehen, sind obendrein subjektivem Urteil unterworfen. Bildung als zentrale Kategorie bürgerlicher Freiheit konstituierte die poli­ tische Elite insgesamt; es handelt sich nicht um einen ausschließlich liberalen Grundsatz. Auch Konservative beklagten den niedrigen Bildungsstand der breiten Bevölkerung; vornehmlich wehrten sie damit die politische Partizi­ pation der unteren Stände ab. Aber ihre Vorschläge, diesen »beklagenswer­ ten« Zustand zu ändern, liefen, soweit sie in der fehlenden Schulbildung nicht überhaupt einen Ausfluß der »natürlichen« Ordnung sahen, darauf 53 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

hinaus, auf den Wandel durch Zeitablauf zu vertrauen und die Verfassungs­ frage in die Zukunft zu vertagen. D en liberalen Konzepten zur Schul- und Bildungsreform,34 ebenso der Absicht der Liberalen, eine breite Öffentlich­ keit über Ziele der Reformpolitik aufzuklären, standen die Konservativen skeptisch bis ablehnend gegenüber. Sie fürchteten, daß dadurch allgemeine Unzufriedenheit geschürt und gefährliche »Halbbildung« erzeugt würde. Die Programmpunkte der Liberalen erstreckten sich auf alle Bereiche, die »Wohlstand« und »Glückseligkeit« der Bürger vermehren könnten. Sie befaßten sich mit der Wirtschaftsverfassung, die auf Freiheit des Gewerbes und des Handels sowie auf Privateigentum gründen sollte, mit den Bedin­ gungen bürgerlicher Rechtsgleichheit, ferner mit einer Organisation der Verwaltung und der Finanzen, die Effizienz und bürgerliche Freiheit zu­ gleich beförderte, und mit einem Regierungssystem, das auf kommunaler und »staatlicher« Ebene politische Partizipation ermöglichte. D er Glaube an den Fortschritt des Menschengeschlechts, der dem Programm seine D yna­ mik verlieh, manifestierte sich im ideellen Bereich als Vertrauen auf die Erziehbarkeit des Menschen, im materiellen Bereich als Vertrauen auf wirt­ schaftliches Wachstum. Das Programm wurde - natürlich - nicht voll realisiert, was jedoch kein Argument weder gegen seine Glaubwürdigkeit noch gegen die Existenz einer liberalen Fraktion ist. Es kompliziert die historische Analyse des libera­ len Programms, daß dieselben Forderungspunkte auch anders motiviert und mit anderen Intentionen vertreten werden konnten. Freier Güterhandel z. Β. entsprach dem Spckulationsinteresse von Gutsbesitzern und »Kapitalisten«. Effiziente Verwaltung und gesunde Staatsfinanzen konnten den Absolutis­ mus stärken. Politische Partizipationsrechte konnten zur Konservierung ständischer Privilegien dienen. Spuren des Beamtenliberalismus, dessen Entwicklung im Vormärz sta­ gnierte oder sogar abriß, finden sich - soweit bekannt - in den meisten Einzelstaaten des ehemaligen Alten Reiches.35 Wie stark er den bürgerlichen Institutionen und der bürgerlichen Verfassungsbewegung des Vormärz sei­ nen Stempel aufdrücken konnte, differiert von Fall zu Fall und bedarf noch eingehender Forschung. Besondere Aufmerksamkeit verlangt dabei, welche Übereinstimmungen und Verbindungslinien zwischen den Staatsbeamten im engeren Sinne - den Verwaltungs- und Justizbediensteten und den Mili­ tärs -, den weiteren beamteten Berufsgruppen in Universität, höheren Lehranstalten und kirchlichen Institutionen sowie in noch weiterem Sinne des öffentlichen D ienstes den Advokaten und Ärzten bestanden. Werden noch die »freiberuflichen« Intellektuellen - Schriftsteller, Publizisten - ein­ bezogen, handelt es sich bei diesen politisch besonders interessierten sozialen Gruppen im Kern um das »eximierte Bürgertum«.

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II. Einer der interessantesten, erst seit einigen Jahren von Historikern wieder­ entdeckten, liberalen Beamten im Preußen der Reformzeit ist Christian Friedrich Scharnweber (1770—1822).36 Er gehört zu den wichtigsten Bera­ tern des Staatskanzlers Hardenberg; seine Position, die er außerhalb einer normalen Beamtenkarriere erreicht hatte und die mit dem Titel eines Staats­ rats honoriert worden war, könnte man als »persönlicher Referent« des Staatskanzlers bezeichnen. Sein Bild in der Literatur, wenn er überhaupt erwähnt wird, schwankt extrem zwischen Anerkennung seiner »erstaunli­ chen Arbeitskraft« und seines selbstlosen Engagements für die Reformpoli­ tik und rüder Herabsetzung von Person und Leistung. In diesen divergieren­ den Urteilen deutet sich schon an, daß Scharnwerber mitten im damaligen »Parteiengetriebe« stand. Wenn der Frh. vom Stein ihn einen Phantasten nennt, der im Irrenhaus endete, 37 zeugt diese Wortwahl nicht nur von der Wut des Verfassers, sondern weist auf einen zentralen Kritikpunkt konserva­ tiven D enkens an liberalen Reformpolitikern, die den Staat nach ihren Theorien (»Hirngespinsten«) ummodeln wollten, hin. Scharnwebers Bedeutung wird vornehmlich für den Agrarbereich aner­ kannt. D as »Regulierungsedikt« in der Fassung vom September 1811 und das »Landeskulturedikt« (ebenfalls 7. 9. 1811) stammen aus seiner Feder. Ferner war er an den meisten die Landwirtschaft betreffenden Maßnahmen bis hin zur Gemeinheitsteilungsordnung (1821) beteiligt. Seine entscheiden­ de Mitwirkung am »Gendarmerieedikt« von 1812 zeigt bereits an, daß sich sein Engagement nicht auf Agrarfragen beschränkte. D ieses Edikt hätte den Grund für eine von unten nach oben aufgebaute Repräsentativverfassung legen sollen. Tatsächlich hat Scharnweber an allen Reformgesetzen mitgear­ beitet,38 er war Mitglied in zahlreichen, die weitere Gesetzgebung planen­ den Kommissionen. Er arbeitete die Organisationsentwürfe für die ver­ schiedenen Experimente mit interimistischen Nationalrepräsentationen aus und stand in regem Gedankenaustausch mit deren führenden Mitgliedern. 1814 und 1815 ermunterte er einzelne Nationalrepräsentanten, durch Anträ­ ge an den Staatskanzler, die Verfassungsfrage zu aktivieren. Schamwebers Handschrift findet sich in den Konzepten von Briefen an Zunftälteste und Kaufmannschaften, um ihnen als Antwort auf ihre Beschwerden den Nut­ zen der Gewerbefreiheit zu erläutern. Er plädierte im Rahmen langwieriger innerbürokratischer Auseinandersetzungen um die Zukunft des General­ Nutz- und Brennholz-Instituts, einem Produkt merkantilistischer Wirt­ schaftspolitik, entschieden für dessen Privatisierung. D en Rittergutbesit­ zern gab er das Privileg des Branntweinbrennens zurück, indem er den Vorwurf, liberale Prinzipien zu verraten, mit einem pragmatischen Argu­ ment zurückwies: Wirtschaftlich rentabel würden Brennereien ohnehin erst bei einer gewissen Größe des Betriebs, und das Zugeständnis könnte die Rittergutsbesitzer mit der Regierung aussöhnen. Scharnweber hielt effekti55

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ve Reformen grundsätzlich nicht für durchsetzbar, wenn sie den Interessen der oberen Stände widersprachen. In der Frage der Finanzreformen vertrat er den Standpunkt des »Steuerstaats«: die Staatsbedürfnisse sollten durch Abgaben aus den Privateinkommen aufgebracht werden. Vor der Akzise favorisierte er eine »mäßige Einkommen- und Vermögenssteuer«. Schwarnweber warb unermüdlich bei den oberen Ständen um Verständ­ nis und Zustimmung für die staatliche Reformpolitik. Er trat als Vermittler zwischen Staatskanzleramt und den Gutsbesitzern auf, zeigte sich aufge­ schlossen für deren wirtschaftliche Klagen. Auf Scharnweber ging die Idee zurück, die große Anleihe, die von den Kaufmannschaften zur Finanzie­ rungshilfe für den Befreiungskrieg (Februar/März 1813) verlangt wurde, als Angebot der Kaufleute erscheinen und von einer Kommission aus Kauflcu­ ten und Bankiers abwickeln zu lassen, weil Privatinitiative in der öffentli­ chen Meinung größeren Kredit besitze als staatlicher Zwang. 39 Um die Außenpolitik kümmerte sich Scharnweber offenbar nicht. D och gab es krisenhafte Zuspitzungen, bei denen er sich zu Wort meldete. Im Dezember 1812 lieferte er Argumente für den Bruch mit Napoleon: D ie Kontinentalsperre sei für Preußen auf Dauer untragbar. Zugleich schwebte ihm vor, Preußen solle sich mit Österreich zur Teilung D eutschlands ver­ einigen oder allein die Macht in Deutschland zu erlangen suchen. Im April 1813 reiste Scharnweber durch Norddeutschland, um Bündniskonstellatio­ nen und Finanzen für den Befreiungskrieg zu mobilisieren. Gleichzeitig aber kämpfte er leidenschaftlich gegen das Landsturmedikt, dessen Vision eines totalen Krieges er für ein »System von Krieg, . . . mit Zivilisation schlechter­ dings nicht vereinbar« hielt.40 Scharnweber sah voraus, daß im Strudel der patriotischen Begeisterung und der Kriegsanstrengungen die Reformpolitik untergehen könnte. Tatsächlich nutzten die Gegner der Reformen die unru­ higen Zeiten: Das Gendarmerie- und das Regulierungsedikt wurden suspen­ diert; Scharnweber erhielt keinen Sitz in der Kommission, die über eine Neufassung des Regulierungsedikts zu beraten hatte. Als ranghoher Staatsbeamter ohne Universitäts- und Gymnasialbildung war Scharnweber eine Ausnahmeerscheinung - nicht die einzige - in der preußischen Bürokratie. D ennoch kann er exemplarisch als Vertreter des Beamtenliberalismus gelten, weil seine Karriere eine Tendenz belegt, die typisch gerade für den Beamtenliberalismus ist: die Öffnung der Bürokratie in die »Nation«, der gewünschte Austausch zwischen Bürgern und Beam­ tenstand. D iese Tendenz wurde in der Restauration verschüttet. Leider ist über die persönlichen Lebensumstände Scharnwebers nur wenig herauszu­ finden. Seine »niedere« Herkunft und Förderung durch Hardenberg, die ihm ermöglichte, ein kleines Landgut zu erwerben, machten ihn bei Hofe und im Korps der höheren Beamten offenbar leicht anrüchig; zugleich erschien er aber vielen als »gefährlich« wegen seines scharfen Intellekts, seiner Beredsamkeit und seines Verhandlungsgeschicks. D ie Außenseiter­ position könnte seine liberale Einstellung begünstigt haben. Er gehörte zum 56 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Kreis der damals so genannten »jungen Leute« Hardenbergs, die 1810 mit dem Staatskanzler die Grundsätze seines Reformprogramms ausarbeiteten. Scharnweber pflegte gute Kontakte zu verschiedenen Rittergutsbesitzern und zu Kaufleuten und Bankiers in Berlin; wie weit sie dienstlichen oder privaten Ursprungs waren, läßt sich nicht klären. Scharnweber hat, insbesondere seitdem er das Ende des Reformkurses vor Augen sah, einige grundsätzliche D enkschriften über die Hardenbergsche Reformpolitik verfaßt. Sie dienten offensichtlich der Absicht, die Berechti­ gung, Notwendigkeit und Möglichkeit von Reformen nachzuweisen. Für die Programmatik eines Beamtenliberalismus wie für das konkrete politi­ sche Verwaltungshandeln bilden sie eine Fundgrube, weil sie aus intimer Geschäftskenntnis und mit großem Sachverstand geschrieben sind, wert­ volle Informationen enthalten und den Versuch unternehmen, Politik als ein System zu begreifen. Zwei dieser Schriften stammen aus dem Jahre 1814: einmal der bereits erwähnte 190 handschriftliche Seiten umfassende Vortrag vom März 1814.41 Die Notwendigkeit von Reformen - Verhandlungsge­ genstand der Nationalrepräsentation waren die Erhaltung des Grundbesit­ zes, Eigentumsverleihung an die Bauern, Parzellierung der Grundstücke und Ausgleich der Kriegslasten - leitete Scharnweber aus der Geschichte, d. h. aus den Mängeln des überkommenen Regierungssystems ab. Die zwei­ te D enkschrift trägt den Titel »Über die Vermehrung des Wohlstands der niederen Stände«.42 Sie umfaßt einen ersten Teil von 72 Seiten. D er ange­ kündigte zweite Teil ist offenbar nicht geschrieben worden. Wie kein ande­ rer Beamter in der Hardenberg-Administration zeigt sich Scharnweber informiert über die elende und unglückliche Lage der breiten Bevölkerung in Stadt und Land. Er versucht, das Interesse der »gebildeten Stände« an Reformen zugunsten der »unteren Volksklassen« zu wecken durch den Nachweis, daß sie gleichzeitig zu ihrem eigenen Vorteil gereichen würden. Anders sah Scharnweber irgendwelche Erfolgsaussichten für Reformen nicht gegeben. D eshalb zielen seine Reformvorschläge nirgendwo auf Um­ verteilung, sondern auf Produktivitäts- und Produktionssteigerung, damit auch die unteren Klassen einen größeren Teil erhalten könnten. Zwei weitere Denkschriften stammen von 1819 und 1820; der kämpferi­ sche Ton wechselt bereits mit Anzeichen von Resignation. Beide D enk­ schriften verteidigen gegen die vordringende Restauration die Erfolge und die Legitimität der Hardenbergschen Reformpolitik. D ie kürzere von 1819, mehr eine Skizze, umfaßt 35 Seiten.43 D ie ausführlichere ist 200 Seiten lang und erhielt bei der Archivierung den Titel »Scharnwebers Rechtfertigung der Verwaltung Hardenbergs«.44 Es ist kennzeichnend, daß die Reformen hier in taktischer Absicht als Palliativ gegen den revolutionären Zeitgeist in einer katastrophalen Lage dargestellt werden, während zehn Jahre vorher das liberale Reformprogramm, von Scharnweber mitformuliert, sich im Einklang mit dem auf Neues hindrängenden »Zeitgeist« verstand. Besonders in der D enkschrift von 1814 und in der »Rechtfertigungs«57 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Schrift von 1820 entwirft Scharnweber eine Theorie gesellschaftlicher Ent­ wicklung, aus der er die Reformziele ableitet und das planvolle Handeln der Reformpolitiker legitimiert. D er autodidaktisch gebildete Scharnweber lehnt sich bei seinen allgemeinen Erörterungen an physiokratische und wirtschaftsliberale Lehren an. Sieht man auf den strengen und logischen Aufbau seiner Argumentation, so scheint es, daß ihn besonders das System­ denken der Physiokraten fasziniert hat.45 Aus Vergangenheit und Gegen­ wart können Naturgesetze - Scharnweber spricht auch von Kardinal-, Haupt- und Elementargesetzen - abstrahiert werden, mit deren Hilfe sich die chaotische Vielfalt der Weltgeschichte in eine geordnete, notwendige Abfolge von Kulturstufen bringen läßt und die dem modernen Staatsmann in Übereinstimmung mit dem Weltenplan zu handeln erlauben. An die Physiokraten erinnert auch Scharnwebers besonderes Interesse für die Land­ wirtschaft, wenn auch zu berücksichtigen ist, daß diese Priorität durch die preußische Wirtschaftsstruktur naheliegt. An Adam Smith, ebenso aber auch an die Physiokraten, knüpft der für Scharnweber zentrale Gedanke individueller Freiheit und ihrer belebenden Wirkung für die ländliche und die städtische »Industrie« an. In Scharnwebers Gesellschaftstheorie stehen wirtschaftliche Aspekte im­ mer im Vordergrund. Kenntnisreich und mit Zahlen gespickt verbreitet er sich über den landwirtschaftlichen und gewerblichen Entwicklungsstand, die geringe Bildungsqualifikation und Arbeitsproduktivität, die unzurei­ chenden Erwerbsmöglichkeiten für die Masse der Bevölkerung und über die Auswirkungen der Zoll- und Steuerpolitik auf die verschiedenen Bevölke­ rungsgruppen. D a er jedoch nie versäumt, die Verfassungsfrage zu erörtern - er versteht darunter sowohl eine Nationalrepräsentation als auch kommu­ nale Selbstverwaltung -, reduziert sich sein politisches Programm nicht auf wirtschaftlichen Liberalismus. Allerdings sieht Scharnweber in der Erfül­ lung von Grundbedürfnissen, nämlich »gesunde und schickliche Nahrung, Kleidung, Wohnung . . ., Unterricht und Bildung« (in dieser Reihenfolge) die Voraussetzung für jeden weiteren Kulturfortschritt, also auch in der Verfassungsfrage. Im einzelnen sind Scharnwebers literarische und wissenschaftliche Vorbil­ der schwer nachzuweisen, weil die philosophischen Lehrgebäude für ihn immer nur Mittel zum Zweck waren, als Handlungsanweisungen für den Politiker dienten. Scharnweber vertrat nachdrücklich den Standpunkt, daß sich die Staatsverwaltung aus allen Bereichen des bürgerlichen Lebens zu­ gunsten von »Selbsttätigkeit« zurückziehen solle; er kämpfte gegen regle­ mentierende Vorschriften und Verbote und verwarf das »System« merkanti­ listischer Wirtschaftspolitik. D amit steht nicht in Widerspruch, daß Scharn­ weber der Staatsverwaltung eine ganze Palette von Aufgaben zuweist. Indi­ viduelle Bemühungen fuhren nach Scharnweber nur zu Erfolgen, wenn sie durch »gute bürgerliche und Staatseinrichtungen« unterstützt werden; indi­ viduelle und »Gesamtkräfte« müssen zusammenwirken, um privates und 58 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

öffentliches Wohl zu steigern. Für die Gegenwart hielt er staatliche Eingriffe sogar für vordringlich: Es gelte, bestehende Verfassungshemmnisse abzu­ bauen und erst noch die Einrichtungen zu schaffen, die individuelle Freiheit ermögliche. D ie Einsicht in die »Naturgesetze« gesellschaftlichen Fort­ schritts verpflichten die Staatsverwaltung, planvoll und bewußt die »Kultur der Staatsverhältnisse« zu befördern, während kultureller Fortschritt in der Vergangenheit ein Zufallprodukt blieb. In der »Rechtfertigungsschrift« skizziert Scharnweber auf mehreren Sei­ ten die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zu immer höheren Kul­ turstufen und fortschreitender »Veredelung«, die er in sozialer D ifferenzie­ rung, Arbeitsteilung, Entstehung und Spezialisierung von Künsten und Wissenschaften, Entstehung von Städten, D iversifizierung von Genüssen und Bedürfnissen verkörpert sieht. D en gesellschaftlichen Fortschritt be­ schreibt Scharnweber bisweilen auch im Bilde biologischen Wachstums: Seine Gegenwart erlebe gerade den Übergang der Gesellschaft von der Kindheit zur männlichen Reife. Motor für die gesellschaftliche Entwicklung ist für Scharnweber das Streben nach »Glückseligkeit«, das allen Menschen eigen ist. Scharnweber formt dieses »Naturgesetz« in einen Anspruch des Menschen auf Glückselig­ keit um, die er als Möglichkeit, physische, moralische und geistige Bedürf­ nisse zu befriedigen, definiert. D a Bedürfnisse nicht statisch sind, sondern sich unaufhörlich wandeln und vermehren, ist der gesellschaftliche Fort­ schritt prinzipiell unendlich, wenn sich auch Scharnweber, auf praktische Politik ausgerichtet, jeder weiteren Zukunftsvision enthält. D as unter­ schiedlich erfolgreiche Streben der Menschen nach Glückseligkeit brachte soziale D ifferenzen hervor. D er jeweils höhere Veredelungsgrad entschied über Oben oder Unten in der Gesellschaft. D ie höheren Stände konnten sich die Arbeitskraft der Unterworfenen aneignen, wobei das Herrschaftsver­ hältnis sich selbst »veredelte«: Genügte zur Aufrechterhaltung der Herr­ schaft zunächst Kraft, mußten später Klugheit und schließlich Humanität hinzutreten. D enn der Anspruch auf Glückseligkeit ließ die unteren Volks­ klassen sich nicht mit ihrem Status abfinden. Sic steigerten ihre Fertigkeiten und verlangten ihren Anteil an den vorhandenen Gütern. Ohne Erschütte­ rung kann sich gesellschaftliche Entwicklung folglich nur vollziehen, wenn die Quantität und Qualität der materiellen, moralischen und geistigen Güter wächst und die Ansprüche auch der unteren Volksklassen befriedigt werden. Sein Fortschrittsoptimismus fuhrt Scharnweber nicht zu einer Gesell­ schaftsutopie, die den Unterschied zwischen Oben und Unten aufhebt. Nirgendwo schimmert bei ihm die These durch, daß die Menschen sozial gleich seien oder dieselben Bedürfnisse hätten, wohl aber besitzt jeder einen Anspruch auf individuelle Glückseligkeit. Auch die Trennung seiner Gegen­ wart zwischen »gebildeten Ständen« und »unteren Volksklassen« will Scharnweber nicht aufheben, wenn er verlangt, den Wohlstand der niederen Stände zu vermehren. 59 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Zu den oberen Ständen, die er meistens die »gebildeten« nennt, rechnet Scharnweber fünf Gruppen: Adel, Geistlichkeit, höheren Schulstand, Ge­ lehrte, Staatsbeamte. Er wirft ihnen (mit unterschiedlicher Härte) vor, ihren Führungsanspruch zu verspielen, weil sie die vorhandenen Möglichkeiten, den gesellschaftlichen Fortschritt voranzutreiben und die Lage der unteren Volksklassen zu verbessern, nicht ergreifen. D ie Gründe sieht Scharnweber in falsch verstandenem Eigennutz (D er Adel zum Beispiel halte zu seinem Glanze und für seine D auer einen unterwürfigen Bauern für erforderlich) oder in Befangenheit durch überholtes Bildungsgut. D ie gelehrte Bildung kritisiert Scharnweber als unnütz und realitätsfremd; ihr bevorzugter Ge­ genstand, das Altertum, stehe um drei Kulturstufen hinter der Gegenwart zurück. Bei den Staatsbeamten führe die Universitätsausbildung dazu, daß sie bei Griechen und Römern zu Hause seien, aber von ihrem eigenen Volk und dem »wirklichen Leben« wenig oder nichts wüßten. Zu den »niederen Ständen« oder »unteren Volksklassen« rechnet Scharn­ weber die Bauern und die Handwerker; häufig spricht er allgemein von Stadt- und Landbewohnern und meint auch die unterständischen Schichten, für die es keine hinreichenden Erwerbsmöglichkeiten gebe. Arbeitsplätze für Manner, Frauen und Kinder stehen deshalb in Scharnwebers Zielkatalog ganz oben an; Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit sowie Elementarunter­ richt sind ihm die Mittel dazu. Die Staatsverwaltung ist zum Handeln aufgerufen, weil die D iskrepanz zwischen den vorhandenen Möglichkeiten eines auch den unteren Volks­ klassen zugute kommenden Kulturfortschritts und der niederdrückenden Realität eine explosive Situation erzeuge, die den gebildeten Ständen gefähr­ lich werden könnte. Scharnweber setzt sich mit dem »Vorurteil« auseinander, die Befriedi­ gung von Ansprüchen der unteren Volksklassen, die Entstehung von Manu­ fakturen und Fabrikation in großem Stil, würde den sozialen Rang der gebildeten Stände entwerten und ihre Vermögensinteressen schädigen. Tat­ sächlich garantiere höhere Zivilisation allen Ständen qualitativ und quantita­ tiv bessere Bedürfnisbefriedigung. Vor dem Hintergrund seiner Überzeu­ gung, daß seit ungefähr 40Jahren der Stand der Wissenschaften und mecha­ nischen Künste die Voraussetzung für wirtschaftlichen und gesellschaftli­ chen Fortschritt böten, fordert Scharnweber von den »gebildeten Ständen« allgemein und von der Staatsverwaltung im besonderen, die naturgesetzli­ chen Ansprüche eines jeden Menschen anzuerkennen: Jeder müsse mit recht­ licher und solider Tätigkeit als achtbarer Mensch bestehen können; und jeder müsse die Aussicht haben, seinen Fähigkeiten und seinem Bemühen entspre­ chend, die selbstgesteckten Ziele zu erreichen. D ie dadurch mögliche »indi­ viduelle Glückseligkeit« setzt voraus, daß alle bürgerlichen und Staatskräfte zusammenwirken. Gute bürgerliche und staatliche Einrichtungen sieht Scharnweber erst erreicht, wenn die »Mehrheit der Nation« an der Existenz des Staates und seiner Verfassung ein elementares Interesse haben könne. 60 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Es ist nicht ganz eindeutig, wie weit für Scharnweber der Nationsbegriff reicht. Seine Verfassungsentwürfe sehen Wahlrecht und Wählbarkeit der Gutsbesitzer, der Stadtbürger und der kleinen Landeigentümer vor. D ie Bereitschaft, jeden, der ein hinreichendes Maß an physischer, moralischer und geistiger »Veredelung« erreicht hat, in die Nation einzubeziehen, kann aus seinen Aussagen geschlossen werden. Politische Partizipation durch Teilnahme an der Kommunal- und Provinzialverwaltung oder durch Natio­ nalrepräsentation sollen den Gemeinsinn aller Staatsbürger - Scharnweber nennt das »Nationalismus« - stärken. Obwohl die ständische Dreiteilung den Verfassungsentwürfen zugrunde liegt, stellt die ständische Gesellschaftsordnung für Scharnweber kein ver­ bindliches Orientierungsmodell mehr dar. Stattdessen taucht ein engerer und ein weiterer Staatsverband auf. Von der Integrationskraft des engeren der »Nation«-macht Scharnweber die Existenz des Staates und der bürger­ lichen Gesellschaft abhängig. D abei bleiben das Größenwachstum der »Na­ tion« und das Ziel »individuelle Glückseligkeit« nach oben offen. Irgendeine Tendenz, individuelles Erfolgsstreben im Sinne des traditionellen »Nah­ rungsprinzips« oder der Normen einer »moralischen Ökonomie« zu be­ grenzen, findet sich nicht. D ie »Entfesselung aller Produktivkräfte« besaß offensichtlich auch deshalb Vorrang, weil Armut und Hunger breiter Bevöl­ kerungsschichten ein augenfälliges, für Scharnweber brennendes Problem darstellten. D ie Wirtschafts- und Bevölkerungsstruktur Preußens wies eine Polarisierung auf, die für eine Mittelstandstheorie wenig empirische Grund­ lagen bot. Ein »kapitalistisches Bürgertum«, das sich bei schrankenlosem Wirtschaftsliberalismus zur Bedrohung der bürgerlichen Gesellschaft ent­ wickeln könnte, lag außerhalb Scharnwebers Gesichtsfelds. Wo die vorindu­ strielle Gesellschaft Preußens schon »Kapitalisten«, d. h. großgewerbliche Betriebsformen und mechanisierte Produktion hervorgebracht hatte, bestä­ tigte sich für Scharnweber, daß sie Arbeit und Brot für die niederen Stände vermehrten und Konsumfortschritt ermöglichten. D abei bezog er die weni­ gen »Kapitalisten« mit Selbstverständlichkeit in den Kreis der »Nation« ein, ohne davon die Auflösung der für ihn natürlichen Klassenlinie zwischen »gebildeten Ständen« und »unteren Volksklassen« zu befürchten.

Anmerkungen 1 L. Gall, Liberalismus und »bürgerliche Gesellschaft«, in: ders. (Hrsg.), Liberalismus, Köln 1976, S. 162-186. 2W.J . Mommsen, D er deutsche Liberalismus zwischen »klassenloser Bürgergcsellschaft« und »Organisiertem Kapitalismus«, in: GG 4, 1978, S. 77—90. 3 K. Mannheim, D as konservative D enken in: Konservativismus, hrsg. v. H. Schumann, Köln 1974, S. 26f. 4 F. Watkins, The Political Tradition of the West. A Study in the Development of Modern Liberalism, Cambridge/Mass. 1948 (ein Auszug in: Gall, S. 54-76).

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5 Mannheim, S. 31. 6 Gall, S. 162. 7 Κ. Epstein, Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland, Frankfurt 1973. 8 K. A. Vamhagen von Ense, Aufsatz über politische Parteien, Mai 1820. Zentrales Staats­ archiv D ienststelle Merseburg (künftig zit.: ZStA II), Rep. 92 Hardenberg, Κ 72, Βl. 55 (Hervorhebung im Orig.). 9 D. Langewiesche, Europa zwischen Restauration und Revolution 1815 — 1849, München 1985, S. 38. 10 K. Frh. v. Altenstein, Votum zur Kabinettsordre v. 19. 1. 1819, 1. 3. 1819, ZStA II, Rep. 92 Hardenberg, H 15f., Bl. 37 f. 11 Über die bürokratischen Reformen im Rheinbund und in Preußen vgl. H. Berding u. H.­ P. Ullmann (Hrsg.), D eutschland zwischen Revolution und Restauration, D üsseldorf 1981; B. Vogel (Hrsg.), Preußische Reformen 1807-1820, Königstein 1980. 12 A. v. Witzleben, Staatsfinanznot und sozialer Wandel, Stuttgart 1985; H.-P. Ulimann, Staatsschulden und Reformpolitik. D ie Entstehung moderner öffentlicher Schulden in Bayern und Baden 1780-1820, Göttingen 1986. 13 F. Valjavec, D ie Entstehung der politischen Strömungen in D eutschland 1770-1815, München 1951 (ND Kronberg 1978). 14 R. Vierhaus, Von der altständischen zur Repräsentativverfassung, in: K. Bosl (Hrsg.), Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation, Berlin 1977, S. 177-194; P. Baumgart (Hrsg.), Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preu­ ßen, Berlin 1983. 15 Einrichtungsplan für die Gesetzgebungssektion, Gesetzkommission und Oberexamina­ tionskommission, 6. 2. 1809, in: Von Stein zu Hardenberg. Dokumente aus dem Interimsmini­ sterium Altenstein/Dohna, hrsg. v. H. Scheel u. D . Schmidt, Berlin 1986, S. 125. 16 K. F. v. Beyme, Votum zur Kabinettsordre vom 19. 1. 1819, o. D., ZStA II, Rep. 92 Hardenberg, Η 15f., Bl. 138. 17 H. Sedatis, Liberalismus und Handwerk in Südwestdeutschland, Stuttgart 1979; J . Berg­ mann, Wirtschaftskrise und Revolution. Handwerker und Arbeiter 1848/49, Stuttgart 1986. 18 U. Eugelhardt, »Bildungsbürgertum«. Begriffs- und D ogmengeschichte eines Etiketts, Stuttgart 1986. 19 F. Perthes, zit. nach T. F. Böttiger, Hamburg Patrioten 1800-1814, Berlin 1926, S. 41. 20 D . F. Bassermann, Rede in der Nationalversammlung zum Wahlgesetz, 16. 2. 1849, in: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalver­ sammlung zu Frankfurt a. M., hrsg. v. F. Wigard, Bd. 7, Leipzig 1849, S. 5250. 21 Stein an Spiegel, 2. 3. 1822, in: K. Frh. vom Stein, Briefe und amtliche Schriften, neu hrsg. v. W. Hubatsch, Bd. 6, Stuttgart 1965, S. 485 f. 22 Aufzeichnung G. J . Ch. Kunth, über die Einrichtung der Technischen Gewerbedeputa­ tion, 10. 1. 1809, ZStA II, Rep. 120, A II 1 Nr. 1, Bd. 1, Bl. 16ff.: Kunth wünschte besoldete Mitglieder, jedenfalls keine solchen, die noch selbst ein Gewerbe betreiben, weil sie womöglich nicht die nötige D iskretion wahren, um ihren eigenen Vorteil zu nutzen. Sie genießen beim Publikum nicht das Vertrauen, das öffentliche Behörden beanspruchen können. 23 B. Vogel, Allgemeine Gewerbefreiheit. D ie Reformpolitik des preußischen Staatskanzlers Hardenberg (1810-1820), Göttingen 1983, S. 106-132. 23 M. Hörner, D ie Wahlen zur Badischen Zweiten Kammer im Vormärz (1819-1847), Göttingen 1987, S. 378-431. 25 Votum des Staatsministeriums zur Kabinettsordre v. 19. 1. 1819, 26. 8. 1819, ZStA II, Rep. 92 Hardenberg, Η 15f., Bl. 12ff. 27 Th. Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrh., in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 174-205; O. Dann. Die Anfänge politischer Vereinsbildung in D eutschland, in: U. Engelhardt u.a. (Hrsg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung, Stuttgart 1976, S. 197-292. 27 Vgl. u.a. H. Kramer, Fraktionsbindungen in den deutschen Volksvertretungen 1819-1849, Berlin 1968.

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28 Über die Anfänge einer konservativen Partei in Preußen seit 1810 entsteht an der Univer­ sität Hamburg zur Zeit eine Dissertation von L. Dittmer. 29 R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, Stuttgart 19752, S. 388 ff. 30 H. Wagetier, im Abgeordnetenhaus, 8. 2. 1856, zit. nach G. Grünthal, Parlamentarismus in Preußen 1848/49-1857/58, Düsseldorf 1982, S. 428. 31 H. Graf v. Bülow, Votum zur Kabinettsordre v. 19. 1. 1819, 5. 3. 1819 ZStA II, Rep. 92 Hardenberg, Η 15f., Bl. 64f. 32 B. Vogel, Beamtenkonservatismus. Sozial-und verfassungsgeschichtliche Voraussetzun­ gen der Parteien in Preußen im frühen 19. Jahrhundert, in: Deutscher Konservatismus im 19. und 20. Jahrhundert Bonn 1983, S. 1-31. 33 Votum Altensteins., ebd., Bl. 37. 34 L. Schweim (Hrsg.), Schulreform in Preußen 1809-1819. Entwürfe und Gutachten, Weinheim 1966; K.-E. Jeismann, D as preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. D ie Entstehung des Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebildeten, 1787—1817, Stuttgart 1974; P. Lundgreen, Die Berufsbildung des technischen Beamten und des Wirtschaftsbürgers, in: Vogel, Reformen, S. 224-242. 35 E. Fehrenbach, Vom Ancicn Régime zum Wiener Kongreß, München 1981, S. 76—88. 36 Vogel, Gewerbefreiheit, S. 89f.; H. Harnisch, Agrarpolitische und volkswirtschaftliche Konzeption einer kapitalistischen Agrarreform bei Christian Scharnweber, in: Probleme der Agrargeschichte des Feudalismus und des Kapitalismus, Teil 8, Rostock 1977, S. 109-122; E. Klein, Christian Friedrich Scharnweber, in: H. Haushofer u. W. A. Boelcke (Hrsg.), Wege und Forschungen der Agrargeschichte, Frankfurt 1967, S. 197—212. 37 K. Frh. vom Stein, Autobiographie, in: Stein, Bd. 9, 1972, S. 878. 38 Nach Ausweis der Sachakten im ZStA II. 39 B. Vogel, Patriotismus und Finanzen im Befreiungskrieg. Hamburg und Preußen im Vergleich, in: Das alte Hamburg (1500-1848). Vergleiche- Beziehungen, Hamburg 1988. 40 Chr. Scharnweber, Denkschrift über Tugendbund und Landsturmedikt, 18.5. 1813, ZStA II, Rep. 92 Hardenberg. G 1½, Bl. 81, zit. Vogel, Patriotismus. 41 Chr. Scharnweber, Vortrag vor der Interimistischen Nationalrepräsentation, 14. 3. 1814, ZStA II. Rep. 77, CCCXX 35, Bl. 1-97. Ich beabsichtigte diesen Vortrag, der ein sehr informatives Zeugnis der Reformpolitik darstellt, zu publizieren. 42 Chr. Scharnweber, D enkschrift betr. Vermehrung des Wohlstands der niederen Stände, o. D. [1814], ZStA II, Rep. 92 Hardenberg, Η 11¾, Bl. 3-38. 43 Hardenbergs Darstellung seiner Verwaltung, Konzept von der Hand Scharnwebers, o. D. [1819], ZStA II, Rep. 92 Hardenberg Η 14a, Bl. 1-17. 44 Chr. Scharnwebers Rechtfertigung der Verwaltung Hardenbergs, o. D. [November 1820], ZStA II, Rep. 92 Hardenberg, Η 16d, Bl. 4-98. 45 E. Hinrichs, Produit net, propriétaire, cultivateur. Aspekte des sozialen Wandels bei den Physiokraten und Turgot, in: Festschrift f. H. Heimpel, hrsg. v. den Mitarbeitern des Max­ Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 1, Göttingen 1971, S. 473-510; W. Zorn, Die Physiokratie und die Idee der individualistischen Gesellschaft, in: VSWG 47, 1960, S. 498-507.

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KLAUS KOCH

Frühliberalismus in Österreich bis zum Vorabend der Revolution 1848 Der Beginn einer liberalen Entwicklung im eigentlichen Sinn datiert aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Während liberales Gedankengut auf Regierungsebene in Preußen bereits unter Friedrich II. einen ersten Nieder­ schlag fand, ist dies für Österreich im Grunde erst unter Joseph II. feststell­ bar. Als Leitmotiv dienten dabei weniger humanitäre, als vielmehr wirt­ schafts- und bevölkerungspolitische Erwägungen.1 Der Ausbau und die Zentralisierung der Staatsmacht erfolgte mit Hilfe eines akademisch geschulten Beamtenapparates, der damit weitgehend die Aufgaben des Adels übernommen hatte. D ie soziale Herkunft der neuen bürokratischen Elite war fast ausnahmslos bürgerlich-kleinadelig. Im Ge­ gensatz zum Feudaladel war der »dritte Stand« materiell freilich auf Gedeih und Verderb an den Staat gebunden, was in einer besonderen Loyalität der Staatsdiener seinen bis heute so charakteristischen Niederschlag fand.2 D ie Folge dieser stillen Revolution war eine Nivellierung der hierarchisch ge­ gliederten Gesellschaftsordnung zur einheitlichen Masse des modernen Staatsbürgertums. D amit war zugleich aber auch eine wesentliche liberale Grundforderung - die Beseitigung von rechtlichen Sonder- und Ausnahme­ fällen-erfüllt. Ziel des in Österreich gewissermaßen als »Vorläufer« des Frühliberalis­ mus zu betrachtenden Josephinismus war ein einheitlicher Gesamtstaat mit eindeutig deutscher Prägung und Ausrichtung. Als Träger dieser vielfach bis weit in das 19. Jahrhundert hinein untrennbar mit dem Liberalismus verbun­ denen Geisteshaltung fungierten in erster Linie das Beamtentum und die supranationale Armee (demnach also auch der Kleinadel), Teile der Geist­ lichkeit und des Bürgertums. Letzteres bewies im Vergleich zu den außer­ habsburgischen Teilen des Alten Reichs eine wesentlich stärkere, jede Emanzipation von vornherein hemmende Präferenz für den Staatsapparat, indem sich das Bildungsbürgertum mit der aufgeklärt-absolutistischen Bü­ rokratie weitgehend identisch zeigte, während das wirtschaftstreibende Be­ sitzbürgertum in seiner traditionell protektionistischen Haltung auf die Schutzfunktion des Staates angewiesen war. Beides zusammen bot die denk­ bar schlechtesten Voraussetzungen für die Ausformung einer tragfähigen bürgerlichen Gesellschaftsschicht, die gegebenenfalls auf Distanz zum Staat 64

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rücken konnte. Die Existenz einer solchen stellt allerdings die Vorbedingung für eine gedeihliche Entwicklung des Liberalismus dar. An den Josephimsmus knüpften, ähnlich wie heute an den Liberalismus, alle möglichen politisch-weltanschaulichen Strömungen, so daß man nicht fehlgeht, ihn schlichtweg als Reformideologie zu bezeichnen, die sich aus den spezifischen, und hier vor allem wohl multinationalen Verhältnissen der Donaumonarchie heraus entwickelte. Während der persönlich äußerst schillernde Kenner der geistigen Strö­ mungen in Österreich und Deutschland, Eduard Winter, im Spätjosephinis­ mus kurzerhand den österreichischen Frühliberalismus zu erkennen ver­ meint,3 hat Georg Franz eine differenziertere Sichtweise des Liberalismus in der Habsburgermonarchie geboten, wonach drei Richtungen zu unterschei­ den wären:4 Erstens, eine »josephinische Richtung«, der die Hochbürokra­ tie, der Offiziersstand, der Klerus und Teile des Bürgertums angehören. Zweitens, eine »ständisch-konservative Richtung«, die ausgehend von Graf Stadion durch den freisinnigen Adel vertreten ist (»Adelsliberalisierung«) und die sich am Vorbild der ungeschriebenen Verfassung Englands orien­ tiert; ihre Intention liegt im friedlichen Ausgleich durch Reformen, wobei die staatliche Einheit über den D rang nach Freiheit gestellt wird. D rittens schließlich, eine »bürgerlich-liberale Richtung«, repräsentiert durch Wirt­ schaftstreibende, Literaten, Künstler und akademische Freiberufler, die sich an die geschriebene Verfassung Frankreichs halten; ihr Ziel ist eine allenfalls auch durch gewaltsame Maßnahmen herbeigeführte Änderung des herr­ schenden Systems, wobei die staatliche Einheit nötigenfalls der Erlangung der Freiheit geopfert würde. Da der eigentliche Wesenszug des Josephinismus die Sorge um den Staat war, der Liberalismus sich jedoch durch Sorge vor dem Staat auszeichnet (»Nachtwächterstaat«), wird man Winters D enkmodell in Zweifel ziehen müssen, wenngleich die Übergänge zwischen Josephinismus und Liberalis­ mus durchaus fließende sind bzw. beide Geisteshaltungen einander vielfach bedingten: Kaiser Franz I. und Staatskanzler Metternich waren in gewisser Hinsicht durchaus josephinisch gesinnt, weshalb sie jedoch kaum liberal zu nennen sind. Ihre politischen Gegenspieler, wie etwa Franz Frh. v. Pillers­ dorf, Karl Frh. v. Kübeck, D r. Alexander Bach oder Karl Frh. v. Bruck gal­ ten dagegen als ausgesprochen liberal, was sie aber nicht hinderte, im josephinischen Sinn konstruktiv an der Erhaltung des Gesamtstaates mitzu­ wirken. Im Unterschied zum Josephinismus besaß der Frühliberalismus kein di­ rektes Interesse am Staatskirchentum, wenn er gegen dieses auch nichts einzuwenden hatte, weil es den Einfluß der römisch-katholischen Kirche reglementierte und damit in den zur freien Entfaltung der Gesellschaft notwendigen Schranken hielt.5 Ais einzige Kodifikation des Josephinismus gilt zurecht Franz Zeillers österreichisches Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch von 1811, worin die 65 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Liberalen eine generelle Abkehr vom römischen Recht zugunsten natur­ rechtlicher Auffassungen erkennen durften.6 Im Grunde hatte bereits das Erlebnis der Französischen Revolution den Bruch des im Josephinismus begründeten Zweckbündnisses zwischen Bür­ gertum und absolutem Herrscher gegen den privilegierten Feudaladel be­ wirkt, worauf sich der dritte Stand zur Nation proklamierte; eine national­ liberale Bewegung manifestierte sich spätestens nach den Napoleonischen Kriegen. Im gehobenen Bürgertum und in der Bürokratie lebte der Josephi­ nismus in einer Art mystischer Vergangenheitssehnsucht mehr oder minder unreflektiert fort, was meist in einer völligen Verklärung Josephs II. zum Ausdruck kam. D agegen markieren die Jahre von 1815 bis 1830 einen schweren Einbruch in der Entwicklungsgeschichte des österreichischen Li­ beralismus. D ie gänzliche Isolation der Monarchie gegenüber den übrigen Gebieten des Deutschen Bundes vertiefte die Kluft zwischen dem protestan­ tischen Norden und dem katholischen Süden, wodurch Österreich erst vielfach unterschätzt - die Voraussetzungen für die spätere Lösung der deutschen Frage im preußisch-kleindeutschen Sinn schuf. In Österreich selbst wurde mit Hilfe eines engmaschigen Netzes von Zensurbestimmungen und eines rigoros eingesetzten Spitzel- und Polizeiap­ parates jede liberale oder nationale Artikulation des Bürgertums und der Bürokratie mit Erfolg erstickt.7 Potentielle Leitbilder des Liberalismus, wie die Erzherzöge Karl und Johann, wurden von der politischen Bühne fernge­ halten. D urch die Umgestaltung der Universitäten zu reinen Berufsausbil­ dungsstätten war der akademische Bereich als klassischer Nährboden libera­ len Freidenkertums faktisch ausgeschaltet, wenngleich so manche Professo­ ren der juridisch-politischen Fächer auch maßgeblichen Anteil an der Heran­ bildung einer ganzen Politikergeneration nach 1848 hatten, indem sie - so Metternich 1819 vor dem Bundestag - »das Phantom einer sogenannten weltbürgerlichen Erziehung verfolgten« und den Studenten »so Gering­ schätzung und Widerwillen gegen die gesetzliche Ordnung einflößten«.8 Studentenagitationen und burschenschaftliches Treiben boten dem Staats­ kanzler wiederholt Anlaß für restriktive Eingriffe in die universitäre Lehr­ und Versammlungsfreiheit. D em Beamtenstand war bezeichnenderweise ein Nebenstudium überhaupt untersagt,9 so daß eine Weiterbildung in vie­ len Fällen nur auf dem Umweg über außeruniversitäre Bildungsveranstal­ tungen stattfinden konnte; diese waren allerdings erst recht der obrigkeitli­ chen Kontrolle und Schikane ausgesetzt. Wie bereits angeklungen ist, war dem Liberalismus in der Habsburger­ monarchie im Gegensatz zu weiten Teilen D eutschlands durch die interes­ sengebundenc Anlehnung der protektionistischen österreichischen Wirt­ schaft an den Staat ein weiterer wesentlicher Faktor seiner D urchsetzungs­ kraft entzogen.10 Darin liegt die Erklärung dafür, daß Österreich ein selbst­ bewußtes, unabhängiges Bürgertum auf der Basis materiellen Wohlstandes nie hervorgebracht hat. Statt dessen degradierte die Staatsführung das er66 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

folgreich aufstrebende Bürgertum zum Beamten- und Verdienstadel, dessen Selbstverständnis an sozialen Komplexen litt und dessen Lebensform sich häufig krampfhaft am feudalaristokratisch-höfischen Vorbild orientierte. Die Rückwirkungen dieses österreichischen Phänomens auf den Liberalis­ mus sind evident und im Mangel an liberaler Tradition nach west- und nordeuropäischem Muster noch heute sichtbar. Fatale Konsequenzen in nationalitätenpolitischer Hinsicht besaß der Um­ stand, daß sowohl die tschechische als auch die magyarische Opposition einen mitunter wesentlich größeren Spielraum genoß als die deutsche im Zentrum der Monarchie. Letzterer blieb meist nur das Exil im Ausland, wo sich allerdings eine rege - hauptsächlich auf dem publizistischen Sektor tätige - Agitation gegen das vormärzliche System in Österreich entwickelte. Zentren dieser geistigen Verbannung waren die Sitze der einschlägigen deutschen Verlagshäuser, wobei namentlich Leipzig zu nennen ist. Eine deutliche Zäsur in der Geschichte des Liberalismus in Österreich stellt das Jahr 1830 dar. Die Julirevolution in Frankreich lieferte den entschei­ denden Impuls zum Widerstand, der sich aber zunächst nur im Untergrund regte. 1831 erschienen die »Spaziergänge eines Wiener Poeten« von Anasta­ sius Grün/Anton Graf Auersperg; zur gleichen Zeit verfaßte Franz Nimbsch Edler von Strehlenau/Nikolaus Lenau seine ersten kritischen Gedichte ­ beide gehörten neben Eduard v. Bauernfeld, Moritz Hartmann, Ignaz Kur­ anda u. a. der literarischen Vereinigung »Jung Österreich« an.11 Was der Nimbus des langjährigen Herrschers Franz I. in Verbindung mit einer straffen Staatsführung an Opposition unterdrückt hatte, das brach mit der Thronbesteigung des geistesschwachen Ferdinand I. offen aus. Selbst in den restriktiv gehaltenen Armee- und Beamtenkreisen wurde nun hie und da herbe Kritik an der lähmenden Stagnation der Staatsführung laut. Als Bei­ spiel hierfür seien etwa die Aufzeichnungen des vergeblich um wirtschaftli­ chen Fortschritt kämpfenden Hofkammerpräsidenten Karl Frh. v. Kübeck12 oder die politischen Epigramme des Staatsbeamten Franz Grillparzer13 ge­ nannt. Ein beliebtes Angriffsziel der vorwiegend deutschen Beamtenschaft bot das verhaßte Regiment der mächtigen böhmischen Hofpartei. Zusätzlichen Spielraum gewann die liberale Bewegung durch den persön­ lichen Machtkampf zwischen dem Grafen Kolowrat und Metternich inner­ halb der 1836 ins Leben gerufenen »Staatskonferenz«.14 D as plötzliche Er­ wachen des politischen Bewußtseins in breiteren Schichten des gebildeten Bürgertums fand nun in der Gründung einer ganzen Reihe von Vereinen mit mehr oder minder politischer Ausrichtung seinen Ausdruck: So erfolgte im Jahre 1839 die Gründung des »niederösterreichischen Gewerbevereins«,15 dem Kaufleute und Gewerbetreibende ebenso beitraten, wie Gelehrte und freisinnige Adelige; der bereits angeführte Eh. Karl übernahm bezeichnen­ derweise das Protektorat über den Verein, während sein Bruder Johann die Ehrenmitgliedschaft erhielt. Weit skeptischer als dem Gewerbeverein stand die Staatsführung dagegen schon der im Jahr darauf gegründeten Vereini67 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

gung von Schriftstellern, Künstlern und Schauspielern, »Concordia«, ge­ genüber. Zu ihren Mitgliedern zählten u. a. Grillparzer, Lenau, Bauernfeld und Nestroy.16 Eine eminente Steigerung erfuhr das politisch-liberale Ver­ einsleben schließlich 1841 durch die Gründung des »politisch-juridischen Lesevereins«,17 dem in erster Linie hohe Beamte, Offiziere, Schriftsteller und akademische Freiberufler angehörten. Seine besondere Bedeutung liegt darin, daß er ein - allerdings keineswegs homogenes - Sammelbecken der Intelligenz der liberalen Ära darstellt. So findet man unter seinen Mitglie­ dern die späteren Minister, D r. Alexander Bach, Anton Ritter v. Schmer­ ling, Joseph Ritter v. Lasser, Adolfph Frh. v. Pratobevera, Joseph Frh. v. Doblhoff, Theodor Hornbostel und Franz Frh. v. Sommaruga, aber auch Männer, wie den Finanzexperten Karl Frh. v. Hock,18 den Natur­ rechtslehrer Anton Ritter v. Hye-Glunek, sowie Moriz v. Stubenrauch und den Juristen Eugen Edler v. Mühlfeld. D ie mitunter einzige Gemeinsamkeit stellte der Wunsch nach Beseitigung des herrschenden Systems und die Reformierung des Staats dar. Will man dennoch ein bestimmtes Programm herauslesen, so stößt man unweigerlich auf Elemente des josephinischen Zentralismus (z. B. Leo Graf Thun), gouvernmentalen Liberalismus (z. B., Schmerling), ständischer Reformgedanken (z. B. Kübeck, Chotek, D obl­ hoff) und bürgerlichen Freidenkertums (z. B. Bruck, Bach, Mühlfeld). Vom antistaatlichen und antiautoritären Geist westeuropäischer Liberaler war man - noch - weit entfernt, was die mühelose Einbindung zahlreicher Exponenten nach 1848 - etwa des liberal-demokratischen Bach19 - erst ermöglichte. Treue zur D ynastie und der Glaube an den Staat überwogen jeden revolutionären Gedanken. D ie Akzentuierung war klar deutsch-libe­ ral, so daß sich in den östlichen Provinzen der Monarchie eine weitgehend eigenständige national-liberale Entwicklung vollzog, die ihr Vorbild primär in Frankreich erblickte. D ank der geschickten Einbindung Kolowrats hatte der juridisch-politische Leseverein seine staatliche Gründungslizenz relativ anstandslos erhalten, obwohl er das tiefe Mißtrauen der Regierung genoß und dementsprechend häufig Gegenstand geheimpolizeilicher Kontrolle war. Schließlich fand sich der berüchtigte Wiener Polizeipräsident, Joseph Graf Sedlnitzky, unter Anspielung auf den politisch brisanten Gehalt man­ cher Vereinsvorträge zu der drohenden Prophezeiung veranlaßt, daß sich seine Mitglieder »zu Verbrechern lesen« würden; ein abtrünniges Vereins­ mitglied warnte den Kaiser, indem er von einer »Pflanzschule für Zwecke der Propaganda«20 sprach. Neben den amtlich legitimierten Vereinen werden ab 1840 auch eine Reihe von illegalen deutschen Studentenverbindungen faßbar, darunter die »Idu­ na« (1843), »Arminia« (1844), »Helikia«, »Liberalia« und »Germania«. In diesen Vereinen, aber auch in den Landständen, kam es zwar zu zahlreichen Berührungspunkten zwischen dem freisinnigen Adel und dem liberalen Bürgertum, 21 eine wirkliche politische Verschmelzung beider Kräfte nach dem Muster Englands fand jedoch nie statt. 68 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Programmatisch in der ständisch-konservativen Richtung des österreichi­ schen Liberalismus wirkten die Schriften Viktor v. Andrian-Werburgs und Doblhoffs. Liberale Skepsis bezüglich des Fortbestandes des Vielvölkerstaa­ tes dokumentiert Andrians aufsehenerregende Schrift, »Österreich und des­ sen Zukunft« (Hamburg 18432/47), worin vor allem der Bürokratie die Schuld am drohenden Staatsverfall zugewiesen wird. Neben der ideologi­ schen Absicht muß diese Kritik freilich auch mit dem bedenklichen Nieder­ gang der österreichischen Beamtenschaft in den vierziger Jahren in Zusam­ menhang gesehen werden. Wirtschaftspolitisch von den gemäßigt schutz­ zöllnerischen Vorstellungen des bedeutenden Nationalökonomen Friedrich List beeinflußt, sprengen Andrians Visionen eines mitteleuropäischen Rei­ ches zwar den Rahmen nationaler Grenzen, doch weist ihn die euphemistische Betonung des germanischen Elements ebenso als Protagonist eines überstei­ gerten deutschen Nationalbewußtseins aus, wie seine publizistischen Kolle­ gen. 22 Während sich die meisten von ihnen im Exil befanden-zu nennen sind an dieser Stelle vor allem Franz Schuselka und Ignaz K uranda -, lebte der durch seine »Sibyllinischen Bücher aus Österreich« (Hamburg 1848) populär gewordene K arl Moering als Geniehauptmann der k. k. Armee in Öster­ reich.23 Die Forderung nach einer Beseitigung des »Metternichschen Sy­ stems« und der Einführung liberaler Reformen liegt bei Moering bereits auf einer Linie mit dem Ziel einer nationalen Einigung Deutschlands. Mitunter treten die liberalen Forderungen sogar eindeutig hinter das große nationale Anliegen zurück, oder werden von diesem so zu sagen kanalisiert, was wiederum symptomatisch für das politische Klima vor Ausbruch der Revolu­ tion ist. Erst als die territoriale Integrität der Habsburgermonarchie 1848/49 durch die Beschlüsse der Frankfurter Paulskirche in Frage gestellt werden sollte, besannen sich Moering und seine großdeutschen Mitstreiter der historischen Sonderstellung Österreichs im deutschen Staatenverband. Eine völlige Offenlegung des breiten liberalen Spektrums in Österreich erfolgte erst durch die am Vorabend der 1848er Revolution einsetzende Polarisierung und Radikalisierung.

Anmerkungen 1 Außenpolitische Gründe für die Liberalisierung der österreichischen Innenpolitik unter Joseph II. wurden zuletzt herausgearbeitet von J. K arniel, Die Toleranzpolitik K aiserjosephs II., Gerlingen 1986. Eine aktuelle Auswahlbibliographie zu Joseph II. und seiner Regierungszeit bietet: Österreich im Europa der Aufklärung. K ontinuität und Zäsur in Europa zur Zeit Maria Theresias und Josephs II. Internationales Symposion in Wien 2 0 . - 2 3 . Oktober 1980, 2 Bde., Wien 1985, hier: Bd. 2, S. 9 6 9 - 1 0 5 1 . 2 Vgl. dazu W. Heindl, Beamtentum, Elitenbildung und Wissenschaftspolitik im Vormärz, in: H. Schnedl-Bubeniček (Hrsg.), Vormärz: Wendepunkt und Herausforderung. Beiträge zur Litera­ turwissenschaft und K ulturpolitik in Österreich, Wien 1983.

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3 Ε. Whiter, Frühliberalismus in der D onaumonarchie. Religiöse, nationale und wissen­ schaftliche Strömungen von 1790-1868, Berlin 1968, S. 13. 4 G. Franz, Liberalismus. Die deutschliberale Bewegung in der Habsburgischen Monarchie, München 1955, S. 37 f. 5 D azu u.a. Elisabeth Kovács (Hrsg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus, Wien 1979. 6 M. Wellspacher, D as Naturrecht und das ABGB, in: Festschrift zur Jahrhundert-Feier des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches - 1. Juni 1911, 2Bde., Wien 1911, hier: Bd. 1, S. 173—207; J . von Koschembahr-Lyskowski, Zur Stellung des römischen Rechtes im allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche für das Kaisertum Österreich, in: ebd., Bd. 1, S. 209-294; außerdem Franz, Liberalismus, S. 14. 7 Siehe dazu etwa K. Glossy (Hrsg.), Literarische Geheimberichte aus dem Vormärz, Wien 1912; H. Adler (Hrsg.), Literarische Geheimberichte. Protokolle der Metternich-Agenten, 1. Bd.: 1840-1843, Köln 1977. 8 Zit. nach Adler, S. XII. 9 Heindl, S. 50. 10 Nach wie vor grundlegend dazu A. Beer, D ie österreichische Handelspolitik im neun­ zehnten Jahrhundert, Wien 1891, S. 5 u. passim. 11 Μ. Rietra, Jung Österreich. D okumente und Materialien zur liberalen österreichischen Opposition 1835-1848, Amsterdam 1980. 12 Tagebücher des Carl Friedrich Freiherrn von Kübeck von Kübau, hrsg. u. eingel. v. M. V. Kübeck, 2 Bde. u. Supplementband, Wien 1909-1910, S. 643, 655 u. passim. 13 Η. ν. Hofnannsthal, (Hrsg.) Grillparzers politisches Vermächtnis, Leipzig o. J . ; O. Redlich, Grillparzers Verhältnis zur Geschichte, Wien 1901. 14 Ausführlich dazu das materialreiche Werk von V. Bibl, Die niederösterreichischen Stände im Vormärz, Wien 1911, S. 12ff. 15 Fünfzig Jahre gewerblicher Bestrebungen. Festschrift zur Feier des fünfzigjährigen Jubi­ läums des Niederösterreichischen Gewerbevereins, Wien 1890. 16 E. Winter, Romantismus, Restauration und Frühliberalismus im österreichischen Vor­ märz, Wien 1968, S. 260f. 17 D azu nur F. Engel-Janosi, D er Wiener juridisch-politische Leseverein. Seine Geschichte bis zur Märzrevolution, in: Mitteilungen des Vereines für Geschichte der Stadt Wien 4, 1923, S. 58-66. 18 Zu dessen exemplarischer Beamtenkarriere siehe Heindl, S. 55f. 19 D r. Alexander Bach trat am 21. Nov. 1848 als Justizminister (ab 28. Juli 1849 Innenmini­ ster) in das Kabinett Schwarzenberg ein, wo er geradezu zur Symbolfigur des Neoabsolutismus wurde. 20 Franz, S. 29. 21 Siehe dazu ausführlich Bibl. 22 Vgl. u. a. G. Wollstein, das »Großdeutschland« der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49, Düsseldorf 1977. 23 A. Wandruszka v. Wanstetten, Karl Moering. Ein deutscher Soldat und Politiker aus dem alten Österreich. In: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 53, 1939, S. 79-185.

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HERBERT OBENAUS

Region und politisches Interesse im Vormärzliberalismus Preußens Der preußische Staat, gegründet auf herrschaftliche Arrondierung und mili­ tärische Eroberung, setzte sich ökonomisch, sozial und historisch aus höchst unterschiedlichen Teilgebieten zusammen. Zu fragen ist, wie sich in einem solchen Staat eine politische Bewußtseinsbildung im Sinne des Liberalismus und eine gesellschaftliche Selbstorganisation im Sinne der liberalen Partei vollzog. Mit dem Liberalismus war der nationalstaatliche Gedanke untrenn­ bar verbunden - wie stellte er sich zur Betonung des Provinziellen und Regionalen in der Zeit der Restauration? Haben die Regionen und Provinzen die Programmatik des Liberalismus bestimmt? Wann überschritt der Libera­ lismus die Grenzen der Regionen, wann die der preußischen Monarchie? Wann schließlich, so wäre zu fragen, traten die regionalen Gruppen des Liberalismus zusammen, um gemeinsam auf die preußische Politik Einfluß zu nehmen?1 Am Anfang hat allerdings die Frage zu stehen, wie es überhaupt um die Ansätze von Liberalismus und liberaler Partei in Preußen bestellt war. Auffällig ist, wie schwach sich die Ansätze im Zusammenhang der staatli­ chen Reformen unter Stein und Hardenberg zu entfalten vermochten. D ie bürokratische Reform hielt sich aufs äußerste zurück, wenn es darum hätte gehen können, gesellschaftliche Unterstützungen für einzelne Maßnahmen anzufordern. D er Appell an die Öffentlichkeit ist von der preußischen Bürokratie im ersten und zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts weitge­ hend vermieden worden. D ort wo er einmal bei einer Reformmaßnahme wie 1808 bei der Beseitigung der Patrimonialgerichtsbarkeit vorkam, stieß er sofort auf Kritik innerhalb der Bürokratie. D ie konservativen Stimmen, die die Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit mißbilligten, haben dann eher auf den Kurs der Bürokratie durchgeschlagen als die liberalen, die den Freiherrn vom Stein und sein Ministerium zu stützen versuchten. D ie kurzfristige öffentliche D iskussion über Nutzen und Nachteil der Patrimo­ nialgerichtsbarkeit hat dem Ministerium Stein wahrscheinlich eher gescha­ det; sie war ein zusätzliches Argument für die Entlassung des Freiherrn vom Stein. Freiherr von Altenstein hat in dieser Situation das Prinzip der liberalen Reform ohne liberale Öffentlichkeit gut ausformuliert: »Man muß, das 71 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Neue zu erheben, nicht das Alte lästern, sondern, von dem höchsten Stand­ punkte ausgehend, bloß die Notwendigkeit des Fortschreitens . . . darlegen. Die Regierung muß nicht durch solche Flugschriften sich erst Kraft, etwas zu tun, geben wollen . . .«.2 Bürokratische Reformen beziehen also ihre Kraft nicht aus der öffentlichen Zustimmung, vielmehr resultiere im »monarchi­ stischen Staat« - so Altenstein - alles aus dem Willen des Königs. D ie Zurückweisung der gesellschaftlichen Unterstützung mußte jede liberale Regung innerhalb der Gesellschaft treffen, mußte sie schwächen, ja über­ flüssig machen. D aneben war es ohne Bedeutung, daß auch konservative Tendenzen in der Publizistik von der Zensur bekämpft wurden - das Beispiel der »Berliner Abendblätter« ist allgemein bekannt. Liberale Reformen ohne die direkte Beteiligung der liberalen Bürger schwächten die Ansätze einer liberalen Partei. Das heißt selbstverständlich nicht, daß liberale Reformen von der Gesell­ schaft absahen. D ie Fülle der Verfassungsversprechen, die in der Zeit Har­ denbergs gegeben wurden, weist z. B. darauf hin, daß die liberale Bürokratie in ihrem Vorgehen mit einer bestimmten gesellschaftlichen Erwartungshal­ tung rechnete, der sie gerecht zu werden wünschte. D ie weitreichende Ausschaltung des öffentlichen politischen Räsonnements der preußischen Bürger in der Phase der Neuordnung von Staat und Gesellschaft galt in der Bürokratie als unumgängliche Voraussetzung, um die Reformmaßnahmen auch gegen regionale und soziale Sonderinteressen erfolgreich durchfuhren zu können. Nach dem Abschluß der Reformen sollten die Bürger zur Partizipation und Repräsentation zugelassen werden, eine politische Strate­ gie, für die das Königreich Westfalen und überhaupt die Rheinbundstaaten das Vorbild abgaben. D ie Bürger wurden zu einer Haltung des Abwartens gezwungen, sie konnten nur beobachten, wie der Reformprozeß verlief, und - soweit sie an einer liberalen Entwicklung interessiert waren - auf den Erfolg hoffen. Die Kommunikation unter den liberalen Bürgern wurde in den Jahren der Reform durch Gruppen und Zirkel sichergestellt, an denen auch liberale Staatsbeamte teilnahmen. Bedeutung haben etwa die Kreise liberaler Bür­ ger, Professoren und Staatsbeamter sowie einiger Gutsbesitzer, die 1807/ 1808 zur Zeit des Ministeriums Stein in Königsberg bestanden. Zu ihnen gehörten Hans Jakob von Auerswald, der Oberpräsident von Ostpreußen, Litauen und Westpreußen, Johann Friedrich Brand, der Konsulent der Kö­ nigsberger Großbürgerzünfte, Johann Gottfried Frey, der in der Königsber­ ger Stadtverwaltung und später in der Regierung Ostpreußens tätig war, August Wilhelm Heidemann, Professor der Rechte und erster Oberbürger­ meister der Stadt Königsberg nach Einführung der Städteordnung, Theodor von Schön und Friedrich Leopold Freiherr von Schrötter, beide zu den engsten Mitarbeitern Steins gehörend. D ie Königsberger Kreise von Bür­ gern, die an liberaler Reform interessiert waren, gingen auf Kommunika­ tionszusammenhänge zurück, die auch schon vor der Staatskrise von 1806

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bestanden hatten. Sie lehnten sich auch in der Zeit des Reformministeriums Stein noch an Organisationsformen an, die in der Zeit der Aufklärung üblich waren, so an die Freimaurerlogen und - mit dem »Tugendbund« - an die Geheimbünde.3 Die Hardenbergsche Staatsverwaltung hat bis zuletzt an einer zentralstän­ dischen Repräsentation festgehalten, die in dieser Ausrichtung der zentral­ bürokratischen Organisation des Staates entsprechen sollte. Die Reformpo­ litik scheiterte aber vor ihrem Abschluß. Hardenberg wurde die Kompetenz für die Verfassungsgebung entzogen, und seine innenpolitischen Gegner, die sich um den Kronprinzen Friedrich Wilhelm sowie Ancillon, Voß und Wittgenstein sammelten, entwarfen ein Gegenkonzept zur Lösung der Ver­ fassungsfrage. Sie gaben die Interdependenz zwischen zentralstaatlicher Bü­ rokratie und Repräsentation auf und organisierten mit den Provinzialstän­ den regionale Vertretungen, die nur beratende Kompetenz hatten. D ie Pro­ vinzialstände standen mit dem König zwar ebenfalls einer zentralen Institu­ tion des Staates gegenüber, aber sie sollten in ihren Gutachten und Petitionen nicht das Interesse der Monarchie, sondern nur das ihrer Provinz verfolgen. Außerdem hatte die um den Kronprinzen versammelte Gruppe der preußi­ schen Restaurationspolitiker die neuen Stände bewußt unter dem Gesichts­ punkt der Klientelbildung organisiert. Eine Klientelbeziehung des Königs sollte besonders zum mächtigen Stand der Rittergutsbesitzer bestehen, aber auch zum Stand der Städte und der Landgemeinden. Für die Landgemeinden war außerdem vorgesehen, daß sie durch eine Revinkulierung des bäuerli­ chen Grundbesitzes erneut in eine politische Abhängigkeit zu den Ritter­ gutsbesitzern gebracht werden sollten, die Klientelbeziehungen begünstig­ te. Grundsätzlich sollte zwischen Ständen und Königtum ein Treueverhält­ nis bestehen, das jede Kritik, die einen grundsätzlichen Charakter annahm, erschwerte. Zweifellos behinderte dieses Treueverhältnis auch die Parteibil­ dung.4 Die Politik der Reform und die Politik der Restauration haben, wenn auch in unterschiedlicher Weise, die räsonnierende Kommunikation der preußi­ schen Bürger behindert: die eine ging von zeitlichen Prioritäten aus und wollte das Räsonnement der Bürger auf die Zeit nach Abschluß der Refor­ men vertagt wissen, die andere wendete sich gezielt gegen die politische Kommunikation unter den Liberalen und verfolgte sie durch Zensur, Polizei und Justiz. D ie Einrichtung der Provinzialstände verhinderte dann zwar die gesamtstaatliche Organisation der Liberalen in Preußen, räumte ihnen aber innerhalb der einzelnen Provinzen gewisse Spielräume ein. D iese Spielräu­ me haben sie genutzt: der preußische Liberalismus entfaltete sich in den Regionen der Monarchie. Damit drängt sich die Frage auf, ob der Regionalismus zu den unabding­ baren Entstehungsgrundlagen des Liberalismus gehört. Beobachtet worden ist eine solche Grundlage für D eutschland schon früh, z. Β. durch Franz Schnabel. Für Preußen ist festzustellen, daß der parteipolitische Regionalis73 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

mus durch die Konstruktion der Provinzialstände zweifellos gefördert, nicht aber ausgelöst worden ist. Bereits vor der Einrichtung der Provinzialstände gab es lokale und regionale liberale Kontaktkreise, so den erwähnten in Königsberg zur Zeit des Ministeriums Stein. Ein anderer bildete sich in der Zeit der Staatskanzlerschaft Hardenbergs im Rheinland, als nach damals verbreiteter Auffassung die Einrichtung einer zentralständischen Repräsen­ tation auf der Tagesordnung stand. Es spricht alles dafür, daß der vielfach zu beobachtende regionale Ursprung liberaler Parteizusammenhänge mit der Ausgangssituation in lokalen Gruppen und Zirkeln zusammenhängt. Ausgangspunkt der liberalen Diskussion und Kommunikation im Rhein­ land war das Bestreben, die aus der französischen Herrschaft überkommene Gesetzgebung zu erhalten, die der Region einen Vorsprung an politischer und sozialer Emanzipation gegeben hatte. D ie Rheinländer dachten mehr­ heitlich nicht daran, diesen Vorsprung aufzugeben; vielmehr forderten sie, die zukünftige Gestaltung der preußischen Rechtsordnung auf der Basis der in den linksrheinischen Gebieten gültigen Gesetze, der sogenannten »Insti­ tutionen«, durchzuführen, worunter folgende Grundsätze verstanden wur­ den: »Freiheit in Ausübung des Handels und der Gewerbe, Entfernung des Feudalsystems, gleiche Verteilung der Staats- und öffentlichen Lasten, Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetze und dem Richter, Trennung der Gewalten, Unabhängigkeit des Richteramtes, Öffentlichkeit des ge­ richtlichen Verfahrens, Urteil der Geschworenengerichte im Kriminalpro­ zeß.«5 Mit dem Kampf um die Institutionen verband sich eine eigenständige rheinische Verfassungsbewegung, die sich teils auf die Tradition der Land­ stände, teils auf einen der Französischen Revolution verpflichteten Konstitu­ tionalismus berief.6 D as regionale Sonderbewußtsein in der preußischen Rheinprovinz war also wesentlich durch die vorübergehende politische Verbindung mit Frankreich verursacht worden. Die kommunikative Struktur der rheinischen Liberalen beruhte auf einer umfangreichen Flugschriftenpublizistik, die seit 1814 zu beobachten ist und während der folgenden fünf Jahre anhielt. Sie nahm seit 1820 ab und schwoll in den dreißiger Jahren wieder an.7 Elemente einer politischen Mobilisie­ rung kamen 1817/18 durch eine Petitionsbewegung hinzu, die in den Städ­ ten Trier, Köln, Koblenz und Kleve stattfand. Außerdem ließ Joseph Görres in Koblenz eine Adresse kursieren, die wie die Adressen der Städte auf eine Verfassungsgebung in Preußen zielte und im Januar 1818 Staatskanzler Hardenberg überreicht wurde. 8 Es heißt, Görres habe für seine Adresse 8000 Unterschriften bekommen.9 Deutlich sind an den Vorgängen im Rheinland die Ursachen und Bedin­ gungen einer Regionalität von liberaler Bewegung erkennbar. D as Interesse an der Beibehaltung einer bestimmten rechtlichen Ordnung ließ die führen­ de soziale Schicht politisch aktiv werden und mobilisierte sie zur Beteiligung an einer Petition. D ie Führungsrolle übernahmen in der ersten Phase des Kampfes um das Rheinische Recht besonders die Juristen, in den dreißiger 74 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

und vierziger Jahren dagegen Kaufleute und Industrielle.10 Das gemeinsame Interesse war von außen her - durch die französische Besatzung - geschaffen worden, es basierte aber auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens. Wichtig ist jedoch für die Einschätzung der Regionalität des Liberalismus, daß er im Rheinland durchaus auch beabsichtigte, die Grenzen der Region zu überschreiten. Görres zumindest und die den Burschenschaften nahestehen­ den liberalen Gruppen in Hessen planten, mit der Verfassungspetition in der Rheinprovinz überhaupt die Verfassungsarbeiten in den Staaten des D eut­ schen Bundes voranzubringen und auf die Verwirklichung des Art. XIII der Bundesakte hinzuarbeiten. D er Petition an den preußischen König sollte daher, nachdem sie zunächst »die Leute einmal einstimmig zu einem Werk« vereinigt hatte, eine weitere wegen des Art. XIII an den Bundestag folgen.11 Diese zweite Petition hat Görres dann zwar nicht mehr organisiert, der Zusammenhang des preußisch-provinziellen und des gesamtdeutschen Li­ beralismus ist aber unübersehbar. Nach der jeweiligen Gewichtung ist je­ denfalls immer zu fragen. Liberalismusregionen, die in sich soweit abge­ schlossen waren, daß sie keine überregionalen oder gesamtdeutschen Ak­ zente trugen, hat es offenbar nicht gegeben. In der preußischen Rheinprovinz ist erkennbar, daß mit der Einrichtung der Provinzialstände und der Einberufung des ersten Landtags von 1826 das Bemühen um die Aufrechterhaltung des rheinischen Rechts neue Impulse erhielt. Insbesondere ging es um die Abwehr des Plans, zum Jahre 1828 das preußische Allgemeine Landrecht an die Stelle der französischen Gesetze treten zu lassen. Zum Kampf um das Rheinische Recht gehörte außerdem die Verteidigung einzelner Institutionen wie z. Β. die Kommunalverfassung. In den altpreußischen Gebieten gab es seit 1808 die Städteordnung, wohin­ gegen die Einführung einer ländlichen Gemeindeordnung, die ja die Macht­ position der Rittergutsbesitzer tangieren mußte, von den Restaurationsan­ hängern verhindert wurde. Während des Vormärz haben sich dann die Liberalen der ostelbischen Provinzen ständig für ländliche Kommunalord­ nungen eingesetzt, wohl wissend, daß von hier aus die politische Emanzipa­ tion der Landbevölkerung wesentlich vorangetrieben werden konnte. D ie Trennung von ländlicher und städtischer Kommunalordnung war für sie­ ganz anders als im Rheinland - kein Problem. D ie Anhänger des Liberalis­ mus innerhalb eines Staates vertraten also nach Provinzen unterschiedliche Konzepte für die kommunale Verwaltung und Repräsentation, wobei die eine stärker in der Tradition Frankreichs, die andere mehr in der Preußens stand. Der Versuch der D urchsetzung des Prinzips getrennter Kommunalord­ nungen für Stadt und Land stieß im Rheinland auf starken Widerstand. Als der dortige Landtag von 1826 beschloß, daß zwei getrennte Kommunalord­ nungen für Stadt und Land erlassen werden sollten und damit die zentrale rheinisch-liberale Forderung nach einer Gleichbehandlung von Stadt und Land außer Acht ließ, rief dies eine politische Gegenbewegung hervor, die 75 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

sich mit der Gemeindeordnung von 1845 schließlich weitgehend durchsetz­ te.12 Überregionale und gesamtdeutsche Verbindungen des Liberalismus sind im Rheinland seit den zwanziger Jahren erst einmal nicht mehr erkennbar. Das läßt sich dadurch erklären, daß die Reaktion von Karlsbad ganz wesent­ lich gegen derartige liberale Verbindungen gerichtet war. In Preußen wird das noch dadurch unterstützt, daß die Regierung nur eine regionale Partizi­ pation zuließ und eine überregionale Verbindung zwischen den Provinzial­ landtagen verbot. Außerdem gibt es - und auch das wird mit der politischen Klimaveränderung nach Karlsbad zusammenhängen - in den Regionen so etwas wie einen Rückfall oder Rückzug des Liberalismus auf die sachlich begründbaren Interessen; theoretische Ansprüche, wie sie im Prinzip der Partizipation oder der Freiheit und Gleichheit zum Ausdruck kommen, erscheinen nur noch in konkreter Gestalt. So wird die Forderung nach einer einheitlichen Gemeindeordnung in Stadt und Land von Hansemann 1828 mit dem gemeinsamen Interesse begründet, das »sich während einer Gene­ ration gebildet« habe.13 Der regionale Liberalismus der Rheinprovinz war dem preußischen Mini­ sterium seit dem Augenblick der Besitzergreifung bekannt. Er wurde von ihm gefürchtet, was darin zum Ausdruck kam, daß hier - mit Westfalen und schließlich auch Posen - die Landtage zuletzt einberufen wurden. Ganz anders die liberale Bewegung in Ost- und Westpreußen, die seit 1829 zur Provinz Preußen zusammengeschlossen waren. Manifest wurden liberale Tendenzen in dieser Provinz dort, wo man sie seitens des Ministeriums am allerwenigsten erwartet hatte, nämlich im Stand der Rittergutsbesitzer. Als es 1824 auf dem ersten Landtag um die Beratung der Kreisordnungsentwür­ fe ging, die vom Grundsatz einer Restauration der alten Kreisverfassung geprägt waren, bezogen die Rittergutsbesitzer der Provinz Preußen eine abweichende Position: Während ihre Standesgenossen in allen ostelbischen Landtagen für sich ein Virilstimmrecht im Kreistag verlangten und Städten und Landgemeinden allenfalls eine marginale Repräsentation einräumen wollten, konzedierten sie den beiden anderen Ständen den Proporz des Landtags, also das Verhältnis 3:2:1. Auch sollte der Zugang zum Landrats­ amt allen Ständen geöffnet werden. Es ging den Rittergutsbesitzern also nicht um die Restauration der Ausschließlichkeit ihrer gesellschaftlichen Position, sondern um die Partizipation auch anderer Gruppen an der Kreis­ verwaltung. D as Konzept einer Aufrechterhaltung der politischen Herr­ schaft der Rittergutsbesitzer über die Landbevölkerung auch nach den Agrarreformen, das von der führenden Gruppe der Restaurationspolitiker in Berlin entworfen und von den ostelbischen Rittergutsbesitzern weithin unterstützt worden war, stieß bei den Standesgenossen der Provinz Preußen auf Ablehnung. Sie wählten statt der Politik der gesellschaftlichen Subordi­ nation auf dem Lande die der Kooperation und der sozialen Selbstverant­ wortung. Woher diese abweichende politische Richtung kam, bedarf der 76 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Erklärung. D ie Abweichung stellte jedenfalls eine große Überraschung für die preußische Staatsführung dar, da die Rittergutbesitzer der Provinz im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zu den entschiedensten Kritikern der Reformpolitik Hardenbergs gehört hatten. Eine zentrale Ursache ist darin zu sehen, daß das zeitliche Zusammenfal­ len der Agrarreformen mit dem Niedergang des Getreideexports die Pro­ vinz in eine Notlage stürzte, von der alle Schichten betroffen wurden. Durch die Folgen der Not: wachsende Armut und Kriminalität-Widersätzlichkeit der bäuerlichen Bevölkerung gegen die Anweisungen der Obrigkeit - Land­ hunger zur Befriedigung der elementaren Bedürfnisse - Schwächung der dörflichen Substanz durch die Einverleibung von Bauernland und Bauern­ stellen in die Gutswirtschaften, sahen sich die Rittergutsbesitzer genötigt, eine Sicherung ihrer Stellung auf dem Lande anzustreben. D iese Sicherung sahen sie in der Beteiligung der Bauern an den Verwaltungsaufgaben auf dem Lande, d. h. in einer Kommunalordnung. Nicht die Subordination der Bauern, wie es das Ziel der preußischen Restauration war, sondern deren Partizipation wurde zum Leitbild der Rittergutsbesitzer in der Provinz Preu­ ßen. Mit der Forderung nach kommunaler Partizipation und Selbstverwal­ tung auf dem Lande übernahm eine wichtige regionale Gruppe der Ritter­ gutsbesitzer Teile der liberalen Programmatik.14 Es war eine spezifisch altpreußische Programmatik des Liberalismus, d. h. die ländliche Kommu­ nalordnung wurde separiert von der Städteordnung gesehen. D as wirt­ schaftliche Zusammenwachsen von Stadt und Land, dessen Berücksichti­ gung die rheinischen und zum Teil auch die westfälischen Liberalen forder­ ten, war in der Provinz Preußen und den anderen ostelbischen Provinzen noch kein Thema. Neben den wirtschaftlichen Schwierigkeiten von Ost- und Westpreußen seit 1806 haben wahrscheinlich auch andere Gründe für die Herausbildung liberaler Positionen bei den Rittergutsbesitzern gesorgt. Zu ihnen gehörte ein gewisser Gewöhnungsprozeß, der durch die institutionalisierte Koope­ ration mit Vertretern der freien Bauern, den sogenannten Köllmern, sowie der Städter im Komitee der ostpreußischen und litauischen Stände seit 1809 ermöglicht wurde. D ie Aufnahme von Vertretern der Bauern und Städter in das Komitee war durch die Reformbürokratie erzwungen worden, um für die Lösung der Finanzprobleme eine Repräsentation der wichtigsten sozia­ len Gruppen zur Verfügung zu haben.15 Auf Initiative der Rittergutsbesitzer hat dieses Komitee dann eine entschiedene konservative Opposition gegen die hardenbergschen Reformen betrieben. D ie politische Kooperation mit freien Bauern und städtischen Bürgern wirkte dann wahrscheinlich in der Weise fort, daß die Rückkehr zu einer die anderen sozialen Gruppen aus­ schließenden Rolle der Rittergutsbesitzer auf der Kreisebene nicht mehr als opportun angesehen wurde. So kam es zur Ablehnung einer erneuten sozia­ len Privilegierung der Rittergutsbesitzer in den Kreisen und im Landrats­ amt. 77 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Das Bestehen eines bürgerlichen Diskurses im Rahmen des Komitees der ostpreußischen und litauischen Stände, der in dieser Form in keiner anderen Provinz der Monarchie erkennbar ist, und der Wunsch nach einer Beteili­ gung und Mitverantwortung der Bauern bei der Verwaltung der Landge­ meinden und Kreise führten die Rittergutsbesitzer zur liberalen Program­ matik und Partei. D ie Verankerung in der Partei ist im Vormärz durch die schwierige wirtschaftliche Situation der Provinz und die von Rittergutsbe­ sitzern, städtischem Bürgertum und Bauern aus der Randlage in der Monar­ chie heraus betriebene gemeinsame Politik ständig verstärkt worden. D ie wirtschaftlichen Schwierigkeiten haben unter den Rittergutsbesitzern - aus­ gehend vom Liberalismus - auch zu weiteren Lösungsstrategien geführt, so zu den Überlegungen des ostpreußischen Landrats Moritz von Lavergne­ Peguilhen, die Notlage in der Provinz und überhaupt die gesellschaftliche Entwicklung durch eine staatliche Finanz- und Industrialisierungspolitik zu steuern.16 Mit der Provinz Preußen trat in den zwanziger Jahren nach der Rheinpro­ vinz die andere »Flügelprovinz« der Monarchie in die Phase der politischen Dominanz des Liberalismus ein. Grundsätzlich ist dann auch in allen anderen Provinzen der Monarchie seit den dreißiger Jahren die Bildung von liberalen Gruppen und Zirkeln zu beobachten, besonders gilt das von den urbanen Zentren wie Münster, Halle, Magdeburg, Berlin, Breslau, Stettin oder Danzig. D ie Zentren korrespondierten mit Zirkeln in den kleineren Städten und auf den Gütern. D ie wichtigste Anregung kam von außen, von der Julirevolution in Frankreich. D ie vielfältigen Formen der Organisation, der Kommunikation und der Identitätsbildung sind bereits verschiedentlich wissenschaftlich erörtert worden; wie auch die ökonomischen und sozialen Grundlagen der liberalen Parteiansätze bedürfen sie jedoch weiter der inten­ siven regionalen und vergleichenden Untersuchung. Grundsätzlich wurde versucht, alle Formen der gesellschaftlichen Selbstorganisation für die Par­ teibildung zu nutzen, besonders das Vereinswesen. Im kommunalen Bereich stützte man sich auf Kasinos, Ressourcen oder Lesegesellschaften, im priva­ ten auf die zahlreichen Formen der kommunikativen Gruppenbildung, die vom gemeinsamen Essen bis zur Vortragsveranstaltung reichten.17 D ie Programme für die Organisation von Verfassung und Gesellschaft gleichen sich sehr, nur im Rheinland und in Westfalen erhalten sich besondere Ak­ zentsetzungen, die sich aus der eigenen Geschichte und den Traditionen des französischen Rechts ergaben. In den dreißiger Jahren setzen auch die Außenkontakte der liberalen Regionalgruppen in Preußen wieder ein, spektakulär z. B. im Fall der Solida­ ritätsaktionen für die Göttinger Sieben oder für Sylvester Jordan in Mar­ burg. Eine andere Funktion hatte der Kontakt, der von Eduard Graf Rei­ chenbach und seinem auf dem Rittergut Waltdorf in Schlesien tagenden liberalen Kreis zu Robert Blum und den »Sächsischen Vaterlandsblättern« in Dresden unterhalten wurde. Vorrangig war hier das Streben, die preußische 78 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Zensur zu umgehen und über die zeitweilig liberalere Presseordnung im Königreich Sachsen wieder in die Provinz Schlesien hineinwirken zu kön­ nen. D ie Publizistik und die Vortragsreisen der liberalen Opinion-leaders sorgten für eine Verbesserung des Kontakts und des Austausches zwischen den liberalen Regionalgruppen. Eine besondere Rolle spielten die ökonomischen Forderungen der Libera­ len, insofern sie zwischen den regionalen Gruppierungen nicht selten stark differierten. D as gilt z. B. für die Wirkungen des Zollvereins. Von ihm heißt es in der Provinz Preußen 1847, seine Tarife hätten »im Interesse der Ge­ werbsproduktion mehr und mehr den Charakter einer Schutzzoll-Bestim­ mung angenommen«. D er Zoll führe dazu, daß die Provinz wichtige Im­ porte, erwähnt werden Roh-, Bruch- und Stangeneisen, »theurer bezahlen muß, als bei freiem Handel«. 18 D ementsprechend entschied sich der mehr­ heitlich liberale Landtag der Provinz Preußen 1845 gegen Eingangszölle auf Eisen, während der ebenfalls mehrheitlich liberale Landtag der Rheinpro­ vinz 1843 für Eisenschutzzölle stimmte. 19 Die divergierenden Auffassungen der Liberalen gingen auf eine unterschiedliche regionale Interessenlage zu­ rück, eine Situation, die sich außerhalb Preußens auch in der heiß umstritte­ nen Haltung der Liberalen von Baden und Württemberg zum Zollverein äußerte. Selbst unter den Liberalen an einem Ort gab es aufgrund unter­ schiedlichen Interessenlagen Gegensätze in der Zollfrage, die Auseinander­ setzung zwischen Kaufleuten und Industriellen in Köln zeigt dies. 20 Die regionale D ifferenzierung des Liberalismus belastete allerdings in Preußen die Partei bis 1847 kaum. D ie Gegensätze wurden nicht zwischen den Liberalen ausgetragen, es sei denn, daß sie wie in Köln innerhalb einer Region aufbrachen. D ie liberale Partei Preußens wurde erst aus Anlaß des Vereinigten Landtags von 1847 vor die Aufgabe gestellt, eine gesamtstaatli­ che politische Praxis zu entwickeln. Die regionalen Gruppen der liberalen Partei traten sich am Vorabend des Landtags mit ihren jeweiligen politischen Konzepten ohne Vorbereitung gegenüber. Auf der einen Seite standen die ostelbischen Provinzen der Monarchie, die sich dafür aussprachen, den Vereinigten Landtag für inkom­ petent zu erklären, da er die im Verfassungsversprechen von 1815 zugesag­ ten Rechte nicht enthalte. D ie Inkompetenzerklärung lief auf eine Politik des politischen Boykotts hinaus, durch den die Monarchie zu weiteren Zuge­ ständnissen gebracht werden sollte. Auf der anderen Seite standen die Libe­ ralen aus der Rheinprovinz, abwartend in der Mitte die aus Westfalen. D ie Rheinländer sprachen sich gegen den Boykott und unter gewissen Bedin­ gungen für eine Kooperation mit der Regierung aus. Sie stellten sich damit auf den Boden der mit dem Vereinigten Landtag geschaffenen Tatsachen, wollten zwar die durch das Verfassungsversprechen zugesagten Rechte vor­ behalten, also insbesondere keine Steuern und Anleihen bewilligen, im übrigen aber die parlamentarische Arbeit aufnehmen. Das Gegenüber eines west- und eines ostelbischen Liberalismus weist auf 79 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

zwei jeweils in sich mehr oder weniger geschlossene Großregionen hin. In der Rheinprovinz dominierte eine liberale Bewegung mit »eindeutig großbürgerlichem Charakter«, östlich der Elbe fehlten im Bürgertum die industriellen Vertreter; dafür dominierten Kaufleute und Angehörige aka­ demischer Berufe. 21 Hinzu kam eine Beteiligung der Gutsbesitzer, beson­ ders in Ost- und Westpreußen. Die Einigung der liberalen Abgeordneten am Vorabend des Vereinigten Landtags schloß wichtige regionale Widersprüche bewußt aus, insbeson­ dere die in der Schutzzollfrage zwischen Vertretern von Handel und Indu­ strie bestehenden. Von den rheinischen Abgeordneten Hermann von Bek­ kerath und Gustav Mevissen ist bekannt, daß sie ihre protektionistischen Auffassungen nur mit verhaltenem Engagement vortrugen; denn, so er­ klärte Beckerath später, es sei nicht erwünscht gewesen, »die eben erst lebendig in das Bewußtsein getretene, noch nicht durch eine feste Staats­ form geschützte Einigkeit der Stände schon gleich auf eine harte Probe zu stellen. Mehrere Provinzen haben in der Industrie- und Schiffahrtsfrage ein entgegengesetztes Interesse oder glauben es wenigstens, es zu haben, und es würde mutmaßlich zu einem hartnäckigen Kampf gekommen sein.« 22 D ie Verfassungsfrage hatte den unbedingten Vorrang vor der Zollfrage. Erst nachdem die Position des liberalen Bürgertums verfas­ sungsmäßig abgesichert gewesen wäre, sollte die Zollauseinandersetzung geführt werden. Weshalb nun die Liberalen der ökonomisch und sozial weiterentwickel­ ten Rheinprovinz auf den Versuch einer Kooperation mit der Regierung drängten, während die Parteianhänger aus den anderen preußischen Pro­ vinzen einen Boykott des Vereinigten Landtags für politisch opportun hielten, hing mit dem Stand der Parteientwicklung der beiden Großregio­ nen zusammen. Hinter dem Boykott stand die Einschätzung, daß man Zeit habe, während die Regierung wegen der dringend benötigten Staats­ anleihen, die der Landtag bewilligen sollte, irgendwann zu Zugeständnis­ sen gezwungen sei. Indessen, so erwartete man, würde die liberale Partei weiter wachsen. Im Rheinland bestand ein solcher Optimismus nicht mehr. Folgt man der Einschätzung, die Heinrich von Sybel Anfang 1847 von der liberalen Partei in der Rheinprovinz gegeben hat, so war diese an einem Wendepunkt ihrer Entwicklung angekommen: Sie habe durch die Aufgabe einer Politik zur Realisierung des Prinzips der Menschenrechte und der Volkssouveränität von ihrem emanzipatorischen Anspruch verlo­ ren, sie sei dadurch für die D emokraten und Sozialisten angreifbar gewor­ den. D iesen Angriffen könne die Partei nur widerstehen, wenn sie - so Sybel - ein Bündnis mit dem preußischen Staat eingehe. Partei und Staat hätten gleichgerichtete Interessen, beide seien an der Bekämpfung von Sozialisten, Kommunisten und D emokraten interessiert, beide bildeten auch eine Front gegen die katholische Partei. Sybel drängte aber die Re­ gierung, das Bündnis mit dem Liberalismus bald einzugehen. »Noch« sei 80 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

die Partei »stark genug, wenn die Regierung ihr entgegenkommt, dieser die öffentliche Meinung mit überwiegendem Einflusse zuzuwenden«.23 Als am Vorabend des Vereinigten Landtags die beiden Konzeptionen des preußischen Liberalismus aufeinanderprallten, lag eine Spaltung nahe; denn die Standpunkte waren unvereinbar und in der unterschiedlichen sozialöko­ nomischen Situation östlich und westlich der Elbe verankert. D ie Entschei­ dung für eine der Konzeptionen fiel dann auch nicht durch Argumente, sondern durch den Übergang von Abgeordneten aus dem Stand der ost-und westpreußischen Rittergutsbesitzer zu den Rheinländern. D iese regionale und soziale Gruppe des preußischen Liberalismus trug auf Grund ihres Loyalitätsdenkens schwer an der drohenden Konfrontation mit dem König­ tum, die aus der Boykottpolitik entstehen mußte. Sie hat daher die Chance wahrgenommen, zur Strategie der Rheinländer überzugehen. Trotz äußerster Kompromißbereitschaft war das Konzept des rheinischen Liberalismus nicht erfolgreich; denn die preußische Regierung lehnte es ab, weitere konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. So führte der Landtag nicht zur Einigung des preußischen Liberalismus, sondern zu neuen Boy­ kottüberlcgungen und zu neuen Spaltungserscheinungen in der Partei. In dieser Situation wurde der Liberalismus in Preußen, eben aus der provinziel­ len Isolierung gerissen, durch die »Deutsche Zeitung« mit der Herausforde­ rung konfrontiert, das Angebot einer Führungsrolle an die preußische Mo­ narchie zu akzeptieren. Regionale Interessen des preußischen Liberalismus, anläßlich des Vereinigten Landtags noch vehement vertreten, wurden durch eine derartige nationale Aufgabenstellung, schließlich durch die Revolution von 1848 marginalisiert.

Anmerkungen 1 D as Folgende beruht im wesentlichen auf meinem Beitrag zum Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus, das von der Kommission für Geschichte des Parlamentaris­ mus und der politischen Parteien herausgegeben wird: Anfänge des Parlamentarismus in Preußen bis 1848, Düsseldorf 1984. Die Anmerkungen beschränken sich auf Zitate und weiter­ führende Literatur. 2 H. Scheel u. D . Schmidt, Das Reformministerium Stein. Akten zur Verfassungs- und Ver­ waltungsgeschichte aus den Jahren 1807/08, Berlin 1968, S. 1028 f. 3 D azuW.Hubatsch, Stein und die ostpreußischen Liberalen, in: ders. (Hrsg.), Stein-Studien, Köln 1975, S. 64—85, wo allerdings die kommunikativen Strukturen nicht ausdrücklich thema­ tisiert werden. Zu den Personalien: Altpreußische Biographie, Bd. 1 u. 2, Königsberg 1941/ Marburg 1967. Über die Freimaurer in Königsberg zuletzt H. Heinelt, Erwartungen und Erfahrungen. D as Bild der Freimaurerei in Briefen Johann Gottlieb Fichtes und Theodors von Schön (1792-1797), in: Preußenland 22, 1984, S. 17-31; neuere Literatur über die Freimaurer: ebd., S. 1, Anm. 1. 4 D azu Obenaus, Anfänge, S. 385. Ferner H. Ohenaus, Patronage und Klientel in der preußi­ schen Innenpolitik der Restauration und des Vormärz (Manuskript, soll in einem Sammelband

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über eine Konferenz von Historikern und Sozialwissenschaftlern der Universitäten Hannover und Poznań zum Thema Patronage und Klientel erscheinen). 5 K .-G. Faber, Die Rheinlande zwischen Restauration und Revolution. Probleme der rheini­ schen Geschichte von 1814 bis 1848 im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik, Wiesbaden 1966, S. 112. 6 Ebd., S. 273-302. 7 Dazu eine Aufstellung bei Faber, S. 450—467, die aber wegen ihres Auswahlcharakters nur begrenzt Aufschlüsse über die Quantitäten erlaubt. 8 Dazu Faber, S. 273-294. 9 Ebd., S. 280 mit Anm. 77. 10 E. Fehrenbach, Rheinischer Liberalismus und gesellschaftliche Verfassung, in: W. Schieder (Hrsg.), Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz, Göttingen 1983, S. 279. 11 Görres an Perthes, 25. Dez. 1817: Faber, S. 276. Auch in Aachen wurden auf Initiative von Bürgern Unterschriften für eine Adresse an den Bundestag gesammelt: ebd., S. 279. 12 Obenaus, Anfänge, S. 219-223; Faber, S. 193f. 13 Faber, S. 194. 14 H. Obenaus, Gutsbesitzerliberalismus. Zur regionalen Sonderentwicklung der liberalen Partei in Ost- und Westpreußen während des Vormärz, in: GG 14, 1988, S. 304-328. 15 H. Obenaus, Verwaltung und ständische Repräsentation in den Reformen des Freiherrn vom Stein, in:JMO 18, 1969, S. 165f. 16 E. Pankoke, Sozialer Fortschritt und soziale Verwaltung. Planungstheoretische Ansätze in der deutschen Staats- und Gesellschaftswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Die Verwaltung 2, 1969, S. 425-443. 17 Obenaus, Anfänge, S. 388-401, 617—648. Eine Untersuchung der liberalen und frühso­ zialistischen Gruppen in den Kreisen Wiedenbrück und Bielefeld bei U. Synowski, Die politi­ sche Opposition in Ostwestfalen zur Zeit des Vormärz, Diss. Geistes- und Sozialwissenschaften Hannover 1987 (Masch.). 18 Denkschrift der Kommission »zur Erörterung der Ursachen des in der Provinz Preußen öfter wiederkehrenden Nothstandes«, 15. Jan, 1847: Druck, S. 12f. 19 K . Nauwerck, Übersicht der wichligern Abstimmungen der Preußischen Provinzialland­ tage 1841, 1843 und 1845, Berlin 1845, S. 16f. 20 Fehrenbach, S. 283-285; H. Best, Interessenpolitik und nationale Integration 1848/49, Göttingen 1980, S.43f., J . J . Sheehan, Liberalismus und Gesellschaft in Deutschland 1815-1848, in: L. Gall (Hrsg.), Liberalismus, K öln 1976, S. 215f 21 W. Schieder, Probleme einer Sozialgeschichte des frühen Liberalismus in Deutschland, In­ ders. (Hrsg.), Liberalismus, S. 20, Zitat umgeformt; Fehrenbach, S. 279f., 22 K ölnische Zeitung vom 25. Juli 1847, zitiert nach Best, S. 119, Anm. 249. 23 H. v. Sybel, Die politischen Parteien der Rheinprovinz in ihrem Verhältnis zur preußi­ schen Verfassung geschildert, Düsseldorf 1847, S. 81. Zu den politischen Überlegungen Sybels V. Dotterweich, Heinrich von Sybel. Geschichtswissenschaft in politischer Absicht (1817-1861), Göttingen 1978, 97f. Fehrenbach, S. 280, weist auf den »Pragmatismus der Rheinländer« hin, »der sich von der weit mehr von doktrinären Verfassungsidealen bestimmten Haltung der süddeutschen, aber auch der ostpreußischen und schlesischen Liberalen unter­ schied«.

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WOLFGANG K A S C H U B A

Zwischen Deutscher Nation und Deutscher Provinz Politische Horizonte und soziale Milieus im frühen Liberalismus

Manche geschichtlichen Phänomene entziehen sich dem Beobachter, je mehr er sich ihnen anzunähern versucht. D er frühe deutsche Liberalismus besitzt diese Eigenschaft zweifellos in so hervorragendem Maße, daß dies fast als sein historisches Markenzeichen erscheinen könnte: seine Vagheit, seine Schemenhaftigkeit als politischer Ideenhorizont wie als politisch-so­ ziale Bewegung. Was in historischen Handbuchdefinitionen so überzeugend klingt, wenn er dort kurz und prägnant als Bewegung des mittleren bis gehobenen Bürgertums und als Programm sozialer Freiheit und nationaler Einheit charakterisiert wird, das sucht man dann in der zerklüfteten gesell­ schaftlichen Landschaft des deutschen Vormärz meist vergebens. Der Nen­ ner ist zu groß, die Formel zu grob. Bürgerliche Realpolitik in dieser Zeit, selbst wo sie sich explizit »liberal« nennt, hat mit den zur Kardinaltugend erhobenen »liberalen Grundwerten« meist wenig gemein: Verfassungstheo­ rie und praktische Politik reiben sich aneinander, bleiben im Widerspruch. Dabei ist jenes Bild vom zielklaren »langen Marsch« der liberalen Väter aus dem Spätabsolutismus über die vormärzlichen Ständekammern in die demokratische Paulskirche selbst im Bereich der historischen Forschung noch ausgesprochen lebendig. Es ist das Resultat einer langen Tradition historisch-politischer Legendenbildung, ein bereits zu Lebzeiten entstande­ ner Mythos, an dessen Festigung frühe Liberale wie späte Liberalismusfor­ scher gleichermaßen mitgewirkt haben. D aß er - wie alle Mythen - den historischen Tatsachen widersprach und schon von Zeitgenossen heftig attackiert wurde, verschlug offenbar wenig. Wegbegleiter der »frühen Jah­ re«, wie der Journalist Arnold Ruge, sägten dennoch energisch an diesem Piedestal unbefleckter liberaler Empfängnis und verwiesen auf sehr viel profanere Geburtsumstände: »D iese kleinstaatliche Freiheit und die Freiheit der Untertanen wie wir D eutsche sie jetzt genießen, konnte nun freilich keinen anderen Geist, als den des Liberalismus hervorbringen, den guten Willen zur Freiheit, aber nicht den wirklichen Willen der Freiheit. D ie 83

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Untertanen gehorchen vielleicht nur ihren Gesetzen, aber diese sind ihnen geschenkt, sie sind nicht wirklich autonom, sie haben keinen Begriff davon, daß die Gesetze freier Wesen ihr eigenes Produkt sein müssen (...) D er politische Liberalismus hat das alte Spießbürgerbewußtsein zur Vorausset­ zung: er ist nur scheinbar ein neuer Geist.«1 Ruges Kritik ist scharf, vielleicht überpointiert. D och macht sie aus zeitgenössischer Sicht nochmals auf einen wesentlichen historischen Wir­ kungszusammenhang aufmerksam, den die Liberalismusforschung lange Zeit als ebenso selbstverständlich wie für die Gesamteinschätzung ihres Gegenstandes unwesentlich betrachtet hat: die frühliberale Bewegung als ein Kind der feudalen deutschen Territorialgeschichte. D amit - so schien es brauchte man sich nicht lange aufzuhalten, weil dies lediglich plausibel machte, weshalb »die Nation« zunächst zum so ausschließlichen Kristallisa­ tionspunkt liberaler Ideen werden mußte, weshalb sich andererseits die liberale Gesellschaftspolitik programmatisch nur so zögerlich und schüch­ tern entwickeln konnte. In der Retrospektive erschien es also ganz zweifels­ frei, daß es allein die deutsche Kleinstaatlichkeit war, welche die liberale Bewegung partialisierte und sie in ihrem nationalen Zusammenschluß wie an ihrer vollen politischen Entfaltung behinderte. Indessen läßt sich mit Ruge eben auch in umgekehrter Richtung argumen­ tieren. Es spricht inzwischen mancher Forschungsbefund dafür, jenes regio­ nalistische Profil des deutschen Frühliberalismus als die durchaus genuine Ausdrucksform einer bürgerlichen Bewegung zu verstehen, für deren poli­ tischen und verfassungsrechtlichen Horizont »die Nation« damals zwar einen programmatischen Orientierungspunkt und ein strategisches Argu­ ment bedeutet, jedoch noch keinen realpolitischen Handlungshorizont. In­ sofern verkörpern die spätabsolutistische Territorialstruktur, ihr vielgestal­ tiges wirtschafts-, sozial- und konfessionsgeschichtliches Profil und ihre lokalbürgerliche Tradition eben nicht nur Hemmsteine auf dem Weg bür­ gerlicher Neuorientierung. Vielmehr bilden sie zugleich auch den angemes­ scnen, ja den eigentlich konstitutiven Rahmen für einen langen bürgerlichen Abschied von der ständegesellschaftlichen Vergangenheit. D enn in diesem Rahmen und vor diesen lokal-regionalen Horizonten entsteht und formiert sich die liberale Bewegung. Ebenso erscheint ihr Programm zunächst als ein begrenztes, lebensweltlich orientiertes Modernisierungskonzept, als ideolo­ gisches Scharnier zwischen traditionaler und moderner Bürgerwelt. - D as mag gewissermaßen als Richtungsangabe gelten für die folgenden Überle­ gungen, in denen ich einige Aspekte solch einer kritischen »Historisierung« und »Territorialisierung« des frühen Liberalismus-Bildes zu skizzieren ver­ suche.

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Bürgerlichkeit statt Bürgergesellschaft? Für diese Perspektive spricht nachdrücklich bereits die soziale wie politische Heterogenität des Liberalismus. Die wenigen empirischen Untersuchungen seines Sozialprofils zeichnen ihn als ein ausgesprochen breites Spektrum, als ein regelrechtes Sammelbecken bürgerlicher Gruppen und Identitäten, vom gehobenen Bürgertum bis in die handwerkliche und sogar in eine bäuerliche Klientel hinunter. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts scheint sich noch fast alles unter dem Stichwort »liberal« versammeln zu können und sich vereinbaren zu lassen: konstitutionell-monarchistische Positionen ebenso wie republikanische oder demokratische Gesinnung, die Haltung des Staatskritikers wie die des überzeugten Staatsbeamten, nationales Pathos wie engagierter Kleinstaaten-Patriotismus. Robert Mohl erinnert sich in seiner Autobiographie an die große deutsche Kolonie der 1820er Jahre in Paris, die vom Handwerksgesellen bis zum preußischen Legationsrat reichte und in der er »nur solche« kennen lernte, »welche der liberalen Partei angehörten und zum Teil sehr weitgehenden Schattierungen derselben.«2 Kein Wunder, als Ausweis liberaler Gesinnung genügten vorerst offenbar zwei demonstrative Bekenntnisse: die grimmige Schelte spätabsolutisti­ schen D enkens und der heilige Schwur vor dem Altar deutscher Nation wie auch immer dieses sacrum sanctum letztlich aussehen mochte. Auch darin zeigt sich wiederum jene Heterogenität: Liberale Grundposi­ tionen markieren zunächst kaum innere programmatische Übereinstim­ mungen zwischen bürgerlichen Gruppierungen und Interessenlagen, son­ dern machen sich an äußeren Bezugspunkten und Spiegelflächen fest. Nicht Zollpolitik, Gewerbereform oder Wahlrecht, lediglich ein abstrakter Kon­ stitutionsgedanke und ein nach außen gewendeter Nationalismus bilden die wirklich unumstrittenen Nenner. Die vielfache Gegensätzlichkeit der Über­ zeugungen und das Rudimenthafte der Positionen wird überdeckt, indem man die liberalen Gewissensfragen nach außen projiziert: auf die Geg­ nerschaft zum spätabsolutistischen Regime und auf die Ablehnung der diplomatischen »Fremdherrschaft« über Deutschland, die beide zusammen eine nationale Selbstbestimmung in Freiheit verhindern. Selbst bei einem so reflektierten Vordenker wie Paul Pfizer klingt diese Tendenz zur Pro­ blemverlagerung nach außen noch deutlich an, wenn er im Jahr 1832 fordert, »daß jede Nation ihre eigenthümliche Lebensaufgabe löse und erfülle, und in diesem Geschäfte nicht durch die Herrschsucht und Gewalt der andern gestört und aufgehalten werde.« Noch deutlicher: »D eutschland, die Hei­ math des Gemüths und des Gedankens, der tieffsten Innerlichkeit, wird ewig mit Frankreich, dem Lande der Bewegung und des äußerlichen Le­ bens, einen Gegensatz bilden, der es unmöglich macht, daß sich D eutsch­ land unter Frankreichs Oberherrschaft auf die Dauer wohl befinde.«3 Hinter dieser Projektionswand nationaler Einheits- und Freiheitstopoi freilich verbirgt sich das, worauf Ruge in seiner Schelte liberaler Selbstbe85 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

schränkung anspielt: die Niederungen einer pragmatischen und in ihrem sozialen wie regionalen Blickfeld oft eng begrenzten bürgerlichen Interes­ senpolitik. Auf dieser operativen Seite des liberalen Programms erscheint weniges visionär. D er Katalog von sozialmoralischen Werten und politi­ schen Forderungen bietet in seiner politischen Substanz nicht sehr viel mehr als eine bloße Addition pragmatischer Interessen und tagespolitischer Be­ dürfnisse, vermischt mit humanistischen Leitmotiven der Aufklärung und mit französischen und englischen Verfassungsgedanken. Es ist ein maßstäb­ lich vergrößertes bürgerliches Lebenswelt-Modell, das als »Bürgerlichkeit«, als »ethisch gefärbte Maxime der Lebensführung« (Max Weber) nun bedeu­ tungsvoll zukunftsweisenden Charakter und allgemeine gesellschaftliche Gültigkeit für sich beansprucht. In seiner Begrenztheit entspricht indessen es durchaus der sozial dispara­ ten und politisch noch »ungeklärten« Lage der bürgerlichen Gruppen. Ei­ nerseits ist die Szenerie der deutschen Vormärzjahre geprägt von den be­ kannten strukturellen Krisenerscheinungen im kleingewerblichen Bereich wie im landwirtschaftlichen Sektor und zugleich von den politisch-atmo­ sphärischen Ausläufern der französischen Revolutionswellen nach 1830. Wie neuere sozial- und regionalgeschichtliche Forschungen gezeigt haben,4 berühren diese Erschütterungen gerade im Handwerk und Kleingewerbe auch eine wesentliche Klientel liberaler Politik. Handwerksmeister und Gesellen stehen sich in gewerbe- und sozialpolitischen Konflikten zuneh­ mend auch in ideologischer Frontstellung gegenüber, für die beiderseits »liberale« Grundpositionen in Anspruch genommen werden. Und nicht immer reicht der aufschiebende Verweis auf einen übergeordneten nationa­ len Konsens aus, um die ungelöste Problematik der sozialen Frage zu ent­ schuldigen und das damit aufbrechende D ilemma liberaler Politik noch einmal zu überdecken. - Allmählich bereitet sich da eine jener späteren Bruchstellen zwischen bürgerlich-liberalem und demokratischem Flügel vor. Andererseits läßt sich im engeren Blick auf die eigentlichen Trägergrup­ pen des Liberalismus ein gewisser sozialer Stabilisierungsprozeß erkennen, der durch den Aufschwung der nationalen und liberalen Ideen nach dem Hambacher Fest auch politisch noch befestigt wird. D ie bürgerliche als die kommende nachabsolutistische Gesellschaft scheint mehr nur eine Frage der Zeit und der Geduld zu sein als abhängig von revolutionären Kraftakten. Es ist dies ein Optimismus, der sich speist aus der fortschreitenden Anglei­ chung von bürgerlichem Erfahrungsraum und bürgerlichem Erwartungs­ horizont. In wirtschaftlicher und beruflicher, in kultureller und politischer Hinsicht ist der Aufstieg vor allem jener neuen bürgerlichen Gruppierungen unübersehbar, die sich im Staatsapparat, in den ständisch-parlamentarischen Vertretungen, im Bereich der Öffentlichkeit und der Massenmedien etab­ liert haben. Um nur die Stichworte zu nennen: die Bürokratisierung und die staatlichen Reformprogramme, die nach 1815 in Preußen wie in den Süd86 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

weststaaten eine wachsende Nachfrage nach gebildeter Intelligenz auslösen und so als Basis für bürgerliche Beamtenkarrieren und damit auch für den »beamteten« Liberalismus dienen; dazu das neu geordnete Schulwesen und das akademische Bildungssystem mit ihren erweiterten Möglichkeiten für bürgerliche Bildungs- und Aufstiegsstrategien; die Expansion des Presse­ und Buchmarktes und die Vervielfachung der Schriftsteller- und Journali­ stenexistenzen zwischen Jahrhundertwende und Vormärz; die ständischen Kammern und die bürgerliche Öffentlichkeit als Forum der Rechtsanwälte, der halbprofessionellen Politiker und der freien Berufe insgesamt; schließ­ lich die Lockerung der Gewerbeverfassungen, die den kleinen unternehme­ rischen Gruppen neue Handlungsspielräume eröffnet.5 Diese Gruppierungen freilich sind nun keine bürgerlichen Untertanen mehr, die sich noch nach Art der Handwerksmeister und Honoratioren alter Prägung bereitwillig in das »gemütliche Knechtschaftsverhältnis« (Karl Marx) altständischer Berufs- und Lebenswelten fügen mögen. Es sind selbstbewußte Bürger, die sich selbst die Fähigkeit und die soziale Kompe­ tenz zubilligen, die gesellschaftliche Ordnung insgesamt mitzuformen und mitzubestimmen. So ist es vor allem ihre Sicherheit, ihr Selbstbewußtsein, welches die Bausteine liefert für jene optimistische Mittelstandsideologie, die zum Kern liberaler Gesellschaftsentwürfe wird. Karl Biedermann spricht von jenem »kräftigen, intelligenten, durch Besitz und freie Gewerbstätigkeit unabhängigen Mittelstand . . . , welcher in den modernen Staaten der haupt­ sächliche Träger politischer Bildung und Willenskraft zu sein pflegt«.6 Ähn­ lich beschreibt Friedrich D ahlmann »die Lage der realen Volkselemente«: »Fast überall im Weltteile bildet ein weitverbreiteter, stets an Gleichartigkeit wachsender Mittelstand den Kern der Bevölkerung; er hat das Wissen der alten Geistlichkeit, das Vermögen des alten Adels zugleich mit seinen Waffen in sich aufgenommen.« 7 Dabei besitzt dieser Mittelstandsbegriff keineswegs den modernen, leicht abschätzigen Beiklang des Mittelmäßigen, sondern er sieht die bürgerlichen Gruppen plaziert in der Bildmitte eines sich wandeln­ den Gesellschaftsgefüges. Sie bilden gleichsam die zentrale Achse, um die sich die Welt dreht und die zugleich ihrerseits nun diese Welt bewegt. Gegen Mißverständnisse allerdings, gegenüber allzu demokratischen Er­ wartungen einer künftigen bürgerlichen Gleichheit für alle, sind auch in diesem sozialen Szenario bereits Differenzierungen und Sicherungen einge­ baut. Die Vorstellung einer allgemeinen Mittelstands-Gesellschaft wird rela­ tiviert durch einen sozial wie politisch abgrenzenden bürgerlichen Schicht­ begriff. D ahlmann etwa fügt seiner gesellschaftspolitisch scheinbar offenen Positionsbestimmung ausdrücklich das warnende Monitum hinzu: »Will dieser Mittelstand sich als Masse geltend machen, so hat er die Macht . . . , sich in einen bildungs- und vermögenslosen Pöbel zu verwandeln.«8 Die »Bürgerlichkeit« als ein Versprechen für alle wird bereits hier, längst vor der 1848er Revolution, deutlich zurückgenommen. Soweit die For­ schung das bisher empirisch untersucht hat, vermittelt sich vielmehr der 87 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Eindruck, daß sich die verschiedenen Gruppen des Besitz- und des Bil­ dungsbürgertums zunehmend nach unten abschotten, sich bereits überwie­ gend aus sich selbst heraus rekrutieren, weil die Wirtschafts-, Status- und Bildungspotentiale lokal wie regional begrenzt sind. Zwei Generationen von »Bürgern« haben sich seit der Jahrhundertwende ökonomisch und sozial weitgehend etabliert, teils als »soziale Aufsteiger«, teils in Fortsetzung familiärer Status- und Berufskarrieren des älteren Patrizier- und Honora­ tiorentypus. Vorerst scheinen die Eintrittsbilletts zu den »besseren« bürger­ lichen Räumen damit verteilt, der soziale Numerus clausus des Bildungspa­ tents wie des Lebensstils, jene eigentümliche deutsche »Kultur der Gebilde­ ten« (Heinrich Laube) macht die Zugänge wieder schmaler.

»Die Nation«: Zielvorgabe oder Legitimationsformel? Von dieser sozialformativen Seite her betrachtet, verraten die liberalen Posi­ tionen und Orientierungen im Vormärz sehr deutlich, wie plakativ bis dahin die gemeinsamen Zielformulierungen liberaler Politik zwangsläufig sein müssen und welch unterschiedliche Bedeutungen sich dahinter verbergen können. Zugleich verdeutlicht sich in diesem Blickwinkel freilich nochmals der unbefriedigende Stand einer Liberalismusforschung, die - abgesehen von (zu) wenigen empirischen Lokal- und Regionaluntersuchungen - im­ mer noch die »großen« Nenner und gemeinsamen Etiketten in der frühlibe­ ralen Bewegung sucht, statt in deren Unübersichtlichkeit und Vielfalt gera­ de den »systematischen« Ausdruck ihres Oppositionscharakters zu sehen. Ihr eigentliches Bewegungsprinzip scheint zunächst eben in diesem dialekti­ schen Wechselverhältnis von kritischen und von identifikatorischen Einstel­ lungen zu den jeweiligen staatlichen, gesellschaftlichen und kulturellen deutschen Wirklichkeiten begründet. Vereinender und verbindender als je­ des Programm wirkt offenbar der gemeinsame Erfahrungshorizont dieser »Oppositionshaltung«. Insbesondere bedarf die mittlerweile zwar nicht mehr ganz junge, inhalt­ lich jedoch noch keineswegs ausgestandene D ebatte um den konzeptuellen Charakter frühliberaler Politik dringend neuer Forschungen und Argumen­ te. 9 Ob man dabei von einer noch emanzipatorischen Vision der Bürgerge­ sellschaft ausgehen kann oder von einem bereits klassengesellschaftlich zu­ geschnittenen bourgeoisen Programm - solche kontroversen Positionen, wie sie namentlich von Lothar Gall und Wolfgang J . Mommsen vertreten wurden, lassen sich wohl nur in dem Maße noch fruchtbar weiterdiskutie­ ren, wie sie von der Ebene einer bloßen Programmexegetik wegverlagert werden hin zur sozialgeschichtlichen Analyse bürgerlich-liberaler Forma­ tionsprozesse. Da ist Wolfgang Schieders Zwischenbilanz zuzustimmen, der kürzlich die D iskussion resümierte und für deren Fortsetzung zum einen 88 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

mehr und genauere Aufschlüsse über die Organisationsstruktur der liberalen Bewegung forderte, zum andern detailliertere Rekonstruktionen ihres So­ zialprofils unterhalb der schmalen Führungsebenc. Sonst sei vor allem dem zentralen Problem »der Gleichzeitigkeit von traditionaler Gesellschaftspoli­ tik und moderner Verfassungspolitik« nicht beizukommen.10 Auch solche Gleichzeitigkeit der Gegensätze indessen, jene liberale D op­ pelgesichtigkeit wäre erst einmal grundsätzlich zu hinterfragen. Wie voll­ zieht sich überhaupt dieses stillschweigend vorausgesetzte, vermeintlich organische Zusammenwachsen von Programm und Bewegung, von natio­ naler Idee und territorial-regionalem Horizont? Holt der Liberalismus seine nationale Idee gewissermaßen programmgemäß ein, in dem er sein Verfas­ sungswerk schrittweise aus den Einzelstaaten auf die Bundesebene vor­ schiebt? Oder spricht nicht manches eher auch für eine umgekehrte D eu­ tung: Konfrontieren ihn nicht die Jahre 1848 und 1849 mit einer »nationalen Wirklichkeit«, die nun unabweislich auch in der Gestalt der »sozialen Frage« auftritt? - Als der Frage nach sozialer Demokratie, in der die Liberalen jetzt tatsächlich politische Farbe bekennen müssen und dies, indem sie endgültig auf den nationalen Kurs ausweichen, »realpolitisch« eben auch tun. Ist nicht erst diese erzwungene Entscheidung des Nachmärz, dieses Apriori der Einheit vor der Freiheit jener Moment, in dem sie gesellschaftspolitisch das Boot der Klassenpartei besteigen? Für eine Periodisierung der Liberalismusgeschichte würde das immerhin bedeuten, daß in der frühen Phase dem pluralen bürgerlichen Bewegungs­ charakter tatsächlich mehr Gewicht beigemessen werden muß. D aß hier noch sein regionaler Horizont und seine lebensweltliche Orientierung im Vordergrund stehen und daß andererseits »die Nation« noch weniger die zentrale Zielvorgabe liberaler Politik verkörpert als vielmehr die zentrale Legitimationsformel liberaler Bewegung. Solange sich die »nationale« Auf­ gabe als ureigenstes Herzensanliegen, zugleich jedoch als noch unerreichba­ rer Schlüssel zur allgemeinen Problemlösung darstellen läßt, solange mag sich auch die gesellschaftspolitische Gewissensfrage als zweiter, als nachge­ ordneter Schritt liberaler Politik glaubhaft machen lassen - der unterbürger­ lichen Klientel wie sich selbst und dem eigenen liberalen Gewissen gegen­ über. Gewiß ist die liberale Haltung zur »sozialen Frage« natürlich auch im Vormärz bereits gerade durch ihre Undeutlichkeit, durch ihr Ausweichen hinreichend gekennzeichnet. An allen wesentlichen Stationen des damaligen Diskurses über künftige Verfassungs- und Gesellschaftsstrukturen wird of­ fenkundig, daß die liberalen Wortführer eine »Ergänzung der individuellen Grundrechte durch einen sozialen Grundrechtskatalog« mehrheitlich und entschieden ablehnen.11 Nie wird beispielsweise das Zensuswahlrecht in frühen Verfassungen wie der badischen oder der württembergischen zu einer ähnlichen Prinzipienfrage erklärt wie das ständische Repräsentations­ prinzip - und damit stillschweigend einem Privilegierten-Wahlrecht zuge89 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

stimmt. So kann in Württemberg gerade ein Siebentel der Bürger aktiv wählen, wovon wiederum »zwei D rittheile« die Höchstbesteuerten stel­ len. 12 Auch alle späteren D efinitionen des Wahlrechts und des demokrati­ schen Prinzips weisen sorgsam eingebaute soziale Sicherungen auf: Friedrich Dahlmann verlangt vom Wähler »die volle Rechtsfähigkeit« und »ein an­ ständiges bürgerliches Auskommen«; 13 Carl Theodor Welcker baut seine »Staatsverfassung« vorzüglich auf »selbständigen«, vom »König und vom Volk möglichst unabhängigen« Männern als Volksrepräsentanten auf und erklärt ausdrücklich: »Volksdespotismus ist um kein Haar besser als Königs­ despotismus«;14 selbst Paul Pfizer schränkt vorsichtig verklausuliert ein: »Auch sind die heutigen Liberalen wohl der großen Mehrzahl nach darüber einig, nicht unmittelbare Volksherrschaft, sondern einen solchen Zustand zu erstreben, in welchem eine dem entschiedenen Volkswillen beharrlich wi­ derstrebende Regierung nicht mehr möglich ist.« 15 Überdies taucht immer wieder die verräterische Formulierung auf von der angesichts seiner langen »Unmündigkeit« notwendigen »Bildung des Volkes«. Gemünzt natürlich auf die unteren Schichten, meint sie einen Bildungsprozeß, der sozialmoralische wie politische Leitwerte ganz im bür­ gerlichen Sinne beinhaltet. D as wäre dann jener allgemeine Stand der »Bür­ gerlichkeit« - der doch gleichzeitig als eigener, als elitärer Status verteidigt wird. So entziffert sich auch diese Bildungsforderung als zusätzliche Rück­ versicherungsklausel eines Projektes »D emokratie«, das verfassungsrecht­ lich alle einschließt - um gesellschaftspolitisch dann für den Ausschluß großer nicht-bürgerlicher Gruppen zu argumentieren. Dies alles spricht dafür, die Entstehungsgeschichte der Bewegung und den sozialen Standort ihrer Trägergruppen auch als Ausgangspunkt der liberalen Gesellschaftspolitik ernster zu nehmen, also von der Prägekraft eines »liberalen Milieus« auszugehen, das vielfach noch in engen territoria­ len und ständischen Erfahrungsräumen wurzelt. D enn sobald sich der libe­ rale Ideen- und Wertehorizont in der Tagespolitik mit konsequent demokra­ tischen Positionen in der Verfassungsfrage, mit dem Wunsch nach einer völligen Öffnung des Staatsbürgerrechts oder mit wirklich »bourgeoisen« Standpunkten in Gewerbe- und Zollfragen konfrontiert sieht, orientiert er sich doch meist zurück auf zentrale Traditionsbestände eines ständisch ge­ prägten Gesellschaftsbildes.16 Gewiß bleibt dabei die antiabsolutistische Blickrichtung erhalten. Doch ist die Idee einer freieren, gerechteren, initiati­ veren Bürgergesellschaft in der Tat stets relativierend formuliert, bezogen auf eigene Standpunkte und Interessen: Die alten, ständischen Sicherheiten bürgerlicher Existenz sollen nicht aufgelöst, sondern quasi »modernisiert«, durch neue politische und verfassungsrechtliche Versicherungen ersetzt werden; die äußeren bürgerlichen Statuszeichen und Identitätsmerkmale dürfen über ökonomischen, politischen und kulturellen Transformations­ prozessen nicht verloren gehen. Das Konzept heißt »maßvoller Fortschritt«, der eine Mittellinie halten soll zwischen ständegesellschaftlicher Herkunft 90 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

und klassengesellschaftlicher Zukunft und der daher »die Einteilung der Gesellschaft in Berufs- und Funktionsstände« letztlich noch kaum in Frage stellt.17 Hans-Ulrich Thamer hat darauf hingewiesen, wie sehr jenes sich rückver­ sichernde Gesellschaftsbild und jene »frühliberale Konzeption von Mittel­ stand« noch im doppelten Sinne eine »moralische wie eine soziale Katego­ rie« verkörpern; wie stark in Fragen der Zunftverfassung, der Gewerbe- und der Zollpolitik keineswegs nur bei den Handwerkergruppen sondern beim Gros der liberalen Bewegung die Sorge vor dem Aufbrechen traditoneller Ordnungsgedanken den Reiz ökonomisch-sozialer Experimente über­ wiegt. 18 Und ganz ähnliche Kontinuitäten ließen sich zweifellos aufzeigen, musterte man jenen bürgerlich-kleinbürgerlichen Wertekanon einmal ge­ nauer durch, der in dieser Übergangszeit die Legitimationsgrundlage bür­ gerlichen Alltagsverhaltens bestimmt: etwa den Bereich der bürgerlichen Ehre, der geschäftlichen Solidität, der beruflichen Kompetenz oder die Ebene des Konsumverhaltens und der materiellen Lebensführung. Auch hier finden sich über weite Strecken noch die alten Formen und Strategien bürgerlich-ständischer Statusbehauptung von den Geselligkeitsformen bis zur Heiratspolitik. Trotz neuer Akzente hinsichtlich der Betonung von Leistung, von Initiative, von Individualität bleibt die alte Folie »bürgerlicher Tugenden« erhalten, jener Wertekanon der »Hausväter«, in den neuhumani­ stische Ideen und klassizistische Ideale eingeschmolzen sind. Selbst die neuen Elitegruppen der Wirtschaftsbürger und der freien Berufe müssen sich diesem sozialen Komment und seinem moralischen Gewicht noch weithin beugen. Sie tun dies offensichtlich auch bereitwillig, weil sich ihnen, als sozial wie regional vergleichsweise mobilen Gruppen, damit zugleich Integrationsschleusen in die bürgerlichen Milieus neuer Arbeits­ und Wirkungsstätten öffnen. D as zeigt, wie sehr die sich erst allmählich entwickelnden großbürgerlichen Identitätskonzepte und Klassenmerkmale noch eingebunden sind in traditionelle, lebensweltliche Verortungssysteme, wie sehr die Besitz-, Ausbildungs- und Karrierestrategien noch nach den Regeln der Honoratioren- und Lokalbürger-Welten verlaufen. Als neuer Bürgertypus wird bestenfalls der Citoyen geduldet, noch längst nicht der Bourgeois. Friedrich Engels pointierende Gegenüberstellung der »lokalen« Perspektiven des kleinen Bürgertums und des »universellen« Horizontes der großen Bürger spielt nicht zuletzt auf dieses sozialmoralische Spannungs­ verhältnis an. Dieses Verständnis einer noch lebensweltlich gebundenen und ausge­ formten Bürgeridentität prägt auch den liberalen Diskurs über die künftigen Staats- und Gesellschaftsmodelle. Was dabei an Vorstellungen entwickelt wird, orientiert sich zumeist unmittelbar an den als »natürliche« gesell­ schaftliche Grundeinheiten aufgefaßten Instituten der Gemeinde und der Familie - D ahlmann nennt sie einen »Naturstaat« im Kleinen - und behält auch die entsprechenden traditonellen Konstruktionen des Familien- und 91 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Gemeindebürgerrechts in vieler Hinsicht bei. Analog dazu werden Verfas­ sung und Staat als »Erziehungsanstalten« gesehen, um den Menschen »in die Ausbildung seiner physischen und moralischen Anlagen zu setzen«, als »Anstalten für die Kultur und Zivilisation des menschlichen Geschlechts«. Und Karl Salomo Zachariä, der dies 1839 schreibt, fügt erklärend hinzu: »Ich verstehe unter Kultur die Entwicklung der physischen - der körperli­ chen und intellektuellen - Anlagen des Menschen, wodurch der Mensch in den Stand gesetzt wird, von diesen Anlagen einen beliebigen Gebrauch zu machen - und unter Zivilisation oder Gesittung die äußere Achtung für das Sittengesetz aus Scheu vor dem Urteile anderer.«19 Fast beliebig ließe sich da an die Stelle des Staates auch die Familie, die Schule oder die Gemeinde setzen - mit derselben politisch-sozialpädagogischen Funktionszuschrei­ bung im Sinne des naturrechtlichen Korporations- und Gesellschaftsbegrif­ fes. D iese bürgerliche Gesellschaft scheint selbst auf der progammatisch­ visionären Ebene nie ganz kühn vom Wunsch her entworfen nach den großen Freiheiten, sondern stets auch vom Bedürfnis geprägt nach den kleinen Lebenseinheiten, Bindungen, Traditionen.

Regional-Liberalismus im Südwesten? Besonders augenfällig wird diese Verankerung in regionalen und kulturellen Traditionen sicherlich im deutschen Südwesten. In Baden und in Württem­ berg, die ja nach 1805 erst aus sehr heterogenen territorialen, wirtschaftli­ chen, sozialen, konfessionellen Elementen zu »Staatsgesellschaften« zusam­ mengeschweißt werden sollen, prägen diese äußeren Konstitutionsbedin­ gungen nachhaltig auch den Charakter des liberalen Programms wie der liberalen Bewegung. Sie selbst entsteht ihrerseits ja erst im Zuge der neuen territorialen Ordnung, der Kämpfe um neue Verfassungen und der sozialen Konflikte und Positionsstreits, in denen sich die Gruppen ihren Platz im neuen Gesellschaftsgefüge suchen. Von dieser sozialen Ortsbestimmung am stärksten betroffen ist zweifellos das bürgerliche Spektrum, das nun in einem weiten Bogen von reichsstädtischem Patriziat, über kleinstädtische Honoratiorengruppen und neue Intelligenz bis zu alten ländlichen Eliten reicht. Und nur ganz allmählich formt sich aus diesen Gruppen ein bürgerli­ ches Mittelschichtsgefüge, in dem sich freilich die Spuren der verschiedenen Herkunftsmilieus und der alten Eliteformationen noch lange Zeit erhalten. In den württembergischen Verfassungskämpfen bis 1819 zeigen sich diese Wurzeln ganz deutlich im hartnäckigen Festhalten einer breiten bürgerlichen Mehrheit an der besonderen altständischen Tradition der Landesverfassung. Diese Forderung nach der Bewahrung des »alten, guten Rechts« beruft sich auf jenes Vertretungsprinzip der Landstände in den altwürttembergischen Landtagen, welches gerade von den traditionellen ländlichen und bürgerli92 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

chen Eliten als das eigentlich »volkstümliche« Repräsentationsmodell gegen die neue Konstitution ins Feld geführt wird. Gleichzeitig stellt sich auch ein Großteil der liberalen Bewegung gegen den königlichen Verfassungsent­ wurf, obwohl dieser in vieler Hinsicht durchaus fortschrittlich anmutet, z. Β. auf eine eigene Adelskammer verzichten will. Namentlich in den Verfassungsdiskussionen der Jahre 1815 bis 1819 kommt so eine Opposi­ tionsfront gegen die Regierung zustande, in der die Liberalen gemeinsam stehen mit den Konservativen. Die ersteren argumentieren »altständisch«, weil sie um des demokratischen Prinzips willen eine selbstbestimmte, keine oktroyierte Verfassung wollen; die anderen verteidigen mit den alten Grundsätzen zugleich ihre politischen Privilegien. Sachlich wie strategisch erscheinen die Koalitionen und Fronten insofern regelrecht seitenverkehrt, falsch. In der ehemals freien Reichsstadt Eßlingen wiederum zeitigt dieser Ver­ fassungsstreit fast eine Spaltung der Bürgerschaft. Bereits im Frühjahr 1818, mehr als ein Jahr bevor die württembergische Verfassung dann verabschie­ det wird, reichen 120 Bürger eine Eingabe an die städtischen D eputierten ein, in der diese aufgefordert werden, den Magistrat der Stadt dazu zu bewegen, »dem Könige für so viele Wohlthaten, die aus dem Verfassungs­ Entwurf so wohl, als auch durch andere Verfügungen hervorgehen«, öffent­ lich zu danken. D iese Eingabe, namentlich von kleinen, im Magistrat nicht vertretenen Handwerkergruppen unterzeichnet, wird von den D eputierten zurückgewiesen, da sie der Ansicht sind, daß man damit »zugleich alle seine Ansprüche auf eine ständische Verfassung aufgeben würde«. Sie verweisen überdies darauf, daß sie selbst bereits im Vorjahr bei der Regierung aus­ drücklich gegen eine Steuererhebung ohne vorhergehende Landtagseinbe­ rufung als einen Verstoß gegen »das durch die heiligsten Verträge begründe­ te Recht der Selbstbesteuerung« protestiert hatten. Anlaß für eine D ank­ adresse sei also bei bestem Willen nicht gegeben. D en Unterzeichnern der Eingabe bleibt daraufhin nur der schriftliche Protest, in welchem sie hinter diesem abschlägigen Bescheid eine »feindselige« Einstellung der D eputier­ ten zur Verfassung vermuten. Hier findet der Konflikt also offensichtlich in sozial-lokalen Spannungen zwischen »kleinem« und »großem« Bürgertum seine Ausdrucksformen. Zudem ist daran besonders bemerkenswert, in welchem Brustton der Über­ zeugung auch die Deputierten einer ehemaligen Reichstadt, die nun gerade ein Jahrzehnt dem württembergischen Staats verband angehört, sich auf alte »heiligste Verträge« und auf ein »dem Volke feyerlich zugesagtes Recht« berufen. Man stellt sich damit in eine Tradition, die nicht die eigene ist, die nun jedoch für die »bürgerliche Sache« steht und der eigenen städtischen Selbstverwaltungstradition durchaus verwandt erscheint - verwandt im Hinblick auf aufrechten Bürgersinn ebenso wie auf eine Tradition reichstäd­ tischer Bürgerprivilegien rings um Rat und Mandat. Beide Motive sind wohl vorhanden, denn von den sechs Deputierten, die den Antrag zurück93 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

weisen, wendet sich im weiteren Vormärz jeweils die Hälfte den Liberalen und den Konservativen zu. 20 Für nicht-württembergische Liberale freilich, selbst für solche, die mit der Situation im Lande einigermaßen vertraut sind, scheint derartiges Verhalten - zumal in solchen Koalitionen - schwer nachvollziehbar. Carl Varnhagen von Ense, D uzfreund manches Stuttgarter Liberalen, kommentiert den württembergischen Verfassungsdisput in völligem Unverständnis: »D ie Altwürttemberger waren beschränkt und störrisch in ihren politischen Be­ griffen, verlangten die für das zusammengesetzte Königreich nicht mehr anwendbaren Satzungen des kleinen Herzogtums.« 21 Auf den ersten Blick mag dieser Vorgang wirklich mehr kurios als bedeut­ sam erscheinen, eher zum besonderen Kapitel regionaler Eigenarten und Mentalitäten als zur politischen Geschichte gehörig. Tatsächlich jedoch berührt er unmittelbar jenes Eliten-Selbstverständnis und jene Tradition politischer Kultur, auf die sich auch wesentliche Teile der liberalen Träger­ gruppen in Württemberg noch bis in die späte Vormärz- und die Revolu­ tionszeit hinein beziehen. Für ihre politische Identität sind solche historisch­ regional geformten Bezüge und Kontinuitäten offenbar mindestens ebenso wichtige Komponenten einer politischen Positionsbestimmung wie ande­ rerseits das Verhältnis zu den »großen Fragen« etwa der nationalen Einheit oder der gesellschaftlichen Reform. D eshalb wird die Parole vom »alten Recht« im Vormärz dann auch zu einer Art symbolischer Chiffre für eigene emanzipatorische Traditionen, für »freien Bürgersinn« bereits in der alten absolutistischen Gesellschaft. In die schlichte Opposition von »konservativ« versus »modern« lassen sich solche liberale Einstellungen also offenbar nicht einpassen, weil sie gleichsam quer liegen zu den üblichen politischen Kategorisierungen. Gera­ de Altliberale wie Ludwig Uhland bieten in ihrer programmatischen Orien­ tierung und in ihrem Abstimmungsverhalten in Landtag wie Nationalver­ sammlung ein anschauliches Beispiel dafür, wie dieses Element einer »regio­ nalen« politischen Identität sich verbinden kann mit den unterschiedlichsten Sehweisen auf die »Nation« und die »Moderne«, sich einmal scheinbar dem linken, dann wieder dem rechten politischen Spektrum zuneigend. Eine Erscheinung, die Wolfgang Hardtwig in abgeschwächter Form als Charak­ teristikum der deutschen Vormärzlandschaft insgesamt feststellt: »Program­ matik und später auch Organisation der Parteien sind geprägt durch ein Wechsel- und Spannungsverhältnis von Regionalismus oder Partikularis­ mus und Zentralismus oder nationaler Einheitsvorstellung.«22 Im übrigen sind sich manche Liberale damals dieses Problems, dieser inneren Wider­ sprüchhehkeit selbst sehr wohl bewußt. Uhland lobt 1840 in einem Brief an Karl Theodor Welcker nochmals die Leistungen des eben verstorbenen Karl von Rotteck beim Zustandekommen der »Repräsentativverfassungen der mittleren deutschen Staaten«, mahnt indessen selbstkritisch: »Aber wir stehen an der Grenze einer lebendigen Wirksamkeit auf diesem Wege. . . ; 94 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

und eben in dem Absterben des kleinstaatlichen Verfassungswesens scheint mir die Notwendigkeit einer großartigen Entwicklung gesetzt zu sein.« 23 In Baden lassen sich ähnlich partikularistische Einstellungen besonders in der frühkonstitutionellen Phase beobachten. D ort scheint im Vorfeld der Verfassung und dann in deren parlamentarischem Vollzug eine eigene »badi­ sche Tradition« des Liberalismus dadurch neu zu entstehen, daß die zweite Kammer des Landtags und in ihr vor allem die liberalen Abgeordneten ab 1819 wohl stärker als in jedem anderen deutschen Einzelstaat zum Kristalli­ sationspunkt liberaler Volksbewegung werden. Eine neue politische Kom­ munikationsstruktur bildet sich heraus, organisiert in informellen wie insti­ tutionalisierten Formen über Presseorgane, Wahlkomitees und Zirkel. Zu Ehren der Abgeordneten veranstaltet man Bankette und Versammlungen, man bildet Gesprächskreise und diskutiert Kammerreden, tritt mit »vielen Illustrationen des Liberalismus . . . in brieflichen Verkehr«.24 Insbesondere nach 1830 dann bezieht die badische liberale Bewegung aus diesem politi­ schen Dialog zwischen Sprechern und Anhängern eine ganz eigene regionale Dynamik, die sich immer wieder nur auf Zeit mit der nationalen Bewegung synchronisiert. Zum einen hängt dies wohl damit zusammen, daß sich im unmittelbaren Umfeld der liberalen Kammerabgeordneten natürlich der politische Diskurs konzentriert, sich dort auch institutionalisieren kann, und daß von diesem Knotenpunkt aus sich ein dichtes Netzwerk politischer Kommunikationsfä­ den bis in die lokalen Gruppierungen hinein spannt. Auch der hohe Beam­ tenanteil unter den badischen Mandatsträgern wie ihren Anhängern25 und die besonders »liberalen« badischen Verhältnisse eröffnen dabei zusätzliche Wege und Verbindungsmöglichkeiten, so daß Basis und Führung der Libe­ ralen auf diese Weise in einem, für den deutschen Vormärz ungewöhnlich engen Kontakt stehen. Zum andern bilden die Abgeordneten bzw. der Petitionsausschuß der Kammer die zentrale Anlaufstelle für Adressen, für Kritik, für »Motionen« der Bevölkerung. Norbert D euchert hat unlängst wenigstens andeuten können, welchen Umfang diese Adressen- und Peti­ tionsbewegungen besonders in den 1840er Jahren schließlich annehmen. Allein die Kampagne für die Gleichstellung des Deutsch-Katholizismus mit den anderen christlichen Religionen erbringt schließlich insgesamt 353 Peti­ tionen mit über 50000 Unterschriften26 - ein für damalige Maßstäbe ganz außergewöhnlicher Erfolg plebiszitärer Massenmobilisierung. All dies trägt schließlich dazu bei, daß »die Kammer« zum Identifikations­ punkt, zum buchstäblich selbst-gewählten Symbol einer politischen Mas­ senbewegung wird, die in öffentlichen Festen und Kundgebungen, in Eh­ rungen und Verfassungsfeiern ihre Mandatsträger als Wegbereiter künftiger »Volkssouveränität« feiert. Schon nach wenigen Jahren werden die Anfänge dieser wirklichen »Volksbewegung« der Liberalen - auch wenn die klein­ bürgerlichen Gruppen dominieren - von ihren Trägern selbst als »vaterlän­ dische Tradition« beschworen. Die Verfassung wird bei den Jubiläumsfeiern 95 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

von 1843 gar zum »badischen Katechismus« erklärt. In fast kulthaft über­ höhten Formen stellt man dem spätabsolutistischen Herrschaftsprinzip und seinem »Untertanengeist« nun stolz die Symbole und Subjekte neuen »Bür­ gersinns« entgegen. Mit diesen Hinweisen zur sudwestdeutschen Entwicklung ist das Pro­ blem des »Regional-Liberalismus« sicherlich nur oberflächlich angerissen. Vielleicht immerhin weit genug, um damit plausibel machen zu können, daß sich diese regionalistische und partikuläre Konsistenz des Frühliberalis­ mus keineswegs nur aus den äußeren Handlungsbedingungen ergibt, die politisch und verfassungsrechtlich eben zunächst einzelstaatlich definiert sind. Gewiß kommt dieses Moment verstärkend hinzu, ebenso wie das wachsende Spannungsverhältnis von »Einheit« und »Freiheit«, das ange­ sichts des vormärzlichen Restaurationsklimas in D eutschland gerade die südwestdeutschen Liberalen fast zwangsläufig dem regionalen Horizont zutreibt, der wenigstens ein Mehr an bürgerlicher Freiheit versprechen mag. Wesentlicher indessen scheint mir, daß diese liberale Bewegung ihrer inneren Konstitution und ihrem eigenen Selbstverständnis nach als »regio­ nalistische« Bewegung denkt und handelt. Zwar gibt sie sich nationale Zielvorgaben, doch ihre politisch-moralische Energie als »Volksbewegung« und als »Volksvertretung« schöpft sie aus einem engeren sozialen und histo­ rischen Horizont, auch aus einem je spezifischen Verhältnis zur regionalen politischen Kultur. Johann Georg August Wirth rechtfertigt die Forderung nach der »politischen Einheit« ausdrücklich auch mit diesem »regionalisti­ schen« Argument: »D enn dieselbe ist eben das einzige Mittel zur Freiheit und Wohlfahrt der einzelnen Provinzen.«27 Die unterschiedlichen sozioöko­ nomischen Bedingungen, historischen Herrschafts- und ständischen Reprä­ sentationsformen, antifeudalen Traditionen und religiösen Prägungen fügen sich in jeweils anderer Kombination zu einem Bezugsrahmen politischer Orientierung, der den nationalen Horizont immer wieder durch die »regio­ nale Brille« betrachten läßt. - Auch deshalb trifft das Bild von der »liberalen Klassenpartei« hier wohl noch nicht zu: D ie bürgerlichen Gruppierungen und in ihnen die Liberalen stehen erst am Beginn ihres sozialen wie ideologi­ schen Formierungsprozesses.

»Liberale Kreise«: Bewegungsprofile und Legitimationsformen Damit ist die Frage nach dem Binnengefüge der liberalen Bewegung unmit­ telbar angeschnitten und zugleich eben auf ein noch weithin offenes For­ schungsfeld verwiesen. So unbefriedigend bislang unser Kenntnisstand über wesentliche Ziel- und Klientelgruppen der Liberalen ist, so wenig wissen wir eigentlich auch über ihre aktiven Kerne selbst, also gewissermaßen über das »mittlere Parteimanagement« und über dessen Beziehungen zur kleinen 96 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Elite der Sprecher und Mandatsträger. D abei muß erstaunen, wie klar abgegrenzt offenbar jener Kreis liberaler Wortführer im Vormärz ist und bleibt, der in wechselnder Besetzung an allen wichtigen regionalen und nationalen Treffen teilnimmt, der programmatische Vorstöße auf den Weg bringt, immer wieder agierend und kommentierend in öffentliche D iskus­ sionen eingreift, der schließlich auch immer wieder für Kammer- und Landtagsmandate nominiert wird. Wie stellen sich solche Hierarchien und Rollenverteilungen her, die ja wesentlich über die Inhalte liberaler Politik entscheiden? Woraus bezieht diese innere Gruppe ihre Legitimation, als Vertreter der Bewegung wie »des Volkes» sprechen zu können-meist unbestritten? Die üblichen Hinweise auf akademische Bildung, auf den Beamtenstatus oder die Wirkung der öffent­ lichkeitsnahen Berufe von Journalisten, Rechtsanwälten oder Professoren, auf materielle Unabhängigkeit und zeitlich-berufliche Abkömmlichkeit sor­ tieren ja lediglich bestimmte äußere Voraussetzungen, sie erklären jedoch nicht den bewegungsinternen Organisierungs- und Formierungsprozeß. Dazu bedarf es zweifellos noch wesentlich genauerer Untersuchungen, vor allem regionaler, gruppenbiographischer Studien etwa der Art, wie sie Innocenzo Cervelli begonnen hat. 28 Bis in die 1840er Jahre, bis dann durch eine gewisse Wahltradition, durch Kammerroutine und durch Wahlvereine schon festere, formalisiertere Strukturen entstanden sind, scheinen mir vor allem drei Ordnungsprinzi­ pien liberaler Bewegung auffällig. Zum einen das Netzwerk bürgerlicher Beziehungsformen und Gruppen­ kulturen, das sich wie ein Kranz um die liberale Bewegung legt: familiäre Verbindungen und Heiratsstrategien, Ausbildungswege und Geselligkeits­ formen, »Freundschaftsbünde« und studentische »Verbrüderungen«,29 die lebenslang ihre besondere symbolische wie politische Bedeutung behalten. Vor allem die frühen Turn- und Gesangvereine, die Lesezirkel und die »Museumsgescllschaften« bilden jenen organisatorischen Rahmen, in dem sich bürgerlich-liberale »Gesellung und Gesinnung« verbinden, in dem sich ein bestimmter kultureller, politisch eingefärbter Alltagshabitus formt, der dann das »liberale Milieu« prägt. 30 Um das nur in Stichworten an einem Einzelbeispiel anzudeuten - ich bleibe da bei den südwestdeutschen Liberalen: Otto Eiben, Herausgeber des »Schwäbischen Merkur« sowie Landtags- und Reichstagsabgeordneter, stammt bereits aus einem »liberalen« Elternhaus, wie er schreibt. D er Vater, Kaufmann und Verleger, ist in den 1830er Jahren Mitglied im Philhellenen­ verband, im Stuttgarter Polenkomitee und natürlich Anhänger der Libera­ len. Eiben selbst tritt 1830 als Gymnasiast in den Stuttgarter Turnverein ein, »turnt« dort gemeinsam mit Gustav Schwab, Karl Mayer, Adolf Schoder, Julius Hölder, Gustav Müller, Österlen, Barth, Wirth u. a., verkehrt in den Familien Schott, Walz, Uhland, Federer, trifft sich im Eßlinger »Museum« während seines juristischen Referendardienstes mit D effner, Pfaff, Steudel, 97 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Bauer, mit denen er zudem bereits gemeinsam studiert hatte und denen er auch in der »Bürgergcsellschaft«, im »Bürgergesangverein« und im »Lie­ derkranz« immer wieder begegnet. 31 Die Namen und D etails sind deshalb aufgelistet, weil sich hier in einem Satz und in einem biographischen Umfeld die halbe Ahnengalerie des würt­ tembergischen Liberalismus versammeln läßt. Es sind Professoren und Dichter, Juristen und Beamte, Abgeordnete und Fabrikanten, die Eiben keineswegs erst durch seine politische Aktivität und als »erwachsener« Liberaler kennenlernt, sondern bereits als Kind und Jugendlicher im liberal eingefärbten Stuttgarter Bürgermilieu. Bei ihm wie bei anderen seiner Ge­ neration bildet also nicht erst die liberale Bewegung oder Partei selbst den Ort der »Gesinnungsschule«. Vielmehr ist der politische Horizont bereits durch das familiäre und freundschaftliche Umfeld vorgegeben, geformt und strukturiert im Rahmen einer gemeinsamen bürgerlichen Gruppenbiogra­ phie. - »Liberaler« zu sein bedeutet hier wesentlich mehr, als nur politische Standpunkte zu teilen. Es schließt in komplexer Weise bürgerliche Lebens­ läufe und Lebenswelten mit ein. Zum zweiten - und damit in engem Zusammenhang stehend - zeichnen sich ganz bestimmte Selbstrekrutierungsstrategien dieser liberalen Elite ab. Über verwandtschaftliche wie berufliche Verbindungen, über das Kommu­ nikationssystem der Journale und Zeitungen, über gesellschaftliche und gesellige Verkehrsformen bauen sich politische Beziehungsnetzwerke auf, die einerseits Zugänge für Newcomer eröffnen und andererseits von den »Knotenpunkten«, von den zentralen Positionen der Sprecher und Abge­ ordneten her kontrolliert werden können. Besonders hilfreich scheint dabei paradoxerweise ein verfassungsrechtlicher, in den meisten deutschen Ein­ zelstaaten geltender Grundsatz, der solche politische »Versippung« eigent­ lich verhindern sollte: In Württemberg beispielsweise sieht der Para­ graph 146 der Verfassung vor, daß Staatsdiener »nicht innerhalb des Bezirks ihrer Amts-Verwaltung« und ihres Wohnortes gewählt werden dürfen.32 Durch solche Regelungen wird der systematische Aufbau von Beziehungen und Absprachen in Nominierungs- und Mandatsangelegenheiten zwischen den Wahlbezirken indessen nur beschleunigt, wird vor allem dem »Beam­ tenliberalismus« nicht im mindesten eine Schranke gesetzt. Was Heinrich von Gagern über die D armstädter Verhältnisse der frühen 1820er Jahre schreibt - »die ganze Klasse der bürgerlichen hohen Staatsdienerschaft« gehöre »zu der sogenannten liberalen Partei«33 -, läßt sich fast für die vormärzliche deutsche Beamtenwelt insgesamt verallgemeinern. Über solche soziale Schleusen also kooptiert die liberale Elite ihre neuen Mitglieder gewissermaßen selbst, fast niemand kommt offenbar ohne solche Einstiegshilfen in die oberen Ränge der politischen Hierarchie. Wer sich beispielsweise die Briefwechsel von Ludwig Uhland, von Karl von Rotteck oder von Heinrich von Gagern einmal unter diesem Blickwinkel näher betrachtet, erhält erst einen richtigen Begriff davon, welche politisch-strate98 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

gische Bedeutung dieser Kommunikationsstruktur bzw. dem dahinter auf­ gespannten sozialen Netzwerk fur die Elitenbildung zukommt. Auf diesem Weg lassen sich Karrieren regelrecht »machen« und steuern. »Mein Ehrgeiz ist darauf gerichtet«, gesteht der junge Gagern 1827 seinem Vater, »in der Periode der fortschreitenden politischen Entwicklung Deutschlands, meines Vaters stets eingedenk, eine ehrenvolle und markante Rolle zu spielen.« Er wolle »die ständische Karriere« versuchen und habe »nicht umsonst hier den Rheinhessen kajoliert, selbst denen, die mir persönlich unangenehm wa­ ren.« 34 Persönliche Beziehungen, aus echtem Gefühl oder aus strategischem Kalkül heraus, sind die sozialen Relais im liberalen Bewegungsapparat. Varnhagen von Ense schreibt schon 1819 aus dem badischen Karlsruhe an den Württemberger Uhland: »Je mehr Einigkeiten zwischen den süddeut­ schen Verfassungsthätigkeiten, desto reicher der Gewinn für eine jede! D a­ her sind alle freundschaftlichen Beziehungen, die eine Wechselwirkung begründen, so viel als möglich zu pflegen.«35 Diese besondere Form der »Gesinnungsfreundschaft«, als Figuration bür­ gerlicher Kultur zwar nicht neu, doch erst jetzt in ihrer ganzen politischen Wirkungsmöglichkeit genutzt, bestimmt auch in aller Offenheit und Selbst­ verständlichkeit den programmatischen wie den politisch-taktischen Kurs. Heinrich von Gagern warnt auf dieser privaten Ebene im November 1847 nach der Auflösung der D armstädter Ständeversammlung beispielsweise den Freund Reinhard Eigenbrodt davor, »daß D u D ich mit der radikalen Opposition identifiziertest oder auch nur ihr zu nahe stelltest, denn dadurch würdest D u für Fälle, die noch nicht gegeben sind, aber vielleicht in naher Aussicht stehen, unmöglich werden. Wir sind noch nicht so weit, daß bei uns - etwa wie früher in Baden Bekk, Mittermeier, Hoffmann - eine von den Extremen geschonte Mittelpartei Fuß gefaßt hätte.«36 - D er in Aussicht genommene »Fall« tritt bald ein: Im März 1848 wird Eigenbrodt von Hein­ rich von Gagern selbst ins Innenministerium berufen, drei Monate später ist er sogar dessen Nachfolger auf dem Ministersessel. Solche Vorgänge sind damals alltäglich und eben nur deshalb bemerkens­ wert, weil sie verdeutlichen, wie eng politische Kultur und soziales Milieu ineinander verwoben sind. Die Formen und Regeln bürgerlicher Lebensfüh­ rung scheinen nahezu identisch mit jenen der liberalen Bewegung. Sic können zwischen privater und öffentlicher Sphäre solange beliebige Verbin­ dungen und Übergänge schaffen, wie nicht parteimäßige, formalisierte Strukturen existieren, sondern politische Kompetenz nach dem »persönli­ chen Prinzip« behandelt wird. Und das betrifft - zum dritten - die Frage nach den politischen Legitima­ tionsformen und -prinzipien. Wahlen und formelle Abstimmungen inner­ halb der liberalen Bewegung finden zunächst ja nur höchst selten statt, die Mandate für Abgeordneten- und Sprecherfunktionen müssen also auf ande­ rem Wege zustande kommen. D abei zeichnen sich gewisse ungeschriebene Regeln der Legitimationsbeschaffung ab. Was sich nicht nach dem Muster 99 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

der internen Kooptation lösen läßt, sondern einer Art von »Massenlegitima­ tion« bedarf, wird durch förmliche Wahlkampagnen systematisch vorberei­ tet. In Baden reicht diese Tradition der organisierten Bewegungs- und Öffentlichkeitsarbeit über Komitees, Wahlmänner- und Volksversammlun­ gen, Hausbesuche und Bankette bereits bis in die Zeit vor der Verfassung zurück.37 Und auch in Württemberg warten die »Volksmänner« keineswegs einfach in würdiger Zurückhaltung darauf, in ein ehrenvolles Mandat beru­ fen zu werden. D ie Kunst besteht vielmehr darin, nach außen hin den schönen Schein zu wahren, ohne »den Ruf« deswegen dem Zufall zu über­ lassen. Robert Mohl wird beispielsweise im Vorfeld des württembergischen Landtagskampfes 1846 überraschend in den Tübinger Stadtrat gewählt und kann sich diesem Votum aus taktischen Gründen nicht entziehen: »Ich war durch meinen Entschluß, um jeden Preis in die Abgeordnetenkammer ge­ wählt zu werden, dazu genötigt, unpopuläre oder nach Aristokratie riechen­ de Dinge zu vermeiden. So nahm ich denn in Gottes Namen an und besorgte auch die Geschäfte regelmäßig und mit Beifall, bis ich durch meine Einberu­ fung zum Landtage und dann meinen Abzug nach Heidelberg die Sache wieder los war.« 38 Nicht nur bei Mohl finden sich solche, fast schon zynischen Untertöne, die in den zeitgenössischen Hymnen auf das »Ehrenamt« des Abgeordneten bereits deutliche Anklänge des »politischen Geschäfts« mitschwingen las­ sen. Auch von Gagern schilt respektlos nach einer unwillkommenen Wahl: »Es gibt nichts Schlechteres als unser Wahlgesetz. D as Resultat der Wahl ist jedesmal das Resultat der geschicktesten Intrige. Meine Partei, wenn ich so sagen darf, hat ganz geheim operiert, die 13 Stimmen gesichert, mich nicht mit einem Wort vorläufig in Kenntnis gesetzt.« 39 Und selbst der im Blick auf Ämter eher unambitionierte Uhland lehnt im Vorfeld der württembergi­ schen Landtagswahl des Jahres 1819 ein ihm angetragenes Mandat vorwie­ gend deshalb ab, weil ihm das väterlicherseits eingefädelte Nominierungs­ manöver dann doch zu plump erscheint: »Eine Wahl blos auf Betreiben einiger Tübinger Freunde und ohne eigentliche Theilnahme der verständige­ ren Wahlmänner würde keinen Werth für mich haben.«40 Beide Felder der vormärzlichen Kammerdemokratie scheinen im Sinne einer Wahlarithmetik schon weitgehend kalkulierbar: die Kandidatennomi­ nierung innerhalb der liberalen Bewegung ebenso wie dann die öffentliche Wahl selbst durch die Wahlmänner. Auch da ist das Feld durch das Zensus­ wahlrecht politisch wie sozial so angelegt, daß sich wirklich offene, plebiszi­ täre Formen kaum entwickeln können. Von den 127 Wahlmännern beispiels­ weise, die im Jahr 1819 in der württembergischen Stadt Eßlingen den Abgeordneten für den Landtag küren sollen, können nur 42 von den Bür­ gern selbst noch per Wahl bestimmt werden, 85 hingegen sind bereits »gesetzt« durch ihre Spitzenpositionen als Steuerzahler. Unter ihnen sind 25 größere Handwerksmeister, 23 Wirte und andere Kleingewerbler im Dienstleistungssektor, 14 Kaufleute, 10 Beamte, 7 Weingärtner und 5 Fabri100 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

kanten.41 Sie, die tatsächlich aktiv Wählenden, sind also eine überschaubare Zahl wohlbekannter Bürger, deren sozialer wie politischer Standort keiner­ lei Rätsel aufgibt. So entscheidet sich die Wahl auch weniger an aktuellen politischen D iskussionen oder inhaltlichen Positionen, als vielmehr auf der Ebene von Person und Milieu, im lokalen Netz sozialer Beziehungen und moralischer Verpflichtungen. Für letzte Weichenstellungen im Vorfeld der Wahl sorgen dann noch die Rituale der »nationalen« Festkultur, jene »Stän­ dediners« und Bankette, jene lokalen Verfassungsfeiern und Fackelzüge, bei denen man sich mit Toasts, mit Reden, mit Liedern einschwört auf den Kandidaten und auf die »deutsche Sache« als die Grundformel liberaler Gemeinsamkeit. Solche Formen »nationaler« Geselligkeit sind als Vorläufer des späteren Nationalkults schon vor 1832 durchaus ein Massenphänomen. Und sie werden dann, nach Hambach, als repräsentative Akte natürlich noch mehr zu einem wesentlichen Selbstdarstellungsmittel liberaler Bewe­ gung. Das sind nur Schlaglichter auf eine bereits sehr weit entwickelte Strategie der politischen Legitimationsbeschaffung und der persönlichen Profilie­ rung, die den liberalen Sprechern die nötige Aura der Volkstümlichkeit und eben auch ein gewisses Charisma verleihen soll. Im damals ständig bemüh­ ten Begriff der »Volksmänner« veranschaulicht sich recht gut jenes Bild, das da-schon ganz »modern« - mit kühl kalkulierten populistischen Effekten in Szene gesetzt wird. D ie beginnende politische Professionalisierung ist un­ übersehbar. Sorgfältig wird bei jeder Kandidatenkür darauf geachtet, die richtige Balance zu finden zwischen symbolischer Bestätigung der Basisver­ bundenheit und unauffälliger innerer Steuerung der EntScheidungsprozesse, zwischen formaler D emokratie und informeller Regie der Elite. Und das ist ein Kunststück, das vor allem in den 1840er Jahren mit dem stärkeren Insistieren der liberalen Linken auf direkten Demokratieformen zunehmend schwieriger zu werden scheint. D ennoch: Selbst die liberalen Mandate für das Frankfurter Vorparlament kommen noch überwiegend in einem derart gemischten Legitimations- und Kooptationsverfahren zustande. Und es ist vielleicht bezeichnend, daß sich nach 1848 und nach der Trennung von Liberalen und D emokraten zumindest örtlich auch unterschiedliche inner­ parteiliche D emokratieformen etabliert haben: D ie Eßlinger D emokraten beispielsweise wählen sich ihren 16-köpfigen Leitungsausschuß, während die »vaterländischen« Liberalen noch beim Prinzip der »bewährten Männer« bleiben.42 Darin mag sich noch einmal der Eindruck bestätigen, daß die entscheiden­ de Qualifikation der liberalen Elite vor der 1848er Revolution mehr biogra­ phischer bzw. gruppenbiographischer als - im engeren Sinne - politischer Art ist. Jenseits der extremen Flügelpositionen kommt dem individuellen Standort in programmatischen wie in tagespolitischen Fragen offensichtlich keine sonderliche Bedeutung zu, da auch das gesamte politische Umfeld inhaltlich noch über wenig klare und differenzierte Maßstäbe verfugt. Es 101 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

geht mehr um Einstellungen und Haltungen: Ludwig Uhland, gewiß kein politischer Visionär, kein scharfsichtiger politischer Kopf, aber mit dem Gespür für politische Stimmungen und mit der Fähigkeit zu symbolischen Gesten und zu echtem Pathos, ist als Figur für das liberale Fußvolk nicht umsonst der »Mann der Bewegung« - etwas, das er selbst ja nie sein will. Entscheidend für das Erreichen von Einfluß, von Kompetenz, von Mandat sind letztlich das öffentliche Gesicht und das moralische Gewicht der Person, also ein politisch-biographisches Profil, in dem sich die Züge des liberalen »Kämpfers« mit denen des bürgerlichen »honnête homme« vereinen. Aus diesem Stoff, aus der Verbindung eines »politischen Kapitals« liberaler Gesinnungsbeweise und Verdienste mit dem »sozialen Kapital« bürgerlicher Statussymbole und Beziehungen werden die politischen Karrieren ge­ schmiedet.

Zwischen Bewegung und Klassenprogramm Diese Skizzen zur frühliberalen Bewegung - in vielfacher Hinsicht ja mehr noch Fragen und Vermutungen - beziehen ihre Motive und Beispiele über­ wiegend aus der politischen Geschichte des deutschen Südwestens. Und man mag die daran geknüpften Überlegungen daher für unwesentlich halten oder sie eben mit dem Hinweis auf regionale Besonderheiten abtun. Sicher­ lich sind manche Formen liberaler Bewegung und manche regionalen Fixie­ rungen tatsächlich auch auf bestimmte territoriale Konstellationen zurück­ zuführen, die nicht unbedingt repräsentativ sein müssen für die Entwick­ lung des frühen Liberalismus insgesamt. Andererseits lassen sich solche exemplarische Ausschnitte eben auch als Ausgangspunkte nehmen für grundsätzliche Fragen, die allgemein die Kon­ stitution des vormärzlichen Liberalismus als Bewegung wie als gesellschaft­ lich-politisches Programm betreffen. So sind die Hinweise auch gemeint, mit Blickrichtung wiederum auf die eingangs angeschnittene Grundsatzfra­ ge nach dem frühliberalen Horizont. D eshalb nochmals: Konstituiert sich der Liberalismus historisch darin, daß er die Idee einer neuen bürgerlichen Gesellschaft bereits konzeptuell entwirft, daß er sie in ein säkulares Moder­ nisierungsprogramm umsetzt und sich dementsprechend auch als politische Bewegung formiert? - D ann stellte er sich selbst bereits in das Gegenlicht des heraufdämmernden industriellen Kapitalismus und der Klassengesellschaft. Er antizipierte Erfahrungen und Horizonte, die vielen Mitgliedern der bür­ gerlichen Elite zwar nicht aus Deutschland, jedoch aus der Anschauung der französischen oder englischen Gesellschaft damals durchaus vertraut sind. Auch die liberalen Anfänge stünden somit bereits unter den eindeutigen Vorzeichen bürgerlicher Klassenpolitik. Oder entsteht der Liberalismus vielmehr als soziale Oppositionsbewe102 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

gung, deren Kern zwar bürgerlich, deren Einflußbereich und Wirkung jedoch zunächst schichtübergreifend ist? Steht er gleichsam noch innerhalb der ständischen Gesellschaft, sich selbst verstehend und auch nur zu erklären vor dem Hintergrund des aufgeklärten deutschen Spätabsolutismus mit dessen spezifischer territorialer Gliederung und politischen Verfassung, in die er als antifeudale Opposition lediglich neue, reformerische Horizonte einzuzeichnen versucht? - D ann rückte sein Charakter als soziale Bewegung sehr viel mehr in den Vordergrund als seine theoretisch-programmatische Selbstdarstellung. D ann wären es seine Erfahrungs- und Lernprozesse, die seine eigentlich konstitutiven Momente ausmachen: die Diskurse, Kampag­ nen und Organisationsformen als ein empirischer Vorgang der gesellschaft­ lichen Ortsbestimmung und Interessenfindung, als Beginn der Etablierung bürgerlicher Öffentlichkeitsstrukturen und Kommunikationsformen, schließlich auch als gesellschaftliches Legitimationsprogramm bürgerlicher Wertordnungen und Lebensstile. Sein Erwartungshorizont und seine selbst­ gestellte historische Aufgabe begrenzten sich dann in der Tat vorerst auf jenen organisch gedachten Prozeß nationaler und sozialer Reform, wie ihn Karl von Rottecks vielzitierte Formulierung vom nationalen Staat als einem »Produkt der erwachenden Menschenvernunft« metaphorisch entwirft 43 nicht nur dem Bilde nach mehr einer aufklärerischen Tradition als einer revolutionären Moderne verpflichtet. Mit Blick auf die soziale Konstitution der Bewegung selbst und auf die so lange Zeit offenbar durchaus »erträglichen« Widersprüchlichkeiten von li­ beraler Idee und bürgerlich-liberaler Politik scheint vieles für diesen zwei­ ten, den prozeßhaften Liberalismusbegriff zu sprechen. Solange die Kluft zwischen verfassungspolitischem Gleichheitsprinzip und ständischer Gesell­ schaftspolitik, zwischen nationaler Programmatik und regionalem Parla­ mentarismus die Bewegung nicht sprengt, sie nicht daran hindert, bürgerli­ che Interessen relativ erfolgreich zu vertreten und zugleich für unterbürger­ liche Klientelgruppen attraktiv zu bleiben, solange besteht offensichtlich weder die politische Notwendigkeit noch die historische Möglichkeit, ein Konzept formierter »Klassenpolitik« zu verfolgen. Noch sind die D imen­ sionen des politisch Wünschbaren und Machbaren sehr viel bescheidener. Die Erfahrung des kontinuierlichen Macht- und Autoritätsverlustes der halbkonstitutionellen Monarchien, die gleichzeitigen eigenen Machtzu­ wächse in Bürokratien und Parlamenten, die Institutionalisierung von Ver­ fassungsdiskursen und Verfassungsrechten, vor allem auch der nur sehr langsam wachsende Abgrenzungszwang gegenüber dem sozialen Unten wie der politischen Linken - all das deutet auf einen Lernprozeß hin, in dem sich die Konturen eines »bürgerlichen Klassenprogramms« erst ganz all­ mählich herauskristallisieren. Bis in den späten Vormärz läßt sich in dieser Entwicklung noch nicht einmal eine besondere Dynamik feststellen. Eher zeigt sich ein Abwarten, ein Nebeneinander einzelner Erfahrungsschritte, die vielfach noch getrennt 103 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

verlaufen je nach politischen Handlungsräumen und geographischen Hand­ lungsfeldern. Selbst die beiden großen süddeutschen Oppositionstreffen im Herbst 1847, als sich der demokratische Flügel in Offenburg formiert und der liberale in Heppenheim, scheinen noch mehr verbunden durch die alten plakativen Positionen gegen den Obrigkeitsstaat und für die Nation, als getrennt durch die inzwischen unübersehbaren Unterschiede in Grund­ rechts-, Wirtschafts- und Zollfragen. Wo die Demokraten nunmehr schärfer die »Ausgleichung des Mißverhältnisses zwischen Arbeit und Kapital« for­ dern, spricht der gemäßigte Flügel immerhin von steuerlichen Maßnahmen »zur Erleichterung des kleineren Mittelstandes und der Arbeiter«. Umge­ kehrt zielt die demokratische Formulierung von der »Selbstregierung des Volkes« mehr gegen den Bürokratismus als in wirklich politisch-parlamen­ tarischer Richtung und entfernt sich damit so weit nicht von der gemäßigten Formel der »Mitwirkung des Volkes«. In Sachen Preßfreiheit, Wehrverfas­ sung, Geschworenengerichte oder Steuerrecht bleiben die Positionen ohne­ hin ähnlich - auch ähnlich unpräzise.44 Erst während und nach dem kurzen, dafür umso intensiveren Erfah­ rungszyklus der beiden Revolutionsjahre gewinnt man den Eindruck, daß die liberalen Positionen nunmehr endgültig »historisch« geklärt werden. Seitdem steht die »nationale Frage« eindeutig unter preußischen Apostro­ phen. Sie muß in territorialer Gestalt und verfassungsmäßiger Form allmäh­ lich Wirklichkeit werden, sinkt vom schönen Ideal zum unschönen, doch realen Provisorium herab. Nun geht es nicht mehr um Visionen, sondern um Machtverhältnisse. »Und der Nationalstaat ist uns nicht ein unbestimm­ tes Etwas, welches man um so höher zu stellen glaubt, je mehr man sein Wesen in mystisches Dunkel hüllt, sondern die weltliche Machtorganisation der Nation, und in diesem Nationalstaat ist für uns der letzte Wertmaßstab auch der volkswirtschaftlichen Betrachtung die ›Staatsraison‹«, schreibt Max Weber dann unmißverständlich zur liberalen Grundhaltung des späte­ ren 19. Jahrhunderts.45 Erst für diese Zeit ist es wohl auch angemessen, die historische Kontinuität des bürgerlich-liberalen Nationalstaatsbegriffs im Sinne eines gesellschaftspolitisch-programmatischen Konzepts zu verstehen und zu zeichnen - denn: »Die von der Geschichtswissenschaft in aller Regel behauptete Einbahnstraße zwischen 1813 und 1871 beruht tatsächlich auf einer teleologischen Fehlinterpretation.«46 In ähnlicher Weise erhält auch die alte Formel von der »Volkssouveränität« nach den Erfahrungen der demokratischen und republikanischen Revolu­ tionsbewegungen nun eine klarere gesellschaftspolitische Kontur. D ie »so­ ziale Frage« ist nicht länger ein moralisches Anliegen, sie ist zur politischen Bedrohung geworden. Eine kurze Zeitspanne scheint es nur und zugleich doch eine weite politische Wegstrecke von jener ersten Rede zur Arbeiterfra­ ge in einem deutschen Parlament, die Franz Josef Ritter von Buß 1837 in der zweiten badischen Kammer noch ganz im Tone sozialer Fürsorge gehalten hatte, bis zum revolutionären Erwachen. Nun, nachdem »die Besorgniß 104 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

besteht, daß sich die zahlreiche, und dadurch mächtige Klasse der Arbeiter der plötzlichen Einführung der Republik zuneige« und sich keineswegs »offen und männlich« dagegen aussprechen will, wie es Liberale um Robert Mohl 1848 in einem »Aufruf an die Arbeiter« fordern,47 werden Konsequen­ zen gezogen. Einerseits für die Bewegung in Form der Spaltung von Libera­ len und Demokraten, wobei die letzteren ja noch geraume Zeit das Konzept der »Volkskoalition« weiterverfolgen. D er Arbeiteranteil in der Mitglieder­ schaft der demokratischen Volksvereine ist z. Τ. erstaunlich hoch, im würt­ tembergischen Eßlingen beispielsweise bis nahe 25%. 48 Andererseits unter­ liegen Kammerparlamentarismus und Wahlrecht, lokales Bürgerrecht und kommunale Selbstverwaltung nun mit ausdrücklicher liberaler Zustim­ mung dem sozialen Numerus clausus. Vom allgemeinen Wahlrecht auch nur als ein Versprechen auf die nahe Zukunft ist keine Rede mehr. Gerade in dieser Hinsicht scheint der gemäßigte Liberalismus jetzt, nach 1848/49, in der Tat nicht mehr suchend, sondern ausgesprochen zielbewußt auf dem Weg zur bürgerlichen »Klassenpartei«. Gewiß waren auch in der frühliberalen Staatsauffassung die Neigung zu patrimonialstaatlichem D en­ ken und die Distanz zu radikalen Gleichheitsvorstellungen stets unverkenn­ bar. D ahinter freilich hatte die Vision des »Bürgerstaates« immer noch die Gewißheit in sich getragen, daß sich staatliche Verwaltung, Verfassung und Demokratie à la longue komplementär entwickeln bis zu einem Punkt hin, »auf welchem sie unfehlbar zusammenlaufen werden«.49 Mit der Revolution ist dieser teleologische Punkt endgültig aus den Augen verloren, die Gewißheit organischer demokratischer Entwicklung verwan­ delt sich in das Bewußtsein klassengcsellschaftlicher Realität. D er liberale Erwartungshorizont paßt sich dem politisch-sozialen Erfahrungshorizont an. Er gibt seinen alten Legitimationsrahmen der Idee individueller, regio­ naler und nationaler Selbstbestimmung auf und nähert sich in der Grund­ rechts frage zunehmend den Auffassungen einer restriktiven deutschen Staatsrechtslehre an: »D ie verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantien schrumpften auf diese Weise auf ein einziges Grundrecht zusammen, näm­ lich die Freiheit von ungesetzlichem Zwang.« 50 Jetzt mag man tatsächlich von der zunehmend »sozialdefensiven Klassenideologie«51 eines Besitz-und Wirtschaftsbürgertums sprechen, welches seine politischen Interessen und sozialen Terrains klassenspezifisch absteckt. Es bezieht ein neues, ein deut­ lich instrumentelles Verhältnis zum Staat, tauscht die »Gesellschaft der Bürger« ein gegen die »bürgerliche Gesellschaft«. Zur alten politisch-mora­ lischen D istanz zum feudalen Oben mußte erst noch die politisch-soziale Abgrenzung gegenüber jenen Klassen hinzukommen, die der Liberalismus vorher stets in seinen Volksbegriff noch miteinbezogen hatte. Damit brechen auch endgültig die regionalen »Sperren« im liberalen Gesellschaftshorizont. Ohne die Basis und die Legitimation einer schicht­ übergreifenden Bewegung kann sich die bürgerlich-liberale Elite - wie ihre Klasse insgesamt - nur noch als nationale Elite konstituieren, programma105 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

tisch zunehmend im Sinne des Wirtschaftsliberalismus ausgerichtet und politisch-organisatorisch in der modernen Gestalt der nationalen Parteifor­ mation operierend. D aß ein Teil der württembergischen Liberalen als »Volkspartei« diesen Weg nicht mitgeht, mag ein zusätzliches Indiz dafür sein, daß es tatsächlich ein Scheideweg ist, der hier beginnt. - D ieses schrieb der Kritiker Arnold Ruge den Liberalen bereits 1843 ins Stammbuch und ließ offen, ob es rückblickend oder vorausschauend gemeint war: »D er Liberalismus ist eine Freiheit des Volkes, die in der Theorie stecken geblie­ ben ist.« 52

Anmerkungen 1 A. Ruge, Eine Selbstkritik des Liberalismus, zit. nach L. Gall u. R. Koch (Hrsg.), D er europäische Liberalismus im 19. Jahrhundert, Frankfurt 1981, Bd. 2, S. 158—183, hier S. 166. 2 R. v. Mohl, Lebenserinnerungen 1799-1875, Stuttgart 1902, Bd. 1, S. 135. 3 P. A. Pfizer, Ziel und Aufgaben des deutschen Liberalismus, hrsg. v. G. Küntzel Berlin 1911, S. 341. 4 Hinweise und Übersichten s. etwa in U. Engelhardt (Hrsg.), Handwerker in der Industriali­ sierung, Stuttgart 1984. 5 Vgl. dazu die immer noch sehr nützliche ältere Studie von H. H. Gerth, Bürgerliche Intelligenz um 1800. Zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus, Göttingen 1976; R. S. Elkar, (Junges D eutschland in polemischem Zeitalter. D as schleswig-holsteinische Bildungs­ bürgertum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, D üsseldorf 1979), der z. B. für die Universität Kiel in den 1830er und 1840er Jahren einen zunehmenden Trend der akademischen Selbstrckrutierung in neuen bürgerlichen Berufsbereichen statistisch belegen kann (bes. S. 98f.); H. Henning, D ie deutsche Beamtenschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1984. 6 K. Biedermann, D eutschland im 18. Jahrhundert, hrsg. v. W.Emmerich, Frankfurt 1979, S. 150. 7 F. C. Dahlmann, D ie Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Umstände zurück­ geführt, hrsg. v. O. Westphal, Berlin 1924 (nach der zweiten Ausgabe von 1847), S. 200. 8 Ebd. 9 S. dazu L. Gail, Liberalismus und »Bürgerliche Gesellschaft«. Zu Charakter und Entwick­ lung der liberalen Bewegung in D eutschland, in: HZ 220, 1975, S. 324-356; K.-G. Faber, Strukturprobleme des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: D er Staat 14, 1975, S. 201-227; W.J. Mommsen, D er deutsche Liberalismus zwischen »Klassenloser Bürgergesell­ schaft« und »Organisiertem Kapitalismus«, in: GG 4, 1978, S. 7 7 - 9 0 . 10 W. Schieder, Probleme einer Sozialgeschichte des frühen Liberalismus in D eutschland, in: den. (Hrsg.), Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz, Göttingen 1983, S. 9 - 2 1 , hier S. 10f u. 16f 11 D . Langewiesche, Gesellschafts- und verfassungspolitische Handlungsbedingungen und Zielvorstellungen europäischer Liberaler in den Revolutionen von 1848, in: Schieder, S. 341-362, hier S. 348. 12 Vgl. Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg, in: E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1961, S. 186f. 13 D ahlmann, S. 139f. 14 C. T. Welcker, Staatsverfassung, zit. nach Gall u. Koch, Bd. 2, S. 3 - 7 6 , hier S. 67 u. 71. 15 Pfizer, Liberalismus, S. 9. 16 Vgl. dazu H.-W. Hahn, Zwischen deutscher Handelsfreiheit und Sicherung landständi-

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scher Rechte. D er Liberalismus und die Gründung des deutschen Zollvereins, in: Schieder, S. 239-271. 17 W. Hardtwig, Vormärz. Der deutsche monarchische Staat und das Bürgertum, München 1985, S. 144. 18 H.-U. Thamer, Emanzipation und Tradition. Zur Ideen- und Sozialgeschichte von Libe­ ralismus und Handwerk in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Schieder, S. 55-73, hier S. 57f. 19 K. S. Zachariä, Vom Zwecke des Staates, zit. nach Gall u. Koch, S. 317-333, hier S. 323. 20 Stadtarchiv Eßlingen I, 2 B1 u. B2. 21 C. V. v. Ense, Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens, Bd. 2, Berlin [DDR] 1971, S. 265. 22 Hardtwig, S. 140. 23 Uhlands Briefwechsel, hrsg. v. J . Hartmann, 3. Teil, Stuttgart 1912, S. 170. 24 D as beschreibt beispielsweise für Freiburg sehr ausführlich E. Münch, Erinnerungen, Lebensbilder und Studien, Carlsruhe 1837, Bd. 1, S. 322ff. 25 Zeitweilig sind fast 50% der Abgeordneten der badischen Zweiten Kammer Beamte. Vgl. dazu B. Wunder, Geschichte der Bürokratie in Deutschland, Frankfurt 1986, S. 62; H.-P. Becht, Die Abgeordnetenschaft der badischen zweiten Kammer von 1819 bis 1840, in: ZGO 128 (1980), S. 345—401, und auch den Beitrag von R. Muhs in diesem Band. 26 N. Deuchert, Vom Hambacher Fest zur badischen Revolution. Politische Presse und Anfänge deutscher D emokratie 1832-1848/49, Stuttgart 1983, S. 200 ff. Auf ähnliche »kom­ munikative Strukturen« bei den rheinischen Liberalen durch deren umfangreiche Flugschrif­ tenpublizistik verweist auch der Beitrag von H. Obenaus im vorliegenden Band. 27 J . G. A. Wirth, Die politische Reform D eutschlands, 1832, zit. nach H. Schulze, Der Weg zum Nationalstaat. D ie deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgrün­ dung. München 1985, S. 148. 28 I. Cervelli, D eutsche Liberale im Vormärz. Profil einer politischen Elite (1833—1847), in: Schieder, S. 312-340. 29 Vgl. dazu Gerth, S. 45 ff. 30 In den autobiographischen Quellen wird dieses Beziehungsgeflecht besonders plastisch: Christoph von Tiedemann beschreibt es für Schleswig-Holstein (Aus sieben Jahrzehnten. Erinne­ rungen, Leipzig 1905), Ernst Münch für Baden, Robert Mohl für Württemberg, Wilhelm von Kügelgen für Sachsen (Jugenderinnerungen eines alten Mannes, Berlin o. J.), Heinrich Laube für Breslau und Göttingen (Erinnerungen 1810-1840, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 40, Leipzig 1909) - um nur einige Beispiele zu nennen. Vgl. dazu auch W. Kaschuba, D eutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis, in: J. Kocka (Hrsg.), Bürgertum und Bürgerlichkeit im europäischen Vergleich. München 1988. 31 Vgl. O. Elben, Lebenserinnerungen 1823-1899, Stuttgart 1931, S. 11-65. 32 Huber, Bd. 1, S. 188. 33 D eutscher Liberalismus im Vormärz. Heinrich von Gagern. Briefe und Reden 1815-1848, Göttingen 1959, S. 70. 34 Ebd., S. 71. 35 Uhlands Briefwechsel, Bd. 2, S. 127. 36 D eutscher Liberalismus, S. 404. 37 Vgl. etwa W. Real, Die Revolution in Baden, Stuttgart 1983, bes. S. 21 ff. 38 Mohl, Bd. 2, S. 9. 39 D eutscher Liberalismus, S. 370. 40 Uhlands Briefwechsel, Bd. 2, S. 131. 41 Wahlmännerliste, Stadtarchiv Eßlingen, 1,2 Β 2a. 42 Bericht des Stadtschultheißenamts Eßlingen vom 17. 7. 1850, Stadtarchiv Eßlingen XI, 1 B1. 43 K. v. Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, 4 Bde. Stuttgart 1829ff., Bd. 2, S. 47. 44 Vgl. dazu die Programme in: Huber, Bd. 1, S. 261 -264.

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45 Μ. Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, zit. nach Gall u. Koch, Bd. 3, S. 195-219, hier S. 206f. 46 Schulze, S. 70. 47 R. v. Mohl, Politische Schriften, hrsg. v. K. v. Beyme, Köln 1966, S. 28. 48 Vgl. C. Lipp u. W. Kaschuba, Wasser und Brot. Politische Kultur im Alltag der Vormärz­ und Revolutionsiahre, in: GG 10, 1984, S. 320-351, hier S. 334. 49 D aglmann, S. 200. 50 So resümiert D . Grimm, D ie Entwicklung der Grundrechtstheorie in der deutschen Staatsrechtslehre, in: ders., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt 1987, S. 308-346, hier S. 308. 51 Gall, S. 350; s. dazu auch D . Langewiesche, Republik, konstituionelle Monarchie und »soziale Frage«. Grundprobleme der deutschen Revolution von 1848/49, in: HZ 230. 1980, S. 529-548, bes. S. 546f. 52 Gall u. Koch, Bd. 2, S. 164.

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TONI OFFERMANN

Preußischer Liberalismus zwischen Revolution und Reichsgründung im regionalen Vergleich Berliner und Kölner Fortschrittsliberalismus in der Konfliktszeit

I. Problemorientierte Vorbemerkungen Der Vergleich zweier lokaler Erscheinungsformen des preußischen Libera­ lismus erfordert grundsätzliche Vorüberlegungen, die den eigentlichen Ver­ gleichsgegenstand betreffen. Eine soziale Bewegung definiert sich nicht selbst. D emnach muß sich jede Untersuchung über den deutschen bzw. preußischen Liberalismus im 19. Jahrhundert einem doppelten Problem stel­ len: A) der theoretischen Eingrenzung und inhaltlichen Fixierung des Libera­ lismus als einer eigenständigen politischen Theorie, insbesondere in Abset­ zung von verwandten D oktrinen (D emokratismus); B) der sozialgeschichtlich-organisatorischen Erfassung des Liberalismus als gesellschaftlich verankerter Bewegung. Zu A) D ie definitorische Abgrenzung des Liberalismus vom D emokra­ tismus ist immer noch ein aktuelles Problem, das bisher nicht überzeugend und abschließend gelöst wurde. Beide werden »zu sehr als bekannte Größen behandelt, während gerade ihr besonderer Inhalt zur Untersuchung stehen sollte«.1 Eine D ifferenzierung ist aber aus drei Gründen notwendig: D as definitorische Gerangel findet sich erstens bereits im historischen Material. So wird nach der 48er Revolution der Begriff D emokrat(ie) sowohl in zeitgenössischen (konservativen) Polemiken zur Diffamierung und Abqua­ lifizierung als auch in publizistischen und brieflichen Quellen zur Selbstfin­ dung und Verortung der eigenen politischen Tradition häufig, aber äußerst kontrovers verwendet. Weiterhin setzte sich zweitens der ab 1861 in der Deutschen Fortschrittspartei (D FP) organisatorisch faßbare, in den 60er Jahren tonangebende Teil des preußischen Liberalismus zusammen aus ehe­ maligen 48er D emokraten, (Links-)Liberalen und Konstitutionellen; die Partei galt, wie der Deutsche Nationalverein, als realpolitischer Kompromiß 109

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zwischen D emokratie und Liberalismus. Gerade die Tatsache, daß in den 50er und 60er Jahren viele 48er D emokraten einen Wechsel auf (links-) liberale Positionen vollzogen (z. B. Schulze-D elitzsch, Waldeck, von Un­ ruh), macht die ideengeschichtliche Zuordnung ihrer Aktionen und Kon­ zeptionen zu einem Problem. Demnach verlangt bereits eine Konzentration auf die DFP, zumal in der Konfliktszeit, eine Konkretisierung beider Strö­ mungen, da auch ab Mitte der 60er Jahre in Süddeutschland wie in Sachsen die organisatorisch-parteimäßige Verselbständigung des Demokratismus in teils entschiedener Abgrenzung von den regionalen liberalen Parteien ein­ setzte. Notwendig ist drittens eine begriffliche Trennung von D emokratie und Liberalismus, um theoretische Grundlinien differenzieren, Ideen, Akti­ vitäten und Organisationen klassifizieren und damit möglicherweise vor­ handene Gegensätze einordnen zu können einschließlich der Scheidung politischer Traditionslinien. Leider läßt gerade die neuere nichtmarxistische Literatur in dieser Beziehung jegliche Einheitlichkeit und oft auch das Be­ mühen um eine begründete Terminologie vermissen.2 Hier ist nicht der Ort, auch nur Ansätze eines Kriterienrasters zur Identifi­ zierung des Liberalismus und seiner Spielarten vorzulegen, doch tangiert der regionale Vergleich zweier preußischer ›Liberalismen‹ dieses definitorische Grundproblem, weshalb jedenfalls darauf hingewiesen werden muß. Einige Anmerkungen, die an frühere Ausführungen anknüpfen,3 sollen helfen, den Untersuchungsgegenstand (Berliner und Kölner Liberalismus) einzuengen. A) Nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 war die organisierte Demokratie in Preußen zerschlagen. Wenn z. B. Johann Jacoby mit Beginn der Neuen Ära um die »Reorganisation . . . der durch mehrjährige Untätig­ keit völlig aufgelösten demokratischen Partei«4 bemüht war, so gebrauchte er, wie seine Korrespondenzpartner, den Parteibegriff im Sinne der soge­ nannten Gesinnungspartei. Schon das Dreiklassenwahlrecht zwang die weni­ gen preußischen Demokraten - offensichtlich auch in Berlin und Köln - zum Zusammengehen mit den Liberalen, hatten sie doch ihre Wählerbasis in der dritten Wählerklasse und wegen der indirekten Klassenwahlen daher kaum Aussicht auf Erfolg. Nur innerhalb der Fortschrittsbewegung bestand die Möglichkeit einer parlamentarischen Vertretung. Hermann Beckers Aussa­ ge von 1861: »Als politische Partei besteht die Demokratie schon seit Jahren nicht mehr . . .«, 5 gilt auch für das folgende Jahrzehnt. D ie preußische D e­ mokratie fand im Gegensatz zur süddeutschen nicht mehr zu einer eigen­ ständigen Organisation. B) In den 50er Jahren erhielt der Begriff »demokratisch« durch die inten­ sive Verwendung in behördlichen Verlautbarungen eine diffamierende Funktion: Demokratisch war gleichbedeutend mit revolutionär, umstürzle­ risch, staatsfeindlich. D abei ging die preußische Ministerialbürokratie vom Kriterium des monarchischen Prinzips für eine parteimäßige Zuordnung aus: Konservativ waren demnach alle, die die Macht der Krone ungeschmä­ lert zu erhalten strebten;6 damit war jeder nichtgouvernementale Liberalis110 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

mus, weil dem entgegengesetzten Prinzip folgend, demokratisch, d. h. um­ stürzlerisch. D ie Verwendung des Begriffs demokratisch innerhalb des bür­ gerlichen Lagers spiegelt eine gewisse Schizophrenie wider: Einerseits ver­ mied man ängstlich die Selbstbezeichnung als D emokrat, um mögliche Sympathisanten nicht abzuschrecken, andererseits bekannte man sich zu Beginn der Neuen Ära z. T. als D emokrat, um zugleich vehement auf die Wandlung im eigenen Bewußtsein und in den Zielsetzungen hinzuweisen, indem man die doktrinäre »ältere« = märzliche Demokratie von der jungen, nachrevolutionären unterschied, die selbstverständlich vom Boden der preußischen Verfassung ausgehe.7 D iese Selbstbezeichnung als D emokrat suchte den Begriff gegen konservativ-feudale Verleumdungen insofern zu retten, als insbesondere im preußischen Verfassungskonflikt an seinem Kerngedanken, der Volksorientierung, angesetzt und eine durch Erfahrung geläuterte Tradition, also ein Lernprozeß behauptet wurde, den der statische Feudalismus nicht vollziehen könne. In diesem Sinne reklamierte Schmidt­ Weißenfels die ganze D FP für die »jüngere D emokratie«.8 Komplizierend wirkt der schon erwähnte Tatbestand, daß ihre Geburt nicht mit einem Generationswechsel identisch war. Vielmehr vollzog eine Anzahl 48er De­ mokraten eine Revision ihrer Grundauffassungen. So konnten z. Β. über­ zeugte Demokraten die preußische Monarchie als nicht in Frage zu stellen­ den Boden ihrer Tätigkeit bezeichnen,9 womit ein wichtiges Erkennungs­ merkmal in der praktischen Politik ausschied, das Bekenntnis zu Republik und Volkssouveränität. Der Gebrauch der Begriffe »D emokrat« und »demokratisch« in den 50/ 60er Jahren sperrt sich deshalb gegen jeden unreflektierten politikwissen­ schaftlichen Zugriff: Er charakterisiert als Bekenntnis wie als D iffamie­ rungsvokabel eine Gesinnung, kaum ein greifbares politisches Programm. Demokratie definiert sich als politische Form, nicht mehr als Inhalt.10 Der Demokrat dieser Zeit ist ein Volksfreund, ein Freund der Volksregierung, demokratisch ist volkstümlich im D enken und organisatorischen Han­ deln. 11 Sein Programm ist »alles für das Volk und alles durch das Volk«.12 Der Verzicht auf eine konkrete Programmatik ließ die Möglichkeit offen, dieser Maxime auf dem Boden einer konstitutionellen Verfassung zu fol­ gen, 13 wobei dies aber weiterhin als Prinzipienpolitik ausgegeben wurde. Dagegen gehörte zum zentralen liberalen Gedankengut der Dualismus Par­ lament-Monarch, der jede Idee der Volkssouveränität ausschloß. Während für den Liberalismus ein elitäres Standesbewußtsein charakteristisch war (Besitz- und Bildungsideologie), kennzeichnete die Demokratie ein egalitä­ rer Grundzug: Nicht Mitwirkung und Teilhabe des Volkes, sondern seine Herrschaft war das Ziel, daneben die Einbeziehung des Volkes in die Politik durch Massenagitation, ein ausgedehntes Vereinswesen und die program­ matische Verpflichtung der Abgeordneten auf den Volkswillen. Ein wesent­ licher, sich durch viele Standpunkte und Äußerungen hindurchziehender Unterschied besteht in der Art und Weise der (organisierten) Einbeziehung 111 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

der Volksmassen in die politische Auseinandersetzung, so der Mobilisierung breiter Volksschichten durch Versammlungen und Petitionen,14 von den Liberalen oft als demagogische und plebiszitäre Politik abgelehnt.15 D aß die Demokraten im Volk die Basis des Staates sahen, drückt sich auch in der kompromißlosen Forderung nach dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht aus. Eichmeier liefert noch ein weiteres Unterscheidungsmerkmal für die nachrevolutionären Parteiströmungen: War ihr Programm demokratisch, so entsprach ihr Selbstverständnis dem einer Aktionsgruppe, war es liberal, verstand man sich als Träger der öffentlichen Meinung. 16 Abschließend können folgende Schlußfolgerungen gezogen werden: 1. D ie Bezeichnung »D emokrat« in den Quellen gibt nicht automatisch einen Hinweis auf eine ideengeschichtliche Einordnung der Person und ihrer Aussagen, auch nicht bei ehemaligen 48er D emokraten. 2. Andererseits verbietet es sich, alle Personen, die sich dem Fortschritts­ liberalismus in organisierter Form (DFP) zurechneten, generell dem Libera­ lismus zu subsumieren. 3. Maßstäbe für eine Zuordnung können sein a) die sich bei zentralen Streitfragen - z. B. Wahlrecht, Budgetrecht, Heeresorganisation usw. ergebenden gegensätzlichen Positionen, die auf unterschiedliche Grundan­ schauungen hin zu befragen sind (z. B. Volkssouveränität), und b) die gegen Ende der 60er Jahre sich in demokratischen Parteien - inklusive der sozial­ demokratischen - verfestigenden Positionen. Zur Orientierung dienen na­ türlich auch c) die sich gegen Ende der 48er Revolution theoretisch und organisatorisch herauskristallisierenden Gegensätze zwischen D emokraten und Liberalen.17 Zu B) D aß die bisherige vorläufige Unterscheidung von D emokraten und Liberalen recht vage ausfiel, hängt eng zusammen mit dem zweiten Grundproblem, der praktisch-organisatorischen Faßbarkeit des Gegen­ standes Liberalismus. Wer vertrat bzw. repräsentierte sozialgeschichtlich den Liberalismus, in welchen gesellschaftlichen Organisationen, Kräften und Gruppierungen waren liberale Ideen vertreten, wie und wo läßt sich Liberalismus als relevante Weltanschauung nachweisen? Üblicherweise fin­ det man einen ersten Zugang über publizistische und literarische Produkte oder sonstige veröffentlichte private Briefwechsel liberaler Politiker, also einer kleinen intellektuellen Oberschicht. Unbestritten ist jedoch, daß unter dem deutschen Liberalismus des zweiten D rittels des 19. Jahrhunderts eine breite, im wesentlichen bürgerliche Kreise erfassende geistige Grundhaltung zu verstehen ist, die sich auf Gebiete der Politik, Wirtschaft, Kultur und Religion/Weltanschauung erstreckte.18 Nun setzt aber das Problem der Identifizierung bereits mit dem allgemein behaupteten Träger ein, dem Bürgertum. Erweist sich schon diese Bezeichnung als recht unpräzise, wie ist dann der politische Liberalismus überhaupt (quantitativ) greifbar? A) Als einfachste Möglichkeit aus heutiger Sicht bietet sich der Weg über liberale politische Organisationen an, insbesondere über die Parteien. Als 112 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

erste moderne Partei wird allgemein die D FP bezeichnet,19 die aber keine Mitgliederpartei war. Auch blieb das aus den Vormärztagen stammende ältere Parteiverständnis lebendig, das unter dem Begriff eine Gesinnungsge­ meinschaft verstand: »D er Name Partei bezeichnete die Anhänger einer politischen Grundvorstellung, und dabei war die Anhängerschaft allein durch persönliche Überzeugung konstituiert.«20 Die seit den Revolutionsta­ gen sich verfestigenden parlamentarischen Zusammenschlüsse, die »Frak­ tionsparteien«, stellten nur eine lockere Verbindung im Parlament dar, die sich erst während der Sessionstage konstituierte. D ie nachrevolutionären Versuche einer Verbindung von Fraktion und Parteivereinen, d. h. dem in Organisationen vor Ort zusammengeschlossenen Wahlvolk, scheiterte in der frühen Reaktionszeit.21 Von Parteiorganisationen (Parteivereinen) im Lande konnte bis 1858 selbst zu Wahlzeiten keine Rede sein; Fraktion und Partei wurden als Begriffe synonym verwandt. 22 Die Fraktionen des preußi­ schen Abgeordnetenhauses kannten weder Fraktionszwang noch die Ver­ pflichtung auf ein Wahlprogramm, was zu großen Schwierigkeiten bei der Zuordnung von Parlamentariern zu den einzelnen Fraktionen führt. Ein Partei- bzw. fraktioneller Zusammenschluß kann aber nur dann für eine feste, gemeinsame ideologische Grundausrichtung stehen, wenn sie nicht nur Produkt zufälliger politischer Konstellationen und Bündnisse ist, son­ dern auf weitgehenden programmatischen Grundsatzentscheidungen be­ ruht, wie sie bei der Wahl von Abgeordneten auf Grund eines Wahlpro­ gramms zum Ausdruck kommt, auf das sich der Gewählte verpflichtet hat, oder in einem festen Fraktionsstatut und in Organisationsversuchen der »Partei« und der Wählerschaft über den Wahltag hinaus. Diese Bedingungen erfüllte erst die 1861 gegründete DFP. Nur bei ihr könnte man daher über die Wahlerfolge auf eine breite und intensive Verankerung liberaler Gedanken schließen, während die Stimmabgabe für die Kandidaten anderer liberaler Fraktionen nur auf eine grundsätzliche Richtungsentscheidung - letztlich der Wahlmänner - hinweist, lehnten doch altliberale Politiker meist jede inhaltliche Bindung an ein Wahlprogramm ab. B) Immerhin scheinen die Analysen der Parlamentswahlen in der preußi­ schen Konfliktszeit eine gesicherte und quantitative Fixierung des Fort­ schrittsliberalismus zu ermöglichen. Recht gut erforscht sind durch die Braubach-Schule und einige Nachfolgestudien die preußischen Landtags­ wahlen in den Rheinlanden zwischen Revolution und Reichsgründung,23 doch fallen die einzelnen Untersuchungen in methodischer Hinsicht recht unterschiedlich aus: Einige lassen durch intensive statistische Auswertungen des Wahlmaterials Schlüsse über soziale Trägerschichten zu, so die Arbeiten von D enk (Köln), Kaiser (Bonn) und Haunfelder (Münster). Sie machen aber deutlich, daß die Bewertung von D FP-Wahlerfolgen an Hand der Mandatszahlen im Hinblick auf eine etwaige breite Rezeption liberaler An­ schauungen in der Bevölkerung nur mit größter Vorsicht vorzunehmen ist: angesichts der doppelten Filterung im preußischen D reiklassenwahlrecht 113 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

durch die Ur- und Wahlmännerwahl; und angesichts des engen Zusammen­ hangs einer breiten Emotionalisierung im Heeres- und Verfassungskonflikt mit den Wahlerfolgen der DFP. Der Ruck nach links ist auch als moralisches Votum für die standfeste und unnachgiebige Fraktion und nicht allein als Resultat einer nachhaltigen Bewußtseinsveränderung zu deuten.24 Auch bleibt offen, inwieweit gerade die materielle Seite der Heeresreform die Wähler auf die Seite der Liberalen (DFP und Linkes Zentrum) trieb. 25 Das indirekte System machte die Wahl­ beteiligung und den Wahlausgang in einem erheblichen Maße abhängig von den Aktivitäten und der Einigkeit der liberalen Gruppierungen.26 Gerade die detaillierten Wahlstudien der Braubach-Schule zeigen neben den Briefedi­ tionen preußischer Politiker, welche Zufälligkeiten und taktische Überle­ gungen die Abgeordnetennominierungen unter solchen Umständen be­ stimmten. 27 Inwieweit also 1862, auf dem Höhepunkt des Verfassungskon­ flikts, die D FP-Wähler wirklich »liberal« dachten, d. h. politisch, ökono­ misch und kulturell dem Liberalismus nahestanden, ist von den Wahlergeb­ nissen her keineswegs eindeutig zu klären. C) Weitere Aufschlüsse über die Breite der liberalen Bewegung ver­ spricht eine Analyse der vielfältigen bürgerlichen Aktivitäten auf dem Ver­ einssektor. Schon im Vormärz fand eine Politisierung aller Gruppenbildun­ gen, angefangen von Formen organisierter Geselligkeit und Freizeit bis hin zu den Berufsorganisationen, statt. Für die 60er Jahre ist das Kongreßwesen charakteristisch. Fast alle Vereinigungen waren personell eng durchsetzt mit führenden liberalen Politikern und wurden bewußt zur Propagierung libera­ ler Grundanschauungen genutzt. D) Eine Massenquelle für die Verbreitung und den Inhalt der liberalen Weltanschauung (Ideologie) bietet das Pressewesen (Zeitungen, Zeit­ schriften). D ie Durchsetzung liberalen Gedankenguts in weiten Teilen des Bürgertums ist in erster Linie diesem Medium zu verdanken. Zwar finden wir hier weniger den akademischen Liberalismus vertreten als ein Sample vulgärer Aufgüsse und vielfältigster Auslassungen des mittelständisch orientierten Fortschrittsliberalismus zu Fragen der Innen-, National-, Kul­ tur- und Wirtschaftspolitik. Teilweise sehr eng mit den politischen Parteien verbunden, stellte die Presse praktisch die Hauptwaffe des politischen Libe­ ralismus in seinem antifcudalen Kampf dar, formte und mobilisierte sie doch die öffentliche Meinung, das selbstgewählte alleinige Druckmittel. So ist die preußische Presselandschaft gerade in jüngerer Zeit Objekt einiger Versuche geworden, Spielarten des preußischen Liberalismus zu analysieren,28 kann man doch unter Verwendung der vormärzlichen Begriffsbedeutung durch­ aus von Zeitungs-Parteien sprechen, insbesondere unter dem Gesichtspunkt des regionalen Vergleichs (Berlin: National- und Volkszeitung; Köln-D üs­ seldorf: Kölnische und Niederrheinische Volkszeitung). Leider beschränkt man sich in den zitierten Untersuchungen in erster Linie auf die Analyse des politischen Teils: Leitartikel und allgemeine Berichterstattung. 114 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Lokale und regionale Liberalismen manifestieren sich demnach quellenmä­ ßig a) in Zeitungen und Zeitschriften, b) in Briefwechsel von Honoratioren­ gruppen, die das bürgerliche Vereins- und Wahlkampfwesen leiteten bzw. c) in schriftlich fixierten Äußerungen der Parlamentarier, d) in den publizistisch belegten Wahlkampfaktivitäten der einzelnen Wahlkreisorganisationen.

II. Preußischer Liberalismus im Vergleich Der preußische Liberalismus ist in seinen vielfältigen Erscheinungsformen Vereine, Fraktionen, Zeitungen etc. - am deutlichsten greifbar zur Zeit der Neuen Ära (1858-1861) und des Heeres- und Verfassungskonflikts (1861 — 66). 29 Er ordnet sich ein in die Bewegung des deutschen Fortschrittsli­ beralismus des dritten Viertels des 19. Jahrhunderts, dem D urchgangssta­ dium zur Vollindustrialisierung. D iese besondere Situation des Übergangs spiegelt sich in zahlreichen Vorstellungen des liberalen Bürgertums, insbe­ sondere seiner Sozialpolitik.30 Die wesentlichen politischen Grundüberzeu­ gungen können hier nur stichwortartig genannt werden: 31 a) das weiterhin ungebrochene Fortschrittsbewußtsein, bezogen auf die Entwicklung von Wissenschaft, Kultur und Politik, jetzt zunehmend orientiert an den Gebieten der Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie (»materielle Interessen«). Aus ihnen schöpfte man die aufklärerische Kraft und Zuversicht, indem die hier waltende natürliche Gesetzmäßigkeit auch auf das politische Gebiet übertragen wurde; b) Selbstbewußtsein (Leistungsgefühl) des Bürgertums als der eigentlich werteschaffende Stand ökonomisch, sozial und intellektuell zur Selbstbestimmung fähiger Menschen gegenüber dem parasitär-junkerli­ chen und dynastischen Feudalismus; c) die damit zusammenhängende, aber nicht als Klassenschranke verstandene Besitz- und Bildungsideologie ein­ schließlich des mittelständischen Aufstiegsoptimismus, nach dem jedem auf Grund eigener Kraft und Tüchtigkeit der Zugang zum Bürgertum offen stehe; d) die enge Verbindung der einzelstaatlichen Freiheitsforderung mit dem Nationalstaatsgedanken: Hier flossen ideelle und ökonomische Motive zusammen, zumal seit der Revolution die liberale Politik weniger ideen- als interessenbezogen argumentierte (Realpolitik); e) die Auffassung vom deut­ schen Beruf Preußens, das schon wegen seiner territorialen Struktur zur Einigungspolitik prädestiniert sei, diese Aufgabe aber nur als liberaler Staat (Einheit von Volk und Monarch) erfüllen könne; f) der schon erwähnte Dualismus Parlament-Monarch mit einem Verzicht auf bürgerliche Vorherr­ schaft zugunsten einer politischen Mitbestimmung im Staat, die von den verschiedenen Gruppen unterschiedlich gewichtet wurde; g) die Konzeption vom gewaltlos-rechtlichen Kampf zur D urchsetzung der nationalen und freiheitlichen Ziele über die Mobilisierung der öffentlichen Meinung. Auch wenn man die außerpreußischen Verbindungen, z. B. National verein 115 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

und einzelstaatliche Fortschrittsparteien, außer acht läßt, lassen sich die vielfältigen liberalen Strömungen nur schwer systematisieren. Regional gefärbte Liberalismen, wie der des rheinisch-westfälischen Großbürgertums oder der in Ost- und Westpreußen, stehen neben betont wirtschaftsliberal denkenden Gruppen (Freihändler), verschiedenen parlamentarischen Frak­ tionsparteien oder solchen, die sich um Zeitschriften gruppierten (z. Β. die Altliberalen um die Preußischen Jahrbücher). Unterschiede und Gegensätze erwuchsen aus der je andersartigen Priori­ tätensetzung innerhalb des liberalen Katalogs politischer, ökonomischer und sozialer Ziele sowie der damit korrespondierenden Strategie: dem Rang der nationalen Frage, der preußischen Macht- und Außenpolitik, der Not­ wendigkeit einer starken Monarchie, der wirtschaftlichen Entwicklung, der Durchsetzung größtmöglicher bürgerlicher Freiheiten und Mitbestim­ mungsformen usw. Nach der Wahlenthaltung der Demokraten in der Reaktionszeit und einer stabilen konservativen Parlamentsmehrheit brachten die ersten, von grö­ ßeren behördlichen Eingriffen freien Wahlen am 12./23. 11. 1858 eine abso­ lute Majorität aus liberalkonservativen und gemäßigt liberalen Abgeordne­ ten, den sogenannten Altliberalen.32 Seit Ende 1860 suchten einige liberale Abgeordnete durch programmatische Vorstöße die Fraktion zu einem ent­ schiedeneren Auftreten zu bewegen. D ies führte letztlich zum Ausscheiden einer kleinen Gruppe am 2. 3. 1861 und zur Bildung einer eigenen Fraktion. Nach intensiven Beratungen dieser überwiegend aus West- und Ostpreußen stammenden Parlamentarier mit den eben erst in Nachwahlen nominierten bekannten »D emokraten« Waldeck, Schulze-D elitzsch sowie Ziegler und von Unruh, Mommsen, den »Redakteuren der National-, Volks-und Vossi­ schen Zeitung«33 u. a. wurde am 5./6. 6. 1861 ein Programm vereinbart und am 9. bzw. 11.6. durch die Zeitungen veröffentlicht.34 D ie D FP kam auf Grund einer politischen Koalition zustande: In ihr fanden sich Radikale, entschiedene Liberale und Gemäßigte zusammen, also Liberale und Demo­ kraten, doch blieb diese Polarisierung in einen gemäßigten rechten und einen radikaleren linken doktrinären Flügel bis zur Spaltung von 1866 bestehen. Kompromißcharakter trug auch das »Koalitionsprogramm« (Virchow). Es war ein »sachrationales« (Gugel) Aktionsprogramm zur Erreichung mittel­ fristiger Ziele ohne ideologische Forderungen,35 behielt aber seine Gültig­ keit als Parteiprogramm bis 1878. Im Mittelpunkt stand die Verwirklichung rechtsstaatlicher Prinzipien, weniger eine größtmögliche Liberalisierung des Staates. Zum Kompromiß hatte auch gehört, daß ein ausdrückliches Be­ kenntnis zum allgemeinen, gleichen Wahlrecht fehlte. In einem Begleit­ schreiben, das man mit dem Programm an Gesinnungsgenossen versandte, wurde dies als Ergebnis von Meinungsverschiedenheiten und als »offene Frage« deklariert.36 Die soziale Basis der DFP ließe sich detaillierter am besten über Wahlkreis­ analysen ermitteln (Wahlkomitees, Wahlmänner usw.), will man nicht 116 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

methodisch unhaltbar - die berufliche Zusammensetzung der Abgeordneten mit der Wählerschaft identifizieren. Ganz allgemein kann man sagen, daß die Partei ihren Rückhalt überwiegend in den klein- und mittelbürgerlichen Schichten fand, aber auch in Unternehmerkreisen Unterstützung fand. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß die D FP zwar im Verfas­ sungskonflikt große Wahlerfolge erzielte (Dezember 1861: 31% der Manda­ te, Mai 1862: 40%), der Sieg des Fortschrittsliberalismus in Preußen aber erst zusammen mit dem sich ab Januar 1862 bildenden Linken Zentrum (LZ) erreicht wurde, einer bisher nur recht stiefmütterlich untersuchten Abge­ ordnetenhausfraktion. Im LZ sammelten sich unter Führung von Florens von Bockum-Dolffs und Friedrich Harkort solche Parlamentarier, die v. a. während der Zuspitzung des Konflikts sich der DFP eng verbunden fühlten, aber in der politischen Zielsetzung (Rolle des Parlaments) wie im Stil mode­ rater gestimmt waren: Im »alten gemäßigten Honoratiorenliberalismus der beiden westlichen Provinzen« wurzelnd akzeptierten sie zwar eine straffere Fraktions-Geschäftsordnung als die Altliberalen, verweigerten aber eine enge programmatische Anbindung an den Wähler. Sic sympathisierten mit dem Programm der DFP, empfanden sich aber als weniger »doktrinär« und »theoretisch«. Man verstand sich als Auffangbecken für mit der DFP sym­ pathisierende Abgeordnete.37 D ie Mitglieder des LZ stammten in erster Linie aus dem Rheinland und Westfalen, 1863 allein ein Viertel aus dem Rheinland.38 Die D FP legte ein Wahlprogramm vor, auf das sich die Abgeordneten verpflichteten, organisierte erstmals (nach 1848) eine zentrale Wahlkampf­ leitung und verfugte über eine straffe Fraktions-Geschäftsordnung. Zuneh­ mend repräsentierte der fortschrittsliberale Kandidat erst einmal seine Partei und deren Programm, an dem sein Verhalten überprüft werden konnte: Es beinhaltete seinen Wählerauftrag. Lokale Wahlkomitees forderten von den Kandidaten ein »Glaubensbekenntnis« und einen Rechenschaftsbericht. D ie Partei war demnach bereits bei der Wahl als solche klar erkennbar und bildete sich nicht erst durch den Zusammenschluß im Parlament. Nicht zuletzt die Dichte der Wahlkämpfe 1861, 1862 und 1863 führte zu einer verstärkten Assoziation des Begriffs Partei mit der Einheit von parlamentarischer Ver­ tretung und außerparlamentarischer Organisation.39 Der organisatorische Aufbau der DFP, d. h. in erster Linie ihrer zentralen Wahlkampforganisation, sowie ihre Führung waren eine Angelegenheit des Berliner Zentralwahlkomitees, das über die Herausgabe von Flugblättern und Zeitungsinseraten den Wahlkampf inhaltlich lenken, die zu bildenden Lokalwahlvereine koordinieren und Einfluß auf die Kandidatenaufstellung nehmen sollte. Am 29. 9. 1861 wandte es sich in seinem ersten Aufruf, einer Interpretation des Programms vom 9. 6., an die Öffentlichkeit.40 Während das Zentralwahlkomitee anfänglich nur für die Abhaltung der Wahlkämpfe eingesetzt worden war, entstanden vereinzelt auch lokale Wahlvereine mit der Absicht einer dauerhaften Organisationsbildung. Sie betrieben die 117 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Wahlwerbung in sogenannten Urwähler- bzw. - nach der ersten (Ur-) Wahl - verstärkt auf Wahlmännerversammlungen, ein Verfahren, das in größerem Stil weitgehend nur von der Liberalen praktiziert wurde. D as durch H. V. von Unruh geleitete Zentralwahlkomitee beschäftigte einen Schrift­ bzw. Geschäftsführer, zeitweilig auch ein Wahlkampfbüro. Allerdings war die D FP keine Mitgliederpartei im heutigen Sinn. Eine dauerhafte und gegliederte Parteiorganisation außerhalb der Wahlkämpfe machte schon das preußische Vereinsgesetz unmöglich. Trotzdem stellte man 1862 Überle­ gungen an, der Partei auch zwischen den Wahlen eine feste Organisationsba­ sis zu geben.41 Generell konnte die DFP in Preußen auf die lokalen Vertrau­ ensmänner und Mitglieder des Nationalvereins zurückgreifen (und umge­ kehrt).42 Auf Organisationsstruktur, politische Zielsetzung und soziale Ba­ sis zweier regionaler Erscheinungsformen der D FP soll im folgenden am Beispiel des Berliner und Kölner Fortschrittsliberalismus eingegangen wer­ den. Berlin Der in Berlin auch in der sessionsfreien Zeit residierende Führungszirkel der DFP - Fraktionsvorstand und Zentralwahlkomitee - setzte sich zusammen aus einem linken Flügel - Schulze-D elitzsch, Franz Duncker, Virchow -und einem rechten - Unruh, Twesten, Mommsen sowie einige prominente Freihändler.43 Grundsätzliche Analysen zur Politik und Ideologie der DFP gelten daher in gleicher Weise für die Berliner Führungsgruppe. D ie lokale Dominanz der Parteiführung hat zur Folge, daß man zwar von einem preußischen oder rheinischen, d. h. regional geprägten Liberalismus spricht, nicht aber von einem Berliner. Insgesamt ist Fesser zuzustimmen, daß innerhalb der D FP, zumindest in Berlin, der linke Flügel den Ton angab, besonders im Zuge der Verschärfung des Heereskonflikts. Andererseits spielte der rechte Flügel eine einflußreiche Rolle. 44 Für Berlin hieß das, daß die DFP hier in der Öffentlichkeit in erster Linie durch Linksliberale, v. a. Schulze-Delitzsch, und einige demokratische Politiker repräsentiert wurde, während Unruh alle organisatorischen Fäden in der Hand behielt. Die Partei in der preußischen Hauptstadt wirkte schwerpunktmäßig auf zwei Ebenen: a) ideologisch über die fortschrittsliberalen Zeitungen, b) organisatorisch in den teils geselligen, teils aus Wahlkämpfen erwachsenden Vereinen und Versammlungen. Zu a) In Berlin erschienen die Blätter, deren Redakteure bereits an der Konstituierung der D FP mitgewirkt hatten: neben der Vossischen45 die Berliner Volkszeitung (BVZ), 1861 mit einer Auflage von 26 500 stärkste Berliner Zeitung, und die Berliner National-Zeitung (BNZ) mit 8300 Ex­ emplaren.46 Ohne direkt organisatorisch mit der D FP verbunden zu sein, repräsentierten sie die Partei des Fortschrittsliberalismus. Während die BNZ 118 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

1863 im Schleswig-Holstein-Konflikt vom linken zum rechten Flügel schwenkte,47 unterstützte die BVZ weiterhin den linken Flügel.48 Fand die BNZ ihre Leser vorwiegend in den Kreisen des gehobenen Bürgertums, so entsprach die BVZ eher, wie ihr Untertitel »Organ für Jedermann aus dem Volke« andeutet, dem Geschmack der kleinbürgerlichen Schichten. Beide überregional verbreiteten Blätter dienten mit ihrem ausgedehnten Lokal­ und Anzeigenteil der örtlichen Anhängerschaft als Kommunikationsorgan. Neben den Altliberalen mit ihrer seit dem 1.1. 1863 erscheinenden Berliner Allgemeinen Zeitung besaß auch seit 1861 die kleine Gruppe Berliner D e­ mokraten mit der Reform ein eigenes Blatt. Sie wurde von dem 1859 aus seinem Londoner Exil zurückgekehrten 48er D emokraten Eduard Meyer geleitet, dem vom 1. 10. 1863 bis März 1866 Guido Weiß, ein enger Freund J . Jacobys, folgte.49 Zu b) Während des Höhepunkts des Verfassungskonfliktes entwickelte sich in Berlin eine besondere Organisation der Anhänger der fortschrittsli­ beralen Bewegung. D ie Hauptstadt war in vier Wahlkreise eingeteilt, die ab 1861 stets feste Bastionen der D FP waren. Trotz der großen absoluten Majorität liberaler Wahlmänner kam es aber häufig zu intensiven Auseinan­ dersetzungen um die Nominierung der Abgeordneten. So spielten 1861/62 parteitaktische Überlegungen eine große Rolle, wie radikal ein Kandidat sein dürfe, um ihn dem König in seiner Hauptstadt zumuten zu können.50 Galt der erste Wahlbezirk, der bereits Anfang 1859 in einer Nachwahl Schulze-Delitzsch die meisten Stimmen gab und 1861 den Linksliberalen Taddel nominierte, wegen seiner sozialen Struktur als »Geheimratsvier­ tel«, 51 so war der dritte einer der industriereichsten des ganzen Landes (Maschinenbau) und umfaßte hauptsächlich die Arbeiterviertel. In ihm ver­ fügte ab März 1861 Schulze-D elitzsch über eine feste Wählerbasis. D ie Radikalisierung der sowieso zu einem erheblichen Teil auf dem linken Flügel der DFP stehenden Wahlmänner auch der beiden übrigen Bezirke wird darin deutlich, daß im Oktober 1863 Jacoby im zweiten und Temme im vierten Wahlbezirk gewählt wurden. Einzelbelege zeigen, daß das Zentralwahlko­ mitee lavieren mußte, um ihm genehme Kandidaten durchzusetzen, galt es doch einerseits, gemäßigte liberale Wahlmänner auf die Kandidaten zu ver­ einigen, andererseits Versuche demokratischer Gruppen abzublocken, die vehement die Berücksichtigung kompromißloser Befürworter des allge­ meinen, gleichen Wahlrechts forderten.52 Aus Protest gegen dessen pro­ grammatische Ausklammerung hatte sich nämlich am 2. 7. 1861 um Karl Streckfuß ein »Volkstümlicher Wahlverein« gebildet. Er wollte innerhalb der D FP nur solche Kandidaten bei der Wahl unterstützen, die für das demokratische Wahlrecht eintraten. Streckfuß wurde mit einer koordinier­ ten Kampagne von Zentralwahlkomitee und BVZ ausmanövriert, an der sich auch Linksliberale wie Schulze beteiligten.53 Erneut kam es im Dezem­ ber 1863 zu Reibereien mit demokratischen Gruppen, als der Vorsitzende des ansonsten eng der D FP verbundenen Arbeitervereins, Karl D ittmann, 119 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Schulze aufforderte, auf sein sicheres Berliner Mandat zugunsten des Wahl­ rechtsvorkämpfers Streckfuß zu verzichten und das gleichfalls gewonnene Elberfeld-Barmener anzunehmen, was dieser aber verweigerte.54 Das Zentralwahlkomitee beschäftigte in den Wahlbezirken »Hauptagi­ tatoren«,55 die in erster Linie die Entscheidung der Wahlmänner zu steuern hatten. Offensichtlich von demokratischer Seite initiiert, zumindest massiv beeinflußt, wenn auch vom Zentralwahlkomitee in der Person von Unruhs mühsam kontrolliert, entstanden Ende 1861, zuerst im dritten Wahlkreis, regelmäßige Wahlmännerversammlungen »zum Zwecke der Besprechung mit Abgeordneten«.56 Gedacht als Kommunikationsmöglichkeit zwischen dem Wahlkörper (Wahlmänner) und den Abgeordneten besonders in der sessionsfreienZeit dienten sie einerseits der Einbindung der Abgeordneten in ihre Wählerbasis, andererseits aber auch zur Demonstration der von Regie­ rungsseite massiv bestrittenen Übereinstimmung der Abgeordnetenent­ scheidungen mit der Volksmeinung. Als Vereinigung ohne Statuten und Mitgliederverzeichnisse waren diese Versammlungen polizeilich schwer zu überwachen. Ab Anfang 1863 fanden zunehmend auch eingeführte Urwäh­ ler Zugang zu den montäglichen Versammlungen, die von den Demokraten als politische Plattform genutzt wurden. Nach der Auflösung des Abgeord­ netenhauses (11. 3. 1862) drängten sich die Urwähler immer mehr in den Vordergrund. Mitte des Jahres starteten Berliner D emokraten Versuche, über die Versammlungen eine Kontrolle der Berliner Abgeordneten, also eine Art imperatives Mandat, auszuüben. Zugleich planten sie im Juni, an die Stelle der informellen Wahlmänner- bzw. jetzt auch Urwählerversamm­ lungen die Gründung von Bezirksvereinen zur Beratung politischer und kommunaler Angelegenheiten zu setzen: Bezirksvereine sollten Deputatio­ nen in die kombinierten Wahlmänner- und Urwählerversammlungen ent­ senden, womit offensichtlich eine Mandatskontrolle ausgeübt werden soll­ te. Nur mühsam konnten diese Anträge seitens der D FP-Führung abge­ blockt werden, indem Schulze sein Fernbleiben von weiteren Versammlun­ gen androhte. Um diese besser in den Griff zu bekommen, setzte die DFPFührung durch, daß Urwähler nur noch als Gäste teilnehmen durften und ein fester Vorstand auf vier Wochen gewählt wurde. D en Vorsitz übernahm von Unruh. Die Berichterstattung über die jetzt vierzehntägigen Versamm­ lungen sowie die Publizierung ihrer Beschlüsse in den Berliner Zeitungen sorgte für eine große öffentliche Resonanz. Andererseits gab die D FPFührung ihren Widerstand gegen die Gründung von Bezirksvereinen auf; am 8. 8. 1862 wurden Musterstatuten erarbeitet. D ie einzelnen Vereine sollten der Besprechung von Tagesfragen, Bezirksangelegenheiten und der geselligen Unterhaltung dienen.57 Diese Bezirksvereine stellten dann wäh­ rend des Konflikts tatsächlich eine Art organisierter Infrastruktur der DFP in Berlin dar, wenn sie auch eher das linke Spektrum der Partei abdeckten. Sie besaßen fast alle gleichlautende Statuten und standen über ihre Vorsteher untereinander bzw. mit den Landtagsabgeordneten in engem Verkehr. So 120 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

nutzte man geschickt den geringen gesetzlichen Spielraum.58 Die Wahlmän­ nerversammlungen tagten auch weiterhin und übten, sehr zum Unwillen der fortschrittsnahen Presse, mitunter Druck auf die Parlamentarier aus. 59 Die geschilderten politischen Auseinandersetzungen auf den Wahlmän­ nerversammlungen spielten sich innerhalb der D FP ab. D ie Teilnehmer fühlten sich durch die Partei im Abgeordnetenhaus repräsentiert. D aher sind die Versammlungen wie die Bezirksvereine als›Parteiorganisationen‹anzu­ sprechen, ein in Preußen nahezu einmaliges Ereignis. Vergleichbar mit anderen Orten Preußens besaß die Berliner D FP enge Beziehungen zu diversen geselligen und allgemeinpolitischen Vereinen. Be­ sonders hervorzuheben sind die engen Kontakte zur zahlreichen Arbeiter-60 und Handwerkerschaft. D ie sehr früh (ab Herbst 1861) einsetzende Arbei­ terpolitik verkörperte sich in der Person von Schulze-D elitzsch, der zu diesem Zweck und wegen seiner großen Popularität als ›Vater des Genossen­ schaftswcsens‹ besonders von den rechten Fortschrittlern vorgeschoben wurde. Im hauptstädtischen Arbeiterverein besaß die D FP, trotz einiger oppositioneller Unterströmungen, einen starken Rückhalt, den auch Lassal­ le und der junge AD AV keinesfalls erschüttern konnten. D ies galt in noch höherem Maße für die Berliner Maschinenbauer, die Bebel als »Elite der Berliner Arbeiter« und »eigentliche Leibgarde der Fortschrittspartei« be­ zeichnete.61 Auch andere Berliner Berufszweige, wie die Buchdrucker, galten als enge Anhänger der DFP.62 Schmaling formuliert daher zu Recht: »Gerade in Berlin, das die politische Hochburg der D FP war, besaßen die Fortschrittler bei breiten Bevölkerungsschichten und vor allem auch bei den politisch fortgeschrittenen Arbeitern einen starken Rückhalt.«63 D ie DFP galt als Hüterin und Vorkämpferin der Verfassung, und gerade das hohe Engagement linksliberaler und demokratischer Politiker in den Handwer­ ker-und Arbeiterorganisationen trug, ungeachtet einzelner Differenzen, zu diesem engen Kontakt bei. Auf der anderen Seite läßt sich auch eine enge Verbindung zwischen führenden Unternehmern, also Mitgliedern des Großbürgertums, und der DFP belegen, z. B. von Werner Siemens und Leonor Reichenheim, beide Mitbegründer des Zentralwahlkomitees und dem rechten Flügel zuzurech­ nen. Helmut Kaclble verzeichnet für die 1862er Wahl unter den Berliner Wahlmännern aus dem Unternehmerstand 89% DFP-Sympathisanten und 7% sonstige Liberale. 30% der linken Wahlmänner waren Unternehmer. Der Trend zur DFP war um das doppelte stärker als das D urchschnittsver­ halten der Berliner Wahlmänner.64 D iese Feststellung wird unterstützt durch eine Bemerkung Waldecks, daß 1862 die angesehensten Berliner Maschinenfabrikanten sämtlich der D FP angehört hätten.65 Ein so starker Rückhalt der DFP in einer lokalen Unternehmerschaft war keineswegs die Regel. Vielmehr sahen diese Kreise ihre Interessenvertreter in den konstitu­ tionellen und altliberalen Kreisen. Nach 1866 stießen auch alle Berliner Parlamentarier aus dem Unternchmerstand zu den Nationalliberalen.66 121 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Im folgenden sollen einige Angaben zum Kölner Fortschritt67 zu einem Vergleich mit den Berliner Verhältnissen genutzt werden, um dann zusam­ menfassend die politischen Zielsetzungen einander gegenüberzustellen. Köln Ein grundlegender, die Wirkungsmöglichkeiten des rheinischen Liberalis­ mus bestimmender Unterschied zu Berlin muß gleich zu Anfang erwähnt werden. Hatten es die Berliner Liberalen als Gegner ab 1858 nur mit schwa­ chen konservativen Kräften zu tun, so sah sich der rheinische Liberalismus einer starken katholischen Bewegung gegenüber, die sich ab ca. 1852 auch parlamentarisch organisierte und v. a. im Handwerk und in den unteren Volksschichten (3. Wählerklasse) sowie auf dem Land über einen starken Rückhalt verfügte. D ie Auseinandersetzungen, aber auch die taktischen Verbindungen mit dem lokalen Katholizismus prägten daher die Politik des Kölner wie des rheinischen Liberalismus in den Wahlen von 1852 und 1855. In Köln kam es wie in anderen rheinischen Wahlkreisen zu Bündnissen zwischen beiden Lagern, die aber 1858 nicht mehr erneuert wurden. Auch im Verfassungskonflikt entwickelte sich lediglich eine »partielle Solidarität« (Parent). Die wesentlichsten D ifferenzpunkte waren kultur- und nationalpoliti­ scher, aber auch wirtschaftspolitischer Natur, da sich das mehrheitlich ka­ tholisch denkende Handwerk von der liberalen Frcihandelskonzeption mas­ siv bedroht fühlte. Zudem trug der Kölner Katholizismus ein starkes sozia­ les Gepräge.68 Insgesamt wählte auch Köln bei den Abgeordnetenwahlen seit Einfüh­ rung des Dreiklassenwahlrechts liberal. Regierungsparteien hatten hier nie eine Chance.69 Schon seit dem Vormärz galt die bedeutende Handels- und Finanzmetropole Köln als ein Hauptsitz des sog. rheinischen konstitutionel­ len Liberalismus, der als »Ausdruck einer bürgerlichen Geisteshaltung« wesentlich im ökonomisch selbständigen Bürgertum und seinem Leistungs­ bewußtsein wurzelte.70 Auch in Köln hatte das Scheitern der Revolution zu einer völligen Wahlabstinenz der Demokraten geführt. D er rheinische Libe­ ralismus hatte sich mehrheitlich schon vor der Revolution zu einer klein­ deutsch-propreußischen Position durchgerungen und sah in Preußen eine wirtschaftspolitische Führungsmacht, die es zum Verfassungs- und Rechts­ staat auszubilden gelte. D as liberale Desinteresse an den Wahlen endete erst 1858. Sofort wurden alte Agitationsformen, wie Urwähler-, Bezirks- und Wahlmännerversammlungen und die Insertionswerbung in Zeitungen wie­ derbelebt. 1861 spaltete sich auch der Kölner Liberalismus, nachdem der D issoziie­ rungsprozeß bereits Ende 1860 im Zusammenhang mit den ersten Pro­ grammvorstellungen der sich von der Fraktion Vincke lösenden Parlamen122 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

tarier eingesetzt hatte. Allerdings stieß das Programm der DFP vom 9. 6. 1861 in Köln und Düsseldorf auf scharfen Widerspruch, der Ende Juli zur Abfassung eines eigenen, des sog. ›Kölner Programms« führte. 71 Während sich die beiden letzten, später hinzugefügten Forderungen aus der erwähnten spezifischen Kölner bzw. rheinischen Situation erklären lassen, markiert der Streit um die Ausklammerung einer Wahlrechtsrevision im Berliner Programm einen prinzipiellen Unterschied. Die Kritik wurde im wesentlichen von der Niederrheinischen Volkszeitung - später: Rheinische Zeitung (NRV/RZ) und dem Düsseldorfer Journal getragen. Ein Vergleich der Programme zeigt auf den ersten Blick neben der Kölner Forderung nach einer Wahlrechtsreform, die aber kein eindeutiges Bekenntnis zum allgemeinen, gleichen Wahlrecht enthielt, nur zwei weitere wesentliche Unterschiede: das Verlangen nach »gänzlichc[r] Umgestaltung des Herrenhauses« und Ausführungen zur Heeresreform, die an das demokratische Ziel einer Volkswehr erinnerten (Einbeziehung von Schützenvereinen und Turnern). Eine Reihe von Forderungen war gegenüber Berlin energischer gefaßt, wie die nach vollständiger Pressefreiheit und freiem Vereinsrecht. So sah dann auch die gemäßigte liberale Kölnische Zeitung (KZ) den Unterschied zur Berliner DFP nur in Einzelheiten, nicht im Prinzipiellen. Trotzdem zeigt das Kölner Programm, daß sich hier Linksliberale und Demokraten wieder zu Wort meldeten, die keine Kompromißlösung mit konstitutionellen Liberalen anstrebten wie in Berlin. In der Folge entfaltete man in Köln ab Oktober eine rührige Wahlagitation im ›Komitec für volkstümliche Wahlern, suchte die Urwähler in Bezirksversammlungcn zu organisieren und Kontakte zu anderen liberalen Wahlkrciskomitees herzustellen. Auf einem Treffen am 14. 11. in Köln mit Deputierten aus neun rheinischen Wahlkreisen wurde ein Provinzialwahlkomitcc mit Sitz in der Domstadt errichtet, das auch nach den Wahlen die Verbindung mit den Abgeordneten halten und von ihnen Rechenschaftsberichte einfordern sollte, doch gelang die Verpflichtung auf das Kölner Programm Mitte November nur knapp, obwohl betont wurde, keine Trennung von der DFP anzustreben. Die Gemäßigten und Altlibcralcn lehnten ein solches »politisches Glaubensbekenntnis« prinzipiell ab und setzten sich letztlich - dies bezeichnend für die wahren Machtverhältnisse! - auf den Wahlmänncrversammlungen durch. In der Domstadt sympathisierten immerhin 20% der Wahlmänner mit dem Kölner Programm. Die NRV hatte es bereits seit Oktober nicht mehr propagiert. 72 Fortan suchte der Kölner Kreis innerhalb der DFP zu wirken. Der Majorisierungsversuch der entschiedenen Richtung innerhalb des rheinischen Liberalismus war gescheitert. Bezüglich der Unterschiede zwischen den Kölner Fortschrittlern und den in den lokalen Selbstvcrwaltungsorganisationcn dominierenden Altliberalen, die in der Unternehmerschaft ihre Basis, in der KZ ihr Organ und dem LZ ihre parlamentarische Vertretung hatten, kommt Thomas Parent 73 zu folgendem Ergebnis. Hinsichtlich der verfassungspolitischen Ziele im Konflikt bestand 123 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

weitgehend Übereinstimmung, gelegentlich kam es angesichts der Regie­ rungsrepressalien auch zur Zusammenarbeit. Gemeinsamkeiten existierten auch in der Wirtschaftspolitik, dem Ziel der nationalen Einigung und im Antiklerikalismus. Auseinander gingen die Meinungen in der Frage, »wie weit die politischen Ziele gespannt und mit welcher Entschiedenheit sie durchgesetzt werden sollten«. Hier war für die Gemäßigten der ökonomi­ sche Blickwinkel ausschlaggebend, wie er sich beispielsweise bei der Kritik der Heeresreform zeigte: Die hohen Kosten spielten eine wichtigere Rolle als die Gefahren für den Verfassungsstaat durch die dreijährige D ienstzeit. Charakteristisch hierfür war auch die Argumentation der »Rheinischen Adresse« vom 6. 1. 1863. Zunehmend beklagten die gemäßigten Liberalen ab 1863 die materiellen Schäden, die durch die kompromißlose Haltung der DFP entstünden. 1863 schwenkte allerdings ein Großteil des wohlhabenden Kaufmannsstandes und des gehobenen Mittelstandes zur DFP,74 doch blieb diese Unterstützung nur Episode. Die Zusammenarbeit von DFP und libe­ raler Oberschicht scheiterte im wesentlichen an der Frage der politischen Strategie. Die Einordnung der Kölner (und D üsseldorfer) D FP-Führungsgruppe um Hermann Becker, Heinrich Bürgers, Georg Jung usw. stellt ein eigenes Problem dar. Für Uelsmann verkörperte die rheinische DFP die demokrati­ sche Strömung im Rheinland.75 Parent vertritt die These, daß »der Verfas­ sungskonflikt in der (rheinischen) Fortschrittspartei durchaus als ein Kampf um die Macht im Staat aufgefaßt wurde«; 76 sie habe eine parlamentarische Regierungsform bewußt angestrebt.77 Außerdem bestreitet er, daß die Poli­ tiker der D FP durchweg Monarchisten gewesen seien; sie hätten vielmehr ihr Votum für eine konstitutionelle Monarchie so verstanden, daß der Mo­ narch seine Legitimation aus der Übereinstimmung mit dem Volkswillen und dem Recht beziehe,78 eine These, die diese Form der Monarchie der Idee der Volkssouveränität nähert. Mir scheint Parents Verallgemeinerung einer Parlamentarisierungskon­ zeption für den rheinischen Fortschritt, bisweilen auch für die DFP behaup­ tet, nicht einleuchtend. Er kann zwar mit Recht darauf hinweisen, daß die Ziele der Liberalen nach damaligen Kriterien als Hochverrat, Verfassungs­ bruch und Revolutionshetze gelten mußten und dementsprechend nur selten und verklausuliert auftauchen konnten. D och fällt auf, daß die Belegstellen fast ausnahmslos der NRV/RZ ab Ende 1862 und 1863 entnommen sind, also auf dem Höhepunkt des Verfassungskonfliktes formuliert wurden. Dies ließe sich auch mit der - übrigens von Parent selbst gut erarbeiteten ­ Zuspitzung der allgemeinen Erbitterung erklären und nicht allein als unvor­ sichtige Enthüllung geheimster Wünsche und Ziele.79 Außerdem sind die entsprechenden Äußerungen stets dem Kreis um Becker, Bürgers, Jung etc. zuzurechnen, die innerhalb der DFP demokratische Positionen vertraten.80 Von Bedeutung ist schließlich auch die Feststellung, daß sich in den edierten Briefwechseln keine weiteren Belege für Parents These finden, z. Β. in den 124 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Briefen Heinrich Kruses, des Redakteurs der KZ. D ie von Parent zitierten Äußerungen sind vielmehr einzuordnen in den allgemeinen D issoziierungs­ prozeß innerhalb des Fortschrittsliberalismus - Nationalverein und D FP seit Sommer 1862, in den aus Protest gegen die mangelhafte Entschiedenheit der Partei vollzogenen Anschluß eines Teils der rheinischen D FP an die Demokraten des sog. D ritten D eutschlands, allerdings ohne einen soforti­ gen organisatorischen Bruch mit der Partei zu vollziehen.81 Diese Sezession fand in Köln auch innerhalb der Arbeiterschaft durch die Gründung einer ADAV-Gemeinde statt. Während in Berlin eine demokratische Gruppe um die Reform von Anfang an in einem kritisch-distanzierten Verhältnis zur DFP gestanden hatte, sahen in Köln Becker, Bürgers und Genossen ihre Wirkungsstätte innerhalb des Fortschrittsliberalismus und konnten ihn so­ gar durch ihre organisatorischen Aktivitäten wesentlich beeinflussen. Ihre Absetzbewegung von der Berliner Führung offenbarte sich in den national­ politischen Kontroversen auf den Generalversammlungen des Nationalver­ eins bzw. den Abgcordnetentagen ab 1862 bezüglich der einzuschlagenden Taktik und der Rolle Preußens im Einigungswerk. Parents Ausführungen betreffen sicher die Zielsetzung einiger Kölner bzw. Düsseldorfer Linkslibe­ raler und D emokraten innerhalb der rheinischen D FP; es erscheint aber mehr als zweifelhaft, ob man der rheinischen Fortschrittspartei eine Strategie der Parlamentarisierung nachsagen kann. Daß diese These nicht für die Berliner Führungsgruppe bzw. ihren linken Flügel gilt, darüber scheint sich in der Forschung ein weitgehender Konsens herausgebildet zu haben.82 D abei sollte man zwei D inge unterscheiden. Einerseits setzte sich schon auf Grund der parlamentarischen Regierungs­ praxis allgemein seit der Revolution die Überzeugung durch, »daß künftig jede Regierung sich auf die Mehrheit der Volksvertretung stützen« und andernfalls zurücktreten müsse.83 In diesen Zusammenhang passen dann auch Äußerungen wie die Forckenbecks von 1863, das Ministerium solle abdanken, wenn es nicht das Vertrauen des Landes - gemeint ist das des Abgeordnetenhauses - besitze.84 Doch hat die DFP weder programmatisch noch erkennbar taktisch eine parlamentarische Regierungsweise angestrebt, auch nicht über das geforderte Ministerverantwortlichkeitsgesetz.85 Verein­ zelte gegenteilige Äußerungen fallen alle in der gereizten Stimmung auf dem Höhepunkt des Konflikts.86 Auch ist Fessers Aussage zuzustimmen, daß die Fortschrittler fast durchweg Monarchisten, d. h. Anhänger einer konstitu­ tionellen Monarchie waren.87 Natürlich konnte die D FP wohl fast aus­ nahmslos mit dem Gottesgnadentum eines Wilhelm I. nichts anfangen, jedoch waren ihre Anhänger mehr als nur Vernunftmonarchisten; sie konn­ ten sich den Staat grundsätzlich nur als eine monarchisch verfaßte Einrich­ tung vorstellen.88 Alle liberalen Parolen erweisen sich bei näherem Hinsehen als äußerst diffus, so auch die zentrale Forderung nach Wahrung und Durch­ setzung des Rechtsstaates, des »Lcgitimationstitel[s] bürgerlichen Verände­ rungsstrebens« (Blasius) zur Erreichung bürgerlicher Freiheiten durch die 125 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Bindung des Monarchen an die Gesetze, d. h. auch an das Parlament, und die rechtliche Gleichstellung aller vor dem Gesetz. Hier blieb nämlich unklar, inwieweit unter der These vom Ausbau des Rechtsstaates, z. Β. über das Budgetrecht, ein Eingriff in die Prärogative der Krone zu verstehen war. 89 Ging es der DFP denn wenigstens um die ›Macht‹, in welch unklarer Form auch immer? Spätestens mit der Parlamentsauflösung am 11. 3. 1862 und der Berufung Bismarcks war allen Beteiligten klar, daß der Konflikt letztlich die Machtfrage einschloß. D ie DFP hat diesen Kampf aufgenommen, am klar­ sten ihr linker Flügel, aber unter der D evise des völligen Gewaltverzichts, die zunehmend, aber verklausuliert, ab 1863/64 deutlich von demokrati­ scher Seite kritisiert wurde (Parlamentsstreik, Steuerverweigerung usw.). Hintergrund dieser Entscheidung war u. a. der liberale Fortschrittsoptimis­ mus, die Überzeugung, zu den notwendigen geschichtlich-gesetzmäßigen Siegern zu gehören. In diesem Konflikt hat die D FP daher auch nicht versucht, die Macht zu gewinnen.90 Sie versteifte sich immer hartnäckiger auf ihren doktrinär vorgetragenen Rechtsstandpunkt. D ie Radikalisierung der D FP und ihrer Anhänger resultierte aus der unnachgiebigen Haltung von Regierung und Monarch, nicht aus einer radikalen Grundanschauung. Schon der Verzicht auf die Theorie der Volkssouveränität, das Ziel einer Republik und die durchgängig elitäre Denkweise (Wahlrecht) verbieten eine Zuordnung der DFP-Politik zu demokratischen Positionen. In dieser Beziehung verfugten Becker und Bürgers sicher über klarere Zielvorstellungen, die sie in einen Gegensatz zur Berliner Führungsgruppe brachten. Parent91 weist darauf hin, daß auf dem Hintergrund der 1859 wiederauflebenden rheinischen Annexionsfurcht das nationalpolitische En­ gagement des Kölner Fortschritts im Konflikt erlahmte. Preußen könne sich nicht mit einer Regierung, die die Verfassung mißachte, an die Spitze des Einigungswerkes stellen. In diesem Punkt näherte sich das keineswegs borussophile Rheinland den liberalen und demokratischen Positionen in den süddeutschen Mittelstaaten. Kölner Fortschrittler gerieten in einen Gegen­ satz zur Berliner D FP-Führung und zum Zentralwahlkomitee, indem sie sich im Sommer 1863 gegen eine preußische Spitze aussprachen. Während der Zuspitzung des Schleswig-Holstein Konfliktes, der die Erreichung von Einheit und Freiheit zu einer öffentlich ausgetragenen Prioritätenfrage machte, fanden sich rheinische Fortschrittler mit mittel- und süddeutschen Demokraten zusammen in einer antiannexionistischen Politik gegen die DFP-Führung. Während sich die Kölner gemäßigten und konstitutionellen Liberalen mit der Bismarckschen Politik auszusöhnen begannen, blieben die Kölner DFPler, insbesondere ihr linker Flügel, davon unberührt. So stellte Bürgers auf der 1862er Nationalvereinsversammlung unmißverständlich klar, daß die preußische Regierung den Kompromißgedanken der Verfas­ sung verletzt habe; das Volk solle dies jetzt auch tun. In der Programmfrage prallte er mit Schulze-D elitzsch und Löwe aus Berlin direkt zusammen.92 Ebenso verdeutlicht Beckers Antrag auf dem zweiten Abgeordnetentag von 126 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

1863, die deutsche Nationalversammlung sofort einzuberufen, daß ihn der Gedanke revolutionärer Aktionen nicht schreckte.93 Auf der sechsten Gene­ ralversammlung des Nationalvereins forderte Bürgers nochmals die soforti­ ge Einberufung eines Parlaments wegen der »antinationalen Bestrebungen Preußens und Österreichs«.94 D iese Beurteilung der nationalpolitischen Rolle Preußens unterschied die Kölner Gruppe auch grundsätzlich von den Berliner Linksliberalen. Wie sah die Parteistruktur des Kölner Fortschrittsliberalismus aus? Wie in Berlin hielt auch hier eine Zeitung während der Reaktionszeit die Fahne des gemäßigt-konstitutionellen Liberalismus hoch, die Kölnische Zeitung.95 Von großer Bedeutung für die Entwicklung des Fortschrittsliberalismus ist die in D üsseldorf erscheinende, in der Konfliktszeit sich als Organ der »entschieden freisinnigen Partei in Rheinland und Westfalen« bezeichnende (Düsseldorfer) NRV (bzw. ab 1. 1. 1863 RZ). 96 Becker fungierte als Mitar­ beiter, ab Ende Oktober 1862 als Redakteur, Bürgers lieferte die Parla­ mentskorrespondenzen. Wie schon erwähnt, suchten die Kölner Fortschrittler seit ihrer Konstitu­ ierung im Sommer 1861 sofort massiv und organisatorisch in die Wahlbewe­ gung einzugreifen. Zu den Wahlen wurden jeweils Lokalkomitees mit 15 Sektions- und Bezirkskomitees als Untergruppen gebildet, die Urwäh­ lerversammlungen abzuhalten hatten. D iese Lokalstruktur der Sektionen und ihrer Leitung wurde beispielsweise auch bei der Abfassung einer Parlamentsadresse und im Kampf gegen die Presseordonnanzen eingesetzt. 1865 wurde sogar der Vorschlag laut, daß in Zukunft die Wahlmänner alle 14 Tage zur Beratung zusammentreten sollten.97 Parallelen, aber auch Unterschiede zu den Berliner Verhältnissen sind nicht zu übersehen. In beiden Städten bildete sich eine straff geführte und gegliederte Wahlkampforganisation heraus, die Urwähler und Wahlmänner ansprechen sollte. Während aller­ dings in Berlin die Tendenz zu einer engeren Kontrolle der Abgeordneten durch Wahlmänner und Urwähler von unten, also in den Wahlkreisen auf Initiative linksliberaler und demokratischer Kreise entstand und von den Abgeordneten und der Parteiführung nur mühsam gestoppt werden konnte, war dies in Köln von Anbeginn an eine Sache von oben, d. h. die Angelegen­ heit der linken Kölner DFP-Führung, die in der straffen Organisierung die Möglichkeit der Propagierung ihrer programmatischen Aussagen sah. Hier spielt sicher auch die rheinische »Clubbistentradition« (Na'aman) eine we­ sentliche Rolle. Ebenfalls wie in Berlin sind Tendenzen nachweisbar, diese Parteiorganisation auch über die Wahlkampfzeit hinweg aufrechtzuerhalten, zumindest für die Führungskader. Auch suchte man in Köln, ähnlich den Berliner Bezirksvereinen, der Partei einen organisatorischen Unterbau in Form des Anfang D ezember 1862 gegründeten »Politisch-Geselligen Ver­ eins« zu geben. In anderen rheinischen Städten entstanden ebenfalls Ortsver­ eine zur Aufrechterhaltung der Agitation zwischen den Parlamentswahlen. Das gegenüber der Berliner Führungsspitze weitaus entspanntere Verhältnis 127 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

zu den ›Massen‹, das sich z. B. in dem hohen Stellenwert der Urwähleragita­ tion offenbart, ermöglichte den linksliberalen Kölner Fortschrittlern auch andere Strategien im Konflikt, die Parent ausführlich und differenziert her­ ausgearbeitet hat. Parlamentsstreik und Steuerverweigerung lehnten die Kölner wie die Gesamtpartei als Kampfmittel ab: sie praktizierten - so Parent - einen »passiven Widerstand«.98 In Erwartung des unumgänglich erschei­ nenden Einlenkens der Regierung im Konflikt, z. B. im Fall eines Krieges, müsse die Opposition nur durchhalten und ihre Basis im Volk verbreiten, es »selbst zum Bundesgenossen machen« (NVZ). Als Mittel dazu sollten die Wahlen mit großen Urwählerversammlungen, spektakuläre Volksver­ sammlungen und zahlreiche Feste - an der Spitze die beiden Kölner Abge­ ordnetenfeste von 1863 und 1865-genutzt werden.99 Im Hinblick auf die Arbeiterpolitik zeigen sich wenige Unterschiede zwischen Berlin und Köln. Wie in der Reichshauptstadt förderten Fort­ schrittler im Herbst 1860 die Gründung eines Handwerkerbildungsvereins, die Entstehung eines Arbeiterbildungsvereins und der genossenschaftlichen Bewegung, wobei dem ehemaligen Mitglied des Bundes der Kommunisten Bürgers eine Schlüsselrolle zufiel.100 Vor dem Hintergrund des alles über­ schattenden Verfassungskonflikts sprach sich Bürgers sogar gegen eine Agi­ tation für das allgemeine, gleiche Wahlrecht - ursprünglich ja wesentlicher Differenzpunkt zum Berliner Programm - aus und bezweifelte seine politi­ sche Klugheit. D ies entsprach dem Verhalten der Berliner Linksliberalen, deren Aussagen zum allgemeinen Wahlrecht bloße Grundsatzbekundungen blieben. Auch im Konflikt mit Lassalle, in dem das Wahlrecht eine zentrale Rolle spielte, kam man nicht über die stereotype Formel hinaus, im Grunde sei es richtig, bringe aber im Augenblick nichts, die DFP führe ja schon so. In dieser taktisch motivierten Einstellung unterschieden sich Becker und Bür­ gers in keiner Weise von den Berliner Linksliberalen, weshalb man sie mit Gerd Fesser auch diesem Flügel zurechnen kann. Zum Abschluß soll noch ein Blick auf die soziale Basis der Kölner D FP geworfen werden. Parent vermag aus Komiteelisten ein »Sozialprofil der Kölner Führungsschicht der Fortschrittspartei« zu ermitteln. Von insgesamt 65 Personen konnte er bei 58 die Berufe, bei 52 das Jahreseinkommen ermitteln. D arunter dominieren Kaufleute und Fabrikanten (24), 8 aus der Nahrungs- und Genußmittel-, 6 aus der Textilbranche und 4 aus der chemi­ schen Industrie. Zahlenmäßig stark vertreten waren auch die intellektuellen Berufe. »D ie Personengruppe repräsentiert vornehmlich den Mittelstand. Großindustrielle und -bankiers fehlen hier ebenso wie Handwerker und Arbeiter.«101 D ieser Befund-ein »starke[s] Engagement von Industrie und Handel« (Gugel) - wird auch bestätigt durch die Wahlmänncranalyse von Anderson,102 die für den Bezirk Köln eine fast absolute D ominanz von Wahlmännern aus Industrie und Handel verzeichnet. D ie Mehrheit der wahlentscheidenden Stimmen erzielte die DFP in den ersten beiden Wähler­ klassen.103 Die Kölner Oberschicht blieb der DFP fern. Auch in der Arbei128 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

terschaft verfügte die D FP, wie in Berlin, über einen beträchtlichen An­ hang. 104

III. Zusammenfassung (1) Einen Unterschied bezüglich der politischen Wirkungsmöglichkeit des Liberalismus in Köln und Berlin markieren die Rahmenbedingungen: D er Kölner Fortschritt hatte sich mit einem politischen Katholizismus auseinan­ derzusetzen, der v. a. in der dritten Wählerklasse seine Basis hatte. In Köln siegte der Liberalismus bei Parlamentswahlen nur dank des D reiklassen­ wahlrechts. Politisch wirkte sich diese Konfrontation allerdings nur in einer schärferen Betonung antiklerikaler Zielsetzungen während der Konfliktszeit aus. (2) In der Kölner DFP war der Linksliberalismus, zusammen mit einigen demokratisch orientierten Politikern, tonangebend, was sich im »Kölner Programm« mit der Forderung nach einer grundlegenden Wahlrechtsrevi­ sion und einem entschiedener formulierten Forderungskatalog zeigt. D er DFP gelang kein Bündnis mit der altliberalen städtischen Oberschicht (Han­ del, Kaufleute), die, primär ökonomisch interessiert und politisch recht vorsichtig taktierend, die kommunalen Einrichtungen beherrschte und bei wesentlichen politischen Entscheidungen die linken Kölner Fortschrittler sogar kontrolliert zu haben scheint. D ie Nominierung von Kandidaten, die sich im Abgeordnetenhaus dem LZ anschlossen, beweist, daß die Kölner DFP zu weitergehenden Kompromissen mit dem gemäßigten Liberalismus auf der Ebene der Wahlmänner gezwungen war. Auch die Abhängigkeit der eigenen Position vom D reiklassenwahlrecht wurde reflektiert, was gegen­ über der sich konstituierenden lokalen Arbeiterbewegung zu einem Abrük­ ken von der ursprünglich zentralen Wahlrechtsforderung führte. (3) In Berlin beherrschten zwar ebenfalls linksliberale Kräfte die ›Öffent­ lichkeitsarbeit‹ (Versammlungen, Reden etc.), doch konnte hier der rechte Flügel der Fraktionsführung auch durch persönliches Engagement eine weitaus stärkere Kontrolle der programmatischen Äußerungen (Parteipro­ gramm, Flugblätter) ausüben. Während in Köln die Linksliberalen v.a. in einer Agitation und Organisation der ›Massen‹, d. h. der Urwählerschaft, eine entsprechend den Möglichkeiten des preußischen Vereinsgesetzes straf­ fere Parteistruktur und eine strikte Verpflichtung von Kandidaten und Ab­ geordneten auf die Parteigrundsätze ihre Position durchzusetzen suchten, reagierte8 die Berliner Führung auf einen diesbezüglichen D ruck von unten, der sich innerhalb der überkommenen Wahlkampfform der Wahlmänner­ versammlungen zu Wort meldete. Sic setzte die Einführung von Bezirksver­ einen zur Kanalisierung der Tendenzen für eine direkte Demokratie ein. (4) D ie soziale Basis der jeweiligen lokalen ›Partei‹ ist sehr ähnlich: mittel129 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

ständische Intelligenz und besitzende Schichten, dazu Unterstützung aus dem Unternehmertum (vgl. Wahlmänner, lokale Parteiführung) - in Berlin maßgeblich aus dem Maschinenbausektor, in Köln aus den Bereichen Nah­ rung, Genußmittel, Textil. Erfolge unter Handwerkern und Arbeitern ge­ langen der linken Kölner D FP im geringeren Maße wegen der katholisch­ konfessionellen Konkurrenz. (5) In taktischer Hinsicht zeigen sich Unterschiede. Wie schon gegenüber den Tendenzen für ein imperatives Mandat verhielten sich die Berliner Fortschrittler reservierter zu Massenaktionen. D ie Kölner suchten weitaus intensiver die These, daß die D FP das Volk vertrete, organisatorisch zu untermauern, dies wohl auch, weil man - anders als in Berlin - gegenüber der Zentrums-Konkurrenz um die Unterschichten kämpfen mußte. D ie Abhaltung großer Feste zur politischen D emonstration war zwar keine Kölner Erfindung, doch stehen den rheinischen »Massen-Meetings« und Abgeordnetenfesten in Berlin keine vergleichbaren Erscheinungen gegen­ über. Neben politisch-ideologischen Vorbehalten scheint die Angst vor Provokationen, Zwischenfällen und dergleichen die ausschlaggebende Rolle gespielt zu haben. In der negativen Haltung zur entstehenden selbständigen Arbeiterbewegung zeigen sich keine Unterschiede. (6) Einzelne wichtige Differenzen offenbaren sich allerdings in den politi­ schen Zielsetzungen und Axiomen. D ie Berliner D FP-Führung stellte den monarchischen Staat nicht in Frage, verfugte über kein klares machtpoliti­ sches Konzept und strebte auch keine parlamentarische Regierungsform an. Der Kölner Kreis um Bürgers, Becker - der neben Waldeck innerhalb der DFP-Fraktion zur äußersten Linken gezählt wurde -, Jung etc. wollten, hier kann man Parent folgen, eine parlamentarische Kontrolle der Regierung in Form ihrer Abhängigkeit vom Abgeordnetenhaus (»Parlamentsherr­ schaft«). Er begriff den Verfassungskonflikt klar als Kampf um die Macht und konnte deshalb, anders als die Berliner Fortschrittler, das Verhalten und die Taktik der Partei, insbesondere ab Ende 1862, einer ernüchternd-schar­ fen Kritik unterziehen, zumal im Rheinland das Bekenntnis zur preußischen Führung in der Einigungsfrage sachlicher und gegen tradierte politisch­ emotionale Vorbehalte zweckrational begründet worden war. D aher konn­ ten auch im Kölner Liberalismus Stimmen laut werden, die die preußische Führung angesichts der verfassungswidrigen Regierungsweise bestritten, während die Berliner D FP-Führung sich dogmatisch starr an das Axiom vom deutschen Beruf Preußens klammern mußte. D och scheint dies der einzige wesentliche Aspekt zu sein, der noch von dem ursprünglich recht stark regional geprägten Kölner (rheinischen) Liberalismus übrig blieb, zumal nach 1848/49 solche innerpreußischen Regionalismen zunehmend verblaßten analog der allgemeinen enger werdenden Anlehnung liberaler Überzeugungen an die ökonomische Entwicklung und deren politische Erfordernisse und Konsequenzen.105 130 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Anmerkungen 1 S. Na'aman (Hrsg.), Die Konstituierung der deutschen Arbeiterbewegung 1862/63, Assen 1975. S. 8, Anm. 2 D agegen verfügt die D D R-Historiographie dank des Jenaer Arbeitskreises »Geschichte der nichtproletarischen demokratischen Kräfte in D eutschland« über ein Kriterienraster zur Systematisierung der einzelnen demokratischen und liberalen Gruppen, vgl. die Aufsätze in den Jenaer Beiträgen zu Parteiengeschichte, die beiden von D. Fricke herausgegebenen Lexika zur Parteiengeschichte (1968/70 und 1983/86) sowie jüngst S. Schmidt (Hrsg.), Politik und Ideolo­ gie des bürgerlichen Liberalismus im Revolutionszyklus zwischen 1789 und 1917, Jena 1983. 3 T. Offermann, Arbeiterbewegung und liberales Bürgertum in D eutschland 1850—1863, Bonn 1979, S. 26-34, 179-185. 4 J . Jacoby an Aaron Bernstein, 16. 11. 58: E. Silberner (Hrsg.), Johann Jacoby Briefwechsel 1850-1877, Bonn 1978, S. 65, vgl. S. 64, 68, 73. 5 Gedr. Schreiben betr. Kandidatur zum Abgeordnetenhaus, 25. 11. 61, Historisches Archiv der Stadt Köln, Nachlaß Becker, Nr. 1011 a; vgl. Korrespondenz Berlin, Ende November 1859, in: Volkswirtschaftliche Monatsschrift 3, 1859, S. 71 f.; Trier'sche Zeitung, 28. 3. 1862 u. 11.6. 1862. 6 Innenminister an Oberpräsident Rheinprovinz, 2. 4. 62, zit. bei R. Kaiser, Die politischen Strömungen in den Kreisen Bonn und Rheinbach 1848—1870, Bonn 1963, S. 165, Anm., 697; vgl. K.-H. Börner, Die Krise der preußischen Monarchie von 1858 bis 1862, Berlin [DDR] 1976, S. 149f. Innerhalb dieser D enkschablone bezeichnete auch der Altliberale Georg Vincke die DFP als »modernisierte Demokratie«, s. H. Conrad, »D en Reactionairen will ich nicht den Kult machen«. Friedrich Harkort und die Gründung des Linken Gentrums, in: Der Märker, 1980, H. 2, S. 60. 7 Z. B. sehr ausführlich [E.] Schmidt-Weißenfeh, Preußische Landtagsmänner. Breslau 1862, insbes. S. 59f.; vgl. die Schlußnummer der Blätter der Zeit 12, 25. 3. 55. 8 Sclmidt-Weißenfels, S. 60 f. 9 Jacoby an Wahlvorstand des IV. Berliner Wahlbezirks, 23. 11. 61, Silberner, S. 165f; vgl. E. Silberner, Johann Jacoby. Politiker und Mensch, Bonn 1976, S. 286f.; weitere Belege bei S. Na'aman, Der Deutsche Nationalverein. D ie politische Konstituierung des deutschen Bür­ gertums 1859-1867, D üsseldorf 1987, S. 44f., 197. Siehe in diesem Zusammenhang auch die Selbstbezeichnung der Berliner National-Zeitung als »demokratisch«: E. Schmaling, Die politi­ sche Haltung der »National-Zeitung« zum Abschluß der bürgerlichen Umwälzung (1858/ 59-1866), phil. D iss. Dresden 1980 (MS), S. 28. 10 Belege bei Offermann, S. 180, Anm. 117. 11 Η. ν. Poschinger (Hrsg.), Erinnerungen aus dem Leben von Hans Viktor von Unruh, Stuttgart/Berlin/Wien 1895, S. 97. 12 Ludwig Walesrode, Vorwort zu: Demokratische Studien 2, 1861, S. IX. 13 Siehe oben Anm. 9; vgl. Ludwig Simon, Demokratische Studien 1, 1860, S. 214. 14 Dies gilt auch in der DDR-Geschichtswissenschaft als ein zentrales Unterscheidungs­ merkmal zwischen Liberalismus und Demokratie. 15 J. P. Eichmeier, Anfänge liberaler Parteibildung (1847-1854), phil. Diss. Göttingen 1968, S. 242f. Zum Verhältnis liberaler Politiker zu den Massen bzw. zum Volk s. J . Sheehan, D er deutsche Liberalismus, München 1983, S. 136—138; Na'aman, Nationalverein, S. 65f. 16 Eichmeier, S. 115. 17 Vgl. D . Langewiesche, Republik, konstitutionelle Monarchie und ›Soziale Frage‹, in: HZ 230, 1980, S. 537f., 540ff. 18 Vgl. die knappe Skizze bei Offermann, S. 158-168; Sheehan, S. 94ff. 19 M. Gugel, Industrieller Aufstieg und bürgerliche Herrschaft. Sozialökonomische Interes­ sen und politische Ziele des liberalen Bürgertums in Preußen zur Zeit des Verfassungskonflikts, 1857-1867, Köln 1975, S. 53; vgl. G. Beushausen, Zur Strukturanalyse parlamentarischer Re­ präsentation in Deutschland vor der Gründung des Norddeutschen Bundes, phil. D iss. Ham-

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burg 1962, S. 138; Th. Nipperdey, D ie Organisation der deutschen Parteien vor 1918, D üssel­ dorf 1961, S. 17; G. Eisfeld, D ie Entstehung der liberalen Parteien in D eutschland 1858-1870, Hannover 1969, S. 89; V. Steinbrecher, Liberale Parteiorganisation unter beson­ derer Berücksichtigung des Linksliberalismus 1871-1893, phil. Diss. Köln 1960. S. 5, 10. 20 Nipperdey, S. 11, vgl. S. 9; zusammenfassend B.-C. Padtberg, Rheinischer Liberalismus in Köln während der politischen Reaktion in Preußen nach 1848/49, Köln 1985, S. 142f. 21 Eichmeier, S. 187-194; J . Paschen, D emokratische Vereine und preußischer Staat. Ent­ wicklung und Unterdrückung der demokratischen Bewegung während der Revolution von 1848/49, München 1977, S. 83f., 108f. 22 Steinbrecher, S. 10; vgl. die Feststellung von Padtberg, S. 145, daß der Parteibegriff bei den Kölner Wahlen ab 1858 selbstverständlich wurde. 23 Skizziert von K. Müller, D as Rheinland als Gegenstand der historischen Wahlsoziolo­ gie, in: AHVN, Bd. 167, 1965, S. 124-142. Zu ergänzen sind die Arbeiten von B. Haunfel­ der, D ie politischen Wahlen im Regierungsbezirk Münster 1848—1867, phil. D iss. Münster 1981; W. Bramann, D ie Reichstagswahlen im Wahlkreis Solingen 1867-1890, Köln 1973; H. Lepper, D ie politischen Strömungen im Regierungsbezirk Aachen zur Zeit der Reichs­ gründung und des Kulturkampfes 1867-1887, phil. Diss. Bonn 1967. 24 Vgl. dazu H. Denk, D ie Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus und zum konsti­ tuierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes in der Stadt Köln in den Jahren 1849 bis 1867, phil. D iss. Bonn 1954, S. 128, 159; dezidiert Kaiser, S. 213, 396; vgl. Haunfelder, S. 362, 414; als Bsp. für Berlin: W. Löwe anjacoby, 17. 5. 62: Silberner, Briefwechsel, S. 217. 25 Als These für den Bonner Wahlkreis nachdrücklich vertreten von Kaiser, S. 164, 180 bes. 213, 396; für Münster vgl. Haunfelder S. 341. 26 Für Köln D enk, S. 111, 114, 116f, 146, 158, 162 u.ö.; für Bonn Kaiser, S. 101, 140, 155, 188. 27 Vgl. die Dokumente bei Silberner, Briefwechsel, S. 162, 168-170, 182. 28 Vgl. die parteigeschichtiichen Untersuchungen der von Roland Zeise geleiteten For­ schungsgemeinschaft an der PH »Karl Friedrich Wilhelm-Wander« in D resden durch Schma­ ling zur BNZ und R. Bercht, D ie innen- und außenpolitische Konzeption der Preußischen Jahrbücher in der Zeit von 1858-1867. Ein Beitrag zur Geschichte des Altliberalismus, phil. Diss. Dresden 198], s. a. Padtberg zur Kölner Zeitung (Kapitel IV). 29 Aus der Unzahl der Arbeiten zum preußischen Heeres- und Verfassungskontlikt sei hier verwiesen auf die zusammenfassende D arstellung bei E.R. Huber, D eutsche Verfas­ sungsgeschichte, Bd. 3, Stuttgart 19702, Kap. VI, die Studie von Börner und zuletzt L. Haupts, Die liberale Regierung in Preußen in der Zeit der ›Neuen Ära‹, in: HZ, 227, 1978, S. 45-85. 30 D iese These vertritt z. B. R. Aldenhoff, Schulze-D elitzsch. Ein Beitrag zur Geschichte des Liberalismus zwischen Revolution und Reichsgründung, Baden-Baden 1984, zur Ein­ ordnung Schulzes, S. 62. 31 Ausführlich Offermann S. 158-168; Sheehan, Kap. 6-8; Gugel. 32 G. Fesser, Altliberale (Al) 1849-1876, in: D . Friche (Hrsg.), Lexikon zur Parteienge­ schichte, Bd. 1, Leipzig 1983, S. 59—65. Zum Begriff- schon in der Reaktionszeit gebraucht (Eichmeier, S. 267; Schmaling, S. 204, Am. 45; Padtberg, S. 182) - insbes. nach der Abspaltung der D FP: S. Bahne, Vor dem Konflikt. D ie Altliberalen in der Regentschaftsperiode der ›Neucn Ära‹, in: U. Engelhardt (Hrsg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung, Stutt­ gart 1976, S. 166; Schmaling, S. 204; Bercht, S. 174, Anm. 10. 33 Schulze an Bennigsen, 6. 6. 61, in: H. Oncken, Rudolf von Becnnigsen, Bd. 1, Stuttgart 1910, S. 524. 34 Vollständig abgedruckt bei L. Parisius, D eutschlands politische Parteien und das Mini­ sterium Bismarck, Berlin 1878, S. 33f.; Silberner, Briefwechsel, S. 146-148. 35 Haunfelder, S. 9; Gugel, S. 66. 36 Parisius, S. 38 f. 37 Conrad, S.59f; H.Conrad u. B. Haunfelder (Bearb.), Preußische Parlamentarier Ein

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Photoalbum 1859-1867, D üsseldorf 1986, S. 25-27; G. Fesser, Fraktion Bockum-D olffs (FBD) 1862-1870 (Linkes Zentrum), in: D. Fricke, Bd. 2, S. 612-614. 38 E. Uelsmatm, Beiträge zur niederrheinischen Parteigeschichte, insbesondere zur Neuen Ära und zum Verfassungskonflikt (1858-1863), in: AHVN, Bd. 109, 1926, S. 97f. 39 D azu Conrad u. Haunfelder, S. 27-29. 40 Parisius, S. 43ff.; Eisfeld, S. 100f. 41 Vgl. Schulze an Streit, April 1862: Onken, S. 564f. 42 So für Rheinland-Westfalen die NRV/RZ, vgl. das gedr. Rundschreiben (Anm. 5); zur Parteipresse der D FP; vgl. E. Anderson, The Social and Political Conflict in Prussia (1858-1864), Lincoln 1954, S. 343; G. Fesser, Zur Struktur und politischen Konzeption der Deutschen Fortschrittspartei in der Konfliktszeit, in: H. Bleiber (Hrsg.), Bourgeoisie und bür­ gerliche Umwälzung in Deutschland 1789-1871, Berlin [D D R] 1977, S. 463. 43 G. Fesser, Linksliberalismus und Arbeiterbewegung. D ie Stellung der D eutschen Fort­ schrittspartei zur Arbeiterbewegung 1861-1866, Berlin [DDR] 1976, S. 23. Zum Problem der Fixierung eines Führungszirkels angesichts der wechselnden Fraktionsvorstände und des nur periodisch amtierenden Zentralwahlkomitees siehe Fesser, Struktur, S. 464, 466. 44 Vgl. z. B. die Abstimmungsniederlage der Parteilinken von 1865, Aldenhoff, S. 144f. 45 Fesser, Linksliberalismus, S. 14, 33, 115, anders S. 18, 23; vgl. N. Süßmilch, Die Entwick­ lung des Linksliberalismus von 1864 bis 1871, phil. Diss. Berlin [DDR] 1978, S. 2. 46 Angaben bei U. Engelhardt. »Nur vereinigt sind wir stark«. D ie Anfänge der deutschen Gewerkschaften 1862/63 bis 1869/70, Bd. 1, Stuttgart 1977, 133, Anm. 48; Fesser, Struktur, S. 463. 47 E.G. Friche, Die Geschichte der Berliner Nationalzeitung in den Jahren 1848 bis 1878, phil. D iss. Leipzig 1933, S. 42; zur Abo-Entwicklung vgl. Engelhardt, Anfänge, S.436f., Anm. 93 u. S. 455, Anm. 176; Fesser, Struktur, S. 463. 48 Schmaling, S. 23, 194, Anm. 33. Er bezeichnet die BNZ als »Kristallisationspunkt und auch ein Integrationszentrum der preußischen Liberalen«. 49 Angaben und Belege bei Engelhardt, Anfänge, S. 444f., Anm. 130. 50 D azu die Briefe zu Jacobys Berliner Kandidaturen: Silberner, Briefwechsel, Nr. 64, 70, 179-188, 192, 239-244, 248-250 u. ö. 51 Eisfeld, S. 65. 52 Kurze Situationsschilderung der vier Wahlbezirke nach der Urwahl von 1861 in A. Bern­ stein an Jacoby, 30. 11. 61: Silbertier, Briefwechsel, S. 169. 53 Vgl. G. Fesser, Adolf Streckfuß und der Berliner »Volkstümliche Wahlverein« im Jahre 1861. in: WZ Jena, Bd. 18, 1969, H. 3, S. 79-81. und die Briefe Bernsteins (Anm. 52) und Unruhs anjacoby, 3. 12. 61: Silberner, Briefwechsel, S. 174. 54 E. Bernstein, Die Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung, Bd. 1, Berlin 1907, S. 118f. 55 Vgl. den Hinweis im Brief Unruhs anjacoby, 22. 11. 61: Silberner, Briefwechsel, S. 163. 56 Titel der Überwachungsakte im Staatsarchiv Potsdam Pr. Br. Rep. 30 C Tit. 95 Sekt. 5 Lit. W Nr. 22 (15 533) über die Wahlmännerversammlungen im 3. Wahlkreis bzw. ebda. Nr. 20 (15 532) über die des 2. Wahlkreises. 57 BNZ 368, 10.8.62. 58 Vgl. Punkt 4 des Protokolls der Karlsruher Polizeikonferenz von 1864, Hauptstaatsarchiv München MInn 45625. 59 Vgl. BNZ 86, 14. 4. 63; vgl. auch J . Heyderhoff (Hrsg.), D ie Sturmjahre der preußisch­ deutschen Einigung 1859-1870. Bonn 1925, S. 111, Anm. 1. 60 Ausführlich zu diesem Konzept Offermann, S. 280-295. 61 A. Bebel, Aus meinem Leben, Berlin [D D R] 1964, S. 73. Zur engen Verbindung der Maschinenbauer mit der DFP s. Engelhardt, Anfänge, S. 999. 62 Engelhardt, Anfänge, S. 482. 63 Schmaling, S. 112. 64 H. Kaelble, Berliner Unternehmer während der frühen Industrialisierung, Berlin 1972, S. 233f.

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65 H.B.Oppenheim, Benedikt Franz Leo Waldeck, Berlin 1873, S. 191. - Innerhalb der Arbeiterbewegung läßt sich das Auftreten von Maschinenfabrik-Leitungspersonal ebenso nachweisen (Fesser, Linksliberalismus, S. 38) wie in der D FP-Wahlkampfarbeit (Silberner, Briefwechsel, S. 163). 66 Kaelble, S. 229. 67 D ie Basis für die folgende Zusammenfassung liefern Padtberg und Th. Parent, ›Passiver Widerstand‹ im preußischen Verfassungskonflikt. D ie Kölner Abgeordnetenfeste, Köln 1982. 68 Padtberg, S. 99; Parent, S. 59, 78, 85. 69 D enk, S. 80, vgl. S. 127, 189f. 70 Padtberg, S. 24-39, 96f., 233. 71 Abgedruckt in KZ 308, 6. 11. 61; auch bei Parisius, S. 44f.; Na'aman, Konstituierung, S. 684, Anm. 80, jeweils ohne die zwei später amendierten Punkte obligatorische Zivilehe und Gleichberechtigung der religiösen Bekenntnisse. 72 D enk, S. 133-143; Uelsmann, S. 115f.; Parent, S. 71 f. 73 Parent, S. 69-75, 87, 409f. 74 Vgl. D enk, S. 145ff.; Parent, S. 71 f. 75 Uelsmann, S. 113f.; er bezeichnet allerdings auch die Berliner als demokratisch, S. 107, 120. 76 Th. Parent, ›D er Geist der Freiheit lebt und siegt‹. Zielsetzungen und Strategie der Opposition im preußischen Verfassungskonflikt aus rheinischer Perspektive, in: K. Düwel u. W. Köllmann (Hrsg.), Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter, Bd. 1, Wuppertal 1983, S. 253. 77 Parent, Widerstand, S. 111; vgl. ders., Geist, S. 252 f.; ders., Im Kampf gegen eine ›dreifa­ che Koalition‹. D ie Anfänge des ADAV in Köln 1863-1865, in: Geschichte in Köln. Studenti­ sche Zeitschrift am Historischen Seminar, 1979, H. 4, S. 118, Anm. 5. -Parent ist auch geneigt, diese Zielsetzung der gesamten D FP zu vindizieren , vgl. Widerstand, S. 111, Anm. 25; in diesem Sinne auch Na'aman, Nationalverein, S. 34, Anm. 7. 78 Parent, Widerstand, S. 112f., 114, Anm. 37. 79 In diesem Sinn sind ja auch die revolutionären Phrasen des sicherlich ›unverdächtigen‹ Hermann Baumgarten in seinem Brief an Sybel v. 22. 5. 63 zu verstehen: Heyderhoff S. 151; ähnlich die plötzliche Bereitschaft zur Mobilisierung der Massen im Mai 1863, ebda., S. 149, i52f. 80 Na'aman, Konstituierung, S. 635, Anm. 6; vgl. S. 132. 81 Parent, Widerstand, S. 235 ff. 82 Zuletzt Gugel, S. 82f.; Sheehan, S. 138f.; Aldenhoff, S. 143. 83 D . Lattgewiesche, Die deutsche Revolution von 1848/49 und die vorrevolutionäre Gesell­ schaft: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: AfS, Bd. 21, 1981, S. 465. 84 Börner, S. 204f. 85 Einzelbelege aus dem Munde Bernhardis: Aus dem Leben Theodor von Bernhardis, Bd. 4, Leipzig 1895, S. 118; Bd. 5, Leipzig 1895, S. 55; Bd. 6, Leipzig 1897, S. 192 f. 86 A. Wahl, Beiträge zur Geschichte der Konfliktszeit, Tübingen 1914, S. 28. 87 Fesser, Linksliberalismus, S. 19; vgl. einige Belege bei Offermann, S. 165, Anm. 45, und Na'aman, Nationalverein, S. 45, vgl. S. 197. 88 D azu treffend A. Heß, Das Parlament das Bismarck widerstrebte, Köln 1964, S. 39; vgl. dagegen die Formulierung im Statutenentwurf für das Linke Centrum Punkt 1, Conrad u. Hannfelder, S. 153: »Wir . . . wollen . . . den Bestand des Königtums von Gottes Gnaden. 89 Zur Bedeutung der Rechtsstaatsforderung vgl. D . Blasius, Bürgerliches Recht und bür­ gerliche Identität, in: H. Berding (Hrsg.), Vom Staat des Ancien Regime zum modernen Parteienstaat, München 1978, S. 213ff., bes. 216; G. Lingelbach, Rechtsstaat und liberale Bour­ geoisie, in: Schmidt, S. 95-103. 90 In diesem Sinn verweist G. Grünthal (Parlamentarismus in Preußen, 1848/49—1857 58, Düsseldorf 1982, S. 18) auf Georg Jellinek, der schon 1909 gegen die herrschende Meinung feststellte, daß der Verfassungskonflikt ein Rechtsstreit und kein Streit um die Macht gewesen sei, denn dazu gehöre seitens der Opposition das Ziel, eigene Parteigänger ins Amt einzusetzen.

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Zu Galls Kritik an Gugel (HZ Bd. 228, 1979, S. 104) ist zu bemerken, daß es natürlich (a) defensiv um die Verteidigung von Macht (Budgetrecht) ging, (b) offensiv auch gegen die Macht des Adels um den »Ausbau« der Verfassung, d. h. einzelne Machtpositionen politischer und gesellschaftlicher Art (Kreisreform etc.), aber eben nicht um die Macht, z. Β. die Regierungsge­ walt. D afür fehlte jegliches Konzept. 91 Parent, Widerstand, S. 115f.; vgl. für das folgende S. 242ff. 92 Verhandlungen der dritten Generalversammlung des deutschen Nationalvereins in Co­ burg, am 6. und 7. October 1862, Coburg 1862, S. 15, 17. 93 Verhandlungen des zweiten Congresses deutscher Abgeordneter in Frankfurt a. M. am 21. und 22. August 1863, Frankfurt/M. [1863], S. 5f. 94 Verhandlungen der sechsten Generalversammlung des deutschen Nationalvereins in Frankfurt a. M. am 29. October 1865, Frankfurt/M. 1865, S.8f. 95 Zu ihr zuletzt Padtberg, S. 160ff., v. a. S. 164f., 222, 224. 96 Vgl. die Bemerkungen bei Parent, Widerstand, S. 65f. 97 Ebd., S. 63f., 130, 136f., Anm. 35, 262. 98 D er von Parent, Widerstand, S. 124 (und ders., Geist, S. 253) geprägte Ausdruck ist nicht ganz glücklich gewählt, verbindet man doch heute mit ihm Formen staatsbürgerlichen Wider­ stands wie Blockade, Boykott etc., die von der DFP ausgeschlossen wurden entsprechend ihrer Fixierung auf ein streng gesetzliches Vorgehen. D och kann dies hier nicht näher diskutiert werden. E. Baiser (Sozial-Demokratie 1848/49-1863. D ie erste deutsche Arbeiterorganisation »Allgemeine deutsche Arbeiterverbrüderung« nach der Revolution, Bd. 1, Stuttgart 1962, S. 43) belegt den Ausdruck für die Parlaments- und Wahlabstinenz der preußischen D emokra­ ten nach 1849. 99 Parent, Widerstand, S. 125f., 133f., 162. 167f., 178, 234. Sybel schrieb am 11.9.63 an Baumgarten, daß allein in der Rheinprovinz seit einem Jahr 600—800 politische Meetings stattgefunden hätten (Heyderhoff, S. 171). 100 Vgl. Bürgers Rede auf dem Kölner Provinzial-Handwerkertag v. 12. 4. 63, Na'aman, Konstituierung, S. 314f.; zu ihm und seinen Kölner Gesinnungsgenossen Becker und Jung vgl. Na'amans pointierte Charakterisierung, ebd., S. 132-134. 101 Parent, Widerstand, S. 51 ff, hier S. 61. 101 Anderson, S. 302f. 103 D enk, S. 159. 104 Parent, Widerstand, S. 101. 105 H. Asmus, Die »Rheinische Zeitung« und die Genesis des rheinpreußischen Bourgeoisli­ beralismus, in: Bleiber, S. 137.

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HARM-HINRICH BRAND T

Liberalismus in Österreich zwischen Revolution und Großer Depression Allgemeine Bemerkungen Der österreichische Liberalismus fügt sich nach Ideologie, sozialer Basis und zeitlichem Ablauf seines Entstehens, Höhepunktes und Niederganges in der Gesamttendenz, jedoch bei insgesamt schwächerer Ausbildung in das allge­ meine europäische Bild. In Abgrenzung zum europäischen Westen hat er mit dem deutschen Liberalismus einige wichtige Besonderheiten gemeinsam, die sich aus den stark etatistisch geprägten Rahmenbedingungen für die gesellschaftlichen und politischen Prozesse ergeben. Besonderheiten, die wiederum den österreichischen vom übrigen deutschen Liberalismus unter­ scheiden, folgen dem allgemeineuropäischen West-Ost-Gefälle der Ent­ wicklung des Bürgertums; sie sind zudem eine Konsequenz aus der Multina­ tionalität des Habsburgerreiches und der mit ihr zusammenhängenden ge­ ringeren sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Integration in der Aus­ gangslage.1 Für den gesamten deutsch-mitteleuropäischen Raum gilt, daß die staat­ lich-politische Integration mit ihren auch gesellschaftlich modernisierenden Komponenten seit dem 18. Jahrhundert monarchisch-militärisch und mon­ archisch-bürokratisch bewirkt wurde, daß dank monarchischer Machtbe­ hauptung einerseits und bürokratisch gelenkter Modernisierungsleistung andererseits die Führungs- und Gestaltungskompetenz dieser Institutionen auch im Übergang zum konstitutionellen Zeitalter niemals wirklich bestrit­ ten und erschüttert worden ist und daß daher die Konstitutionalisierung mit der Einführung moderner Vertretungskörperschaften eine sekundäre Er­ gänzung und leichte Modifikation des gegebenen Systems, nicht aber einen grundlegenden Wandel seiner Struktur bedeutet. D ie Konsequenzen dieser Rahmenbedingungen für die Ausformung der politischen Kultur sind geläu­ fig: Die aufgeklärt-absolutistische Bürokratie, personell ein Amalgam adeli­ ger und bürgerlicher Staatsdiener mit juristisch-kameralistischer Ausbil­ dung, wird zum wichtigsten Austragungsort gesellschaftlicher Interessen­ konflikte; hier vollzieht sich in diesem Zusammenhang ein wichtiger Teil der Rezeption von Ideologemen und Theoremen mit der Herausbildung gouvernemental-konservativer und gouvernemental-liberaler (d. h. jeweils 136

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etatistisch gebremster) Parteirichtungen. D er umstrittene »Beamtenlibera­ lismus« hat hier seinen Platz als eine Frühform liberaler Bewegung, die im wesentlichen in dem Einbau wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Ele­ mente des Liberalismus in ein allgemeines Modernisierungskonzept besteht - unter Ausblendung des i. c. S. Politischen und unter der ideologischen Flagge der Trennung von Staat und Gesellschaft.2 D ie Einrichtung von Parlamenten bedeutet aus dieser etatistischen Perspektive zunächst lediglich die Erweiterung des bisherigen Terrains der Auseinandersetzungen, ables­ bar an der anfänglich weitgehenden Okkupation der Mandate durch Beamte im weitesten Sinne. D aneben ereignet sich im außerstaatlichen gesellschaft­ lichen Raum die Rezeption und Verarbeitung des politischen Liberalismus, v. a. seines individualistisch-naturrechtlichen Gehalts, im Besitz- und Bil­ dungsbürgertum und in kleineren Teilen des Adels, parlamentarisch mani­ fest in einer zensusbestimmten Bildungsrepräsentanz mit stark juristisch­ advokatorischem Einschlag - der latent früh sich ausdifferenzierenden bür­ gerlichen Opposition. D as verfassungspolitische Hauptresultat, das sich aus dieser Konfiguration der politischen Kräfte und ihrer konfliktreichen parla­ mentarischen und außerparlamentarischen Interaktion bis etwa zum Ende des zweiten Jahrhundertdrittels ergibt, besteht - bei überwiegender Fernhal­ tung auch des gemäßigt liberalen Bürgertums von der politischen Macht - in der Bestätigung der Kronprärogativen und des monarchisch-bürokrati­ schen Institutionenstaates bei Einbau legislatorischer Mitwirkungsrechte und Sperrpositionen, sodann besteht es - im Rahmen der konzeptionell weiterhin gültigen Trennung von Staat und Gesellschaft-in der Wesensbe­ stimmung dieses Staates als Rechtsstaat auf individualrechtlichen Grundla­ gen unter Zurückdrängung polizeistaatlicher Bestände und auch interme­ diär-korporativer Gewalten älterer Herkunft.3 Die differenzierende Einordnung Österreichs in dieses Schema hat schon angesprochene Phänomene relativer Rückständigkeit sowie die Multinatio­ nalität und das darin verwobene Fortleben des Kronlandpartikularismus zu beachten und gewinnt ihren historischen Ausgangspunkt darin, daß die alte monarchische Union von Ständestaaten relativ spät, dann aber unterJosef IL mit vehement antifeudaler Reformtendenz im Sinne moderner Staatlichkeit bürokratisch integriert wird. 4 (D ies gelingt nicht gegenüber Ungarn; zu dessen erheblich abweichenden Verhältnissen s. den Beitrag von A. Gerge­ ly.) Der Staatsdienst wird zum wichtigsten Feld bürgerlichen Aufstiegs und einer deutsch bestimmten kulturellen Assimilation, der »Josefinismus« zur bestimmenden Ideologie reformerischer Orientierung, die in der langen Phase des feudalen bzw. gouvernemental-konservativen Rückschlages von 1792 bis 1848 zurückgedrängt wird, aber »überwintert«.5 D aneben entwik­ kelt sich, auf der Basis einer insgesamt spärlichen Urbanisierung und inmit­ ten einer weithin bäuerlich-grundherrschaftlich bestimmten Sozialstruktur, ein bürgerliches Unternehmertum ebenfalls deutsch-kulturellen Zu­ schnitts.6 Beide Bereiche, Staatsdienst und Wirtschaftsbürgertum, stellen 137 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

ein Assimilationsangebot an nichtdeutsche Aufsteiger dar, sind aber nume­ risch bei weitem zu schmal, um auch nur im entferntesten ein Integrations­ vehikel mit einer »nationalen« Perspektive abgeben zu können. Damit bleibt auch die Basis für einen individualrechtlich orientierten bürgerlichen Libera­ lismus schwach. Im Gegenteil entfalten sich im Vormärz die Emanzipations­ bestrebungen der Nationalitäten gerade in Abwehr josefinischer Überfor­ mungstendenzen unter Rückgriff auf identitätsbestätigende Volkstumstheo­ rien mit gelegentlichem demokratischen Einschlag, vor allem aber unter konservativer Patronanz.7 In welcher Weise sich unter den Bedingungen des vormärzlichen Polizei­ und Zensurstaates liberales Gedankengut verbreitet und Opposition for­ miert, untersucht K. Koch in diesem Band.

Der Neoabsolutismus und seine gouvernemental-liberalen Elemente Die Revolution der Jahre 1848/49 bringt das unter der D ecke gehaltene österreichische Staats- und Reichsproblem explosionsartig an die Oberflä­ che. Ihre historische Bedeutung liegt darin, die Verfassungsfrage in ihrer ganzen Schärfe bewußt gemacht, nicht, sie einer Lösung näher gebracht zu haben. Nach den Märztagen geht der erste Versuch, Cisleithanien durch einen Verfassungsoktroi zu stabilisieren, der aus bürokratisch-josefinischem Geist das Schema der konstitutionellen Monarchie deutschen Typs (starke Stellung des Monarchen, Zentralparlament, hinkende Gewaltenteilung) auf der Basis einer a-national gedachten Zensusrepräsentation nach Österreich überträgt, im aufbrechenden Nationalitätenkampf und im Strudel der Radi­ kalisierung Wiens unter.8 D er zweite Versuch, mittels einer auf breitem Wahlrecht ruhenden Konstituante »die Völker« selbst über ihre bürgerli­ chen, kleinbürgerlichen und bäuerlichen Repräsentanten zu Partnern eines Verfassungskompromisses zu machen (ein Unikat in der Geschichte Öster­ reichs), führt mit dem Kremsierer Verfassungsentwurf tatsächlich zu einem interessanten Versuch, den klassischen westlichen Konstitutionalismus (diesmal mit Voranstellung des Prinzips der Volkssouveränität, schwächerer Stellung der Krone, egalitären Tendenzen v. a. im Grundrechtskatalog) und seine individualrechtlichen Grundlagen mit dem Gedanken des kollektiven Nationalitätenschutzes auf Selbstverwaltungsbasis zu verknüpfen.9 In histo­ rischer Perspektive, für den Fortgang der Geschichte der Habsburger-Mon­ archie, ist aber entscheidend, daß die Konstellation der Kräfte und das Werk des Wien-Kremsierer Reichstages Episode bleiben. Von keiner Seite, na­ mentlich auch vom deutsch-liberalen Bürgertum nicht, wird in Cisleitha­ nien in der späteren nachabsolutistischen Verfassungspolitik auf den damali­ gen Ansatz zurückgegriffen, um ein liberal-konstitutionelles Verfassungs138 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

programm auf einer breiten gesellschaftlichen Basis und im Kompromiß mit den Nationalitäten durchzusetzen zu versuchen. In der aktuellen Situation hat der Kremsierer Entwurf keine Chance der Verwirklichung, da die Krone und die Exponenten der maßgebenden politi­ schen Eliten sich an seinem Zustandekommen nicht beteiligen, und da die Krone zugleich die militärische Macht hat, die Erosion der isolierten gou­ vernemental-liberalen Regierungen abzuwarten und die Radikalisierung für den Konfrontationskurs zu nutzen. D er auf diese Weise formierte Militär­ und Machtstaat bedarfjedoch zu seiner Selbsterhaltung der durchgreifenden Modernisierung des rückständigen Reichsgebildes. Über diese dialektische Vermittlung gehen wesentliche Initiativen wieder auf die Reformbürokratie über, und damit kommen spezifisch josefinische Elemente einer liberalisie­ renden Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik erneut zur Geltung. Als Antwort auf die Revolution und die durch sie ausgelösten Konflikte, Integrations- und Modernisierungsprobleme zeigt der Neoabsolutismus (1849—59) ein D oppelgesicht, das bereits in der Zusammensetzung des Ministeriums Schwarzenberg als »Koalitionsministerium«10 zum Ausdruck kommt. Einerseits orientieren sich Hof und Militärpartei an einem extensiv ausgelegten Feindbild von »Revolution« für den Aufbau eines polizeilichen und militärischen Repressionssystems gegen jedwede politische Betätigung und politische Öffentlichkeit. Man benutzt den Verfassungsoktroi von März 1849 als taktisches Auskunftsmittel,11 um nach gemessener Zeit zum reinen Absolutismus zurückzukehren (31. 12. 1851), der sich jetzt freilich von den Resten feudaler Stützen löst und einem nackten Bürokratismus folgt. Zu­ gleich wird das Bündnis der katholischen Kirche gesucht; diesem Zweck werden im Konkordat von 1855 wesentliche Positionen des josefinischen Staatskirchensystems geopfert.12 Damit verbindet sich andererseits das Bedürfnis nach umfassender institu­ tioneller, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Modernisierung, phasen­ verschoben etwa der napoleonischen Reformperiode in D eutschland ver­ gleichbar. In diesem Rahmen wird die »josefinische« bürokratische Reform­ tradition, die in Restauration und Vormärz stillgelegt worden war, reakti­ viert; damit erfahren die Liberalisierungstendenzen unterhalb der Schwelle des »Politischen«, wie dies schon für Josef II. selbst charakteristisch war, eine zeitbedingt modifizierte Wiederbelebung.13 In der ersten Phase des nachrevolutionären einheitsstaatlichen Experi­ ments (1849—1851) wird aus dem Koalitionsministerium heraus unter Füh­ rung des freisinnigen Innenministers Graf Stadion der ernsthafte Versuch gemacht, den neuen Zentralismus zugleich konstitutionell zu bestimmen. Obwohl die Verfassung von 1849 unausgeführt blieb, legt sie mit ihrer charakteristischen Verknüpfung von josefinisch-bürokratischer Tradition und Liberalismus einen wichtigen Grundstein für das spezifisch österreichi­ sche liberale D enken der nachabsolutistischen Zeit. Stadion wollte den traditionellen Kronlandföderalismus über die straff hierarchisch organisierte 139 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Bürokratie hinaus durch die Schaffung eines a-national konzipierten Reichs­ parlaments auf der Basis eines Hochzensuswahlrechtes brechen, wobei dem Monarchen und seiner Exekutive eine sehr starke Position eingeräumt war. Komplementär dazu sollte den regionalen und multinationalen Belangen durch den Ausbau von Selbstverwaltungsrechten auf gemeindlicher und bezirklicher Ebene Rechnung getragen werden, wobei spezifisch feudale Ansprüche auf Herrschaftsrestauration unbeachtet blieben, dafür das Besitz­ interesse zur Grundlage der Repräsentativorgane gemacht wurde (D reiklas­ senwahlrecht). Ein Grundrechtskatalog, innerhalb dessen die Gleichberech­ tigung der Nationen als individualrechtlicher Anspruch auf Pflege und kommunikative Beachtung von Sprache und Kultur gewährleistet wurde, sicherte den Rechtsstaat unter Beachtung der spezifisch österreichischen Situation.14 Mit dem formellen Widerruf der unausgeführten Verfassung bleibt als Resultat der nachrevolutionären Formveränderung der Aufbau einer bis in den Kommunalbereich vordringenden staatlichen Bürokratie, deren Spitzen die Selbstverwaltungspläne und Repräsentationsprobleme angesichts wach­ sender altkonservativer Interventionen unentschlossen weiterverfolgen und ohne Resultat vor sich herschieben; erst ab 1859 werden diese Tendenzen wieder freigesetzt.15 Dafür entfaltet sich die Reformbürokratic im Bereich der materiellen Sozial- und Wirtschaftsgesetzgebung umso kräftiger, wobei liberale Gehalte deutlich Eingang finden. D er Einbruch des Wirtschaftsliberalismus erfolgt freilich durchaus nicht ungebremst; die von Revolutionsfurcht genährte innenpolitische Ruhebedürftigkeit sensibilisiert das autokratische System vielmehr immer dann, wenn die liberalen Tendenzen die materiellen Besitz­ stände der bäuerlichen und mittelständischen Massen berühren. Aber auch die an Protektionismus gewöhnten Industriellen finden v. a. bei Hofe und bei den Sicherheitsorganen wie schon im Vormärz in Krisenlagen offene Ohren. D ie Auseinandersetzungen hierüber verlagern sich in Ermangelung politischer Öffentlichkeit und parlamentarischen Lebens in den innerbüro­ kratischen Bereich. D abei sitzen die Sozialprotektionisten überwiegend im Innenministerium und im Polizeiministerium sowie in den nachgeordneten Landes-, Kreis- und Bezirksbehörden, die Befürworter einer mutigeren Liberalisierung im Finanz- und im Handelsministerium. (Eine analoge Kon­ stellation bestand bei weit schwächerer Liberalisierungstendenz schon vor­ märzlich zwischen Hofkanzlei und Hofkammer).16 Die »liberal«-bürokrati­ sche Gruppierung wird seit 1849 verstärkt durch Import aus D eutschland: Der Handels- und Finanzminister v. Bruck, Elberfelder Protestant kleinbür­ gerlicher Herkunft und Aufsteiger im Triestiner Seeversicherungs- und Reedereigeschäft, bringt einige deutsche Professoren und Journalisten (»fremde Freihandelsapostel«) in österreichische Ämter zur Unterstützung der Öffentlichkeitsarbeit.17 Bruck und sein Anhang sind keine Manchester­ Liberalen, sondern Listianer und verfolgen ein »nationales System« im Sinne 140 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

staatlich gelenkter »Erziehungsarbeit« durch dosierte zollpolitische Öff­ nung und gelenkten Kapitalimport zur Mobilisierung unternehmerischer Kräfte und zur Induzierung von Wachstum.18 In dieser Hinsicht bieten sie ein Musterbeispiel für den Interpretationsansatz der »economic backward­ ness« von A. Gerschenkron.19 Außenpolitisch verficht Bruck ein Programm gesamtdeutsch-gesamtösterreichischer Einigung unter österreichischer Führung mit stark ökonomischem Akzent: ein deutsch geführtes Mitteleu­ ropa, von zivilisatorischem Sendungsbewußtsein getragen, mit Stoßrich­ tung Südost über D onauländer und Balkan in die Levante, aber auch mit einer Penetration Italiens. Es handelt sich um Tendenzen eines »liberalen Imperialismus«, der mutatis mutandis im wilhelminischen D eutschland Geltung erlangt und um die Weltkriegszeit nicht zufällig zur publizistischen Wiederentdeckung des »Vorkämpfers« Bruck führt.20 D ie tatsächlichen reformerischen Leistungen der allgemeinen Innenverwaltung sowie der Fi­ nanz- und Wirtschaftsverwaltung beziehen sich zunächst einmal auf die Erfüllung von Nachholbedarf nach ca. 50jähriger Verschleppung: Grund­ entlastung einschließlich der Folgegesetzgebung und Beseitigung patrimo­ nialer Herrschaft, d. h. Herstellung einer rechtlich homogenen Staatsbürgergesellschaft auf der Basis von Freiheit (i. S. privatrechtlicher D isposi­ tionsfreiheit) und Eigentum, abgesichert durch die neue Institution des Reichsbürgerrechts und das darauf fußende Recht der Niederlassung und des Eigentumserwerbs (für die Juden bezeichnenderweise partiell wieder eingeschränkt). Im Bereich der Finanz- und Wirtschaftsverwaltung wird die Gleichmäßigkeit der Besteuerung hergestellt, der von Zwischenzöllen freie einheitliche Binnenmarkt geschaffen, das außenwirtschaftliche Prohibitiv­ system durch das Schutzzollsystem ersetzt und ein Programm planmäßiger Tarifsenkungen eingeleitet, die Einrichtung der Handelskammern nach Österreich übertragen.21 D as im Handelsministerium vorbereitete Gewer­ begesetz hingegen bleibt jahrelang im Gestrüpp innerbürokratischer Aus­ einandersetzungen und höfischer Bedenken hängen, da über das Prinzip der Gewerbefreiheit keine Einigung zu erzielen ist; erst 1859 setzen Handels­ und Finanzminister den Gesetzeserlaß zugleich als liberales Signal durch.22 Oberhalb dieser Ebene, die v. a. das traditionelle Gewerbe berührt, wird schon ab etwa 1854 eine industrickapitalistische Gründerwelle induziert: Mit einem Import der Gründer- und Finanzierungsmethoden des Credit Mobi­ lier (Credit-Anstalt, Eisenbahnprivatisierung und freigiebige -neukonzes­ sionierung auf Aktienbasis, schwerindustrielle Gesellschaftsbildungen) und der Gewinnung westeuropäisch-deutschen Investitionskapitals wird ein an­ sehnlicher Industrialisierungsschub erreicht, der unter Bruck mit interven­ tionistischen Praktiken abgestützt wird. Dabei gelingt es, die traditionell der Staatsfinanzierung zugewandte Wiener jüdische Hochfinanz auch auf die neuen industriewirtschaftlichen Aktivitäten hinzuorientieren. D er fortge­ schrittene Teil der schon früher entwickelten Schwerindustrie, Metallverar­ beitung und Textilindustrie wird in den Expansionsprozeß hineingezogen; 141 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

auch Teile des Großgrundbesitzes profitieren von der steigenden Nachfrage insgesamt und durch den Aufbau landwirtschaftlicher Nebenindustrien (Zucker, Alkohol); Adelige beteiligen sich ferner am industriellen Grün­ dungsgeschäft.23 Mit Bezug auf unser Thema bedeutet diese Reformtätigkeit und Gründer­ politik des Neoabsolutismus in seinen sozialen und ideologischen Konse­ quenzen die enorme Expansion bzw. überhaupt erst das Entstehen eines industriekapitalistischen Großbürgertums (Bourgeoisie) deutscher bzw. jü­ disch-deutscher Provenienz aus überwiegend österreichischer Wurzel, je­ doch mit einer ansehnlichen Quote deutschen und westeuropäischen Zu­ zugs. Um dieses Unternehmertum herum entfalten sich die Schichten der tech­ nischen und rechtswissenschaftlichen Intelligenz, insonderheit der Advoka­ tur, der Banken und Börse, der Journalistik mit stark jüdischem Einschlag. Zur Bürokratie bestehen enge Verbindungen mit einer Tendenz zur Verfil­ zung von Verwaltungsspitzen und Aufsichtsräten. D er Hochadel hat einen beachtlichen Anteil mit häufig dekorativer Funktion. Zentrum dieser Ent­ wicklung ist mit großem Vorsprung Wien, mit einigem Abstand folgen Prag und Brünn, das Prager Becken und das deutsche Nordböhmen, sodann die Orte der alpinen Montanindustrie.24 Anders gewendet folgt der älteren bürokratischen Zentralisierung jetzt die ökonomische Zentralisierung hinsichtlich der unternehmerischen Len­ kungsinstanzen, diese wie jene unter deutschen Vorzeichen. D er Industrie­ kapitalismus ist klarerweise Nutznießer des neuen zentralistischen Einheits­ reiches und an seinem Fortbestand interessiert. D amit verbindet sich - in Fortführung der älteren Tradition - weiterhin ein Hang zu außenwirtschaft­ lichem Protektionismus und die Abneigung gegen die Öffnung zum Zoll­ verein, dem man sich nicht gewachsen fühlt. D ie Großindustrie folgt Bruck in seinen hochfliegenden Mittelcuropaideen und expansiven Plänen durch­ weg nicht und behindert ihn wie seine Nachfolger vor allem in Krisen über direkte Interventionen bei Hofe mit sozialpolitischen Argumenten (Arbeits­ losigkeit, Revolution, Schutz der vaterländischen Arbeit). Man sucht sich auf dem österreichischen Binnenmarkt einzurichten und diesen entspre­ chend zu schützen.25 Der Wirtschaftsliberalismus wird nur in seinen binnen­ wirtschaftlichen Aspekten (Faktormobilität, Rechtseinheit, liberales Ar­ beitsvertragsprinzip unter Verbot von Koalitionen im Gewerbegesetz von 185926) angenommen. Mit der tendenziell geringen Risikofreude dieser Klasse verbindet sich im mentalen Bereich die Bereitschaft zur Integration in die Residenzkultur bei Teilhabe an der freigiebigen, bisher vornehmlich dem Militär und der Büro­ kratie zugute gekommenen Nobilitierungspraxis. In letzterer Hinsicht ist eine Verwandtschaft zu preußisch-deutschen Erscheinungen (»Feudalisie­ rung«) zweifellos vorhanden, doch sind die Akzente etwas anders gesetzt: an die Stelle der Wertschätzung militärischer Reserveränge und anderer Forsch142 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

heiten tritt die Einschmelzung in die »zweite« Wiener Gesellschaft (Haute Finance, Bürokratie und Bildung) und ihr hochkultiviertes Phäakentum. Der Abstand zur engeren Hofgesellschaft des hohen Reichsadels bleibt signifi­ kant. 27

Die Verfassungsexperimente 1859—67: vom semi-konstitutionell verbrämten Absolutismus zur konstitutionellen Monarchie Der exorbitante Militärhaushalt und die dadurch bedingte strukturelle Fi­ nanzmisere waren seit 1849 von innerbürokratischer Kritik begleitet worden und führten schon 1858 zu internen Diskussionen um die Institutionalisierung einer Verwaltungs-, Haushalts- und Schuldenkontrolle. Mit der militäri­ schen Niederlage von 1859 und der ihr folgenden politisch-psychologischen Vertrauenskrise verschärft sich diese D ebatte und thematisiert die Verfas­ sungsfrage, wobei die Finanzlage (Kreditwürdigkeit!) als Katalysator wirkt. Zugleich wird die (durch die absolutistische Herrschaftstechnik nur zuge­ deckte) Opposition der magyarischen politischen Nation virulent; sie stellt diesen Einheitsstaat prinzipiell in Frage.28 In dieser Situation gehen josefini­ sche Bürokratie und Großbürgertum ein Bündnis ein mit dem Ziel, den 1849 errungenen Einheitsstaat dadurch zu sichern, daß man seine Defekte (Militär­ wirtschaft, D auerdefizit) durch zentralparlamentarische Regierungskontrol­ le beseitigt, ihn also durch Einfügung konstitutioneller Elemente stabili­ siert. 29 Demgegenüber meldet sich der ungarische und böhmische Hochadel mit einem konservativ historisierenden Föderalisierungsprogramm zu Wort, das dem Monarchen die Aussicht eröffnet, über eine administrative Teilauto­ nomisierung der historischen Länder unter Wiederherstellung traditioneller adeliger Führungspositionen bei Gewährung einer bescheidenen semiparla­ mentarischen Haushaltskontrolle im Zentrum sowohl die Zustimmung der Magyaren zu gewinnen als auch umfassende monarchische Prärogativen zu sichern, eine eigentliche Konstitutionalisierung zu verhindern und die 1849 erreichte Staatsqualität des Gesamtreiches zu bewahren.30 Für die weitere österreichische Verfassungsentwicklung ist es, wie schon Redlich31 hervorgehoben hat, von entscheidender Bedeutung, daß im Ver­ lauf der Krise nur diese Exponenten der sozial und ökonomisch herrschenden Klassen, des adeligen Großgrundbesitzes und der deutschen Bourgeoisie, Zugang zu dem auf Wahrung seiner Position bedachten Monarchen gewin­ nen. Alle unterhalb dieser Ebene befindlichen Schichten (»die Völker«, deren Exponenten den Kremsierer Verfassungskompromiß ausgehandelt hatten), sind nicht Verhandlungspartner. Plebiszitäre Erwägungen liegen dem Mon­ archen vollends fern. Diese Konstellation bedingt daher auch ganz wesentlich die Parteientwicklung Österreichs und die Formierung des politischen Libe­ ralismus. 143 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

In dem zähen Ringen der Jahre 1860/61 läßt sich der Monarch zunächst auf die Hochkonservativen, nach dem Scheitern des Oktoberdiploms (Finan­ zen, Ungarn) auf die Gouvernemental-Liberalen ein.32 Das Ergebnis ist eine zentralistische Korrektur des semi-föderalistischen Oktoberdiploms durch das Februarpatent, wobei zugleich die soziale Basis der vorgesehenen Reprä­ sentativorgane in der Gewichtung von dem zunächst bevorzugten Groß­ grundbesitz zugunsten des bürgerlichen Besitzes verschoben wird. Das Repräsentativsystem des Februarpatents ruht auf den Landtagen, das Abgeordnetenhaus des Reichsrates entsteht aus deren D elegiertenwahlen. Dieser formal föderative Aufbau wird durch die Gestaltung des Wahlrech­ tes, das den deutsch-zentralistischen Kräften (jedenfalls im Bereich der deutschen und böhmischen Erbländer) die besseren Chancen einräumt, entscheidend relativiert. D ie Gesetzgebungskompetenz der Länder ist gut entwickelt, doch bleibt die gesamte Exekutive zentralistisch-hierarchisch organisiert. D emgegenüber ist die autonome Landes- und Bezirksverwal­ tung dürftig ausgestaltet, dafür wird die Gemeindeselbstverwaltung (Ge­ meindegesetze von 1859/1862) als staatsfreie Sphäre nunmehr voll ausge­ baut und mit dem Rückgriff auf Stadions D reiklassenwahlrecht und das Wahlrecht für juristische Personen auf ein besitzorientiertes Repräsenta­ tionsprinzip gegründet. D urch die Einräumung von Virilstimmen in der Gemeindeverwaltung wird der Adel mit der (von ihm seit 1849 bekämpften) Inkorporation der Gutsbezirke ausgesöhnt. Wenngleich diese Konstruktion in den national gemischten Gebieten die deutsch-bürgerlichen Interessen begünstigt, ist aufs Ganze gesehen die Gemeindeselbstverwaltung diejenige Sphäre, in der auch dem nichtdeutschen mittleren und Kleinbürgertum ein politisches Betätigungsfeld eröffnet wird. 33 Die politisch weit wichtigeren Vertretungskörperschaften auf Landesebe­ ne (mit Wirkung auf die Reichsebene) haben nach dem Februarpatent ein hochartifizielles neoständisches Kurienwahlrecht (Virilstimmen, dann Ku­ rie der Grundbesitzer, der Handelskammern, der Städte, der Landgemein­ den) zur Grundlage, dessen D ifferenzierung des Stimmengewichts die des preußischen D reiklassenwahlrechts noch übertrifft und dessen oligarchisie­ render Effekt enorm ist. D ie Wahlgeometrie dieses »Schmerlingschen Wun­ derapparates« gibt der Regierung zugleich Möglichkeiten der Manipulation an die Hand, nämlich durch Beeinflussung sehr kleiner, aber extrem stim­ mengewichtiger Wählergruppen die Zusammensetzung der Landtage und damit des Reichsrates zu steuern. Im übrigen ist der konstitutionelle Gehalt des Februarpatents eher bescheiden: kein Grundrechtskatalog, die Position des Parlaments schwach und durch ein stark ausgestaltetes Notverord­ nungsrecht jederzeit überhaupt zur Disposition gestellt.34 Die Februarverfassung ist das Werk einer gouvernemental-liberalen Gruppe der Zentralbürokratie, die allerdings den ausgeprägten absolutisti­ schen Beharrungswillen des Monarchen und die Vorgaben des Oktoberdi­ ploms zu berücksichtigen hatte.35 Ihr Exponent Schmerling als starker 144 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Mann der Regierung sieht sich seit 1861 einem Parlament gegenüber, in dem die deutsche sog. Verfassungspartei wunschgemäß die stärkste Position innehat, das jedoch von den Ungarn boykottiert wird. Diesem Boykott aus staatsrechtlicher Fundamentalopposition schließen sich die böhmischen Hochkonservativen und in ihrem Gefolge die später sog. altčechische natio­ nale Gruppe und die polnische Gruppe an, so daß die Verfassungspartei in dem Rumpfparlament beinahe unter sich ist. Gegenüber diesem Fundamen­ taldilemma des österreichischen »Staats- und Reichsproblems«, das sich in dem Mißlingen der parlamentarischen Integration manifestiert, hält die liberale Partei am Zentralismus und an der 1861 errungenen Basis der Repräsentation fest, sieht es in dieser Situation gleichwohl als ihre Hauptauf­ gabe an, eine weitere K onstitutionalisierung der gegebenen Verfassung (Grundrechte, Ministerverantwortungsgesetz, Einschränkung des Notver­ ordnungsrechts) zu erkämpfen und der Regierung vorrangig oppositionell zu begegnen. Diese Vorstöße bleiben ohne Erfolg; das ganze Ausmaß der Schwäche des Parlamentarismus zeigt sich in dem Vorgehen des Monarchen 1865, als nach der Entlassung Schmerlings die Verfassung kurzerhand si­ stiert wird und die Krone autonom den Ausgleich mit Ungarn sucht, ihn 1867 findet und die unabänderliche dualistische Lösung dem wieder einberu­ fenen (engeren) Reichsrat faktisch oktroyiert.36 Die Verfassungspartei richtet sich sehr rasch in der neuen Lage der staatli­ chen Zweiteilung des Reiches ein und orientiert ihren traditionellen Zentra­ lismus nunmehr am cisleithanischen Staat. Als Preis für ihr Wohlverhalten in der Ausgleichsfrage erwirkt sie eine Transformation des Februarpatents in eine konstitutionelle Verfassung für Cisleithanien: Die Dezembergesetze enthalten einen Grundrechtskatalog; die Ausdehnung und Präzisierung der legislativen Befugnisse; eine - freilich unzureichende - Einschränkung des Notverordnungsrechts; die strikte Trennung von richterlicher und vollzie­ hender Gewalt und die Errichtung eines Reichsgerichts; die Regelung des Problems der Ministerverantwortlichkeit auf der judiziellen (Ministcrankla­ ge), nicht auf der parlamentarischen Ebene (Vertrauensfrage). In der Gene­ rallinie folgt die Dezemberverfassung dem »deutschen« Typus der konstitu­ tionellen Monarchie (i. S. E. R. Hubers) mit seinen charakteristischen Vor­ kehrungen gegen die Parlamentarisierung der Regierung (keine Bindung an das Vertrauen des Parlaments; Notverordnungsbefugnisse in K ombination mit einem unbegrenzten Recht zur Parlamentsauflösung bzw. -Vertagung) und seiner Immunisierung entscheidender monarchischer Prärogativen im militärischen Bereich und in der Außenpolitik, die unter den besonderen Bedingungen der Doppclmonarchie in die weitgehend den Parlamenten entrückte Sphäre der »gemeinsamen Angelegenheiten« verlagert werden.37 Abweichend von der preußisch-deutschen Entwicklung treten in Öster­ reich ab 1867 parlamentarische Führer der Verfassungspartei (nach bezeich­ nendem anfänglichen Zögern) als Minister in die cisleithanische Regierung ein. 38 Aufs Ganze gesehen sind aber rein parlamentarisch vermittelte Mini145 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

sterkarrieren auch in der Zeit der liberalen Vorherrschaft zwischen 1867 und 1879 eher die Ausnahme und fast ganz auf die Zeit des sog. »Bürgerministe­ riums« von 1867 bis 1870 beschränkt. In der Regel entstammen die Minister vielmehr dem leitenden Staatsdienst und hier der gouvernemental-liberalen Gruppierung mit ihren entsprechenden Konnexionen, wobei jedoch häufig ein Abgeordnetenmandat zur zusätzlichen politischen Profilierung gesucht wird. Mit der Leitung der Ministerien werden bevorzugt parlamentarisch erfahrene freisinnige Vertreter des Hochadels betraut.39 (Dieselbe personelle Konstellation unter gouvernemental-konservativen Vorzeichen bestimmt die politisch gegenläufigen Regierungsbildungen.) Von einer tatsächlichen Parlamentarisierung der Regierung ist diese Praxis noch deutlich entfernt, wenngleich die Beachtung der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse den Kaiser bei seiner Berufungspolitik gelegentlich zu starkem Lavieren zwingt. Der Monarch bleibt der für die Regierungsbildungen in personeller Hinsicht maßgebende Faktor;40 bezüglich der politischen Gesamtrichtung gelingt es ihm nach zwei kurzlebigen konservativen Schwenkungsversuchen 1865 und 1870 allerdings erst 1879, dann aber nachhaltig, sich von den Liberalen zu lösen. D as nunmehr installierte langlebige gouvernemental-konservative System Taaffe ähnelt - im Zeichen der »großen D epression« - strukturell und programmatisch deutlich den preußisch-deutschen Verhältnissen der späten Bismarckzeit.41 Für unseren Zusammenhang wichtig bleibt der Hin­ weis auf die vom Typus des Beamtenministers bestimmte stark gouverne­ mentale Grundierung der Ministerien beider politischer Richtungen.

Die Verfassungspartei, ihr soziales und ideologisches Profil Die vorangestellte Erörterung der Verfassungsentwicklung war erforder­ lich, weil diese Gegebenheiten Erscheinung und Wirksamkeit des politi­ schen Liberalismus in Cisleithanien entscheidend konditionieren. Entsprechend den allgemeinen europäischen Verhältnissen bezeichnet Partei im Rahmen des parlamentarischen Betriebes in unserer Periode die allgemeine »Richtung«; der Zusammenhalt der liberalen Honoratiorenpoli­ tiker ist locker, von Anfang an organisiert sich die »Verfassungspartei« in verschiedenen Clubs (Fraktionen) und dies erst auf parlamentarischer Ebe­ ne. Für die Formierung der Clubs im Abgeordnetenhaus des Reichsrates ist, bei starker Fluktuation und bei insgesamt deutschem Charakter, eine Mi­ schung aus Programmatik und regionaler, z. Τ. auch beruflicher Herkunft konstitutiv.42 Die soziale Zusammensetzung der verfassungstreu-liberalen Abgeordnetengruppe weist Merkmale auf, die aus dem deutschen Parla­ mentarismus vertraut sind: einem hohen Anteil von Staatsbeamten43 steht eine zunächst gleich große und dann wachsende Gruppe von Advokaten und Universitätsjuristen gegenüber, wobei Aufsteiger nicht selten sind. Demge146 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

genüber ist die unmittelbare Präsenz der Industriellen und die parlamentari­ sche Tätigkeit anderer Freiberufler schwächer; hierin manifestiert sich das bekannte Problem der »Abkömmlichkeit«. Eine besondere Bedeutung kommt der kleinen, aber einflußreichen Gruppe des »verfassungstreuen Großgrundbesitzes« mit ihrem Schwerpunkt in den böhmischen Ländern zu, die der Regierung auch in politischen Wechsellagen zu Gebote steht.44 In der Gesamttendenz nimmt während der liberalen Ära der Anteil der Beam­ ten ab und der Anteil der freien Juristen zu, so daß sich das Abgeordneten­ haus dem Typus des französischen Parlamentarismus nähert.45 Im außerparlamentarischen Vorfeld ist die politische Organisation noch schwächer, als im Rahmen des zeitgenössischen europäischen Stils der Ho­ noratiorenpolitik ohnehin zu erwarten ist, weil das Kurienwahlrecht öffent­ liche Wahlwerbung fast überflüssig macht. Die soziale Basis des parlamenta­ rischen Liberalismus ist denkbar eng, sie liegt in dem in den Handels- und Gewerbekammern organisierten deutsch geführten Großgewerbe, zum Teil im wahlrechtlich bevorzugten Großgrundbesitz, dann in der zahlreicheren Schicht des deutschen bzw. germanisierten Besitz- und Bildungsbürger­ tums. Es besteht kein Bedürfnis, diese soziale Basis zu erweitern. Während der Kampf um die konstitutionelle Ausgestaltung der Verfassung ab 1861 sogleich aufgenommen wird, gibt es bis 1878 keine nennenswerten liberalen Initiativen zur Änderung des oligarchischen Kurienwahlrechts. Vereinzelte Bemühungen um die Schaffung einer besonderen »Arbeiterkurie« auf der elektoralen Basis regionaler Arbeiterkammern analog den Handels- und Gewerbckammern (als Versuch eines liberalen Brückenschlages zur Arbei­ terbewegung durchaus interessant) sind ganz ephemer und parlamentarisch völlig chancenlos.46 Die Wahlrechtsänderung von 1873 steht in einem ande­ ren Zusammenhang: sie schaltet lediglich die Landtage als Zwischenglieder für die Delegation der Reichsratsabgeordneten aus und führt auf der gegebe­ nen Kurienbasis die D irektwahl ein, um die Obstruktion opponierender Landtage zu unterlaufen. Alle späteren Wahlreformen werden von gouver­ nemental-konservativen Regierungen betrieben.47 Die direkte Parlamentspräsenz von Unternehmern ist nicht sehr groß; jedoch vertritt die Verfassungspartei sehr deutlich gewerbliche (Zollpolitik) und kapitalistische (Aktiengesellschaften, Konzessionspolitik) Interessen; insbesondere mit ihrem Regierungseintritt wächst in letzterer Hinsicht die Verfilzung, wofür der Spottname »Verwaltungsrätepartei« bezeichnend ist. In der Konsequenz ziehen der Börsenkrach von 1873 und die ihn begleiten­ den Skandale die Partei personell arg in Mitleidenschaft.48 Insgesamt ist die mentale Tendenzwende der nachfolgenden D epression gerade auch in Österreich dem Liberalismus abträglich; wie in Deutschland fuhrt der Weg sehr bald in die konservative Mittelstands- und Sozialpolitik des Interven­ tionsstaates und zum Aufkommen mittelständisch-konservativer und prole­ tarischer Massenparteien, wodurch der Liberalismus in seiner sozialen Basis dauerhaft eingegrenzt bleibt. 147 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Bei einer Analyse der liberalen Ideologie wird man zwischen der »josefi­ nisch«-gouvernementalen Linie und dem politischen Liberalismus im ei­ gentlichen, westeuropäisch geprägten Sinne nuancieren müssen. Gemein­ sam ist allen Richtungen der Glaube an den modernen Institutionenstaat, der als Rechtsstaat und Verfassungsstaat auf der Grundlage der Trennung von Staat und rechtlich homogener Gesellschaft den Rahmen für die Entfaltung von Freiheit und Fortschritt konstituiert. D as Habsburger-Reich als Ge­ samtstaat muß als übergeordneter Rechtsgrund für die Existenz der Länder behauptet werden. D er auf originäres historisches Recht sich berufende Kronlandföderalismus wird abgewehrt; dessen Protagonisten, der konser­ vative Feudaladel und seine Klientel, werden als der politische Hauptgegner bekämpft. D ieser Anspruch erstreckte sich zunächst auf den Gesamtstaat; die Mehrheit aus Großösterreichern und Zentralisten unterstützte infolge­ dessen Schmerlings Ungarnpolitik, nur die autonomistische Minderheit bezog schon frühzeitig die Position, auf die sich die Mehrheit ab 1867 gegen eine kleine Minderheit von unentwegten Ausgleichsgegnern dann aus Resi­ gnation einließ. Man richtet sich in der staatlichen Zweiteilung des Reiches ein, hält nunmehr jedoch (nach informeller Entlassung auch Galiziens in eine faktisch weitgehende Autonomie) in dem verbleibenden Rest Cisleithaniens umso energischer am staatlichen Zentralismus fest.49 D ie Sicherung dieses so bestimmten Staates ist in der Führung durch das deutsche Bildungsbür­ gertum am besten gewährleistet; seine in den bisherigen Kultur-, Verwal­ tungs- und Wirtschaftsleistungen bewährte Überlegenheit beruft es dazu. So wie seit dem 18. Jahrhundert die Verwaltung, so soll im nunmehr errun­ genen Verfassungsstaat auch die parlamentarische Repräsentation vorrangig von dieser Schicht getragen werden. Nach ihrem Selbstverständnis sind die Liberalen übernational eingestellt; sie fordern diesen Vorrang nicht um der Deutschen, sondern um des Staates willen. Ihr Staatsbegriff ist, worin die rationalistischen Wurzeln sowohl des aufgeklärten Absolutismus wie des Liberalismus mit den besonderen Bedingungen der österreichischen Situa­ tion zur D eckung kommen, durchaus a-national. In diesem wesentlichen Punkt unterscheiden sich die Liberalen »Altösterreichs« - ideologisch, wie man betonen muß - vom reichsdeutschen Nationalliberalismus. D abei ist freilich nicht zu übersehen, daß der D eutschnationalismus keimhaft von Anfang an in einigen Sektionen dieses übernationalen Liberalismus und seiner parlamentarischen Präsenz angelegt ist; er fuhrt mit der wachsenden Bedrohung der sozialen und nationalen Positionen ab den 1870er Jahren folgerichtig zu entsprechenden nationalistischen Abspaltungen von der tra­ ditionellen Verfassungspartei.50 Aus dieser Perspektive ist auch die (ideologiekritisch gesehen: durchaus raffinierte) D ialektik von wahlrechtlichen Positionen einerseits und nationa­ litätenrechtlichen Positionen andererseits zu würdigen. D ie Aufstellung von Besitz- und Bildungskriterien für die Repräsentationsfähigkeit ist bekannt­ lich Gemeingut des europäischen Liberalismus, das Zensuswahlrecht das 148 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

zugehörige Instrument. Die politische Nation soll sich auf einem bestimm­ ten Niveau integrieren; das Integrationsangebot ergeht an »alle« mit der Einladung, durch Statuserwerb die Kriterien zu erfüllen - das ist der politi­ sche Sinn der Formel »enrichissez vous«. Es ist bekannt, in welcher Weise die ungarische liberale Partei nach 1867 die Zensuskriterien noch zusätzlich um das Element der Sprachkompetenz bereichert, um das Modell des liberalen Nationalstaates in dem multinationalen K önigreich Ungarn durchzuset­ zen. 51 In der komplizierteren Situation Cisleithaniens hatten die deutschen Josefiner und Liberalen weder die hinreichende soziale Basis noch die aktuel­ le Macht noch in Einschätzung dieser Lage den Willen, dieses Integrations­ modell anzuwenden. Das K urienwahlrecht von 1861, das hinter liberale Standards insofern weit zurückfällt, als die Repräsentativorgane nach dem Prinzip der Interessenvertretung organisiert und dementsprechend das Zen­ susprinzip noch durch das Prinzip fester Mandatsquoten nach neoständi­ schen K riterien ergänzt wird, ist ursprünglich kein einschichtiges Produkt liberaler Politik, sondern ein Ergebnis der 1860 zunächst zwischen K rone und Adel geführten Verhandlungen, die in der Wende von 1861 nicht mehr umgestoßen, sondern nur noch dahin korrigiert wurden, daß der privile­ gierten Position des feudalen Grundbesitzes eine privilegierte Position des Großbürgertums entgegengesetzt wurde. 52 Jedoch richtet sich der Liberalis­ mus bereitwillig in diesem Wahlrecht ein. Nur in gekünstelter Fortführung des ideologischen Ansatzes läßt sich sagen, daß das Integrationsangebot über Statuserwerb für die bürgerliche Seite auch auf dieser Grundlage noch besteht, selbstverständlich in einer extrem oligarchisch eingeschränkten Weise. Der Aufstieg in diese Schicht steht natürlich auch Nichtdeutschen offen; dabei ergibt sich die kulturelle Assimilation an die deutsche Tradition im notwendigen Bildungsgang von selbst, es bedarf dazu keiner normativen Vorkehrungen. Man muß nun sehen, daß sich im historischen Erfahrungs­ horizont die Herausbildung der dem Gesamtstaat zugewandten Oberschich­ ten durch Aufstieg in der Administration, der Wissenschaft, ihnen folgend dann in der Industrie bis zur damaligen Gegenwart in der Tat auf diese Weise vollzogen hat. Dabei soll es für die Liberalen bleiben. Der Mut zur K lientel­ bildung durch wahlrechtliche Öffnung fehlt ihnen in der multinationalen Situation des Habsburgerstaates durchaus, sehr im Unterschied zur konkur­ rierenden K lientelbildung durch die Feudalkonservativen (so im Falle der Altčechen) und durch die Klerikalen (so in der bäuerlichen Bevölkerung v. a. der Alpenländer). Die Gegnerschaft zu allen intermediären Gewalten und Institutionen er­ wächst wiederum aus der gesamteuropäischen liberalen Denktradition, wie sie auch der josefinischen Tradition des aufgeklärten Absolutismus ent­ spricht. Insofern liegt der K ampf gegen die Ansprüche der katholischen Kirche, speziell das K onkordat von 1855 im allgemeinen europäischen Trend. Dazu tritt in der spezifisch österreichischen Situation die Abwehr des vorstaatlichen Ständekorporatismus und des daraus erwachsenden Lan149 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

despartikularismus sowie der damit in Zusammenhang gebrachten Forde­ rung, die Nationalitäten Österreichs als politische Körperschaften zu behan­ deln und das Nationalitätenrecht auf dieser Grundlage zu entwickeln. D ie Lösung, die die Liberalen unter der seit Kremsier tradierten Formel von der Gleichberechtigung aller Volksstämme für dieses Problem anboten und auch durchsetzten, bewegt sich im Rahmen des liberalen atomistischen Konzepts des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft und besteht in der grundrechtli­ chen Verankerung der Gleichberechtigung der Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben als eines individualrechtlichen Anspruchs. D ie Formu­ lierung dieses Gleichheitsprinzips in Artikel 19 des Grundrechtskataloges von 1867 ist bewußt allgemein und offen gehalten und wird zudem mit dem Verbot des Sprachenzwanges gekoppelt, wie andererseits in der Verfassung darauf verzichtet wird, die Stellung des Deutschen als Staatssprache in der Verfassung förmlich festzulegen. Das geschieht im Vertrauen darauf, daß die offene Struktur des »Bildungsmarktes« und des Kommunikationssystems bei wachsender verkehrswirtschaftlicher Integration die Führungsposition der deutschen Kultur bestätigen und weiter stärken wird. Erst nach der Entmachtung von 1878/79, unter dem Eindruck des zunehmend organisier­ ten Sclbstbehauptungswillens v. a. der Cechen und des wachsenden Streites um Amtssprache und Sprachqualifikation im Staatsdienst, bemühen sich die Liberalen - vergeblich - um die Festlegung einer Staatssprache.53 Man wird nicht verkennen dürfen, daß dieses nicht-ethnische Konzept der Bestimmung von Staat und Gesellschaft und von politisch-kultureller Inte­ gration zugunsten einer Mehrheits- und Führungsnation seine Entsprechun­ gen im westeuropäischen Liberalismus hat - mit negativen Konsequenzen für ethnische Minderheiten. Seine Anwendung auf Österreich ist freilich besonders unangemessen, weil die multinationale Situation kein Mchrheits­ volk kennt und die nichtdeutschen Nationalitäten nicht durchweg den Sta­ tus sog. »geschichtsloser« Völker haben. D er liberale Ansatz wirkt daher polarisierend und desintegrativ, weil er die organisierte Abwehr der Natio­ nalitäten im kollektiven Streben nach Emanzipation im Zeichen der eigenen Identitätswahrung provoziert.54 In den skizzierten Vorstellungen von Staat, Gesellschaft, Repräsentation und Führungseliten findet sich eine breite Übereinstimmung von josefini­ schem und bürgerlich-liberalem D enken, die sich aus den Formierungsbe­ dingungen des Habsburgerstaates leicht erklären läßt. Wesentliche Differen­ zen zwischen josefinischem und liberalem Geist liegen v. a. im Bereich des Verfassungsdenkens im engeren Sinn, also in der Bestimmung des Verhält­ nisses der Gewalten im Staat und speziell der Position des Parlamentes. Hier manifestiert sich denn auch Konfliktbereitschaft gegenüber Krone und Exe­ kutive, freilich in der von Deutschland her bekannten, eigentümlich gebro­ chenen Weise, die durch die monarchisch-militärischen und monarchisch­ bürokratischen Vorgegebenheiten des konstitutionellen Systems bedingt sind. Man ringt nicht um die Übernahme der Macht im Staate durch das 150 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Parlament, sondern um die Gewährleistung einer rechtlich geordneten staat­ lichen Herrschaftsausübung. An der Behandlung der Ministerverantwort­ lichkeitsfrage wird dies ganz deutlich: Im Unterschied zu Preußen und dem Reich gelingt 1867 in Österreich immerhin die Füllung des Verantwortlich­ keitsprinzips durch ein Ministerverantwortlichkeitsgesetz, das jedoch das Problem wie in anderen deutschen Staaten auf die judizielle Ebene verlagert, indem es für Gesetzesverletzungen die Ministeranklage vor einem Staatsge­ richtshof vorsieht.55 Im Kampf um die Konstitutionalisierung des Februarpatents zeigt die Verfassungspartei beachtliche Hartnäckigkeit. D abei ist ein gewisser Man­ gel an Augenmaß und Pragmatismus unverkennbar, wenn in einer Situation absoluter Isolierung des Rumpfparlaments und wachsender Isolierung der »eigenen« Regierung (Schmerling) die systeminterne Opposition in Verfas­ sungs- und Haushaltsfragen zur Hauptaufgabe der Parlamentspolitik erho­ ben wird. 56 Insgesamt haftet dem parlamentarischen Stil der Liberalen etwas Advokatenhaftes an; Streitgegenstände, Begriffswelt, Streitformen und Taktik erscheinen, dem vorwaltenden Berufsprofil der Abgeordneten ent­ sprechend, als Übertragungen aus dem Gerichtsprozeß in den Bereich des Politischen. Erkennbar entsprechen sozialer Hintergrund, Parlamentsstil und Rolle des Parlaments dem Vorrang des (auch formal-)juristischen Rechtsdenkens vor politischem Machtdenken in der liberalen Partei;57 eine Konfiguration, wie sie auch für das preußische Abgeordnetenhaus der Kon­ fliktzeit charakteristisch ist. Die Orientierung am individuell-naturrechtlichen Rechtsstaatmodell spiegelt sich schließlich in den konstruktiven Leistungen, also der »liberalen Handschrift« in der formellen und materiellen Gesetzgebung und dem Aus­ bau der Institutionen während der Zeit liberaler Regierungsbeteiligung. Chronologischer Rhythmus und inhaltliche Grundtendenzen verlaufen da­ bei im wesentlichen parallel zur norddeutsch-/reichsdeutschen Entwick­ lung. An erster Stelle stehen selbstverständlich die Verfassungsgesetze des Jah­ res 1867, die kompensatorisch für die Pauschalannahme des Ausgleichs durchgesetzt werden. D ie Machtfrage wird dabei - wie bereits hinlänglich erörtert - abermals im monarchischen Sinne entschieden; unterhalb dieser Ebene aber wird der individualrechtliche Ansatz gegen den neoabsolutisti­ schen Polizeistaat zur Geltung gebracht. D er Grundrechtskatalog folgt (im­ mer noch) dem klassischen westeuropäischen Kanon der »Abwehrrechte«, was zugleich heißt, daß von Ansätzen zur Weiterentwicklung zum sozialen Rechtsstaat (im Unterschied zu 1848/49) keine Rede ist. D ie Tendenz zu rechtstechnischer Relativierung durch den Gesetzesvorbehalt ist freilich un­ übersehbar. D as grundrechtliche Konzept des Staatsbürgers ist auf den cisleithanischen Gesamtstaat bezogen und ist insoweit staatspolitisch eine Manifestation des antikorporativen und a-nationalen Unitarismus der Libe­ ralen (funktionell gleichgerichtet dem Grundrechtskatalog Kremsiers und 151 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

der Paulskirche, im bezeichnenden Kontrast zur bewußten Blockierung von Reichs-Grundrechten durch Bismarck). In den sachlichen Umkreis der Grundrechte gehören das zeitgleich erlassene Vereinsgesetz, Versamm­ lungsgesetz und die D urchfuhrungsgesetze zur Normierung der Grund­ rechtseinschränkungen. In der Gesamttendenz sind diese Bemühungen vom Kompromiß zwischen individual-freiheitlichem Ansatz und behördlich­ polizeilichem Sicherheitsdenken gekennzeichnet. D ie Position der Exekuti­ ve bleibt stark, wie sich an der Verwendung Undefinierter Gefahren-For­ meln zur Begründung von behördlichem Präventionshandeln unschwer erkennen läßt. 58 Von erheblicher Bedeutung für den rechtsstaatlich orientierten Ansatz der Liberalen wie im objektiven Resultat für die österreichische Rechtsentwick­ lung ist die Errichtung eines Reichsgerichtes, später ergänzt durch die eines Verwaltungsgerichtshofes, verbunden mit dem jedem Bürger gewährten Recht der Verfassungsklage wegen Grundrechtsverletzungen und der Klage gegen Verwaltungsakte.59 D er darin enthaltene Versuch zur Verrechtli­ chung politischer Konflikte gewinnt besondere Bedeutung in der Ausbil­ dung des österreichischen Nationalitätenrechts: Sie ist bei zunehmenden Defekten des Parlamentarismus und der Paralysierung des Gesetzgebungs­ verfahrens das Produkt höchstrichterlicher Entscheidungen, ein Gebäude, das auf der eher vagen Basis des Grundrechtsartikels 19 errichtet wird. Inhaltlich ist diesem Fallrecht der letzten Jahrzehnte der Monarchie im übrigen hohes Niveau, übernationale Gesamttendenz und eine ausgleichen­ de Wirkung zu bescheinigen.60 Im Vordergrund der materiellen Gesetzgebung während der Frühzeit der »Bürgerministerien« steht der Kampf gegen das Konkordat von 1855. Die mit der Kirchenfrage verbundenen publizistischen und parlamentarischen Auseinandersetzungen und öffentlichen Aufgeregtheiten überlagern im po­ litischen Bewußtsein in der Periode von 1868 bis 1870 zeitweilig alle anderen Fragen; eine Erscheinung, die in der Grundtendenz den Kirchen- und »Kul­ tur«-Kämpfen des europäischen 19. Jahrhunderts folgt. In Österreich wird die liberale Position durch die josefinische Tradition und ihrem breiten Rückhalt in Bürokratie, Teilen auch des hohen Klerus und Rechtswissen­ schaft gestützt (der Akt von 1855 bedeutet hier eher eine bleibende Provoka­ tion als eine Schwächung). Infolgedessen erleidet die Konkordatspartei und damit auch die »Hofpartei« mit den Maigesetzen von 1868, der formellen Aufhebung des Konkordats 1870 und den Folgegesetzen bis 1874 eine deutli­ che Niederlage. Ehe und Schule werden darin wieder den kirchlichen Ho­ heits- und Aufsichtsansprüchen entzogen, die Gleichberechtigung der aner­ kannten Konfessionen wird sichergestellt, andererseits bleibt die katholische Kirche konsequenterweise frei von den staatskirchlichen Zwängen des alten josefinischen Systems. 61 Mit der kirchenpolitischen Gesetzgebung im Zusammenhang steht der Erlaß des »Reichsvolksschulgesetzes« von 1869, das über den angesproche152 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

nen Aspekt der Wiederverstaatlichung hinaus vor allem auch deshalb inter­ essant ist, weil es abermals eine individualrechtlich — liberale Lösung des Sprachcnproblems auf der Basis des Elternwillens anbietet: Maßgeblich für die vom Hoheitsträger zu gewährleistende Einrichtung einer Schule für lokale Sprachminderheiten ist demnach bei Vorhandensein einer entspre­ chenden Mindestbevölkerung das Verlangen der Interessenten. D ie Instru­ mentalisierung dieser Bestimmung im späteren Sprach- und Nationalitäten­ kampf (gezielte Wanderbewegungen und das Wirken von Schulvereinen) beruht auf der Ausnutzung eben dieses unter liberalem Vorzeichen gewähr­ ten Handlungsspielraumes.62 Unverkennbar liegt das Schwergewicht der legislatorischen Aktivitäten des Liberalismus zur Zeit seiner Regierungsbeteiligung im rechts- und kul­ turpolitischen Bereich. Wenn die innere Wirtschafts- und die Steuergesetz­ gebung demgegenüber an Bedeutung zurückstehen, so deshalb, weil hier die entscheidenden strukturbildenden Weichenstellungen für die Entfaltung der binnenwirtschaftlich unbehinderten Verkehrswirtschaft und der Faktor­ mobilität schon unter dem Neoabsolutismus erfolgt sind. Außenwirtschaft­ lich bleiben die Liberalen den industriellen Schutzinteressen verbunden; die Durchsetzung gewisser zollpolitischer Öffnungen sind ein Erfolg der ex­ portorientierten Großagrarier beider Reichshälften, deren Interessenlage mit der der Ostelbier in dieser Phase noch verwandt ist. 63 In bemerkenswertem Kontrast zur Kampfbereitschaft in der Kulturpoli­ tik steht die relative Enthaltsamkeit der Liberalen in Heeresfragen. Struktu­ rell und im gesamten historischen Horizont hat die Machtfrage hierbei in der Position des Monarchen denselben Stellenwert wie in Preußen. Für den Zusammenbruch des Ncoabsolutismus ist die exorbitante Militärwirtschaft als Ursache für das unhaltbare D auerdefizit von ausschlaggebender Bedeu­ tung gewesen, in diesem Zusammenhang wird erhebliche Kritik auch an der exzeptionellen Stellung der Militärverwaltung geübt. D ieser Kritik wird schon 1860 durch die Wiedereinführung eines verantwortlichen Kriegsmini­ sters und dann durch die Einbeziehung des Militäretats in die budgetrechtli­ chen Kompetenzen des Reichsrates entsprochen.64 In diesem Rahmen sind dann die Budgetdebatten der Schmerlingzeit stets von erheblichem Streit um die Militärausgaben und von Spar- und Streichinitiativen bestimmt, ohne daß dabei - im Unterschied zum zeitgleichen preußischen Konflikt­ die verfassungspolitische Frage der monarchischen Organisations- und Kommandogewalt thematisiert worden wäre. 65 In den Ausgleichsverhand­ lungen sind es dann die magyarischen Liberalen, die mit einiger Hartnäckig­ keit mit der »Nationalisierung« die Verfügungsgewalt über die ungarischen Heereseinheiten anstreben - in der Hauptsache ohne Erfolg. Mit der Verle­ gung der militärischen Kron-Prärogative in die Sphäre der gemeinsamen Angelegenheiten wird die Frage der Verfügung über die bewaffnete Macht auch der potentiellen parlamentarischen Einflußnahme weiter entrückt. Die ungarischen Versuche finden auf cisleithanischer Seite keine Parallele. 153 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Das Wehrgesetz von 1868, das in Österreich die allgemeine Wehrpflicht einführt, wird im Parlament ohne verfassungspolitische Erschütterungen verabschiedet, auch wenn anfänglich der Versuch, liberale Milizvorstellun­ gen in die Gesetzgebung einzubringen, eine gewisse Rolle spielt. Es gelingt einer schmalen linksliberalen Opposition bei weitem nicht, den Hinweis auf die preußischen Entwicklungen umzusetzen in eine allgemeine Solidarisie­ rung der Verfassungspartei gegen die Wehrgesetzvorlage.66 Die Erfahrun­ gen aus dem Verlauf und Ergebnis des preußischen Verfassungskonflikts und aus den Versuchen der Magyaren sind freilich auch nicht dazu angetan. Erneut zeigt sich hier, daß der österreichische Liberalismus in seiner Ge­ samtheit noch weniger als der preußische darauf aus war, die von der monarchischen Gewalt definierten Grundlagen des Konstitutionalismus in­ frage zu stellen.

Einige Bemerkungen zum Niedergang der Verfassungspartei in Cisleithanien Der deutsche Liberalismus bleibt Gefangener seiner schmalen sozialen Basis, seiner josefinischen Orientierung in zentralen staatspolitischen Fragen und schließlich der verfassungsmäßigen Rahmenbedingungen, die für seine Mit­ wirkung an den Staatsgeschäften vorgegeben worden sind. Eine Öffnung gegenüber anderen sozialen Schichten und neuen Problemen wird nicht versucht; im Umfeld wachsender Mobilisation und Partizipation, die schließlich auch in Österreich zu Wahlrechtserweiterungen fuhren, nimmt infolgedessen die Resonanz des Liberalismus ab. In der Tendenz hat dieser Vorgang im Schicksal der Nationalliberalen in Deutschland (deren parla­ mentarische Präsenz freilich stärker bleibt) eine Parallele; vergleichbar ist ferner die Erscheinung, daß auch der österreichische Liberalismus unter Spaltungen leidet. Der Charakter dieser Spaltungen unterscheidet sich je­ doch wesentlich von den deutschen Verhältnissen. Linksliberal motivierte Flügelbildungen und Abspaltungen bleiben in Österreich schwach; Ausein­ andersetzungen und Erosion haben ihre entscheidende Wurzel im zuneh­ menden Nationalismus und im wachsenden Ungenügen des deutschen Bür­ gertums an der josefinisch-altliberalen übernationalen Attitüde. Diese Sprengkraft ist in der Verfassungspartei von vornherein angelegt, v. a. bei den Autonomisten ist die nationalistische K omponente schon immer deut­ lich. Das Anwachsen des Deutschnationalismus ist ganz wesentlich ein ethnisches Grenzlandphänomen (südöstliche Alpenländer und Deutschböh­ men), seine Wirkungen sind für das politische Klima und für den Parlamen­ tarismus ausgesprochen destruktiv. Diesem Vorgang entspricht (unter komplementären Vorzeichen) in den böhmischen Ländern die Abspaltung der Jungčechen von den Altčechen im Widerstand gegen deren konservative 154 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Orientierung und Bindung an den böhmischen Adel. Die Jungčechen grei­ fen die liberal-demokratische Tradition des Čechentums auf; die Genossen­ schaftsbewegung wird ihr wichtigster institutioneller Hebel zur Politisie­ rung und Organisation des Bauerntums und K leinbürgertums. Diese libe­ ral-emanzipatorische Tendenz wird jedoch vor allem in den Dienst des Nationalitätenkampfes gestellt und bildet daher ein zusätzliches Moment der gesamtstaatlichen Desintegration.67 Zum deutschen liberalen oder gar nationalen Lager fuhrt keine Brücke. Anders als etwa in Deutschland geht der Niedergang des großbürgerli­ chen Liberalismus in Österreich einher mit der Paralysierung des Parlamen­ tarismus im Ganzen. Das bürokratische Notverordnungsregime als ultima ratio des staatlichen Zusammenhalts wird auf diese Weise wieder zur maß­ geblichen (Rückzugs-)Bastion des josefinisch-liberalen deutschen Großbür­ gertums.

Anmerkungen 1 Zum Zusammenhang von ökonomischer und kultureller Entwicklung, sozialer Mobili­ sierung, K ommunikation und nationaler Integration immer noch die Arbeiten von K. W. Deutsch: Soziale Mobilisierung und politische Entwicklung, zuletzt in: W.Zapf(Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, Köln 1969, S. 329-350, und; Nationenbildung. Nationalstaat, Integration, Düsseldorf 1972. Zur Habsburgermonarchie grundsätzlich G. Plaschka, A. Sup­ pan, H. Haselsteiner, Zum Begriff des Nationalismus und zu seinen Strukturen in Südosteuropa im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Österr. Osthefte 20, 1978, S. 48-78; R.A. Kann, Zur Problematik der Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie 1848-1918, in: A. Wan­ druszka u. P. Urhanitsch (Hrsg.), Die Habsburger-Monarchie 1848-1918, Bd. 3/1 u. 3/2, Wien 1980, hier Bd. 3/2, S. 1304-1338. 2 Vgl. bes. K .-G. Faber, Strukturprobleme des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: Der Staat, 14, 1975, S. 201-227, und den Beitrag von B. Vögel in diesem Band. Der Vf. teilt diese Linie der Bewertung. 3 Diese Grundtatbestände der deutsch-mitteleuropäischen Verfassungsentwicklung bis zur Reichsgründungszeit bzw. zum österreichisch-ungarischen Ausgleich sind selbstverständlich geläufig. Ihre Relevanz als Rahmenbedingung für das politische Verhalten der Liberalen, insbesondere des gemäßigten Liberalismus, wird, soweit ich sehe, in der gegenwärtigen Liberalismusdiskussion nicht besonders stark beachtet. Für die im Vordergrund des Interesses stehende sozialökonomische Perspektive der Geschichte des Liberalismus gewinnt der etatisti­ sche Aspekt - nicht als konstitutives, wohl aber als modales Element -jedoch gerade dann an Bedeutung, wenn es um die Begründung der Entwicklungsunterschiede der europäischen Liberalismen geht. 4 Unter Josefinismus wird hier, der österreichischen Tradition folgend, über den kirchenpo­ litischen und kirchenrechtlichen Aspekt hinaus der Gesamtkomplex der von der Aufklärung getragenen politischen und sozialen Reformen unter Josef IL verstanden. Zur administrativen Integration: R. Walter (Bearb), Die Österreichische Zentralverwaltung, Abt. 2 (1749-1848), Bd. 1/2, Wien 1950, S. 1-69. Zur Sozialpolitik bes. eindringlich R. Rozdolski, Die große Steuer- und Agrarreform Josefs II., Warschau 1961. 5 Differenzierender Überblick bei G. Franz, Liberalismus. Die deutschliberale Bewegung in der Habsburgischen Monarchie, München 1955, S. 11-41, 142ff. Zur Bürokratie die instrukti-

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ven zeitgenössischen Schilderungen von I. Beidtel, Geschichte der österreichischen Staatsver­ waltung 1740-1848, aus dem Nachlaß hrsg. von A. Huber, 2 Bde., Innsbruck 1896/1898 (Nachdruck 1968), insbes. Bd. 1, Abtlg. 2 (Josef II.); Bd. 2 (K. Franz u. Ferdinand) mit massiver Systemkritik u. Adelskritik passim. Vgl. jetzt W. Heindl, D ie österreichische Bürokratie, in: H. Lutz u. H. Rumpier (Hrsg.), Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 1982, S. 73-91. 6 J . Mentschl, D as Österreichische Unternehmertum, in: Wandruszka u. Urbanitsch (Hrsg.), Bd. 1, Wien 1973, S. 250-277, mit Lit.; Η. Matis, Der österreichische Unternehmer, in: K.­ H. Manegold (Hrsg.), Wissenschaft, Wirtschaft und Technik. Studien zur Geschichte, München 1969, S. 286-298. 7 Hierzu die Überblicksdarstellungen zu den politisch-kulturellen Bewegungen der einzel­ nen Völker bei R. A. Kayin, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie, 2 Bde., dt. Graz/Köln 19642, Bd. 1. Grundsätzliche Erwägungen zu den integrationsfeindlichen Wirkun­ gen der deutsch-zentralistischen Bürokratie in der theresianisch-josefinischen Tradition bei K. Megner, Beamte. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte des k. k. Beamtentums, Wien 1985, Kap. 14. Vgl. auch die knappen und treffenden Bemerkungen bei E. Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, Wien 1985, S. 413-421. 8 H.-H. Brandt, Parlamentarismus als staatliches Integrationsproblem: D ie Habsburger­ Monarchie, in: A. M. Birke u. K. Kluxen (Hrsg.), Deutscher und Britischer Parlamentarismus, München 1985, S. 69-105, S. 75f. 9 Vgl. ebd., S. 76-83, mit Lit. 10 J . A. v. Hübner, Ein Jahr meines Lebens 1848-1849, Leipzig 1891, S. 300. 11 So vor allem der junge Kaiser; die Überzeugungen der konstitutionellen Minister sind mehr oder weniger elastisch; Schwarzenbergs Haltung ist umstritten. Hierzu zuletzt H. Rump­ ­er, D ie Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848-1867, Einleitungsband, Wien 1970, S. 30ff. 12 Zum Konkordat E. Weinzierl-Fischer, D ie österreichischen Konkordate von 1855 und 1933, Wien 1960; P. Leisching, D ie Römisch-Katholische Kirche in Cisleithanien, in: Wandrusz­ ka u. Urbanitsch (Hrsg.), Bd. 4, Wien 1985, S. 1-247, hier S. 25-34. 13 Charakterisierung des Doppclgesichts des Neoabsolutismus und Lit. bei H.-H. Brandt, Der Österreichische Ncoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848-1860, 2 Bde., Göttin­ gen 1978, Bd. 1, Kap. 3, 1. 14 Text bei E. Bernatzik, D ie österreichischen Verfassungsgesetze mit Erläuterungen, Wien 19112, S. 146-201. Analyse bei H. Schlitter, Versäumte Gelegenheiten. D ie oktroyierte Verfas­ sung vom 4. März 1849, Zürich 1920. 15 D azu J . Klabouch, D ie Gemeindeselbstverwaltung in Österreich 1848-1918, Wien 1968, S. 46ff.; ders., D ie Lokalverwaltung in Cisleithanien, in: Wandruszka u. Urbanitsch (Hrsg.), Bd. 2, Wien 1975, S. 274-279; F. Walter, Österreichische Zentralverwaltung, Bd. 3/1, S. 552 ff. Zum Problem der Repräsentativorgane in den Kronländern die ältere Arbeit von K. Hugelmann, Der Übergang von den ständischen Landesverfassungen in den österreichischen Ländern zu den Landesordnungen der konstitutionellen Zeit (1848—1861), = Jb. f. Landeskunde v. Niederö­ sterreich, NF 20, 1926/27. 16 Hierzu Brandt, Ncoabsolutismus, Bd. 1, Kap. 4,4 u. 4,6; zur Behördenkonstellation im Vormärz S. 36-40; J . Slokar, Geschichte der österreichischen Industrie und ihrer Förderung unter Kaiser Franz 1., Wien 1914, S. 105-125. 17 R. Charmatz, Minister Freiherr von Bruck. Der Vorkämpfer Mitteleuropas, Leipzig 1916. Zu Brucks Proteges D r. Gustav Höfken, Prof. Lorenz (v.) Stein, Isidor Heller u. Eduard Warrens vgl. Brandt, Neoabsolutismus, Bd. 1, S. 281f., u. Bd. 1 u. 2 passim. D ie feindselige Kennzeichnung in einem schutzzöllnerischen Pamphlet von 1859 im Zusammenhang mit der Rezession von 1857-1859, Bd. 1, S. 431. Zur Person Höfkens die stark anekdotische biogra­ phische Skizze und D okumentation von K. Koszyk, Gustav Höfken, in: Beitr. z. Gesch. Dortmunds u. der Grafschaft Mark 71, 1978, S. 5 — 71, 72-118; sie gibt Einblick in die journalist, und wiss. Tätigkeit zugunsten Zollverein, Südostexpansion, Siebzigmillionenreich.

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18 Zur Listrezeption Charmatz, Bruck, S. 22ff.; Charakterisierung der Bruckschen Wirt­ schaftspolitik, Kap. 4; H. Matis, Österreichs Wirtschaft 1848-1913, Berlin 1972, S. 47 ff., 53 ff., 115 ff.; Brandt, Ncoabsolutismus. 19 A. Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspective, New York 1962; vgl. H. Matis u. K. Bachinger, Österreichs industrielle Entwicklung, in: Wandruszka u. Urban­ itsch (Hrsg.), Bd. 1, S. 110ff.; allg. J . Wysocki, Infrastruktur und wachsende Staatsausgaben. Das Fallbeispiel Österreich 1868-1913, Stuttgart 1975, S. 174-184. 20 So der Buchtitel von Charmatz, 1916 (Anm. 17). Zur wilhelminischen Epoche und zur Kontinuität H. C. Meyer, Mitteleuropa in German Thought and Action 1815—1945, Den Haag 1955. 21 Übersicht bei Brandt, Neoabsolutismus, Bd. 1, S. 250-260, S.872ff., zur Judenfrage auch Bd. 2, S. 872ff. 22 Ebd., Bd. 1, S. 258f.; Bd. 2, S. 872f. 23 Ebd., Bd. 1, Kap. 4; Matis, S. 64-82, 106-127. 24 Angaben u. Schilderungen bei Franz, Liberalismus; ferner Brandt, Ncoabsolutismus, Kap. 4,4. Zur außerösterreichischen Herkunft auch J . Mentschl, Das österreichische Unterneh­ mertum, in: Wandruszka u. Urbanitsch (Hrsg.), Bd. 1, S. 253 ff. Vgl. Matis, Kap. 1,3. 25 D as Auseinandertreten von politischem und ökonomischem Liberalismus ist die zentrale These von H. Malis; vgl. v. auch ders., Sozioökonomische Aspekte des Liberalismus in Öster­ reich, in: H.-U. Wehler (Hrsg.), Sozialgeschichte Heute, Göttingen 1974. D em ist unter der Präzisierimg zuzustimmen, daß die antiwirtschaftsliberalen Vorbehalte des Industriebürger­ rums sich auf die Außenwirtschaftspolitik beziehen. Für die Zeit des Neoabsolutismus, v. a. Auseinandersetzungen in der Krise von 1857, vgl. Brandt, Neoabsolutismus, Bd. 1, Kap. 4,6. 26 Zum Arbeits- und Sozialrecht vgl. zuletzt die knappe Skizze bei W. Ogris, Die Rechtsent­ wicklung in Cisleithanien 1848- 1918, in: Wandruszka u. Urbanitsch (Hrsg.), Bd. 2, S. 630—646, mit rechtswiss. Lit. Eine historisch gerichtete Monographie für die Frühzeit fehlt. 27 E. Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, Wien 1985, S. 341 f. 28 Brandt. Neoabsolutismus, Bd. 2. S. 746-760, Kap. 7-8. 29 Ebd., insbes. Kap. 8,4-8,8; H. Rumpler, D er Kampf um die Kontrolle der österreichi­ schen Staatsfinanzen 1859/60, in: G. A. Ritter (Hrsg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung. Zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland, D üsseldorf 1974, S 165—188. Grundle­ gend noch immer J. Redlich, D as österreichische Staats- und Reichsproblem, Leipzig 1920, Bd. 1, Abschnitte 3 u. 4. 30 Zur hochkonservativen Politik auch W. Goldinger, Von Solferino zum Oktoberdiplom, in: MÖStA 3, 1950, S. 106-126; wichtig immer noch L. Eisenmann, Le Compromis Austro­ Hongrois de 1867. Etude sur le Dualisme, Paris 1904. Zum Oktoberdiplom auch die wichtigen Bemerkungen bei W. Brauneder u. F. Lachmayer, Österreichische Verfassungsgeschichte, Wien 19833, S. 137 ff., 143 f. Zum Monarchen F. Fellner, Kaiser Franz Joseph und das Parlament. Materialien zur Geschichte der Innenpolitik Österreichs in den Jahren 1867—1873, in: MÖStA 9, 1956, S. 287-347 (zum mangelnden Föderalismus S. 344f.); J. Diószegi in diesem Band. 31 Redlich, Bd. 1, S. 525f. 32 Hierzu zuletzt Brandt, in: Birke u. Kluxen (Hrsg.), S. 89—93, mit Lit. D ie eindringlichste Analyse bei Redlich, Bd. 1, S. 768-808. 33 Vgl. J. Klabouch, D ie Lokalverwaltung in Cisleithanien, in: Wandruszka u. Urbanitsch (Hrsg.), Bd. 2, S. 292ff. 34 Text bei Bernatzik, Österreichische Verfassungsgesetze, S. 255—305. Zum Wahlrecht u. seinen Wirkungen Redlich, Bd. 1, S. 784ff. Für die Landesverfassungen jetzt paradigmatisch: G. Schmitz, D ie Anfänge des Parlamentarismus in Niederösterreich. Landesordnung und Selbstregierung 1861-1873, Wien 1985. 35 Ausführliche Analyse: Redlich, Bd. 1, S. 715-814. Zum Kontinuitätsproblem: F. Fellner, Das »Februarpatent« von 1861, in: MIÖG 63 (1955), S. 549-564. »Josefinischer« Charakter der Regierung Schmerling: Franz, Liberalismus, S. 143f Zur politischen Haltung Schmerlings, in der sich die Tradition der vormärzlichen ständischen Reformpolitik, gouvernemental-zentral-

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istische und gemäßigt-konstitutionelle Anschauungen mischen, vgl. P. Molisch, Anton v. Schmerling und der Liberalismus in Österreich, in: AfÖG 116/1, 1944, S. 1-59. 36 Verfassungspolitische Gesamtentwicklung zwischen 1861 und 1867 ausführlich bei Red­ lich, Bd. 2, Leipzig 1926, S. 403-680; zum Verfahren von 1867 auch E. C. Hellbling, D as österreichische Gesetz vom Jahre 1867 über die gemeinsamen Angelegenheiten der Monarchie, in: P. Berger (Hrsg.), Der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867, Wien 1967, S. 64-89. Die Verfassungskämpfe des Reichsrates in der Schmerling-Zeit dokumentiert in: G. Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich, 8 Bde., Wien 1902-1914 (Nachdruck Graz 1972), Bd. 1, S. 75-202. 37 Vgl. die Würdigung von G. Stourzh, Die österreichische Dezemberverfassung von 1867, in: ÖGL 12, 1968, S. 1-16; Brandt, in: Birke u. Kluxen (Hrsg.), S. 95-103. 38 Es handelt sich um den Justizmimster Dr. Eduard Herbst, Universitätsjurist und einer der parlamentarischen Führer der Verfassungspartei, der am hartnäckigsten seinen Eintritt an Bedingungen zu knüpfen sucht und dessen Berufung wesentlich mit dem Ziel der Einbindung seiner Fraktion betrieben wird; sodann den Advokaten D r. Karl Giskra (Innenminister), den Advokaten Johann N. Berger (o. Portef., Sprecherminister), den leitenden Angestellten der Credit-Anstalt D r. Rudolf Brestl (Finanzminister), den Universitätsjuristen D r. Leopold v. Hasner (Unterricht, 1870 kurzzeitig Ministerpräsident). 39 Für die liberale Seite die Brüder Karl und Adolf Fürsten Auersperg, der erstere schon vormärzlich böhmisches Landtagsmitglied, vor seiner Berufung 1861-1867 Mitglied und Präsident des Herrenhauses sowie des böhm. Landtages (Oberstlandmarschall), der letztere vor seiner Berufung 1867-70 böhm. Oberstlandmarschall, dann Landespräsident von Salzburg. Zur Charakterisierung der Ministerien und ihrer Mitglieder immer noch A. Czedik, Zur Geschichte der k. k. österreichischen Ministerien 1861-1916, 4Bde., Teschen 1917, f.d. Zeit 1867-1878: Bd. 1, S. 74—300. Zu den Brüdern Auersperg vgl. zuletzt die Biographien: W. Ru­ dolf, Fürst Karl Auersperg (1814-1890), Diss. phil. [Masch.], Wien 1974; I. Klebl, Fürst Adolph Auersperg (1821-1885), Wien 1976. 40 Fellner, Franz Joseph, S. 299 f. 41 W.A.Jenks, Austria under the Iron Ring 1879-1893, Charlottesville 1965. 42 Zu den Fraktionsbildungen: Franz, Liberalismus, S. 227-251. Ab 1861 organisieren sich auf dieser Basis der Kombination landsmannschaftlicher, ideologischer und beruflicher Mo mente drei Clubs: bei den »Großösterreichern« (übernational, zentralistisch, am Gesamtteich als Staat festhaltend) herrscht das bürokratische und das Hauptstadtelement vor; die »Unioni­ sten« (nach einem Gasthof benannt) umfassen v.a. die deutschen Abgeordneten der böhmi­ schen Länder (ihr Konstitutionalismus und Zentralismus speist sich nicht zuletzt aus der Erfahrung der deutschen Minderheitensituation in Böhmen); bei den steyrischen »Autonomi­ sten« (sie treten schon sehr früh für den Ausgleich mit Ungarn auf dualistischer Basis ein) ist von Anfang an eine deutsch-nationale Komponente erkennbar; sie entwickeln die relativ stärkste Kontinuität einer separaten Formation. 43 Übersicht bei Kolmer, Parlament, Bd. 1, S. 62f.; Franz, S. 142ff. 44 Zum Spezialproblem des verfassungstreuen Großgrundbesitzes als - nicht ohne weiteres dem Liberalismus zuzurechnende - parlamentarische Manipulationsmasse der Regierungen vgl. materialmen J . Martinek, Materialien zur Wahlrechtsgeschichte der Großgrundbesitzerku­ rie in den österreichischen Landtagen seit 1861, Diss. phil. [Masch.] Wien 1977. Zur späteren Instrumentierung gegen die Liberalen in der Ära Taaffe vgl. Jenks, S. 33-37, 116-121. 45 Zur Gesamttendenz Franz, S. 142-152, 163-176; knappe Skizze bei Bruckmüller, Sozial­ geschichte, S. 424-428. 46 Hierzu W. Brauneder, Projekte zu einer Wählerklasse der Arbeiter in Österreich, in: Κ Vý voji Právního Postaveni Dĕlnické Tridy za Kapitalismu (= Zur Entwicklung der Rechtsstellung der Arbeiterklasse im Kapitalismus), Prag 1984, S. 67-83. 47 Zu den Auseinandersetzungen um die D irektwahl F. Fellner, Franz Joseph, S. 319-331. Übersicht über die späteren Wahlrechtsreformen bei E. C. Hellbling, Österreichische Verfas­ sungs-und Verwaltungsgeschichte, Wien 19742, S. 374 ff.

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48 Zeitgenössische Schilderung bei J . Neuwirth, D ie Speculationskrisis von 1873, Leipzig 1874/75. 49 D as liberale Selbstverständnis kommt besonders klar in der D okumentation und den Kommentaren des Verfassers und Herausgebers Kolmer, Parlament, Bde. 1 u. 2, zur Geltung. 50 Vgl. Anm. 42. Zum D eutschnationalismus immer noch P. Molisch, Geschichte der deutschnationalen Bewegung in Österreich von ihren Anfängen bis zum Zerfall der Monarchie, Jena 1926; s. a. L. Höbelt in diesem Band. 51 D azu jetzt L. Gogolák, Ungarns Nationalitätengesetze und das Problem des magyarischen National-und Zentralstaates, in: Wandruszka u. Urbanitsch (Hrsg.), Bd. 3/2, S. 1207-1307. Vgl. auch den Beitrag von I. Dioszegi in diesem Band. 52 Vgl. die in Anm. 34 u. 35 angeführte Lit. 53 Grundlegend für das cisleithanische Nationalitätenrecht jetzt G. Stourzh, D ie Gleichbe­ rechtigung der Volksstämme als Verfassungsprinzip 1848—1918, in: Wandruszka u. Urbanitsch (Hrsg.), Bd. 3/2, S. 975-1206 (auch als selbständige Monographie erschienen). Zur Entwick­ lung von 1848 bis 1867: S. 975-1010; zum Art. 19: S. 1011-1041; zu den späteren legislatori­ schen Anläufen und Auseinandersetzungen: S. 1041-1049. 54 Vgl. die in Anm. 1 u. 7 angeführte Lit. Für Verständnis und Beurteilung wichtig die von R. A. Kann entwickelte Unterscheidung von a-nationalem und über-nationalem Staat, wobei der deutsche Liberalismus in der a-nationalen Tradition des josefinischen bürokratischen Zen­ tralismus steht, die Habsburgermonarchie insgesamt ihre Transformation in einen übernationa­ len Föderativstaat bis zu ihrem Ende nicht vollbracht hat (ders., Die Habsburgermonarchie und das Problem des übernationalen Staates, in: Wandruszka u. Urbanitsch [Hrsg.], Bd. 2, S. 1—56, insbes. S. 1-7, 51-56). 55 F. Lehne, Rechtsschutz im öffentlichen Recht: Staatsgerichtshof, Reichsgericht, Verwal­ tungsgerichtshof, in: Wandruszka u. Urbanitsch (Hrsg.), Bd. 2, S. 663-715. Zum übrigen Deutschland vgl. E. R. Huber, D eutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2, S. 69, 72ff., 836; Bd. 3, S. 20 ff., 65 ff., 821ff. Vgl. auch H. Rumpler, Monarchisches Prinzip und Minister­ verantwortlichkeit in Österreich und Preußen 1848-1867, in: Bericht über den 11. Österreichi­ schen Historikertag in Innsbruck 1971, Horn 1972, S. 68-76. 56 D arstellung und D okumentation der ersten drei Reichsratsperioden (1861-1865) bei Kolmer, Parlament, Bd. 1, S. 59—202. Kritisch zur Parlamentsarbeit Franz, Liberalismus, S. 227-291. 57 Franz, S. 146-152. 58 Text bei Bernatzik, Österr. Verfassungsgesetze, S. 422-427, dazu 381-390, 453-469. Knappe Würdigung der Grundrechte bei G. Stourzh, Dezember-Verfassung, S. 10ff. Zur Ana­ lyse der Folgegesetzgebung ist auf die staatsrechtliche Lit. der Monarchie von vor 1918 zurückzugreifen. Vgl. E. Mischler u. J . Ulbrich, Österreichisches Staatswörterbuch, 4 Bde., Wien 1904-19092; Bd. 3, S.893ff. (Art. Persönliche Freiheit), S. 556ff. (Art. Meinungsäuße­ rung), S. 973ff. (Art. Preßrecht); Bd. 4, S. 712ff. u. 746ff. (Art. Vereinsrecht, Versammlungs­ recht). 59 Lehne, in: Wandruszka u. Urbanitsch (Hrsg.), Bd. 2, S. 663-715. 60 Umfassende und eindringliche Analyse von Stourzh, in: Wandruszka u. Urbanitsch (Hrsg.), Bd. 3,2, S. 1056-1206. 61 Hierzu P. Leisching, Die Römisch-Katholische Kirche in Cisleithanien, in: Wandruszka u. Urbanitsch (Hrsg.), Bd. 4, S. 1-247, S. 34-63, mit Lit. 62 Ebd.. S. 49ff. Zum nationalitätenpolitischen Aspekt Stourzh, S. 1124-1147. Zur natio­ nalistischen Praxis auch F. Prinz, Die böhmischen Länder von 1848 bis 1914, in: K.Bosl(Hrsg.), Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, Bd. 3, Stuttgart 1968, S. 150, 164, 186f 63 Liberale Handelsverträge mit England und Frankreich 1865. In der Phase des konjunktu­ rellen Aufschwungs bis 1873 wurde die Handelsvertragspolitik jedoch vom Bürgerministerium fortgesetzt. Matis, Sozioökonomische Aspekte, S. 250ff; vgl. ders., Leitlinien der österreichi­ schen Wirtschaftspolitik, in: Wandruszka u. Urbanitsch (Hrsg.), Bd. 1, S. 40f.; L. Láng, Hundert Jahre Zollpolitik, Wien 1906, S. 200ff.

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64 Zur Organisation der Militärzentralbehörden in Neoabsolutismus und Übergang zum Konstitutionalismus mit Analyse der politischen Implikationen W. Wagner, Geschichte des k. k. Kriegsministeriums, Bd. 1: 1848—1866, Graz 1966; zur Wiederherstellung des Kriegsministe­ riums, S. 156—182. Vgl. auch A. Schmidt-Brentano, Die Armee in Österreich. Militär, Staat und Gesellschaft 1848-1867, Boppard 1975, S. 11-33. 65 Ebd., Kap. 3, insbes. S. 149-158; Dokumentation bei Kolmer, Parlament, Bd. 1, S. 108f., 151ff., 187ff. 66 Aus militärischer Sicht Schmidt-Brentano, S. 80—97. Grundlegend jetzt P. Schweizer, Die österreichisch-ungarischen Wehrgesetze der Jahre 1868/69, D iss. phil. [Masch.] Wien 1980, 2 Bde.; Reichsratsdebatte S. 265-310. 67 Hierzu Prinz, S. 83—89, 150, 157f. Aus der Perspektive bäuerlicher Interessenpolitik wird dieser Komplex eingehend behandelt bei P. Heumos, Agrarische Interesssen und nationale Politik in Böhmen 1848-1889, Wiesbaden 1979, insbes. S. 35-69.

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LOTHAR HÖBELT

Die Deutschfreiheitlichen Österreichs Bürgerliche Politik unter den Bedingungen eines katholischen Vielvölkerstaates

I. Vorbemerkung: Fortschrittsparteien und Freisinnige Parteien Unter den großen politischen Bewegungen des modernen Europa zeich­ net sich der Liberalismus unter anderem durch ein überdurchschnittlich hohes Maß an Fremdbestimmung aus. Anders als der Sozialismus und die Arbeiterbewegung, aber auch der politische Katholizismus mit Kirche und Kleinbauern oder der Konservativismus mit dem Landadel verfugte der Liberalismus über kein deutlich erkennbares soziales Substrat, das im­ stande gewesen wäre, ihm ein unverwechselbares Gesicht zu verleihen. Zweifelsohne war der Liberalismus eine bürgerliche Bewegung; aber der Begriff ›bürgcrlich‹ entsprang selber einer Residualkategorie. D ie Genesis der Liberalen als Verfassungspartei schloß an eine zu allgemeine Zielset­ zung an, um auf die D auer als Plattform einer politischen ›Partei‹ im ur­ sprünglichen Sinn des Wortes einsetzbar zu sein. D ie Selbstverständlich­ keit ihrer Vorstellungen - und sei es auch nur für eine mehr oder weniger dünne Schicht von ›Bcsitz und Bildung‹ - war der Herausbildung exklusi­ ver Bindungen an eine bestimmte Klientel nicht förderlich. D as Ergebnis war das oben erwähnte Maß an Fremdbestimmung, was sozialen Ein­ zugsbereich und politische Prioritäten betraf Anders ausgedrückt: D ie Li­ beralen definierten sich weniger dadurch, wofür sie eintraten als dadurch, wer gegen sie war. D ementsprechend lassen sich im europäischen Ver­ gleich zwei große Gruppen von liberalen Bewegungen und Parteien un­ terscheiden: D ie erste entwickelte sich in Abstoßung von den konservati­ ven Parteien des protestantischen, oft überdies frühkonstitutionellen Nordeuropa; sie sollen hier als ›Fortschrittsparteien‹ bezeichnet werden. Für die zweite Gruppe, kurz als ›freisinnige‹ Parteien bezeichnet, besaß der Kampf gegen den politischen Katholizismus Vorrang. D er weitere Werdegang beider Gruppen zu ›linkslibcralen‹ und ›rechtslibcralen‹ Partei­ en läßt sich unschwer erkennen - Musterbeispiele von ›Fortschrittspar­ teien‹ stellen wohl die englischen, schwedischen, aber auch die preußisch­ ostelbischen Liberalen dar; Exemplare der zweiten Gattung die französi161

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schen nur mit Einschränkungen, wohl aber die belgischen, bayerischen, italienischen und österreichischen Liberalen.

II. D ie österreichischen Liberalen als Typus der freisinnigen Partei Österreich - die westliche Reichshälfte der Habsburgermonarchie - war ein katholisches Land, von einigen winzigen protestantischen Einsprengseln (z. b. in Kärnten) abgesehen, und es wurde von einer Dynastie regiert, die als letzte Stütze der römischen Kirche im Kreise der Großmächte galt. Auf Grund der inneren Unstimmigkeiten im Bündnis von Thron und Altar fanden die Liberalen nichtsdestotrotz zuweilen Anlehnung ›oben‹, stießen ›unten‹ aber auf dieselben stark eingeschränkten Wirkungsmöglichkeiten wie in den katholischen Teilen des Reiches. D as politische Kriterium schlechthin, dem sich alles andere unterordnete, wenn dieser Konflikt auch durch andere Momente selbstverständlich angereichert werden konnte, war die Frage: klerikal oder antiklerikal. Zwar verlief der »Kulturkampf« in Österreich ohne jene dramatischen Wendungen wie unter Bismarck; den­ noch folgte er denselben Zyklen der politischen Großwetterlage: Einem Abklingen der Spannungen ab dem Ende der achtziger Jahre stand eine partielle ›Re-idcologisicrung‹ nach der Jahrhundertwende gegenüber. D ie grundlegenden D emarkationslinien zwischen den durch diese Form von ›cleavage« konstituierten politischen Lagern blieben jedoch davon (bis auf Wien und seine unmittelbare Umgebung - Stichwort: Christlichsoziale Bewegung) unberührt. Was die politische Situation in den katholischen Teilen des deutschen Sprachraums vor allem anderen ausmachte, war das Nichtvorhandensein einer konservativen Partei: Zum Teil ging deren potentielle Anhängerschaft (Bauern und Klerus - soweit man von letzterem im protestantischen Bereich sprechen kann) in den katholisch-›konscrvativcn‹ Parteien auf; zum Teil war das nötige Substrat für eine lebensfähige konservative Partei, ein standesbe­ wußter und zahlenmäßig ins Gewicht fallender Kleinadel (Gentry, Junker) nicht vorhanden; die ›Klcingroßgrundbesitzer‹ traten in Österreich hinter dem Latifundienbesitz und den Kleinbauern weit zurück - zudem litt jede sich formierende agrarische Bewegung in der österreichischen Reichshälfte unter dem antagonistischen Verhältnis zu ihrer ungarischen Konkurrenz, die politisch ihre Geschäfte weit effektiver besorgte, sie ökonomisch aber nie­ derhielt. D ie Gutsbesitzer, soweit vorhanden, waren ihrer Herkunft nach heterogen, ohne besonderes Standesbewußtsein, dem städtischen Leben vielfach verbunden und wiesen deutlich mehr Affinität zu den Liberalen auf als z. Β. das Gros der Bauernschaft. Für die Liberalen bedeutete all das, daß gesellschaftspolitisch für sie rechts kein Feind mehr stand. D ie kleine Schar aristokratischer ›Kavalicrc‹ und 162 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Magnaten vermochte eine mögliche Rolle als Feindbild nicht glaubhaft auszufüllen; sie waren den Liberalen allenfalls auf Grund ihrer nationalen oder klerikalen Sympathien verdächtig, weniger auf Grund ihrer gesell­ schaftspolitischen Vorstellungen oder ökonomischen Interessen. D ie Profi­ lierung als sozial-emanzipatorische Partei erwies sich unter diesen Voraus­ setzungen als unfruchtbares Unterfangen, mehr noch: als potentiell selbst­ mörderisch angesichts des unübersehbaren Rückhalts der Klerikalen bei der Masse der ländlichen Bevölkerung mit Ausnahme Böhmens. (Warum dieser Rückhalt so stark war, der Katholizismus eine so weitgehende Immunisie­ rung gegenüber anderen Formen der politischen Mobilisierung bewirkte, ist ein Phänomen, bei dessen Erklärung die Fülle wichtiger Anhaltspunkte von einem Mangel an echten Erklärungsmustern begleitet wird. Sie fuhrt jedoch um Jahrhunderte zurück und mag deshalb ausgeklammert bleiben.) Wenn die Anziehungskraft der katholischen Parteien den Liberalen auch den Weg zur Massenpartei effektiv versperrte, so erweiterte das Nichtvor­ handensein einer wirklichen konservativen Partei den Einzugsbereich der Liberalen immerhin, grob gesprochen, um all jene Kreise, die im Reich die Freikonservative Partei stützten - einen Teil der Magnaten (›verfassungs­ treuer Großgrundbesitz‹), schutzzöllnerische und ›agrarische‹ Industrielle;2 auch die zum Teil monopolartige Stellung in der Beamtenschaft steht damit in Zusammenhang.

III. D er Vielvölkerstaat - D as Auseinanderfallen von Staat und Nation Die bisherige Schilderung der Spezifika des österreichischen Liberalismus bewegt sich im Rahmen des - mutatis mutandis - wohl auch für Altbayern oder Italien gültigen. Jene Voraussetzung hingegen, die nur für Österreich allein zutraf, war die Existenz in einem Vielvölkerstaat. Wiederum liegt das wesentliche Moment nicht in der vordergründigen Verschärfung eines ag­ gressiven Nationalismus in den Sprachenkämpfen der Monarchie. Der poli­ tische D urchschnittskonsument erlebte die Frontberichte des Nationalitä­ tenkampfes im alten Österreich vermutlich nicht sehr viel hautnäher als der reichsdeutsche Untertan imperialistische Rivalitäten ›weit hinten in der Türkei‹; für die sozio-ökonomische D imension gab es auch im Reich Par­ allelen, z. B. das Polenproblem; gerade die ›Fcstungcn‹ des Nationalitäten­ kampfes, die deutschen Sprachinseln - auf sie wird in einem anderen Zusam­ menhang noch einmal zurückzukommen sein - huldigten zumeist ver­ gleichsweise irenischen Anschauungen. Schließlich war die Habsburgermo­ narchie im Ersten Weltkrieg Schauplatz einer ultra-nationalistischen und gerade deshalb zutiefst anti-annexionistischen Kriegszieldebatte; das Ideal der österreichischen D eutschnationalen bestand seit jeher darin, slawische Gebiete abzustoßen, nicht weitere hinzuzugewinnen. (Schon der Bruch 163 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

zwischen den D eutschliberalen und der D ynastie 1878 geht ja auf eine ähnliche Fragestellung zurück.) Die entscheidende Folge des Lebens in einem Vielvölkerstaat aber war das Auseinanderklaffen von Staat und Nation - eine Bedingung, die weder in Westeuropa noch - nach 1860 bzw. 1870 - im Reich oder in Italien gegeben war. D ie Bewohner der Habsburgermonarchie - und es gibt prima facie keinen Grund, diese Beoachtung nicht auch auf die nichtdeutschen und/oder nichtliberalen Untertanen Franz Josephs auszudehnen3 - standen in einem Verhältnis der gespaltenen Loyalität zur D ynastie, zum Staat und seinen Institutionen einerseits, zu ihrem Volk, ihrer sprachlichen und kulturellen Identität andererseits. Dieser Konflikt trat allerdings bei den durch keinerlei übernationale Ideale in Anspruch genommenen Liberalen schärfer zutage als bei Katholiken, Sozialisten oder Feudalen, wo andersgelagerte übernationa­ le Affinitäten ein Gegengewicht schufen, das mit dem Staatsgedanken rivali­ sierte, ihm zugleich aber auch auf Umwegen zugute kam. Die Folge dieses existentiellen ›Geworfenseins‹ in einen D auerzustand gespaltener Loyalitäten war eine Umpolung der Werte im Vergleich zu den Nationalstaaten des Westens. Wirkte das Nationalbewußtsein, die Betonung des Gemeinschaftsgefühls vor dem Wert des Individuums im D eutschen Reich affirmativ und staatsbejahend im Sinne von Kaiser und Reich, so war es in Österreich geeignet, die Polarisierung von Staat und Gesellschaft - ein ganz wesentliches Element liberaler Sozialphilosophie - eher noch zu ver­ stärken als aufzuheben bzw. auf einer praktischen Ebene, ein stets waches Mißtrauen gegenüber den Absichten und Aktionen des Staatsapparates zu schüren. Es ergibt sich daher die - nach westlichen Maßstäben paradox anmutende - Situation, daß die österreichischen Liberalen im selben Maße, wie sie nationaler Intoleranz und Überheblichkeit anheim fielen - und das soll hier nicht geleugnet werden - auch ein ganz spezielles Sensorium ent­ wickelten für alle Übergriffe der staatlichen Verwaltung. (Wilhelm II. hat dieser Konstellation einmal unbewußt seinen Tribut gezollt, als er die all­ deutschen Radikalen der Habsburgermonarchie eben nicht mit seinen hei­ mischen Alldeutschen vom rechten Flügel verglich, sondern mit Eugen Richter und Konsorten gleichsetzte.4) Die zuweilen bezweifelte Qualität der österreichischen D eutschfreiheitlichen als liberale Partei(en) läßt sich von dieser Position her nicht recht in Frage stellen. Der Staat als Träger national­ integrativer Institutionen fiel aus; an seine Stelle trat die freiwillige Selbstor­ ganisation der Gesellschaft: D ie Blüte des Vereinswesens läßt sich ebenso davon ableiten wie die besondere integrative Kraft der politischen ›Lager‹5 mit ihren zunehmend alle Aspekte des Lebens erfassenden Vorfeldorganisa­ tionen, wie sie sich im 20. Jahrhundert im Zuge der Entwicklung der Mas­ senparteien herauskristallisierten und bis zum heutigen Tag Österreich zu einem politologischen Unikum stempeln. Zugleich muß - mit Blick auf spätere Entwicklungen - selbstverständlich angemerkt werden, daß diese liberale Prinzipientreue ein situationsbedingtes Element aufwies, das in 164 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

jenem Augenblick ins Wanken geriet, wo der Staat, dem man gegen­ überstand, sich von einem stets mißtrauisch beäugten übernationalen Gebil­ de in jenen Nationalstaat verwandelte, den man zwar vielleicht nicht immer herbeigesehnt, mit dem man aber aus den Augenwinkeln stets kokettiert hatte. D ie in Abwehr des Staates hervorgerufene nationale Solidarität und gesellschaftliche Überorganisation setzte ein gefährlich totalitäres Potential frei, sobald sie nicht mehr als Gegengewicht, sondern zur Verstärkung staatlicher Autorität diente.

IV. D as Parteienspektrum - ›linke‹ Strukturen, ›rechte‹ Ideologie (und vice versa) Das Schöne ist, daß sich diese zunächst theoretisch-abstrakten Überlegun­ gen auch auf einer praktisch-politischen Ebene verifizieren (oder doch zu­ mindest illustrieren) lassen, auf der Ebene der Fraktionsbildungen und Par­ teiformationen nämlich. D er Prozeß der ›Zerbröckelung‹ der liberalen Par­ tei(en), wie Sheehan es bezeichnet hat, läßt sich dabei auch in Österreich verfolgen: Können wir bis zu den neunziger Jahren noch vor allem von Flügelbildungen bzw. kleineren, vor allem aber ephemeren Abspaltungen von einer einheitlichen, zum Teil sogar nicht-deutsche Spurenelemente umfassenden liberalen ›Partei‹ (Vereinigte Linke, Vereinigte D eutsche Lin­ ke) sprechen, so haben wir es ab Mitte der neunziger Jahre mit einander zum Teil heftig befehdenden, eigenständigen Parteien und Fraktionen zu tun. Es besteht jedoch Grund zur Annahme, daß es sich auch dabei um ein Über­ gangsstadium handelt, das nach Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts 1907 wiederum in eine Phase größerer Kohäsion und Koopera­ tion mündete - wie sie in der Schaffung eines parlamentarischen D achver­ bandes augenfällig wird, mehr noch aber vielleicht in der Schaffung natio­ nalliberaler ›Einheitsparteien‹ auf regionaler Ebene in den meisten Kronlän­ dern (mit Ausnahme Wiens und der sudetendeutschen Gebiete). Der ›rcchtc‹ Flügel dieses Spektrums - ›rechts‹ eben im Sinne der öster­ reichischen Sprachregelung, orientiert an der Sitzordnung im Reichsrat, wo vor allem einmal die Slawen rechts, die Deutschen links saßen - war latent gouvernmental, umfaßte den ›verfasssungstrcuen Großgrundbesitz‹6 und war eine Stütze der schutzzöllnerischen Industrie - somit alle, cum grano salis, freikonservativen Elemente des österreichischen Liberalismus. Ihr Credo hingegen war national versöhnlich (wenn auch zuweilen gerade auf Grund ihres ungebrochenen - und noch nicht wie bei den Radikalen von diversen Befürchtungen überlagerten - nationalen Selbstbewußtseins, das für die Deutschen im Zuge ihres Führungsanspruchs auch ein gewisses Maß an noblesse oblige implizierte); sozial reformatorisch mit gewissen Vorbe­ halten bis hin zu einer recht guten Gesprächsbasis zur Sozialdemokratie 165 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

(auch hier ein Unterschied zu den kämpferischen »Mittelständlern« des ›linken‹ Flügels, wie sie das österreichische Kurienwahlrecht in Reinkultur produzierte); unverbrüchlich verfassungstreu, d. h. allen Experimenten mit Obstruktion und autoritärem Regiment abgeneigt. Nach dem Bruch der neunziger Jahre setzten sich ihre Traditionen in der Deutschen Fortschrittspartei fort.7 Ihr elitärer Hintergrund verdammte sie zu einem Dasein als General­ stab ohne Armee. Rückhalt fand sie nach der Jahrhundertwende vor allem noch bei drei Gruppen: wohl immer noch dem Großteil der Industrie; den Deutschen in der Diaspora (v. a. Prag, Mähren, Ostschlesien), die meist per definitionem ein sozial gehobenes Milieu repräsentierten; und dem jüdi­ schen Bürgertum, als am wenigsten antisemitisch angehauchte nicht-sozia­ listische Gruppierung. Der ›linke‹ Flügel des nationalliberalen Spektrums war noch von antifeu­ dalen Ressentiments geprägt, war über die Dominanz des nationalen Ele­ ments stärker dem Gedanken der Volkssouveränität, zum Teil auch demo­ kratisch-egalitären Vorstellungen, zumindest aber volkstümlich-populisti­ schem Vorgehen verbunden; er hegte freihändlerische Sympathien (die er­ sten Industriellen, die auf Gruppierungen des äußersten linken Flügels setz­ ten, waren die exportorientierten Leinenweber!), bekämpfte Kartelle und trat die längste Zeit für die Verstaatlichung der Eisenbahngesellschaften ein. Unübersehbar waren andererseits die unangefochtene Priorität nationaler Interessen vor liberalen Prinzipien und ein grassierender Antisemitismus. Kristallisationskern der Parteien des linken Flügels waren die erste und zweite Generation von Burschenschaftern in Österreich. Die große Wasserscheide des Parteienspektrums in Österreich - und das gilt nicht nur für den Bereich der Deutschfreiheitlichen - waren die neunzi­ ger Jahre. (Und es soll ausdrücklich hervorgehoben werden, daß dieser Umschwung nicht von einer Wahlrechtsreform ausgelöst wurde, sondern ihr voranging!) Man war in diesem Zusammenhang oft versucht, überhaupt vom Ende des Liberalismus als parteipolitischem Phänomen zu sprechen und eine scharfe Trennungslinie zwischen den sog. ›Altliberalcn‹ und den ›Dcutschnationalen‹ der nachfolgenden Epoche zu ziehen. D as mag plausi­ bel erscheinen, was weltanschauliche Grundierung und parlamentarische Rhetorik betrifft (insbesondere wiederum in der Frage des Antisemitis­ mus). 8 Auf lokaler Ebene — Kommunen und Wahlkreise - existiert jedoch eine Fülle von Hinweisen und Belegen, daß die Annahme eines solchen Bruchs an der gesellschaftlichen Realität weitgehend vorbeigeht. D ie libera­ len Führungsschichten verschmolzen nach einer meist nur sehr kurzen Phase der Konkurrenz mit ihren deutschnationalen Gegenspielern; wie im Reich war es insbesondere auch die Beibehaltung des Kurienwahlrechts auf Län­ der-und Gemeindeebene, die zur Herausbildung von »Bürgermeisterpartei­ en« führte - auch hier überwiegen eindeutig die Elemente der Kontinuität. Was sich in den neunziger Jahren vollzog, war allerdings eine ganz ent­ schiedene Schwerpunktverlagerung vom ›rechten‹ auf den ›linken‹ Flügel 166 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

des deutschfreiheitlichen Spektrums, die u. a. sowohl Züge eines ›Gcnera­ tionenkonflikts‹ (hier liegt auch die Bedeutung der Burschenschaften) als auch eines Aufstandes der Peripherie gegen die Metropole trägt. Waren bisher die Gruppierungen des äußersten linken Flügels wie der alldeutsch­ antisemitische ›Deutschnationale Verband‹ Schönerers oder die mittelständ­ lerische ›D cutschnationale Vereinigung‹ in eine Außenseiterrolle gedrängt worden, so galt das nunmehr für den ›verfassungstreuen Großgrundbesitz‹ oder die Fortschrittspartei. Zur Standardpartei des deutschfreiheitlichen Lagers entwickelten sich nach der Jahrhundertwende für den Großteil des deutschen Sprachraumes die D eutsche Volkspartei (hervorgegangen aus der ›Deutschnationalcn Vercinigung‹); nur in Böhmen und im geschlossenen deutschen Sprachgebiet Mährens und Schlesiens (zum Unterschied von den Sprachinseln wie z. B. Brünn) übernahm diese Rolle die Deutschradikale oder Freialldeutsche Partei des Volkstribunen Karl Hermann Wolf, die ein Janusge­ sicht aufwies: Zunehmend pragmatisch agierende bürgerliche Mehrheits­ partei in ihren Hochburgen einerseits, über eine auf ganz Österreich ausge­ dehnte kleine, aber radikale und gutorganisierte Anhängerschaft in der Tradition Schönerers aber gleichzeitig ein sorgsam in Bereitschaft gehalte­ ner Stachel im Fleisch der übrigen deutschfreiheitlichen Gruppierungen, zu deren größter, aber auch weiterhin politisch merkwürdig diffuser Fraktion sich beinahe über Nacht (1905/07) die ›D eutsche Agrarpartei‹ entwickelte, zusammengesetzt aus ehemaligen Mitgliedern aller anderen deutschfreiheit­ lichen Gruppierungen.9 Hervorzuheben ist abschließend, wie vergleichsweise kohärent - gerade im Vergleich zur reichsdeutschen Szenerie - das deutschfreiheitliche bzw. nationalliberale ›Lagcr‹ in Österreich war — und das eben rechtfertigt den Gebrauch dieser spezifischen Bezeichnung ›Lagcr‹. Mit Ausnahme Wiens das in vieler Beziehung eine Ausnahme darstellt - verschoben sich die Demarkationslinien zwischen ›Klerikalen‹ und ›Freiheitlichen‹ auch infolge der Turbulenzen der neunziger Jahre nur minimal. Fließende Übergänge­ die bei Wahlen zu überraschenden Ausschlägen des Pendels fuhren konnten, wie z. B. zwischen Fortschrittlichen und Konservativen in Ostelbien - gab es in politisch signifikantem Ausmaß kaum. D ie primär nach sozioökono­ mischen Kriterien differenzierte Parteienlandschaft des deutschen Nordens unterschied sich hier grundlegend von der weltanschaulich-kulturkämpfe­ risch geprägten des katholischen Südens: Man konnte offenbar gemäßigt schutzzöllnerisch sein oder abwechselnd für oder gegen die Regierung stim­ men, nicht aber ein wenig klerikal oder ein wenig schwanger. D as antikleri­ kale Element war für die D eutschfreiheitlichen auch taktisch von großer Bedeutung, weil es ihnen die Kooperationsbereitschaft der Sozialdemokra­ ten im Ernstfall nahezu garantierte-Querverbindungen bestanden hier über Vereine wie ›Frcic Schulc‹ oder selbst die ›Los von Rom‹-Bcwcgung Schöne­ rers. Erst in den Jahren unmittelbar vor dem Weltkrieg sind Versuche von katholischer wie sozialistischer Seite zu verzeichnen, den Stichwahlbonus 167 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

der D eutschfreiheitlichen durch Einführung des Verhältniswahlrechts zu beseitigen, die bereits auf die Anfangsphase der Republik verweisen. D ie weltanschaulich motivierte Langmut der Sozialdemokraten ist dabei umso erstaunlicher, als sich die Bündnissituation in wahltaktischer Hinsicht prak­ tisch nirgendwo in einer Art ›Großblockpolitik‹ auf politisch-parlamentari­ scher Ebene fortsetzte. (Im Reichsrat dominierte eine informelle Koalition von ›Arbeitsparteien‹, zusammengesetzt aus katholischen und freiheitlichen Deutschbürgerlichen sowie Polnisch-Konservativen, letztere vielleicht das eigentliche Pendant zu den Ostelbiern im Rahmen der österreichischen Politik.)

V. Schlußbemerkung: Volk und Staat, Partei und Verfassung Das Deutsche Reich und die österreichisch-ungarische Monarchie waren die beiden hervorragendsten Beispiele für den Bestand konstitutioneller Mo­ narchien, die mehr waren als nur ein Übergangsstadium, deutlich unter­ schieden sowohl vom absolutistischen Regiment als auch von parlamentari­ sierten Regierungsformen. D ie Parlamentarisierung war dabei in der unga­ rischen Reichshälfte weiter vorangeschritten, in Österreich war sie seit den neunziger Jahren zweifellos rückläufig. D as hing mit der Verschärfung der nationalen Konflikte im Zuge der nationalen Emanzipation der Westslawen ebenso zusammen wie mit der »Zerbröckelung« des Parteiensystems; beides ließ tragfähige Mehrheiten immer schwieriger zustande kommen. Für beide Reichshälften gilt jedoch, daß jene Belange, um deren mangelnde Kontrolle am reichsdeutschen Beispiel am heftigsten gestritten wurde, Außen- und Militärpolitik, auf dem Weg über das Instrument der D elegationen in der Habsburgermonarchie von vornherein einer bloßen Scheinkontrolle unter­ worfen waren, welche die monarchischen Prärogative de facto unberührt ließ. D ie sich verschärfenden nationalen Konflikte führten allerdings auf seiten gerade des am wenigsten gouvernmentalen, linken Flügels der Deutschfreiheitlichen, nämlich bei Otto Steinwender und seiner Deutschen Volkspartei, nicht bloß zur faktischen Hinnahme, sondern zur programma­ tischen Bejahung des wesentlichsten Elements der konstitutionellen Regie­ rungspraxis - der Nichtübereinstimmung von Kabinett und Kammer (bzw. deren Mehrheit). In einem nach nationalen Kriterien zerklüfteten Abgeord­ netenhaus könne kein parlamentarisches Wechselspiel von Regierung und Opposition stattfinden; und keine Nation könne eine Regierung ihrer natio­ nalen Gegner auf die Dauer hinnehmen; die Regierung müsse folglich über den Parteien stehen, deren Aufgabe es sei, streng über ihre (primär nationale) Unparteilichkeit zu wachen. D er - bis zu den achtziger Jahren auch durch parlamentarische Majoritäten untermauerte - Führungsanspruch der Altli­ beralen war damit aufgegeben, die Distanz von Volk und Staat zum Prinzip 168 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

erhoben. Ob diese Form der Kontrolle ›von außen‹ hinreichend sein konnte, war allerdings die Frage. Niemand würde es einfallen, die österreichisch-ungarische Monarchie als bonapartistische D iktatur zu bezeichnen; das älteste europäische Kaiserhaus war über derlei schmeichelnde Beifügungen erhaben. D as Substantiv traf selbstverständlich vielfach zu - man erinnert sich an das Wort von der ›Tyrannei, gemildert durch Schlamperei‹. D iese Tyrannei, genauer gesagt: die seit der Jahrhundertwende nahezu routinemäßig einsetzenden Perioden quasi-absolutistischen Regierens mit Hilfe des Notverordnungsparagra­ phen (§ 14), 10 waren jedoch zum Teil - und darin liegt auch ihre ›Schlampe­ rei‹, ihr vielfach als harmlos betrachteter Charakter begründet - nur Teil eines komplizierten und schwer zu durchschauenden Lizits von parlamenta­ rischer Obstruktion und gouvernmentalen Notstandsmaßnahmen, das von gegenseitigem Mißtrauen, zuweilen aber - so wurde behauptet - auch von geheimem Einverständnis getragen wurde. Für das Ansehen des Parlamen­ tarismus zeitigte diese schizophrene Situation langfristig deformierende Auswirkungen: Während grundsätzliche Verfassungsinterpretationen im­ mer mehr zum politischen Kleingeld verkamen, entwickelte sich anderer­ seits die auf den ersten Blick rein technische Frage der Geschäftsordnungsre­ form zum Angelpunkt jeder tatsächlichen Weiterentwicklung der Verfas­ sung auf parlamentarischem Wege, ja zur Sicherung ihres Bestandes über­ haupt. Administrative Akte - und ihre Beeinflussung -, die normative Kraft des Faktischen wurden so zwangsläufig über kurz oder lang höher bewertet als legislative Vorhaben, deren Realisierungschancen von vornherein als minimal zu bewerten waren. Diese Verantwortungslosigkeit des Parlaments im formalen Sinne erzeugte Verantwortungslosigkeit der handelnden Perso­ nen und Parteien auch in meritorischer Hinsicht. D ie Politik der radikalen Phrase, die niemand ernst nahm, die aber - unter geänderten Umständen ­ ein schwer vorauszuberechnendes Eigenleben entfalten konnte, hat hier ­ nicht erst in der 1. Republik - ihren Ursprung. (Aus dieser speziellen öster­ reichischen Perspektive muß es allerdings erstaunen, wie maßvoll reichs­ deutsche Parlamentarier agierten, obwohl ihre Einflußmöglichkeiten auf die Reichsführung doch - angeblich - keine viel größeren waren.) D ie Politik der radikalen Phrase war jedoch weniger durch überdurchschnittlich starkes ideologisches Engagement bedingt, sondern spiegelte vielmehr einen Prag­ matismus und Relativismus wider, dem es zunehmend schwer fiel, zwi­ schen Zielen und Mitteln zu unterscheiden und dessen einziger fester Halt in einer verworrenen Situation das tatsächliche oder vermeintliche nationale Interesse war. D iese Weigerung, sich ausdrücklich zu partikularen Prinzi­ pien zu bekennen, bedeutete eine kuriose Parallele zur Problematik der frühen liberalen Verfassungsparteien: Wer mehr sein wollte als ›nur‹ Partei und jeder darüber hinausgehenden Festlegung auswich, vermochte seine ›claims‹ nicht rechtzeitig genug abzustecken und lieferte sich der Willkür der Verhältnisse aus. Situationsbedingtes Handeln ermöglichte es, im Sattel zu 169 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

bleiben, nicht aber die Richtung zu bestimmen: Zu oft folgten die öster­ reichischen D eutschfreiheitlichen der Maxime: »We are their leaders, we must follow them« - ein vom Standpunkt öffentlicher Kontrolle begrüßens­ wertes Verhalten, das der Entwicklung einer weltanschaulich fundierten Programmatik und zielgerichteten politischen Praxis jenseits des simplen Rasters - national verläßlich und klerikal unverdächtig - jedoch nicht förder­ lich war.

Anmerkungen 1 Gesamtdarstellungen zur Parteienentwicklung in der Habsburgermonarchie bzw. deren deutschen Gebieten fehlen; als geistesgeschichtliche Einführung dienen können: A. Fuchs, Geistige Strömungen in Österreich 1867-1918, Wien 1949; K. Eder, D er Liberalismus in Altösterreich. Geisteshaltung, Politik, Kultur, Wien/München 1955; G. Franz, Liberalismus. Die deutschliberale Bewegung in der Habsburgermonarchie, München 1955. Zur Haltung der Liberalen zur staatsrechtlichen Problematik vgl. E. Somogyi, Vom Zentralismus zum D ualis­ mus. D er Weg der deutsch-österreichischen Liberalen zum Ausgleich von 1867, Wiesbaden 1983. 2 Ich beziehe mich dabei insbesondere auf die D arlegungen von H. Kaelble, Industrielle Interessenpolitik in der wilhelminischen Gesellschaft. CVD I 1895-1914, Berlin 1967. 3 Zur tschechischen National-Freisinnigen Partei verfugen wir mit B. Garver, The Young Czech Party 1874-1901 and the Emergence of a Multi-Party System, New Haven 1978, über eine ausgezeichnete Darstellung. Potentiell vielleicht noch interessanter wäre ein Vergleich mit den polnischen Parteien in Galizien, wo einander in den letzten Jahren der Monarchie im städtischen Milieu die primär anti-ukrainischen (und antisemitischen) Nationaldemokraten und die primär anti-russischen und assimilationsbereiten D emokraten gegenüberstanden; zu­ mindest in westlichen Sprachen sind mir jedoch keine ausführlicheren D arstellungen bekannt. 4 Briefe und D okumente zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie unter besonderer Berücksichtigung des böhmisch-mährischen Raumes, Teil I: Der verfassungstreue Großgrundbesitz 1880-1899, hrsg. v. E. Rutkowski, München 1983, S. 713f. (Brief Szögyenys an Goluchowski, 17. 8. 1899). 5 Zum Begriff der »Lager« vgl. die klassische Einführung von A. Wandruszka, Österreichs politische Struktur, in: Geschichte der Republik Österreich, hrsg. v. H. Benedikt, Wien 1954, S. 289-485. 6 Vgl. als typischen, wenn auch vielleicht etwas überschätzten Vertreter: Joseph Maria Baernreither, Der Verfall des Habsburgerreiches und die Deutschen. Fragmente eines politischen Tagebuches 1897-1917, hrsg. v. O. Mitis, Wien 1939, und die Biographie von H. Bachmann, Joseph Maria Baernreither, Neustadt a. d. Aisch 1977; siehe auch Anm. 4 bzw.: Briefe zur deutschen Politik in Österreich von 1848 bis 1918, hrsg. v. P. Molisch, Wien 1934. 7 Vgl. D . Harrington-Müller, D er Fortschrittsklub im Abgeordnetenhaus des österreichi­ schen Reichsrates 1873-1910, Wien 1972, S. 41 ff.; Schicksalsjahre Österreichs 1908-1919. Das politische Tagebuch Josef Redlichs, 2 Bde., hrsg. v. F. Fellner, Graz 1953. Für eine Wiener Sonderentwicklung vgl. E. Holleis, Die Sozialpolitische Partei, München 1978. 8 D ie Literatur zu diesem Thema ist nahezu unerschöpflich. Festzuhalten wäre der Punkt, daß Schönerers Rassenantisemitismus noch nicht notwendigerweise Ausdruck einer biologisti­ schen Weitsicht war, sondern der Schwierigkeit entsprang, eine laizistische D efinition von Judentum zu bekommen. Die Debatte zwischen Antisemiten und Anti-Antisemiten drehte sich zunächst also rein um die Frage, ob D eutsche aus jüdischen Familien noch als D eutsche zu

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betrachten seien; die Ausgrenzungsbemühungen trafen sich auf der anderen Seite mit Bestre­ bungen, eine separate jüdische Nationalität reichsrechtlich zu verankern (die jedoch scheiterten, vgl. G. Stourzh, Galten die Juden als Nationalität Altösterreichs?, in: Studia Judaica Austriaca 10, Eisenstadt 1984, S. 73-117). Wie weit die im Anschluß an eine solche »Ausgrenzung« angepeilten Maßnahmen einfach den Stereotypen des Nationalitätenkampfes entsprachen oder eine besondere Qualität erreichten, ist bislang zu wenig herausgearbeitet worden. 9 D en besten Überblick bietet nach wie vor P. Molisch, Geschichte der deutschnationalen Bewegung in Österreich von den Anfängen bis zum Zerfall der Monarchie, Jena 1926. D er Verf. bereitet eine Monographie zu diesem Thema vor. 10 Vgl. dazu jetzt: G. Hasiba, D as Notverordnungsrecht in Österreich (1848-1917), Wien 1985.

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CHRISTOF D IPPER

Adelsliberalismus in Deutschland

I. Wer von »Adelsliberalismus« spricht, setzt dieses Stichwort gemeinhin in Anführungszeichen. Es erscheint jedenfalls aus unserer gegenwärtigen Per­ spektive der deutschen Geschichte und namentlich der Rolle der Junker in ihr, aber auch im Hinblick auf die Entwicklung, die der Liberalismus bis heute genommen hat, vollkommen abwegig, nach einem Adelsliberalismus in unserer Vergangenheit zu suchen. Weil dies im Ausland anders ist, rechtfertigte sich Heinz Gollwitzer, als er auf den liberalen deutschen Hochadel zu sprechen kam, mit der Feststellung, »die Geschichte jedes europäischen Landes kennt die Gestalt des liberalen Aristokraten«.1 Wer sich davon überzeugen ließ und diese erste Hürde übersprang, stand freilich alsbald vor einer zweiten, die terminologischer Art war. D enn die enge Bindung, die Liberalismus und bürgerliche Bewe­ gung in D eutschland eingegangen sind, ließ die Historiker gewissermaßen instinktiv davor zurückschrecken, auf den von ihnen geschilderten Sachver­ halt ohne weiteres das Attribut ›liberal‹ anzuwenden. Gollwitzer griff daher den wohl von Hermann Oncken 1909 geprägten Begriff der »deutschen Whigs« auf,2 wie es vor ihm bereits Heinrich Heffter getan hatte;3 Heffter hatte allerdings auch noch von den »ostpreußischen Whigs« gesprochen4 und mit dieser doppelten Verwendung noch deutlicher auf die Schwierigkei­ ten hingewiesen, die sich den deutschen Historikern schon bei der Wahl der Begriffe entgegenstellen. Obwohl es sich um »Ausnahmen von der reaktio­ nären Regel des Junkertums« gehandelt habe, vermied es Heffter, von ›Liberalismus‹ zu sprechen; vielmehr habe es sich um einen Fall »aristokra­ tisch-ständischen Reformertums nach der Art Steins« gehandelt.5 Und auch Gollwitzer sprach vorsichtig davon, daß seine Protagonisten »in voller Wahrung ihrer grandseigneuralen Stellung liberalen Gedanken aufgeschlos­ sen waren und einer maßvoll fortschrittlichen Politik ihre Unterstützung nicht versagten«.6 Ob die hier apostrophierten Adligen tatsächlich als »Whigs« bezeichnet werden können, ja ob »Whiggism« überhaupt eine sinnvolle Umschreibung für das abgibt, was gemeinhin als ›deutschcr Liberalismus‹ bezeichnet wird, sei hier einstweilen dahingestellt. Statt dessen sollen zunächst einmal, gewis172

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sermaßen als Gegenprobe, ganz pragmatisch liberale Führungspersönlich­ keiten auf ihre soziale Position hin befragt werden. Jede Auswahl ist natür­ lich problematisch, aber es besteht wohl Einigkeit darüber, daß zu den Repräsentanten des Liberalismus im 19. Jahrhundert Männer zählen wie Rotteck und Welckcr, D ahlmann und Droysen, Gagern und Mohl, Baum­ garten und Treitschke, Forckenbeck und Hoverbeck, Lasker und Naumann, Bennigsen und Miquel. Es ist nun sicherlich Zufall, daß von diesen vierzehn Personen nicht weniger als acht ein Adelsprädikat besaßen, aber daß selbst in der vordersten Front liberaler Politiker Altadlige oder Nobiliticrte zu finden waren, ist als solches nicht zu bestreiten. Und wenn für einige Wochen im Spätsommer 1848 mit Heinrich von Gagern ein Nachfahre der Reichsritter­ schaft Präsident der Nationalversammlung, mit Fürst Karl von Leinigen ein Standesherr Reichsministerpräsident und mit Erzherzog Johann ein Habs­ burger Reichsverweser war, so besagt dies zwar wenig über die Haltung des deutschen Adels gegenüber der Revolution, um so mehr jedoch über die Haltung der Liberalen gegenüber dem Adel. Diese haben ja, sehr im Gegensatz zu den Radikalen, zu keiner Zeit eine grundsätzlich antinobilitaristische Position vertreten. Vielmehr betonten sie, hierin an die Spätaufklärung anschließend, daß der Adel als Stand samt seinen Privilegien als historische Erscheinung dem positiven Recht unterlie­ ge und insofern widerruflich sei; sie wollten von dieser Erkenntnis aber nur zum Zwecke einer Adelsreform Gebrauch machen, die sich am englischen Vorbild einer erblichen Grundbesitzeranstokratie mit politischen Vorrech­ ten ausrichten sollte. Von Rotteck und Welckcr fuhrt dieser an sich schon ältere Gedanke über Rochau zu Treitschke und Baumgarten, und noch Max Weber unterschied in seinen heftigen Attacken auf die preußische Fideikom­ mißgesetzgebungen zwischen der ihren historischen Auftrag vergessenden Rentiergesinnung der bürgerlichen »Parvenu-Fideikommißbesitzer« und den historisch begründeten Privilegien des Adels.7 Wenn man nun diejenigen Persönlichkeiten, die etwa Gollwitzer oder Heffter als »Whigs« bezeichneten, mit den hier genannten liberalen Reprä­ sentanten vergleicht, ist offenkundig, daß beide kaum etwas miteinander zu tun haben. Von wenigen Grenzfällen einmal abgesehen, waren die einen Gutsbesitzer, ja »Unterlandesherren«, die anderen Juristen, Historiker, Theologen, und zwar mit einem, je später desto deutlicheren Trend zum Berufspolitiker, der keinen Spielraum für genuin adlige Mentalitäten bot. Dieser Umstand erklärt, warum Gollwitzers »deutsche Whigs« in Shechans Liberalismusdarstellung fehlen und umgekehrt. Zugleich ist nun klar, wel­ che Kreise untersucht werden müssen, wenn man sich fur Adelsliberalismus interessiert: es sind dies die mit einem Prädikat ausgestatteten Großlandwir­ te, Fideikommißbesitzer und Majoratsherren, kurz, der grundbesitzende Adel. D iese Zuordnung hat auch den Vorteil, dem Zeitverständnis Rech­ nung zu tragen, das diese Klasse meinte, wenn es vom »wahren Adel« sprach. Auch so ist sie noch heterogen genug. Sie reicht vom kleinadeligen 173 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Inhaber eines Hofgutes bis zum Fürsten von Hohenlohe-Öhringen, der zu Anfang des 20. Jahrhunderts einer Familienstiftung von 48000ha vorstand und darin nur noch von Angehörigen des Hauses Hohenzollern übertroffen wurde. 8 Andererseits handelt es sich um eine überschaubare Gruppe: in Preußen gab es 1811, wenn man von Posen absieht, ca. 4700 adelige Ritter­ gutsbesitzer,9 1888 waren es in sämtlichen Provinzen noch 3600;10 1925, als erstmals eine sichere Erhebung stattfand, zählte man im D eutschen Reich 4686 adelige Gutsbesitzer.11 Um innerhalb dieser Personengruppe die Träger des Adelsliberalismus auszumachen, bedarf es nun aber endlich einer methodischen Vorentschei­ dung, was mit diesem Begriff gemeint ist. Sie hat natürlich mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen, denen alle D efinitionsversuche des Liberalis­ mus namentlich vor seiner parteiorganisatorischen Faßbarkeit ausgesetzt sind. Versteht man diesen als handelnde Bewegung und nicht als politisches Programm mit wechselnder Anhängerschaft, so bleiben die nur gesinnungs­ mäßig erkennbaren Personen ausgeklammert; ›liberale D enkungsart‹ war im 19. Jahrhundert schließlich kein Monopol des Liberalismus. D er liberale Adlige als Einzelfall kommt daher hier nicht in Betracht.12 In diesem Sinne haben sich freilich nicht wenige Adlige ausdrücklich als Liberale bezeichnet. Ein Beispiel dafür ist Ernst von Bülow-Cummerow, der 1821 den »un­ glücklichen Namen-Krieg« beklagte, »während die Parteien unter sich gar nicht oder wenig verschieden sind. Wenn Liberale soviel heißen soll, als Männer, die nicht mit Vorurteilen an das Alte, als solches, kleben, die einsehen, daß alle Einrichtungen in der Zeit fortgehen müssen, wenn sie nicht veralten sollen, die eingestehen, daß das, was im 14. und 15. Jahrhun­ dert gut war, jetzt veraltet sein kann, die wünschen, daß eine Verfassung bestehe, die alle Bürger, soviel es der Natur der Gesellschaft nach möglich ist, gleich macht vor dem Gesetz, die der Person und dem Eigentum Schutz gewährt, die den Ständen des Reichs, d. h. den Repräsentanten des Grund und Bodens, das Recht einräumt, die Steuern zu bewilligen und die Gesetze zu beraten, übrigens aber den Thron in Würden und Macht ungeschwächt erhält, so glaube ich, daß die Zahl der Liberalen sehr groß ist, und daß der König selbst, der Kanzler und der große Adel zu den Liberalen gehören«.13 In der Tat konnte sogar Friedrich Wilhelm IV. deshalb fur liberal gehalten werden, nur weil der Monarch sich momentan für die Einberufung preußi­ scher Generalstände erwärmte.14 Selbst bloße Bürokratiekritik konnte in den 40er Jahren für liberal gehalten werden, wie sich Bismarck später erinnerte. »Ich wurde zur Kritik geneigt, also liberal in dem Sinne, in welchem man das Wort damals in Kreise von Gutsbesitzern anwandte zur Bezeichnung der Unzufriedenheit mit der Bürokratie, die ihrerseits in der Mehrzahl ihrer Glieder liberaler als ich war, aber in anderem Sinne«.15 Ausgeklammert sind erst recht natürlich alle adeligen Frondeure, die sich im 19. Jahrhundert gerne liberaler Argumentationsfiguren bedienten. Sie verlangten nicht nur Repräsentation, Steuerbewilligungs- und Gesetzge174 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

bungsrecht für die Parlamente, Presse- und Vereinigungsfreiheit oder be­ dienten sich, sofern bereits vorhanden, dieser Errungenschaften zur Durch­ setzung ständischer Sonderinteressen. Selbst der Gedanke der parlamentari­ schen Ministerverantwortlichkeit war diesem Adel nicht fremd, solange diese Forderung der Steigerung seines Einflusses diente und tatsächlich waren es ja die französischen »Ultras« in der »Chambre introuvable«, die damit die gemäßigte Regierung auf ihr antiliberales Programm verpflichten wollten. In D eutschland reichen die Beispiele solcher Anleihen von den entsprechenden Plänen der Reichsritterschaft vor dem Wiener Kongreß über das Zusammengehen der schwäbischen Standesherren mit der altwürttem­ bergischen Ehrbarkeit in den Verfassungskämpfen zwischen 1815 und 1819 bis zu den Verwahrungen, die die D eputierten brandenburgischer Ritter­ schaften gegen die Reformpolitik Hardenbergs einlegten.16 Von Adelsliberalismus kann demgegenüber gesprochen werden, wenn eine bestimmte regional oder sozial faßbare Gruppe zur Verfassungsbewe­ gung wird; der Wunsch nach Befreiung von Wirtschaft und Gesellschaft aus den überlieferten ständischen Bindungen allein reicht noch nicht aus. Dem­ gegenüber gehörte die Parole der nationalen Einheit in Deutschland vor den 1860er Jahren unbedingt zum Repertoire des Liberalismus, wenn man von den Demokraten absieht. Diese Abgrenzung bietet den doppelten Vorteil, daß sie nicht nur die Vergleichbarkeit des Adelsliberalismus im europäischen Rahmen erlaubt, auf die abschließend eingegangen wird, sondern auch den damals herrschen­ den Rahmenbedingungen Rechnung trägt. D enn die Zweiteilung der deut­ schen Agrarverfassung und die nicht minder großen sozialen D istanzen innerhalb der Aristokratie selbst sowie endlich die mannigfachen Verfas­ sungsiagen und Traditionen machen eine einheitliche politische Ausrichtung des gesamten grundbesitzenden Adels von vornherein unwahrscheinlich.

II. Für die Feststellung der politischen Ausrichtung verspricht der Blick in die Volksvertretungen die sichersten Ergebnisse. D er Nachteil ist freilich, daß auf diese Weise nur die Abgeordneten selbst erfaßt werden. D ie bloße Tatsache, daß adelige Gutsbesitzer in den Volksvertretungen aller deutschen Staaten saßen, besagt natürlich noch nichts über die in Frage stehende Affinität zwischen Adel und Liberalismus. Vor 1848 gehörten sie den Land­ tagen ohnedies in ihrer Eigenschaft als Standes- oder Grundherren an, wobei in Süddeutschland einschließlich Nassau adelige Geburt sogar die Zulas­ sungsvoraussetzung war, 17 was die Wahrnehmung gesamtgesellschaftlicher Interessen durch diese Gruppe eher verhindert hat. Mit der Revolution änderte sich dieser Tatbestand grundlegend, da das freie Mandat den Adel 175 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

seiner bislang privilegierten Stellung beraubte. Zwar blieb er dank Einfluß, Prestige und auch Sachverstand nach wie vor in einem überraschend hohen Ausmaß präsent, doch sank die Zahl adeliger Grundbesitzer in den Parla­ menten geradezu dramatisch: in der Frankfurter Nationalversammlung wa­ ren es gerade noch 28 (oder 5% aller Abgeordneten einschließlich der Nachrücker), 18 in der Berliner Institution gleichen Namens immerhin 40 (entsprechend 10%). 19 Erst die Reichsgründung unter Bismarcks Führung ließ ihre Präsenz wieder deutlich ansteigen: im Konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes saßen 74 (entsprechend 25% - die insgesamt 130 Adeligen machten jedoch nicht weniger als 44% aller Abgeordneten aus), in der ersten Legislaturperiode des D eutschen Reichstags sogar 108 (entsprechend 28%), in der 1890 gewählten 8. Legislatur waren es immer noch 91 (entsprechend 23%). 2 0 Faßt man nun die parteipolitische Ausrichtung ins Auge, so zeigt sich eine auffallend große Bandbreite beim Adel insgesamt, die vielleicht bei den adeligen Gutsbesitzern noch mehr überrascht. Vertreter dieser aristokrati­ schen Kerngruppe waren in der Frankfurter Nationalversammlung bei allen vier politischen Richtungen zu finden, obgleich natürlich das Schwerge­ wicht bei der rechten Mitte und der Rechten lag. Tab. 1: Der Adel in der Frankfurter Nationalversammlung21 Fraktionen Café Milani Casino Landsberg Württemb. Hof Augsburger Hof Westendhall Deutscher Hof Donnersberg fraktionslos insgesamt

Stärke im Okt. 1848

eingeschriebene adl. Mitglieder

40 122 40 40 40 40 45 40 ?

24 36 8 8 9 2 2 2 53 145

%

nur adl. Grund­ besitzer

%

7 9 2 2 1 1 6 28

18 7 5 5 3 3 7

60 30 20 20 23 5 4 5 17,6

Auch im Norddeutschen Bund und im Kaiserreich verteilte sich der Grundadel auf alle Fraktionen, wenn man von der Sozialdemokratie absieht. Die folgende Übersicht verdeutlicht diesen Sachverhalt. Neben der Bandbreite als solcher zeichnet sich die ganz unterschiedliche Rolle der adeligen Gutsbesitzer innerhalb der einzelnen Fraktionen ab. Die Polen waren in dieser Zeit durchweg ein mehr oder minder exklusiver Adelsclub, was angesichts der damaligen Trägerschicht der polnischen Na­ tionalbewegung kaum überrascht. Bei den Konservativen blieb der Anteil des Grundadels kontinuierlich hoch. D agegen fällt der Rückgang bei den 176 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Tab. 2: Der grundbesitzende Adel im Norddeutschen und Deutschen Reichstag22 1867 Mandate %

Fraktionen Konservative Freikonservative/Reichspartei Altliberale Nationalliberale Freie Vereinigung Fortschritt Bundesstaatl. Konstit./Zentrum, Weifen Polen fraktionslos insgesamt

1871 Mandate %

1890 Mandate %

32 20 1 3 1 -

54 51 4 4 7 -

37 29 6 1

65 78 5 2

35 4 2 2

48 20 5 3

8 7 2 74

44 54 25

20 12 3 108

29 92 28

30 13 5 91

26 81 23

Freikonservativen, die nach 1871 auf nationaler Ebene als Reichspartei fir­ mierten, sofort ins Auge. Was nicht aus diesen Zahlen hervorgeht, ist die Tatsache, daß Konservative und Reichspartei zwei sehr unterschiedliche Adelsgruppen repräsentierten. Während erstere als Partei der Junker galten und dementsprechend ihren Schwerpunkt in den preußischen Kernlanden hatten, konstituierten sich letztere 1867 gerade in der Absicht der Distanzie­ rung von jenen. Schlesische Magnaten und-ab 1871 -süddeutsche Standes­ herren, die das Selbstverständnis der Freikonservativen anfangs in besonde­ rem Maße prägten, waren der Ansicht, gerade der Adel müsse das stecken­ gebliebene Reformwerk aufgreifen und im Parlament durchsetzen.23 Als sich die Freikonservativen formierten, lag die große Zeit des ostpreu­ ßischen Adelsliberalismus bereits seit längerem zurück; nach der Reichs­ gründung hielten, ausweislich der Mandatsverteilung im Reichstag, nur noch zwei Mitglieder der Familie von Saucken sowie Freiherr von Hover­ beck die Tradition lebendig, sie saßen nunmehr aber sogar bei der Linken. Viele Versuche sind unternommen worden, dieses Phänomen zu erklären. Die Historiker des 19. Jahrhunderts führten ihn auf die außenpolitische Gefährdung der Provinz zurück, was die dortigen Eliten für die nationale Einheit und damit unvermeidlicherweise auch für die Programmatik der Liberalen empfänglich gemacht habe. Kehr sprach vor allem das Freihan­ delsmotiv als maßgeblichen Grund für eine insgesamt liberale Haltung an, Schuppan macht noch deutlicher die agrarkapitalistische Interessenlage zu ihrer Ursache.24 Rothfels schließlich und nach ihm Heffter und Hubatsch sehen im unmittelbaren Erleben der Stein' schen Reformen, die entscheidend von Ostpreußen geprägt worden sind, den Grund.25 Man hat dabei oft übersehen, daß es den ostpreußischen Adelsliberalismus eigentlich gar nicht gab bzw. daß er sich im Laufe der Jahrzehnte fortentwickelt hat und daß dieser Wandel nicht von allen mitgemacht worden ist. Es wird auch meist 177 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

verschwiegen, daß die liberalen Exponenten innerhalb ihrer Standesgenos­ sen vielfach in der Minderheit geblieben sind, wie selbst der berühmte Huldigungslandtag von 1840 zeigt, vorausgesetzt allerdings, man schaut hinter die Kulissen. Theodor von Schön, der gemeinhin als Aushängeschild dieses Liberalis­ mus gilt, blieb im Grunde lebenslang den Gedanken des Freiherrn vom Stein verpflichtet: neuständische Repräsentation mit erheblichen Selbstverwal­ tungsbefugnissen, um den verhaßten Beamtenstaat abbauen zu können, und freie Entfaltung der Kräfte im sozialen Bereich; den Nationalstaat lehnte er ab, eine geschriebene Verfassung schien ihm unter Hinweis auf England minder wichtig. D as englische Vorbild war damals natürlich in aller Munde, aber Schön vermochte sich nie von der Montesquieu'schen Perspektive zu trennen und verkannte darum vollständig die Entwicklung des parlamenta­ rischen Systems von Westminster gerade im frühen 19. Jahrhundert. D en Ereignissen von 1848 begegnete er vollkommen verständnislos: als Alters­ präsident der Berliner Nationalversammlung versagte er, die Frankfurter Nationalversammlung war ihm »Ungeheuer« und »Mißgeburt«, an der die »Herren Gagern und Vincke« seiner Meinung nach die Hauptschuld tru­ gen.26 Ganz anders dachten die Repräsentanten des ostpreußischen Adelslibera­ lismus. Seine Ausgangslage war der auf allen Landtagen vorgetragene Wunsch nach einer den ostpreußischen Problemen Rechnung tragenden Reformpolitik. D iese sah zunächst lediglich die verstärkte Mitwirkung der städtischen und dörflichen Führungsschichten vor und beschränkte sich darum auf die Bitte um erweiterte Repräsentanz der Städte und Erlaß einer Landgemeindordnung, die auch die Abschaffung der kostspieligen und seit den Agrarreformen überflüssig gewordenen Patrimonialgerichtsbarkeit mit sich bringen sollte. Die Verfassungsfrage stellte sich erst beim Huldigungs­ landtag 1840, doch die damals beschlossene Bitte um »die Aufrechterhal­ tung und Vollendung der im landesfürstlichen Vertrauen durch die hohe Weisheit Allerhöchst dero erhabenen Herrn Vaters Majestät neu gegründe­ ten verfassungsmäßigen Vertretung des Landes«27 blieb noch hinter den zeitgenössischen Verfassungsvorstellungen der west- und süddeutschen Li­ beralen zurück, insofern sie die bereits bestehenden Provinzialstände zum Ausgangspunkt der Erweiterung machen wollte und also gerade kein mo­ dernes Parlament meinte.28 Die beständigen Vetos Friedrich Wilhelms IV. spalteten dann jedoch den ostpreußischen Ritterstand in »die Partei des alten Adels«, »die den inneren Frieden im Lande« bedrohe, und in den »wahren Adel«, der als einziger »dem Throne eine wahre Stütze« sei, weil er den sozialen Wandel akzeptiere. »Jetzt, wo kontraktliche Verhältnisse überall in [!] Stelle der hausväterlichen getreten, gesetzliche Bestimmungen alles geordnet und die Menschen über­ all zum Bewußtsein ihrer Rechte geführt haben«, wie Ernst von Saucken­ Tarputschen dem König auseinandersetzte, gerate selbst die Monarchie in 178 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Gefahr, wenn sie ebensowenig »die Zeit mit ihrer Forderung« erkenne.29 Von Jahr zu Jahr nahm dieser Adelsliberalismus nun konkretere Gestalt an. »Gleichheit vor dem Gesetz, gleiche Rechte bei gleichen Pflichten für jeden Staatsbürger, Preßfreiheit und volle Öffentlichkeit sind die sichersten Grundlagen zum fortschreitenden Gedeihen des Staates und Volkswohles«, notierte sich v. Saucken-Tarputschen 1847 als Maxime und wurde prompt beschuldigt, »voll demokratischen Geistes« zu sein.30 D ie Konstitutionali­ sierung Preußens verlangte er 1845 zur Lösung der sozialen Frage und 1847 auf dem Ersten Vereinigten Landtag im Interesse der Aussöhnung von König und Volk. D araufhin stieß er mit Bismarck zusammen, der von erweiterter politischer Freiheit damals noch nichts wissen wollte. 31 Zuletzt trat zu diesem Programm noch die Idee der deutschen Einheit,32 die weiten Kreisen vollends plausibel wurde, als Anfang 1846 die Bundesbeschlüsse von 1832 auf die Provinz Preußen ausgedehnt wurden; nunmehr reichte das Echo der Landtagsreden Welckers bis nach Königsberg.33 Unter diesen Umständen ist es nur natürlich, daß man den ostpreußischen Adelsliberalismus 1848 in Frankfurt und nicht in Berlin antraf. Seine Abge­ ordneten stellten beinahe ein Drittel der ostpreußischen D eputierten über­ haupt und unterschieden sich, soweit sich dies am Abstimmungsverhalten ablesen läßt, von ihren bürgerlichen Landsleuten kaum. D ie meisten waren Mitglied der Casino-Fraktion und verbanden als solche den Einheitsgedan­ ken mit entschiedener Betonung der Grundrechte und einer gewissen Zu­ rückhaltung in der Frage der Parlamentarisierung. Sosehr sie fürchteten, daß die Republik gleichsam hinter jeder Ecke lauere, sowenig waren sie darum bereit, die klassischen Freiheitsrechte einzuschränken. D ie unentschlossene Politik Friedrich Wilhelms IV. führte nun erst recht zur Entfremdung zwi­ schen dem Monarchen und dieser Adelsfraktion. »Wäre unser König ein Mann wie Gagern«, seufzte Karl W. von Kalckstein, und von Wegnern klagte: »Keine Konsequenz, keine Wahrheit«.34 Trotzdem gab es für sie zur erbkaiserlichen Lösung keine Alternative und v. Saucken-Tarputschen setz­ te seinem Monarchen mit Bestimmtheit auseinander, warum er die ihm angetragene Krone akzeptieren müsse. D er König würdigte ihn keiner Antwort und rief stattdessen im Mai 1849 die preußischen Abgeordneten zurück, was jener als rechtswidrig bezeichnete, obwohl er Folge leistete.35 An einem Liberalismus des ostpreußischen Adels kann nach allem Gesag­ ten wohl kein Zweifel bestehen. Er müßte jedoch einerseits von den letzten Exponenten der Stein'schen Reformzeit, die am Ende zwischen allen Stüh­ len saßen, andererseits von seinen Erben, den (Sozial-)Demokraten und den Konservativen, unterschieden werden. Mit dem Wandel der politischen Verhältnisse in den 60er Jahren und vollends dann mit der Krise der ostelbi­ schen Gutsbetriebe seit den 70er Jahren war seine Zeit beendet. Schon 1852 hatte v. Saucken-Tarputschen resigniert festgestellt: »Wir müssen es einge­ stehen, es steht kein Volk mehr hinter uns«. 36 Als 1884 mit seinem Sohn Kurt der letzte Repräsentant dieses Liberalismus aus dem Reichstag aus179 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

schied, der dort - eine der ganz großen Ausnahmen - seinen Sitz bei der Fortschrittsfraktion eingenommen hatte, ging die Epoche liberaler Agrarier zu Ende. Der bis dahin jedoch vorhandene Spielraum verdankte sich einer in Deutschland seltenen Konstellation, die ihr Gegenstück tatsächlich am ehe­ sten im damaligen England besaß; hier wie dort eine vom Agrarkapitalismus profitierende und ihn tragende Schicht von Großgrundbesitzern, frei von höfischem Royalismus, stattdessen in traditionell kritischer D istanz zum Königshaus, was um so leichter fiel, als man sich vor einer allzu selbstbe­ wußten bürgerlichen Elite sicher wußte; mit dem kaufmännisch ausgerich­ teten Großbürgertum teilte man mancherlei Interessen, und die in der städ­ tearmen Provinz vergleichsweise wenigen Gebildeten vermochten das poli­ tische Monopol der Grundbesitzer einstweilen kaum zu erschüttern, wäh­ rend die Landbevölkerung einer wirksamen Sozialkontrolle unterlag. D er ostpreußische Adel hatte es auf dem Höhepunkt seiner Wirksamkeit nicht einmal unbedingt nötig, seine Interessen in eigener Person zu vertreten. Otto Ungerbühler, Abgeordneter der Kreise Mohrungen und Preußisch­ Holland, scheint in Frankfurt am kurzen Zügel der heimischen Rittergutsbe­ sitzer gegangen zu sein und wurde dafür Ende 1848 mit dem Amt eines Syndikus der Generallandschaftsdirektion in Königsberg belohnt.37 Ein deutlich anderes Gesicht erhält der Adelsliberalismus, wenn man die bereits eingangs angesprochenen »deutschen Whigs« betrachtet, d.h. die Mediatisierten, denn ihre herausgehobene gesellschaftliche Stellung und ihr bis weit ins 19. Jahrhundert hinein beibehaltener höfischer Lebensstil in den mehr oder minder abgelegenen Residenzen standen den politisch-parlamen­ tarischen Anforderungen entgegen. In die Rolle des Staatsbürgers konnten sich diese »Unterlandesherren« nur schwer einfinden und so reagierten die meisten auf die Herausforderungen des bürokratischen Absolutismus mit der erbitterten Verteidigung des Bestehenden oder aber sie resignierten. Eine Minderheit allerdings fand sich mit den neuen Verhältnissen rasch ab und hielt es für ihre Pflicht, »tätigen und einflußreichen Anteil bei der Entwicklung der deutschen Zustände zu nehmen, eine Entwicklung, die sicherlich nur im Sinne freier Institutionen vor sich gehen wird«. Sic vertrat demzufolge ein politisches Programm, das sich mit demjenigen des Libera­ lismus insoweit deckte, als sie einen Nationalstaat wünschte, in dem die Parlamente über erhebliche Rechte verfügen und den Besitz- und Bildungs­ bürgern die ihnen zukommenden Plätze im öffentlichen Leben zuteil werden sollten. Für sich selbst leitete sie daraus die Folgerung ab, durch »rechtzeitige Ablösung« einer unkontrollierten Entwicklung zuvorzukommen-wie hell­ sichtig dieser Gedanke war, sollte sich 1848 zeigen, als gerade in den standes­ herrlichen Gebieten Süddeutschlands Bauernunruhen ausbrachen - und durch eine Reform der Hocharistokratie nach englischem Muster die nötige Anpassung an die Zeit zu vollziehen; zu letzterem gehörte freilich die energi­ sche Verteidigung der bevorzugten Stellung in den Parlamenten wie beim Bundestag, einer seit 1815 unerfüllten Zusage. 180 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Fürst Karl Löwenstein, von dessen 1847 veröffentlichter D enkschrift die meisten dieser Gedanken stammen, zielte dabei auf ein Bündnis mit den bürgerlichen Eliten, das ihm unverzichtbar erschien angesichts der »Zeiten demokratischen Fortschritts, denen wir entgegengehen«. 38 D ie Vorgänge des Jahres 1848 zeigen, daß dieses Kalkül aufgegangen ist, soweit es in der Macht der Standesherren lag. D enn die aktiven Politiker unter ihnen waren bei der rechten Mitte zu finden, sofern sie sich nicht aufgrund sozialer Deklassierung und politischer D amaskuserlebnisse links davon einordne­ ten, wie dies bei den Fürsten Ludwig von Öttingen-Wallerstein und Kon­ stantin von Waldburg-Zeil der Fall war. Sie jedoch als »D emokraten« zu bezeichnen,39 scheint unzulässig - von der Titulierung des ersteren als »Fürst Proletarier« ganz zu schweigen -, da beide eine staatliche Sozialpolitik und die Republik entschieden ablehnten. Auch im persönlichen Habitus blieben beide der adligen Welt verbunden, was natürlich erst recht für die echten »Whigs« galt. Diese liberalen Hocharistokraten waren innerhalb ihres Standes immer nur eine Minderheit, neben der es eine Mehrheit von Konservativen der verschiedensten Spielarten gab. Es ist aber kein Zufall, daß sich diese Min­ derheit 1863/64 zum Sprecher aller machte und unter Hinweis auf die »zu neuem Aufschwung gelangte Reformbewegung auf dem Gebiet des deut­ schen Verfassungslebens«40 den »Verein der deutschen Standesherren« gründete, denn einerseits knüpfte sie dabei an die großdeutsche Bewegung an und andererseits übernahm sie mit diesem förmlichen Zusammenschluß den aus dem Liberalismus kommenden Assoziationsgedanken; die her­ kömmlichen Formen des Verkehrs untereinander und mit den deutschen Souveränen, die noch fast ganz dem alten Kanzleizeremoniell entsprachen, hatten sich offenkundig als mittlerweile politisch unangemessen erwiesen. Zur organisierten liberalen Bewegung sind vor 1848 nur die wenigsten dieser »Whigs« in Beziehung getreten und auch dann verhinderte die soziale Distanz, mit der sich diese Personen durchweg umgaben, meist den unmit­ telbaren Kontakt mit der Tagespolitik. Ihre ersten parlamentarischen Erfah­ rungen machten diese Standesherren ohnedies in den Ersten Kammern, in denen sie erbliche Sitze innehatten. D ie politische Ämterlaufbahn blieb ebenfalls die Ausnahme. Fürst Karl von Leiningen wurde, nachdem er bei der Wahl durchgefallen war, 1848 für kurze Zeit zwar erster deutscher Ministerpräsident, aber schon deswegen war ihm später der Weg versperrt. Nur die beiden Hohenlohes, Chlodwig und sein Sohn Alexander, fungier­ ten jahrelang als hohe Verwaltungsbeamte; ersterer war darüber hinaus bayerischer Ministerpräsident und späterhin Reichskanzler. Fürst Ludwig von Öttingen-Wallerstein ist ein weiteres der seltenen Beispiele für Mini­ sterwürden; er war 1832 — 37 bayerischer Innenminister und 1847/48 glück­ loser Ministerpräsident; in beiden Ämtern galt er ebenso als Exponent der reformfreudigen, liberalen Kräfte wie später Hohenlohe, der darüber eben­ falls stürzte. Politisches Scheitern scheint überhaupt ein wesentliches Merk181 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

mal der liberalen Standesherren gewesen zu sein und hierin unterschieden sich die deutschen »Whigs« nur zu sehr vom englischen Original. D enn zu Garanten des Verfassungsstaats und sozialer Reformen sind sie niemals geworden. Einerseits waren die politischen Verhältnisse hierzulande nicht so beschaffen, daß ihnen die Führungsrolle gewissermaßen natürlicherweise zufiel, andererseits scheuten sie im Zweifelsfalle den Konflikt mit den Herr­ scherhäusern. So markieren Rücktritte und Rückzüge ihren Weg durchs 19. Jahrhundert. Vielleicht nicht untypisch ist der Fall des Grafen Erwein von Schönborn, der im Park seines Schlosses Gaibach seit 1820 jährlich unter großer öffentlicher Teilnahme und im Beisein des bayerischen Kronprinzen ein Verfassungsfest veranstaltete, an dem 1828, als die Konstitutionssäule eingeweiht wurde, 30000 Personen teilgenommen haben sollen. Nachdem er wegen des 1832 abgehaltenen Festes, das parallel zu dem in Hambach stattfand und auf dem der der Regierung suspekte Würzburger Bürgermei­ ster Behr sprach, in Konflikt mit dem reaktionär gewordenen Ludwig I. geriet, zog er sich aus dem öffentlichen Leben zurück und erschien auch nicht mehr bei Hofe. An politischen Widerstand hat er nie gedacht.41 In dieser Hinsicht unterschieden sich nur die beiden bereits erwähnten »Lin­ ken«, die sich in die Zweiten Kammern bzw. in die Nationalversammlung wählen ließen und von dort aus den Regierungen erheblich zusetzten freilich auch hier ohne Erfolg auf Dauer, denn die liberale Bewegung war in Deutschland mehr als anderswo eine Bewegung der Gebildeten. Zu einer dritten und letzten, kurzlebigen Spielart des deutschen Adelslibe­ ralismus kam es in der Reichsgründungszeit. Unter den mancherlei Entste­ hungsursachen nahmen die Lähmungserscheinungen der Konservativen, die gegen die nationale Einheit waren, und diejenigen der Altliberalen, die verbissen gegen Bismarck opponierten, einen besonderen Platz ein. In dieses Vakuum stieß eine Gruppe junger, zunächst vornehmlich schlesischer Adli­ ger, 42 die an sozialer Exklusivität den durchschnittlichen ostelbischen Jun­ ker bei weitem überragten und sich als Adlige einer besonderen politischen Verantwortung verpflichtet fühlten. Graf Frankenberg notierte sich dazu in seinem Tagebuch: »Es ist notwendig, daß gerade die jüngere, jetzt auftreten­ de Klasse unserer Standesgenossen die Ideen der neuen, im Fluge fortrollen­ den Zeit sich aneignet und sie womöglich beherrscht, denn nur so kann dem Adel in dem Verfassungsstreite, der immer mehr Grundlagen bei uns ge­ winnt, die Stellung gewahrt bleiben, welche er zum Heile des Ganzen und zum eigenen Heile annehmen muß. D ie Aristokratie im absoluten Staate muß am Hofe glänzen, im konstitutionellen aber im Parlamente. D ies Ziel darf sie niemals außer Acht lassen«.43 Programm und Zusammensetzung der freikonservativen Fraktionen ent­ sprachen diesen Worten durchaus. Im Preußischen Abgeordnetenhaus machten die 10 adligen Gutsbesitzer 59% der Fraktionsstärke aus,44 im Konstitutionellen Reichstag des Norddeutschen Bundes gar 78%, unter ihnen zwei Herzöge, drei Fürsten, neun Grafen und zehn Edellcute; die acht 182 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Standesherren dieser Fraktion stellten die Verbindung zur vorangegangenen Variante des Adelsliberalismus her, ja sie kann geradezu als deren parlamen­ tarischer Flügel gelten. D aß überhaupt so viele Mediatisierte im Reichstag saßen - nämlich mit insgesamt 18 mehr als in jedem anderen Parlament des 19. Jahrhunderts, von denen sich nur drei bei den Konservativen einschrie­ ben -, 4 5 hatte seinen Grund in der Hoffnung, die eigenen Interessen in der Rolle von Volksvertretern am geräuschlosesten durchzusetzen.46 Obgleich dies am Widerstand Bismarcks scheiterte, entwickelten sich die Freikonser­ vativen zunächst von den Konservativen weg, deren linken Flügel sie ur­ sprünglich bildeten, und hin zu den Nationalliberalen; in Württemberg fusionierten sie nach 1870 sogar mit der »D eutschen Partei« Julius Höl­ ders. 47 Namentlich für ihre Widersacher unterschieden sie sich von jenen nur in gesellschaftlicher Hinsicht und bildeten, wie ein katholischer Bischof kritisierte, das liberale »Oberhaus« im Reichstag;48 für andere waren sie eine Allianz »liberalisierender Streber und konservativer Katholiken«.49 Tat­ sächlich vertraten sie ein Programm, das bei allen Verbeugungen vor »dem echt konservativen Geist« jeglichen »Scheinkonstitutionalismus« scharf ab­ lehnte und eine Verbindung von königlicher Machtvollkommenheit und politischer Mitwirkung des Volkes in Gestalt erweiterter Selbstverwal­ tungsrechte anstrebte; Ausbau und Sicherung der nationalen Einheit kamen aber die Priorität zu. 50 Auf diese Weise gelangten sie gemeinsam mit den meisten Altliberalen und dem rechten Flügel der Nationalliberalen zu einem Parlamentarismusmodell, dem außen- und militärpolitische Befugnisse aus Sorge vor einer Gefährdung des Erreichten weitgehend fehlten, die Innen-, Finanz- und Sozialpolitik aber um so wichtiger war. D ie Ministerverant­ wortlichkeit lehnte eine Mehrheit der Freikonservativen als mit dem Cha­ rakter eines Bundesstaates unvereinbar ab. 51 Solange Bismarck in Frontstellung gegen die Konservativen regierte, gelangen den Freikonservativen bemerkenswerte politische Leistungen, die den Liberalismus, zu dem Teile des deutschen Adels fähig waren, im milden Lichte einer zu Ende gehenden Epoche zeigen. In der Verfassungsdebatte des Norddeutschen Bundes kämpften sie engagiert und erfolgreich für erweiter­ te Budgetrechte, um so den künftigen Beitritt Süddeutschlands zu erleich­ tern. Im Kulturkampf bezogen sie eine mittlere Position, denn der in der Fraktion vertretene katholische Hochadel widerlegte tagtäglich die Phrase von den katholischen »Reichsfeinden«, während der Ultramontanismus auch hier als echte Gefahr betrachtet wurde. In Preußen gehörte es zu den ersten Taten nach der Billigung der Indemnitätsvorlage, daß die Freikonser­ vativen Schulze-D elitzschs Genossenschaftsgesetz zu verabschieden halfen; ihr »Ja« wurde von der Überlegung mitbestimmt, daß die vorgesehenen Produktivgenossenschaften entgegen den ursprünglichen Vorstellungen mittlerweile fast nur noch die Handwerker und damit die eigenen Wähler interessierten. Ihre ureigensten Ziele verfolgte die Partei hingegen im Falle der Reform der Selbstverwaltung, die dem Osten eine neue Landgemeinde183 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

und Kreisordnung sowie eine geänderte Provinzialverfassung geben sollte. Die D enkschriften des Grafen Bethusy-Huc und die Redebeiträge seiner Fraktionskollegen gingen sämtlich vom aristokratischen Ehrenamtsgedan­ ken Gneists aus und verlangten die Preisgabe des ländlichen Feudalismus, um die Junker in die Bahn des Fortschritts zu zwingen.52 D ie tatsächlichen Ergebnisse erinnerten jedoch sehr an diejenigen der Stein-Hardenberg'schen Reformen, von deren Reminiszenzen die gesamte Debatte begleitet wurde. Denn nachdem gegen den heftigen Widerstand der Konservativen Ende 1872 die Kreisordnung endlich beschlossen wurde, stellte sich alsbald her­ aus, daß wie damals die Reform der Verwaltung an der Verfassung der Gesellschaft scheiterte. Es »blieb, unter den neuen Formen gemildert und versteckt, tatsächlich die alte Vorherrschaft der Rittergutbesitzer auf dem Lande im östlichen Preußen erhalten«.53 Es scheint, als habe die Agrarkrise, die ja in erster Linie eine Krise der getreideanbauenden Großgüter des Ostens war, auch dieser Variante des Adelsliberalismus den Boden entzogen. Jedenfalls sank in der 1878 gewähl­ ten Reichstagsfraktion der Anteil der adeligen Grundbesitzer um ein Viertel und es schoben sich Männer wie Wilhelm von Kardorff und Carl Ferdinand von Stumm in den Vordergrund, die beide im Centralverband deutscher Industrieller - Kardorff besaß neben Beteiligungen an Banken und Eisen­ bahnen auch 500 ha Land - eine führende Rolle spielten und 1879 den »Solidarprotektionismus« durchzusetzen halfen. Abgeordnete wie Graf Frankenberg lehnten diese Politik ab und dieser verlor darum wie mancher andere zuerst die Wahlhilfe des Verwaltungsapparates und dann den Wahl­ kreis selbst; in die 1881 zusammentretende Fraktion kehrten nur noch vier bisherige Mitglieder zurück.54 Schon vorher hatten sich angesichts des Kulturkampfes die überwiegend katholisch-süddeutschen Standesherren aus der aktiven Politik zurückgezogen, so daß die Freikonservativen »immer mehr zu einer protestantischen Partei im ostelbischen Preußen« wurden. 55 Von nun an gab es wohl noch liberale Adlige, aber der Adelsliberalismus war an sein Ende gekommen.

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III. Nicht nur die soziale, auch die programmatische Physiognomie des Adelsli­ beralismus ist eine deutlich andere als beim Liberalismus bürgerlicher Prä­ gung. D ie Bürokratiekritik war bei ihm besonders stark entwickelt, sie reicht von den Protesten der Mediatisierten in den vormärzlichen Landtagen Süddeutschlands über die Klagen der ostpreußischen Ritterschaft bis zum Selbstverwaltungskonzept der Freikonservativen und verwies den Adelsli­ beralismus beständig auf seine Ursprünge zurück, den Konflikt mit dem neoabsolutistischen Beamtenstaat. D ie Erfahrung, daß der moderne Staat und namentlich dessen D iener seine schärfsten Gegner sind, hat sich dem Kollektivgedächtnis des deutschen Adels so fest eingeprägt, daß er dazu keiner theoretischen Abhandlungen bedurfte, auf die dagegen der bürgerli­ che Liberalismus nicht verzichten mochte. D as Hegelsche D iktum von der Bürokratie als Sachwalterin des »allgemeinen Interesses«, obgleich gegen die feudale Herrschaftsordnung entworfen, war auch noch dem liberalsten Adligen verdächtig, weil es zwangsläufig den bildungsbürgerlichen Interes­ sen beruflichen Fortkommens entsprach. Die adeligen Interessen hatten demgegenüber ihren Schwerpunkt auf einem ganz anderen Gebiet und ihre D urchsetzung war unverzichtbar, so daß sie auch den Adelsliberalismus kennzeichneten. D a das ›adelige Landle­ ben‹ die Vorstellung des Adels von sich selbst in grundlegender Weise geprägt hat, konnten ihm die Rechtstitel nicht gleichgültig sein, die ihn in seinem Besitz sicherten. Es spielte aber nicht nur die Tradition eine Rolle, sondern die Agrarkrise der 20er und 30er Jahre hat namentlich den preußi­ schen Rittergutsbesitzern vor Augen geführt, wie rasch man alles verlieren konnte; am Ende des Jahrhunderts drohte sich das Unheil zu wiederholen. Da dem Staat alle Mittel fehlten, die Rentabilität der Güter durch Eingriffe in die Preisgestaltung für Agrarprodukte zu erhöhen - die exportorientierten Junker hätten dies auch kaum geduldet -, blieb nur der Weg über Eingriffe ins Bodenverkehrsrecht. D er Fideikommiß schien die Quadratur des Zirkels fertigzubringen, denn er schützte nicht nur vor Zwangsversteigerungen, sondern befreite auch die Väter von der Pflicht einer gleichmäßigen Versor­ gung ihrer Kinder und erhöhte dadurch obendrein die väterliche Gewalt. Als die Nationalversammlung am 12. Oktober 1848 zum ersten Mal über diesen Gegenstand abstimmte - und zwar in der radikaleren Formulierung -, 5 6 stimmte nur Gustav von Salzwedel mit »ja«. Selbst Gagern, der linksrhei­ nisch begütert war wie Itzstein und darum nicht einmal die Möglichkeit besessen hätte, einen Fideikommiß zu errichten, stimmte gegen den Antrag. Unter den Standesherren verhielt sich der »Fürst-Proletarier« Öttingen­ Wallerstein in der bayerischen Kammer ebenso, hatte er doch 1841 einen neuen Fideikommiß gestiftet, um seine fortgeschrittene soziale D eklassie­ rung aufzuhalten,57 und nur Fürst Waldburg-Zeil war in Frankfurt anderer Meinung, doch konnte er als Erbe von mehreren tausend Hektar Grundbe185 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

sitz der Zukunft vergleichsweise gelassen entgegensehen. - Gegen die Ab­ lösbarkeit aller auf Grund und Boden haftenden Lasten votierten am 19. De­ zember 43 adelige Abgeordnete, 16 waren dafür, unter ihnen nur 2 Grund­ besitzer. D ie Beseitigung der Fideikommisse, die am folgenden Tag be­ schlossen wurde, traf auf das »Nein« von 37 Adeligen, 17 stimmten aller­ dings mit »Ja«, darunter wie immer Fürst Waldburg-Zeil sowie zwei weitere Gutsbesitzer, von denen einer nobilitiert war und der andere das niederländi­ sche Limburg vertrat, wo es seit der französischen Zeit ein derartiges Institut nicht mehr gab. 58 Offenkundig traten 1848 nur Außenseiter für die Herstel­ lung einer liberalen Bodenordnung ein, und so protestierte auch keiner der ostpreußischen liberalen Grundbesitzer, als die preußische Regierung 1851 den Gumbinner Regierungspräsidenten von Salzwedel seines Postens ent­ hob; er galt offenbar seit seiner Frankfurter Abgeordnetenzeit politisch allseits als untragbar. 1848 waren die Parteigrenzen hinsichtlich der Fideikommißfrage offen­ kundig irrelevant. D aß die Reichsverfassung das Rechtsinstitut trotzdem abgeschafft hat, trug nicht eben zum Abbau der Vorbehalte des Adels gegenüber der liberalen Bewegung bei. Es erklärt sich so vielmehr seine entschlossene und alle Einflußmöglichkeiten wahrnehmende Politik, als nur wenige Jahrzehnte später anläßlich der Beratungen des Bürgerlichen Gesetz­ buchs (BGB) dieses Problem erneut auf der Tagesordnung stand. D ie Reichspartei und die Konservativen, unterstützt vom »Verein deutscher Standesherren« und dem »Bund der Landwirte«, trugen diesmal den Sieg davon, was ihnen um so leichter fiel, als die Rechtsexperten mittlerweile selbst über diese Fragen gespalten waren und der grundbesitzende Adel also nicht mehr einer geschlossenen bürgerlichen Bewegung gegenüberstand.59 Die Verfassungsvorstellungen des Adelsliberalismus weisen dieselbe Theorieferne auf wie im Falle von Bürokratie und Bodenrecht. Gleichwohl waren sie durchdacht. Auch sie entsprachen einfach seiner Intercssenlage. Diese war von der Betonung allgemeiner Rechtsgleichheit nicht gefährdet und konnte von ausgedehnten parlamentarischen Mitwirkungsrechten, die jedoch vor der Militär- und Außenpolitik als ureigener monarchischer Do­ mäne Halt machten, nur profitieren. Als Liberale konnten sie dem allgemei­ nen und gleichen Wahlrecht nichts abgewinnen - anders als die konservati­ ven Aristokraten, die dessen Eignung für ihre Ziele alsbald erkannten.60 Hohen Stellenwert nahm, schon wegen der zeittypischen Anglomanie, die von unzähligen Büchern und Broschüren wissenschaftlich abgesichert wer­ den sollte, der Gedanke des ›Selfgovernment‹ ein. Mit ihm ließ sich einer­ seits dem Allmachtsanspruch der Beamtenschaft entgegentreten, anderer­ seits erleichterte er den Verzicht auf die feudale Herrschaftsordnung auf dem Lande, dessen Unvermeidlichkeit gerade der liberale Adel einsah, und schließlich hatte man erkannt, daß Selbstverwaltung in einer Gesellschaft von Honoratioren nicht den Verlust an politischem Einfluß zu bedeuten brauchte. 186 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Auch im Gesellschaftsbild hob sich der Adelsliberalismus sowohl von der konservativen als auch von der bürgerlichen Bewegung ab. Von jenen unterschied er sich durch seine Anerkennung des sozialen Wandels, der im Osten vor allem mit der Bauernbefreiung eingesetzt hatte und den Umbau der ländlichen Bevölkerung in immer rascherem Tempo vorantrieb - von diesen grenzte er sich dadurch ab, daß er die Emanzipation nicht schlechter­ dings als Signatur des Zeitalters empfand und entsprechend emphatisch verherrlichte. Wichtiger ist vielleicht noch, daß sich der liberale Adel nicht für die gesamte Gesellschaft interessiert hat. D ie seit der Krise von 1846/47 offenbar gewordene ›sozialc Frage auf dem Lande‹, d. h. die Not der landar­ men und landlosen Bevölkerung, war eine Entdeckung konservativer So­ zialwissenschaftler rund 30Jahrc später; der bürgerliche Liberalismus nahm sie gar nicht wahr, er hatte sich ja schon für die Bauernbefreiung nur am Rande interessiert. D er bereits mehrfach erwähnte von Salzwedel war mit seinem frühen Eintreten für die innere Kolonisation, die natürlicherweise keinen besonderen Bestandsschutz für Rittergüter anerkennen konnte, eine große Ausnahme. In der Regel richtete der Adelsliberalismus stattdessen sein Hauptaugenmerk auf die Bauern, über die man, auch wenn sie nun keine Untertanen mehr waren, nach wie vor Einfluß ausüben wollte und mit denen man auf gutem Fuße stehen mußte, weil sie »der natürliche Verbünde­ te des großen grund- und bodenbesitzenden Adels« seien. D afür war wie­ derum Macht nötig und »Macht gibt nur Teilnahme am Regiment, oder sehr viel Geld, beides natürlich in erhöhtem Maßstabe, wenn es mit historischen Namen gepaart ist. Alles Übrige ist Courtoisie, leerer Schall!«61 Damit ist zugleich etwas über die Möglichkeiten der Klientelbildung gesagt. Nicht nur der Adelsliberalismus war ein Minderheitenphänomen, auch die Bauern waren es längst geworden. Außerdem waren sie für Wahlen schwer zu mobilisieren. Als Beispiel dafür mögen die Kandidaturen des Grafen Otto zu Stolberg-Wernigerode dienen. Er licß sich, zum Ärger seiner konservativen, mehr auf Statusfragen achtgebenden Verwandtschaft im Februar 1867 im Wahlkreis Oschersleben-Halberstadt-Wernigerode für den Konstituierenden Norddeutschen Reichstag aufstellen und siegte knapp über den blassen liberalen Gegenkandidaten, weil zwei Drittel der ländlichen Wähler, in ›scincr‹ Grafschaft sogar noch etwas mehr, für ihn stimmten. In Halberstadt gab es daraufhin »allerlei böse Worte« über die »dummen Bau­ ern«, und bei den nächsten Wahlen, am 31. August desselben Jahres, siegte ein neuer profilierter, den Altliberalen verpflichteter Mitbewerber mit deut­ lichem Vorsprung, und zwar ohne daß er sich je dem Publikum präsentiert hätte. Graf Stolberg dagegen, der sich als Freikonservativer von ihm poli­ tisch kaum unterschied, hielt Wahlversammlungen ab, aber er hatte das Pech, daß im Hochsommer die Bauern wegen der Ernte nicht zur Wahl gingen.62 Ein weiterer Faktor, der die Klientel des liberalen Adels begrenzt, ihm zu erheblichen Teilen sogar abgezogen hat, war der Kulturkampf. Bis dahin 187 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

hatten katholische ländliche Wähler oft keine wirkliche Alternative, da städtisch-liberale Kandidaten in rein agrarischen Gebieten auf große Schwie­ rigkeiten stießen. Sobald sich das Zentrum etabliert hatte, war es jedoch mit der Konkurrenzfähigkeit der großen Grundbesitzer meist vorbei, es sei denn, sie kandidierten selbst bei den Klerikalen. D a das ländliche Milieu protestantischer Prägung längst zur festen D omäne der Liberalen bzw. im Osten der Konservativen gehörte, war an Ersatz nicht zu denken. D ie Bewegung der »deutschen Whigs« endete als Generalstab ohne Armee. Wenn der deutsche Adelsliberalismus an eine in Deutschland seltene Kon­ stellation gebunden war - neben einer sicheren agrarischen Grundlage zähl­ ten gewissermaßen gerade »Nicht-Bürgerwelt und starker Staat« zu den Bedingungen, d. h. nur wo bildungsbürgerliche Eliten fehlten, die in Deutschland die liberale Bewegung ja in besonderem Maße zu prägen pflegten, entfaltete sich der Adelsliberalismus -, so bedeutet dies nicht, daß er im Ausland kein Pendant gehabt hätte.63 Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. D ie italienische Nationalbewegung war das Werk einer bürgerlich­ adeligen Allianz, in der der liberale Großgrundbesitz politisch weitgehend dominierte; in ganz besonderem Maße gilt dies für Lombardo-Venetien, das als Musterfall einer von der Bürokratie betriebenen Modernisierung gelten kann, die den entmachteten Adel dem Liberalismus geradezu in die Arme getrieben hat. Der vom Adel getragene Liberalismus erhielt im Moment der nationalen Einheit weitere Verstärkung durch die süditalienischen »baroni«, die die vom Klerus beherrschten unzufriedenen ländlichen Massen mehr fürchteten als die Aktivitäten der liberalen Bewegung. Erst in den 70er und 80er Jahren beendeten neue Eliten und der von ihnen durchgesetzte Protek­ tionismus die Vormacht der liberalen Agrarier. In Österreich spielte nach 1867 eine dem liberalen Flügel der deutschen Standesherren und der frühen Reichspartei vergleichbare Rolle der sog. verfassungstreue Großgrundbe­ sitz, der seinen Einfluß dank des Kurienwahlrechts allerdings viel länger bewahren konnte, nämlich bis in die 90er Jahre; er hatte seine hauptsächliche Stütze in der böhmischen Hocharistokratie. In der D urchbruchsphase des österreichischen Konstitutionalismus vor der Wahlreform von 1873 kam dem »verfassungstreuen Großgrundbesitz« sogar die entscheidende Rolle im Reichsrat zu und für kurze Zeit mochte es scheinen, als sei das Land unter Führung liberaler Aristokraten auf dem Weg ins parlamentarische System. Im Osten und Südosten Europas, in Polen und Ungarn, bildeten Schlachta bzw. der mittlere ungarische Adel, dortzulande im 19. Jahrhundert »gentry« genannt, die politische Nation, weil es ein Bürgertum im eigentlichen Sinne gar nicht gab. Als Träger der liberalen Bewegung kamen infolgedessen wenigstens vor der Jahrhundertwende keine anderen Gruppen in Frage als dieser Adel, so daß hier der Adelsliberalismus nicht eine Variante liberaler Positionen war, sondern mit der Reformbewegung schlechthin zusammen­ fiel. Er ist im dreigeteilten Polen letztlich gescheitert, während er sich in Ungarn mit Hilfe eines entschlossenen und von Wien geduldeten Magyari188 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

sierungsprozesses durchsetzte und nach dem Ausgleich von 1867 einen vor allem vom Adel getragenen liberalen Nationalstaat schuf. Der vergleichende Überblick legt den Schluß nahe, daß Adelsliberalismus ein Indiz für Rückständigkeit ist. Liberale Adlige gab es in allen Ländern Europas, aber eine liberale Bewegung adeligen Zuschnitts konnte nur Be­ deutung erlangen, wo der D ritte Stand sich noch nicht zum Bürgertum emanzipiert hatte. D eutschland stellt offenbar einen Grenzfall dar, denn die hierzulande beobachteten Formen von Adelsliberalismus sind über Rander­ scheinungen - gerade auch geographisch - nie hinausgelangt; weder das Rheinland noch Sachsen, die beiden fortgeschrittensten Gebiete, kannten einen Adelsliberalismus, vielmehr wies die erstgenannte Region ein Muster­ beispiel konservativer, ja restaurativer Adelspolitik auf. Ein Land Europas scheint freilich in das Raster von Rückständigkeit und Adelsliberalismus nicht hineinzupassen: England. D ie gewissermaßen para­ doxe Vorstellung von den »Whigs« als Motor des politischen Fortschritts in einem industriell weit fortgeschrittenen Land ist seit jenen Zeiten selbst die wohl populärste Interpretation der englischen Geschichte des 19. Jahrhun­ derts. Es ist hier nicht der Ort, die Rolle der liberalen Großgrundbesitzer vor und während der Regierung Viktorias zu untersuchen. Aber es fällt doch auf, daß die neuere englische Geschichtswissenschaft sich immer schärfer von der »Whig History« abkehrt. Harold Perkin z. B. hat in seiner Geschich­ te der modernen englischen Gesellschaft fast ganz auf die These von der Einsicht der »Whigs« in die historischen Notwendigkeiten verzichtet. Per­ kin zufolge etablierte sich im 19. Jahrhundert zwar eine »Middle Class«, die auch zunächst alle Attribute der kämpferischen bürgerlichen Bewegung des Kontinents aufwies, der aber nach jedem Sieg die Bataillone davonliefen, so daß sich ein kompakter »Bürgerblock« zu keinem Zeitpunkt habe bilden können.64 Wenn es sich also ohnedies von selbst versteht, daß die englische Gesellschaft nicht rückständig war, so muß man vielleicht auch in Zukunft von der Vorstellung eines echten englischen Adelsliberalismus Abschied nehmen. D as Paradoxon des viktorianischen Zeitalters bestünde dann nicht mehr in der Anpassungsbereitschaft der »Whigs«, sondern in einem Bürger­ tum, das sich als politische Bewegung zu Tode gesiegt hat. Vielleicht war es dies, um das der liberale Adel des Kontinent das zeitgenössische England so beneidet hat. Anmerkungen 1 H. Gollwitzer, D ie Standesherren, Göttingen 19642, S. 163. 2 H. Oncken, Aus dem Lager der deutschen Whigs: Freiherr von Roggenbach; in: HZ 108, 1909, S. 624-633. Oncken hatte aber eine andere Personengruppe im Auge, wie aus Band 2 seiner Historisch-Politischen Aufsätze und Reden (München/Berlin 1914, S. 265ff.) hervor­ geht. 3 H. Heffter, D ie deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1950, S. 532.

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4 Ebd., S. 223. 5 Ebd., S. 224. 6 Gollwitzer, S. 163. 7 M. Weber, Agrarstatistische und sozialpolitische Betrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen; in AfSS 19, 1904, S. 553—574; sowie ders., Deutschlands äußere und Preußens innere Politik, II: D ie Nobilitierung der Kriegsgewinne [1916], jetzt in: MWG 1/15; hg. von W.J. Mommsen u. G. Hübinger, Tübingen 1984, S. 206-214. D ie übrigen Belege finden sich am bequemsten bei W. Conze, Adel, Aristokratie, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stutt­ gart 1972, S. 1-48, bes. S. 35ff. 8 D iese Zahl ergibt sich, wenn man von den bei H. W. Graf Finck von Finckenstein, D ie Entwicklung der Landwirtschaft in Preußen und D eutschland 1800-1930, Würzburg 1960, S. 392, angegebenen 5319 Rittergütern 10% abzieht, die damals bereits in bürgerlicher Hand gewesen sein sollen; dazu R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, Stuttgart 1967, S. 83. 9 Th. Häbich, Deutsche Latifundien, Stuttgart 19473, S. 158. 10 J . Conrad, D ie Latifundien im preußischen Osten, in: Jahrbücher für Nationalökonomie u. Statistik 50, 1888, S. 121-170, hier S. 143 (Tab.). 11 Häbich, S. 161, ohne Kleinstbesitz. 12 D aß es auch radikale, ja selbst sozialdemokratische Adelige gab, sei hier nur der Vollstän­ digkeit halber erwähnt. 13 E. v. Bülow-Cummerow, Ein Punkt aufs I oder Belehrung über die Schrift: Die Verwaltung des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg, Leipzig 1821, S. 14, zit. bei Koselleck, S. 191. 14 Theodor v. Schön zu Alexander v. Humboldt am 9. Sept. 1840 nach einer Unterredung mit dem König: »D er König ist liberaler als ich«, zit. bei H. Rothfels, Theodor von Schön, Friedrich Wilhelm IV. und die Revolution von 1848, Halle 1937, S. 20. 15 Zit. bei Koselleck, S. 192, Anm. 102. 16 Vgl. Ch. Dipper, D ie Reichsritterschaft in napoleonischer Zeit, in: E. Weis (Hg.), Refor­ men im rheinbündischen D eutschland, München 1984, S. 53—73, hier S. 65 f. 17 D azu die Ausführungen bei P. M. Ehrle, Volksvertretungen im Vormärz, Frankfurt 1979, S. 393ff. u. die Tabellen im Anhang. D en tatsächlichen Adelsanteil hat Ehrle jedoch nicht ermittelt, weil er sich an die von den Verfassungen vorgegebenen Berufsstände (Ritterschaft bzw. Gutsbesitzer) hielt. 18 G. v. Graes, Der Adel in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, unveröffentlich­ te Staatsarbeit, D üsseldorf 1986, S. 31 ff. 19 L. Rosenbaum, Beruf und Herkunft der Abgeordneten zu den Deutschen und Preußischen Parlamenten 1847-1919, Frankfurt 1923, S. 56. 20 Ausgezählt nach F. Specht, D ie Reichstagswahlen von 1867-1897, Berlin 1898. 21 D ie Fraktionsangaben nach M. Botzenhart, D eutscher Parlamentarismus in der Revolu­ tionszeit 1848-1850, D üsseldorf 1977, S. 415 ff., die Angaben zum Adel nach v. Graes, passim. Beim Adel sind die Nachrücker mitgezählt, während die Fraktionsstärken eine Momentaufnah­ me darstellen; der jeweils tatsächliche Adelsanteil liegt vor allem in späterer Zeit unter den hier genannten Prozentzahlen, weshalb auf D ezimalstellen bis auf eine Ausnahme, die auch die bürgerlichen Nachrücker mitberücksichtigt und deshalb exakt ist, verzichtet wurde. 22 Ausgezählt nach Specht. Die Nachrücker sind beim Adel wieder berücksichtigt, doch sind die Prozentzahlen hier wegen der geringen Fluktuation sehr viel wirklichkeitsnäher. 23 Siehe unten S. 182. 24 E. Kehr, Das soziale System der Reaktion in Preußen unter dem Ministerium Puttkamer, in: ders., D er Primat der Innenpolitik, hg. v. H.-U. Wehler, Frankfurt 1976, S. 64-86, hier S. 84 f. - P. Schuppan, Ostpreußischer Junkerliberalismus und bürgerliche Opposition um 1840, in: H. Bleiber (Hg.), Bourgeoisie und bürgerliche Umwälzung in D eutschland 1789-1871, Berlin IDDR1 1977, S. 65-100, hier S. 77-79. 25 Rothfels, pass.; Heffier, S. 223f.; W. Hubatsch, D ie Stein-Hardenberg'schen Reformen, Darmstadt 1977, S. 121.

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26 Schön an General von Below, 16. 5. 1848, sowie an von Brünneck, 3. 11. 1848; abgedr. bei Rothfels, S. 180, 193. D aß Rothfels Schön zu den Liberalen rechnete, sei nur am Rande vermerkt. 27 Zit. bei Schuppan, S. 88. 28 Vgl. den aufschlußreichen Brief von Graf Dohna-Reicherswald an von Rochow, 30. 3. 1841, zit. bei Schuppan, S. 89. Anm. 90. 29 E. v. Saucken-Tarputschen an Friedrich Wilhelm IV., 14. 11. 1844: G. v. Below, Aus der Zeit Friedrich Wilhelms IV. Briefwechsel des Generals Gustav von Below, in: DR 109, 1901, S. 101-133, hier S. 118f. 30 Zit. bei B.-M. Rosenberg, D ie ostpreußischen Abgeordneten in Frankfurt 1848/49, Köln 1970, S. 122, 113. 31 Ebd., S. 114. 32 An Friedrich Wilhelm IV., 4. 2. 1845: R. Adam, Ernst von Saucken-Tarputschen. Ein ostpreußischer Freiheitskämpfer und Patriot, in: Altpreußische Forschungen 8, 1931, S. 231-255, hier S. 248. 33 An denselben, 15. 1. 1846: v. Below, S. 129. 34 Zit. bei Rosenberg, S. 66, 166. 35 Ebd., S. 120. 36 An den Sohn Kurt, 8. 2. 1852; zit. bei G. v. Below, Aus dem Frankfurter Parlament. Briefe des Abgeordneten Ernst von Saucken-Tarputschen, in: DR 124, 1905, S. 79-104, hier S. 104. 37 Rosenberg, S. 159 ff. 38 Zum Vorstehenden Emich Karl Fürst zu Leinigen, Um die Reform des hohen Adels (1846/ 47); abgedr. bei Gollwitzer, S. 382-389. 39 So der ansonsten umsichtige und zuverlässige K.-H. Zuber, D er »Fürst-Proletarier« Ludwig von Öttingen-Wallerstein (1791-1870), München 1978. D ie Bezeichnung »Fürst­ Proletarier« war ein im Wahlkampf 1849 von ihm selbst gerne gebrauchter Begriff: ebd., S. 287. 40 Zit. bei Gollwitzer, S. 135; vgl. ebd. das S. 392-396 abgedr. Promcmoria. 41 Ebd., S. 192f. 42 D ie Fraktionsgründer der Freikonservativen im Preußischen Abgeordnetenhaus waren Graf Johannes von Rénard, Freiherr Alfred von dem Knesebeck und Graf Eduard von Bethusy­ Huc. Der Vorstand der Fraktion des Norddeutschen Reichstags setzte sich aus dem Herzog von Ujest, dem Fürsten zu Solms-Lich, dem Rittergutsbesitzer Gustav Adolph von D ietze, Graf Friedrich von Frankenberg und dem Fabrikanten Carl Ferdinand von Stumm zusammen. 43 Eintrag vom 25. 2. 1867; zit. bei F. Thimme, Friedrich Ludwig Ernst Graf von Franken­ berg, in: Schlcsische Lebensbilder, Bd. 2, Breslau 1926, S. 332-338, hier S. 334. 44 Nach A. Wolfstieg, D ie Anfänge der freikonservativen Partei, in: Gesammelte Aufsätze. Professor Hans D elbrück zu seinem 60. Geburtstag, Berlin 1908, S. 313-336, hier S. 318f., Anm. 16. 45 K.-E. Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867-1870, D üsseldorf 1985, S. 164, Anm. 48. 46 Graf Stolberg an den Vereinsvorsitzenden, Fürst von Fürstenberg, am 23. 12. 1866: »Am meisten wird jedoch ... in dieser Angelegenheit zu wirken sein, wenn unsere Standesgenossen sich möglichst in das Norddeutsche Parlament wählen lassen und warm in demselben unsere Ansprüche vertreten werden«, zit. Pollmann, S. 177, Anm. 142. Am liebsten wäre dem Verein der Standesherren 1866 die Schaffung eines Oberhauses gewesen, vgl. K. Breitenborn, Im Dienste Bismarcks. D ie politische Karriere des Grafen Otto zu Stolberg-Wernigerode, Berlin [DDR] 1984, S. 130. 47 Vgl. D . Langewiesche (Hg.), D as Tagebuch Julius Hölders 1877-1880, Stuttgart 1977. S. 12ff., 48f. 48 »D ie Nationalliberale Partei im Reichstage besteht aus zwei Abteilungen unter verschie­ denen Namen. Sie hat im Reichstag selbst gewissermaßen ein Unterhaus und ein Oberhaus. Zu den letzteren gehört die sogenannte Freikonservative Partei mit allen ihren Schattierungen und verschiedenen Denominationen, wo sich die Fürsten, Grafen, Barone und höheren Staatsdiener

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vereinigen, welche ihrer ganzen Gesinnung nach absolut mit den Nationalliberalen identisch sind und nur einen etwas vornehmeren konservativen Schein bewahren, der ihnen insofern nützlich ist, als sie dadurch in allen höheren und höchsten Kreisen Zutritt haben und ihre Anklagen an den rechten Mann bringen können. D as ist der glatte Liberalismus, der hoffähig geworden ist und dem alten konservativen christlichen Preußen mehr schadet, als der plebeji­ sche Liberalismus«; zit. bei Wolfstieg, S. 323, Anm. 27. Es handelte sich vermutlich um Bischof von Ketteier. 49 L. Parisius in seinen Erinnerungen, zit. ebd., S. 327. 50 Programm der Freikonservativen Partei vom 27. 10. 1867; abgedr. b. W. Treue, Deutsche Parteiprogramme 1861-1961, Göttingen 19613, S. 57f. 51 Vgl. Pollmann, S. 210ff., bes. S. 218f. sowie S. 233. 52 Dazu Heffter, S. 462f. 53 So das Urteil von J . Ziekursch, Politische Geschichte des neuen deutschen Kaiserreiches, Bd. 2, Frankfurt 1927, S. 270. 54 Es interessieren dabei stets nur die adeligen Besitzer. D iese vier waren Graf Arnim­ Boitzenburg, Fürst Pleß, der Herzog von Ratibor und Freiherr von Unruhe-Bomst. Es schie­ den u. a. so prominente Persönlichkeiten aus wie Graf Bethusy-Huc, Fürst Carolath-Beuthen, Graf Frankenberg, Fürst Hatzfeld-Trachenberg, Fürst Hohenlohe-Schillingsfürst, Fürst Ho­ henlohe-Langenburg und Freiherr Nordeck von Rabenau. Ermittelt nach Specht. 55 G. A. Ritter, Die deutschen Parteien 1830-1914, Göttingen 1985, S. 81. 56 »D ie Familienfideikomisse aller Art, die Majorate, Minorate, Seniorate und andere dergleichen Abweichungen der gemeinrechtlichen gleichen Erbfolge sind aufgehoben...« Stenogr. Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden National-Versamm­ lung zu Frankfurt am Main. Hrsg. v. F. Wigard, Bd. 4, Frankfurt 1848, S. 2564. 57 Vgl. Zuber, S. 345, 304. Als Grundherr scheint übrigens auch Fürst Karl von Leiningen die Ratschläge mißachtet zu haben, die er als Politiker seinen Standesgenossen erteilt hatte. 1848 wurden Teile seiner Besitzungen von bäuerlichen Aufständen erfaßt, weil sich seit Jahrzehnten nichts an den Forderungen seiner Beamten geändert hatte, vgl. den D iskussionsbeitrag von W. Störmer, in: Reformen (Anm. 16), S. 267. 58 Von Graes, Tabellen. 59 D azu Ch. Dipper, L'aristociazia tedesca nell'cpoca borghese. Adattamento e continuità, in: Quaderni storici Nr. 62, 1986, S. 361-392, bes. S. 376ff. 60 Treffende Beobachtungen dazu bei R. Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, hrsg. v. W. Conze, Stuttgart 1957, S. 6ff. 61 So Karl Fürst von Leiningen in der in Anm. 38 zitierten Denkschrift (S. 386). 62 Näheres bei H. Heffter, Otto Fürst zu Stolberg-Wernigerode, Teill, hrsg. v. W. Pöls, Husum 1980, S. 309f., 328. 63 D as folgende im wesentlichen nach den in diesem Band abgedr. Beiträgen von A. Gerge­ ly, L. Höbelt, M. Meriggi und H. Ullrich. 64 H. Perkin, Origins of Modern English Society, London 1985, bes. Kap. IX.

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GANGOLF HÜBINGER

Hochindustrialisierung und die Kulturwerte des deutschen Liberalismus

Für die politisch-kulturellen Werte, Verhaltens- und Bewußtseinsformen des Liberalismus bedeutet die Phase der deutschen Hochindustrialisierung nach 1890 eine Zäsur. Und eine Liberalismus-Interpretation mit 1890 zu beginnen, heißt, dort anzusetzen, wo das gesellschaftsphilosophische Selbstbewußtsein der führenden liberalen Theoretiker, Publizisten und Poli­ tiker einem fundamentalen Selbstzweifel gewichen ist. So hat Theodor Barth in Anlehnung an die sozialdemokratische Revisionismusdebatte für die eigenen ideenpolitischen Kurskorrekturen vom dringend erforderlichen »liberalen Revisionismus« gesprochen. Scharf formulierte er noch einmal das liberale Trauma der zweiten Jahrhunderthälfte, lediglich »Pufferpartei« zwischen Konservativen und Arbeiterbewegung geworden und von der »Gewinnung wirklicher Macht« entfernter zu sein denn je. Wie Barth schwankten viele liberale Theoretiker und Publizisten zwischen dem Einge­ ständnis der eigenen Schwäche, im Zeitalter der D emokratisierung die nötige Massenbasis und damit Regierungsmacht nicht mehr aus eigener Kraft erlangen zu können, und der Hoffnung, im »Zusammenschluß aller wirklich liberalen Elemente (...) zusammen mit den in der Sozialdemokratie politisch organisierten Arbeitern die reaktionäre Herrschaft zu zerbrechen und D eutschland auch politisch zu einem modernen Staatswesen zu ma­ chen.«1 D aß und warum solche Hoffnungen trogen, hat die Forschung gründlich herausgearbeitet. Sic interpretiert den mehrfachen »Gestaltwan­ del« des Liberalismus gegen das Jahrhundertende hin eindeutig als Krise, Verfall und Substanzverlust.2 Mit Blick auf die Wahlniederlagen, die wie­ derholte Preisgabe liberaler Grundnormen oder aber die tendentielle Selbst­ entmachtung durch innere Fraktionierungen erscheinen die Jahre um 1890 als augenfällige Markierungspunkte dieses Verfallsprozesses. Im Kontext der gegenwärtigen Bürgertumsforschung nennt Hans-Ulrich Wehler die »allgemeine Entliberalisierung des öffentlichen und politischen Lebens« seit 1879 die »verhängnisvolle« Wendung im Verbürgerlichungsprozeß der Wil­ helminischen Gesellschaft.3 Die These vom Defizit liberal gesteuerter politischer Bürgerlichkeit, wie sie von Barth bis heute vielfach variiert worden ist, wirft aber auch die Frage auf, in welcher Form und mit welchem Nachdruck diejenigen bürgerlichen 193

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Gruppen agierten, die nach wie vor im liberalen Wertekanon eine grundsätz­ liche Überlegenheit bei der Bemeisterung der industriellen Revolution und ihrer Auswirkungen auf alle Lebensbereiche sahen. D iese Gruppen sind angesichts der immer protektionistischer ausgerichteten Wirtschaft, des ausgebauten Organisations- und Interventionsstaats, der neuidealistischen Bewegungen mit ihrem fundamentalen Kulturpessimismus nicht ver­ schwunden; nach 1890 ist sogar eine Revitalisierung erkennbar, die jedoch weniger parteipolitisch organisiert als von bildungsbürgerlichen Vereini­ gungen getragen ist. Ihr genauer Anteil am Prozeß bürgerlicher »Vergesell­ schaftung« ist trotz der unüberschaubaren Forschungsliteratur über das Wilhelminische D eutschland schwer zu ermessen. D abei ist er vor allem für die oft gestellte Frage von Bedeutung, warum das D eutsche Reich nach seiner nationalen Einigung von 1871 und nach der Etablierung als Industrie­ macht mit weltpolitischer Geltung nach 1890 zu keinem zureichenden Kon­ sens über die Gestaltungsprinzipien seiner inneren Ordnung gefunden hat, warum vielmehr die innere Verfassung durch eine zunehmende Fragmentie­ rung politischer Teilkulturen gekennzeichnet ist. Viele institutionelle Aspekte dieses tiefgreifenden Modernisierungsprozesses sind gut erforscht; weniger dagegen die politisch-kulturelle Erfahrung dieses Prozesses als Modernisierungskrise, also die Wahrnehmungs- und Verarbeitungskapazi­ täten dieser Umwandlung. Über die kulturelle Grundausstattung für Deutschlands Weg in die Moderne ist die Wilhelminismus-Forschung wie zu erwarten recht zerstritten, sowohl was die Konsolidierung einer konstitutio­ nellen politischen Ordnung mit parlamentarischer Verfassungskultur als auch was die Gestaltung einer bürgerlichen, »zivilen« Lebensform betrifft. Die Forschung der 70er Jahre betonte das Herrschaftsbündnis der traditiona­ len Eliten, die bloß negative Integration vor allem von Sozialdemokraten und Katholiken, und erkannte einen Prozeß zunehmender Erstarrung. Ge­ genwärtig wird stärker das Reformpotential, werden die Antriebskräfte zur Öffnung aller Verhältnisse herausgestellt. Gerade dadurch kommt aber die starke Inhomogenität der Wilhelminischen Gesellschaftsverfassung in den Blick. Unbefriedigend erscheinen solche Ansätze, die diesen Zustand nur als Antikultur beschreiben: antiaufklärerisch, antiwestlich, antimodernistisch, antisozialistisch, antisemitisch. D enn das Reich war nicht der reine Unterta­ nenstaat, zusammengehalten durch nichts als solche Ressentiment-Ideolo­ gien, und seine politische Kultur wird nicht durch die Interpretation von Paul de Lagarde, Langbehn und Moeller van den Bruck repräsentativ erfaßt. Der Dürer-Bund etwa, eine einflußreiche bildungsbürgerliche Vereinigung, verstand sich mit seiner Parole »D ürer als Führer« als eine kulturliberale Kritikinstanz der konservativen Machteliten. D ie mächtiger werdenden Parteien und die neuen mitgliederstarken Interessenverbände entfalteten eine Eigendynamik, die nicht durch bürokratische oder cäsaristische Herr­ schaftstechniken gezügelt werden konnte. D iese Eigendynamik war aber nicht nur von Ökonomischen Strategien oder machtpolitischen Absichten 194 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

gesteuert, sondern von typischen kulturellen Milieus und ihren »bodies of doctrin«. Ein solches Milieu stellt das liberal-protestantische Sozial- und Gesinnungsmilieu dar,4 das einflußreicher bleibt, als es die Wahltabellen erkennen lassen. Gegenüber den anderen signifikanten politischen Teilkul­ turen des Wilhelminismus, dem konservativen, dem katholischen und dem sozialistischen Milieu, ist es hinsichtlich seiner inneren Spannungen wie auch der politischen Außenwirkungen das am wenigsten erforschte. D abei ist es, um einer Grundeinsicht der politischen Soziologie Max Webers zu folgen, dasjenige, das stärker als die anderen Milieus im Kapitalismus die unentrinnbare Kulturmacht für alle in seinem Einflußbereich lebenden Men­ schen sieht, gleich, ob diese Macht als »Verhängnis« oder Garant des Kultur­ fortschritts gedeutet wird. Unter dieser Perspektive der Unentrinnbarkeit kapitalistischer Lebensordnung stellt sich also die Frage, welche Prägekraft für die Leitbilder und Handlungsmuster jener jungen Industrienation gerade von den Wertorientierungen desjenigen Gesinnungsmilieus ausgeht, wel­ ches das Nicht-Ausbrechenkönnen aus dem Gehäuse der Moderne generell und des Kapitalismus speziell zur Voraussetzung seiner Welt- und Gesell­ schaftsdeutung macht. In drei Schritten soll dieser Frage, die insgesamt einer umfassenderen Studie bedarf, zumindest umrißartig nachgegangen werden. Zuerst ist noch etwas ausführlicher auf verschiedene Krisen- und Niedergangsthesen einzu­ gehen, da sie sich mit den gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen beschäftigen, in dem sich liberale Kulturwerte entfalten konnten. Vor dieser Folie läßt sich dann das Bezugsfeld Liberalismus - Protestantismus - Bil­ dungsbürgertum abstecken, in dem die wesentlichen Trägerschichten dieser Kulturwerte auszumachen sind, und dann drittens auf die Art der Prägung und Verbreitung eingehen, die sich in typisch bildungsbürgerlichen Kom­ munikationsnetzen - akademischen Milieus, Publizistik, Vereinswesen vollzog.

1. Krise, Substanzverlust, Gestaltwandel In Friedrich Naumanns »Hilfe« und Theodor Barths »Nation«, den beiden Zeitschriften, die besonders radikal Selbstdiagnosen des liberalen Nieder­ gangs stellten und eine Neubelebung betrieben, schälten sich zwei Struktur­ elemente moderner Gesellschaften als Hauptherausforderung an liberale Gesellschaftstheorien heraus: der wirtschaftlich-technische Fortschritt so­ wie die Phänomene und Organisationsformen der Massengesellschaft. Darin konzentrieren sich jeweils die beiden spannungsbezogenen Komponenten des »sozialen« und des »individualistischen« Liberalismus.5 »Fortschritt« bleibt nach wie vor die Grundierung des liberalen Gesellschaftsbildes, aber nicht länger in geschichtsphilosophischer Globalität, sondern einschränkend 195 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

bezogen auf den meßbaren ökonomisch-technischen Sektor. Hier identifi­ ziert sich der Liberalismus nach wie vor mit der Fortschrittsidee und orien­ tiert daran seine sozialreformerischen Konzepte. Dies zeigt sich besonders in der Debatte um die Öffnung gegenüber der Sozialdemokratie, die im Ge­ gensatz etwa zu militanten Abwehr- und Abwerbungsstrategien wie bei Gustav Stresemann von Friedrich Naumann deshalb so nachdrücklich be­ trieben wurde, weil er die Arbeiterbewegung und ihre Parteipolitik nicht als antiliberal sondern als »Liberalismus der Masse« auffaßte.6 Am Phänomen »Masse« schieden sich aber die liberalen Geister, schlug der Fortschrittsopti­ mismus in Geschichtsskepsis um, erfuhr der Liberalismus die Dialektik des Fortschritts und blieb infolgedessen nicht unempfänglich für kulturpessimi­ stische Impulse. Die liberale Grundfrage lautete demnach nicht mehr wie im Vormärz, wie kann »Persönlichkeit« aus traditionalen Ordnungen entbun­ den werden, sondern neuformuliert, wie kann im Zeitalter der industriellen Riesenbetriebe und des allgewaltigen bürokratischen Machtstaates »Persön­ lichkeit« erhalten werden.7 Wirtschaftsfortschritt und Kulturfortschritt wurden entkoppelt und die beiden Eckpfeiler liberaler Weltanschauung, »Fortschrittsprinzip und Persönlichkeitsprinzip« (Theodor Barth) in ihrem Spannungsverhältnis neu überdacht. D amit parallel geht der Verzicht auf die dogmatische Festlegung auf eine positive Staatsphilosophie, ein explizites Staatsideal. Eher pragmatisch versuchte der Liberalismus der Jahrhundert­ wende, das konstitutionelle mit dem imperialistisch-machtstaatlichen Prin­ zip zu vereinen.8 Dies ist der Rahmen, in dem der Liberalismus Uminterpre­ tationen der Sphären Wirtschaft, Herrschaft und Kultur vornahm. Die Forschungskontroversen der 1970er Jahre haben gezeigt, wie entge­ gen modernisierungstheoretischer Hypothesen der Liberalismus sich nicht zum selbstverständlichen Träger und Nutznießer der sozioökonomischen, kulturellen und politischen Modernisierungsschübe entwickelte, sondern im Gegenteil stärker als die konkurrierenden politischen Ideologien destabi­ lisiert wurde. Ablesbar ist diese »Zerbröckelung der liberalen Mittel­ schicht«, wie James J . Sheehan das Fazit seiner einschlägigen Monographie überschreibt, an der bekannten mangelnden Mobilisierung der alten und Re­ krutierung neuer Wählerschichten. D ie Hauptgründe sieht Sheehan in den liberalen Vorbehalten gegen Großorganisationen und Massenlenkung sowie in der Unfähigkeit, sich das vielfältige Vereinswesen, das immer stärker nicht nur wirtschaftlichen Interessen sondern auch sozialer Identitätsfindung diente, zunutze zu machen.9 Andere Autoren verweisen auf die interessenpolitische Verengung libera­ ler Partei- und Verbandspolitik10 oder halten ideenpolitisch das Fehlen eines »politischen Glaubens«, durch den die »breite Mitte des politischen Spek­ trums« eingebunden werden könne, für den ausschlaggebenden Krisen-und Verfallsfaktor.11 Hebt man die politisch-kulturelle D imension dieser Kri­ senthesen heraus, so zeigt sich, daß zwei spiegelverkchrte Generalisierungen der angeführten Krisensymptome möglich sind, die zu einem internen oder 196 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

aber externen Erklärungsmodell fuhren. Beide sind jüngst im Rahmen vergleichender soziokultureller Studien zur Entfaltung westlicher industrie­ kapitalistischer Gesellschaften verwandt worden. Für Ernst Nolte ist das »Liberale System« von außen zerstört worden, weil es, von seiner Eigenlo­ gik her auf Ausbalancierung und Pluralisierung von Gegenkräften her ange­ legt, zwangsläufig dann kollabiert, wenn sich Gesellschaften wie auch die wilhelminische zwar scheinbar pluralistisch öffnen, ihre Interessenkämpfe tatsächlich aber ideologisch oder politisch kompromißlos und mit Absolut­ heitsanspruch fuhren.12 Seitenverkehrt zu diesem Modell sieht Richard Münchs »Kultur der Moderne« die Zerstörung des Liberalismus von innen heraus, weil in den entscheidenden Umbruchphasen der elitäre deutsche Bildungsliberalismus mit seinem »heroischen Individualismus der inneren Freiheit« zu wenig auf den ökonomischen Liberalismus abgestrahlt habe, der wiederum der »autoritativen Industrialisierung keine ideellen Grenzen« ziehen konnte. Im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern seien in Deutschland deshalb von den Gesellschaftsbildern des Ständestaates, der Rätedemokratie oder der Volksgemeinschaft stets eine stärkere Faszination ausgegangen als von der pluralistischen Kontraktgesellschaft.13 Während im ersten Modell von einer erforderlichen gesamtbürgerlichen Sozialmoral auf die Verfassung des Liberalismus geschlossen wird, wird im zweiten die liberale Binnenmoral auf ihre gesamtgesellschaftliche Ausstrah­ lungskraft hin geprüft. D er erste Aspekt läßt sich nur im Rahmen einer umfassenden Gesamtdarstellung der Epoche bearbeiten. Hinsichtlich des zweiten Aspekts läßt sich nun fragen: Wenn einerseits der parteipolitische Liberalismus verfällt, andererseits die Gesamtgesellschaft sich gleichzeitig verbürgerlicht, und wenn man die analytische Scheidung von Liberalismus und bürgerlicher Industriegesellschaft nicht überstrapaziert, dann muß sich aufzeigen lassen, über welche Kommunikationskanälc liberale Energien an diesem Verbürgerlichungsprozeß beteiligt sind und wie auch nach 1890 eine solche Binnenmoral noch aufrecht erhalten wird. Zu einseitige Betonungen des Niedergangs haben dazu geführt, daß die längst aufgeworfenen Fragen nach den Einflußchancen liberaler Gesinnungsmilieus auf die politische Kultur und »Mentalität der Wilhelrniner«14 nicht wieder aufgegriffen wor­ den sind, so vor allem die nach dem »Spannungsverhältnis zwischen voran­ getriebener Parlamentarisierung und blockierter D emokratisierung«, das sich aus dem »Umbruch politisch-gesellschaftlicher Verhaltens- und Erwar­ tungsmuster« ergibt.15 D iese Fragen verweisen vor allem auf die gesell­ schaftlichen Stützen des Liberalismus, die protestantischen Mittelschich­ ten16 und speziell deren bildungsbürgerliche Eliten.

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2. D as liberal-protestantische Bildungsbürgertum Wenn es stimmt, daß im Gegensatz etwa zu England die deutsche Staats­ und Gesellschaftsverfassung bei überlegenen technisch-effizienten politi­ schen Steuerungskapazitäten durch die gravierenderen Sinn- und Integra­ tionskrisen gekennzeichnet ist, dann kommt der Orientierungsleistung der Kultur- und Werteliten, dem sprichwörtlichen Bildungsbürgertum also, im europäischen Vergleich eine erhebliche Bedeutung zu. Trotz seiner Margi­ nalisierung durch die Professionalisierung der Berufe, Expertenorientierung und spezialisiertes Leistungswissen stellt es gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur eine »Zwischenpause zwischen der Aufhebung der ständischen Gesellschaft und der modernen arbeitsteiligen ›Lcistungsgesellschaft‹«17 dar. Es markiert in seiner D oppelfunktion, Vermittler von Werten und Wissen sowie Ort der Selbstaufklärung und der Selbstkritik zu sein,18 viel­ mehr besonders deutlich deren Umbruchkonflikte. Die zunehmende Auseinandersetzung des Bildungsbürgertums mit den industriekapitalistischen Phänomenen ist am besten ablesbar an den neuen Vereinsorganisationsformen, dem sehr akademischen »Verein für Sozialpo­ litik«, der sich in den neunziger Jahren durch neue Enquete-Methoden eine breite Resonanz verschaffte, dem 1890 gegründeten »Evangelisch-sozialen Kongreß« und, eng verbunden aber sozial praktischer orientiert, der 1901 gegründeten »Gesellschaft für Soziale Reform«. In ihnen fand das Bildungs­ bürgertum quer zu den Parteifronten ein gemeinsames Forum, um sozialpo­ litische Reformstrategien zu erörtern. Nicht zu vergessen ist der einzige Versuch dieser in einem recht dichten Kommunikationsnetz untereinander verbundenen Gruppen, mit dem Programm eines proletarisch-bürgerlichen Gesamtliberalismus direkt parteipolitisch zu reüssieren. D er »Nationalso­ ziale Verein« (1896—1903), von den Führungsgruppen her fest in der Hand des protestantischen Bildungsbürgertums, blieb jedoch Episode; seine In­ itiatoren erkannten von vornherein, daß eine Bildungsschicht von nicht 1% der Bevölkerung ihren selbstgewählten Anspruch, »die Propheten und die Vertreter der Gesamtinteressen der Nation zu sein«, unter den Bedingungen des allgemeinen Reichstagswahlrechts wohl kaum stimmenmäßig honoriert bekomme. 19 Die sozialpolitischen D ebatten dieser bildungsbürgerlich dominierten Vereine, ihre Organisationsformen mit zum Teil beachtlicher lokaler Unter­ gliederung sowie ihre Rückwirkungen auf den sozialpolitischen Kurs wie in der Bülow-Ära sind eingehend untersucht;20 hier interessiert nun die Frage, wie weit darüber hinausgehend die Auseinandersetzung um die Kultur der Moderne mit den auch hier typischen Richtungskämpfen zwischen traditio­ nalen und modernitätsorientierten Fraktionen zu Klärungsprozessen geführt hat, in denen das liberal-protestantische Milieu zu einem neuen Profil gefun­ den hat. Begriffsgeschichtliche Untersuchungen zeigen deutlich, wie um die Jahrhundertwende »an die Stelle der ›sozialen Frage‹ (...) im öffentlichen 198 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

bürgerlichen Bewußtsein die ›ku' arelle Frage‹« getreten ist. 21 D er Haupt­ grund dafür ist in den Anstrengungen zu suchen, bei schwindenden ­ religiös legitimierten - Traditionsbezügen und der Pluralisierung der Mei­ nungen, auch der Wissenschaften, neue Maßstäbe für eine sinnhafte Gesamt­ deutung gesellschaftlicher Wirklichkeit zu finden. Charakteristisch sind po­ pularisierende Bücher wie Gertrud Bäumers »Die soziale Idee in den Weltan­ schauungen des 19. Jahrhunderts«, das ganz in der Sprache der neueren Sozial- und Kulturwissenschaften nach der »Bedeutung einer Gesellschafts­ ordnung für die Kultur« fragt und speziell dem Liberalismus die Aufgabe zuweist, »der Wirtschaft das Kulturideal der Freiheit abzuringen«.22 D ie Hervorhebung durch die Autorin zeigt, wie sehr die Verträglichkeit von wirtschaftlichem und kulturellem Fortschritt nunmehr bezweifelt wird. Solche Problematisierungen stärkten die Binnenmoral des von Haus aus eher zerbrechlichen liberal-protestantischen Milieus und erleichterten den »Dialog der Schwerhörigen«. 23 Bei seiner Suche nach neuer weltanschauli­ cher Grundlegung anstelle des ausgedienten Utilitarismus erkannte der poli­ tische Liberalismus verstärkt die Lebensgestaltungskraft religiös-geistiger Strömungen an, statt sie nur als Obskurantismus zu bekämpfen.24 Umge­ kehrt öffneten sich einflußreiche Gruppierungen des Protestantismus einer konstruktiven Auseinandersetzung mit der Moderne und sahen in der Säku­ larisierung nicht mehr nur einen widernatürlichen Verfallsprozeß. D iesen »kulturprotestantischen« Gruppen lieferte der Liberalismus die angemesse­ ne politische Ordnungskonzeption, fur den sie dann auch öffentlich als Wahlhelfer auftraten.25 Allerdings schaffte dieses Näherrücken von Libera­ lismus und Kulturprotestantismus parteiensoziologisch zugleich neue Tren­ nungslinien. D as Ziel »Gesamtliberalismus« rückte nicht näher, es verhärte­ ten sich vielmehr die Beziehungen zwischen Nationalliberalen und Linksli­ beralen im Vorfeld der Gründung der Fortschrittlichen Volkspartei. Und die Protestanten sahen sich nun neu in die Lager des liberalen Kulturchristen­ tums mit seiner Individualmoral des Bildungsbürgertums und in das des konservativen Missionschristentums mit seiner Gemeinschaftsmoral der »kleinen Leute« gespalten.26 D amit blieb die soziale Basis weiterhin schwach für den Versuch, im Ausgleich nationaler und sozialer Komponen­ ten den Gesamtrahmen für eine bürgerliche Verfassungskultur, für eine pluralistische Konfliktregelung wirtschaftlicher und sozialer Interessen­ kämpfe und für eine positive Haltung zu den modernen Kulturphänomenen zu schaffen, den Zielen also, die dieses Milieu stärker als die übrigen zur Überwindung der subkulturellen Aufspaltung der Gesamtnation anstrebte. Von ganz erheblicher Bedeutung für die Ausprägungschancen liberaler Kulturwerte blieben regionalspezifische Unterschiede. Gegenüber Preußen befand sich etwa Badens liberal-protestantisches Milieu in einem fast kon­ trären politischen Umfeld mit anderen Artikulationsmöglichkeiten und an­ derem Resonanzboden. D er Protestantenverein, der auf Reichsebene zuneh­ mend an Einfluß verlor, blieb hier mit seinen publizistischen Organen wie 199 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

dem »Evangelisch-protestantischen Kirchenblatt« eine wirksame sozial-li­ berale Kritikinstanz gerade auch gegenüber der nationalliberalen »Regie­ rungspartei«. 1909 hielt hier ferner eine liberale Generalsynode das Frauen­ wahlrecht für durchaus erwägenswert. 27 In Preußen andererseits stand der »Protestantenverein« nicht nur kirchenpolitisch in einer deutlichen Minder­ heitenposition, wie sich z. B. an der zähen Alltagsarbeit von Karl Schraders Berliner »Kirchlich-liberalem Zentralwahlverein« ablesen läßt.28 Friedrich Naumann, der bei seiner Parteiarbeit vor allem auch auf die liberalen prote­ stantischen Geistlichen setzte, hat deshalb in die von München und Heidel­ berg ausgehende Gründung des Nationalvereins für das liberale D eutsch­ land (1907—1918) die Hoffnung gelegt, die Erneuerung des Liberalismus müsse für das gesamte Reich und seine Nationalkultur vom Süden her erfolgen.

3. Prägung, Stereotypisierung und Verbreitung liberaler Gesellschaftsbilder Der Wunsch, den der liberale Nationalökonom und Historiker Ignaz Ja­ strow 1889 nach »D urchtränkung der Wissenschaft mit liberalem Geiste« äußerte, klingt nach dem strengen Gebot der »Werturteilsfreiheit« sinnwi­ drig. Was damit gemeint war, wird aber unter wissenschaftspolitischem und bildungssoziologischem Aspekt deutlich. Wissenschaft, wie Jastrow sie auf­ faßte, wurde mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zum wichtigsten Steue­ rungsinstrument bei der Prägung von Weltbildern und hier habe der Libera­ lismus, gerade während seiner erfolgreichen Zeit als Regierungspartei, im Gegensatz zu den Staats- und Gesellschaftslehren von Sozialdemokratie, Katholizismus und der »Historisch-ethischen Schule« des Kathedersozialis­ mus, eine Entwicklung glatt verschlafen.29 In der Tat läßt sich in Anknüp­ fung an diese zeitgenössische Überlegung sagen: auf dem Höhepunkt ihrer praktisch-politischen Wirksamkeit nach 1871 und im Bann eines ungebro­ chenen Fortschrittsoptimismus bauten die liberalen Eliten ihre sozialtechni­ sche Kompetenz aus, verloren aber an sozial-, Staats- und kulturkritischer Kompetenz. Dies wurde ihnen in der Verarbeitung der Modernisierungskri­ se nach 1890 nur zu bewußt. Vor allem das liberale Bildungsbürgertum unternahm alle Anstrengungen, zum Beispiel mit Hilfe der genannten Ver­ eine, diese kritische Kompetenz wiederzugewinnen. Nur als Untersu­ chungsperspektive kann im folgenden angedeutet werden, wie der Libera­ lismus politisches Terrain mit klassisch bildungsbürgerlichen Mitteln - im Wissenschaftssektor, in der Publizistik sowie im Vereins- und Bildungswe­ sen - wieder zu besetzen suchte. Wissenschaftlich rebellierten in den 90er Jahren die jüngeren, liberalen Schulen der Nationalökonomie - der neuen gesellschaftsthcoretischen Leit200 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Wissenschaft - erfolgreich gegen den staatsbürokratischen Kathedersozialis­ mus. Gegen Staatssozialismus wie auch gegen romantischen Antikapitalis­ mus verfochten besonders Lujo Brentano und sein Schüler Gerhart von Schulze-Gävernitz mit erheblicher Resonanz in der Öffentlichkeit die Voll­ industrialisierung verbunden mit einer »englischen« Sozialpolitik. D abei mußten sie allerdings die irritierende Erfahrung machen, daß linksliberale Parteiführer aus ideologischer Unbeweglichkeit, wohl auch aus Perspektiv­ losigkeit, diesen Kurs nicht unterstützten, wie etwa Brentanos Streit mit Ludwig Bamberger zeigte. Der Streit entzündete sich an der Arbeiterschutz­ gesetzgebung, war aber auf den politischen Charakter von Arbeitsverträgen überhaupt gemünzt. Brentano nannte den Arbeitskontrakt entgegen altlibe­ raler Ideologie ungeschminkt ein »Herrschaftsverhältnis«, das die »Exi­ stenzbedingungen nicht des wirtschaftlichen, sondern des persönlichen Le­ bens des Arbeiters festsetzt«. Nur aus einer realistischeren Einschätzung kapitalistisch bedingter Sozialbeziehungen heraus könne der Liberalismus weiterhin treibende Kraft des »Kulturfortschritts« sein. 30 Deutlicher läßt sich die Wiederbesetzung Staats- und sozialtheoretischer Themen noch an den liberalen Diskussionen um eine demokratischere Herr­ schaftsordnung veranschaulichen. D er staatsrechtliche Positivismus des Kaiserreichs hatte die soziale D imension des Staates so gut wie vollständig ausgeblendet, wie Gerhard Dilcher herausgearbeitet hat, und vor allem die Frage »der Gerechtigkeit in einer entwickelten Industriegesellschaft« ausge­ klammert.31 Georg Jellinek, auf dessen ideengeschichtliche Arbeiten sich unter anderen Friedrich Naumann immer wieder beriet, eröffnete in seiner »Allgemeinen Staatslehre« mit kritischer Anknüpfung an Otto von Gierke diese soziale Perspektive erneut.32 Im wesentlichen aber Hugo Preuß, als Jude ein Außenseiter des universitären wie auch des liberalen Spektrums, verlieh Gierkes genossenschaftlicher Verbandstheorie den entschieden libe­ ralen Stempel. Sein zugespitztes Modell der Wesensgleichheit aller Gebiets­ körperschaften vom lokalen bis zum staatlichen Verband diente als neues Fundament liberaler Staatsthcorie.33 Überhaupt, allerdings ohne die bei Gierke oder Preuß noch vorhandenen ontologischen Implikationen, wurde »Verband« zu einem Grundbegriff der politischen Soziologie des Liberalis­ mus. Bemerkenswert ist, wie das Verbandsmodell, zu dem nicht zuletzt die Entmythisierung des Staates als übergesellschaftliches Wesen gehört, vom Kulturprotestantismus zur soziologischen Bestimmung von »Kirche« und »Sekte« und zur Charakterisierung der christlichen Moral als »Privatmoral« aufgegriffen wurde. Ein solcher Begriff liegt etwa Ernst Troeltschs christ­ lich-anthropologischer Fundierung einer »Politischen Ethik« zugrunde, die die menschliche Doppelnatur in der Entfaltung zwischen individuell-demo­ kratischem Persönlichkeitsprinzip und aristokratisch-autoritätsbezogenem Herrschaftsprinzip sieht. Sehr kritisch rezipierte Troeltsch den Liberalismus dabei einerseits als zu schwache eigenständige politische Gestaltungskraft; andererseits schrieb er gerade ihm die schwierige Aufgabe der konkreten 201 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

politischen Vermittlung dieser beiden Prägetypen politischer Ordnung zu und empfahl auf seiner 1904 vor dem »Evangelisch-sozialen Kongreß« gehaltenen Rede unverblümt, in der gegenwärtigen Lage liberale Parteien zu wählen.34 Die Gesellschaftsbilder liberaler Theoretiker, besonders der Nationalöko­ nomen, deren Prestige in dem Maße wuchs, wie das Vertrauen in die Orientierungsleistung der Allgemeinhistoriker sank, führten allerdings zu keiner weltanschaulichen Geschlossenheit, vielmehr gab es charakteristische Dichotomien. So wurde die Integration in die Industriegesellschaft, der »Industrialismus«, im Freiburger kameralistischen Seminar von Schulze­ Gävernitz oder Eugen von Philippovich mit optimistischem Zukunftsblick als Harmonisierungsprozeß beschrieben, garantiert durch den naturwissen­ schaftlich-technischen Fortschritt und seine »Verbesserung unseres Woh­ nens, unserer Ernährung, unserer Kleidung, unserer Körperpflege, eine Verkürzung unserer Arbeitszeit [. . . als] Träger unserer Kulturentwick­ lung.« 35 D irekt gegen diesen als viel zu naiv empfundenen Fortschrittsglau­ ben richtete sich Max Webers vielinterpretierte Freiburger Antrittsrede von 1895, die vom Dauerkonflikt oder permanenten Kampf um politische Werte handelte, sich die Konfliktlösungen jedoch auch nur im Rahmen bürgerli­ cher Vergesellschaftung denken konnte. D ie Haltung der Liberalen zum Staat drückt eine Gegenüberstellung von Friedrich Naumann typisch aus: »Die Staatsbejahung des Liberalismus liegt in der demokratischen Richtung auf Parlamente, Wahlrechte und Selbstverwaltung. D ie Staatsverneinung liegt in der individualistischen Richtung auf Menschenrechte, Gewerbefrei­ heit, Handelsfreiheit, Freizügigkeit, Kultur-und Religionsfreiheit«.36 Aller­ dings erfaßt diese eher schulmäßige D efinition nur unzureichend das tat­ sächliche Spannungsfeld zwischen Staatsintervention und Selbstorganisa­ tion, das sich eher als eine »integrationspolitische Ermessensfrage des natio­ nalen Machtstaates« stellte.37 Die Auslotung solcher integrationspolitischer Ermessensspielräume kristallisierte sich dabei mehr und mehr zum pragma­ tischen Richtmaß liberaler Wertvorstellungen heraus. D ie Machtstaatsidco­ logie insbesondere sollte nicht zuletzt die Funktion erfüllen, das bürgerliche Epigonenbewußtsein des »fin de siècle« von einer Flucht in die Ästhetik abzuhalten und den Raum politischer Öffentlichkeit zu erweitern. Charakteristisch für die Lenkung der öffentlichen Meinung war seit dem Vormärz die enge Verzahnung von Wissenschaft und Publizistik. Ausdiffe­ renzierungen zum Jahrhundertende hin prägten hier eine neue Figur: den Berufsjournalisten, den leitenden Redakteur. Bereits der erste D eutsche Soziologentag (1910) hat die Bedeutung des modernen Pressewesens voll erkannt und eine Enquete angeregt, um herauszufinden, zu welchem Machtfaktor Presse, einem »kommandierenden General« gleich, für die modernen Lebensverhältnisse geworden sei. 38 Die Bedeutung der liberalen Publizistik für die Stercotypisierung von Gesellschaftsbildern ist am Beispiel einiger herausragender Vertreter wie 202 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Naumann, Theodor Barth oder Martin Rade demonstriert worden.39 Zu wenig bekannt ist noch die systematische Nutzung des modernisierten Pressewesens und die Rolle, die der professionalisierte Journalistenberuf dabei spielt. Geradezu neidvoll blickten die Liberalen auf die straffe Organi­ sation des »Volksvereins für das katholische D eutschland«, der mit seiner gut koordinierten Fresse seinerseits den liberalen »Individualismus« und »Materialismus« als Hauptübel der Zeit vehement bekämpfte. Mit Stoßrich­ tung gegen den politischen Katholizismus baute der Protestantismus in den 90er Jahren ebenfalls leistungsstarke Presseverbände auf Landesebene auf, die, 1911 im Berliner »Evangelischen Preßverband für Deutschland« zusam­ mengeschlossen, bis hin zu der kontinuierlichen Kontrolle von Lokalzeitun­ gen durch sog. »Vertrauensmänner« durchorganisiert waren. Formal war der von der »Inneren Mission« getragene Preßverband politisch unabhängig und kein »Schleppenträger des Kirchenregiments«, de facto tendierte der von den Fürstenhäusern wie vom »Evangelischen Bund« finanziell unter­ stützte Verband jedoch eindeutig zur konservativen Öffentlichkeitsarbeit. Eine Ausnahme bildete hier wiederum Baden, wo sich liberale Pfarrer dieser Instrumente bedienten, um eine bessere Abstimmung des kirchlichen mit dem politischen Liberalismus zu erzielen.40 Die klassische Organisationsform liberaler Politik blieb der »Verein«. Aber während zur Zeit der Hochindustrialisierung das Vereinswesen blühte, hat James J . Sheehan gerade hier den entscheidenden Verlust liberaler Ein­ flußnahme verzeichnet. D as größte Problem einer Auseinandersetzung mit dieser These besteht darin, daß das Vereinsspektrum mit liberaler Prägung, das so unterschiedliche Typen wie den »Bund deutscher Frauenvereine«, die »Deutsche Kulturpartei«,41 den »Reichsverband liberaler Arbeiter und An­ gestellten« oder den politisch herausragenden »Nationalverein für das libe­ rale Deutschland« umfaßt, in einen Zusammenhang gebracht werden müß­ ten, als Gegenfolie zu Hans Mommsens Überblick über die neokonservati­ ven Weimarer Organisationen mit ihrem bündisch-esotcrischen Charakter und dem »Rückgriff auf vorliberale Assoziationsformen«. D enn vor dem Weltkrieg bildeten auch die Liberalen ein »Netzwerk der Eliten« mit erhebli­ chen personalen Querverbindungen zum politischen Gesamtsystem.42 Dies gilt zentral für die genannten sozialreformerischen Vereine mit ihren Träger­ schichten aus dem liberal-protestantischen Bürgertum. Für eine weiterge­ hende Charakterisierung dieses Milieus ist eine Gegenüberstellung der bei­ den antagonistisch zueinander stehenden konfessionellen Großverbände selbst, des kulturprotestantischen »D eutschen Protestantenvereins« mit dem allerdings zehnmal so mitgliederstarken »Evangelischen Bund« auf­ schlußreich. Beides waren im weiten Sinne liberale Gründungen,43 was sie in ihrer verbandspolitischen Entwicklung jedoch zunehmend unterschied, war ihre Einschätzung von Deutschlands Weg in die Moderne, das Sonder­ weg- bzw. Sonderkulturprogramm mit seiner unterschiedlichen Konstitu­ ierung von Geschichtsbildern. Unter gleicher Berufung auf Luther zielte der 203 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

»Evangelische Bund« auf die Profilierung einer besonderen deutschen Na­ tionalkultur, während der »Protestantenverein« verstärkt um eine Über­ brückung der Kluft zwischen deutscher und westeuropäischer Kultur be­ müht war. Hält man dem zweifellos wachsenden antiliberalen Netzwerk im Wil­ helminismus das politische Kommunikationsnetz liberaler Organisationen entgegen, so läßt sich nicht zwingend auf eine resignierende Selbstpreisgabe liberaler Kulturwerte schließen. Besonders die gut organisierte bürgerliche Frauenbewegung nutzte sie für ihre Emanzipationsziele; Helene Langes Zeitschrift »D ie Frau« bot dafür ein geeignetes Forum. D ort wurden von Professionalisierungsfragen zu Schlüsselberufen wie Ärztin oder Lehrerin bis zur Bedeutung eines liberalisierten Vereinsrechts für die Frauenpolitik alle Zeitfragen mit hohem Problembewußtsein erörtert. Hier wie in den anderen Vereinen und Verbänden ist generell eine erneuerte Bildungsideolo­ gie erkennbar. Am ehesten läßt sie sich als Gegensteuerung gegen die zunehmende Bürokratisierung erklären, als den Versuch, durch »Volksbil­ dung« den Spielraum gesellschaftlicher Selbststeuerung gegenüber den Ni­ vellierungstendenzen der Massengesellschaft zu erhöhen. D as Spektrum reichte von den Weiterbildungskursen des »Evangelisch-sozialen Kongres­ ses« über die Bildungsarbeit des »Nationalvereins für das liberale D eutsch­ land«, der in breitgefächerten Ausbildungskursen mit »Beziehung zur libe­ ralen Weltanschauung« die Hauptaufgabe seiner »gesamtliberalen« Vereins­ politik sah,44 bis zu den Plänen einer politischen Akademie, die mit der Gründung der »D eutschen Hochschule für Politik« allerdings erst 1920 verwirklicht wurden. In dieser Bildungsideologie, die zum »Revisionismus« im eingangs er­ wähnten Sinne Theodor Barths gehört, kam zur Jahrhundertwende weniger ein Ohnmachtsgefühl als ein wiedererstarktes liberales Selbstbewußtsein zum Ausdruck. D er verstärkte Glaube an die Durchsetzungskraft und All­ gemeinverbindlichkeit liberaler Kulturwerte, der diese Selbstmobilisierung antrieb, beruhte allerdings in einer doppelten Hinsicht auf einem Trug­ schluß. Gerade weil der Liberalismus nach 1890 sich in eine Offensive zur Wiedererlangung seiner sozialkritischen Kompetenz begab, bewirkte er statt der erhofften Harmonisierung im Gegenteil eine Verschärfung der innerbür­ gerlichen Spannungen. Je offensiver wirtschaftlicher Fortschritt, Rationalis­ mus und Individualismus als Kulturziele verfochten wurden, um so schärfer profilierte sich eine antikapitalistische, antirationalistische und antiindivi­ dualistische Gegenideologie. Zugleich erwies sich die gewünschte Steue­ rung gesamtgesellschaftlicher Integration durch »Bildung« insofern als Illu­ sion, als Bildungspatente inzwischen zu schwer überwindbaren Ausgren­ zungskriterien für bürgerliche Statusdifferenzierungen geworden waren.45 Die Umsetzung der liberalen Ordnungsentwürfe, so wie sie an der Leitfrage orientiert waren - wie kann »Persönlichkeit« im Zeitalter industrieller Groß­ betriebe und eines bürokratischen Interventionsstaates erhalten bleiben? 204 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

fand hier eine doppelte Grenze. Insofern war letztlich die D urchsetzung liberaler Prinzipien in der Weimarer Reichsverfassung ein Pyrrhussieg, denn im scharfzüngigen Streit der Weltanschauungen wurde die auf Institutionali­ sierung und Ausgleich von Gegenkräften hin angelegte liberale Ideologie nunmehr verstärkt als »Weichtierbildung« bekämpft.46

Anmerkungen 1 Th. Barth, Liberaler Revisionismus, in: Die Nation 21, 1903/04, S. 194. 2 Zum »Gestaltwandel« des Liberalismus und zur Auseinandersetzung mit den neuen indu­ striellen Produktionsformen durch die liberalen Theoretiker, die eine Veränderung der Welt­ und Lebensanschauung, der Freiheitsidee und des Verfassungsgedankens nach sich zog, vgl. L. Gall/R. Koch (Hrsg.), D er europäische Liberalismus im 19. Jahrhundert, 4 Bde., Frankfurt 1981, dort die Einleitungen der Herausgeber Bd. 1, S. XXIII f., und Bd. 3, S. XIV, XXVIII. In zusammenfassender Darstellung auch J . J . Sheehan, Der deutsche Liberalismus, München 1983, das Kapitel »Von der Bewegung zur Minderheit«, S. 261 ff. 3 H.-U. Wehler, Wie »bürgerlich« war das Deutsche Kaiserreich? in: J . Kocka (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 271. D en Verlust an bürgerlicher »Identität« bzw. »Bindekraft« thematisieren im selben Band vor allem auch J. Kocka, Bürger­ tum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert, S. 45ff., und M. Rainer Lepsius, Zur Soziologie des Bürgertums und der Bürgerlichkeit, bes. S. 90. H. Mommsen sieht im »Rückgriff auf vorliberale Assoziationsfor­ men« seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert einen generellen »Aushöhlungsprozeß spezifisch bürgerlicher Sozialformen« (D ie Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert, ebd., S. 291 f.). 4 In dem bekannten Aufsatz »Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demo­ kratisierung der deutschen Gesellschaft« (abgedruckt in: G. A. Ritter (Hrsg.), Deutsche Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56-80) hat M. Rainer Lespius die D auerhaftigkeit der Binnenmoral solcher Milieus und ihrer sozialmoralischen Wertvorstellungen für das Parteienfeld in einer sich pluralistisch öffnenden Industriegesellschaft betont, vgl. bes. S. 76f. Zum hohen Fragmentie­ rungsgrad der politischen Kultur vgl. den Überblick von P. Steinbach, Politische Kultur. Wertvorstellungen zwischen ständischer Gesellschaft und Moderne, in: Ploetz. D as deutsche Kaiserreich, hrsg. v. D. Langewiesche, Freiburg/Würzburg 1984, S. 197-214. 5 Siehe z. B. P. Arndt, Sozialer Liberalismus, in: Die Nation, 20, 1902/03, S. 756-758. 6 Vgl. Saitmann, »Liberalismus als Prinzip« (1904), in: ders., Werke, Bd. 4, Köln/Opladen 1966, S. 254. Ähnliche Einschätzung bei Th. Barth, Was ist Liberalismus?, in: Die Nation, 22, 1904/05. S. 402ff., hier S. 403. 7 Exemplarisch Lujo Brentanos Streit mit Ludwig Bamberger, vgl. Anm. 30. 8 »Nationale Fortentwicklung bedeutet aber stets nationale Machterweiterung, sei es in geistiger, in wirtschaftlicher oder in politischer Beziehung. Bei dem heutigen Kulturstande der Menschheit wird diese nationale Machtentwicklung der kriegerischen Instrumente unter Um­ ständen nicht entbehren können. Diesen Instrumenten die höchste Vollkommenheit zu geben, entspricht durchaus den Aufgaben des Liberalismus.« (Barth, S. 438). W. J . Mommsen hat in diesem »Sicheinlassen mit dem Imperialismus« den entscheidenden Schritt zur Selbstpreisgabe liberaler Ideale gesehen: »Wandlungen der liberalen Idee im Zeitalter des Imperialismus«, in: K. Holl u. C List (Hrsg.), Liberalismus und imperialistischer Staat, Göttingen 1975, S. 109-147, hier S. 110. 9 Sheehan, S. 280ff. 10 So G. Trautmann, D ie industriegesellschaftliche Herausforderung des Liberalismus.

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Staatsintervention und Soziaircform in der Politikökonomie des 18./19. Jahrhunderts, in: K. Holl u. a. (Hrsg.), Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986, S. 34-56, bes. S. 47 f. 11 Th. Nipperdey, Probleme der Modernisierung in Deutschland, in: ders., Nachdenken über Geschichte, München 1986, S. 44-59, Zitate S. 56. 12 E. Nolte, Marxismus und Industrielle Revolution, Stuttgart 1983, bes. S. 303f., 497. 13 R. Münch, D ie Kultur der Moderne, Bd. 2, Frankfurt 1986, S. 796-816, Zitate S. 816, 799. 14 So die etwas eigenwillige Formulierung bei M. Doerry, dessen Studie »Übergangsmen­ schen. D ie Mentalität des Wilhelminismus und die Krise des Kaiserreichs« (Weinheim/Mün­ chen 1986) ganz auf den sozialpsychologischen Umkreis einer antiliberalen, antiautoritären Geistesverfassung des Kaiserreichs angelegt ist, ohne aber die Gesinnungsmilieus konstruktiv gegeneinander abzugrenzen. Bei Lepsius, der eine solche Abgrenzung mit nach wie vor schlüs­ siger heuristischer Erklärungskraft vorgenommen hat, bleibt das »bürgerlich-protestantische Milieu« weit schwächer konturiert als die übrigen. 15 D . Latigewiesche, D as D eutsche Kaiserreich. Bemerkungen zur D iskussion über Parla­ mentarisierung und D emokratisierung D eutschlands, in: AfS 29, 1979, S. 628-642, Zitate S. 641, 634. 16 So auch Sheehan, S. 278, 284, 320-332, ohne daß allerdings »Protestantismus«/»prote­ stantisch« ins Register aufgenommen wurde. 17 W. Conze u. J . Kocka (Hrsg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil I. Bildungssy­ stem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen, Stuttgart 1985, hier Einleitung, S. 26. Zur Gegenüberstellung der konventionalistischen politischen Kultur Englands und einer zweckrationalen Systemorientierung in D eutschland vgl. K. Rohe, Zur Typologie politischer Kulturen in westlichen D emokratien. Überlegungen am Beispiel Großbritanniens und Deutschlands, in: H. Dollinger u. a. (Hrsg.), Festschrift für Helmut Gollwitzer, Münster 1982, S. 581-596. 18 Vgl. U. Haltern, Bürgerliche Gesellschaft. Sozialtheoretische und sozialhistonsche Aspekte, D armstadt 1985, S.92ff. Zur dominierenden Rolle des Bildungsbürgertums im Kaiserreich innerhalb der bürgerlichen Fraktionen auch Wehler (wie Anm. 3), bes. S. 248. 19 Protokoll über die Vertreterversammlung aller National-Sozialen in Erfurt vom 23. bis 25. Nov. 1896, Berlin 1896, Zitat aus einem hier noch ganz optimistisch gestimmten D iskus­ sionsbeitrag Naumanns zum §5 der »Grundlinien«: »D ie Gebildeten« (ebd., S. 44). Vgl. die sehr präzise Analyse des Scheiterns dieses Konzepts bei P. Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen D eutschland (1860-1919), Baden-Baden 1983, S. 53ff. 20 Im Zusammenhang und mit erschöpfender Literatur bei R. vom Bruch, Bürgerliche So­ zialreform im deutschen Kaiserreich, in: ders. (Hrsg.), Weder Kommunismus noch Kapitalis­ mus, München 1985, S. 111ff. Vgl. auch zwei neuere Beiträge der D D R-Forschung, die in ihrem Ansatz nach wie vor von unüberbrückbaren Klassengegensätzen zwischen Bürgertum und Proletariat ausgehen. Gerade weil sie Lenins Diktum der »Methode des ›Liberalismus‹« als subtiler Herrschafts- und Unterdrückungsstrategie folgen, kommt die Reichweite dieser Ver­ einstätigkeit recht gut zum Ausdruck: J . Villain, D er Nationalsoziale Verein 1896-1903. Seine Rolle und Funktion zu Beginn der Epoche des Imperialismus unter besonderer Berücksichti­ gung seiner Stellung zur Arbeiterbewegung, D iss. (masch.) Jena 1985; G. Müller, Bürgerliche Sozialreformbestrebungen nach den Reichstagswahlen von 1907. Zu Konzeption und Wirk­ samkeit der Gesellschaft für soziale Reform, in: ZfG, 35, 1987, S. 308-319. 21 Zitat bei R. vom Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen D eutschland (1890-1914), Husum 1980, S. 30f. Wie stark »Kultur« zu einem Schlüsselbegriff in Philosophie, Theologie und Gesellschaftswissenschaften dieser Zeit wurde, zeigen W. Perpeet, »Kulturphilosophie«, in: AfB, 20, 1976, S. 42-99, sowie mit beson­ derer Berücksichtigung zum Liberalismus Κ W. Graf, Kulturprotestantismus. Zur Begriffsge­ schichte einer theologiepolitischen Chiffre, in: AfB, 28, 1984, S. 214-268. 22 Heilbronn 1910, Zitate S. 2, 365.

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23 Μ. Stürmer, Dialog der Schwerhörigen: Liberalismus und Kirche im Zeitalter des Natio­ nalstaats, in: ders.: Dissonanzen des Fortschritts, München/Zürich 1986, S. 138-150. 24 Vgl. Naumanns werbende Rede zum Thema »Religiöser und politischer Liberalismus« auf dem 24. Deutschen Protestantentag 1909, unter dem Titel »Liberalismus und Protestantis­ mus«, in: Naumann, Werke, Bd. 1, Köln/Opladen 1964, S. 773-801. 25 D ies gilt besonders für den Herausgeber der »Christlichen Welt«, Martin Rade. Vgl. die als Broschüre erweiterte Artikelserie »Mehr Idealismus in der Politik«, Jena 1911, bes. S. 32ff. mit einer bemerkenswerten Einschätzung der sozialen Rekrutierungsversuche des Liberalismus. Ein für Rade springender Punkt für dessen staatstheoretische Schwäche: »Eine schwere Erfah­ rung ist es für den Liberalismus unserer Tage, daß ihm der Juristenstand versagt« (S. 37). Zum Kulturprotestantismus siehe F. W. Graf, Kulturprotestantismus wieder aktuell, in: Lutherische Monatshefte, 25, 1986, S. 309-312. 26 So K. Veller, Kulturchristentum und Missionschristentum in: Christliche Welt, 26, 1912, S. 427-429. 27 H. Liermann, D ie vereinigte evangelisch-protestantische Kirche des Großherzogtums Baden im konstitutionellen Staat 1818-1918, in: Vereinigte Evangelische Landeskirche in Baden 1821-1971, hrsg. v. H. Erbacher, Karlsruhe 1971, S. 521-554, hier S. 552. 28 D ies veranschaulicht ein Blick durch das von Karl Schrader herausgegebene Mitteilungs­ blatt »Kirchlich-liberal«, Jahrgang 1-6, Berlin 1903-1908. 29 I. Jastrow, Der Liberalismus und die Wissenschaft, in: VjSchr. f. Volkswirtschaft, Politik und Kulturgeschichte, 26, 1889, Bd. 4, S. 1-41. Vgl. zur wissenschaftssoziologischen Ein­ schätzung des Liberalismus auch M. Bock, Soziologie als Grundlegung des Wirklichkeitsver­ ständnisses. Zur Entstehung des modernen Weltbildes, Stuttgart 1980, S. 186f. 30 Schreiben Brentanos an die Redaktion der »Nation«, von Theodor Barth mit einer Vorbemerkung »D er Niedergang des Liberalismus« abgedruckt in: Die Nation, 13, 1895/96, S. 640-642; zum Kontext vgl. jetzt Λί.-L. Weber, Ludwig Bamberger. Ideologie statt Realpoli­ tik, Stuttgart 1987, S. 274ff.Zum Sozialliberalismus von Schulze-Gävernitz: D. Krüger, Natio­ nalökonomen im wilhelminischen D eutschland, Göttingen 1983, S. 29ff. 31 G. D ilcher, Das Gesellschaftsbild der Rechtswissenschaft und die soziale Frage, in: K. Von­ dung (Hrsg.), Das wilhelminische Bildungsbürgertum, Göttingen 1976, S. 53-66, Zitat S. 61. 32 Siehe 2. durchgesehene Auflage, Berlin 1905, S. 167ff. Ausgehend von Jellineks »D ie Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« (Leipzig 1904) hat Friedrich Naumann die Dop­ pelseitigkeit eines liberalen Staatsbegriffs zu verdeutlichen gesucht, nämlich: in der Tradition Rousseaus das Recht auf Staatsintervention zur D urchsetzung von Gemeinwohlzielen zu erweitern sowie in der Tradition der amerikanischen Menschenrechte eben diese Wirksamkeit gegenüber Persönlichkeitsrechten einzugrenzen: Liberalismus als Prinzip (wie Anm. 6). 33 Als Beispiel der Rezensionsaufsatz von Theodor Barth zu Preuß' »die Entwicklung des deutschen Städtewesens« (Leipzig 1906): »Macht und Ohnmacht des deutschen Bürgertums«, in: Die Nation, 24, 1906/07, S. 163-165. 34 E. Troeltsch, Politische Ethik und Christentum, Göttingen 1904, bes. S. 9, 43. 35 E. v. Philippovich, Wirtschaftlicher Fortschritt und Kulturentwicklung, Freiburg 1892, S. 23. 36 Naumann, Liberalismus als Prinzip, S. 250. 37 So Trautmann, S. 52. 38 So Max Weber als Referent dieses Enquete-Entwurfs, zit. n. M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1924, S. 434-441. 1910 ist für Baden durch Anregung Eberhard Gotheins eine kleine Studie dieser Art als D issertation vorgelegt worden: E.J. Bensheimer, D ie politische Tagespresse Badens am Beginn des XX. Jahrhunderts. Eine statistische Studie, Heidelberg 1911. Der Verfasser, der bei den führenden Zeitungswis­ senschaftlern Karl Bücher und Adolf Koch studiert hatte, zeigt mit seinem statistischen Material die D ominanz liberaler Blätter (53) gegenüber Zentrum (35), Sozialdemokratie (2), Sonstige (4), bei allerdings 55 parteilosen (ebd., S. 27). 39 Zu Naumann siehe Theiner, zu Barth: K. Wegner, Theodor Barth und die Freisinnige

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Vereinigung, Tübingen 1968, zu Rade: Ch. Schwöbel, Martin Rade. D as Verhältnis von Ge­ schichte, Religion und Moral als Grundproblem seiner Theologie, Gütersloh 1980. 40 Siehe die »Mitteilungen des Evangelischen Preßverbandes für D eutschland«, hrsg. v. W. Spiecker, Berlin 1911. D ie politische Zielrichtung gegen die Sozialdemokratie hatte den Badischen Landesverband davon abgehalten, den Gründungsaufruf zu unterzeichnen (S. 52f., 56f.) Den Zusammenhang von politischem und kirchlichem Liberalismus in Baden beschreibt in einer Situationsanalyse Pfarrer A. Herrmann, D er Liberalismus und die badische Landeskir­ che, in: Kirchlicher Liberalismus von heute. In Verbindung mit badischen Theologen hrsg. v. J . R. von Loewenfeld, Karlsruhe 1910, S. 109-141. 41 Zu dieser eher randständigen aber signifikanten Leipziger Gruppierung eines »radikalen Individualismus« vgl. das Programm, abgedruckt bei E. Horneffer, D ie Kirche und die politi­ schen Parteien, Leipzig 1908, S. 51 —63. Leider sind Vereine dieser Art im Gegensatz zur 1. Auflage in der nun vorliegenden 2. Auflage des »Lexikons zur Parteiengeschichte«, Leipzig 1983—1986, nicht mehr berücksichtigt worden. 42 Zitate bei H. Mommsen, S. 292 f. Zur Formierung antiliberaler Assoziationsformen vgl. auch G. Hübinger, Kulturkritik und Kulturpolitik des Eugen-D icderichs-Verlags im Wil­ helminismus, in: H. Renz u. F. W. Graf (Hrsg.), Umstrittene Moderne. D ie Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs, Gütersloh 1987, S. 92—114. 43 Martin Rade war einer der wichtigsten Vermittler. Vgl. J . Rathje, D ie Welt des freien Protestantismus, Stuttgart 1952, S. 49ff. 44 W. Link, Der Nationalverein für das liberale Deutschland (1907- 1918), in: PVS, 5, 1964, S. 422-444, hier bes. 432. 45 Vgl. J . Kockas Resümee in: ders. (Hrsg.), Arbeiter und Bürger im 19. Jahrhundert, Mün­ chen 1986, S. 328ff. 46 Mit demselben Ausdruck der Nationalist Arthur Bonus (Politik und Religion. Eine Frage an den Liberalismus, in: Christliche Welt, 26,1912, Sp. 960-963) und der Radikaldemokrat Hellmut von Gerlach (Erinnerungen eines Junkers, Berlin 1925, S. 15).

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II. Liberalismus im britisch-deutschen Vergleich

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WOLFGANG J . M O M M S E N

Einführung: Deutscher und britischer Liberalismus Versuch einer Bilanz

Vergleiche des deutschen mit dem britischen Liberalismus im 19. Jahrhun­ dert kreisen in der Regel um die Frage nach den Gründen, die dazu geführt haben, daß der deutsche Liberalismus vergleichsweise weit weniger erfolg­ reich gewesen ist als der englische. D abei wird häufig die Erfolgsbilanz des englischen Liberalismus als solche nicht näher in Augenschein genommen, sondern gleichsam als seibstevident vorausgesetzt. Geoff Eley und D avid Blackbourn haben sich schon seit geraumer Zeit gegen eine derartig einäugi­ ge Analyse der Geschichte des deutschen Kaiserreichs, die gemeinhin mit einer Analyse des Scheiterns des deutschen Liberalismus gleichgesetzt wird, gewandt; in dem nachfolgenden Beitrag von Geoff Eley werden diese Argu­ mente noch einmal vorgetragen. Aus der Vogelperspektive gesehen, warder Ablauf der D inge in England und D eutschland tendentiell nicht einmal so verschieden. In beiden Ländern formierte sich seit dem Ende des 18. Jahr­ hunderts eine politische Reformbewegung, die die Freisetzung des Individu­ ums von staatlicher Bevormundung und insbesondere die Hinwendung zu einem marktorientierten Wirtschaftssystem auf ihre Fahnen schrieb. Anstel­ le monarchischer Willkür sollte eine Regierung kraft vereinbarten Rechts in Übereinstimmung mit dem Willen der öffentlichen Meinung treten. Vor allem aber sollte die Aktivität der Individuen im wirtschaftlichen Raum von staatlichen Restriktionen aller Art befreit werden. Hinfort sollte das wirt­ schaftliche Handeln der Individuen auf der Grundlage formell freier Kon­ trakte und gegebenenfalls freier Vereinigungen in einem von Staatsinterven­ tionismus freien Markte die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung bil­ den. Die D urchsetzung dieser Prinzipien gegen die überkommene Ordnung erwies sich in beiden Ländern als ein schwieriges, vor allem aber langwieri­ ges Unterfangen, obschon, wie noch näher ausgeführt werden wird, die Engländer sich dabei in einer weitaus günstigeren Ausgangsposition befan­ den. In beiden Ländern bestand eine im einzelnen höchst differenzierte und, wie man sagen darf, unübersichtliche Privilegiengesellschaft, die die landbe­ sitzende Aristokratie in vielfältiger Weise begünstigte, im Steuersystem, im Zugang zu den führenden Positionen in Staat und Gesellschaft und vor allem 211 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

in der ländlichen Selbstverwaltung. In der deutschen Staatenwelt war die Vorherrschaft der Aristokratie stellenweise durch das Vordringen des abso­ luten Staates durchlöchert worden, aber nicht zugunsten der Bevölkerung, sondern der politischen Klasse in engeren Sinne des Wortes, in der die Aristokratie allerdings durchweg den Ton angab, auch wenn die Beamten­ schaft überwiegend dem akademisch gebildeten Bürgertum entstammte. In England war die Prädominanz der landed aristocracy einstweilen ungebro­ chen, obschon die Mittelschichten und selbst kleine Teile der Arbeiterschaft in den städtischen Wahlkreisen über eine eigenständige Basis verfugten, die es immerhin erlaubte, ihre Interessen im Parlament zu artikulieren und in die politischen EntScheidungsprozesse einzubringen. D er freien Entfaltung bürgerlichen Wirtschaftsgeistes standen noch zahlreiche Hindernisse im Wege. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts ging es dem Liberalismus in beiden Ländern in erster Linie darum, die privilegierte Position der traditio­ nellen Eliten aufzubrechen und den Mittelschichten in Staat und Gesellschaft ein angemessenes Maß von politischen Partizipationsrechten zu erkämpfen. Späterhin stellte sich für den deutschen wie den britischen Liberalismus das gleiche grundsätzliche Problem, ob man im Zuge der sich entwickelnden Industriellen Gesellschaft an der ursprünglich privilegierten Position der besitzenden Schichten festhalten und diese gegenüber den aufsteigenden Unterschichten verteidigen oder sich diesen gegenüber öffnen solle. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts mußten sowohl die deutschen wie die britischen Liberalen die Erfahrung machen, daß sich die D emokratisierung des politischen Systems, verbunden mit dem Eintritt der breiten Massen in die politische Arena, keineswegs automatisch zu ihren Gunsten auswirkte, sondern im Gegenteil ihre politische Machtbasis zunehmend beeinträchtig­ te. D er Niedergang der liberalen Bewegung im Kaiserreich seit dem Über­ gang zur Politik des Solidarprotektionismus und insbesondere dem Aufstieg der »neuen Rechten« fand zwar in Großbritannien keine unmittelbare Ent­ sprechung; aber am Ende kam es gleichwohl, wie Dangerfield dies formu­ liert hat, zu einem »strange death of liberal England« und zum Aufstieg der Labour Party als dominanter Kraft auf der politischen Linken. Aber innerhalb der Begrenzungen dieses säkularen Entwicklungstrends, der für den deutschen und den britischen Liberalismus, ja für die europäi­ schen liberalen Bewegungen gleichermaßen gültig ist, lassen sich doch erhebliche Unterschiede ausmachen. Hier sind zunächst die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen zu nennen, die in beiden Ländern au­ ßerordentlich unterschiedlich waren, obschon in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine gewisse Angleichung festgestellt werden kann. Das britische politische System war am Ende des 18. Jahrhunderts be­ stimmt durch die Vormachtstellung der englischen Hocharistokratic, der die Krone ein gewisses, wesentlich auf Patronage gegründetes Gegengewicht gegenüberstellen konnte. Dieses System war zwar extrem oligarchisch, aber bemerkenswert elastisch; es erlaubte die schrittweise Integration der Spitzen 212 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

des aufsteigenden kommerziellen, in geringerem Maße des industriellen Bürgertums und von Teilen der Intelligentsia, ohne daß dafür grundlegende verfassungspolitische Reformen erforderlich waren. Vor allem aber war die englische grundbesitzende Aristokratie von Anfang an eng mit dem aufstei­ genden industriellen System verbunden; sie partizipierte unmittelbar oder mittelbar an der industriellen Entwicklung, und sei es auch nur durch stetig steigende Landrenten. Insofern bestand kein absoluter Gegensatz zwischen den ökonomischen Interessen der landbsitzenden Aristokratie und dem aufsteigenden kommerziellen Bürgertum, eine Konstellation, die vielfältige Kompromisse möglich werden ließ. Auf dem Kontinent, und insbesondere in der deutschen Staatenwelt, bestanden völlig andere Ausgangsbedingungen für eine liberale Politik gleich welcher Schattierung. Von der älteren ständischen Ordnung, an die der deutsche Frühliberalismus vielfach, zumindest rhetorisch, wenn nicht in der Sache, anzuknüpfen suchte, bestanden nur noch Reste, und häufig in einer nicht eben empfehlenswerten Form; die zersprengte Gruppe der Stan­ desherrn war kein Äquivalent für die englischen Whigs. D ie politische Arena wurde hier vom bürokratischen Anstaltsstaat beherrscht, der sich in der Ära des Absolutismus ausgebildet hatte. D ie wirtschaftliche Entwick­ lung war vergleichsweise weit rückständiger; die Industrialisierung befand sich in den ersten Anfängen, und ein selbstbewußtes kommerzielles Bürger­ tum gab es bestenfalls in den großen Handelsstädten. Mit anderen Worten, die Hürden, die es zu überwinden galt, waren in der deutschen Staatenwelt höher und die potentiellen Trägerschichten der liberalen Bewegung ver­ gleichsweise schwach und zersplittert. Nicht zufällig war es der Staat, der unter dem Einfluß der napoleonischen Kriege eine gewisse Liberalisierung der Gesellschaft in Angriff nahm, hingegen nicht die bürgerlichen Schichten selbst, die überwiegend noch dem traditionellen Modell einer bürgerlichen Honoratiorengesellschaft anhingen und von allzu großer wirtschaftlicher Dynamik, mit ihren die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen spren­ genden Auswirkungen, noch gar nichts wissen wollten. Dies hat sich auch in der späteren Entwicklung nicht grundsätzlich geän­ dert. Max Weber hat einmal darauf hingewiesen, daß die Entstehung frei­ heitlicher Verfassungsordnungen in Westeuropa und den Vereinigten Staa­ ten eine außerordentlich günstige historische Konstellation zur Vorausset­ zung gehabt habe, die als solche unwiederbringlich vorüber sei, nämlich die individualistische Struktur des Frühkapitalismus, in der die Eigeninitiative des bürgerlichen Unternehmers sich noch ungehemmt zu entfalten ver­ mochte und demgemäß eine Kongruenz von wirtschaftlichem System und politischen Liberalismus bestanden habe. D er Hochkapitalismus hingegen habe mit der Idee der individuellen Freiheit nicht das geringste gemein; rein ökonomisch wirke er sich vielmehr in entgegengesetzter Richtung aus, nämlich des fortschreitenden Ausbaus bürokratischer Unternehmensstruk­ turen, die von den staatlichen Mächten flankierend unterstützt würden. »Es 213 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

ist höchst lächerlich, dem heutigen Hochkapitalismus«, so schrieb Weber 1906, »wie er jetzt nach Rußland importiert wird und in Amerika besteht, dieser Unvermeidlichkeit unserer wirtschaftlichen Entwicklung, Wahlver­ wandtschaft mit Demokratie oder gar mit Freiheit in irgend einem Wortsin­ ne zuzuschreiben, während doch die Frage nur lauten kann: Wie sind unter seiner Herrschaft diese D inge [d. h. persönliche Freiheit, Menschenrechte usw. d. Vf.] überhaupt auf die D auer möglich«. Mit anderen Worten, die spezifische Form der Industrialisierung in Deutschland, die sich vergleichs­ weise spät vollzog, dann aber sogleich die Großbetriebsstrukturen des Hochkapitalismus ausbildete, war der D urchsetzung liberaler Prinzipien weit weniger günstig, als dies im viktorianischen England noch der Fall gewesen war. Diesen »objektiven« politischen und ökonomischen Rahmenbedingun­ gen, die unterschiedliche Entwicklungspfade in Deutschland und Großbri­ tannien bedingten, entsprechen spezifische Unterschiede hinsichtlich der Trägerschichten der liberalen Bewegung. Wolfgang Muhs hat darauf auf­ merksam gemacht, daß die Schwäche der liberalen Bewegung in D eutsch­ land auf das weitgehende Fehlen des sog. Adelsliberalismus zurückzuführen sei, während im Fall Großbritanniens der große Erfolg des Liberalismus ohne die Rolle der aristokratischen Führungsschicht der Whigs nicht denk­ bar gewesen sei. D iese These erscheint plausibel, obschon man auch umge­ kehrt sagen kann, daß die hegemoniale Rolle, die die Whigs innerhalb der englischen Liberal Party spielten, den Durchbruch zu einem Reformlibera­ lismus, der mit der Politik einer Freisetzung des Individuums von staatlicher Reglementierung und ökonomischen Zwängen ernst zu machen willens war, erheblich abgebremst hat. Fraglos hat es in Großbritannien einen Adelsliberalismus gegeben, lange bevor der Liberalismus zu einer bürgerlichen Bewegung wurde, während dies in den deutschen Staaten nur in geringem Maße der Fall gewesen ist. Allerdings war auch in der deutschen Staatenwelt ein Äquivalent der Whigs vorhanden, nämlich eine reformwillige. Gruppe der Aristokratie, zu der die sog. Standesherren gerechnet werden können, wenn diese auch eine weit schwächere gesellschaftliche Basis besaß. Die historischen Voraussetzungen für einen möglichen Durchbruch dieser schmalen Schicht von fortschrittlich gesinnten Aristokraten im Bunde mit den Altliberalen waren Anfang der 1860er Jahre gar nicht einmal so schlecht. Am Ende triumphierte jedoch Bismarcks pragmatischer Konservativismus über die Wochenblattpartei des älteren Bethmann Hollweg und von der Goltz', die sich ausdrücklich am englischen Vorbild orientierte. D ies hing damit zusammen, daß der büro­ kratische Konservativismus in Preußen/D eutschland nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 angesichts der weitgehenden Zersplitterung und D esillusionierung des Liberalismus über eine ungemein starke gesell­ schaftliche Machtposition verfugte, im Gegensatz zu Großbritannien, wo es eigentlich seit dem Zerfall der älteren Tory Party, die sich um die Krone 214 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

geschart hatte, nie eine politische Klasse vergleichbarer Art im engeren Sinne gegeben hat. Bis zur Mitte des Jahrhunderts war es die Liberal Party unter der Führung einer Reihe von großen aristokratischen Magnaten, die die ersten Schritte auf dem Wege zur Modernisierung des britischen politischen und gesell­ schaftlichen Systems eingeleitet hat. Zuweilen genügte schon die politische Rivalität zwischen beiden großen Parteien, um die Tories zu einer partiellen Revision ihres sozialkonservativen Kurses zu bringen. D ie wohl bedeutend­ ste politische Reform im England der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Beseitigung der Kornzölle im Jahre 1846, wurde bekanntlich von einem Reformkonservativen durchgesetzt, Sir Robert Peel, wenn auch um den Preis der Spaltung der Konservativen Partei. D er Verzicht auf die bisherige, einseitig die agrarischen Interessen im Lande begünstigende Zollpolitik hatte freilich mehr symbolische als wirtschaftspolitische Bedeutung. Sie wurde mit einigem Recht als Öffnung des politischen Systems zur Mitte hin verstanden. Dies hat dazu beigetragen, daß der englischen Gesellschaft 1848/ 49 die Erschütterungen einer Revolution erspart geblieben sind und auch die Herausforderung des Chartismus einigermaßen folgenlos abgewehrt wer­ den konnte. Dafür gab es in der deutschen Tradition das Phänomen eines bürokrati­ schen Liberalismus, der eine Modernisierung von Staat und Gesellschaft nach westeuropäischem Muster betrieb, nicht, weil starke gesellschaftliche Interessen dies verlangten, sondern im Gegenteil, weil man hoffte, dadurch eine moderne Wirtschaftsgesellschaft schaffen zu können, die dann auch mit den Problemen der Massenarmut werde fertig werden könnte. Der Abbruch dieser Entwicklung und die Niederhaltung der Anfänge eines deutschen Konstitutionalismus in der Ära der Restauration haben vermutlich wesent­ lich zur Entstehung einer potentiell revolutionären Situation in Deutschland beigetragen. Vergeblich hofften die Liberalen darauf, daß die deutschen Fürsten durch rechtzeitige konstitutionelle Reformen einer revolutionären Entwicklung vorbeugen würden. Weit stärker als im englischen Falle spielte im deutschen Frühliberalismus die Bildungsschicht im engeren Sinne eine wesentliche Rolle. Ein dem deutschen Beamtenliberalismus analoges Phänomen hat es im englischen Falle nicht gegeben. Allerdings war der Anteil der Intelligentsia an der liberalen Bewegung auch in Großbritannieren keineswegs unbedeutsam, wenn auch gewiß weniger ausgeprägt. John Stuart Mill und Thomas Ba­ bington Macaulay lassen sich durchaus den großen geistigen Führern der deutschen liberalen Bewegung wie Johann Gustav D roysen, Theodor Mommsen oder Rudolf Virchow zur Seite stellen. Sic artikulierten in einem sehr ausgeprägten Sinne das viktorianische Lebensgefühl der Epoche und betonten den integrativen Charakter der liberalen Idee, die über die im engeren Sinne bürgerlichen Klassen hinaus an die breiten Schichten der Nation appellierte. Liberalismus war mehr als nur eine bürgerliche Ideolo215 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

gie; er stand für eine dynamische, an gesellschaftlichem Fortschritt orientier­ te Gesellschaft, in der nicht in erster Linie ererbte Privilegien, sondern Respektabilität und Leistung zählten. In der Liberal Party ging das Element der Whigs eigentlich niemals gänzlich verloren, obschon mit der Spaltung von 1885 die Masse der Whigs und ihr gesellschaftlicher Anhang im kommerziellen Bürgertum zunächst ins Lager der Unionists und dann zunehmend der Konservativen Partei überwechselte. D ie englische Liberal Party wurde niemals zu einer exklusi­ ven Partei des Bürgertums im klassenmäßigen Sinne, ungeachtet der Agita­ tion von Cobden und Bright, die nie müde wurden, gegen das aristokrati­ sche Establishment zu wettern und die Neigung der Engländer, herkömmli­ chen aristokratischen Traditionen mit großer Ehrfurcht zu begegnen, gerade auch im Vergleich mit kontinentalen Verhältnissen, beklagenswert fanden. Unter den obwaltenden Umständen kam es niemals zu einer klaren dichoto­ mischen Entgegensetzung von Bürgertum und Aristokratie im Sinne konti­ nentaler Begrifflichkeit. Zwar sammelten sich die agrarischen Interessen, deren volkswirtschaftliche Bedeutung längst rückläufig war, zunehmend in der Konservativen Partei. Aber auch diese verlor im Zuge der Erneuerung durch Disreali allmählich den Charakter einer Partei der landed aristocracy mit einigem Anhang im kommerziellen Großbürgertum und rekrutierte sich zunehmend ebenfalls aus den bürgerlichen Schichten. Während der entschie­ dene Liberalismus in Deutschland sich bis zum Ende des Kaiserreichs mithil­ fe seiner Entgegensetzung zu der Schicht des aristokratischen Großgrundbe­ sitzes und seiner Mitläufer politisch zu profilieren vermochte, war dies in England immer weniger der Fall. Umso mehr stand die Liberal Party als eine zur Herrschaft im Staate drängende politische Bewegung unter dem Zwang, sich immer wieder neu als die Partei der Reform zu präsentieren und den Konservativen in gesellschaftspolitischen Fragen stets einen Schritt voraus zu sein. D emgemäß entfaltete sie ein Maß politischer D ynamik, welches dem deutschen Liberalismus vielleicht mit Ausnahme der Periode von 1871 bis 1879 versagt geblieben ist. Mit anderen Worten, in einem vergleichswei­ se fortgeschritteneren politischen System, wie es England in Relation zum Deutschen Reich war, mußte auch der Liberalismus progressiver sein, um politisch erfolgreich wirken zu können. Die Ausgangslage war für den Liberalismus in der deutschen Staatenwelt, aus den bereits dargelegten Gründen, zwangsläufig erheblich ungünstiger, und auch eine dynamischere liberale Bewegung, als sie sich tatsächlich entwickelt hat, hätte wesentlich höhere Hürden vorgefunden als ihre engli­ sche Partnerin. Freihandel und die Freisetzung der Wirtschaft von staatlicher Bevormundung waren in einem England, das im Begriff stand, zum work­ shop of the world zu werden, seit 1846 kein Thema mehr, und die fortschrei­ tende Durchsetzung liberaler Grundsätze in Staat und Gesellschaft war hier eher eine Frage des timing und der politischen Konstellationen als grundsätz­ licher Erwägungen. Lord John Russell repräsentierte eine Form von Whig 216 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Reformliberalismus, der in der behutsamen Erweiterung der political consti­ tuency auf die Mittelschichten und Teile der respectable working class eine seiner wesentlichen Aufgaben sah. In Deutschland führte hingegen die Revolution von 1848/49 zu einer Spaltung der reformwilligen Kräfte des liberalen Lagers, die die weitere Entwicklung des deutschen Liberalismus auf lange Zeit hinaus überschatten sollte. Die Reaktionsperiode, die nach dem Scheitern der Revolution von 1848/ 49 in der deutschen Staatenwelt einsetzte, führte zwar nicht zur vollständi­ gen Beseitigung der revolutionären Errungenschaften, aber doch zu einem obrigkeitlich gezähmten Konstitutionalismus, der die Durchsetzung libera­ ler Grundsätze in der deutschen Gesellschaft nicht nur auf der Ebene des Staats, sondern auch auf der Ebene der städtischen und insbesondere ländli­ chen Selbstverwaltung wirkungsvoll abgebremst hat. Geoff Eley hat jüngst die These vertreten, daß die Schaffung der Reichseinheit die bedeutendste Leistung (»the highest achievement«) des deutschen Liberalismus in seiner klassischen Phase gewesen sei. Nun ist gewiß unbestreitbar, daß die deut­ schen Bundesstaaten niemals den Weg hin zur Schaffung eines kleindeut­ schen Nationalstaats unter preußischer Führung betreten haben würden, wenn nicht das liberale Bürgertum unter dem unmittelbaren Einfluß des italienischen Vorbilds Anfang der 60er Jahre eine unerwartet starke politi­ sche Bewegung zugunsten der nationalen Einigung in Gang gesetzt hätte. Aber es darf doch nicht übersehen werden, daß der Versuch des entschiede­ nen Liberalismus, der sich in zahlreichen deutschen Staaten als Fortschritts­ partei organisierte und sich der Unterstützung der Öffentlichkeit in bemer­ kenswertem Maße sicher sein konnte, den Regierungen Preußens und der Einzelstaaten das Gesetz des Handelns vorzuschreiben, gescheitert ist. D ie Gründung des Norddeutschen Bundes und dann in einem zweiten Schritt des Deutschen Reiches gelang zwar nur dank der fortgesetzten Unterstüt­ zung der liberalen Bewegung, aber sie verdankte sich einem Akt der »Revo­ lution von oben«, während der bürgerliche Liberalismus sich zur »Selbstkri­ tik« (Hermann Baumgarten) veranlaßt sah. Die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die deutsche liberale Bewe­ gung sind äußerst folgenreich gewesen. Wenn der Fortschrittspartei und dem Nationalverein in den 60er Jahren der D urchbruch zur »regierenden Partei« tatsächlich gelungen wäre, statt es bei einem episodischen Vorläufer in Baden zu belassen, hätte sich möglicherweise auch die folgenschwere Spaltung zwischen Liberalismus und Arbeiterbewegung, die mit der Grün­ dung des Allgemeinen Deutschen Verbandes 1863 einsetzte, vermeiden oder doch in ihren Auswirkungen abmildern lassen. D ie taktischen D ifferenzen zwischen Schultze-D elitzsch und Lassalle, ob man für Produktivassoziatio­ nen auf der Grundlage des Prinzips der Selbsthilfe eintreten solle oder diese nur mit Staatshilfe für durchführbar hielt, waren dabei letzten Endes nicht entscheidend. Eine entschieden liberale Partei, die im politischen Spektrum mit Erfolg eine hegemoniale Position beanspruchte, hätte zumindest für 217 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Teile der proletarischen Arbeiterbewegung attraktiv sein können. Ange­ sichts der im Verfassungskonflikt offenbar werdenden, weitgehenden und dann nach 1870 auf D auer gestellten politischen Einflußlosigkeit des ent­ schiedenen Liberalismus bot sich die entgegengesetzte Strategie an, nämlich das halbkonstitutionelle Verfassungssystem des D eutschen Reiches direkt herauszufordern und die Arbeitermassen mit den Mitteln des allgemeinen Wahlrechts zu sammeln, bis die Verhältnisse für einen D urchbruch zur Macht reif sein würden. Die Spaltung von liberaler und Arbeiterbewegung stellt einen der wich­ tigsten Unterschiede zur englischen Entwicklung dar. D ort ist es dem Liberalismus bekanntlich gelungen, die große Mehrheit der Arbeiterschaft auf lange hinaus, wenn auch am Ende mit zunehmenden Kosten, politisch an die eigenen Fahnen zu binden, und damit den beharrenden Kräften in Staat und Gesellschaft eine einigermaßen geschlossene Front entgegenzustellen. Im D eutschen Reich hingegen kam es nicht nur zu einer fortschreitenden Polarisierung der Arbeiterklasse und der bürgerlichen Parteien, wozu die geschickte Strategie Bismarcks und der nachfolgenden Regierungen einiges beigetragen hat, sondern auch zu einer Zersplitterung der liberalen Bewe­ gung in mehrere, sich erbittert befehdende Parteigruppierungen. Es ist einzuräumen, daß auch die Liberal Party ihre Probleme in dieser Hinsicht gehabt hat; die große Spaltung über der Frage der Gewährung der home rule an Irland 1885 führte nicht nur zur Abwanderung der Whigs unter Harting­ don ins konservative Lager, sondern auch zur Abspaltung des reformwilli­ gen Flügels unter Joseph Chamberlain, der sich in den Liberal Unionists vergeblich eine eigenständige parlamentarische Basis zu schaffen versuchte. Diese Ereignisse können dem Abdriften des Nationalliberalismus in das konservative Lager, unter Aufgabe der fortschrittlichen Elemente seiner Programmatik, seit dem Heidelberger Programm von 1883 zur Seite gestellt werden. Aber im Unterschied zu deutschen Verhältnissen hat der englische Liberalismus, insbesondere während der Ära Gladstone, aber im Prinzip bis zum Ersten Weltkrieg, starke integrative Kraft entfaltet, obschon auch dieser keineswegs immer eine »regierende Partei« war. Trotz beständiger Neigung, sich sozial nach unten hin abzugrenzen und das sog. »Residuum«, d. h. die nicht respektierlichen Teile der Unterschichten aus dem politischen System auszugrenzen, bemühte dieser sich um Offenheit nach links hin. Auch hier bestanden erhebliche Spannungen zwischen dem älteren, man­ chesterlichen Liberalismus, der auf Gladstones Programmpunkte »peace, retrenchment and reform« eingeschworen war, und dem Neuen Liberalis­ mus, der die Lösung der großen sozialen Probleme von einer Ausweitung der Staatsaufgaben und einer großangelegten staatlichen Sozialpolitik er­ wartete. D och gelang es der Liberal Party gleichwohl, sich ein bemerkens­ wertes Maß von politischer Geschlossenheit zu bewahren. Zugestandener­ maßen glich die Liberal Party seit 1885 zunehmend einer Holding Compa­ ny, unter deren D ach höchst unterschiedliche politische Gruppierungen 218 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

operierten, und zeitweilig, insbesondere seit 1895, verlor diese zunehmend ihre politische Manövrierfähigkeit. Über der außenpolitischen Frage, ob Liberale eine aggressive imperialistische Außenpolitik mittragen könnten, kam es auf dem Höhepunkt des südafrikanischen Krieges 1902 zur vorüber­ gehenden Parteispaltung, nicht wegen der weit konfliktträchtigeren Fragen der Sozialreform und der Steuerpolitik. Nach dem Ablaufen des imperiali­ stischen Fiebers der Jahre des Burenkriegs kam es dann gleichwohl zu einem bemerkenswerten Wiederaufstieg des Liberalismus unter Campbell-Ban­ nerman und seinen Nachfolgern, im Zeichen eines New Liberalism, der ein großangelegtes Programm von Sozialreformen propagierte, um damit, für den Augenblick relativ erfolgreich, der Labour Party den Wind aus den Segeln zu nehmen. Insgesamt läßt sich im Falle Großbritanniens demnach ein im wesentlichen bruchloser Entwicklungspfad des Liberalismus von seinen manchesterlichen Anfängen bis hin zu einem den Forderungen einer entwickelten industriellen Gesellschaft weithin aufgeschlossenen Soziallibe­ ralismus feststellen, der es verstand, sich in der politischen Arena in erhebli­ chem Maße durchzusetzen. Demgegenüber fällt die Bilanz für den deutschen Liberalismus in der Ära des Kaiserreichs unübersehbar weit ungünstiger aus. Es ist zwar richtig, daß die Nationalliberalen während der Periode von 1867 bis 1879 die rechtlichen sowie die währungs- und finanzpolitischen Grundlagen für eine kraftvolle industrielle Entwicklung D eutschlands gelegt haben und daß sie auch fer­ nerhin, gleichsam vom zweiten Rang aus, erheblichen Einfluß auf wichtige Gesetzgebungsvorhaben des Reiches haben nehmen können, z. B. die So­ zialversicherungsgesetzgebung der 80er Jahre, deren von Bismarck ur­ sprünglich angestrebte obrigkeitlich-patriarchalischen Elemente weitge­ hend zugunsten liberaler Grundsätze eliminiert wurden. Aber in anderen Bereichen haben die Nationalliberalen vielfach restriktive Gesetzgebungs­ maßnahmen, namentlich die Sozialistengesetze, entweder politisch mitge­ tragen oder maßgeblich daran mitgewirkt, wie an der Kulturkampfgesetz­ gebung. Zum Vergleich sei daran erinnert, daß der englische Liberalismus einen gut Teil seiner politischen Unterstützung aus dem nonkonformisti­ schen Lager erhielt und in religionspolitischen Fragen gegen die etablierten Staatskirchen kämpfte, nicht etwa für die Stärkung des hegemonialen Ein­ flusses des Staates auf die Kirchen. Ebenso gelang es ihm, sich im großen und ganzen die Katholiken als politische Partner zu erhalten, sei es in England selbst, sei es in Form der irischen nationalistischen Partei Parnells während der Ära Gladstone. Im Vergleich dazu nimmt sich die enge Ver­ flechtung des deutschen Liberalismus mit einem spezifischen Kulturprote­ stantismus, der immer noch starke obrigkeitsstaatliche Elemente enthielt, nicht eben vorteilhaft aus. Im Deutschen Reich blieb der progressive Flügel des Liberalismus auf der Ebene der Reichspolitik weitgehend auf eine Zuschauerfunktion be­ schränkt, und auch in den Landtagen der Bundesstaaten hat er nur geringe 219 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Erfolge zu erzielen vermocht. D ie politische Gesamtkonstellation entwik­ kelte sich schon seit dem Anfang der 80er Jahre, mit dem Einrücken der Zentrumspartei in eine parlamentarische Schlüsselposition, während an eine konkrete politische Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie zumindest einstweilen nicht zu denken war, höchst nachteilig für den entschiedenen Liberalismus. Mit dem Aufstieg der »Neuen Rechten« seit den 9öer Jahren wurde nicht nur die Position der Nationalliberalen, sondern auch des ent­ schiedenen Liberalismus noch weiter geschwächt. Erst in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkriege erholte sich der linke Liberalismus etwas; wäh­ rend sich das Verhältnis zur Sozialdemokratie langsam entkrampfte, bahnte sich eine Koalition von Bassermann bis Bebel gegen die konservativen Parteien an, die, hätte nicht der Erste Weltkrieg die innenpolitische Entwick­ lung abgefälscht, vielleicht doch noch zum Zuge gekommen wäre. Jedoch kam es spätestens seit 1912 zu einer Versäulung des politischen Systems, die jegliche Innovationen auf verfassungspolitischem oder gesellschaftspoliti­ schem Gebiete einstweilen unmöglich machte und bei den Führungsschich­ ten die Neigung weckte, die Flucht nach vorn in eine außenpolitische Krisenstrategie zu ergreifen, die direkt in den Ersten Weltkrieg hineinführte. Zugestandenermaßen standen die D inge auf den unteren Ebenen der Gesellschaft, vom Standpunkt des Liberalismus aus gesehen, um einiges besser. Man kann die Gesellschaft des Kaiserreichs mit Eley und Blackbourn durchaus als eine, wenn auch obrigkeitlich verformte, Variante der bürgerli­ chen Gesellschaft bezeichnen, zumal sie in der Tat die Grundlage für eine erstaunliche Entfaltung des industriellen Systems abgegeben hat. Aber die Tatsache des wirtschaftlichen Erfolges des Kaiserreichs sagt noch nicht allzu viel über den Grad seiner Liberalisierung aus, es sei denn, man wolle bürger­ lich mit marxistischen Kategorien in einem ganz engen klassenmäßigen Sinn definieren. D enn es ist ja gerade charakteristisch, daß die deutsche Form der Industrialisierung hinsichtlich ihrer Liberalität viel zu wünschen übrig ließ. »Diesen Herren Industriellen steckt nun einmal die Polizei im Leibe«, klagte Max Weber gelegentlich im Zusammenhang der Erörterung sozialpoliti­ scher Reformen. Andererseits ist unbestreitbar, daß die liberalen Parteien auf den unteren Ebenen der Gesellschaft, insbesondere in den neuen indu­ striellen Konurbanationen, anders als auf den Kommandohöhen des Staates, nahezu durchgängig eine politische Hegemonie ausübten, die sie, teils dank des Dreiklassenwahlrechts, auch gegenüber der Sozialdemokratie zu vertei­ digen wußten. Hier entwickelte sich in der Tat eine spezifisch bürgerliche Kultur, die der aristokratischen Kultur ebenso entgegengesetzt war wie der höfisch-militaristischen, die in den Machtzentren des Reiches gepflegt wur­ de. Auch die fortbestehenden Aufsichtsrechte des Staates über die Kommu­ nen und das Bestätigungsrecht der Wahl der Bürgermeister hat die Durch­ setzung liberaler Grundsätze im Bereich dieser spezifisch stadtbürgerlichen Sphäre der Gesellschaft des Kaiserreichs auf die D auer nicht verhindern können. Aber es läßt sich nicht übersehen, daß die gesamtgesellschaftlichen 220 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Auswirkungen der hegemonialen Position des stadtbürgerlichen Liberalis­ mus begrenzt waren; sie vertrugen sich durchaus mit einer quietistischen Einstellung gegenüber den Entwicklungen auf staatlicher Ebene. Liberale Politik auf lokaler bzw. regionaler Ebene schien sich durchaus mit der Hinnahme oder gar aktiven Bejahung eines halbkonstitutionellen System zu vertragen, zumal dieses dem Bürgertum Schutz gegenüber der andrängen­ den Sozialdemokratie zu gewähren schien. Nur die Emanzipationsideologie des liberalen Imperialismus, der sich um eine populäre Basis für eine kraft­ volle deutsche Weltpolitik bemühte, kam als Kraftquell für die Fortführung einer energischen Politik verfassungspolitischer Reformen auf der Ebene des Reichs in Frage, während sich die wirtschaftspolitischen und sozialpoliti­ schen Fragen offenbar auch unter den bestehenden Verhältnissen befriedi­ gend lösen ließen. Insofern wird man, bei einem Vergleich der Erfolgsbilanz des deutschen und englischen Liberalismus, daran festhalten müssen, daß es ersterem nicht in annähernd gleichem Maße gelungen ist, liberale Grundsätze in der eige­ nen Gesellschaft zur Geltung zu bringen wie dem letzteren. Zwar ließ sich der Sieg der liberalen Rechtsordnung und eines am Prinzip des Marktes orientierten Wirtschaftssystems auch im Kaiserreich auf die D auer nicht aufhalten, aber dennoch blieben hier zahlreiche Reste obrigkeitsstaatlicher Kontrolle bestehen, z. B. im Pressewesen, im Vereinswesen und selbst im Bereich der vielbeschworenen »Freiheit der Wissenschaft«, insbesondere aber in den Domänen staatlicher Machtausübung, dem Heer, der Bürokratie und den staatlichen Regiebetrieben. Es ist neuerdings Mode geworden, dem Deutschen Kaiserreich Modernität gerade auch im Vergleich zu Großbritan­ nien zuzusprechen. D ies ist gewiß in einer ganzen Reihe von gesellschaftli­ chen Bereichen der Fall gewesen, dem Schulwesen, dem Universitätssy­ stem, der staatlichen Forschungseinrichtungen und vor allem auf dem Ge­ biet der staatlichen Sozialpolitik. Aber der relative Vorsprung auf diesen und vielleicht noch einigen anderen Gebieten verdankt sich nicht in erster Linie liberalen Initiativen, sondern dem Fortleben einer in der Tradition Hegels stehenden Staatsidee sowie bürokratischer Traditionen, die der englischen Gesellschaft vergleichsweise fremd waren. Wenn der englische liberale Im­ perialismus das Stichwort der »efficiency« von deutschen Vorbildern borg­ te, so weniger bei den Vertretern eines entschiedenen Reformliberalismus, wie Rohe gemeint hat, sondern in erster Linie bei dessen sozialkonservativen Gegenspielern. Zudem wird man davon ausgehen müssen, daß viele der Modernitätsvorsprünge der deutschen Gesellschaft, verglichen mit der eng­ lischen, mit spezifischen sozialen Kosten erkauft waren, und dazu gehörte nicht zuletzt ein gutes Stück unkritischen Vertrauens in die staatliche Regle­ mentierung des Sozialverhaltens der Individuen, verbunden mit unzurei­ chender Kontrolle staatlicher Machtausübung durch Parteien und Öffent­ lichkeit. Andererseits läßt sich nicht übersehen, daß um 1914 die klassischen Postu221 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

late liberaler Politik hinsichtlich ihrer Tragfähigkeit und ihrer konkreten Aussagekraft an eine Grenze gelangt waren; die Probleme fortgeschrittener Industriegesellschaften verlangten nach neuen Antworten, die weder der klassische englische noch der deutsche Liberalismus zu geben vermochten. Die liberale Variante der imperialistischen Ideologie erwies sich als bloß temporärer Ausweg. In England suchten Hobhouse und Hobson dem Libe­ ralismus neue Wege zu weisen; in Deutschland bemühte sich Max Weber um eine illusionslose Bestandsaufnahme liberaler Politik und Friedrich Nau­ mann um deren populäre Umsetzung. D er Liberalismus als Partei fiel nach dem Ersten Weltkrieg in England wie in Deutschland auf einen nachrangi­ gen Platz zurück. Jedoch sollte es in der Folge größte Bedeutung gewinnen, wie tief liberale Grundhaltungen im gesellschaftlichen Gefüge Verankerung gefunden hatten. Hier, so scheint es, zeigte sich in den dreißiger Jahren in Deutschland ein erhebliches Defizit, im Unterschied zu Großbritannien, das die schweren Erschütterungen seines politischen und gesellschaftlichen Sy­ stems, den Generalstreik von 1926 und die Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre, erfolgreich zu meistern vermocht hat.

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RUDOLF M U H S

Deutscher und britischer Liberalismus im Vergleich Trägerschichten, Zielvorstellungen und Rahmenbedingungen (ca. 1830-1870)

Die Kontrastierung mit der westeuropäischen und zumal der britischen Entwicklung ist in der Geschichtsschreibung über den deutschen Liberalis­ mus seit jeher besonders gepflegt worden, und das aus gutem Grund. Schließlich haben Generationen von Liberalen selber ihre Politik vorzugs­ weise in der Auseinandersetzung mit England formuliert.1 Insofern setzte eine Bezugnahme auf dessen Fall als Deutungsmuster nicht unbedingt eine normativ-universalistische Konzeption des historischen Prozesses voraus, sondern ließ sich ohne weiteres auch mit dem Individualitäts- und Verste­ hensprinzip historischer Geschichtsbetrachtung vereinbaren, der ein ver­ gleichendes Vorgehen im eigentlichen Sinne eher fremd bleiben mußte. Dabei konnte die Bewertung, mit der die Westorientierung des deutschen Liberalismus versehen wurde, durchaus variieren, je nachdem ob eine axio­ matisch postulierte nationale Eigenart oder aber transnationales Modellden­ ken den Maßstab lieferte. Während also Otto Westphal zum Beispiel die liberale Programmatik des Vormärz 1921 als »Einbruch westlicher Ideen in Deutschland« charakterisierte,2 stellte die teilweise Abkehr von ihnen wäh­ rend der Bismarckzeit für Friedrich C. Sell 1953 ein wesentliches Element der »Tragödie des deutschen Liberalismus« dar.3 Davon ausgehend hat sich jedoch in den letzten Jahrzehnten, entsprechend dem allgemeinen Methodenwandel in der Geschichtswissenschaft, die Fra­ gerichtung, mit der im Kontext der Liberalismusforschung der Blick auf England gerichtet wurde, von der Bewußtseinsebene in Richtung Sozialge­ schichte verschoben. Abgeleitet aus dem übergeordneten Erkenntnisinter­ esse an den historischen Ursachen und universellen Bedingungen für die eurhythmische Evolution einer freiheitlich verfaßten, modernen Industrie­ gesellschaft, wie sie in Großbritannien erfolgt zu sein schien, im D eutsch­ land des 19. Jahrhunderts aber eben nicht zustandegekommen war, konzen­ trierte sich die Aufmerksamkeit auf eine komparative Einschätzung des Liberalismus in seinem Beitrag zur politisch-sozialen Modernisierung. D as englische Exempel aber erhielt unter diesem Aspekt, zumal im Lichte seiner schon von vielen Zeitgenossen subjektiv empfundenen Vorbildlichkeit, zu223 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

sehends den Anschein objektiver Normativität. Weniger die Bezugnahme des deutschen Liberalismus auf England bildete daher fortan das Thema, sondern vielmehr wurde er selbst und als solcher am britischen Beispiel gemessen. An einem Eckpfeiler dieses Interpretationskonzepts ist nun in jüngerer Zeit heftig gerüttelt worden, was in der Folge mit dazu beigetragen hat, die nicht zuletzt darauf gestützte Hypothese eines »deutschen Sonderwegs« ins Wanken geraten zu lassen. Die auf dem Braunschweiger Historikertag 1974 von Lothar Gall ausgelöste D iskussion über »Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland«4 kann zwar mitnichten schon als beendet angesehen werden, zumal die Frage nach dem Umschlagen des gemeinbürgerlichen Emanzipationsideals in eine bourgeoise Klassenideolo­ gie betrifft. Auch dürfte die eingeschränkte D efinition von Liberalismus, wie sie dem Ansatz von Gall zugrundeliegt, so zu erweitern sein, daß darin über das Streben nach politischer Verfassung der Gesellschaft hinaus auch deren Entwicklung in Richtung auf Rechtsgleichheit und Eigentumsfreiheit inbegriffen erscheint, was noch keineswegs eine unbegrenzte Entfesselung des Wirtschaftslebens bedeuten muß.5 Denn einer ökonomischen Moderni­ sierung industriekapitalistischen Zuschnitts stand der frühe deutsche Libera­ lismus mit seiner Zielvorstellung einer tendenziell klassenlosen Mittel­ standsgesellschaft zweifellos ablehnend gegenüber, in seiner großen Mehr­ heit jedenfalls. D iesbezüglich darf sich Gall in seinen Ansichten weitgehend bestätigt finden, wobei allerdings noch zu erörtern sein wird, ob England zu recht als Gegenbild dazu ausgegeben worden ist. Der fragliche Sachverhalt aber, die Verortung von Bürgertum und Libe­ ralismus im Spannungsfeld von politischem und ökonomisch-sozialem Wandel, steht, ideologisch anders aufgeladen und mit sehr viel weiterrei­ chenden Implikationen befrachtet, zugleich auch im Zentrum der 1980 aufgebrochenen Sonderwegskontroverse. Zwar bezieht sich die aufsehener­ regende Streitschrift, mit der David Blackbourne und Geoff Eley Prämissen und Resultate einer ganzen Historikergeneration als »Mythen deutscher Geschichtsschreibung« attackiert haben, in ihrer D etailargumentation hauptsächlich auf die Zeit des Bismarckreiches.6 Insoweit kann die anhalten­ de D ebatte hier außer acht bleiben.7 D och unbeschadet der Tatsache, daß sich das aus heterodox-marxistischem Revisionismus8 geborene Bild des kaiserlichen Deutschland seinerseits als mehr denn fragwürdig erwiesen hat, müssen die grundsätzlich-methodischen Einwände gegen die Unterstellung eines »deutschen Sonderwegs« während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts im wesentlichen als berechtigt zugestanden werden. D azu gehört an erster Stelle der Hinweis auf die Einbuße an Proportionalität, wie sie mit der Manier einhergeht, aus der Perspektive einer wie auch immer begründeten Norm bürgerlich-liberaler Entwicklung die Geschichte des Liberalismus in Deutschland als D efizitgeschichte des Bürgertums zu schreiben. D iesem Vorbehalt kommt um so mehr Gewicht zu, als einzuräumen bleibt, daß die 224 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Sonderwegs-Historiographie an sich zwar den beständigen Vergleich impli­ ziert, bislang aber kaum wirklich komparative Studien hervorgebracht hat. Was es hingegen an derlei Untersuchungen im deutsch-britischen Bereich gibt, verrät, unabhängig von der aktuellen Auseinandersetzung, seit jeher ein gehöriges Maß an Skepsis gegenüber der umstrittenen Konzeption.9 Das gilt namentlich auch für Gustav Schmidt, der sich bislang als einziger an einen systematischen Vergleich der beiderseitigen Liberalismen gewagt hat.10 Diese Zurückhaltung hängt nicht nur bei Schmidt mit einem zweiten Kritikpunkt zusammen, daß nämlich die Vorstellung von England, wie sie, ob offen ausgesprochen oder nicht, der These vom deutschen Sonderweg zugrundeliegt, vielfach »eher vorgefaßten Meinungen und weniger dem Forschungsstand der neueren englischen Sozial- und Parteigeschichte ent­ spricht«.11 D er ähnlich auch bei Blackbourne und Eley oder, von anderer Warte aus, bei Adolf M. Birke12 wiederkehrende Hinweis auf die wissen­ schaftliche Unhaltbarkeit des implizierten Idealbildes der britischen Ge­ schichte läßt sich allerdings kaum widerlegen. Wolfgang J . Mommsen hat ihn unlängst auf die Formel gebracht, daß das Gemälde der deutschen Entwicklung als Sonderweg in seiner Machart gewissermaßen ein hängen­ gebliebenes Gegenstück jenes Bildes darstelle, das die längst magazinierte »whig interpretation of history« von England gezeichnet habe.13 Eine Re­ formulierung der Ausgangsfrage nach den D ivergenzen, aber auch nach Konvergenzen und Parallelitäten in den Entwicklungspfaden beider Länder bezeichnet Mommsen indes ausdrücklich als legitim und fordert unter dieser Perspektive zu konkreten Vergleichsstudien auf. Angebracht erscheint jedoch vor einer solchen Übung noch die einschrän­ kende Bemerkung, daß es immer gewichtige Faktoren gibt, die außerhalb eines zeitlich und thematisch beschränkten Vergleichs bleiben müssen, deren Prägekraft aber nichtsdestoweniger von entscheidender Bedeutung für die oberflächlichen Unterschiede gewesen ist. Verwiesen werden muß zudem auf die Notwendigkeit eines geschärften Bewußtseins dafür, ob eigentlich Vergleichbares miteinander verglichen wird. D ie Trugschlüssigkeit schiefer Vergleiche wird nämlich nicht selten verkannt. So heißt es, um nur ein Beispiel zu zitieren, 1985 in der Einleitung zu einem Sammelband über die Entwicklung des Parlamentarismus in beiden Ländern: »Während durch die großen Wahlrechtsreformen im England der Jahre 1832 und 1867 das Wäh­ lerpotential schrittweise erweitert wurde..., blieb die Regierung im deut­ schen Kaiserreich von der parlamentarischen Kontrolle durch den Reichstag und der in ihm versammelten Parteien weitgehend unabhängig.«14 Obwohl aber beide Aussagen, für sich genommen, unanfechtbar sind, vermitteln sie in der Gegenüberstellung dennoch ein falsches Bild. Schließlich erlebte Deutschland 1867, wenn auch vorerst nur im Norden, die Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts, während die gleichzeitige Parlamcntsre­ form in Großbritannien die Wählerschaft lediglich von einer auf 2,2 Millio225 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

nen erhöhte, was immer noch kaum einem Sechstel der männlichen Er­ wachsenen entsprach.15 Über die weithin unangefochtene Verbreitung dieser Art schiefer Verglei­ che hat sich, ohne nennenswertes Echo, vor einigen Jahren bereits Shulamit Volkov gewundert: »Even when certain British reforms appear rather mea­ ger under close scrutiny, a comparison with Germany invests them with an aura of progress and enlightenment. Thus, the formal extension of suffrage was made a central theme in the story of an evolving democracy in England, while the actual persistence of old elites in parliament and in government is generally kept for the specialists. In Germany, however, the formal exten­ sion of suffrage in the new Reich to all adult male citizens is considered far less important than the persistent social and political supremacy of Prussian Junkerdom.« 16 Um also im Ergebnis nicht nur vorgegebene Stereotype bestätigt zu finden, gilt es peinlich zu beachten, was Reinhard Benedix als Grundregel komparativer Geschichtsschreibung postuliert hat: »Jeder Ver­ gleich muß die Vorteile und Nachteile abwägen und nicht die Nachteile in einem Land gegen die Vorteile in einem andern Land aufrechnen.«17 Legt man aber einmal auf beiden Seiten den gleichen Maßstab an, so ergibt sich eine beträchtliche Relativierung der konventionellen Annahmen: England blieb in der D emokratisierung des Wahlrechts zurück, während die Parla­ mentarisierung der Staatsgewalt weiter fortgeschritten war als in Deutsch­ land. D ie Erklärung liegt auf der Hand: Wo die Volksvertretung tatsächlich regiert, wird verständlicherweise genauer darauf geachtet, wie sie sich zu­ sammensetzt, und umgekehrt. Zu den Faktoren, die quasi vor dem Vergleich stehen, aber dennoch beiderseits in die konkrete Ausformung des Liberalismus zwischen 1830 bis 1870 eingegangen sind, gehört an erster Stelle die konstitutionelle Tradition Großbritanniens, bzw. die Abwesenheit einer solchen im größten Teil Deutschlands. D er Verfassungsstaat mit Gewährleistung individueller Rechte und parlamentarischer Repräsentation wurde im England des 19. Jahrhunderts, unbeschadet abweichender Akzentsetzungen im einzel­ nen, grundsätzlich auch von den Tories als den historischen Gegnern seiner Enstehung mitgetragen und war nicht wie für die deutschen Liberalen noch ein Gegenstand des Ringens mit rivalisierenden Kräften. Es soll nun hier nicht darüber gerechtet werden, ob in England insofern jahrhundertelang ein Liberalismus avant la lettre am Werk war, 18 doch läßt sich schlechter­ dings nicht bestreiten, daß der klassisch-liberale Ideenvorrat älter ist als jede darauf gestützte Bewegung oder gar Partei und daß dies mit der britischen Verfassungsentwicklung des 17. und frühen 18. Jahrunderts zusammen­ hängt.19 Von daher wird zudem verständlich, daß, wenn die deutschen Liberalen im 19. Jahrhundert über den Kanal schauten, sie vor allem die englische Verfassung als solche im Blick hatten und nicht so sehr ihre liberalen Zeitgenossen, deren Gesinnung manch einem von ihnen vielmehr schon etwas suspekt war. 226 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Ebensowenig aber wie der Kampf um den Verfassungsstaat den britischen Liberalismus während des Zeitraums von 1830 bis 1870 beschäftigen mußte, galt dies auch vom Kampf um den Nationalstaat. In Deutschland hingegen kam der Einheitsproblematik ein so zentraler Rang zu, daß die von ihr ausgehenden Erschütterungen sich notwendig auf nahezu alle anderen Aspekte liberaler Politik auswirken mußten. Nie hat etwa das Verhältnis zum Kolonialreich und selbst das zu Irland in Großbritannien einen auch nur entfernt so hohen Rang eingenommen, obwohl die irische Frage 1886 im­ merhin zur Spaltung der Liberalen fuhren sollte. D ennoch kann dieses Ergebnis in seiner Bedeutung wohl nicht mit dem Zerbrechen der Fort­ schrittspartei und der Entstehung des Nationaliberalismus zwanzig Jahre zuvor gleichgesetzt werden. D aß also die unumstrittene Existenz von Na­ tional- und Verfassungsstaat in Großbritannien einen fundamental andersar­ tigen Bezugsrahmen liberaler Theorie und Praxis abgab, ist in seinem Stel­ lenwert für die deutsche Entwicklung kaum zu überschätzen, ohne freilich deshalb auch schon jede Vergleichbarkeit im einzelnen auszuschließen. Es gehört in denselben Kontext, wenn vorweg noch an ein weiteres Faktum erinnert wird. D en weitaus größten Teil des hier zur D iskussion stehenden Zeitraums hindurch waren die britischen Liberalen »in power«, während der »Liberalismus als regierende Partei«20 in D eutschland immer nur Episode blieb. Zu Beginn der 1850er Jahre hatten auch die letzten »Märzminister« von 1848 ihre Ämter wieder verloren, und die »Neue Ära« am Ende des Jahrzehnts fand, wo es überhaupt dazu kam, gleichfalls rasch wieder ein Ende, in Preußen mit dem Verfassungskonflikt, in Baden auf Grund der national- und konfessionspolitischen Turbulenzen Mitte der 1860er Jahre. Demgegenüber gab es in der Zeit von der Regierungsübernah­ me der Whigs unter Earl Grey im November 1830 bis zum Ende des ersten Kabinetts Gladstone 1874 nur wenige und durchweg kurze Phasen konser­ vativer Regierung, mit Ausnahme der Ära Peel 1841 bis 1846, die freilich mit der Abspaltung des liberalkonservativen Flügels von der alten Tory-Partei über der Frage des Freihandels endete. Obwohl so gesehen die jeweilige Dauer liberaler Regierungs- und Oppositionszeiten beinahe als spiegelbild­ lich verkehrt bezeichnet werden kann, wobei allerdings das eine wie das andere in Großbritannien nicht das gleiche bedeutete wie in D eutschland, muß doch auch berücksichtigt werden, daß der deutsche Liberalismus zeit­ oder teilweise »mitregiert« hat, über die bürokratisch-parlamentarische Al­ lianz in den konstituionellen Mittelstaaten während der 1830er Jahre oder nach 1866 als Juniorpartner Bismarcks bei der verfassungs-, rechts- und wirtschaftspolitischen Ausgestaltung des neuen Reiches. Die fünf Aspekte, auf die hin der Vergleich im folgenden durchgeführt werden soll, sind willkürlich, wenn auch keineswegs beliebig gewählt. Insofern beansprucht die vorliegende Arbeit zwar nicht, das Thema zu erschöpfen, wohl aber, zentrale Probleme anzusprechen und insofern Aussa­ gen mit repräsentativem Geltungsanspruch zu enthalten. D ie beiden ersten 227 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Untersuchungsabschnitte gelten dem Adel bzw. der Beamtenschaft als Trä­ ger des Liberalismus, und dies inbesondere in der Rolle von Abgeordneten. Im Anschluß daran kommt die Frage nach dem Einfluß der Religion zur Sprache sowie das Problem der beiderseitigen Gesellschaftskonzeptionen und ihrer praktischen Umsetzung in Sozialreform. An letzter Stelle schließ­ lich folgt eine Analyse der parlamentarischen Körperschaften als Vollzugsort liberaler Politik und der Auswirkung ihrer Funktionsweise bei der Abschlie­ ßung gegenüber radikalen Konkurrenzbewegungen. Es bedarf nach dem bisher Gesagten wohl kaum noch der Erwähnung, daß, wiewohl zwei Gegenstände im Lichte des Vergleichs prinzipiell einander wechselseitig beleuchten können, das Erkenntnisinteresse im vorliegenden Beitrag primär auf den deutschen Liberalismus gerichtet ist, das komparative Element mithin hauptsächlich zur Hervorhebung seiner Eigenart dient.

I. Was das Problem des Adelsliberalismus betrifft, so hat sich der Vergleich mit England, wie dies sonst nur für »das deutsche Manchestertum« gilt, 21 sogar in einem Klassifikationsbegriff niedergeschlagen, nämlich in dem der »deut­ schen Whigs«. D essen Prägung wiederum läßt sich zurückführen auf Her­ mann Oncken, der in seinen gesammelten Aufsätzen 1914 fünf unabhängig voneinander erschienene Rezensionen unter dem Titel »Aus dem Lager der deutschen Whigs« zusammengefaßt hat.22 Ohne den Terminus näher zu definieren, der übrigens im Text selbst nur beiläufig einigemal vorkommt, werden darunter Ludolf Camphausen und Gustav Freytag, Gustav (von) Mevissen und Franz von Roggenbach sowie Albrecht von Stosch und Ernst von Coburg subsumiert. Welches Moment jedoch als einheitsstiftend gelten soll für diese heterogene Gruppe mit ihrer Spannweite von rheinischen Großbourgeois bis zum thüringischen D uodezfürsten unter Einschluß von Industriebaron, Militär und Bildungsbürger, läßt sich aus den betreffenden Stellen auch nicht annähernd erschließen, und was Roggenbach nebst Stosch angeht, hat Oncken zudem am selben Ort das ungleich treffendere Bild einer »liberalen Kamarilla« verwendet, was nun allerdings so ziemlich das Gegen­ teil eines Whigs bezeichnet.23 Denn bei den Whigs im eigentlichen Verstand handelte es sich ja um Angehörige des britischen Hochadels mit Sitz und Stimme im Oberhaus, die in der Tradition und vor allem in den Grenzen des Verfassungsausgleichs von 1688/9 für »civil and religious liberty« eintraten, wobei die Parlaments­ aristokratie insgesamt, d. h. ohne Unterschied der politischen Fraktionszu­ gehörigkeit, sozialökonomisch auch im 19. Jahrhundert weitestgehend mit dem Großgrundbesitz gleichzusetzen ist.24 Oncken hat denn auch 1927, als er nochmals auf die »deutschen Whigs« zu sprechen kam, den Begriff zu 228 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

präzisieren versucht und als Bestimmungsmerkmale neben einer hohen Geburt den politischen Einsatz für eine Reichseinigung unter preußischer Führung mit verfassungsstaatlicher Ordnung im Innern genannt.25 D iese Charakteristika verbanden seiner Ansicht nach regierende Fürsten wie Friedrich von Baden, Karl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach oder Peter von Oldenburg, aber auch Möchtegerne wie den Augustenburger Herzog und einzelne Standesherren aus den Häusern Leinigen, Hohenlohe und Wied. Daß die Bezeichnung von einzelstaatlichen Souveränen als »deutschen Whigs« wenig Sinn macht, obwohl erstere als Mitglieder des ehemaligen Reichsfürstenstandes historisch zum Hochadel gehören, bedarf wohl keiner Frage. Heinz Gollwitzer, der Onckens Sprachgebrauch aufgenommen und materialmäßig angereichert hat, will den Terminus daher konsequenterwei­ se auch auf Angehörige der mediatisierten Familien beschränkt wissen, »die in voller Wahrung ihrer grandseigneuralen Stellung liberalen Gedanken aufgeschlossen waren und einer maßvoll fortschrittlichen Politik ihre Un­ terstützung nicht versagten«.26 Zu kritisieren bleibt indessen, daß über eine freiheitliche Einstellung hinaus nicht auch ständisch-parlamentarische Akti­ vität als unabdingbar in die Definition aufgenommen wird. D enn Gollwit­ zer stuft im folgenden auch Standesherren ohne Mandat als »deutsche Whigs« ein, sofern sie nur eine gewisse Aufgeschlossenheit verraten, des weiteren solche, die in ihrer Eigenschaft als Diplomaten auf Verständigung mit Großbritannien hingearbeitet haben, die über familiäre Beziehungen zum englischen Hof verfügten oder sonstwie besondere Anglophilie kulti­ vierten. D as vorsichtig Unbestimmte dieser Etikettierung ist jedoch immer noch einer Begriffsbildung vorzuziehen, die unter dem Anschein größerer Eindeutigkeit den Sachverhalt vielmehr verunklart. Ein solcher Vorwurf kann auch Gall nicht erspart werden, wenn er etwa für die 1850er Jahre unter Bezugnahme auf »adlig-beamtenbürgerliche« Reformkräfte beiläufig von der »Bildung der Partei der ›dcutschcn Whigs‹ im Süden D eutschlands« spricht, was fast schon eine Organisation vermuten läßt, wo Oncken und Gollwitzer nur eine politische Prädisposition andeuten wollten.27 Vollends jeden Sinngehalt bar erscheint ein Aufgreifen des fraglichen Ausdrucks aber zur Charakterisierung der Kathedersozialisten.28 Aus dem Begriff der Whigs läßt sich nun einmal weder die aristokratische noch auch die parla­ mentarische Komponente herauslösen, wenn er als analytische Kategorie im internationalen Vergleich von Wert sein soll. D ie Frage nach »deutschen Whigs« müßte demnach, präzise gestellt, so lauten, und sie hat durchaus ihre Berechtigung: Gab es Teile des deutschen Adels, die aus einem aristokrati­ schen Lebenszusammenhang heraus und im parlamentarischen Verbund im Sinne des Liberalismus gewirkt haben? Daß dies wünschenswert, ja, um Erfolg zu haben, sogar notwendig sei, ist von Seiten der deutschen Liberalen selbst wiederholt thematisiert worden. Noch kurz vor seiner Unterdrückung kam der von einer Freiburger Aktien229 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

gesellschaft unter Führung von Roteck und Welcker herausgegebene »Frei­ sinnige«, die erste liberale Tageszeitung D eutschlands, Ende Juni 1832 dar­ auf zu sprechen, mit der Feststellung: »›D eutschland fehlt nichts als ein Graf Grey und ein liberaler Teil der Aristokratie, welche, wie in England, entge­ gengesetzte Parteien vermittelnd, eine wahre Reform durchfuhren helfen, die das Volk in allen seinen wesentlichen Forderungen und Bedürfnissen befriedigt, und den Einfluß von Ultraliberalen wie von Ultrakonservatisten vernichtete« Zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankend knüpfte der Redakteur daran die Betrachtung: »Sollte denn wohl nicht endlich ein größerer Teil des deutschen Adels mehr als bisher seine wahre Ehre und Würde und seine wahren Interessen begreifen, und sich dann, ähnlich wie die aristokratischen Freiheitsfeinde sich eng aneinander anschließen, ebenfalls unter sich und mit anderen freigesinnten Patrioten vereinigen zu einer Reform der deutschen Nation? Wie würdig könnte auf solche Weise die Stellung des deutschen Adels werden, wie groß und wohltätig seine Wirk­ samkeit für die Freiheit und Ehre des Vaterlandes. Bisher sah man immer die ihrer Zeit und ihrer wahren Aufgabe kundigen und gewachsenen Glieder des deutschen Adelsstandes . . . nur gar zu sehr vereinzelt wirken.« 29 Denn selbstredend gab es auch in D eutschland liberale Adlige, doch ob liberal zu sein wirklich im »wahren Interesse« des Adels ingesamt gelegen hätte, bleibt noch zu untersuchen. D abei fällt zunächst auf, daß unter den prominenten Führern der Bewegung unverhältnismäßig viele von Stand waren, in den vormärzlichen Kammern und den Parlamenten des Revolu­ tionsjahres etwa Rotteck in Baden, Gagern aus Hessen, D ieskau und Watz­ dorf für Sachsen, für Preußen die Brüder Reichenbach sowie Unruh und Vincke, aus einer jüngeren Generation dann Forckenbeck und Hoverbeck als Begründer der Fortschrittspartei oder Bennigsen vom Nationalverein.30 Angehörige des Uradels wie Unruh und Watzdorf lassen sich ebenso in den Reihen der Liberalen finden wie Abkömmlinge der Reichsritterschaft, wo­ für die Familie Gagern das bekannteste Beispiel abgibt. In der Mehrzahl der Fälle handelte es sich jedoch um Männer von jüngerem Brief- und Diensta­ del, während Angehörige des mediatisierten Hochadels kaum je an führen­ der Stelle in der Bewegung hervorgetreten sind. Nur marginale Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Tatsache zu, daß eine Reihe von bürgerlichen Liberalen wie etwa Gneist und Mevissen, Miquel, Mohl oder Simson im Zuge ihrer Laufbahn nobilitiert wurden, zumal dies ausnahmslos erst um oder nach 1870 erfolgte. Von zentralem Interesse ist vielmehr, inwieweit und weshalb Liberale mit ererbten Titeln, auf den Adel in toto bezogen, individuelle Ausnahmen darstellten,, wie sie der »Freisinnige« beklagt, nicht aber Exponenten eines typologisch zu bestimmenden aristo­ kratischen Liberalismus. Von den insgesamt 389 Abgeordneten, die zwischen 1820 und 1872 der Zweiten Kammer in D armstadt angehörten, lassen sich 135 als liberal be­ zeichnen. Ein Adelsprädikat hatten unter diesen 135 Mandatsträgern ledig230 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

lich acht, Hans-Christoph und Heinrich von Gagern sowie sechs andere, aufzuweisen, also knapp 6%. 31 In der zweiten Kammer des badischen Landtags saßen in der Zeit vom Erlaß der Verfassung bis zur Reichsgrün­ dung bei insgesamt 504 Abgeordneten ganze 25 Träger eines Adelstitels, und von ihnen gehörten zu den Liberalen, deren Gesamtzahl sich einstweilen nicht genau beziffern läßt, abgesehen von dem Hofrat von Tscheppe, der unter den Budgetverweigerern von 1823 war, noch die überregional be­ kannten Anführer Liebenstein, Rotteck und Soiron. 32 Wie sie gingen auch die übrigen liberalen Adligen in den frühen deutschen Parlamenten mit wenigen Ausnahmen einem bürgerlichen Beruf nach, als Professoren, Ju­ stiz- und Verwaltungsbeamte oder als Anwälte, und ihrer Politik lag durch­ weg kein aristokratisches Standesbewußtsein zugrunde, nicht einmal im Falle Heinrich von Gagern. So gab er zwar stolz seine Beamtenkarriere auf, verfügte aber, anders als Watzdorf, der im Konflikt mit seinen Vorgesetzten das Gleiche getan hatte, über kein von Arbeit unabhängiges Einkommen. Nach englischem Standard, wo unterhalb der Ebene der Peers, die aus­ schließlich für ihre Person auch gewisse Privilegien genossen,33 der soziale Status über die Zugehörigkeit zur Aristokratie entschied und nicht ein Rechtstitel,34 wären außer Watzdorf und Bennigsen nur wenige liberale Adlige dazu hinreichend qualifiziert gewesen, Magnaten wie Henckel von Donnersmarck an der Spitze, der 1867 als nationalliberaler Abgeordneter in den Norddeutschen Reichstag einzog, nach deutschem Standesrecht freilich ebensowenig zum Hochadel gehörte wie die beiden erstgenannten. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen D efinitionen erscheint daher eine rang­ mäßige oder soziale D ifferenzierung des deutschen Adels im Hinblick auf einen internationalen Vergleich der politischen Orientierung historischer Eliten wenig sinnvoll, weshalb pauschal alle Adligen einbezogen werden. Andererseits kann wegen der standesrechtlichen Nivellierung der aristo­ kratische Anteil am britischen Liberalismus nicht einfach am Adelstitel abgelesen werden, sondern es müssen insbesondere auch die Familien- und Vermögensumstände Berücksichtigung finden. Wie nun John Vincent in seiner maßgeblichen Studie fur die mittelviktorianische Zeit festgestellt hat, waren von den 456 liberalen Abgeordneten, die zwischen 1859 und 1874 für englische Wahlkreise im Unterhaus saßen, 114 mit einem Mitglied des Oberhauses verwandt oder verschwägert, also jeder vierte, und ebenso 15 der 71 für Schottland, wobei diese Zahlen unter dem Blickwinkel der britischen Geschichte schon als bemerkenswert niedrig angesehen werden können.35 Aussagekräftiger noch erscheint die Tatsache, daß von besagten 456 Abgeordneten 198, d. h. fast die Hälfte, Großgrundbesitzer oder Söhne von solchen waren. 36 An dem aristokratisch-agrarischen Übergewicht in Parlament und Regierung hatte sich somit auch auf liberaler Seite bis zur Bildung des ersten Kabinetts Gladstone 1868 noch kaum etwas geändert.37 Im Ergebnis der Reformbill von 1832 war zwar durch eine Neuverteilung der Sitze die Vertretung bis dahin ausgeschlossener oder unterrepräsentierter 231 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Interessen verstärkt worden, die eigentliche Wahlrechtserweiterung aber war so geringfügig ausgefallen, daß auf der Ebene der Machteliten kein sozialer Umbruch eintrat. Die grundbesitzende Aristokratie herrschte in England durch das Parla­ ment und, worauf hier nicht weiter eingegangen werden kann, über die Gremien der lokalen Selbstverwaltung auf dem Lande, in die übrigens erst 1872 wirksam eingegriffen wurde. In Deutschland hingegen war der Adel, in regionalspezifisch je verschiedener Form, in die außerparlamentarisch herrschende monarchisch-militärisch-bürokratische Elitenkoalition einge­ bunden, der die modernen Repräsentativkörperschaften dann gegenübertra­ ten. D essenungeachtet lag jedoch der Adelsanteil bei den gouvernementa­ len, bzw. konservativen Abgeordneten der frühkonstitutionellen Zeit kaum höher als bei den liberalen. Wiederum am Beispiel der zweiten Kammer von Hessen-Darmstadt exempliziert, ergibt sich, daß unter ihren 389 Mitglie­ dern bis zur Reichsregierung überhaupt nur 35 Adlige waren, in Baden, wie bereits bemerkt, lediglich 25 von 504. Zweifellos würde eine Untersuchung von Ministerialbürokratie, Offizierskorps und Diplomatie ganz andere Pro­ zentsätze ergeben.38 Hinter den Zahlenangaben verbirgt sich aber mehr als die unbestreitbare Tatsache, daß die deutschen Kammern eben nicht die zentrale Instanz staatlicher Macht darstellten und eine Mitarbeit für Adlige deshalb weniger attraktiv war. Es verweist im Gegenteil auf die eigentliche Funktion der Landtage, daß neben dem hohen auch der grundbesitzende niedere Adel in der parlamentarischen Repräsentation gesetzlich separiert blieb, während in Großbritannien alle Angehörigen der Aristokratie mit Ausnahme der Peers bei Unterhauswahlen wählbar und wahlberechtigt waren. Daß nach allen vor 1848 zustandegekommenen Verfassungen die adligen Inhaber grundherrlicher Rechte, mancherorts, wie in Sachsen, unter Ein­ schluß der bürgerlichen Rittergutsbesitzer, ihre eigene Vertretung hatten, in Baden in der ersten Kammer, sonst meist in der zweiten, im übrigen aber von der Wahl ausgeschlossen waren, erwies sich in der Wirkung als ambiva­ lent. 39 Es verhinderte einerseits, daß sich der Adel über die Volksvertretung eine unabhängige Machtbasis aufbauen und diese bei dem latenten Konflikt innerhalb der herrschenden Elitenkoalition zur Abwehr bürokratischer Re­ formen nutzen konnte. Andererseits führte die regierungsseitige Nutzung der Landtage zur Absicherung entsprechender Vorhaben aber auch dazu, daß die Adelsdelegierten primär Standesinteressen verfolgten und eine Zu­ sammenarbeit mit der bürgerlichen Opposition unter allgemeiner Zielset­ zung die Ausnahme blieb.40 Wo aber jemand beharrlich und programma­ tisch von dieser Linie abwich, wurde er, wie Watzdorf 1843 als Vertreter der vogtländischen Ritterschaft im sächsischen Landtag, von seinen Mandanten nicht wiedergewählt, bis sich ihm 1848 dann die Chance einer Kandidatur auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts bot. Als Angehöriger des Adels in eine zweite Kammer zu gelangen und dort als Liberaler aufzutreten, 232 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

war also fast nur möglich, wenn der Betreffende nicht über grundherrliche Rechte verfugte, also praktisch eine bürgerliche Existenz führte. Nicht selten läßt sich hingegen ein aristokratischer Liberalismus, d. h. der korporativ verfaßte Adel als Vorkämpfer für allgemeine Mitspracherechte, dort beobachten, wo sich im Ringen mit der Zentralgewalt vorabsolutisti­ sche Ständevertretungen erhalten haben; übrigens nicht, wo diese mehr oder weniger unangefochten in ihrer Herrschaft sind, wie es für Mecklenburg gilt. Ersteres aber trifft zum Beispiel für Sachsen auf dem Weg zur Staatsre­ form von 1830 zu, für Schleswig-Holstein im Hinblick auf die nationale Frage oder für Niederösterreich im Vorfeld der Märzrevolution. Adlige Sonderinteressen und gesamtliberale Anliegen fallen jedoch regelmäßig aus­ einander, wenn eine Konstitutionalisierung als Staatsbürgergesellschaft er­ folgt ist und die Standesvorrechte zum Gegenstand der Auseinandersetzung werden. Eine den Whigs in Grundsätzen und parlamentarischem Verhalten vergleichbare Gruppe hat sich daher in den ersten Kammern nirgends her­ ausgebildet, nicht einmal in Bayern, von dem dies im Anschluß an Gollwit­ zer verschiedentlich behauptet wird. 41 Wohl gab es dort, wie in anderen Ländern auch, verschiedentlich Opposition von Seiten des hohen Adels gegenüber der Regierung, aber selbst wenn es sich nicht in erster Linie um standespolitische Interessenvertretung zur Abwehr liberaler Reformen han­ delte, kann doch von einer Koordinierung des Vorgehens mit den bürgerli­ chen Abgeordneten in der zweiten Kammer oder gar von einer Stimmfüh­ rerschaft keine Rede sein.42 Mit der Aufhebung der ständischen Beschränkungen in der deutschen Nationalversammlung und auch in der preußischen Verfassung von 1848 wurde die Kluft zwischen Liberalismus und namentlich dem grundbesitzen­ den Adel deutlich geringer, wobei inhaltlich vor allem das Engagement in der nationalen Frage eine Brücke geschlagen haben dürfte. Von den 812 Ab­ geordneten, die ein Mandat in der Paulskirche wahrnahmen, waren unge­ fähr 140 adliger Herkunft, d. h. so viel wie jeder sechste, was vermutlich zunächst einmal als Reflex ihres hohen Sozialprestiges im lokalen Bereich anzusehen ist. 43 Wenngleich aber die große Mehrzahl der Adligen auch auf der Rechten saß oder fraktionslos war, lassen sich doch unter den 135 Mit­ gliedern der Nationalversammlung, die irgendwann der Fraktion Casino angehört, sich also zum gemäßigten Liberalismus bekannt haben, immerhin 31 Träger von Adelsprädikaten nachweisen, womit ihr Anteil bei 23% und folglich signifikant höher lag als in den süddeutschen Kammern. Viele höhere Beamte und Militärs waren darunter, vornehmlich aus Österreich, Preußen und Bayern, deren Liberalismus sich möglicherweise schon in der Zugehörigkeit zur »Regierungspartei« erschöpfte. Es trat aber im »Casino« mit sechs Landräten und Rittergutsbesitzern erstmals auch, über den Rah­ men der Provinzialstände und des Vereinigten Landtags hinaus, das Phäno­ men des ostpreußischen Adelsliberalismus in Erscheinung. Allein das Frei­ handelsinteressse als seinen Antriebsmotor auszugeben, wie es üblich ist, 233 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

dürfte zwar etwas zu kurz greifen, mangels einschlägiger Vorarbeiten läßt sich für diese bedeutsame, weil ganz aus dem deutschen Rahmen fallende Erscheinung aber einstweilen wenig mehr sagen. Von auffallendem Gewicht erwies sich der ostpreußische Adelsliberalis­ mus, der erst mit der Agrarkrise der 1870er Jahre untergegangen zu sein scheint, noch für »das Parlament, das Bismarck widerstrebte«,44 das preußi­ sche Abgeordnetenhaus zur Zeit des Verfassungskonfliktes. Von dessen 352 Mitgliedern waren insgesamt 72 adlig, was prozentual nur unwesentlich über dem Anteil in der Paulskirche lag. Unter den 135 Fraktionsangehörigen der Fortschrittspartei als dem entschiedensten Flügel der Opposition befan­ den sich zwar lediglich zehn Inhaber eines Adelsprädikats, darunter aber sechs Rittergutsbesitzer aus der östlichen Flügelprovinz. Anteilig stärker vertreten und regional vielseitiger gestreut waren Adlige allerdings in den Mittelparteien, und in der altliberalen Fraktion Vincke bildeten sie mit 15 von 26 Abgeordneten, darunter die Ex-Minister der »Neuen Ära«, sogar die Mehrheit. D ie seit 1848 zu beobachtende Tendenz, daß mit dem Abbau der ständischen Schranken und der wachsenden Bedeutung der Parlamente im Staatsleben nicht nur allgemein die Zahl der adligen Abgeordneten wuchs, sondern daß dieser Anstieg sich auch auf dem rechten Flügel des Liberalis­ mus niederschlug, hielt im Norddeutschen Reichstag unvermindert an, ohne daß sich allerdings der Grad der Liberalisierung meßbar erhöht hätte. Unter 297 Mitgliedern befanden sich ein königlicher Prinz, zwei Herzöge, vier Fürsten, 27 Grafen, 21 Freiherren sowie 75 Angehörige des niederen Adels, insgesamt also 130 Personen von Stand, was einem Anteil von nahezu 44% entspricht.45 D avon schlugen sich 50 Abgeordnete zur konservativen Partei, 24 zu den Freikonservativen, und 10 blieben fraktionslos. Nicht weniger als 18 Adlige schlossen sich aber auch den Nationalliberalen an und stellten damit immerhin 19% von deren 95 Vertretern.46 Inwieweit die Variable der politischen Orientierung sich generell als ab­ hängig von der sozialen oder standesrechtlichen Stratifizierung innerhalb des äußerst heterogenen Adels darstellt und welchen Einfluß regionale Be­ sonderheiten ausüben, läßt sich nach dem bisher zur Verfügung stehenden Material nicht befriedigend beantworten. Pauschal bleibt am Ende dieser Erhebung lediglich zu resümieren, daß der auf breiter Front erst spät erfol­ gende Einzug des deutschen Adels in die Parlamente, wenngleich nicht ausschließlich, so doch ganz überwiegend den Konservativen zugutege­ kommen ist, bzw. den Katholiken.47 In England dagegen waren die liberale wie die konservative Partei auf Fraktionsebene gleichermaßen aristokratisch strukturiert, letztere vielleicht sogar etwas weniger, wenn man bedenkt, daß sie mit Sir Robert Peel, dem Sohn eines Baumwollfabrikanten, 1834 den ersten Premierminister mit industriellem Hintergrund stellten und 1868 mit Disraeli dem getauften Abkömmling einer erst seit zwei Generationen in Großbritannien ansässigen jüdischen Familie zur Regierung verhalfen. Auch Gladstone, 1868 der erste »bürgerliche« Regierungschef auf liberaler Seite 234 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

und aus einer in Liverpool ansässigen schottischen Kaufmannsfamilie her­ vorgegangen, hatte seine politische Laufbahn bei den Konservativen begon­ nen und war schon unter Peel Minister gewesen. Sowohl Peel als auch Disraeli und Gladstone waren jedoch längst in die Grundbesitzerschicht integriert und deren Mentalität assimiliert. Nun herrscht zu recht weithin die Annahme vor, daß die britische Aristo­ kratie als politische Klasse ihre dominierende Stellung nur deshalb so lange behaupten konnte, weil sie als soziale Klasse nicht abgeschlossen war. 48 Ihre Offenheit bewährte sich allerdings weniger in der Absorption von Aufstei­ gern als in der Tatsache, daß über das besondere Erbrecht regelmäßig in sie hineingeborene Personen nach unten abgegeben wurden. Es handelte sich, wie Michael Bush unlängst formuliert hat, um »a downward flow and an upward dribble«.49 Sozialer Aufstieg konnte durchaus bis zur Verleihung der Peerswürde führen, aber die Zahl der Neuerhebungen in das Oberhaus belief sich im Durchschnitt der Jahre 1830 bis 1870 auf nicht mehr als zwei. 50 Vor allem die Aufnahme von Industriellen in die Aristokratie ist, auf der Suche nach einer Erklärung für die liberalen Neigungen der letzteren, viel­ fach überschätzt worden, zumal auch in Deutschland, desgleichen das ari­ stokratische Engagement bei der Industrialisierung.51 D ie großagrarische Exklusivität der Lords blieb jedoch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts weitestgehend gewahrt. Noch 1868 lehnte Königin Victoria D israelis Emp­ fehlung ab, dem Londoner Bankier Lionel Rothschild die Peerswürde zu verleihen, da er nicht über ausreichenden Grundbesitz und den entsprechen­ den Lebensstil verfuge,52 während sein Wiener Onkel Salomon Rothschild bereits 1822 in den erblichen Adel erhoben worden war, ohne daß er bis dahin gesetzlich auch nur hätte Hauseigentum erwerben können. D as Fak­ tum bleibt bemerkenswert, auch wenn ein österreichischer Baron nicht mit einem Peer von England gleichzusetzen ist. Erst Lionel Rothschilds Sohn Nathaniel wurde 1885 schließlich zu den Lords erhoben, mithin zu einem Zeitpunkt, als sein Frankfurter Vetter Freiherr Mayer von Rothschild bereits seit über fünfzehn Jahren dem preußischen Herrenhaus angehörte. Was hat nun alles dies für den deutschen Liberalismus zu bedeuten, anknüpfend an die im »Freisinnigen« von 1832 eröffnete D iskussion über Wünschbarkeit und Erfordernis aristokratischen Mitwirkens an einer Libe­ ralisierung D eutschlands? Kann die Tatsache, daß dieser Beitrag, in voller Würdigung aller Ansätze dazu, letztlich doch minimal blieb, in einem be­ gründeten Zusammenhang mit der Schwäche des Liberalismus insgesamt gesehen werden? Kein geringerer als Mohl war immerhin dieser Ansicht, als er sich 1852 über die Unmöglichkeit der parlamentarischen Regierungswei­ se in Deutschland ausließ. Zum einen bestehe nämlich auf liberaler Seite die Neigung, auch gegen die eigenen Gesinnungsgenossen Opposition zu trei­ ben, sobald diese nur ein Ministeramt hätten. Als zweiten Grund aber, weshalb der gemäßigte Liberalismus nicht regierungsfähig sei, führte Mohl an, »daß die große Mehrheit dieser Partei, die untere Schicht des Mittelstan235 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

des, bei sehr vielen wichtigen Staatsangelegenheiten unmittelbar nicht betei­ ligt ist, daher auch nicht nachhaltig an denselben Anteil nimmt, noch weni­ ger Opfer für sie zu bringen bereit ist. Mit einem Worte, auf philisterhafte Politikaster kann sich eine Regierung nicht stützen; wir haben dies reichlich erfahren. D ie deutschen Liberalen sind keine englischen Whigs«. 53 Die Suche nach einem Weg zur Regierungsfähigkeit des Liberalismus trieb 15Jahre später auch Hermann Baumgarten um. In seiner »Selbstkritik« ging er von der im historischen Vergleich gewonnenen Erkenntnis aus, »daß monarchische Staaten nur die Wahl haben, entweder mit Hilfe des Adels zu einer moderierten Verfassung, zu parlamentarischen Formen zu gelangen, oder unter der Herrschaft einer bürokratischen, mehr oder weniger absoluti­ stischen Regierung zu bleiben.« 54 Unter dieser Prämisse kam er, was die vielfach vergeblichen Bemühungen des deutschen Liberalismus betraf, zu dem Schluß: »Es war unser Verhängnis, daß der auch bei uns zur politischen Führung berufene Adel mit seltenen Ausnahmen dem notwendigen Streben der Nation in kleinlicher und bornierter Feindseligkeit gegenüberstand. Zwei miteinander aufs innigste zusammenhängende Aufgaben waren uns seit 1815 gestellt: wir hatten den unsere Nation zerreißenden Partikularis­ mus und den mit diesem verbündeten Absolutismus zu brechen . . . In beiden Stücken hat bis zur Stunde der Adel als Stand gegen uns gekämpft, statt daß es sein wie des englichen und italienischen Adels Beruf gewesen wäre, an der Spitze der Nation nach einer politischen Gestaltung zu ringen, die allein auch ihm eine seiner würdige Stellung zu geben vermag. «55 Vor diesem Hintergrund ist auch Baumgartens Aufruf zur bürgerlichen Selbstbescheidung zu sehen, der ansonsten in der Tat als Beleg für einen »Machtverzicht des Bürgertums« schlechthin gelesen werden könnte.56 Die anstößige Parole - »der Bürger ist geschaffen zur Arbeit, aber nicht zur Herrschaft, und des Staatsmannes wesentliche Aufgabe ist zu herrschen«57 bezweckte nämlich alles andere als ein Aufgeben des Liberalismus. D aß Baumgarten mit Blick auf die englischen Verhältnisse gleichzeitig den deut­ schen Adel in seiner reaktionären Einstellung kritisierte, findet bei der Anfuhrung des Zitats nur selten Beachtung.58 Eben was das betraf, sah er jedoch Ansatzpunkte für einen Wandel, wenn, nach Verwirklichung des Nationalstaates, »unser hoher Adel aus der falschen Stellung . . . zurückkehr­ te zu dem unendlich ehrenvollen und segensreichen Beruf einer wahren Aristokratie«. In Erwartung dessen aber ergab sich für Baumgarten als »Pflicht einer erleuchteten liberalen Politik« in der Gegenwart, »dieser Um­ wandlung unseres Adels in alle Wege hilfreich entgegenzukommen«.59 Den Liberalismus an die Regierung zu bringen, sollte demnach bei vermeintlich größeren Erfolgsaussichten fortan über eine Liberalisierung des Adels als der geborenen Führungsschicht versucht werden und nicht länger mehr durch einen die Kräfte des Bürgertums erwiesenermaßen übersteigenden Versuch von dessen Ablösung als politischer Elite.60 Wenn Baumgarten wie Mohl vor ihm zu dem Ergebnis gekommen war, 236 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

daß, im Vergleich zu England, die Schwäche des deutschen Liberalismus auch in seiner nur geringen Verankerung im Adel begründet lag, so hatte er damit zweifellos einen entscheidenden Faktor benannt. D as ändert jedoch nichts daran, daß die an seinen Vorschlag eines Kurswechsels des liberalen Bürgertums geknüpfte Erwartung unrealistisch war. D enn die politische Einstellung des zu liberalisierenden Adels beruhte nicht auf persönlicher Bosheit oder einem kollektiven Irrtum, sondern war bei seiner gegebenen Stellung in der staatlichen und gesellschaftlichen Herrschaftsordnung objek­ tiv geboten. Insofern hatte Wilhelm Beseler völlig recht, wenn er nach im übrigen zustimmender Lektüre der »Selbstkritik« an Baumgarten schrieb: »Wir haben keinen solchen Adel, und die deutsche Nation würde gegen die englischen sozialen Zustände, die denn doch das Fundament einer solchen Adelsherrschaft bilden müßten, einen Kampf auf Leben und Tod beginnen. Wissen Sic für Preußen einen besseren Minister der Justiz als Twesten oder halten Sic den Advokaten Forckenbeck, einen unabweisbaren Ministerkan­ didaten, deshalb für einen Aristokraten, weil er ein ›von‹ vor seinem Namen trägt?« 61 Tatsächlich fehlte einer politischen Aristokratie nach englischem Muster im deutschen Adel fast jede Voraussetzung, zumal auch bei den Junkern im östlichen Preußen. Die Hoffnung auf eine Aufgabe von Standes­ vorrechten mußte unter ökonomischen Bedingungen, wie sie bald nach der Reichsgründung den grundbesitzenden Adel in seiner sozialen Basis zu gefährden begannen, illusorisch bleiben. D aß demnach für eine breitere Fundierung des Liberalismus in D eutschland kaum Chancen bestanden, mindert freilich nicht den heuristischen Wert der Frage nach dem Anteil des Adels an seinem Schicksal. Somit bleibt abschließend zu konstatieren, daß der deutsche Liberalismus sehr viel ausschließlicher eine Mittelklassenerscheinung war als der engli­ sche. Er war, zumal wenn man auch seine, verglichen mit Großbritannien, frühere und schärfere Abgrenzung von der Arbeiterschaft auf der anderen Seite des sozialen Spektrums einbezieht, »bürgerlicher«. Nur besagt das nicht eben viel für seine Gestaltungskraft, denn in Anbetracht der unerschüt­ terten Stellung der grundbesitzenden Eliten beider Länder als gesellschaft­ lich-politischen Machtfaktoren62 war zunächst deren Liberalität oder Illibe­ ralität von prägender Bedeutung. D ie im Kontrast zu Deutschland geringer ausgeprägte Bürgerlichkeit des britischen Liberalismus erscheint so auch als eine Bedingung seines verhältnismäßig größeren Erfolgs. Wenn also ge­ meinhin ein wie auch immer defizientes Bürgertum für die Schwäche des deutschen Liberalismus verantwortlich gemacht worden ist, eine wirt­ schaftlich unterentwickelte oder politisch unreife Bourgeoisie, sollte unter vergleichender Perspektive auch die Abseitsstellung des Adels verstärkt in die Ursachenforschung einbezogen werden. D ie Selbstverständlichkeit je­ denfalls, mit der in Deutschland vom »bürgerlichen Liberalismus« geredet werden kann, hat für England so keine Berechtigung, obwohl die Bourgeoi­ sie als soziale Klasse dort früher und stärker entwickelt war. 63 D er propor237 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

tional höhere Anteil des liberalen Bürgertums in den deutschen Parlamenten konnte sich aber nur begrenzt auswirken, solange gesamtgesellschaftlich andere Instanzen mit einem Mangel an bürgerlichem Personal und liberaler Gesinnung die Herrschaft ausübten. In England hingegen hatte sich die grundbesitzende und parlamentarisch dominierende Aristokratie aus ihrer historisch bedingten Fraktionierung heraus in relativ hohem Maße liberal aufladen können, ohne ihrer sozialen Interessenlage zuwiderzuhandeln, was in D eutschland bei der gänzlich andersartigen Stellung der alten Eliten in Staat und Gesellschaft nur sehr partiell möglich war. Von »deutschen Whigs« sollte insofern nur noch mit Vorsicht gesprochen werden.

II. Die je verschiedene Ausprägung von Liberalismus und Bürokratie wird in der national-, bzw. partikularstaatsorientierten Literatur relativ selten auf­ einander bezogen. Aus vergleichender Perspektive springt jedoch dieser Zusammenhang als erklärungsbedürftig und zugleich aussagekräftig unmit­ telbar ins Auge. D abei geht es nicht in erster Linie um den Gegensatz von parlamentarischer und bürokratischer Regierung oder um eine Fragestel­ lung in dem Sinne wie Reinhart Koselleck die preußische Beamtenschaft vor 1848 als eine Art Parlamentssurrogat gedeutet und die Möglichkeiten und Grenzen einer liberalisierenden Aktivität ihrerseits ausgelotet hat.64 Cobden übrigens, wohl der beste Deutschlandkenner unter den britischen Politikern seiner Zeit, hat, nebenbei bemerkt, diese Leistungen höher eingeschätzt als die des wirklichen Parlaments in London.65 Im folgenden soll jedoch beson­ ders das Wechselverhältnis von parlamentarischem Liberalismus und staatli­ cher Bürokratie im Rahmen des Verfassungsstaats in den Blick genommen werden. Aus Zeit- und Raumgründen kann allerdings die Argumentation, was für die übrigen Punkte ebenso gilt, hier nur noch knapp skizziert werden. In England galt seit dem 17. Jahrhundert eine strenge Inkompatibilität von Amt und Mandat, um ein Hineinwirken der Exekutive in das Unterhaus durch abhängige Beamte auszuschließen. Im Zuge der parlamentarischen Einbindung der Regierung war später lediglich für Minister und andere höchste Staatsstellen eine Ausnahmeregelung geschaffen worden. In Anbe­ tracht der Parlamentssuprematie und der Zusammensetzung des Parlaments konnten damit Konflikte zwischen bürokratischen und aristokratischen In­ teressen, wie sie in den deutschen Staaten mehr oder minder ausgeprägt das Charakteristikum der Herrschaftskonstellation darstellten, kaum entstehen. In den frühen Verfassungen der süddeutschen Staaten kam den Kammern demgegenüber insbesondere auch die Funktion zu, bürokratische Reform­ vorhaben zur Freisetzung der Staatsbürgergesellschaft gegen Widerstände 238 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

von Seiten privilegierter Gruppen, nicht nur des Adels, sondern auch lokaler bürgerlicher Eliten, abzustützen. Insofern war die Tatsache, daß Beamte von Anfang an die größte Gruppe unter den Abgeordneten stellten,66 nicht notwendig von Nachteil für die D urchsetzung liberaler Politik. Entschei­ dend war vielmehr, bei dem unbestreitbaren Prä der Regierung vor der Volksvertretung, welcher Flügel der Bürokratie im konkreten Fall die Lei­ tung der Staatsgeschäfte innehatte. Jedenfalls würde es in die Irre fuhren, den Begriff des Liberalismus ganz auf die politische Opposition zu beschränken und an der zahlenmäßigen Stärke der letzteren den Grad des ersteren ablesen zu wollen. Die amtlich gelenkte Wahl von ergebenen Beamten zu Abgeordneten, erinnert sei nur an die preußische »Landratskammer« der Reaktionszeit, konnte zwar als Instrument zur Eindämmung liberalen Drängens eingesetzt werden. D aß aber die Urlaubsverweigerung für oppositionelle Beamte zur Wahrnahme eines Mandats mindestens ebenso typisch für Phasen antilibera­ ler Regierung war, zeigt, wieviel Rückhalt der Liberalismus in der Beamten­ schaft hatte. So saßen im badischen Landtag von 1825 als Resultat massiver Wahlbeeinflussung 25 regierungsfromme Beamte unter 63 Abgeordneten, in der freigewählten Kammer von 1831 aber waren es zwar ausnahmslos andere, aber auch nicht weniger als 23. 67 In Kooperation mit der inzwischen allerdings ebenfalls ausgewechselten Regierungsspitze erwies sich ihr Anteil an den verschiedenen Errungenschaften des gefeierten Reformlandtags als Glücksfall des Liberalismus.68 Die Unabdingbarkeit dienstlich erworbener Sachkompetenz für die parlamentarische Umsetzung liberaler Ziele in Deutschland offenbart auch der konstant hohe Beamtenteil in der Paulskir­ che und im preußischen Abgeordnetenhaus.69 Wie der Verfassungskonflikt demonstrierte, war selbst das Widerstandspotential der Beamtenparlamen­ tarier erheblich, blieb indes charakteristischerweise an Rechtsnormen orien­ tiert und wurde weniger im eigentlich politischen Sinne gehandhabt. Kaum etwas markiert denn auch deutlicher den Unterschied zu England als die Tatsache, daß es in D eutschland nicht die Liberalen waren, die auf eine Unvereinbarkeit von Beamtenstatus und Abgeordnetentätigkeit hinarbeite­ ten, um die Unabhängigkeit des Parlaments zu sichern, sondern Bismarck, der so die Stellung der Regierung zu stärken hoffte.70 D er entsprechende Passus im Entwurf der Norddeutschen Reichsverfassung, gewissermaßen als flankierende Maßnahme zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts gedacht, das ja ebenfalls vor allem der D isziplinierung des Liberalismus dienen sollte, stieß daher, wie zu erwarten, auf dessen erbitterten Wider­ stand und wurde schließlich im konstituierenden Reichstag zu Fall gebracht, dem, mit einem entschiedenen Übergewicht in den liberalen Fraktionen, nicht weniger als 135 Beamte unter 297 Abgeordneten angehörten.71 Liberalismus als Ausdruck der Konfliktlage von Staat und Gesellschaft war allerdings nicht die Regel. D as repressive Vorgehen des Staatsapparats gegenüber Politisierungstendenzen in der Gesellschaft darf nicht darüber 239 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

hinwegtäuschen, daß andererseits gemeinsame Interessen nicht nur fortbe­ standen, sondern auch weiter verfolgt wurden und daß liberale Beamte in der Vermittlung die entscheidende Rolle spielten. Als Beispiel mögen hier die Reformregierungen der 1830er Jahre in Baden und Sachsen unter Linde­ nau, bzw. Winter dienen. Winter war 1819 im ersten konstitutionellen Landtag einer der Führer der Opposition im Kampf gegen das Adelsedikt gewesen. Als er 1838 nach acht Jahren als Innenminister starb, wollten ihm die Kammerliberalen ein D enkmal setzen, was seine Nachfolger in der Regierung, die auf Konfrontationskurs mit dem Landtag gingen, zu verhin­ dern suchten, und der 1843 von seinem Ministeramt zurückgetretene Linde­ nau wurde 1848 in die deutsche Nationalversammlung gewählt, wo er sich dem linken Zentrum anschloß. D er gesellschaftsreformerische Ansatz, auf dem ihre weitgehend einvernehmlich mit den Kammern verfolgte Amtstä­ tigkeit beruhte, manifestierte sich in beiden Ländern vor allem in der Agrar­ und Gemeindegesetzgebung.72 Erst als dieser konsensfähige Impetus, des­ sen Umsetzung der amerikanische Historiker Loyd E. Lee in einer in Deutschland bislang wenig beachteten Studie als »the politics of harmony« bezeichnet hat, 73 in den 1840er Jahren zum Erliegen gekommen war, ge­ wann die liberale Bürokratiekritik an Boden. D ie Ernennung Bekks zum badischen Ministerpräsidenten 1846 war insofern weniger ein Übergang zur parlamentarischen Regierungsweise, schon gar nicht ein von der Opposi­ tion erzwungener, als vielmehr der Versuch eines Wiederanknüpfens an jene Politik, die seinerzeit von Blittersdorf, nicht von Seiten der Kammer, aufge­ kündigt worden war. Letztere war denn auch in ihrer großen Mehrzahl abermals bereit sie mitzutragen, und zwar ohne auf einer weiteren Parla­ mentarisierung zu bestehen oder gar 1848/49 dem Drängen auf Demokrati­ sierung nachzugeben. Es bliebe zu überprüfen, inwieweit nicht auch die Politik der »Neuen Ära« in Preußen und Baden eher nach diesem Muster als nach dem der Parlamentarisierung zu interpretieren ist. D enn so wenig der Beamtenabgcordnete an sich für die Schwäche des parlamentarischen Libe­ ralismus in D eutschland verantwortlich gemacht werden darf, so sehr ist doch seine Erscheinung in Verbindung zu bringen mit dem Nichtzustande­ kommen eines liberalen Parlamentarismus nach englischen Begriffen, d. h. einer politischen Abhängigkeit der Regierung von der Volksvertretung. Zentral geworden für die Vermittlung von Bürokratie und Liberalismus in D eutschland ist die Rolle der beamteten Intelligenz. Wenn Gall konsta­ tiert, es sei »für die politische Entwicklung Badens von weitreichender Bedeutung geworden, daß eine erfolgreiche Beamtenlaufbahn schon im Vormärz von dem Votum liberaler Professoren abhing und diese damit einen indirekten, aber darum nicht minder starken Einfluß auf die Zusammenset­ zung der badischen Beamtenschaft ausübten«, trifft dies mit den gehörigen Modifikationen für die übrigen Staaten ähnlich zu.74 Völlig anders verhält es sich dagegen in England, wo die Universitäten keine Staatsanstalten waren, Professoren keine Beamte und Examina nicht die Eingangsvoraussetzung 240 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

für eine Verwaltungskarriere. D ementsprechend existierten in Großbritan­ nien auch keine »politischen Professoren«; Bentham und Mill haben nicht über den Lehrstuhl gewirkt. Es mag dies mit eine Ursache dafür sein, daß der Weltanschauungscharakter des britischen Liberalismus insgesamt weni­ ger stark ausgeprägt war. Ein nennenswertes Engagement von Universi­ tätsangehörigen und ein akademischer Liberalismus als Versuch einer intel­ lektuellen Verarbeitung des sozialen Wandels bei gleichzeitigem Bemühen um gestaltende Einflußnahme darauf, läßt sich erst gegen Ende des hier betrachteten Zeitraums, nach den Universitäts- und Verwaltungsreformen der 1850er Jahre, konstatieren.75 »Radicalism had at last become at least a possible conclusion one could carry away from university studies«, so heißt es bei Vincent von einer politischen Einstellung, die in Deutschland beinahe schon als normales Produkt staatlichen Unterrichts vorausgesetzt werden kann. 76 So unterschiedlich aber die Entwicklung im Verhältnis von Bürokratie und Liberalismus in beiden Ländern insgesamt auch verlaufen ist, bleibt doch abschließend noch auf eine bedeutsame Konvergenz hinzuweisen. Als Folge der parlamentarisch-aristokratischen Regierungstradition bestand in Großbritannien ein enormer Nachholbedarf bei der Bürokratisierung der inneren Staatsverwaltung. D enn die Engländer, wie Adelheid von Stechlin den Sachverhalt umschrieb, »stehen in keinem Buch und haben auch nicht einmal das, was wir Einwohnermeldeamt nennen, so daß man beinahe sagen kann, sie sind so gut wie gar nicht da.« 77 Fontanes D omina blieb 1898 freilich auch in diesem Urteil ein wenig hinter ihrer Zeit zurück, denn durch die »Victorian Revolution in Government« als Antwort auf die anders nicht zu bewältigenden Probleme des gesellschaftlichen Wandels war die verwal­ tungsmäßige Erfassung der britischen Bevölkerung seit der Jahrhundertmit­ te zügig fortgeschritten. Ähnlich wie dies in Deutschland von Anfang an der Fall gewesen war, stärkte die Bürokratisierung nun auch in England die Machtstellung der Exekutive gegenüber dem Parlament. Im gleichen Maße, wie sich die britische Regierung auf eine professionelle und durch das Mandatsverbot unverändert von der Parteipolitik ferngehaltene Beamten­ schaft stützen konnte, wurde sie bei zunehmender Komplexität der gesell­ schaftlichen Verhältnisse unabhängiger von den parlamentarisch dominie­ renden Interessen, was durch Monopolisierung der Gesetzesinitiative und andere verfahrensrechtliche Bestimmungen im Laufe der Zeit auch seine konstitutionelle Verankerung fand. D as Kabinett konnte so nach und nach vom Vollzugs- zum Lenkungsausschuß des Parlaments werden, was aller­ dings auch mit der durch die Demokratisierung bewirkten Transformation der Wahlen in ein Plebiszit über die Regierungspolitik zu tun hat und der damit einhergehenden verstärkten Parteibindung des einzelnen Abgeordne­ ten.

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III. Gladstones vielzitierter Charakterisierung der Nonkonformisten als »the backbone of British Liberalism«78 nur mit dem geläufigen Hinweis zu begegnen, die Ermangelung einer freikirchlichen Tradition sei als wesentli­ cher Faktor für die Schwäche des deutschen Liberalismus mitverantwort­ lich, hieße die Frage nach der je spezifischen Rolle der Religion für die politische Kultur in D eutschland und Großbritannien unzulässig vereinfa­ chen. Vielmehr ist hier wie dort zunächst einmal ein Wiedererwachen des religiösen Bewußtseins auf breiter Front zu konstatieren, das in seinen Anfängen nahezu bis auf die Jahrhundertwende zurückgeht. Herauszuarbei­ ten hat eine vergleichende Untersuchung demnach vor allem, weshalb diese gemeineuropäische Tendenz in England dem Liberalismus zugutegekom­ men ist, ihm in Deutschland aber schwer geschadet hat. Der theologische Rationalismus, von dem aus sich mühelos eine Brücke zur liberalen Politik hatte schlagen lassen,79 befand sich, wissenschaftlich überholt und der religiösen Erweckung im Wege, bereits vor 1830 auf dem Rückzug, obwohl es bis zur Mitte des Jahrhunderts dauern sollte, bevor auch seine letzten Vertreter von den deutschen Kanzeln verschwunden waren. D amit korrespondierend scheint der Anteil der evangelischen Theo­ logen unter den Exponenten der liberalen Bewegung sukzessive zurückge­ gangen zu sein, obwohl verläßliche Zahlenangaben fehlen.80 Der scheinbare Wiederaufschwung des Rationalismus in Gestalt der vormärzlichen Licht­ freunde erwies sich in Wahrheit als Manifestation eines Ausgrenzungspro­ zesses. D ie Welle selbständiger Gemeindebildungen verebbte bald ebenso wie auf katholischer Seite der meteorenhaft aufgestiegene D eutschkatholi­ zismus nach 1848 wieder unterging, zu dem sich in der Paulskirche immer­ hin acht Abgeordnete bekannt hatten.81 D ie Weichen für die Abkehr des Katholizismus vom Liberalismus waren allerdings lange vorher gestellt worden, mit dem Scheitern der nationalkirchlichen Bewegung und des damit verbundenen Synodalismus, auf was beides Rotteck zum Beispiel große Hoffnungen gesetzt hatte.82 Mit der erfolgreichen Kurialisierung der Kirche einher ging eine Rekonfessionalisierung des Glaubens, die durch die Erfahrung der Revolution nachhaltig verstärkt wurde. 83 Daß somit um die Jahrhundertmitte im katholischen wie im landeskirch­ lich-protestantischen Raum bewußte Frömmigkeit einer Absage an den Liberalismus gleichkam, fand seine Entsprechung in dessen Einstellung gegenüber den Kirchen.84 D as enge Bündnis von Thron und Altar in Ver­ bindung mit der vorherrschend antiliberalen Einflußnahme der Geistlichen auf die breite Masse des Volkes führte eine zunehmende Distanz zum Glau­ ben und einen wachsenden Antiklerikalismus herbei. Paul Pfizer hat dieses von Seiten der Liberalen nicht eigentlich gesucht, aber das unausweichliche Spannungsverhältnis im »Staatslexikon« wie folgt umschrieben: »Wenn wirklich der Liberalismus sich von der Kirche abgewendet hat und nicht 242 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

selten auch dem Christentum entfremdet erscheint, so sind daran . . . diejeni­ gen Schuld, welche nicht aufhören, den blinden, unbedingten Gehorsam als erste christliche Bürgerpflicht zu predigen, diejenigen, welche die Kirche der weltlichen Gewalt dienstbar gemacht oder die Lehre des Evangeliums entstellt und mißbraucht haben, um den Menschen geistige und leibliche Fesseln zu schmieden, sie in Druck, D umpfheit und Aberglauben zu erhal­ ten, sie zu plündern und herabzuwürdigen. D er Liberalismus bedarf der Religion allerdings nicht, um rechtlich unhaltbaren Anmaßungen eine trü­ gerische Stütze zu verleihen, und dem mißbräuchlich sogenannten göttli­ chen Rechte muß er ein Recht von wahrhaft göttlicher Art, das Recht der Vernunft, entgegensetzen, in deren Ansprüchen der ewige Schöpfer sich ebenso gewiß kundgeben wird als in den positiven Offenbarungen, die ja ihre letzte Beglaubigung für ein denkendes Wesen doch auch nur durch ihre Übereinstimmung mit den Gesetzen seiner Vernunft erhalten können.« 85 Als Anwalt der Glaubensfreiheit in großem Stil konnte der deutsche Liberalismus nicht auftreten, es sei denn für die Emanzipation der Juden, was er mit allerdings bezeichnenden Modifikationen auch tat. D arüber hinaus gab es jedoch keine nennenswerten religiösen Minderheiten, und für die gesetzliche Gleichstellung der großen Konfessionen hatte der absolutisti­ sche Staat bereits gesorgt. In England hingegen verband sich eine tolerierte Pluralität von Glaubensrichtungen mit Öffentlich- und privatrechtlicher Diskriminierung ihrer Angehörigen. Allerdings war es keineswegs selbst­ verständlich, daß die Nonkonformisten, nachdem sie ihre politische Passivi­ tät überwunden hatten, im liberalen Lager landeten. D enn einmal hielt die Whig-Aristokratie, trotz ihrer historischen Verdienste um die Gewissens­ freiheit, ebenso an der anglikanischen Staatskirche fest wie die Tories, was übrigens auch für Gladstone selbst galt, und auf dem radikalen Flügel des Liberalismus, wo sich die Vertreter der religiösen D issidenten schließlich ansiedelten, waren vor den Frommen bereits die Freidenker versammelt, obwohl es davon vergleichsweise weniger gab als in D eutschland.86 Der Eintritt der Nonkonformisten in die Politik vollzog sich vor dem Hintergrund ihres unproportional starken Anwachsens im Rahmen der britischen Gesamtbevölkerung des frühen 19. Jahrhunderts, wobei diese Zunahme fast ausschließlich die Mittelschichten und den stärker industriali­ sierten Norden Englands betraf. Sozial wie regional handelte es sich dabei zugleich um einen von der ersten Parlamentsrcform begünstigten Sektor, und den Zugang zum Unterhaus sowie ihr Wählerpotential, das mit den späteren Wahlrechtserweiterungen auf die Arbeiterschaft graduell wieder abnahm, nutzten die Nonkonformisten an der Seite der Liberalen, die auf ihre Stimmen angewiesen waren, zum Kampf gegen die verbleibenden gesetzlichen Beschränkungen. Ihre Verkörperung fand diese Entwicklung in der Gestalt des radikalen Unternehmers, der als Abgeordneter den Einsatz für bourgeoise Klasseninteressen mit dem für spezifische Forderungen sei­ ner Glaubensgenossen verband und als dessen Prototyp John Bright dienen 243 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

kann.87 Von daher dürfte es nur eine gelinde Übertreibung sein, wenn Vincent behauptet, die politische Einstellung der viktorianischen Mittel­ schicht habe weniger mit der Industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts zu tun als mit dem englischen Bürgerkrieg des 17. 88 Den Typus des radika­ len Unternehmers, dessen politisches Engagement sich nicht zuletzt aus religiösem Dissens speist, hat es übrigens in Deutschland ebenfalls gegeben, wenn auch weitaus seltener und nicht als Exponenten eines bestimmten Gruppenverhaltens. Zu nennen wäre etwa der im Grenzbereich von Lan­ deskirche und Sektenwesen flottierende Karl Mez aus Freiburg oder auch der schlesische D eutschkatholik Friedrich Wilhelm Schlöffel, nicht zufällig fast die einzigen Industriellen, die sich 1848 in der Paulskirche zur Linken hielten.89 Während also »the growth of militant Nonconformity« in England dem entschiedenen Liberalismus eine Massenbasis verschaffte,90 erwiesen sich die Vertreter der in Deutschland einzig relevanten historischen Freikirche, der Mennoniten, wenn auch als liberal, so doch alles andere als militant. Dabei unterlagen sie ebenfalls noch rechtlichen Beschränkungen, zumal was den Erwerb von Grundeigentum anging, brauchten allerdings um den Zugang zu den Vertretungskörperschaften nicht erst zu kämpfen.91 So war in England, nachdem die Abschaffung der Testakte 1828 auch dissentieren­ den Protestanten die Übernahme öffentlicher Ämter ermöglicht hatte, mit dem Eisenbahnpionier Pease 1833 erstmals ein Quäker in das Unterhaus gewählt worden, während in Gestalt des Gutspächters Möllinger bereits seit 1826 ein Mennonit in der Darmstädter Kammer saß. Auffallend ist jedoch, daß sowohl er als auch seine gleich ihm einem gemäßigten Liberalismus anhängenden Glaubensbrüder in der Frankfurter Nationalversammlung von 1848, der Krefelder Bankier Herrmann von Beckerath und der Emdener Kaufmann Isaac Brons, jeden Einsatz für mennonitische Spezialinteressen wie die Kriegsdienstverweigerung ausdrücklich ablehnten.92 Es entspricht diesem Bild, daß sich nach 1867 die unverhältnismäßig zahlreichen menno­ nitischen Abgeordneten im Reichstag und den Einzellandtagen sämtlich der nationalliberalen Partei anschlossen. D aß die Mennoniten weniger aktiv im Drängen auf eine Veränderung der Gesellschaft nach Maßgabe ihrer religiö­ sen Überzeugungen waren, hat freilich, außer mit ihrer sozial wie rechtlich nicht so ausgeprägten Außenseiterstellung, auch mit ihrer quantitativen Geringfügigkeit zu tun, obwohl, für sich genommen, die Zahl der Quäker in England, als der dogmatisch und liturgisch korrespondierenden Freikir­ che, um die Jahrhundertmitte auch nur 15000 betrug, mithin sogar etwas niedriger lag als die der Mennoniten in D eutschland, während ihr Beitrag zum liberalen Reformimpetus sehr viel gewichtiger einzuschätzen ist. Entsprechend dem gänzlich andersgearteten Stellenwert der Glaubens­ überzeugungen für das politische Handeln des Liberalismus nahm auch der Kampf um die Schule eine unterschiedliche Gestalt an. Während in Deutsch­ land die Forderung nach staatlicher Schulaufsicht zum ehernen Bestand der 244 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

liberalen Programmatik gehörte und als Voraussetzung einer liberalen Ge­ sellschaft der Zukunft im Zentrum des Kulturkampfes stand, lebte der britische Liberalismus im Zwiespalt zwischen der Notwendigkeit einer Verbesserung des öffentlichen Schulwesens und dem Widerstand der Non­ konformisten gegen staatliche Einmischung in Religions- und somit auch in Erziehungsfragen. In der Proklamation des »Voluntaryism« als oberstem Grundsatz trafen sie sich gar mit den Katholiken, obwohl die Perhorreszie­ rung alles Römischen ansonsten zu den ideologischen Gemeinsamkeiten des Liberalismus in beiden Gesellschaften gerechnet werden kann. D arüber hinaus bleibt jedoch für Deutschland eine seit dem Vormärz fortschreitende Dissoziierung von praktizierter Religion und Liberalismus zu beobachten, während sich in England überhaupt erst nach der Reformbill von 1832jene Assoziation von Nonkonformisten und Liberalen herausbildete, die dann in Verbindung mit der schwerpunktmäßigen Verwurzelung zumal in Schott­ land und Wales das Erscheinungsbild der Partei Gladstones und darüber hinaus bis zum Ersten Weltkrieg prägen sollte.

IV Die D iskussion um das soziale Erwartungsmodell des Liberalismus liefert ein aufschlußreiches Beispiel dafür, wie sich im Zuge der Demontage eines Mythos ein anderer verfestigen kann. Gemeint ist die im Kontext der deutschen Diskussion weitgehend übliche Verwendung von »Manchesterli­ beralismus« als Synonym für den britischen Liberalismus überhaupt. In seinem Bemühen, den deutschen Liberalismus aus dem Geruch einer bour­ geoisen Klassenideologie zu befreien, als die er im Falle Englands wie selbstverständlich vorausgesetzt wird, hat Gall die Affinität zu minimieren gesucht bis hin zu der Behauptung, »daß von einem irgend besonderen Verhältnis zwischen England und den mitteleuropäischen Staaten bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts kaum die Rede sein kann«. 93 Diese Tendenz einer Fehldeutung der Englandbezüge des deutschen Liberalismus ist denn auch scharf kritisiert worden. 94 D abei erscheint es keineswegs notwendig, den deutschen Liberalismus vom britischen abzugrenzen, um seine Vorbehalte gegenüber einem forcierten Industrialismus glaubhaft zu machen, einmal abgesehen davon, daß ohnehin zwischen politischer und ökonomischer Orientierung deutlich zu trennen wäre. Denn wenngleich die Theorie des ökonomischen Liberalismus zu wesent­ lichen Teilen in Großbritannien formuliert worden ist, so ging doch der englische Liberalismus nicht deshalb schon ganz darin auf. Vielmehr erwie­ sen sich auch in England der politische Liberalismus in seiner parlamentari­ schen Gestalt und der ökonomische Liberalismus in seiner theoretischen Reinheit als keineswegs deckungsgleich. Überhaupt muß aber verglichen 245 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

mit Deutschland der Weltanschauungscharakter des Liberalismus als relativ schwach ausgeprägt gelten, und bei den liberalen Abgeordneten handelte es sich Vincent zufolge im wesentlichen um »men of good position whose common liberalism amounted to little more than a common good nature«. 95 Die Gruppe der »Philosophic Radicals« als Vertreter der Lehren Benthams, die nach der Parlamentsreform in das Unterhaus drängte, schied bereits nach einem Jahrzehnt desillusioniert wieder aus der praktischen Politik aus, was allerdings noch kein definitives Urteil über den Einfluß ihres Gedankenguts enthält.96 In jedem Falle ist aber der Utilitarismus nicht einfach mit einer Philosophie des laissez-faire gleichzusetzen, und den sprichwörtlichen Nachtwächterstaat hat es, zumal was gesellschaftliche Problemzonen be­ trifft, in der Realität nie gegeben.97 Andererseits konnte im Gegensatz zu Deutschland die vom Staat zu betreibende D urchsetzung des marktwirt­ schaftlichen Individualismus im Agrarbereich, in Handwerk und Gewerbe keine Streitfrage mehr darstellen, weil er sich bei dem historisch überkom­ menen schwachen Staat in der ökonomischen Realität längst durchgesetzt hatte. D ie stets mit ausdrücklicher Bezugnahme auf das englische Beispiel geführte deutsche Diskussion über die sozialen und politischen Folgen einer solchen Entwicklung besaß insofern wesentlich antizipatorischen Charak­ ter. 98 Daß die klassische politische Ökonomie nicht nur von Adam Müller, sondern auch in England bisweilen als Erfindung von Schotten, Juden und anderen subversiven Elementen denunziert wurde, 99 ändert nichts an der Tatsache, daß der ökonomische Liberalismus im weiteren Sinne in den großen politischen Lagern ähnlich stark verwurzelt war. Bezeichnenderwei­ se verliefen denn auch die Fronten im Kampf um den Freihandel quer zur Parteipolitik, als Auseinandersetzung der industriebürgerlichen Anti-Corn­ Law-League mit den aristokratischen Grundbesitzern, die als Whigs ebenso­ wenig davon begeistert waren wie als Tories.100 Von daher kann es auch kaum überraschen, daß die schließliche Niederlage der Protektionisten nicht auf einen liberalen Wahlsieg zurückzuführen war, sondern auf Peel, der mit Teilen der konservativen Partei die Seiten wechselte. Gleichwohl wurde die siegreiche Koalition in Sachen Freihandel nicht zur Grundlage einer klassen­ mäßigen Umstrukturierung des herkömmlichen Parteisystems, wie dies Cobden vorschwebte. Sein Versuch, Peel 1846 dafür zu gewinnen, an die Spitze einer »mixed progressive party« aus konservativen Freihändlern und bürgerlichen Radikalen mit antiaristokratischer Stoßrichtung zu treten, »to explode the phantom of a Whig opposition«, schlug fehl. Für wie »unbour­ geois« der quintessentielle Manchesterliberale den parlamentarischen Libe­ ralismus hielt, dokumentiert das geradezu klassenkämpferische Pathos, mit dem er Peel zu Leibe rückte: »D o you shrink from the post of governing through the bona fide representatives of the middle class? . . . There must be an end of the juggle of parties, the mere representatives of traditions, and some man must of necessity rule the State through its governing class.«101 246 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Tatsächlich wurde der Zusammenschluß von Peeliten und Radikalen mehr als ein Dutzend Jahre später zur Keimzelle der organisierten liberalen Partei, charakteristischerweise aber unter Einschluß der Whigs und ohne daß der ökonomische Liberalismus im doktrinären Sinne des zunächst von seinen Gegnern so genannten Manchestertums, also das Theorem der freien Konkurrenz und der Interessenharmonie, programmatische Verbindlichkeit erhielt.102 D ie eigentliche Signatur der Manchesterschule bestand historisch ohnehin darin, weit über das Wirtschaftsleben hinaus jene Prinzipien zur Grundlage einer allgemeinen Menschheitsbeglückungslehre gemacht zu ha­ ben. Vor allem die ihr innewohnende internationalistisch-pazifistische Ten­ denz, die Cobden zum Beispiel 1850 nach Frankfurt reisen ließ, um durch Reden in der Paulskirche eine Friedensbewegung in Deutschland hervorzu­ rufen, machte die Manchestermänner bei ihrer heimischen Klientel zuneh­ mend suspekt. D aß die Bourgeoisie von Manchester insofern wenigstens nicht manchesterliberal sein wollte, ließ sie Bright mit seiner Abwahl 1857 spüren, bei entschiedenem Bekenntnis zur Palmerston-Whig-Variante von Liberalismus, was gleichzeitig auch Cobden sein Abgeordnetenmandat im benachbarten Huddersfield kostete. Für einen repräsentativen Industriellen in der Blütezeit des Kapitals machte Cobden übrigens auch viel zu schlechte Geschäfte, denn er war zwar als Selfmademan in die Politik gegangen, hatte aber in Verfolgung seiner Weltverbesserungspläne sein Vermögen wieder eingebüßt. D em unbequemen Außenseiter in Würdigung seiner früheren Verdienste eine Pension auszusetzen, erwies sich jedoch 1862 in der liberalen Partei als nicht mehrheitsfähig.103 Cobden war also weniger die Speerspitze eines real existierenden Bourgeoisliberalismus, er war sein Prophet.104 Gewissermaßen parallel zur Entwicklung des Manchestertums als Ideolo­ gie vollzog sich eine politische Integration der aufsteigenden Bourgeoisie in das aristokratisch-agrarisch dominierte Parteiwesen, nicht ohne es auf lange Sicht entscheidend zu verändern, aber eben doch ohne es umzustürzen. Wenngleich also das gesellschaftliche Zukunftsmodell des britischen Libera­ lismus daher kaum als industriekapitalistisch schlechthin qualifiziert werden kann, war es indessen ebensowenig rein vorkapitalistisch oder antiindu­ striell orientiert. Vielmehr entsprach der Heterogenität der sozialen Basis des Liberalismus auch eine Pluralität der sozialen Zielvorstellungen, ohne daß diese Spannweite des Horizonts jedoch über lange Zeit für sonderliche Spannungen gesorgt hätte.

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V. Bei der Erörterung liberalen Agierens im Rahmen des Parlaments soll es im folgenden nicht um die Frage gehen, ob und wann wer in Deutschland den Übergang zur parlamentarischen Regierungsweise nach englischem Vorbild gefordert oder praktiziert hat. D ie dem zugrundeliegende Annahme, daß der Parlamentarismus gleichzeitig Freiheit und Stabilität gewährleiste, in­ dem eine Regierung nur in Übereinstimmung mit der Mehrheit, dann aber auf sicherem Boden amtieren könne, muß zudem für England zwischen 1830 und 1870 mit einigen Einschränkungen versehen werden. D enn das Zeitalter der Parlamentssouveränität zwischen der ersten und zweiten Re­ formbill, als die Abgeordneten kaum noch von der Exekutive, andererseits aber noch kaum von der Wählermeinung abhängig waren, kann zumindest in seiner zweiten Hälfte, beginnend mit dem Sturz Peels 1846, als eine permanente Regierungskrise verstanden werden. D abei war die Majorität der Abgeordneten fast die ganze Zeit hindurch liberal im allgemeinsten Sinne des Wortes, nur hatte sich das Parteiwesen in eine Vielzahl von Fraktionen und zum Teil persönliche Gefolgschaften aufgesplittert, weshalb eine dauerhafte Mehrheitsbildung nahezu unmöglich wurde. Minderheits­ regierungen waren an der Tagesordnung; allein zwischen 1852 und 1859 wechselte fünfmal der Premierminister, und zwar aus allen möglichen An­ lässen, nur nicht infolge von Wahlen. D ie durchschnittliche Lebensdauer eines Kabinetts betrug in der Zeit von 1832 bis 1867 weniger als drei Jahre und das bei einer siebenjährigen Legislaturperiode.105 Vor diesem Hinter­ grund hat nicht nur der konservativ gewendete D emokrat Ewald Bucher den »Parlamentarismus wie er ist« für unvereinbar mit einer handlungsfähi­ gen Regierung erklärt, auch der rechtsliberale Rudolf Gneist entwickelte damals sein Programm für eine Reform der englischen Verfassung nach dem Muster des deutschen Konstitutionalismus.106 Setzt man aber die Funktionsweise des politischen Systems beiderseits als gegeben voraus und fragt nach den Konsequenzen, die sich daraus jeweils für die D urchsetzung liberaler Politik ergeben, so fällt ein bedeutsamer Unterschied ins Auge: Seit ihrem Regierungsantritt 1830 waren die Whigs, um sich an der Macht zu halten, stets auf die Unterstützung der Radikalen im Parlament angewiesen und daher bisweilen genötigt, weiter zu gehen als sie ursprünglich beabsichtigt hatten. Im Gegensatz dazu konnte der deutsche Liberalismus fast immer nur unter Abgrenzung nach links etwas erreichen. Diese Beobachtung läßt sich dahingehend generalisieren, daß, wo die ober­ ste Gewalt außerhalb des Parlaments, bei der Krone, liegt, liberale Politik systemlogisch eher eine Kompromißbereitschaft nach rechts erfordert, weil eine bloße Mehrheitsbildung keine Gewähr für den Erfolg bietet. Wenn letzteres aber der Fall war, wie bei der aus eigener Hoheit vollzogenen Verabschiedung der Paulskirchenverfassung im März 1849, öffnete sich auch der deutsche Liberalismus eher nach links hin, wovon der Pakt Simon248 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Gagern Zeugnis ablegt. Eine solche Deutung erlaubt auch eine von morali­ schen Wertungen freie Erklärung der abrupten Wende der Erbkaiserlichen in Gotha nur wenige Wochen später. D ie Verfolgung der gleichen Ziele ver­ langte unter den veränderten D urchsetzungsbedingungen nunmehr eine Anpassung an die Bedingungen der preußischen Regierung, vorausgesetzt, was man voraussetzen muß, daß die gemäßigt-liberalen Kräfte keine Revo­ lution wollten oder wollen konnten. Daß auch die Kehrtwende eines großen Teils der Fortschrittspartei in den 1860er Jahren nicht der Aufgabe, sondern der D urchsetzung liberaler Ziele diente, von denen die Errichtung des Nationalstaats beileibe nicht das geringste war, steht ohnehin außer Zwei­ fel.107 Auf der Grundlage des konstitutionellen Systems, das in ein parla­ mentarisches zu transformieren nicht in seiner Macht und wohl auch nur vereinzelt in seiner Absicht lag, blieb dem deutschen Liberalismus im Bemü­ hen um praktische Erfolge gar keine andere Wahl. Ganz im Sinne dieser Argumentation hat John Breuilly für die im Ver­ gleich zu England relativ frühe Trennung von Liberal- und Sozialdemokra­ tie in D eutschland die Bedeutung ideologischer und sozialgeschichtlicher Faktoren, die gemeinhin an erster Stelle genannt werden, stark abgewertet gegenüber der Tatsache, daß die Liberalen für eine Unterstützung politisch keine Prämien zu vergeben hatten.108 Auf eben dieser Basis beruhte jedoch die erfolgreiche Bindung außerparlamentarischer Bewegungen an den briti­ schen Liberalismus.109 Wo aber in der Volksvertretung vornehmlich Prinzi­ pien verhandelt werden, kommen nur schwer Kompromisse zustande, noch dazu, wenn das Wahlrecht die Möglichkeit bietet, die eigenen Prinzipien unkompromittiert selbst zu repräsentieren. Es bleibt indes zu überprüfen, ob eventuell in der liberalen Kommunalpolitik D eutschlands gegenläufige Verhaltensmuster zu beobachten sind, ob also tatsächlich die Offenheit nach links größer war, wo Mehrheiten in einer Vertretungskörperschaft erforder­ lich waren, um liberale Ziele zu realisieren. Dafür, daß der Liberalismus in Großbritannien so lange der politische Bezugspunkt für außerparlamentarische und unterbürgerliche Bewegungen blieb, war aber neben dem parlamentarischen Regierungssystem auch die Abwesenheit eines demokratischen Wahlrechts entscheidend. Nichts hat die politische Kraft des deutschen Liberalismus auf lange Sicht mehr ge­ schwächt als die umgekehrte Konstellation. D ie nationalliberalen Klagen, daß die Kompetenzen des Reichstags zu gering, die Zahl der Wähler aber zu groß sei, verraten 1867 auch sofort ein ausgeprägtes Bewußtsein für diese Bedrohung. Hinter den britischen Parlamentsreformen muß auch in Anbe­ tracht dessen weniger eine langfristige Demokratisierungs- als vielmehr eine wohlüberlegte Ausschließungsstrategie gesehen werden. Als 1918 schließ­ lich auch in England das allgemeine Wahlrecht unvermeidlich geworden war, war es mit der Vorherrschaft des Liberalismus dort ebenfalls bald vorbei, da die Erosion seiner sozialen Basis lange vorher eingesetzt hatte, mit der sukzessiven Abwanderung der ursprünglichen Whigs und des Groß249 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

grundbesitzes sowie der parteipolitischen Verselbständigung der Arbeiter­ bewegung. So konnte der britische Liberalismus gegen Ende seiner hege­ monialen Stellung zwar tendenziell als bürgerliche Klassenpartei gelten, ein Zustand, der in D eutschland sehr viel früher eingetreten war, aber sein Zusammenbruch als parlamentarisch dominierende Kraft unter den Bedin­ gungen des politischen Massenmarktes erfolgte doch erst, nachdem seine »historische Mission« gewissermaßen ihr Ziel erreicht hatte.

VI. »Es steht einzig da«, läßt Fontane den Superintendenten Koseleger im »Stechlin« mit Blick auf England sagen, »alles modern und zugleich alles alt«. 110 Ob die britische Entwicklung, auch was den Liberalismus angeht, nun wirklich einzigartig war und nicht, wie es die Sonderwegs-Hypothese voraussetzt, eine Art Normalverlauf darstellte, kann mit einiger Gewähr erst durch eine Ausdehnung des Vergleichs auf weitere Aspekte und andere Länder entschieden werden. Soviel läßt sich jedoch mit Sicherheit jetzt schon konstatieren: Die Historisierung der Liberalismus-Diskussion, wie sie die synchrone Gegenüberstellung von Parallelfällen ermöglicht, bewirkt eine Relativierung des Urteils, während eine diachrone Bezugnahme auf die Geschichte bestimmter Nachbarländer mit teleologischer Perspektive eher Vorurteile bestätigt. Wenn Eley und Blackbourne keinen deutschen Sonderweg gegenüber der Entwicklung in England sehen wollen, so läuft ihre Argumentation in der Tendenz auf eine Einebnung der Unterschiede hinaus mit dem Tenor, daß die Bourgeoisie letztlich hier wie dort geherrscht habe. Trotz vielfältiger Analogien und konvergierender Entwicklungen sind jedoch die D ifferen­ zen, selbst auf der Ebene von Epiphänomenen wie dem Liberalismus, dafür viel zu bedeutsam, gerade auch in ihrer langfristigen Wirkung. Allerdings läßt sich ihre Inkongruenz in der Tat wohl nicht auf den Nenner von Norm und Abweichung bringen, soll nicht die Sozialgeschichte zu einer Extrapola­ tion der politischen Rhetorik verkümmern. Zurückhaltung erscheint daher auch geboten, wenn jüngst bisweilen eine Vertauschung der Attribute in Anregung gebracht worden ist. Seine geographische Lage mit festen und sicheren Grenzen, seine ökonomische Pionierrolle und seine parlamentari­ sche Tradition nennt zum Beispiel Sidney Pollard als wesentliche Gründe dafür, daß Großbritannien auch bei der Bewältigung gesellschaftlichen Wandels »in gewisser Hinsicht . . . ein Ausnahmefall« gewesen sei. 111 Gott­ fried Niedhart spricht in Umkehrung der populären Hypothese gar von einem »englischen Sonderweg«, was die politisch-soziale Form des Über­ gangs in das moderne Industriezeitalter angeht, 112 und auch James J . Shee­ han betont die Einzigartigkeit der Konstellation, unter der sich der britische 250 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Liberalismus entfalten konnte, wenn er resümiert: »If it makes any sense at all to talk about a national Sonderweg in the nineteenth century, surely liberal England ist the case to which the term can most readily be app­ lied.« 113 Das gleiche hat Hans-Christoph Schröder für das 17. und 18. Jahrhundert reklamiert,114 ausgehend von der Frage, weshalb sich in England der Abso­ lutismus nicht durchsetzen konnte. In der Tat liegt in dieser Abweichung vom gemeineuropäischen Regelfall auch der tiefere Grund für die meisten der im vorliegenden Beitrag erörterten Unterschiede des britischen Libera­ lismus vom deutschen, sei es nun in bezug auf den Adel, die Beamtenschaft, die Religion oder den Stellenwert des Parlaments. Insofern ist auch jetzt schon die Vermutung wohl nicht ungerechtfertigt, daß der Liberalismus in Großbritannien von einem Faktorenbündel bestimmt war, das so oder ähnlich nicht nur in der deutschen Staatenwelt fehlte, sondern auch in den meisten anderen Ländern. Ob die Liberalismen der kontinentaleuropäischen Länder durchgängig mehr Gemeinsamkeiten untereinander aufzuweisen haben als einzelne von ihnen, für sich genommen, mit England, darf weiter als fraglich gelten. D aß sie hingegen sämtlich weniger mit D eutschland gemein haben als mit England, erscheint ausgeschlossen, so daß die Rede von einem »deutschen Sonderweg« in Sachen Liberalismus aufgegeben werden sollte, auch wenn man stattdessen nicht gleich Großbritannien einen solchen zuschreiben will. Das Problem übrigens hatte kluge Köpfe bereits lange beschäftigt, bevor die Erfahrung des »D ritten Reiches« den »Sonderweg« vom Leitbild deut­ scher Historiker zum Vorwurf an die deutsche Geschichte werden ließ. Fontane, um ihn ein letztes Mal zu zitieren, war nur vorsichtiger, als er sich 1857, zur Halbzeit seines vierjährigen Englandaufenthalts, einmal mehr Gedanken über die Verschiedenheit der Zustände in Preußen-D eutschland und Großbritannien machte, dabei aber den Schluß von der Ernährung auf die Verfassung in das freie Ermessen seiner Leser stellte: »Du Land der Times und Land der Großen Charte, Du Land voll Löwenherz in jedem Strauß, Besieg'rin du des Kaisers Bonaparte, Erbweisheitsland, der Freiheit Hort und Haus; Ach, frag' ich mich, was ganz aparte, Du hast vor uns und andrem Volk voraus, So ist es das: Es fehlen dir die Semmeln, Doch bist du groß in Rindfleisch und in Hammeln.«115

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Anmerkungen 1 Auf die vielfach erörterte Frage, inwieweit die deutschen Beobachter England auch »rich­ tig« gesehen haben, kann im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht eingegangen werden. 2 O. Westphal, Philosophie der Politik. Einheiten und Mächte der Universalgeschichte, München 1921, S. 303; zit. nach B. Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. D ie D eutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980, S. 159. 3 F. C. Sell, Die Tragödie des deutschen Liberalismus. Baden-Baden 21981 [zuerst 1953]. 4 L. Call, Liberalismus und »bürgerliche Gesellschaft«. Zu Charakter und Entwickung der liberalen Bewegung in D eutschland, in D ers. (Hrsg.), Liberalismus. Königstein 31985, S. 162-86. 5 So auch K.-G. Faber, Strukturprobleme des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: Der Staat 14, 1975, S. 201 -27; hier bes. S. 211 f. mit Anm. 25. 6 D . Blackbourn u. G. Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung. D ie gescheiterte bür­ gerliche Revolution von 1848, Frankfurt 1980; vgl. auch die erweiterte und mit einer Erörte­ rung vom Verlauf der Diskussion eingeleitete englische Fassung unter dem Titel: The Peculiari­ ties of German History. Bourgeois Society and Politics in Nineteenth-Century Germany, Oxford 1984. 7 Einen Aufriß der Kontroverse bietet Η. Grebing unter Mitarbeit von D. von der Brelie­ Lewien u. H.-J . Franzen, Der »deutsche Sonderweg« in Europa 1806—1945. Eine Kritik, Stuttgart 1986, S. 11-22; ebd. S. 201 f., Anm. 12, auch ein Nachweis der wichtigsten Beiträge zur Auseinandersetzung mit Eley und Blackbourne. 8 Ausgehend von einer kategorischen Feststellung im Vorwort des Marxschen »Kapital«, wonach England den Rest der Welt nur »das Bild der eigenen Zukunft« zeige (MEW, Bd. 23, S. 12), kann demgegenüber die orthodox-marxistische Historiographie über den deutschen Liberalismus, mutatis mutandis, ebenfalls als Erklärungsversuch eines nationalen Sonderweges gelten. Zur historiographischen Entwicklung im einzelnen vgl. J . Schradi, D ie D D R-Ge­ schichtswissenschaft und das bürgerliche Erbe. D as deutsche Bürgertum und die Revolution von 1848 im sozialistischen Geschichtsversrändnis, Frankfurt 1984. D aß sich in jüngster Zeit differenziertere Forschungsansätze durchgesetzt haben, zeigt die Synthese von S. Schmidt, Politik und Ideologie des bürgerlichen Liberalismus im Revolutionszyklus zwischen 1789 und 1917, in: ZfG, 31, 1983, S. 24-37. 9 So z. B. H. Schissler, D ie Junker. Zur Sozialgeschichte und historischen Bedeutung der agrarischen Elite in Preußen, in: H.-J. Puhle u. H.-U. Wehler (Hrsg.), Preußen im Rückblick. Göttingen 1980, S. 89-122. Zeitgleich mit Eley und Blackbourne und unter den Auspizien zweier ihrer prominentesten Widersacher erklärt die Autorin am Ende (S. 121) dieser verglei­ chend angelegten Untersuchung, ihr schienen »gerade bei dem Problem der ›historischen Belastungen‹ des deutschen Entwicklungspfades und seiner Kontrastierung mit dem englischen Modellfall Verzerrungen des historischen Urteils vorzuliegen«. Es sei einmal »eine reizvolle Aufgabe, eine Reihe vorherrschender Thesen sowohl zur ›Vorbildhaftigkeit‹ des englischen Entwicklungsmodells als auch zum ›Sonderwegscharakter‹ der deutschen Geschichte einer kritischen Revision zu unterziehen«. 10 G. Schmidt, Politischer Liberalismus, »Landed Interest« und Organisierte Arbeiterschaft 1850-1880. Ein deutsch-englischer Vergleich, in: Gall, Liberalismus, S. 232-53 [zuerst 1974]. Vornehmlich auf Deutschland und Großbritannien bezieht sich auch J . J . Sheehan, Some Reflec­ tions on Liberalism in Comparative Perspective, in: H. Köhler (Hrsg.), D eutschland und der Westen. Berlin 1984, S. 44-58. 11 G. Schmidt, S. 233. 12 A.M. Birke, Wahlrechtsreform und Wählerbewegung in England. Zum Verhältnis von Parlamentarismus und D emokratisierung in der Viktorianischen Zeit, in: O. Büsch (Hrsg.), Wählerbewegung in der europäischen Geschichte. Ergebnisse einer Konferenz, Berlin 1980, S. 211-25, bes. S. 211 f.

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13 »I dare say that the idea of a German Sonderweg is no more, but also no less, a myth than the idealised notion of British progress towards democracy, which served it as a counterfactual model.« W. Mommsen, Britain and Germany 1800 to 1914. Two Develop­ mental Paths Towards Industrial Society, London 1986, S. 3. 14 A. M. Birke, Einleitung, in: Ders. u. Κ. Kluxen, Deutscher und britischer Parlamenta­ rismus-British and German Parliamentarism, München 1985, S. 7. 15 D ie Zahlenangaben nach K. Kluxen, Geschichte und Problematik des Parlamentaris­ mus, Frankfurt 1983, S. 128. 16 S. Volkov, Enactment and Repeal of Combination Acts: England and Prussia Compa­ red, in: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte, 9, 1980, S. 311. 17 R. Bendix, Könige oder Volk. Machtausübung und Herrschaftsmandat, Bd. 2, Frank­ furt 1980, S. 545. 18 So etwa G. L. Cherry, Early English Liberalism. Its Emergence through Parliamenta­ ry Action 1660-1702, New York'l962. 19 Vgl. Κ. Ballestrem, Klassischer englischer Liberalismus, in: Κ. Rohe (Hrsg.), Engli­ scher Liberalismus im 19. u. frühen 20. Jahrh., Bochum 1987, S. 1-33. 20 Eine Übernahme des Titels von L. Gall, D er Liberalismus als regierende Partei. D as Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung, Wiesbaden 1968. 21 So etwa im Buchtitel von J . Becher Das deutsche Manchestertum. Eine Studie zur Ge­ schichte des wirtschaftspolitischen Individualismus, Karlsruhe 1907. 22 H. Oncken, Aus dem Lager der deutschen Whigs, in: D ers., Historisch-politische Auf­ sätze und Reden. Bd. 2, München/Berlin 1914, S. 263-302. Vgl. in diesem Band auch den Beitrag von C. Dipper. 23 Vgl. dazu demnächst die Freiburger D issertation von H. Einhaus, den ich in diesem Zusammenhang für viele wichtige Hinweise zu danken habe: Franz von Roggenbach - ein badischer Staatsmann zwischen »deutschen Whigs« und »liberaler Kamarilla«. 24 Zur Sozialgeschichte vgl. W. L. Arnstein, The Survival of the Victorian Aristocracy, in: F. C. Jaher (Hrsg.), The Rich, the Well Born and the Powerful. Elites and Upper Clas­ ses in History, Urbana/Ill. 1973, S. 203- 57; zur Programmatik A. D. Kriegel, Liberty and Whiggery in Early Nineteenth-Century England, in. JMH, 52, 1980, S. 253-78. 25 H. Oncken, Großherzog Friedrich I. von Baden und die deutsche Politik von 1854-1871. Bd. 1, Berlin/Leipzig 1927, S. 20. 26 H. Gollwitzer, D ie Standesherren. D ie politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten 1815-1918, ein Beitrag zur deutschen Sozialgeschichte, Göttingen 21964, S. 163. 27 L. Gall, Bismarck und England, in: P. Kluke u. P. Alter (Hrsg.), Aspekte der deutsch­ britischen Beziehungen im Laufe der Jahrhunderte, Stuttgart 1978, S. 48. 28 In einem noch nicht veröffentlichtem Vortrag von H. Döring, England als Modell der deutschen »Whigs«: D er sozialliberale Flügel der Kathedersozialisten, zit. bei: G. Niedhardt, Großbritannien als Gast- und Exilland für Deutsche, Bochum 1985, S. 11, Anm. 4. 29 D er Freisinnigen Freiburger politische Blätter Nr. 117, 27. 6. 1832, S. 474. 30 Für Itzstein läßt sich eine Mobilitierung nicht nachweisen, und auch bei dem Rhein­ länder Beckerath ist das »von« kein Adelstitel. 31 Ausgezählt nach den Angaben in: Hessische Abgeordnete 1820-1933. Biographische Nachweise für die Landstände des Großherzogtums Hessen (2. Kammer) und den Landtag des Volksstaates Hessen, bearb. v. H.G.Rumpel u. B. Groß, D armstadt 1980. D ie - zumal für die konstitutionelle Frühphase und die Reaktionszeit nach 1850 - nicht immer unan­ fechtbare Einstufung beruht außer auf zeitgenössischen Urteilen auch auf dem Abstim­ mungsverhalten, bevor sich mit den 1860er Jahren feste Fraktionen der liberalkonservativen bzw. der Fortschrittspartei herausbilden. Nicht eingeschlossen sind unter den 135 liberalen Abgeordneten vom vormärzlichen Oppositionellen bis zum Fortschrittler acht als D emo­ kraten ausgewiesene Volksvertreter aus den Revolutionsjahren sowie jener Einzelgänger, der sich nach 1866 zur Demokratischen Volkspartei bekannte.

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32 Ausgezählt nach: Α. Bauer, Badens Volksvertretung in der zweiten Kammer der Land­ stände von 1819 bis 1891, Karlsruhe 1891. 33 Eine vergleichende Untersuchung der adligen Privilegierung bietet jetzt M.L.Bush, Noble Privilege. Manchester 1983; vgl. unter komparativer Perspektive auch J . Powis, Aristo­ cracy, Oxford 1984. 34 J . V Beckett, The Aristocracy in England 1660-1914, Oxford 1986, S. 24f.: »The key to an understanding of the differences between England and the Continent lies in the social assessment of status used in the former, as opposed to the objective legal tests applied in the latter. In England it was the gradual failure of legal tests which led to the development of social assessment in defining aristocratic status.« 35 J. Vincent, The Formation of the Liberal Party 1857-1868, London 1966, S. 8. 36 Ebd., S. 3. Neben 198 Großgrundbesitzern zählt Vincent unter jenen 456 Abgeordneten 49 »gentlemen of leisure«, 84Juristen, 74 »big businessmen«, 43 »local businessmen«, 34 »mili­ tant businessmen«, worunter er »those with a sense of mission« versteht, und schließlich 20 Radikale, »who were not actually capitalists and large employers of labour«. D ie höhere Gesamtzahl von 502 kommt zustande, weil einzelne Parlamentsmitglieder in mehr als eine Kategorie fallen. 37 Eine aufschlußreiche Tabelle über den aristokratischen Kabinettsanteil im 19. Jahrhundert enthält Arnstein, S. 210. Ein signifikanter Unterschied zwischen konservativen und liberalen Regierungen ist diesbezüglich bis 1867 nicht zu erkennen. 38 Systematische Studien dazu fehlen. Vgl. einstweilen die Beiträge von W. Leiser über Baden und E. G. Franz über Hessen-D armstadt in: K. Schwabe (Hrsg.), D ie Regierungen der deutschen Mittel-und Kleinstaaten 1815-1933, Boppard 1983, S. 15-30, bzw. S. 103-12. 39 Zum Problem der Adelsabgeordneten allgemein vgl. P. M. Ehrle, Volksvertretung im Vormärz. Studien zur Zusammensetzung, Wahl und Funktion der deutschen Landtage im Spannungsfeld zwischen monarchischem Prinzip und ständischer Repräsentation, Bd. 2, Frankfurt 1979, S. 5 5 5 - 8 7 . 40 So waren bis zur Reichsgrühndung 18 der insgesamt 35 Adligen als grundherrliche Delegierte in den D armstädter Landtag gelangt, und davon können zwar drei als liberal eingestuft werden, aber nur einer in der Zeit vor 1848. 41 Gollwitzer, S. 190-94. 42 D iesen Schluß erlaubt auch die im übrigen nicht sehr tiefdringende Arbeit von H. Ostadal, Die Kammer der Reichsräte in Bayern von 1819 bis 1848. Ein Beitrag zur Geschichte des Frühparlamentarismus, München 1968. 43 Alle Zahlenangaben für die Paulskirche nach M. Schwarz, MdR. Biographisches Hand­ buch der deutschen Reichstage, Hannover 1965, S. 8, nennt 153 Adlige, wobei jedoch nicht nur erst später Nobilitierte wie Robert Mohl mit eingerechnet sind, sondern auch des letzteren Bruder Moritz Mohl, der nie einen Adelstitel führte, oder Hermann von Beckerath, der, wie bemerkt, ebenfalls bürgerlichen Standes war. 44 Alle Zahlenangaben nach A. Hess, D as Parlament, das Bismarck widerstrebte. Zur Politik und sozialen Zusammensetzung des preußischen Abgeordnetenhauses der Konfliktszeit (1862-1866), Köln/Opladen 1964. 45 K.E. Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867-1870, D üsseldorf 1985, S. 160, Anm. 26. 46 Ausgezählt nach: H. Kalkoff, Nationalliberale Parlamentarier 1878-1917 des Reichstages und der Einzellandtage, Berlin 1917, S. 54-139. Bei der Gesamtzahl handelt es sich allerdings nicht um die Fraktionsstärke (vgl. dazu Pollmann, S. 171 bzw. S. 372), sondern um die Summe der nationalliberalen Abgeordneten im Konstituierenden Reichstag und während der ersten ordentlichen Legislaturperiode. 47 Ähnlich in der Tendenz auch die Ergebnisse für Preußen bei N. v. Preradovich, D ie Füh­ rungsschichten in Österreich und Preußen (1804-1918), mit einem Ausblick bis zum Jahre 1945, Wiesbaden 1955, S. 154-59. Besonders hoch war der Adelsanteil ferner unter den Parlamentariern der polnischen Partei, wie auch die Aufstellung bei Hess, S. 65 ff., zeigt.

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48 Eine kritische Überprüfung dieser These unternehmen L. Stone u. J . C. Fauthier-Stone, An Open Elite? England 1549-1880, Oxford 1984. 49 M.L.Bush, The Englisch Aristocracy. A Comperative Synthesis, Manchester 1984, S. 187 f. Im gleichen Sinn spricht Beckett, S. 23, von dem »ease of exit« als eigentlichem Charakteristikum der englischen Aristokratie. 50 Vgl. die Tabelle bei Beckett, S. 487. 51 Vgl. dazu jetzt auch den Abschnitt »Noblemen and Gentlemen in Industry« bei Κ Crozet, The First Industrialists, Cambridge 1985, S. 68-84. 52 Sie sei nicht der Ansicht, »that one who owed his wealth to contracts with foreign governments for loans, or to successful speculation on the stock exchange, could fairly claim a British peerage.« Zit. nach: Amstein, S. 224 mit Anm. 105. 53 R. v. Mohl, Das Repräsentativsystem, seine Mangel und die Heilmittel. Politische Briefe eines Altliberalen, in: Deutsche Vierteljahrs-Schrift 1852, S. 214. 54 H. Baumgarten, D er deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik, hrsg. u. eingel. v. A. M­ Birke, Frankfurt 1974, S. 42. 55 Ebd., S. 45f. 56 H. A. Winkler, 1866 und 1878: Der Machtverzicht des Bürgertums, in: Ders. u. C. Stern (Hrsg.), Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1945. Frankfurt 1979, S. 37-60. 57 Baumgarten, S. 43. 58 Eine Ausnahme bildet K.-G. Faber, Realpolitik als Ideologie. D ie Bedeutung des Jahres 1866 für das politische Denken in Deutschland, in: HZ, 203, 1966, S. 14 mit Anm. 42. 59 Baumgarten, S. 150. 60 In diesem Sinne kritisiert Baumgarten, S. 111, auch am Vorgehen der Fortschrittspartei, »sie wünschte den strengsten Begriff des englischen Parlamentarismus zur Geltung zu bringen, ohne ihn auf den englischen Aristokratismus zu stützen; die Macht der Krone sollte möglichst verringert und zugleich die Macht des Adels möglichst vernichtet weiden.« 61 Wilhelm Beseler an Hermann Baumgarten; Bonn, 20. 12. 1866; Abdruck bei Baumgarten, S. 159. 62 Für einen umfassenden Vergleich der grundbesitzenden Eliten vgl. die Beiträge von F. M. L. Thompson, Britain, S. 22—44; F. Stern, Prussia, S. 45—67; sowie D . Spring, Landed Elites Compared, S. 1-21. in: D ers. (Hrsg.), European Elites in the Nineteenth Century. Balitmore/London 1977. 63 D as unzulängliche Einbringen bourgeoiser Klasseninteressen hat kein geringerer als Richard Cobden immer wieder beklagt, gerade auch mit Hinweis auf das gegenteilige Erschei­ nungsbild in Deutschland: »Our countrymen, if they were possessed of a little of the merchants and manufacturers of Francfort, Chemnitz, Elberfeld etc., would become the de Medicis, and Fuggers, and de Witts of England, instead of glorying in being the toadies of a clod-pole aristocracy« (= Speichellecker einer vertrottelten Aristokratie); Cobden in einem Brief aus Berlin vom 3. 9. 1838, am Ende seiner ersten Deutschlandreise; zit. nach J. Morley, The Life of Richard Cobden, London 1896, Bd. 1. S. 134. 64 R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Ver­ waltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 21975. 65 »I very much suspect that at present, for the great mass of the people, Prussia possesses the best government in Europe. I would gladly give up my taste for talking politics to sucure such a state of things in England. Had our people such a simple and economical government, so deeply imbued with justice to all, and aiming so constantly to elevate mentally and morally its population, how much better would it be for the twelve or fifteen millions in the British Empire, who, while they possess no electoral rights, are yet persuaded they are freemen, and who are mystified into the notion that they are not political bondmen, by that great juggle of the ›English Constitution‹ - a thing of monopolies, and Church-craft, and sinecures, armorial hocuspocus, primogeniture, and pageantry!« Cobden in einem Brief aus Berlin vom 11.9. 1838, Morley, Bd. 1, S. 130. 66 Vgl. für Baden Η.-P. Becht, Die Abgeordnetenschaft der badischen zweiten Kammer von

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1819 bis 1840. Beiträge zu Abgeordnetenbild, Abgeordnetentypus und Wahlverhalten im deutschen Vormärz, in: ZGO, 128, 1980, S. 345—401; für Bayern E. Heintz, Der Beamtenabge­ ordnete im bayerischen Landtag. Eine politologische Studie über die Stellung des Beamtentums in der parlamentarischen Entwicklung Deutschlands, Phil. Diss. München 1966; für Hessen das Kapitel »Beamte als Politiker« bei S. Büttner, D ie Anfänge des Parlamentarismus in Hessen­ Darmstadt und das du Thilsche System, Neustadt a. d. A. 1969, S. 108-31. 67 Noch nicht zugänglich war mir die Arbeit von M. Hörner, D ie Wahlen zur badischen zweiten Kammer im Vormärz 1819 bis 1847, Göttingen 1987. 68 »Als die Liste der Gewählten bekannt wurde, erschraken einige über die bedeutende Zahl von Staatsdienern, insbesondere von Administrativ- und Justizbeamten, die sich unter densel­ ben befanden. Man fürchtete von ihnen eine durch Abhängigkeit bestimmte, jener von 1825 ähnliche Tendenz. Aber man ward aufs freudigste überrascht, als man gerade in ihrer Mitte mehrere der entschiedensten und geistvollsten Volksfreunde erblickte und fast durchaus eine wahre moralische Stärkung, welche die Kammer aus ihrem Charakter nicht minder als aus ihren Einsichten zog, zu bemerken hatte.« Karl von Rotteck, Geschichte des badischen Landtags von 1831. Ein Lese-und Lehrbuch fürs deutsche Volk, Hildburghausen/New York 1833, S. 24. 69 Für die Paulskirche vgl. J . J . Sheehan, Liberalismus und Gesellschaft in D eutschland 1815-1848, in: Gall, Liberalismus, S. 208-31, hier S. 210; für Preußen Hess, S. 60-71. 70 Zur Gesamtproblematik immer noch unersetzt: W. Glauß, D er Staatsbeamte als Abge­ ordneter in der Verfassungsentwicklung der deutschen Staaten, Karlsruhe 1906. 71 Vgl. dazu Pollmann, S. 223-327. 72 D azu zuletzt Η. Zoche, Die Gemeinde ein kleiner Staat? Motive und Folgen der großher­ zoglich-badischen Gemeindegesetzgebung 1819—1914, 2 Bde., Frankfurt 1986. 73 L. E. Lee, The Politics of Harmony. Civil Service, Liberalism, and Social Reform in Baden 1800—1850. Newark 1980. Ich selber habe im gleichen Sinne von einer »Politik des konstitutionellen Reformkonsus« für Sachsen gesprochen; vgl. meinen Beitrag: Zwischen Staatsreform und politischem Protest. Liberalismus in Sachsen zur Zeit des Hambacher Festes, in: W. Schieder (Hg.), Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz, Göttingen 1983, S. 194-238. 74 Gall. Baden, S. 60. 75 C. Harvie, The Lights of Liberalism. University Liberals and the Challenge of Democra cy, London 1976. 76 Vincent, S. 30. 77 T. Fontane, Der Stechlin, in: Ders., Sämtliche Romane, Erzählungen. Gedichte. Nachge­ lassenes. Bd. 5, Darmstadt 1980. S. 255. 78 Zit. nach: D .W.Bebbington, The Nonconformist Comscience. Chapel and Politics 1870-1914, London 1982, S. 10. 79 H. Rosenberg, Theologischer Rationalismus und Vulgärliberalismus, in: Ders., Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz, Göttingen 1972, S. 18—50 [zuerst 1930]. 80 Auffallend hoch war hingegen die Beteiligung der Pfarrer an der Hambacher Bewegung, und auch im vormärzlichen Sachsen spielen Bildungsbürger im Kirchendienst eine besondere Rolle für den Liberalismus. Für die deutsche Nationalversammlung vgl. jetzt C. R. Homrichs­ hansen, Evangelische Christen in der Paulskirche 1848/49. Vorgeschichte und Geschichte der Beziehung zwischen Theologie und politisch-parlamentarischer Aktivität, Frankfurt 1986. 81 Vgl. dazu F.-W. Graf, D ie Politisierung des religiösen Bewußtseins. D ie bürgerlichen Religionsparteien im deutschen Vormärz: D as Beispiel des D eutschkatholizismus, Stuttgart 1978; J . Brederlow, »Lichtfreunde« und »Freie Gemeinden«, München 1976. 82 Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang die selten zitierte Arbeit von O. Bechtold, Der »Ruf nach Synoden« als kirchenpolitische Erscheinung im jungen Erzbistum Freiburg (1827-1860). Ein Beitrag zum Verhältnis von Staat und Kirche im Großherzogtum Baden und zur Geschichte der religiösen Aufklärung in Süddeutschland, Theol. Diss. (Masch.) Freiburg i. Br. 1958. 83 J . Sperber, Popular Catholicism in Nineteenth-Century Germany, Princeton/N.J. 1984.

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84 Λ. Hugetischmidt, Das Problem des Verhältnisses von Kirche und Staat bei liberalen und radikalen Theoretikern des vormärzlichen D eutschland. Phil. Diss. Basel 1930. 85 (Paul Achatius) Pfizer, Liberal. Liberalismus, in: K. v. Rotteck u. K. Welcker (Hrsg.), Staatslexikon oder Encyklopädie der gesamten Staatswissenschaften, Bd. 9, Altona 1840, S. 717. Zu Pfizer, insbesondere auch zu seinen kirchenpolitischen Vorstellungen, vgl. jetzt C. Kennert, Die Gedankenwelt des Paul Achatius Pfizer. Eine Studie zum Denken des deutschen Frühliberalismus, Berlin 1986. 86 Zur Geschichte der Religion in der modernen Gesellschaft existiert für Großbritannien im Vergleich zu Deutschland eine Fülle von neuerer Literatur. Als wichtigste Titel seien genannt: B. Semmel, The Methodist Revolution, London 1973; A.D.Gilbert, Religion and Society in Industrial England. Church, Chapel and Social Change, 1740-1914, London/New York 1977; I. Sellers, Nineteenth-Century Nonconformity, London 1977. 87 Über ihn zuletzt K. Robbins, John Bright, London 1979. 88 Vincent, S. XXIX. 89 W. Fischer, Karl Mez (1808-1877). Ein badischer Unternehmer im 19. Jahrhundert, in: Ders., Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung. Aufsätze - Studien Vortrage, Göttingen 1972, S. 443-63. 90 So der Titel des entsprechenden Abschnitts bei P. Adelman, Victorian Radicalism. The Middle-Class Experience 1830-1914, London/New York 1984, S. 67-86. 91 D as galt übrigens mit Einschränkungen auch für die Juden. So saßen 1848 in der Paulskir­ che fünfjüdische Abgeordnete, während in England Lionel Rothschild zwar seit 1847 wieder­ holt für die City von London in das Unterhaus gewählt worden war, seinen Platz aber erst elf Jahre später einnehmen konnte, nachdem eine vom Oberhaus anhaltend blockierte Gesetzesän­ derung erfolgt war. die ihm als einem ungetauften Juden das Ableisten des Loyalitätseides ermöglichte. 92 Vgl. dazu meinen Beitrag: »D as schöne Erbe der frommen Väter«. D ie Petition der badischen Mennoniten an die deutsche Nationalversammlung von 1848 um Befreiung von Eid und Wehrpflicht, in: Mennonitische Geschichtsblätter, 42, 1985, S. 85-102. 93 Gall, Bismarck, S. 46. Eine gewisse Widersprüchlichkeit der Argumentation ist aller­ dings unverkennbar, wenn im direkten Anschluß daran »eine Fülle starker Einflüsse auf den unterschiedlichsten Gebieten« zugestanden wird, »so dem der Verwaltung, dem des Verfas­ sungslebens, dem Gebiet des Rechts oder der Literatur, insbesondere der Romantik, aber auch dem des Wirtschaftslebens in Theorie und Praxis.« Um so mehr muß es verwundern, wenn einzelne Beispiele dafür wie Hegel und Engels dann wieder als »im nachhinein vielzitierte (und von daher . . . vielfach überbewertete) Ausnahmen« charakterisiert werden. 94 So von W.J.Mommsen, Der deutsche Liberalismus zwischen »klassenloser Bürgergesell­ schaft« und »organisiertem Kapitalismus«. Zu einigen neueren Liberalismusinterpretationen, in: GG, 4, 1978, S. 77-90; hier bes. S. 80. 95 Vincent, S. 258: »The party was a coalition of convenience, not the instrument of a creed.« 96 J. Hamburger, Intellectuals in Politics. John Stuart Mill and the Philosophic Radicals, New Haven/London 1965; W. Thomas, The Philosophic Radicals. Mine Studies in Theory and Practise 1817-1841, Oxford 1979. 97 Vgl. die D iskussion der Forschungsentwicklung bei D . Langewiesche, Europa zwischen Restauration und Revolution 1815-1848, München 1985, S. 113ff. 98 Vgl. dazu meinen Beitrag: Freiheit und Elend. D ie Diskussion der sozialen Frage Eng­ lands und ihr Stellenwert im Bereich grund- und freiheitsrechtlicher Werthaltungen im deut­ schen Vormärz, in: G. Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolu­ tion von 1848, Göttingen 1981, S. 483-514. 99 W. D. Grampp, Scots, Jews and Subversives among the Dismal Scientists, in: JEH, 36, 1976, S. 543-71. 100 Besonders Cobden hat die mangelnde Übereinstimmung von politischem und ökono­ mischem Liberalismus stets beklagt. »The Whig leader (= Lord John Russell) is great upon

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questions of a constitutional character, and has a hereditary leaning towards a popular and liberal interpretation of the Constitution. But his mind is less adapted for mastery of econo­ mical questions, and he attaches an inferior importance to them. Nor does he weigh forces of public opinion so accurately as Peel. He breathes the atmosphere of a privileged clique. His sympathies are aristocratic. He is sometimes thinking of the House of Russell, whilst Peel is occupied upon Manchester. They are in a false position; Peel ought to be the leader of the middle class.« Aus einem Brief Cobdens vom 7. 3. 1846; zit. nach Morley, Bd. 1, S. 366. 101 Vgl. den vertraulichen Briefwechsel zwischen Cobden und Peel über diese Frage bei Morley, Bd. 1, S. 390-401; das Zitat ebd., S. 395, aus Cobdens Brief v. 23. 6. 1846; vgl. auch ebd., S. 361. 102 Zur Begriffsgeschichte vgl. R. Walter, Exkurs: Wirtschaftlicher Liberalismus, in: Ge­ schichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 787-811, bes. S. 803-7. 103 Vincent, S. 35, Anm. 65. 104 Im Rückblick auf sein politisches Leben äußerte er 1858, den Whigs selber könne man ihren Aristokratismus nicht übel nehmen, »for they live by it. But I do blame those advan­ ced Liberals who allow themselves to be thus used and abused. There is no remedy but in the greater self-respect of the middle class. I fear we have been going the other way for the last ten years . . . D uring my experience the higher classes never stood so high in relative social and political rank, as compared with other classes, as at present. The middle class have been content with the very crumbs from their table . . . Twenty years ago when a hundred members of the House used to muster . . . to compel the Whigs to move on under the threats of desertion, there seemed some hope of the middle class setting up for themselves; but now there is no such sign.« Cobden in einem Brief vom 23. 3. 1858; zit. nach Morley, Bd. 2, S. 219f. 105 Für Einzelheiten vgl. Κ. Kluxen, Britischer und deutscher Parlamentarismus im Zeit­ alter der industriellen Massengesellschaft. Ein verfassungsgeschichtlicher Vergleich, in: Birke u. Kluxen, S. 21-39. 106 E. Bucher, Der Parlamentarismus wie er ist. Stuttgart 1855; für eine D iskussion der Vorstellungen von Gneist vgl. bes. Lamer, S. 98-110. Auch Prinz Albert, weit entfernt, eine Übertragung des britischen Parlamentarismus nach D eutschland zu wünschen, arbeitete vielmehr auf eine Rückgewinnung konstitutionell-monarchischer Rechte in England hin; vgl. dazu A. Briggs, Prince Albert and the Constitution, in: Birke u. Kluxen (Hrsg.), S. 45-56. 107 H. A. Winkler, Bürgerliche Emanzipation und nationale Einigung: Zur Entstehung des Nationalliberalismus in Preußen, in: D ers., Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1979, S. 24-35 [zu­ erst 1968]. 108 J . Breuilly, Liberalismus oder Sozialdemokratie? Ein Vergleich der britischen und deutschen politischen Arbeiterbewegung zwischen 1850 und 1875, in: J . Kocka (Hg.), Euro­ päische Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. D eutschland, Österreich, England und Frankreich im Vergleich, Göttingen 1979, S. 129—66. 109 Vgl. die Einzelstudien bei P. Hollis (Hg.), Pressure from Without in early Victorian England, London 1974. 110 Fontane, Sämtliche Romane, Bd. 5, S. 255. 111 S. Pollard, Soziale Ungleichheit und Klassenstrukturen in England: Mittel- und Ober­ klassen, in: H.-U. Wehler (Hg.), Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, Göttingen 1979, S. 33-52, hier S. 49. 112 Vgl. den Abschnitt »Rahmenbedingungen für Reformen oder der englische Sonder­ weg«, in: Η. Haan, K.-F. Krieger u. G. Niedhart, Einführung in die englische Geschichte, München 1982, S. 155 ff. Ähnlich erklären auch Grehing und ihre Mitarbeiter wiederholt, daß es wohl eher die englische Entwicklung war, die sich als von einem allenfalls erkennba­ ren »Normalweg« abweichend verstehen ließe, so S. 72ff., S. 196 u. ö. 113 Sheehan, Liberalism in Comparative Perspective, S. 52.

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114 H.-C. Schröder, D er englische »Sonderweg« im 17. Jahrhundert, in: K.-E. Jeismann u. H. Schissler (Hg.), Englische und deutsche Geschichte in den Schulbüchern beider Länder, Braunschweig 1982, S. 27-35. 115 Zit. nach Fontane, Sämtliche Romane, Bd. 6, Darmstadt 1978, S. 788.

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GEOFF ELEY

Liberalismus 1860-1914 Deutschland und Großbritannien im Vergleich*

Die Geschichte des deutschen Liberalismus ist lange Zeit als die Geschichte einer Tragödie geschrieben worden - eine Kette von Niederlagen, teilweise von den Liberalen selber verschuldet, manche Historiker sprechen gar vom »Verrat« der Liberalen an ihren eigenen Zielen, teilweise auf »objektive« Zwänge zurückzuführen.1 D iese D eutung, die in der Entwicklung des deutschen Liberalismus lediglich eine durchgehende Verfallsgeschichte zu erkennen meint, bildete zugleich den Kern für die These vom »deutschen Sonderweg«: D as vermeintliche Versagen der deutschen Liberalen galt als eine der Hauptursachen für die Machtschwäche des deutschen Bürgertums. Diese enge Koppelung von »Bürgertum« und »Liberalismus« ist in der neueren Forschung gelockert und problematisiert worden, wie auch das Kaiserreich neue Interpretationen erfahren hat, die nicht mehr mit dem Gemälde eines autoritären Staates und einer nicht demokratisierungsfähigen Gesellschaft übereinstimmen, das H.-U. Wehler 1973 gezeichnet und das viel Zustimmung gefunden hatte. Von neuen Einsichten in die Geschichte des deutschen Bürgertums und in die »Bürgerlichkeit« der deutschen Gesell­ schaft des 19. Jahrhunderts sind auch neue Anstöße für die Erforschung des Liberalismus zu erwarten, losgelöst von der klassenreduktionistischen Ver­ mutung, die für das stereotype Verfallsbild vom deutschen Liberalismus verantwortlich gewesen ist. Es lohnt sich auch, den zweiten Stützpfeiler neuerer D eutungsversuche, nämlich die normative Kritik am deutschen Liberalismus, gemessen am Liberalismus in Großbritannien und USA, neu zu bewerten. D ie politischen Leistungen der deutschen Liberalen, wie Be­ ständigkeit und dauerhafte Bindungen, werden meist denen des »westlichen Liberalismus« über einen längeren Vergleichszeitraum (d. h. zwischen der Mitte des 19. und 20. Jahrhunderts) gegenübergestellt und, was nicht über­ rascht, als unvollkommen bewertet. D iese Aspekte werden ausführlich in »The Peculiarities of German History« diskutiert und brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Wir müssen aber diesen größeren Kontext der geläu­ figen Interpretationen im Auge behalten, denn er verstellt eine vorurteils­ freie Beurteilung des deutschen Liberalismus mit Blick auf seine tatsächli­ chen Merkmale und Leistungen, im Gegensatz zu den ihm zugeschriebenen. 260

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Wenn wir dagegen die Entstehung und D urchsetzung des Liberalismus als politisches Glaubensbekenntnis aus einer wahrhaft europäischen Perspekti­ ve betrachten und unser Augenmerk dabei besonders auf die 1860er Jahre richten, als die deutsche Einigung eine der progressivsten Veränderungen bedeutete, bietet sich uns eher eine Möglichkeit, neue Perspektiven zu entwickeln. D enn aus den herkömmlichen Vergleichen erfahren wir über den »tatsächlich existierenden« Liberalismus in Großbritannien zwischen 1860 und 1914 ebensowenig wie über den Liberalismus in Deutschland. Wir müssen uns deshalb aussichtsreicheren Maßstäben für einen deutsch-briti­ schen Vergleich zuwenden.

Der deutsche Liberalismus im europäischen Kontext In die gleiche Richtung zielt mein Argument, die Diskussion des deutschen Liberalismus sei etwas voreilig einer Interpretation untergeordnet worden, die dazu neigt, die Kultur D eutschlands als durch und durch autoritär zu beurteilen. D er Bankrott bzw. die »Unfähigkeit« liberaler Politik wird danach aus einer Art Nullsummen-Spiel abgeleitet: der grundsätzliche auto­ ritäre Charakter der preußisch-deutschen Verfassungsordnung überdauerte von 1867 bis 1914; also müssen die Liberalen versagt haben. Für abgestufte Urteile zwischen diesen Extremen scheint wenig Raum zu sein. Einzig das volle Programm liberaler Demokratie angloamerikanischen Zuschnitts, wie es Mitte des 20. Jahrhunderts verwirklicht ist, hätte, so scheint es, den deutschen Liberalen Mitte des 19. Jahrhunderts zum Erfolg (oder zum Bei­ fall) gereicht. Und da eine weniger unvollkommene Form parlamentari­ scher D emokratie bekanntlich nicht vor 1914 entstand, haben deutsche Historiker gewöhnlich die Bedeutung liberalen Wirkens auch in anderen Bereichen außer acht gelassen. D amit sind wir wieder beim idealisierten Entwicklungsmodell: weil vorzugsweise ein externer, idealtypischer Maß­ stab der vollen Verwirklichung liberaler Ziele angelegt wird, ist es um so schwieriger, zuzugestehen, daß es andere, wenn auch nicht so perfekte liberale Leistungen gegeben haben könnte. Meine These lautet dagegen: eine realistischere Bewertung des tatsächlichen Umfeldes liberaler Politik in Europa während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird eine andere, und zwar positivere Einschätzung des deutschen Liberalismus hervorbrin­ gen. D ies möchte ich an Hand einer Reihe von Punkten skizzieren. (1) D ie Bedeutungen, die der Begriff »Liberalismus« für einen gebildeten und wohlhabenden europäischen Beobachter der 1860er Jahre hatte, sind nach einem Jahrhundert voller Brüche und Umwälzungen schwer nachzu­ vollzichen. Es ist wohl unbestritten, daß man sich vor allem an Großbritan­ nien, nicht an Frankreich orientierte - aus den französischen Erfahrungen eindeutige liberale Prinzipien abzuleiten, war weitaus schwieriger ange261 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

sichts eines vielfarbigen Radikalismus, der einer revolutionären republikani­ schen Tradition entstammte, die vom klassischen Liberalismus bis hin zu jakobinischen und ähnlichen Formen populistischer D emokratie reichte. Gewiß, von Frankreich hatte man eine allgemeine Vorstellung von Konsti­ tutionalismus übernommen, doch selbst dies wurde seit den 1830er Jahren durch das britische Beispiel von parlamentarischer Reform und repräsentati­ ver Regierungsweise vermittelt. Aber das Grundprinzip konstitutioneller Herrschaft konnte in allen möglichen, mehr oder weniger komplizierten Formen verwirklicht werden, mit stärkeren oder schwächeren Ausprägun­ gen der Regierungsverantwortung gegenüber dem Parlament und größeren oder kleineren Abstufungen des Wahlrechts für das Volk, ganz zu schweigen davon, wie unterschiedlich Bürgerrechte gesetzlich geschützt wurden. An­ sonsten war Liberalismus ebensosehr durch eine bestimmte Art gesellschaft­ licher Moral und philosophischer Denkweise festgelegt wie durch ein politi­ sches Programm mit einem ganz spezifischen Inhalt. In diesem Sinne schloß Liberalismus auch eine Theorie des selbstbestimmten Individuums ein - eine besondere Denktradition, wonach die menschliche Natur die konstituieren­ de Grundlage der gesellschaftlichen Beziehungen und des sittlichen Lebens bildet. D iese Sicht war in doppelter Weise verankert: in einer spezifisch philosophischen Tradition (im D enken von Bacon, Hobbes und Locke, das mitunter der »politischen Theorie des Besitzindividualismus« zugeordnet wird) und zum anderen in dem breiteren öffentlichen D iskurs über Rechte und Verantwortlichkeiten (z. B. in den Umwälzungen des 16. und 17. Jahr­ hunderts in England und Holland, im »Whiggismus« des 18. Jahrhunderts, in der schottischen und französischen Aufklärung, in der amerikanischen und Französischen Revolution, oder in der liberalen politischen Ökonomie). Wie Arblaster es nennt: der »Individualismus« ist der »metaphysische und ontologische Kern« des Liberalismus.2 Der klassische Liberalismus fand im D enken von John Stuart Mill und seinem berühmten Traktat »On Liberty« (1859) seine höchste intellektuelle Verfeinerung. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß Mill die klassi­ sche Tradition am weitesten zur D emokratie hin entwickelte, um dann plötzlich innezuhalten. In seinem Denken beruhte das politische Repräsenta­ tivsystem auf philosophischen Grundlagen, die sich vorzüglich für demo­ kratische Formen politischen Handelns eigneten - nämlich auf dem ver­ nunftgeleiteten Ideal vom Menschen, der seine Fähigkeiten als aktiver Staatsbürger verwirkliche, wobei die Freiheit mit der Vernunft wachse und die Möglichkeit zur Vervollkommnung daran gebunden sei, daß Individua­ lität und soziale Besonderheit bewahrt werden. An diesen Grundlagen hielt Mill ungewöhnlich zielstrebig fest; so sprach er sich dafür aus, die Arbeiter­ klasse in das politische System zu integrieren, das Volk verstärkt am Ent­ scheidungsprozeß zu beteiligen und das Wahlrecht auf alle Frauen ebenso wie auf alle Männer auszudehnen.3 Zugleich zeigte er aber gegen den Mas­ sen elitäres Mißtrauen, das sich kaum als unerheblich abtun läßt. Er befür262 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

wortete ein Pluralwahlrecht, das die Intelligenz und die Begabung bevor­ zugte, von der stillschweigend angenommen wurde, daß sie entlang der Klassenlinien verteilt sei. In der Realität, so wurde unterstellt, erwuchs das Beste und Klügste aus Besitz und Privileg.4 Im Vergleich dazu sei die Arbeiterklasse »a mass of brutish ignorance«, der man wegen ihrer ungezü­ gelten Triebe nicht trauen könne. Mills Texte sind durchzogen mit Hinwei­ sen auf »the common herd« oder »the uncultivated herd«. Wie er es aus­ drückte: »We dreaded the ignorance and especially the selfishness and bruta­ lity of the mass.«5 Es ist unverzichtbar, diese Begrenzung des liberalen Konzepts von Staats­ bürgergesellschaft zu erfassen. D ie meisten Liberalen des 19. Jahrhunderts haben sich demokratischen Vorstellungen von politischer Organisation hartnäckig widersetzt. Staatsbürger zu sein - was vor allem Stimmrecht bedeutete -, war kein natürliches oder individuelles Recht, sondern viel­ mehr eine Fähigkeit, die es zu erlernen galt, bzw. ein Privileg, das man sich verdienen mußte. Es unterlag starken Einschränkungen durch Kriterien wie Besitz, Bildung und die weniger greifbare Eigenschaft des moralischen Ranges - Gladstone sprach von »self-command, self-control, respect for order, patience under suffering, confidence in the law, and regard for superiors«.6 D ie meisten Liberalen schätzten die staatsbürgerlichen Fähig­ keiten der Massen geringer ein als Mill, dessen Einstellung zur D emokratie sich vergleichsweise als Beispiel radikaler und mutiger Beharrlichkeit aus­ nimmt. Von Burke über Tocqueville bis zu den Ideologen und Praktikern des Liberalismus in dessen Blütezeit, den 1860er Jahren, zieht sich als ein Leitmotiv die Furcht vor der Masse. Sic erreichte ihren Höhepunkt in der Revolution von 1848 und in den Jahren 1867—71, als in einer ersten europäi­ schen Welle das Wahlrecht ausgedehnt wurde. Im liberalen Sprachgebrauch war ›D emokratie‹ praktisch gleichbedeutend mit Tyrannei und Herrschaft des Pöbels. Erst um die Jahrhundertwende begannen die Liberalen, ihre Auffassungen ernsthaft zu überdenken. In jüngerer Zeit lebt die alte Tradi­ tion in den weitverbreiteten Totalitarismustheorien fort. So schreibt Bern­ hard Crick: »The democratic doctrine of the sovereignity of the people threatens . . . the essential perception that all known advanced societies are inherently pluralistic and diverse, which is the seed and root of politics.« Man sollte es mit der Demokratie nicht »übertreiben«: »Liberal democracy is limited democracy. Unlimited democracy is potentially, if not actually, totalitarian, and threatens the liberal values and institutions of personal free­ dom, private property and the market economy«. 7 Oder, wie Guido de Ruggiero es ausdrückte: in der liberalen D emokratie »the adjective Liberal has the force of a qualification«.8 Dies wirkt sich notwendigerweise darauf aus, wie wir die besonderen Einschränkungen des deutschen Liberalismus im gleichen Zeitraum bewer­ ten. D ie »fortschrittlichsten« Verfechter des am weitesten »entwickelten« Liberalismus im Europa des späten 19. Jahrhunderts — Mill und seine briti263 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

schen Mitstreiter - grenzten ausdrücklich den Staat gegen demokratische Mitwirkung ab. D as tatsächliche Ausmaß des Wahlrechts in Großbritannien zur Zeit von Victoria und Edward blieb ohnehin stark eingeschränkt: Im Gegensatz zu den deutschen Verfassungen von 1867 und 1871 gewahrte der Reform Act von 1867 das Wahlrecht nur einem kleinen Teil der Arbeiterklas­ se, und auch der Third Reform Act von 1884 brachte bei weitem nicht das allgemeine demokratische Männerwahlrecht. D amit war Großbritannien außer Ungarn der einzige europäische Staat mit einem repräsentativen Re­ gierungssystem, der 1914 noch kein demokratisches Wahlrecht besaß.9 Na­ türlich, einige klassische Liberale waren D emokraten, wie z. B. viele, die nach 1867 zum radikalen Flügel der Gladstone'schen Partei gehörten (im­ merhin rund ein Drittel der Parlamentsfraktion 1868—85). Und auch andere Gruppen sind ihnen zuzurechnen, wenn auch nicht so eindeutig, etwa die kleine Gruppe der englischen Positivisten, die in den 1860er und 1870er Jahren als Berater und Anwälte der britischen Gewerkschaften auftraten. Aber solche Minderheiten liberaler D emokraten genossen den Luxus, daß ihnen das eingeschränkte Wahlrecht die Möglichkeit vom Leibe hielt, die Arbeiterbewegung könnte eine unabhängige Politik betreiben; man weiß nicht, wie sie auf Verhältnisse, mit denen Liberale in D eutschland leben mußten, reagiert hätten; denn dort öffnete das allgemeine Männerwahlrecht schon sehr früh den Weg für eine unabhängige sozialistische Partei. Mit anderen Worten, es waren weniger spezifisch nationale Schwächen der deutschen Liberalen, die sie so vorsichtig in ihren konstitutionellen Einstel­ lungen verharren ließen. Sie sahen sich vielmehr mit anderen Formen der Beteiligung des Volkes an der Politik konfrontiert als die britischen Libera­ len: nach deren Ansicht hielt die parlamentarische Verfassung die politischen Bestrebungen der Arbeiterklasse innerhalb der Grenzen, die die Liberalen absteckten; die deutschen Liberalen meinten hingegen, daß weitere parla­ mentarische Reformen lediglich jene Bestrebungen stärken würden, die auf eine unabhängige Sozialdemokratie zielten.10 (2) Allgemein gesprochen lohnt es, sich daran zu erinnern, daß die 1860er Jahre in ganz Europa ein bedeutendes Maß an Liberalisierung brachten. Im Gegensatz zur Französischen Revolution, als die europäische Liberalisierung weitgehend mit der Reichweite französischer Waffen einherging, und im Unterschied zu 1848, als die vom Volk getragenen Verfassungsbewegungen größtenteils erstickt wurden, zählen die 1860er Jahre zu den drei großen verfassungspolitischen Knotenpunkten in der modernen europäischen Ge­ schichte - zusammen mit den großen politischen Entscheidungen nach den beiden Weltkriegen, als die territoriale und institutionelle Landschaft des Kontinents radikal verändert wurde. D er dramatischste Wandel in den 1860er Jahren war die Entstehung von Nationalstaaten in Deutschland und Italien unter weitgehend liberalen Vorzeichen. Doch es kommt noch anderes hinzu: der Second Reform Act in Großbritannien (1867); der Zusammen­ bruch des Second Empire und die Gründung der dritten Republik in Frank264 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

reich (1871); der österreichisch-ungarische Ausgleich (1867); die liberale Revolution in Spanien (1868—1869); die Verfassungsreformen in Griechen­ land und Serbien (1864-1869) und die Bauernbefreiung in Rußland (1861); letztere führte zur ersten unabhängigen Verfassungsbewegung bei Teilen des Landadels und ging einher mit der Semstwo-Reform von 1864, die begrenzte lokale Selbstverwaltung einräumte. D iese Liste ließe sich noch durch die Umbrüche im Gefolge des amerikanischen Bürgerkriegs erweitern. Insge­ samt bedeutete dies einen eindrucksvollen Sieg von spezifisch liberalen Prin­ zipien der politischen Ordnung, denen wir überall in Europa im mittleren Drittel des 19. Jahrhunderts begegnen. Angesichts des gesamteuropäischen Spektrums dieses Reformprozesses ist nicht einzusehen, warum gerade die britische Erfahrung als absoluter Maßstab für die Glaubwürdigkeit der Reformen in allen anderen Ländern herhalten soll. (3) Wichtig ist auch folgendes: Als in den 1860er Jahren die liberalen Verfassungsnormen zur vorherrschenden - bzw. »hegemonialen« (Grams­ ci) - Organisationsform des öffentlichen Lebens in Europa wurden, galt der Nationalstaat überall als Ideal. In der Literatur besteht jedoch die Neigung, den deutschen Liberalismus als irgendwie durch den deutschen Nationalis­ mus kompromittiert darzustellen, so daß die Zustimmung zur Bismarck­ schen Lösung der deutschen Frage als entscheidendes Moment im Verrat liberaler Prinzipien interpretiert wird. D ies ist aber eine außerordentlich »westlich« orientierte Beurteilung des deutschen Liberalismus. Im Gegen­ satz zu den »Kernstaaten« Westeuropas hatten die Nationalitäten östlich des Rheins nicht den Vorteil einer früh erworbenen Eigenstaatlichkeit, so daß die Forderung nach einer liberalen Verfassung untrennbar daran geknüpft war, zunächst die nationale Selbstbestimmung innerhalb eines lebensfähigen Nationalstaats zu verwirklichen - ein Ziel, das spätestens bis Mitte des 19. Jahrhunderts allgemein als Bedingung für »Fortschritt« nach liberalem Verständnis betrachtet wurde. Und weil in Mitteleuropa pränationale Staats­ formen überlebten - kleine monarchische und aristokratische Hoheitsgebie­ te verschiedenster Art - mußte die eigentliche Konstituierung der »Nation« gegen die bestehenden souveränen Regierungsorgane durchgeführt werden, also nicht von öffentlichen, sondern von privaten Stellen, nicht von der Regierung, sondern mithilfe von bürgerlichen Initiativen und Vereinen kurz, das Volk konstituierte sich selber zur Staatsbürgergesellschaft, indem es politisch handelte. Mit anderen Worten, als handlungsleitende Kategorie entstand die deutsche Nation in dem Maße, in dem eine Öffentlichkeit heranwuchs, die »Nation« als eine neuartige politische Gemeinschaft von Staatsbürgern verstand. D ie Verschmelzung dieser beiden Begriffe - »Na­ tion« und »Staatsbürgersellschaft« - im liberalen Sprachgebrauch war ein unvermeidliches Faktum liberaler Politik östlich des Rheins und südlich der Alpen im mittleren Drittel des 19. Jahrhunderts. (4) Aus dieser Perspektive kann die nationale Einigung D eutschlands (wer immer sie durchführte) zu Recht als die höchste Leistung des deutschen 265 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Liberalismus in seiner klassischen Phase betrachtet werden - trotz der parla­ mentarischen D efizite der Verfassung von 1871. Drei Hauptgründe sind zu nennen: erstens war schon die bloße Schaffung eines zentralisierten nationa­ len Forums auf den Ruinen des historischen Partikularismus ein entscheiden­ der liberaler Fortschritt; zweitens schuf die Einigung die rechtlichen und institutionellen Voraussetzungen, um in ganz Deutschland den Industrieka­ pitalismus durchzusetzen, einschließlich der politischen Konsolidierung ei­ nes nationalen Markts und einer eindrucksvollen, zukunftsorientierten Wirtschaftsgesetzgebung; und drittens verkörperte die Einigung auch die typisch liberale Vision einer neuen sozialen Ordnung. Zwischen 1867 und 1873 wurden die Forderungen nach einem Ausbau der nationalen Verfas­ sung, nach nationaler wirtschaftlicher Integration und nach Rechtsstaatlich­ keit zum Kernstück des neuen deutschen Staates. D iesen dramatischen politischen Neuerungen lagen tiefere gesellschaftliche Klassenbildungspro­ zesse zu Grunde, die selbstbewußten, angesehenen Bürgern einen bestim­ menden Einfluß auf regionaler und städtischer Ebene verschafften und ihren Anspruch auf moralische Führung innerhalb der Gesellschaft verstärkten. In diesem Sinne brachte die Einigung die kulturelle Vorherrschaft eines ganz bestimmten Wertebündels: im Zentrum standen Verdienst, Wettbewerb, laizistische Weltbilder, Recht und Ordnung, Ablehnung von ererbten Privi­ legien, Vorstellungen von persönlicher Würde und Unabhängigkeit sowie ein allgemeiner Glauben an die moderne Ethik des Fortschritts. Für das Selbstverständnis der Liberalen war diese breite kulturelle Stoß­ richtung ihres Handelns zumindest ebenso wichtig wie die formale politi­ sche Forderung nach einer fortschrittlichen Verfassung. Aus ihrer Sicht kämpften sie darum, den gesellschaftlichen Fortschritt zu entfesseln - die gesellschaftliche D ynamik sollte befreit werden von der Last archaischer Institutionen, zu denen in weiten Teilen des Kontinents nicht zuletzt (jeden­ falls aus liberaler Sicht) die katholische Kirche gehörte, samt ihrer Kontrolle über zentrale Institutionen, die von Schulen bis zu wohltätigen Einrichtun­ gen und Institutionen volkstümlicher Geselligkeit reichten. D ie Bekämp­ fung des Klerikalismus war ein allgemeines europäisches Phänomen, der Kulturkampf seine spezifisch deutsche Form. Der Kampf gegen den Katho­ lizismus war an sich eigentlich weniger bedeutsam; es ging vielmehr um ein bestimmtes Ideal, wie die künftige Gesellschaft gestaltet sein sollte - sei es die deutsche oder französische, italienische oder auch britische (denn der Nonkonformismus besaß für den Gladstone'schen Liberalismus eine her­ ausragende Bedeutung).11 (5) Liberale Bewegungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts zeigten eine gemeinsame soziale Struktur. Liberale Zusammenschlüsse weiteten sich stets nach unten aus, vom industriellen, kaufmännischen und freiberuflichen Bürgertum zum Kleinbürgertum, zu den Bauern und der sich formierenden Arbeiterklasse. Nie handelte es sich um ein rein städtisches Phänomen, sondern es gab immer starke Verbindungen zur Landbevölkerung, nicht 266 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

nur, weil man letztere ansprach, sondern durch enge Beziehungen zu den Grundbesitzern. Obwohl diese Uneinheitlichkeit mehr oder weniger für die meisten liberalen Bewegungen zutraf, waren sie in verschiedenen Gesell­ schaften unterschiedlich ausgeprägt. Sowohl die dominanten Formen der Klassenintegration (z. B. bei den städtischen und grundbesitzenden Bevöl­ kerungsteilen durch Heirat, Vereinsnetze, Geschäftsbeziehungen, politische Verbindungen usw.) als auch die konkreten Beziehungen zu den verschie­ denartigen Wählergruppierungen stellten eine reiche Quelle für die Varia­ tionsbreite der nationalen liberalen Bewegungen dar, und sie waren ein Hauptfaktor für deren inneren politischen Zusammenhalt. Hier bleibt für die Erforschung des deutschen Liberalismus zwischen den 1840er und 1880er Jahren noch viel zu tun. (6) D as Ausmaß der spezifisch demokratischen Veränderungen, das die verschiedenen nationalen liberalen Bewegungen zu unterstützen gewillt waren, hing weitgehend von der Art der Zusammenschlüsse ab, die mit dem Volk gebildet werden mußten. Spezifisch demokratische Initiativen ent­ sprangen weniger den spontanen Neigungen der liberalen Führungsschicht als vielmehr dem D ruck, der von eigenständig konstituierten Kräften aus dem Volk ausgeübt wurde. D ieser Druck machte sich auf verschiedene Art und Weise Luft - in Form dramatischer revolutionärer Krisen (wie 1789, 1848 usw.), länger andauernder Auseinandersetzungen (z. B. die verschie­ denen Reformagitationen in Großbritannien) oder indem er sich bis in die liberalen Bündnisse hinein fortsetzte (das gilt vor allem für den Glad­ stone'schen Liberalismus in den 1870er und 1880er Jahren). Auch hier wis­ sen wir wieder sehr wenig über den deutschen Fall, obgleich es Studien zur breiten Verankerung des Liberalismus in bestimmten Regionen - vor allem im Südwesten-in den 1860er und 1870er Jahren gibt.12 (7) Als der Liberalismus am Ende des Jahrhunderts immer stärker in die Defensive geriet, wurde seine Vorherrschaft nicht nur im ideellen Bereich in Frage gestellt, vielmehr begannen seine früheren gesellschaftlichen Grundla­ gen allmählich zu zerfallen. D ie anfängliche Stärke der liberalen Parteien gründete sich größtenteils auf die Fähigkeit, überzeugend für die breitgefä­ cherten politischen Interessen der Bauernschaft, des Kleinbürgertums und der Arbeiterklasse einzutreten. Ihr Niedergang resultierte zum größten Teil aus dem Verlust eben dieser moralisch-politischen Führung, als nämlich die unteren Klassen eine unabhängigere Interessenvertretung forderten. D ies wirft die Frage auf, welche konkreten Formen des politischen Lebens die Glaubwürdigkeit der liberalen Parteien im Volk begründet hatten - anders ausgedrückt, es konfrontiert uns mit der Frage nach der liberalen Form von Politik: Das gilt für die aus- und eingrenzende Definition von Öffentlichkeit durch Wahlrecht und andere Mittel ebenso wie für die eher informellen Partizipationsstrukturen, durch die eine solche Politik erst möglich wurde. In dieser Hinsicht wissen wir ungleich besser wie der britische Liberalismus zwischen den 1840er und den 1860er Jahren im Volk verankert gewesen ist — 267 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

d. h. also seit dem Verebben des Chartismus bis zum Aufstieg der liberalen Partei Gladstones.13 Fassen wir diese sieben Punkte noch einmal zusammen:-(1) die tatsächli­ chen Bedeutungen von »liberal« um die Mitte des 19. Jahrhunderts; (2) die Vorherrschaft konstitutioneller politischer Ordnungsprinzipien in ganz Eu­ ropa bis zum Ende der 1860er Jahre; (3) die Überlagerung jener liberalen konstitutionellen Prinzipien mit nationalen Idealen der Selbstbestimmung; (4) der spezifisch liberale Inhalt der deutschen Nationalstaatsgründung; (5) die gesellschaftliche Heterogenität und der gesellschaftliche Zusammen­ halt liberaler Bündnisse, einschließlich der Art wie städtische und grundbe­ sitzende Eliten verbunden und auch breitere Schichten einbezogen wurden; (6) die Ursprünge spezifisch demokratischer Impulse; und (7) die Formen des politischen Lebens, die für die liberalen Bewegungen charakteristisch waren und die mit dem spezifischen Problem des freiwilligen Zusammen­ schlusses innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhingen. D iese sieben Komplexe ergeben meiner Ansicht nach einen vorzüglichen Rahmen, um die verschiedenen nationalen liberalen Bewegungen zu vergleichen. In jedem Fall erscheint mir dies ein besserer Weg zu sein, als einfach Erfolg und Glaubwürdigkeit des deutschen Beispiels mit dem idealtypischen Maßstab einer maximalen liberalen D emokratie zu messen, ein Maßstab, den man irreführend von der Mitte des 20. in das Großbritannien der Mitte des 19. Jahrhunderts zurückprojeziert. D en deutschen Liberalismus auf diese Weise zu beurteilen, erscheint mir als unangebracht teleologisch. D enn es ist unverständlich, warum der britische Liberalismus in dieser Weise durch die Geschichtsschreibung privilegiert werden sollte. Zumindest müßte man jene besondere Konstruktion bzw. Repräsentativität der britischen Libera­ lismus-Erfahrung ausdrücklich begründen, anstatt sie einfach vorauszuset­ zen. Deutschland und Großbritannien im Vergleich Wenn wir die liberalen Bewegungen D eutschlands und Großbritanniens angemessener vergleichen wollen, müssen wir daher die Vergleichsgrundla­ gen ändern - oder vielmehr die Grundlagen für die bisher vorgetäuschten Vergleiche, denn es gibt überraschend wenig wirkliche Vergleiche in der Literatur.14 Hierzu wird es notwendig sein, den britischen Liberalismus zu entthronen, ihn aus seiner Vorrangstellung in der Wahrnehmung des Libera­ lismus des späteren 19. Jahrhunderts zu lösen und den tatsächlichen Leistun­ gen der deutschen Liberalen mehr Anerkennung zu zollen. Es gilt einerseits den britischen Fall zu relativieren, und andererseits den deutschen Fall zu normalisieren bzw. zu entpathologisieren. Bei der Behandlung der 1860er Jahre wird leicht eine ganz entscheidende Tatsache übersehen: die liberale Partei Großbritanniens wurde erst in den 268 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

1860er Jahren gegründet. Immer, wenn man die sogenannte Kapitulation der deutschen Liberalen beklagt, wird dies unausgesprochen am Ideal eines erfolgreich realisierten Liberalismus gemessen, der in Großbritannien als schon vorhanden vorausgesetzt wird. Es stimmt zwar, daß von der Neube­ lebung der Whig-Bewegung in den späten 1820er Jahren bis zur Abschaf­ fung der Corn Laws 1846 gewisse, eindeutig liberale Ideale für die Regie­ rungspraxis in Großbritannien maßgebend wurden - die politische Freihan­ delslehre, eine bestimmte Vorstellung vom Verhältnis Staat - Gesellschaft und die soziale Ethik des Besitzindividualismus. Ähnliches läßt sich aber auch über D eutschland nach 1850 sagen, wo die Regierungen trotz des Fehlschlags der 1848er Revolution weiterhin eine im großen und ganzen liberale Wirtschafts- und Sozialpolitik verfolgten.15 Natürlich verschwand die Macht der adligen Großgrundbesitzer in Deutschland nicht über Nacht, aber in Großbritannien war die konservative Partei nach der Ära Peel auch ein einflußreiches Sammelbecken traditioneller aristokratischer Interessen; und hier geht die Tendenz der jüngeren britischen Forschung allgemein dahin, verstärkt die Selbstbehauptung der adligen Großgrundbesitzer in Gesellschaft und Politik Großbritanniens während des ganzen Jahrhunderts hervorzuheben. Wichtig ist, daß beide Gesellschaften einem Prozeß grund­ legender gesellschaftlicher Veränderungen unterworfen waren, begleitet durch umfassende, äußerst kontroverse D iskussionen über die Verteilung von Macht und über gesellschaftliche Werte: D ie Unterschiede lagen im zeitlichen Verlauf, in der Geschwindigkeit und Intensität der wirtschaftli­ chen Entwicklung, aber auch in den politischen Artikulationsformen und in der Art des Ausgleichs zwischen den Kräften der Unbeweglichkeit und der »Partei der Bewegung«. Ebenso können wir auf den konservativen Charak­ ter der preußischen Verfassung von 1850 verweisen, müssen gleichzeitig aber einräumen, daß auch das reformierte britische Wahlsystem von 1832 nicht gerade ein leuchtendes Beispiel für eine parlamentarische D emokratie darstellt. Ich will damit sagen, daß vor den 1860er Jahren weder im britischen noch im deutschen Fall der siegreiche Vormarsch der liberalen Ideologie mit einer nennenswerten Liberalisierung des politischen Systems einherging. Genauer gesagt, bis zu den 1860er Jahren gab es weder in D eutschland noch in Großbritannien eine eigenständige, politisch kohärente liberale Par­ tei. In beiden Ländern kam es dann aber zu einem eindrucksvollen Zuwachs an liberaler Organisation, begleitet - auch wieder in beiden Fällen - von einer breiten Volksbewegung, die nach politischer Reform verlangte; gelei­ tet wurde diese Bewegung z. T. von den liberalen Parteien, z. T. war sie autonom auf einer radikal-demokratischen Grundlage organisiert. Über Deutschland in den 1860er Jahren gibt es inzwischen eine umfangreiche Literatur, über Großbritannien weniger, obgleich hier zwei großartige Stan­ dardwerke schon in den 1960er Jahren erschienen sind: »Before the Socia­ lists« von Royden Harrison (London 1965) und »Formation of the Liberal Party« von John Vincent (London 1966). Wie Vincent gezeigt hat, dauerte es 269 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

bis in die 1860er Jahre, daß sich die locker verbundenen, parlamentarischen Gruppierungen neu formierten als nationale Repräsentation von sehr akti­ ven, verwurzelten politischen Kulturen - gemeint ist die uns vertraute Gladstone'sche Liberale Partei. Zwei Prozesse lassen sich deutlich voneinan­ der unterscheiden: »the slow adaptations of the parliamentary party«, und bedeutsamer noch: »the adoption of that parliamentary party by a rank and file«.16 Vincent sieht im letzteren ein Zusammenwirken von drei neuen, außerparlamentarischen Kräften - »the new cheap Press, militant Dissent in its various forms, and organized labour« - deren Entwicklung wurde dann von Gladstone »ratified (by) placing himself in a relation to popular feeling quite new in a minister«.17 In der Praxis und institutionell haben sich diese drei Kräfte in den lokalen Strukturen von Vereinen und Verbänden über­ kreuzt. Hier war man philantropisch und karitativ tätig, bildete und erholte sich, engagierte sich hochgeistig, sozialpolitisch und in moralischen Kreuz­ zügen. So verbanden sich die Kräfte von Notabein und breiter Masse in dem gemeinsamen Ziel moralisch-politischer Reformen.18 Wenn es zutrifft, daß die 1860er Jahre entscheidend waren für die Entste­ hung des britischen Liberalismus als parteipolitischem Phänomen, dann wäre dies in der Tat ein zwingendes Argument für einen Vergleich, der von der Gleichläufigkeit und Gleichzeitigkeit der Entwicklungen ausgeht. Ich bin in der Tat der Meinung, daß es soziologisch wie auch ideologisch große Ähnlichkeiten zwischen dem deutschen und dem britischen Liberalismus in den 1860er Jahren gibt. D as gilt für die kritischen Fragen, die an eine Politik zu stellen sind, die den Interessen breiter Bevölkerungsschichten dienen will: So beobachten wir die gleiche begrenzte Offenheit gegenüber bestimmten Reformen zugunsten der Gewerkschaften, die gleiche Bereitschaft, Refor­ men zu unterstützen, die auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse aller Menschen zielen, und das gleiche Netz gesellschaftlicher Institutionen, die breite Partizipationschancen auf lokaler Ebene bieten. Mit Blick auf Deutschland wird häufig gesagt, in den späten 1860er Jahren sei diese breite Basis zwischen Parteiliberalismus und Arbeiterbewegung für immer verlo­ ren gegangen - von Gustav Mayer auf die berühmte Formel gebracht: »D ie Trennung der proletarischen von der bürgerlichen D emokratie«.19 D ieser Bruch wird meistens irgendwelchen ideologischen Schwächen der Liberalen angelastet, ihrer Empfindungslosigkeit gegenüber den spezifischen Pro­ blemen politisch denkender Arbeiter. D araus wird dann schließlich simpel die soziologische oder die klassenorientierte D imension eines grundsätzlich unzulänglichen Charakters des deutschen Liberalismus und der generelle liberale Verrat abgeleitet. Aber trotz der im Vergleich zu Großbritannien vorzeitigen Bildung einer separaten sozialistischen Arbeiterbewegung soll­ ten wir meiner Ansicht nach die Stärke der beiden Flügel der sozialistischen Bewegung in D eutschland, den Lassalleschen und den Eisenacher, nicht überbewerten. D enn erst gegen Ende der Ära der Sozialistengesetze, in den späten 1880er Jahren, schickte sich die SPD an, zu einer wirklichen Massen270 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

bewegung in wahrhaft nationalem Ausmaß zu werden. Bis dahin, so läßt sich sagen, konnten die deutschen Liberalen ihre Verbindungen zur Wähler­ schaft in Stadt und Land erfolgreicher verteidigen als manche Darstellung es ihnen zugestehen will. Ich will damit nicht sagen, daß es zwischen den britischen und deutschen Bewegungen der 1860er Jahre keine wirklichen Unterschiede gegeben habe. Der Gladstone'sche Liberalismus war offensichtlich viel stärker im Volk verankert, und er war viel erfolgreicher, die Arbeiterbewegung in die libera­ len Strukturen einzubinden. Umgekehrt gab es infolge der Ereignisse der 1860er Jahre in Deutschland tatsächlich einen freieren Raum für sozialistische Politik. Hierfür gibt es verschiedene Erklärungen: z. B. die vergleichsweise günstigen Lebensbedingungen jener Facharbeiter, die den Hauptanteil der gewerkschaftlichen Organisierten stellten, die in die Gladstone'sche Koali­ tion integriert waren, oder die grundlegende Bedeutung der nonkonformisti­ schen Tradition für die soziale Breite des britischen Liberalismus- dafür gab es kein deutsches Gegenstück.20 Ich favorisiere ein kürzlich von Breuilly ent­ wickeltes Argument, das auf die Unterschiede in den allgemeinen politischen Rahmenbedingungen Großbritanniens und D eutschlands am Ende der 1860er Jahre verweist. Während in Großbritannien die neue, liberale Synthese innerhalb einer staatlichen Struktur erfolgte, die 1867 konstitutionell modifi­ ziert wurde, territorial jedoch grundsätzlich unverändert blieb, vollzog sie sich in Deutschland in einem territorial-konstitutionellen Rahmen, der gänz­ lich umgestaltet wurde. Breuilly betont: Es war die Tatsache, daß der erste Schritt zur deutschen Einigung durch den preußisch beherrschten Norddeut­ schen Bund erfolgte, die dazu führte, daß nicht nur ein Keil zwischen die »proletarische« und die »bürgerliche« D emokratie (Mayer) getrieben wurde, sondern sich auch die norddeutschen von den süddeutschen Liberalen trenn­ ten. Dadurch verringerte sich für die norddeutschen Liberalen nicht nur der Anreiz, sich um eine großzügige soziale Definition von politischer Nation zu bemühen, sondern diese wurde dadurch praktisch wertlos; in Großbritannien dagegen folgte aus der Logik der Regelung von 1867, daß die Gladstone'schen Liberalen sich noch stärker um Formen des Zugangs und der Verständigung mit dem Volk bemühen mußten.21 Nach den Jahren 1867—1871 führten die fortbestehenden nationalen Be­ sonderheiten dazu, daß die politischen Wirkungschancen des deutschen und des britischen Liberalismus sich noch weiter auseinanderentwickelten. So waren die deutschen Liberalen, (nicht weniger als im übrigen Europa, abgesehen von Großbritannien) mit einem Bündel objektiver Umstände konfrontiert, die ihren Anspruch, ohne Klassengrenzen universell die gesell­ schaftlichen Interessen zu repräsentieren, strukturell untergruben. Zum ei­ nen war Deutschland konfessionell gespalten, und die aggressive antikatho­ lische Stoßrichtung des Kulturkampfes - er war (wie auch in Italien und Frankreich) eher ein prinzipieller als ein situationsgebundener Aspekt der liberalen Weltanschauung - sorgte dafür, daß die Mehrheit der deutschen 271 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Katholiken als mögliche liberale Wähler ausgeschaltet wurden. Hinzu kam, daß es aufgrund der wirtschaftlichen D epression in den Jahren 1873—96, der strukturellen Verschuldung des bäuerlichen Kleinbesitzes in vielen ange­ stammten liberalen Hochburgen, der Veränderungen am Weltmarkt für Agrarerzeugnisse und des sich beschleunigenden Übergangs zu einer weit­ gehend städtischen und industriellen Gesellschaft immer schwieriger wur­ de, Kleinbauern, Handwerker und andere traditionelle Besitzgruppen sowie Kaufleute als loyale liberale Wähler zu halten: indem der Liberalismus wirt­ schaftlichen Fortschritt pries, verringerte sich unvermeidlich seine Anzie­ hungskraft auf diese Gruppen, die doch spürbare Einbußen erlebten. Zu einem großen Teil fielen beide Probleme zusammen, denn einige der stärk­ sten Bastionen des Katholizismus (Trier, das katholische Baden, Südwürt­ temberg und große Teile Bayerns) bildeten zusätzlich den rückständigsten Agrargürtel des Reichs. In den 1890er Jahren litt der Liberalismus dann vor allem darunter, daß es in sehr vielfältigen Formen zu einer eigenständigen Mobilisierung von Bauern und Mittelstand kam. In Großbritannien brauchte sich die liberale Partei weder zu Zeiten Glad­ stones noch danach mit derartigen Problemen auseinanderzusetzen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil die Bauern und das traditionelle Klein­ bürgertum einen unbedeutenden Teil der britischen Gesellschaft bildeten und der Katholizismus im Vergleich zu Deutschland eine bescheidene Min­ derheit war. Im Gegensatz zu Deutschland und gewissermaßen als Spiegel­ bild der städtischen Vorurteile des deutschen Liberalismus macht sich der Gladstone'sche Liberalismus zum Wortführer gerade dieser benachteiligten Gruppen, und zwar nicht nur der nonkonformistischen Massen des indu­ striellen Nordens, sondern auch der Iren und der Bauern, die im »Celtic fringe« überdauerten. Es war also gerade nicht eine besondere demokrati­ sche Modernität, aus der sich die Loyalität zu diesen Bevölkerungsgruppen erklären ließe. Das gilt ebenso für die - im europäischen Maßstab - außerge­ wöhnliche Widerstandsfähigkeit, durch die sich die Koalition der Gladsto­ ne'schen liberalen Partei mit diesen Volksschichten auszeichnete. D en Aus­ schlag gab vielmehr die Rückständigkeit der britischen Liberalen im Vergleich zu den deutschen. Paradoxerweise war es das Fehlen eines allgemeinen Wahlrechts in Großbritannien bis nach dem Ersten Weltkrieg, das der libera­ len Partei vor 1914 mehr Popularität und politisches D urchhaltevermögen verschaffte. D enn solange das Wahlrecht auf dem begrenzten Stand des zweiten und dritten Reformgesetzes verblieb, war es in Großbritannien schlechterdings nicht möglich, daß sich große Gruppen aus den unteren Sozialschichten in den Wahlen in der Weise verselbständigten, wie es in den 1890er Jahren die deutschen Liberalen mit so verheerender Wirkung erlebt hatten. D ramatisch unterstrichen wurden diese Unterschiede von der Ent­ wicklung der Arbeiterbewegung in den beiden Ländern. In D eutschland war das allgemeine Wahlrecht das sine qua non für die Eigenständigkeit der SPD. In Großbritannien dagegen blieben auch noch 1884 etwa die Hälfte der 272 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

männlichen Arbeiter vom Wahlrecht ausgeschlossen - ein entscheidendes Hindernis, das der Gründung einer unabhängigen Arbeiterpartei entgegen­ stand. Diese Tatsache, und das Gewicht der Tradition blieben weiterhin ein zwingendes Argument für die Fortsetzung des Bündnisses zwischen Arbei­ terbewegung und Liberalen, bis die Kriegsumstände und ein weiteres Re­ formgesetz vom 1918 die Voraussetzungen für die völlige Unabhängigkeit der Labour Party schufen. Aus europäischer Sicht stellt die britische Arbei­ terbewegung einen absoluten Ausnahmefall dar. Aber welchen spezifischen Erklärungen man im einzelnen auch immer den Vorzug geben mag, der wichtigste Punkt ist, daß der deutsche Liberalis­ mus der 1860er Jahre nur angemessen beurteilt werden kann, wenn er mit dem britischen des gleichen Zeitraums verglichen wird - nicht hingegen, indem man dessen prinzipielle Überlegenheit von Beginn an unterstellt. In beiden Fällen beobachten wir in den 1860er Jahren ein eindrucksvolles Bemühen um eine liberale Synthese, um innovative parteipolitische Struk­ turen, um eine erweiterte soziale Basis, und dies alles mit dem erklärten Ziel weitreichender konstitutioneller Veränderungen. D ie dann jedoch divergie­ renden Formen liberaler Politik hatten möglicherweise mehr mit den radikal andersartigen allgemeinen politischen Rahmenbedingungen zu tun als mit den inneren Merkmalen der jeweiligen liberalen Bewegung. So zu argumen­ tieren, heißt - ich verweise auf die D iskussion in »The Peculiarities of German History« - die Bedeutung der Bismarckschen Revolution von oben für den Liberalismus wieder stärker zu unterstreichen. D enn sie hat die Zwangslagen und die Freiräume künftiger liberaler Politik in D eutschland radikal neugestaltet - nicht daß diese dadurch weniger »authentisch« gewor­ den wäre, aber gewiß erhielt sie eine gewisse nationale Einfärbung, die stärkere Gemeinsamkeiten mit dem Liberalismus in Italien, den Balkanlän­ dern und dem übrigen Mitteleuropa aufwies als mit dem Großbritanniens oder Skandinaviens. Schlußbetrachtung Dieser Beitrag hat sich ziemlich eingehend mit der Autonomie von Politik befaßt. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem deutschen Liberalis­ mus sollte, so wurde argumentiert, die liberale Politik in der Reichsgrün­ dungsära von dem schematischen und anachronistischen Vergleich mit ei­ nem Modell britischer liberaler D emokratie, das selber historisch nicht stimmig ist, befreien. Sic sollte auch gelöst werden von der deterministi­ schen und klassenreduktionistischen Behauptung, das Schicksal des Libera­ lismus hänge ursächlich mit der »Stärke« bzw. »Schwäche« des Bürgertums zusammen - nicht etwa, weil es keine empirische Beziehung zwischen bür­ gerlichen Interessen oder Bestrebungen und dem Charakter des deutschen Liberalismus gegeben hätte, sondern weil die (irrige) Analyse des einen zu 273 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

häufig als Ersatz für eine korrekte Analyse des anderen herhalten mußte. Folglich sollte der deutsche Liberalismus mit mehr Sensibilität für seine Eigenarten bewertet werden, d. h. man sollte seine »nationale Authentizität« anerkennen und die tatsächlichen - im Unterschied zu den unterstellten Bedingungen seines Handelns wiederherstellen. Es ist zu betonen, daß dies keine Abkehr von Theorie oder eine historisierende Absage an vergleichen­ de Interpretationen bedeutet. Im Gegenteil, es bedeutet, daß man nach dem richtigen Vergleichsrahmen für eine solche Analyse sucht. D ie liberale Partei Gladstones repräsentierte nicht allein den Liberalismus im Europa der 1860er Jahre: Sie konstituierte sich damals gerade, und es gab noch viele andere liberale Bewegungen. Anders gesagt, der passende Rahmen für eine vergleichende Betrachtung der deutschen Liberalen wird nicht dadurch geschaffen, daß man zwei Länder diesseits und jenseits der Nordsee neben­ einanderstellt. Eine solche Einengung verfälscht die Diskussionsgrundlage, indem bestimmte Fragen und Bewertungen in den Vordergrund gerückt werden, die mehr mit den idealtypischen (und ideologischen) Bildern von nationaler Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert zu tun haben als mit dem tatsächlichen Geschehen. Statt dessen sollte der europäische Liberalismus in einem umfassenden Sinn für den Vergleich herangezogen werden: das ge­ samteuropäische Zusammentreffen konstitutioneller Veränderungen, die Nationen- und Staatenbildung in den 1860er Jahren - ungleichzeitige und doch verbundene Entwicklungen, die nachhaltig vom globalen Auf­ schwung des Kapitalismus, von räumlicher Expansion und sozialer Durch­ dringung bestimmt waren. In diesem Sinn wäre Italien ein geeigneterer und aufschlußreicherer Vergleichsfall für Deutschland. Anmerkungen * D eutsche Übersetzung von Adelheid Baker. 1 Vgl. zum Folgenden ausführlich D , Blackbourn u. G. Eley, The Peculiarities of German History. Bourgeois Society and Politics in Nineteenth-Century Germany, Oxford 1984. Ausführliche Literaturangaben zum deutschen Liberalismus bei J. J . Sheehan, D eutscher Libera­ lismus 1770-1914, München 1983; D . Langewiesche, Liberalismus in D eutschland, Frankfurt 1988. 2 A. Arblaster, The Rise and D ecline of Western Liberalism, London 1984, S. 15. Vgl. dazu C. B. Macpherson, The Political Theory of Possesive Individualism, Oxford 1962 (deutsch: Frankfurt 1967); zur neueren allgemeinen D iskussion vgl. N. Abercombie, S. Hill u. S. Turner, Sovereign Individuals of Capitalism, London 1986. 3 D ie Aufgabe der Regierung sei es, die Grundlagen der individuellen Freiheit zu schützen und die öffentliche Sphäre als politische Arena zur Verwirklichung individueller Interessen zu erhalten. Vgl. dazu Mills klassische Aussage über die Grundsätze der liberalen Regierungsform, wie er sie sah, in: On Liberty, hrsg. v. G. Himmelfarb, Harmondsworth 1974, bes. S. 68f.: » . . . the only purpose for which power can be rightfully exercised over any member of a civilized community, against his will, is to prevent harm to others . . . Over himself, over his own body and mind, the individual is sovereign.« Es versteht sich von selbst, daß das freie Individuum hier noch einem bestimmten Geschlecht zugeordnet wurde.

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4 Hier spielte der Gedanke eine Rolle, daß Gesetzgebung nicht direkt einer gewählten gesetzgebenden Körperschaft, sondern den Vorhaben und Ratschlägen von Sachverständigen und einigen wenigen Begabten entspringt und danach dem Parlament zwecks Billigung unter­ breitet werden sollte. Regierung mit Hilfe der Demokratie, ohne den mäßigenden Einfluß der lenkenden Initiative der Intellektuellen war (nach Mill) ein Rezept für Mittelmäßigkeit. Aufga­ be der demokratisch gewählten gesetzgebenden Versammlung war es, »not to make the laws, but to sec that they are made by the right persons, and to be the organ of the nation for giving or withholding its ratification of them.« Für Mill »rational democracy [was] not that the people themselves govern, but that they have security for good government . . . the best government (need it be said?) must be the government of the wisest, and these must always be a few. The people ought to be the masters, but they are masters who must employ servants more skilful than themselves«. Vgl. J . H. Burns, J . S. Mill and democracy, 1829—61, in: J . B. Schneewind (Hrsg.), Mill, London 1969, S. 315; G. L. Williams (Hrsg.), John Stuart Mill on Politics and Society, London 1976, S. 182. 5 Zit. nach Arblaster, S. 280, 279. 6 Ebd., S. 273. 7 Β. Crick, In Defence of Politics, Harmondsworth 1964, S. 62; Arblaster, S. 78; Hervorhe­ bungen vom Autor. Vgl. auch C. B. Macpherson, The Real World of Democracy, Oxford 1966, insbes. S. 1 — 11. Zum Prototyp der zeitgenössischen (d. h. nach dem Krieg) liberalen Kritik an »democracy taken to the extreme« vgl. J . L. Talmon, The Origins of totalitarian D emocracy, London 1970. 8 G. de Ruggiero, The History of European Liberalism, Boston 1959, S. 379. 9 D ie zuverlässigste Schätzung (Blewett) setzt das Wahlrecht 1911 mit 59% der männlichen Erwachsenen an. D arüber hinaus haben Matthew, McKibbon und Kay gezeigt, daß das Wahlrecht in den Stadtgemeinden (boroughs) im Vergleich zu den Grafschaften (counties) unverhältnismäßig niedrig war und bei 32,6% aller Stadtgemeinden unter 57% sank (70 insgesamt, von denen 34 auf London entfielen, wo wir sehr niedrige Zahlen, wie z. Β. 20,6% für Whitechapel und 35,7% für Tower Hamlets verzeichnen). Vgl. N. Blewett, The franchise in the United Kingdom, 1885-1918, in PP, 32, 1965, S. 27-56; H. C. C. Matthew, R. I. McKibbon u. J . A. Kay, The franchise factor in the rise of the Labour Party, in: EHR, XCI, 1976, S. 723-52. 10 Ebd., S. 737: » . . . the growth of the Labour Party before 1914 was limited not by ›natural‹ social and political restrictions, but by an artificial one: a franchise and registration system that excluded the greater part of its likely support«. 11 D ie bei weitem aufschlußreichste Disskusion über den deutschen Liberalismus aus dieser kulturellen Perspektive ist meines Wissens die Aufsatzsammlung über die Region Konstanz: G. Zang (Hrsg.), Provinzialisierung einer Region, Frankfurt 1978. Eine ausgezeichnete Unter­ suchung aus einer anderen Perspektive: J . Sperber, Popular Catholicism in Nineteenth-Century Germany, Princeton 1984. Anregend, obwohl letztlich irreführend (indem argumentiert wird, daß der wahre Liberalismus in D eutschland des 19. Jahrhs. vom politischen Katholizismus verkörpert wird) ist die Arbeit von M. L. Anderson, Windthorst: A Political Biography, Oxford 1981, und: D ers., The Kulturkampf and the course of German history, in: CEH, XIX, 1986, S. 82-115. 12 Zum Beispiel Zang (Hrsg.); D. Langewiesche, Liberalismus und Demokratie in Württem­ berg zwischen Revolution und Reichsgründung, D üsseldorf 1974; W. Schmierer, Von der Arbei­ terbildung zur Arbeiterpolitik. D ie Anfänge der Arbeiterbewegung in Württemberg 1862/ 3—1878, Hannover 1970; D . Blackbourn, Class, Religion and Local Politics in Wilhelmine Germany. The Centre Party in Württemberg before 1914, New Haven/London 1980. 13 Eine ausgezeichnete D iskussion dieser Frage bezüglich der Reife des Gladstoneschen Liberalismus findet sich in: 5. Yeo, Religion and Voluntary Organizations in Crisis, London 1976. Es gibt mehrere fruchtbare theoretische Ansätze für eine solche Behandlung der deut­ schen Erfahrung, darunter T. Schieder, Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, München 1958. Habermas' Begriff der Öffentlichkeit und Gramscis Überlegungen zum Risorgimento,

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zur Rolle der Intellektuellen in sozialen Bewegungen und zu den Begriffen Hegemonie und bürgerliche Gesellschaft. Vgl. J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962 und A. Gramsci, Selections from the Prison Notebooks, London 1971. 14 Vgl. die folgenden Ausnahmen: J . Breuilly, Liberalismus oder Sozialdemokratie? Ein Vergleich der britischen und deutschen politischen Arbeiterbewegung zwischen 1850 und 1875, in: J . Kocka (Hrsg.), Europäische Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert, Göttingen 1983, S. 129—166; K. Rohe, The British imperialist intelligentsia and the Kaiserreich, in: P. Kennedy u. A.J. Nicholls (Hrsg.), Nationalist and Racialist Movements in Britain and Germany before 1914, London 1981, S. 130-42; P. Kennedy, The Rise of the Anglo-German Antagonism, 1860-1914, London 1918; W.J. Mommsen, Britain and Germany, 1800-1914. Two Develop­ mental Paths Towards Industrial Society, London 1986. D as D eutsche Historische Institut London unter der Leitung von Wolfgang J . Mommsen trug maßgeblich dazu bei, daß mit einem ernsthaften Vergleich D eutschland-Großbritannien begonnen wurde, z.T. im Rahmen des Konferenzprogramms und z. T. durch die vom Institut geforderte Forschung. So haben z. Β. eine Reihe der von Fellows des Instituts verfaßten Arbeiten einen implizit vergleichenden Charakter, darunter P. Alter, Wissenschaft, Staat, Mäzene. Anfänge moderner Wissenschafts­ politik in Großbritannien 1850-1920, Stuttgart 1982; W. Mock, Imperiale Herrschaft und nationale Interessen. »Constructive Imperialism‹ oder Freihandel in Großbritannien vor dem Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1982; U. Wengenroth, Unternehmensstrategien und technischer Fortschritt. D ie deutsche und britische Stahlindustrie 1865-1895, Göttingen 1986. 15 D ieser Aspekt wird besonders eindrucksvoll und zwingend von E. Hobsbawm, The Age of Capital 1848-1875, London 1975, vorgetragen. 16 Vincent, Formation, Harmondsworth 1972, S. 19. 17 Ebd., S. 289. 18 Neben der bahnbrechenden Darstellung von Vincent vgl. auch die von P. Hollis herausge­ gebene Sammlung, Pressure from Without, London 1974, die eine gute Einführung in die Welt der Vereine, Verbände und ähnlicher Institutionen im britischen Liberalismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts gibt, sowie das Buch von E. und S. Yeo (Hrsg.), Popular Culture and Class Conflict 1590-1914, Brighton 1981, das einen Einblick in dessen Verhältnis zur Volkskultur gewährt. Vgl. auch die Aufsätze: »Animals and the state«, »Religion and recreation«, »Tradi­ tions of respectability« und »Philantropy and the Victorians«, in: B. Harrison, Peacable King­ dom. Stability and Change in Modern Britain, Oxford 1982, S. 82-259, die (trotz des insge­ samt selbstzufriedenen Tenors des Buches) von grundlegender Bedeutung für dieses Thema sind. Die Monographien über bestimmte Vereine und Orte bilden eine endlose Liste: »Religion and Voluntary Organizations in Crisis« von S. Yeo ist die am wenigsten übersichtliche, aber auch die interessanteste. Eine hervorragende Betrachtung der gesamten Vorgänge in der Gladstoneschen Ära bietet P. McHugh, Prostitution and Victorian Social Reform, London 1980. 19 G. Mayer, D ie Trennung der proletarischen von der bürgerlichen D emokratie in Deutschland, 1863-1870, in: Radikalismus, Sozialismus und bürgerliche Demokratie, hrsg. v. H.-U. Wehler. Frankfurt 1969. S. 108-78. 20 Genaugenommen ist das funktionale Gegenstück zur populistischen Religion in Großbri­ tannien (d. h. Nonkonformismus) in D eutschland der politische Katholizismus. Vgl. insbes. Blackbourn, Class, und Anderson, The Kulturkampf. Zum Argument bez. der Handwerker vgl. die verschiedenen Aufsätze v. J . Breuilly: Arbeiteraristokratie in Großbritannien und Deutsch­ land, in: U. Engelhardt (Hrsg.), Handwerker in der Industrialisierung, Stuttgart 1984, S. 497—527; Artisan economy, artisan politics, artisan ideology: the artisan contribution to the nineteenth century European labour movement, in: C. Emsley u. J . Walvin (Hrsg.), Artisans, Peasants, and Proletarians, 1760-1860, London 1985, S. 187-225, sowie den in Anm. 14 erwähnten Aufsatz »Liberalismus oder Sozialdemokratie?« Eine hilfreiche Zusammenfassung findet sich in Mommsen, Britain, S. 14ff. Wie immer bei der Behandlung solcher Fragen ist die Diskussion den Aufsätzen von E. Hobsbawm ganz besonders verpflichtet. Vgl. dazu eine seiner neueren Arbeiten: Worlds of Labour. Further Studies in the History of Labour, London 1984. 21 Vgl. Breuilly, Liberalismus oder Sozialdemokratie?

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III. Liberalismus in den ›romanischen‹ Ländern: Frankreich, Italien, Belgien und Spanien

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THOMAS NIPPERDEY

Einführung

Im folgenden Abschnitt geht es um die »romanischen«, die »lateinischen« Länder, um Frankreich und Italien vor allem, um Belgien und Spanien. Für jedes der vier Länder haben wir eine Generalstudie, und über die beiden Hauptländer zusätzlich chronologische und thematische Spezialstudien; drei Beiträge nehmen den Vergleich ausdrücklich als Thema auf, bei den anderen steht er unausdrücklich im Hintergrund oder im Blick. Darüber ging ein gut Teil der Diskussion; der Beitrag von Hudemann, der für die Tagung nur in einer kurzen Thesenform vorlag, hat diese vergleichende Diskussion aufge­ nommen und in zentralen Punkten wiedergegeben und verdichtet. Es geht darum, das proteusartige Wesen des Liberalismus mit seinen ständigen D ifferenzierungen, Spaltungen, Wandlungen, seinen so vielfälti­ gen und unterschiedlichen Ausprägungen in den unterschiedlichen nationa­ len Gesellschaften und Staaten vor Augen zu stellen und begrifflich zu durchdringen und doch den Zusammenhang, das Gemeinsame des eben europäischen Liberalismus gleichermaßen zu berücksichtigen, das Gemein­ same durch das Besondere, das Besondere durch das Gemeinsame zu kon­ turieren. Und da wir mit derlei Vergleichen erst anfangen, geht es zunächst darum, die Kriterien solchen Vergleiches festzumachen. Die hier untersuchten Gesellschaften sind höchst unterschiedlich. Poli­ tisch: ein fortgeschrittenes Land, in der Tradition der großen Revolution von 1789, trotz der Restauration und des zweiten Empire, wie Frankreich, ein schnell aufholendes wie Belgien, Spätkommer mit brüchigem Unterbau wie Italien und erst recht Spanien; Länder mit etatistischen und anti-etatisti­ schen Tendenzen, Länder mit einer vor-sozialistischen Linken, dem Repu­ blikanismus und Radikalismus, und Länder, in denen erst der Sozialismus gegen den Liberalismus eine neue Linke formiert; wirtschaftlich: ein klassi­ sches Industrieland wie Belgien, eines der frühen Kommerzialisierung, aber aufhaltsamen Industrialisierung wie Frankreich, der späten oder fast ausblei­ benden Industrialisierung wie Italien und erst recht Spanien, und darum das unterschiedlich reservierte Verhältnis zur kapitalistischen D ynamik; natio­ nal: die alten Nationalstaaten Frankreich und Spanien, der neue und ethnisch gemischte in Belgien, der wie in D eutschland spät etablierte in Italien mit seinen heterogenen sozialkulturellen Milieus, überall mit den unterschiedli­ chen Graden der Mischung zentralistischer und zwar nicht wie in Deutsch279

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land föderalistischer, wohl aber regionalistischer Traditionen und Kräfte und ihren Auseinandersetzungen und zudem die unterschiedlichen etatisti­ schen und anti-etatistischen Traditionen; sozial z. B. der eigentümlich fran­ zösische Bürgertyp des proprietaire, ja des Rentenbeziehers, oder der italie­ nische Stadt- und Oppositionsadel; die ganz unterschiedliche Bedeutung lokaler Honoratioren und der lokalen Klientel- oder Vereinsbildung und die so außerordentlich verschiedene D ringlichkeit und auch Perzeption der sozialen Frage. Was alle diese Länder verbindet, sind die Probleme, die aus der einheitlichen Konfession, der katholischen Herkunft stammen, also die Spannung zwischen Laizismus und katholischer Kirche, die diese Gesell­ schaften dann fast zerreißen. Ganz deutlich wird die Interdependenz aller historisch wirksamen Fakto­ ren. D ie »Lage«, das politische, soziale, kulturelle System, das Wahlrecht oder die Stellung zur Regierung, kurz: die »Rahmenbedingungen«, beein­ flußt die besondere Richtung und die besonderen Probleme des Liberalismus in jedem Lande; man kann die Unterschiede und auch den Sonderweg des deutschen Liberalismus mit Hilfe großer Modelle erfassen, des nation buil­ ding und der Modernisierung und den entsprechenden Krisentypen der Integrations-, Partizipations-, D istributions-, Penetrations- oder Legitima­ tionskrise (ich zähle sie absichtlich nicht in der gehörigen Reihenfolge auf), also mit dem der Phasenverschiebung in den einzelnen Ländern. D as ist wichtig, aber es reicht wohl nicht aus, das, was ins Auge fällt, vergleichend zu begreifen. Einiges ergibt sich zu der inhaltlichen Gemeinsamkeit der hier in Rede stehenden Liberalismen. Sie alle haben einen sozial-defensiven Zug, vertei­ digen die gegliederte Gesellschaft, die Notabein und Honoratioren gegen radikal-egalitäre, linke, jakobinische Tendenzen, Ideen und Bewegungen und sehen in ihnen eine drohende Gefahr. Alle entwickeln eine Doppclstra­ tegie, dieser Gefahr zu begegnen: Gegnerschaft oder umarmende Integra­ tion, und darüber gerade spalten sie sich. Von daher ist übrigens die Frage, ob der französische Radikalismus und Republikanismus Gegner oder Spiel­ art des Liberalismus ist, zu beurteilen. Eine wichtige Gemeinsamkeit ist m. E. auch, zumindest für Frankreich und D eutschland, daß der frühe kontinentale Liberalismus zu Kommerz und Industrie in einem sehr distan­ zierten Verhältnis steht, und daß die mancherorts noch beliebte Koppelung von Liberalismus und Freihandel aufgegeben werden muß. D arum ist auch der spätere Übergang zum Protektionismus nicht per se ein Aufgeben des Liberalismus. Anderes ergibt sich im Blick auf den deutschen Liberalismus als spezi­ fisch. Das sind zunächst der Beamtenliberalismus, auch wenn dessen Bedeu­ tung auf der Tagung umstritten war, und der Liberalismus des so besonders deutschen Bildungsbürgertums, das mit den überall expandierenden freien Berufen eben nicht identisch ist. D as ist sodann die Tatsache, daß der deutsche Liberalismus nicht einfach Oppositionsliberalismus ist, denn die 280 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

jahrzehntelange Dauer der Opposition und die kurze Quasi-Nähe zur Macht zwischen 1867 und 1879 haben ihn doch umgeformt und gezähmt. Weiter­ hin, im Blick auf die Gesellschaft: D er deutsche Liberalismus ist lange Zeit­ noch über die Mitte des Jahrhunderts hinaus - sozial integrativer gewesen als andere, das Vordenken im Blick auf Westeuropa, zumal auf das englische Modell der Industriegesellschaft, die frühe Aufmerksamkeit auf die soziale Frage sind hier wichtig, natürlich die Tatsache, daß er Opposition war und Protagonist der nationalen Bewegung, und ohne ernsthafte Konkurrenz von links. Gerade von daher, von der Bedeutung des liberalen Sozialprogramms her wird die frühe Scheidung von Liberalismus und Sozialismus so typisch: Die religiöse und die ideologiepolitische Lage, die autoritäre Form des Staates und seines Verhältnisses zu den unteren Klassen, später die Rolle der großen Industrie, das ist dafür wichtig, aber gewiß auch das kontingente Faktum herausragender Personen. Und ferner: Mehr als anderswo war und - vor allem - blieb der deutsche Liberalismus von seiner Identität mit der nationalen Bewegung, später mit den Bedrohungsgefühlen des Nationalis­ mus, geprägt, das zeitweise Ausscheiden der Gegner der Nationalstaatsbil­ dung wie in Italien gab es in D eutschland nicht. Eines der wichtigsten Sonderprobleme des deutschen Liberalismus schließlich ergibt sich aus der Vogelperspektive eines Vergleichs mit unseren vier Ländern, das ist die religionspolitische Lage. Der deutsche Liberalismus existierte in einem kon­ fessionell zweigeteilten Land, in das die Tendenzen der Säkularisierung und des Laizismus einbrachen, den Protestantismus zweiteilten, aber dem Ka­ tholizismus, bedroht wie er war, zu einer in den lateinischen Ländern nicht vorhandenen Säkularisierungsresistenz verhalfen, und so den Liberalismus unter den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts entscheidend schwäch­ ten. Hier wäre - nebenbei gesagt - der Vergleich des deutschen Liberalismus mit den beiden anderen protestantischen Ländern, wenn ich von Ungarn absehe, mit der Schweiz und den Niederlanden, und ihren Sonderbildungen christlicher Parteien fruchtbar, eine Aufgabe für künftig.

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HEINZ-GERHARD HAUPT

Ein soziales Milieu des nachrevolutionären Liberalismus in der französischen Provinz: Die Landbesitzer

Die Gleichsetzung von Liberalismus mit wirtschaftlichen Berufen und Inter­ essen gehörte zu den politischen Standardformeln der Behörden nach 1815, wie das Beispiel aus Burgund zeigt. In Châtillon »on compte parmi les mécontents qui exercent une influence contraire au gouvernement un certain nombre des maîtres des forges . . . Ils ont été tous partisans de l'usurpateur (scil. Napoleon I!) . . .« »La ville de Chalon, toute industrielle, professe un libéralisme dangereux«. Im Jahre 1816 rief der Präfekt dazu auf, »à inspirer de bons sentiments à la classe des négociants«, die diese offensichtlich nicht besaßen.1 Auch in der historischen Forschung ist der Liberalismus im Wirt­ schafts- und Bildungsbürgertum angesiedelt und folgendermaßen gedeutet worden. In ihm konnten die wirtschaftlich und in freien Berufen Tätigen ihre Opposition gegen die Politik der Restauration im politischen und sozialpolitischen Bereich ausdrücken und damit ihren Protest sowohl gegen die Bevorzugung des Adels bei Stellenbesetzungen im staatlichen Bereich oder bei Gesetzen als auch gegen die Stärkung des kirchlichen Einflusses und eine sich zunehmend von der Kontrolle durch das Parlament abkoppelnde Regierungstätigkeit und -Zusammensetzung manifestieren. Weiterhin konnten sie in den Parolen und Aktionen der liberalen »Parteiung« ihre Verbundenheit mit den Grundprinzipien der französischen Revolution, vor allem mit denen der Anfangsphase und mit der Eigentumsordnung, die im Zuge der revolutionären Veränderungen entstanden war, wiederfinden. Schließlich formulierten die liberalen Abgeordneten den Anspruch des »Tiers Etat« oder-wie Francois Guizot präzisierte-der »classes moyennes« auf Teilhabe an der politischen Macht und drückten damit das Selbstbe­ wußtsein im Bürgertum aus. 2 Wenn mithin auch gewichtige systematische Überlegungen für die enge Verbindung von Wirtschafts- und Bildungsbürgertum der nachnapoleoni­ schen Zeit mit dem Liberalismus sprechen, so fehlen doch über verstreute Angaben der Präfekten hinaus genauere Angaben über die berufliche Her­ kunft der Träger und Wähler der liberalen Parteiung.3 Freilich liegen Studien 282

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über das Sozialprofil und den gesellschaftlichen Hintergrund liberaler Abge­ ordneter vor. 4 Aber über die liberalen Wähler selbst war die Forschung bislang vor allem auf die verstreuten, oftmals unpräzisen Angaben der Generalstaatsanwälte und der lokalen Behörden angewiesen. Um über diese begrenzten Kenntnisse zumindest teilweise hinauszukommen, bieten sich die Wahllisten an, die für einige Departements in der Serie F 1 c des Pariser Nationalarchivs überliefert sind und auf denen die Behörden - vor allem die Unterpräfekten und die Präfekten - für das Jahr 1820 die politische Ausrich­ tung der einzelnen Wähler vermerkt haben.5 Da das Jahr 1820 ein innenpoli­ tisches Krisenjahr war, kann die Haltung an einer wichtigen Wende der Restaurationszeit erfaßt werden. Die Listen enthalten die Berufe der Wähler, manchmal auch ihren Steuerzensus, so daß Angaben über die Berufsstruktur der einzelnen politischen Gruppierungen gemacht werden können. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß der Aussagewert der Listen begrenzt ist. Im Jahr 1820 verband die Regierung Richelieu, die den liberalen Regie­ rungschef Decazes ablöste, mit der Einschränkung der persönlichen Freiheit und der Pressefreiheit eine Reform des Wahlrechts. D iese verlieh jenem Viertel der Wahlberechtigten eine zweite Stimme, die auch die höchsten Steuern zahlten. Verbunden mit einer neuen Wahlkreiseinteilung sollte sie den Siegeszug liberaler und teilweise regimefeindlicher Kandidaten bei den Wahlen stoppen und der Regierung wieder eine Mehrheit in der Abgeordne­ tenkammer verschaffen. D ie einzelnen Präfekten waren gehalten über die mutmaßlichen Folgen der Wahlreform in ihrem Departement zu berichten.6 In diesem Zusammenhang sind die Listen entstanden, die allerdings nicht für alle Departements überliefert oder erstellt worden sind. Auf ihnen wurden die Wähler zumeist in drei große Gruppen eingeteilt: in die der »royalistes purs«, die der »royalistes constitutionals«, die der »libéraux« oder »ultra­ libéraux«. D iese Unterscheidung nahm zeitgenössische Unterscheidungen auf und trennte die politischen Lager nach ihrer Haltung zur Monarchie und zur Verfassung. Als »reine Royalisten« wurden jene Personen bezeichnet, die die Stärkung der königlichen Macht über den Respekt der Verfassung stellten und die in der »Chambre introuvable« des Jahres 1816 die Mehrheit innegehabt hatten. Als »konstitutionelle Royalisten« galten jene Wähler, die zwar Person und verfassungsmäßige Prärogativen des Monarchen dem politischen Todeskampf enthoben, die Weiterentwicklung der Verfassung im parlamentarischen Sinn aber bremsen wollten. D ie liberalen Abgeordne­ ten und Wähler waren durch ihr Engagement für Grundfreiheiten (Presse-, persönliche, religiöse Freiheit) und für die Übereinstimmung der Regie­ rungspolitik mit bürgerlichen Grundprinzipien wie Berechenbarkeit, Stabi­ lität der Eigentumsordnung, Erwerbsfreiheit gekennzeichnet.7 Die benutzte Begrifflichkeit drückte die politische Vorstellungswelt der Präfekten und Unterpräfekten aus. Sie wurde sicher eher den pronozierten Positionen der Ultraroyalisten oder Liberalen gerecht, von denen die einen sich im Jahre 1820 für die restriktiven Gesetze, die anderen dagegen aussprachen. Vor 283 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

allem für die Charakterisierung der konstitutionellen Royalisten warf die politische Konjunktur zu Beginn der 1820er Jahre Probleme auf, da sie Polarisierung und nicht die Herausbildung differenzierter Positionen begün­ stigte. Nicht nur waren die politischen Kategorien begrenzt trennscharf, sondern auch die beruflichen Angaben und die Aussagekraft der Listen für gesell­ schaftliche Zusammenhänge problematisch. D a das aktive Wahlrecht an einen Steuersatz von 300 F gebunden war, das Steuersystem der nachnapo­ leonischen Zeit aber den Grund- wesentlich stärker als den Mobilienbesitz belastete, erschienen auf den Listen vor allem die Besitzenden, weniger die wirtschaftlichen Aktiven und die Gebildeten. Freilich setzte Bildung zu­ meist Besitz voraus, so daß diese Berufsgruppen teilweise über den Umweg ihres Landbesitzes zu Wahlrecht kamen.8 So erreichte etwa der Holzhändler Eugène Prunoz aus dem D epartement Jura den Zensus nicht durch die Gewerbesteuer von 65,78 F, die er zahlen mußte, sondern durch eine Grund­ steuer von 337,29 F.9 Dennoch waren durch die Besonderheiten des franzö­ sischen Steuersystems die Landbesitzer auf den Wahllisten über-, die wirt­ schaftlich und in freien Berufen Aktiven unterrepräsentiert. Eher das Besitz­ ais das Bildungsbürgertum kann mithin erfaßt werden. Schließlich war das aktive Wahlrecht den Männern über dreißig vorbehalten, so daß weder die Jugendlichen noch die Zwanzigjährigen beteiligt waren. D a die Kandidaten 40Jahre zählen mußten, lagen die politischen Entscheidungen in den Hän­ den einer Gerontokratic. D amit sind die Rückschlüsse von den Wahllisten auf die soziale Situation Frankreichs nur begrenzt möglich. D ie selektive Wirkung des Wahlrechtes verdeutlicht jedoch, warum es bis 1848 zu einem dauerhaften politischen Thema wurde. Überdies spiegelten die Berufsangaben, die die Behörden machten, den sozialökonomischen Entwicklungsstand des Landes und gesellschaftliche Normen wider. D ie Grenzen zwischen Landbesitz und industrieller Tätig­ keit waren in einer Gesellschaft fließend, in der die Wasserkraft und der Waldbesitz für die Produktion von Mühlen und Hochöfen notwendig blie­ ben und die Textilproduktion weitgehend unter protoindustriellen Bedin­ gungen stattfand.10 Aber nicht nur ökonomische Umstände, sondern auch gesellschaftliche Mechanismen, Prestige- und Sicherheitsvorstellungen be­ günstigten die Koppelung von Besitz und Erwerb, Land, Industrie und Handel. Wenn die Steuerrollen etwa den Bankier Lafitte oder den Großkauf­ mann Boigue als Großgrundbesitzer ausweisen, so zollten beide der allge­ meinen Überschätzung des Landbesitzes Tribut, schafften sich aber auch in einer Zeit riskanter Industrie- und Finanzgeschäfte eine Rücklage.11 In der französischen Gesellschaft der ersten Hälfe des 19. Jahrhunderts, in der Dreiviertel der Bevölkerung auf dem Lande lebte, übte der Landbesitz als eine ebenso gewinnträchtige wie Ansehen verleihende Anlage eine so große Attraktion aus, daß zahlreiche Beispiele von Kaufleuten oder Industriellen bekannt sind, die im Alter ihren Gewinn in Grundbesitz anlegten und als 284 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Grundrentier lebten. In manchen Gegenden mag hierin eine Übernahme aristokratischer Vorbilder liegen. In anderen knüpften die Besitzbürger aber an das Vorbild der Bourgeoisie vor 1789 an, die sich dadurch auszeichnete, daß sie keiner Arbeit nachging und von ihren Einkünften verschiedener Art leben konnte.12 Aufgrund dieser Bedingungen bleiben die beruflichen An­ gaben auf den Wahllisten unpräzise und verbarg sich hinter manchem Besit­ zer (»propriétaire«) ein ehemaliger Kaufmann oder Fabrikant, der sich von den Geschäften zurückgezogen hatte, und hinter manchem in wirtschaftli­ chen oder freien Berufen Tätigen ein Landbesitzer. Trotz aller Ungenauigkeiten ist eine statistische Auswertung der gefunde­ nen Wahllisten nicht unsinnig. D enn die Wahlkreise waren klein, die Zahl der Wähler blieb gering, so daß die Präfekten und Unterpräfekten, Staatsan­ wälte und Generalstaatsanwälte eine relativ gute Kenntnis der Situation und Meinung jedes Einzelnen besaßen. Sie waren überdies gehalten, möglichst genaue Prognosen anzustellen, von denen die Regierung ihre Entscheidung für die Grenzen einzelner Wahlkreise und für die Einführung des »loi du double vote« abhängig machte. Die Wahlen würden überdies die Richtigkeit der Angaben bestätigen oder in Frage stellen. Angesichts dieser Situation fügte etwa der Präfekt des Departement Lot-et-Garonne seiner Liste, die er am 14. Juli 1820 übersandte, folgende salvatorische Klausel bei: »Quelque soin qui ait été apporté à la classification ordonnée des électeurs de départe­ ment, on ne saurait en induire rien d'absolument positif à l'égard de leurs opinions politiques personnelles, parce que l'on est toujours réduit à de vagues hypothèses, lorsqu'il est question de se fixer sur une chose aussi variable que l'opinion, surtout dans des circonstances qui ajoutent puissam­ ment à sa mobilité naturelle«.13 D a die vorliegenden Wahlergebnisse nach 1820 aber die Richtung der Prognose nicht in Frage stellten, kann davon ausgegangen werden, daß die politischen Zuordnungen zwar nicht in jedem Einzelfall, aber insgesamt doch verläßlich waren. Listen, auf denen die Wähler politischen Lagern zugeordnet waren, wur­ den für das Jahr 1820 gefunden für die Departements Jura, Lot-et-Garonne, Charente-Inférieure, Seine-et-Oise und Var. Allerdings bezogen sich die Angaben für die D epartements Charente Inférieure, Lot-et-Garonne und Seine-et-Oise nur auf das »collège départemental« der Höchstbesteuerten, die aus dem D epartement Var nur auf die Mitglieder der »collèges d'arron­ dissement«, während für das Departement Jura die Mitglieder beider Wahl­ körper erfaßt wurden. Schließlich sind für das Departement Charente Infé­ rieure nur für den Wahlkreis Angoulême die Berufe der Wahlberechtigten angegeben. D iese Zufallsfunde können natürlich keinen Anspruch auf Re­ präsentativität erheben. Keine der großen Städte Frankreichs oder der be­ reits stärker industrialisierten Regionen wie Nord- und Ostfrankreich oder die Normandie sind berücksichtigt. Aber die vorliegenden Angaben sind geographisch breit gestreut und beziehen sich auf Gegenden, in denen für die Restaurationszeit charakteristische Bedingungen existieren. Ländliche Indu285 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Strien waren im Jura und im Var verbreitet, der Handel prägte das Gesicht von Toulon und Angoulême, das Departement Seine-et-Oise war für inten­ sive Landwirtschaft bekannt und der agrarische Kleinbesitz im Departement Lot-et-Garonne dominant.14 Unterschiedliche Typen von Gegenden und Aktivitäten sind damit erfaßt, die in einer Zusammenschau in etwa dem sozialökonomischen Entwicklungsstand der Restaurationszeit entsprechen dürften. Allerdings läßt sich bei einer Analyse des politischen Lebens kaum von Paris und den großen provinziellen Metropolen absehen, so daß ledig­ lich der Liberalismus in der Provinz erfaßt wird. Auf der Grundlage der Wahllisten soll mithin versucht werden, Angaben über soziale Träger des Liberalismus im Jahre 1820 zu machen. Stammten diese vor allem aus dem Bereich der wirtschaftlichen und freien Berufe oder fanden sie in anderen Sektoren ihre ökonomische Grundlage? Anschließend ist nach dem Einfluß der Trägerschichten auf Programm und Praxis der liberalen Parteiung in der Restaurationszeit zu fragen. Freilich ist dabei der Liberalismus nicht auf seine gesellschaftliche Basis zu reduzieren. D enn gerade die Geschichte der französischen Revolution von 1789 zeigt, daß liberale Grundpositionen sehr wohl von Schichten vertreten werden könn­ ten, die - wie Adlige - nicht, oder - wie Militärs - nur am Rande dem Bürgertum angehörten.15 Aber die mit einer bestimmten gesellschaftlichen Stellung und wirtschaftlichen Tätigkeit verbundenen Erwartungen und Werthaltungen gingen sehr wohl in die Formulierung liberaler Politik ein. Schließlich soll anhand der Wahllisten versucht werden, den Entwicklungs­ stand des Bürgertums in der Restaurationszeit und seine politische Haltung zu bestimmen. Auch dabei ist nur zu deutlich, daß die zugrundegelegte Quelle lediglich begrenzte Aussagekraft besitzt. Aber sie kann angesichts einer wissenschaftlichen Literatur, die bisher vor allem das städtische Bür­ gertum privilegiert hat, den Blickwinkel auf Verhältnisse in der Provinz erweitern. Legt man die Angaben über die Berufe der Höchstbesteuerten zugrunde, die in dem Collèges départementaux des Jahres 1820 als liberal bezeichnet wurden, so dominierten unter ihnen fast durchweg die Besitzer. 71% der Liberalen des Departements Lot-et-Garonne, 57,3% des Departement Sei­ ne-et-Oise wurden als »proprétaires« bezeichnet, während ihr Anteil im westfranzösischen Jura allerdings auf 40,4% absank. Nicht nur in ländlichen Verhältnissen, sondern auch in der handeltreibenden Provinzstadt Angoulê­ me, deren Behäbigkeit Balzac beschrieben hat16, waren 71,9% der liberalen Wähler Besitzer. Wie bereits erwähnt, konnten sich hinter dieser Bezeich­ nung Pensionäre wie auch wirtschaftlich Tätige oder Advokaten verbergen, die zusätzlich zu ihrem Beruf Grundrente bezogen. Da die Wahllisten veröf­ fentlicht wurden, konnte jeder die seinem Namen beigefügte Berufsangabc korrigieren. Es ist bezeichnend, daß auch die Fabrikanten und Kaufleute unter den Besitzern sich stärker auf ihren Besitzerstatus als auf ihre berufli­ che Stellung beriefen. Unter den liberalen Notabein, die zweimal abstim286 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

men durften, gaben mithin nicht die Stimmen aus den Kontoren, Kanzleien und Manufakturen, sondern die der Rentiers und Landbesitzer den Ton an, denn wirtschaftlich und in freien Berufen Aktive machten nur einen be­ grenzten Teil der liberalen Wähler aus. Ließ die Bedeutung ländlicher Hütten im Departement Jura den Anteil wirtschaftlicher Berufe unter den Liberalen auch auf 25,4% ansteigen, so sank er im Departement Lot-et-Garonne auf 16,8%, in Angoulême auf 8,8% und im Departement Seine-et-Oise gar auf 7,6%. Insgesamt blieben die Prinzipale, Industriellen und Bankiers unter den Liberalen in einer deutlichen Minderheitenposition. D ies galt auch für die Advokaten, Notare und Ärzte, die nie mehr als ein Zwölftel der Libera­ len stellten, im Departement Seine-et-Oise sogar nur 2,7%. D er Kategorie der Beamten, die alle jene umfaßt, die vor oder in der Restauration Funktio­ nen ausübten, in denen sie von der Entscheidung der Regierungen abhängig waren, gehörten zwar 19,1% der Liberalen im Jura und 11,1% in Angoulê­ me, deutlich weniger jedoch in den anderen Gegenden zu. In diesem Befund kommt sicher der verschieden große Anteil der von Napoleon ernannten Beamten sowie die unterschiedlich starke Überwachung der Präfekten in den einzelnen Gegenden zum Ausdruck. In den collèges d'arrondissements des Var und Jura, deren plutokratischer Charakter weniger ausgeprägt war, unterschied sich teilweise die Sozial­ struktur der Wähler von der der Höchstbesteuerten. Mit 29,0% bildeten die Besitzer in dem südfranzösischen D epartement auch die größte Gruppe unter den liberalen Wählern, doch standen ihnen die anderen Berufsgruppen nahezu gleichwertig gegenüber: 18,8% der Liberalen ging wirtschaftlichen, 19,6% freien Berufen nach und 13,6% waren in der Verwaltung oder Justiz beschäftigt. Mithin verfugten die »propriétaries« nur über eine relative Mehrheit in einer Gegend, in der von der Hafenstadt Toulon ein deutlicher politischer und wirtschaftlicher Einfluß ausging. Im Jura wiesen die Listen zwar mit 43,2% aller Liberalen eine größere Gruppe als Besitzer aus. Aber auch hier war der Anteil der wirtschaftlich (13,0%), freiberuflich (14,6%) oder in der Verwaltung Tätigen (17,5%) beträchtlich. Wenn sich überhaupt aus einem so geringen Sample Schlußfolgerungen ziehen lassen, so würden sie die Diversifizierung der sozialen Träger des Liberalismus hervorheben, die in dem Maße stärker wurde, in dem der Wahlzensus sank. Ob aber generell von einem Rückgang der Besitzer unter den liberalen Wählern der Collèges d'arrondissement ausgegangen werden muß, erscheint fraglich, da die D epartements Jura und Var gerade zu denjenigen gehören, in denen Handels- und Industrieaktivitäten relativ stark vertreten waren. Es ließe sich vielmehr umgekehrt formulieren: Selbst in Gegenden, in denen ländliche Industrie und See- sowie Binnenhandel florierten, bildeten die Besitzer weiterhin unter den Liberalen die stärkste Gruppe. Über diese allgemeine Charakteristik hinaus kann in einem Vergleich der Sozialstruktur der verschiedenen politischen Lager ermittelt werden, ob sich die Wähler entlang deutlicher sozialökonomischer Unterschiede, ja entlang 287 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

der Klassenlinie engagierten oder ob sie alle aus einem relativ homogenen sozialen Milieu stammten, in dem persönliche Erfahrungen, Zu-und Abnei­ gungen für politisches Engagement und seine spezifische Prägung verant­ wortlich waren? Für die Julimonarchie hat André Tudesq für die von ihm untersuchte Gruppe der »grands notables« die zweite These vertreten, wäh­ rend Pierre Lévêque jüngst für Burgund behauptet hat, für die Julimonarchie stimme er Tudesq zu, für die Restaurationszeit müsse man aber von einem Klassenunterschied zwischen den politischen Gruppen ausgehen.17 Vergleicht man die sozioprofessionelle Struktur der drei Parteiungen in den verschiedenen Departements, so wiesen die Träger des Liberalismus in den agrarischen D epartements Lot-et-Garonne und Seine-et-Oise Ähnlich­ keiten mit denen des konstitutionellen Royalismus auf. Beide stachen indes deutlich von dem Ultraroyalismus ab. Offensichtlich speiste sich in beiden Gegenden das Engagement für Verfassung und Parlamentarismus aus dem­ selben Milieu. Im D epartement Jura hingegen wich die soziale Herkunft liberaler Wähler sowohl im college d'arrondissement wie auch im collège départemental von der der beiden anderen Parteiungen ab. In dem ostfran­ zösischen D epartement bestanden offensichtlich zwischen den Lagern auch soziale D ifferenzen. In Angoulême und dem D epartement Var hingegen ließen sich zwischen den drei Gruppierungen keine signifikanten Unter­ schiede ausmachen. Alle drei rekrutierten sich zu ähnlich großen Anteilen unter denselben Berufsgruppen. Für diese Departements würde sich somit die These von Tudesq bereits für die Restaurationszeit übernehmen lassen, während sie für das Jura nicht, für die D epartements Lot-et-Garonne und Seine-et-Oise nur partiell zuträfe. Für die Annahme, zwischen den Wählern der drei Parteiungen bestünde eine relativ große soziale Homogenität, wür­ de nicht nur die Wirkung des Wahlsystems sprechen, das den Grundbesitz begünstigte und damit für alle eine ähnliche Grundlage schuf, sondern auch der Entwicklungsstand des Landes, in dem - wie bereits mehrfach angedeu­ tet - die Bruchlinien zwischen Besitz, Handel und Industrie noch nicht scharf gezogen waren. Dennoch lassen sich jedoch Unterschiede zwischen den einzelnen Lagern ausmachen, wenn man die relative Bedeutung der Berufsgruppen und des Adels vergleicht. D iese Differenzen sind abzuheben von der nahezu allge­ meinen Dominanz des Besitzes. Sowohl unter den Ultraroyalisten als auch den konstitutionellen Royalisten und den Liberalen waren - mit Ausnahme des Jura - die Wähler der colleges départementaux in ihrer absoluten Mehr­ heit Besitzer. In Angoulême ist sogar das Kuriosum festzustellen, daß der Anteil der »propriétaires« unter den Liberalen größer war als unter den »Ultras«. D ie anderen Berufe verteilten sich ungleichmäßiger. So lag der Anteil der wirtschaftlichen Tätigkeit unter den Liberalen nie unter 7,6%, ein Charakteristikum, das sie mit den konstitutionellen Royalisten teilten, wäh­ rend von den Ultras keiner im College départemental desJura oder nur 1,2% in dem des D epartement Seine-et-Oise als Bankier, Fabrikant oder Kauf288 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

mann tätig war. Je nach D epartement war der Anteil dieser Gruppe aber unterschiedlich, der seine Interessen in der liberalen Partei wiederfand. Vier Fünftel von ihnen im Jura, jedoch nur ein Viertel in Angoulême wurden den Liberalen zugezahlt. Tendierten die wirtschaftlich Aktiven auch stärker zur liberalen Parteiung als zu anderen, so war dieser Trend keineswegs überall eindeutig ausgeprägt. Im D epartement Var optierten 60,8% der Wirt­ schaftsbürger für die konstitutionellen Royalisten, jedoch nur 15,3% für die Liberalen. Eine ähnliche Neigung läßt sich unter den freien Berufen ausmachen, deren Verbindung mit dem Besitz deshalb stark war, weil erst am Ende der Karrieren von Ärzten, Anwälten und Notaren mit hohen und gesicherten Einkünften zu rechnen war. D eshalb war Besitz eine Voraussetzung, um diese Berufe zu wählen. Garantierte er eine gewisse Unabhängigkeit, so führte die Abhängigkeit von der Klientel sicherlich auch zu politischen Kompromissen. D eshalb orientierten sie sich politisch in mehrere Richtun­ gen. Unter den Wählern der konstitutionellen Royalisten und der Liberalen waren sie nahezu gleich stark vertreten, jedoch wählten alle freiberuflich Tätigen im Departement Seine-et-Oise liberal, während in Angoulême sich ein Drittel und im Jura 40% zu diesem Engagement entschlossen. Insgesamt läßt sich schlußfolgern, daß die liberalen Wähler in ihrer Mehrheit zwar Besitzer wie die der anderen Parteiungen waren, unter ihnen wirtschaftlich Tätige aber überrepräsentiert, freie Berufe in ähnlichen Anteilen wie unter den konstitutionellen Royalisten vertreten waren. Wie schon in der französischen Revolution fehlten auch in der Restaura­ tion unter den Liberalen die Adeligen nicht. 8,8% der liberalen Wähler in Angoulême, aber nur 1,7% in den Collèges d'arrondissements des Departe­ ments Var waren adelig, d. h. gehörten dem alten Schwert- oder Amtsadel, dem napolconischen Adel an oder schmückten ihren Namen mit dem »de«, das die Zugehörigkeit zum Adel demonstrieren sollte. D ie Mehrheit der Adeligen votierte jedoch für die Ultras. Immer zwei Drittel, sogar teilweise vier Fünftel von ihnen fanden bei jener politischen Parteiung ihre politische Heimat, die sich für ihre politischen und materiellen Ansprüche nachhaltig einsetzte und das Loblied auf eine Gesellschaft anstimmte, in der der erste und zweite Stand die Vorherrschaft besaßen.18 In zahlreichen D epartements lag der Anteil der Adeligen unter den konstitutionellen Royalisten über dem der Liberalen, so daß in der jeweiligen Präsenz von Mitgliedern der noblesse ein Unterscheidungsmerkmal zwischen den Parteiungen gesehen werden kann. In den berücksichtigten D epartements prägte mithin die Besitzergesell­ schaft nachrevolutionärer Herkunft den Liberalismus. Dieser war eine Ideo­ logie der Bewahrung des Bestehenden. Fand er auch stärker als die anderen politischen Lager Unterstützung unter den wirtschaftlich Aktiven, so konn­ ten diese nicht mit den Landbesitzern und -rentiers in seinen Reihen konkur­ rieren. D ieses Bild kontrastiert deutlich mit dem städtischen Liberalismus, 289 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

wie er etwa in der Arbeit von Adeline Daumard über Paris deutlich wird. 19 In Paris dominierten nämlich nicht die Besitzer, sondern die in Industrie, Handel, Banken und Kanzleien Tätigen die Wahlkörper der Restaurations­ zeit. Angesichts der Vorherrschaft, die nach den Forschungen von Louis Bergeron Paris im Kaiserreich in handeis- und finanzpolitischer Hinsicht gewonnen hatte, sind die Ergebnisse von Adeline Daumard in ihrer Bedeu­ tung nicht überzubewerten.20 D ie freilich lückenhaften Angaben aus den Provinzdepartements könnten als Korrektiv zu einer auf Paris zentrierten Sichtweite gelten und die Prägekraft kleinstädtischer und ländlicher Verhält­ nisse stärker zur Geltung bringen. Wie bereits mehrfach erwähnt, war der Liberalismus in der Restaurations­ zeit mehrheitlich eine von Besitzern getragene Bewegung und Ideologie. Damit gingen bestimmte Interessen dieser sozialen Gruppe in den Liberalis­ mus ein. Aufgrund seiner sozialökonomischen Stellung war der Besitzer weniger an einer dynamischen Entwicklung als an Stabilität interessiert. Nicht hektisches Börsenspiel oder rastlose Profitjagd, sondern Genuß des Ersparten und Erworbenen, nicht agronomische Neuerungen, sondern das gesicherte Leben vom Ertrag des verpachteten oder von einem »régisseur« verwalteten Landbesitzes war die Maxime der Besitzer. In diesen Kreisen war die Verteidigung der revolutionär veränderten Eigentumsordnung, die Unantastbarkeit der als Nationalgüter verkauften Besitztümer der Kirche und des Adels, eine Existenzvoraussetzung. Alle Restitutionsgelüste, die in den adeligen Kreisen nach 1815 laut wurden, mußten unter den »propriétai­ res« auf Mißtrauen und Protest stoßen.21 Schließlich war unter den auf den Ertrag von Land- und Immobilienbesitz setzenden Bürgern die Angst vor sozialen Bewegungen, die Besitzverhältnisse in Frage stellen könnten, groß. Die Erfahrungen der französischen Revolution hatten die gefährlichen Wei­ terungen von Hungerrevolution und Lohnstreiks aufgewiesen. Wahrung des Bestehenden gegen seine Gegner war der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich sowohl ultraroyalistische Adelige als auch liberale Honoratioren aus bürgerlichen Kreisen verständigen konnten. Aber die soziale Frage hatte in der Restaurationszeit noch keineswegs eine gefährliche D ynamik ange­ nommen, so daß der liberale Optimismus, die soziale ebenso wie die konsti­ tutionelle Frage im bürgerlichen Sinne lösen zu können, ungebrochen war. 22 Diese D ispositionen unter Besitzern beeinflußten auch die Politik der liberalen Parteiung in der Restaurationszeit und machte die sozialdefensiven Interpretationen des Liberalismus im Vergleich zu den sozialoffensiven stark.23 D ie sozialdefensive Haltung war dadurch gekennzeichnet, daß sie einerseits entschieden abrückte von allen liberalen Versuchen, etwa über den Armeekult, Sammlungen oder die Verbindung zu Verschwörern nach 1820 außerhalb des zensitären Bereichs Unterstützung zu gewinnen, andererseits die Gleichberechtigung der verschiedenen Interessen in der Gesellschaft bestätigte und keineswegs einem Primat der Industrie oder des Handels das 290 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Wort redete. So schrieb etwa am 9. Juli 1826 das liberale Organ Le Constitu­ tionnel über das Verhältnis von Grundbesitz und Industrie: »D e nos jours, les deux richesses marchent de front«. Veränderungen in der legalen und gesellschaftlichen Ordnung sollten im Zuge von Reformen und durch inter­ ne Mechanismen der bürgerlichen Gesellschaft erfolgen. D ie Ausweitung des Wahlrechts nach 183Ü gehörte in die erste, der berühmte Ausruf von François Guizot »Enrichissez-vous« in die zweite Kategorie. Mit diesen Konzeptionen setzten sich die mehrheitlich sozialdefensiven Liberalen der Restauration, die 1830 Revolutionäre gegen ihren Willen und auch nur für wenige Tage wurden, ab von den Ideen Saint-Simons, der die Vorherrschaft der industriellen und kommerziellen Tätigkeit in der Gesellschaft prokla­ miert hatte wie auch von Jacques Laffitte, dem eine kapitalistische Neuerung und Revolution in Frankreich vor Augen schwebte.24 Der Liberalismus war in den Vorstellungshorizont der Besitzergesellschaft eingeschlossen, auf Wahrung des Bestehenden, nicht eine Veränderung konzentriert, ohne poli­ tische Mobilisierungskraft und Utopien. D ie zaghafte Industrialisierung Frankreichs nach 1830, das Festhalten an dem cordon sanitaire des Zensus­ wahlrechts und die Unfähigkeit des Regimes, über den Napoleonkult hinaus Werte und Ziele zu entwickeln, die Korruption und Stillstand, Wirtschafts­ krise und soziales Elend vergessen ließen, all diese Tendenzen waren in dem Liberalismus der Restaurationszeit bereits angelegt. D ieser hatte freilich offensive Züge vor allem nach 1824 annehmen müssen, um Grundfreiheiten der bürgerlichen Gesellschaft gegen die restriktive Regierungspolitik von Villèle verteidigen zu müssen. Aber dieser Offensivgeist blieb auf den legalen und parlamentarischen Bereich begrenzt und berührte den Grund­ konsensus mit den Besitzern nicht, unter denen die Liberalen Unterstützung fanden. Die Wahllisten gewährten überdies Einblick in die Struktur der politi­ schen Eliten in Frankreich und in Besonderheiten des Bürgertums. In der Dominanz des Grundbesitzes, der diesem nachgeordneten Bedeutung wirt­ schaftlicher Berufe kamen die Wähler den Notabeln des Kaiserreiches und den Notabeln sowie Generalräten der 1840er Jahre näher als den Abgeordne­ ten der 2. Republik.25 Wenn auch die Ernennung von Casimir Périer zum ersten Regierungschef des Bürgerkönigtums einen deutlichen Wechsel der Führungsmannschaften demonstrierte und den Anspruch der Bankiers und Fabrikanten, Überseekaufleuten und Verlegern auf Teilhabe an der politi­ schen Macht anmeldete,26 so vollzogen sich die Wandlungen in der Wähler­ schaft und unter den durch sozialen Einfluß sowie substantiellen Besitz ausgewiesenen Honoratioren langsamer. Unter diesen blieb das Grundei­ gentum stärker als der Profit, die Rente mehr als die Aktie die Basis von Einfluß und Herrschaftspositionen. Freilich deutete die soziale Zusammen­ setzung der Assemblée nationale Constituante des Jahres 1848, in der freie Berufe und Besitzer etwa gleichgewichtig vertreten waren, gefolgt von den gleich starken wirtschaftlich Tätigen und Beamten, bereits auf die Ver291 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Sammlungen der D ritten Republik hin und manifestierte den politischen Gewichtsverlust der landbesitzenden Notabein. Aber noch im Zweiten Empire konnten diese ihre Revanche nehmen und im und außerhalb des Parlaments ihre Unabhängigkeit und ihre Verfügung über eine lokale Klien­ tel demonstrieren.27 Sowohl unter den Abgeordneten als auch unter den Wählern der Restaura­ tionszeit blieben die wirtschaftlich und freien Berufe in der Minderheit und prägten die Besitzer das Gesicht und die Entscheidungen der parlamentari­ schen oder Wahlversammlungen. D ie politische Macht ging mehrheitlich von ihnen, nicht von den Wirtschafts- oder Bildungsbürgern aus. Das Bürgertum als gesellschaftliche Klasse mit eigenständiger Ideologie und Praxis hob sich mithin noch nicht deutlich aus der Honoratiorengesell­ schaft ab. D ie Dynamik der kapitalistischen Akkumulation, die Jagd nach dem Profit, die Priorität des Talents hatten die prägende Kraft der Rente, deren Besitz auch die großen Bankiers und Fabrikanten anstrebten, die Beharrungskraft der lokalen, auf Grundbesitz fußenden Positionen und die Schwerkraft eines mit den Rhythmen der Agrarproduktion, der Stabilität ländlicher Besitzverhältnisse verbundenen Gesellschaftssystems noch nicht nachhaltig erschüttert, geschweige denn verdrängen können.28 Darin deutet sich in der Restaurationszeit eine Spaltung im Bürgertum an, die wenn auch mit abnehmender Stärke das 19. Jahrhundert hindurch fortbestehen wird. Nicht der Unterschied zwischen Wirtschafts- und Bildungsbürgertum, son­ dern die Differenz von grundbesitzendem Rentenbürgertum, dem sich zahl­ reiche freie Berufe und wirtschaftliche Tätigkeiten anschlossen und dem kapitalistischen Wirtschaftsbürgertum scheint strukturprägender zu sein. Das Bürgertum der Restaurationszeit war politisch nicht homogen. Ebenso wie unter den Abgeordneten fanden sich unter den Wählern der Regierung oder der Ultraroyalisten Kaufleute und Advokaten, Bankiers und Fabrikanten. D ieser Befund erstaunt nicht, denn schon in der französi­ schen Revolution trennten Interessen und politische Erfahrung das Bürger­ tum. D ie Konflikte zwischen den Schutzzöllnern und Freihändlern, zwi­ schen den Freidenkern und Katholiken, zwischen den von revolutionären Aufständen Getroffenen und den Geschonten, zwischen denjenigen, die mit sozialökonomischen Entwicklungsständen und Institutionen des Ancien Régimes verbunden waren und jenen, die in der Revolution ihren Besitz erworben oder arrondiert hatten, all diese Konfliktlinien brachen in der Restauration auf und führten zu politischen D ifferenzen im bürgerlichen Lager.29 Erstaunlich ist die Streubreite bürgerlichen Engagements gleich­ wohl in der Konjunktur des Jahres 1820. D enn die Gesetze der Regierung schränkten - wie bereits erwähnt - nicht nur die persönliche und Pressefrei­ heit ein, mithin zwei essentielle bürgerliche Rechte, sondern modifizierten durch das »loi du double vote« das Wahlrecht derart, daß sie - wie der Liberale Charles de Rémusat treffend bemerkte - die neu geschaffenen Wahlkörper zu »Zitadellen der Aristokratie« machten.30 Obwohl in dieser 292 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Situation wichtige Errungenschaften der französischen Revolution einge­ schränkt wurden, kam es nicht zu einer gemeinsamen Haltung des Bürger­ tums gegenüber einer Regierung, die sich in der Staatsverwaltung immer mehr auf Adelige stützte. Offensichtlich war das Versprechen der Stabilität, der inneren Ruhe und die Privilegierung der grundbesitzenden Notabein für Teile des Besitz- und Wirtschaftsbürgertums attraktiver als die Wirkung liberaler Freiheits- und Teilhaberrechte. Schließlich erklärt die Vorherrschaft der Grundbesitzer in den Wahlkör­ pern auch, daß sich genuin bürgerliche Werte in der Restaurationszeit noch nicht voll durchgesetzt hatten. Freilich stand sie in der Nachfolge der revolu­ tionären Wertveränderung, die den Verdienst an die Stelle der Geburt, den Besitz an die des Titels, die Tätigkeit - »l'industrie« - an die des Status gesetzt hat. D iese Tradition ist deutlich und wird nach 1815 auch nicht aufgekündigt. Gegenüber allen konterrevolutionären Versuchen, die Joseph de Maistre, Louis de Bonald und kleinere Geister anstellten, um die revolu­ tionär-bürgerlichen Prinzipien zurückzudrängen und zu ersetzen,31 erhob sich heftiger Widerstand unter den Liberalen und unter Bürgern. Wenn aber die Rechtfertigung des Bürgertums sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts von dem »otium« zum »negotium« fortbewegte, so stand das Bürgertum der Restaurationszeit mitten in der Entwicklung.32 Kritisierte sie auch den Müßiggang des Adels, seine Prätention, ohne Tätigkeiten adelig zu leben, so war andererseits die Praxis der Kaufleute und Fabrikanten, die sich nach einem mehr oder minder langen Geschäftsleben zurückzogen, ihr Geld in Ländereien oder Staatsrenten anlegten, und die sich dem »loisir« hingaben, nicht weit von dem aristokratischen Vorbild entfernt. D er Begriff des »pro­ priétaire«, der im Kaiserreich den des »Bourgeois« in manchen Gegenden Frankreichs ersetzt hatte, ließ gleichwohl immer das mitschwingen, was das Charakteristikum des »Bourgeois« im Ancien Régime ausgemacht hatte: ohne Arbeit gut und gesittet leben zu können. Sowohl in der teilweise expliziten, teilweise impliziten Übernahme der adeligen Maxime, »vivre noblement«, die sich auch in dem Kauf und Besitz von vormals adeligen Schlössern durch Bürger ausdrückte, als auch in der Anknüpfung an die Lebensweise der »Bourgeois« vor 1789 zeigte sich die Wirkungskraft von gesellschaftlichen Normen, die einer Apologie von Industrie, Handel und produktiver Landwirtschaft entgegenstanden. D ie Gegenüberstellung von parasitär und aktiv, die zum bürgerlich-liberalen Selbstverständnis gehörte und auch in die Schlagworte der Republikaner und Sozialisten einging, stieß sich in dem Bürgertum der Restaurationszeit an einer gesellschaftlichen Praxis, die gerade Inaktivität als Ziel der Karrieren ansah und aristokrati­ schen Modellen nahestand. Es ist deshalb nicht erstaunlich, daß der vehemente Fürsprecher bürger­ lich-industrieller Werte, der Frühsozialist Henri de Saint-Simon, unter Bür­ gern nur wenig Anhänger und Unterstützung fand. Er hatte bekanntlich dem Verlust von dreitausend Handwerkern, Industriellen, Bankiers, Wis293 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

senschaftlern und Künstlern den Tod der Mitglieder der königlichen Familie, der Beamten, Marschälen und der Besitzer, die von der Arbeit ihrer Pächter lebten, gegenübergestellt - den ersten als nationales Unglück, den zweiten als sehr wohl zu verschmerzen. Zwei Jahre vor der Veröffentlichung dieser Parabel, die sich deutlich gegen die Besitzereigenschaften richtete, hatte er bereits für den Ausschluß der Parasiten vom politischen Leben plädiert. Sein Loblied auf Arbeit, Industrie und Initiative, seine Kritik an Rentnerdasein, Beamtenpfründen und Stagnation fand jedoch keineswegs Unterstützung in den Kreisen der Industriellen und Kaufleute. D ie Mitglieder der Pariser Hochfinanz, die die Publikation von Saint-Simon finanziell unterstützt hat­ ten, distanzierten sich - mit Ausnahme von Laffitte und Ternaux - von diesen Thesen und stellten ihre Zahlungen ein. 33 Eine Rechtfertigung des Bürger­ tums durch die Aktivität und durch die Verurteilung der Inaktivität ging offensichtlich an den gesellschaftlichen Existenzbedingungen und Lebens­ perspektiven zahlreicher Bürger vorbei, die gerade ein Leben ohne Arbeit und mit Muße anpeilten.

Anmerkungen 1 Zit. in P. Lévêque, Une société provinciale sous la Monarchie de Juillet, Paris 1983, S. 470. 2 H. G. Haupt, Nationalismus und D emokratie. Zur Geschichte der Bourgeoisie im Frank­ reich der Restauration, Frankfurt 1974, S. 124ff.; zu Guizot: D . Johnson, Guizot. Aspects of French History, 1787-1874, London 1963; zu Constant: L. Gall, Benjamin Constant. Seine politische Ideenwelt und der D eutsche Vormärz, Wiesbaden 1963. 3 P. Guiral, Le libéralisme en France (1815—1870), in: G. Michaud (Hg.), Tendances politiques dans la vie française depuis 1789, Paris 1960, S. 1 7 - 4 1 . Trotz der jüngsten Veröffentlichung von zwei Monographien fehlt in Frankreich eine der deutschen Liberalismus-Forschung an Qualität und Umfang ähnliche D iskussion. L. Girard, Les libéraux français, 1814-1875, Paris 1985. 4 M. Soutadé-Rouger, Les notables en France sous la Restauration, in: RHES 38, 1960, S. 98—110; vor allem P. Higonmet, La composition de la Chambre des Députés de 1827 à 1831, in: ReH 239, 1968, S. 3 5 1 - 3 7 9 . 5 Archives nationales (= AN), Paris: F 1 c III Lot-et-Garonne 4, 24. 6. 1820; F 1 c III Jura 4, 12. 9. 1820; F 1 c III Seine-et-Oise 6, 27. 2. 1821; F 1 c III Charente 5, o. D.; F 1 c III Var 4, o. D. 6 Haupt, S. 112ff. 7 S. G. Bertier de Sauvigny, La Restauration, Paris 19632, passim. 8 P. Meuriot, La population et les lois électorales en France de 1789 à nos jours, Paris-Nany 1916; A . J . Tudesq, Les listes électorales de la monarchie censitaire, in: Annales E. S. C. 13, 1958, S. 2 7 7 - 2 8 8 . 9 F 1 c III Jura 4. 10 Siehe etwa D . Woronoff, L'industrie sidérurgique en France pendant la révolution et l'empire, Paris 1984. 11 Siehe AN C 1277, Jacques Laffitte bezahlte von 7450, 70 Francs Steuern allein 3564, 15 Franc Grundsteuer. C 1264, Jean-Louis Boigue bezahlte von einer Steuersumme von 9937,62 Francs 71 37,71 Francs für seine Ländereien. Eine Ausnahme von dem bürgerlichen Landhunger bildete das Elsaß; siehe E. Juillard, Indifference de la bourgeoisie alsaciennc à l'égard de la propriété rurale aux XVIIIe et XIXe siècles, in: La Bourgeoisie alsacienne. Etudes d'histoire sociale, Straßburg 1954, S. 3 7 7 - 3 8 6 .

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12 Μ. Perronnet, Bourgois et bourgeoisie d'après les textes contemporains, in: M. Vovelle (Hg.), Bourgoisie de province et Révolution, Grenoble 1987, S. 13 — 26. 13 AN F 1 c III Lot-et-Garonne 4. 14 Zum unterschiedlichen Entwicklungsstand der Wirtschaft in der Restaurationszeit s. jetzt die Beiträge in: Κ Braudel u. E. Labrousse (Hg.), Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich im Zeitalter der Industrialisierung, 1789—1880, Frankfurt 1986, Bd. I, dort vor allem die Beiträge von M. Lévy-Leboyer, A. Broder u. P. Léon. 15 Siehe die Vorbemerkung in M. Vovelle (Hg.), die auf die breite Diskussion eingeht. 16 H. de Balzac, Condition humaine. 17 A.J. Tudesq, Les grands notables en France, 1840-1849. 2 Bde., Paris 1964, Bd. I, S. 110, 371; Levêque, S. 529; Ρ. Μ. Γ. Higonnet, Class, corruption and politics in the French Chamber of Deputies, 1846-1848, in: FHS 1967, S. 204-224. 18 Siehe J. J. Oechslin, Le mouvement ultraroyaliste sous la Restauration, Paris 1960. 19 A. Daumard, La bourgeoisie parisienne de 1815 à 1848, Paris 1963. 20 L. Bergeron, Banquiers, négociants et manufacturiers parisiens du Directoire à l'Empire, Paris 1978, S.318f. 21 Haupt, S. 88ff. 22 J . Lhomme, La grande bourgeoisie au pouvoir, Paris 1960; L. Chevalier, Classes laborieu­ ses et classes dangereuses à Paris pendant la première moitié du XIXe siècle, Paris 1958. 23 Haupt, S. 124ff. 24 Η. de Saint-Simon, Textes choisis, hg. v. J. Dautry, Paris 1951, S. 108 ff. 25 Tudesq, Grands notables; s. a. L. Girard u. a., La chambre des deputes en 1837-1839, Paris 1976. Zu 1848: Μ. Agulhon, 1848 ou l'apprentissage de la République, Paris 1973. 26 G. Chaussinand-Nogaret, Une histoire des elites, 1700—1848, Paris 1975. 27 A. Plessis, De la fete imperiale au mur des fédérés, 1852-1872, Paris 1973. 28 Haupt, S. 43ff. 29 R. Magraw, France 1815-1914. The Bourgeois Century, London 1983, S. 78ff. 30 C. de Rémusat, Mémoires de ma vie, hg. v. C. Pouthas, 5 Bde. Paris 1958-1967, II, S. 205. 31 N. E. Hudson, Ultra Royalism and the French Restoration, Cambridge 1936; s. auch R. Rémond, La droite en France de la Premiere Restauration à la Ve République, Paris 1963. 32 D iese Entwicklung betonte für das Ende des 18. Jahrhunderts M. Agulhon, Le vie sociale en Provence intérieure au lendemain de la revolution française, Paris 1971. 33 Journal des Débats, 4. 10. 1817; zur Kritik an Saint-Simon: Minerve I, 241 f.; Le Constitu­ tionnel, 24. 6. 1817; sowie B. Constant in: Journal du Commerce, 6. 12. 1825.

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PIERRE

AYÇOBERRY

Freihandelsbewegungen in Deutschland und Frankreich in den 1840er und 1850er Jahren Einer schematischen D eutung der europäischen Sozialgeschichte gemäß wären sowohl Entfaltung der individuellen Initiative als auch Erweiterung des Marktes, d. h. Wirtschaftsliberalismus und Freihandel, zwei untrennbare Merkmale der großbürgerlichen Forderungen und Eroberungen. Hier soll der Gesamtkomplex der Beziehungen zwischen Staatsbürokratie und Privat­ unternehmertum außer acht bleiben, zwecks einer Untersuchung der zollpo­ litischen D iskussion, insbesondere deren freihändlerischen Komponente, deren Triebkräfte weniger ›liberalc‹ Wirtschaftstheorie als branchenspezifi­ sche Interessen bzw. Beamtensachlichkeit waren. Tatsächlich wurde Freihan­ del nur von den Gegnern mit Liberalismus verwechselt. Für die französischen Verhältnisse der 40er und 50er Jahre erscheint V. Hentschels Urteil ebenso zutreffend wie für das zeitgenössische D eutschland: »D ie Freihandelspartei wird durch ihr verzerrtes Spiegelbild vertreten: die Manchesterschule«.1 Erst durch eine Analyse der Strukturmerkmale und Erfolgschancen der beidersei­ tigen Offensiven wird die von vornherein überraschende Feststellung ver­ ständlich, daß die Handelsverträge von 1860 (England/Frankreich) und 1862 (Zollverein/Frankreich) von zwei autoritären Regierungen ihrer zurückhal­ tenden öffentlichen Meinung aufgezwungen wurden. Daß die Zollfrage in der politischen D ebatte der 40er und 50er Jahre eine Hauptrolle spielte, erklärt sich aus folgenden Gründen. (1) In der Phase der Frühindustrialisierung fühlten sich sehr wenige Unter­ nehmer im Stande, sich gegen die englische Konkurrenz (Einfuhr von Halbfertig- und Fertigwaren) durchzusetzen. Beiderseits wurde stets an die Überschwemmung des Binnenmarktes durch englische Waren in den Jahren 1814—1815 erinnert und der Bankrott vieler im Zeitalter der Kontinentalsper­ re gegründeten Unternehmen als Schreckgespenst den Freihändlern entge­ gengehalten, die als »Manchestertümler« und Englandschwärmer gebrand­ markt wurden. (2) Zwar schien der niedrige Anteil des Außenhandels am Sozialprodukt keine heftige Diskussion zu rechtfertigen: im Zollverein blieb er bis in die 50er Jahre unter der 10% Grenze, in Frankreich war er sogar »keine Triebkraft des wirtschaftlichen Aufschwungs«. Nur in einigen, allerdings strategischen Sektoren war dieser Anteil hoch genug, um die Furcht vor einer wiederholten 296 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Überschwemmung oder die Hoffnung auf einen unendlichen Aufschwung zu erwecken. So betrugen im Zollverein die Getreideein- und -ausfuhren 10% des Binnenmarktes, Textilgarneinfuhren 30% bis 50%, Gewebeaus­ fuhren 30%, Roheiseneinfuhren bis 40 und sogar 50% in den 50er Jahren. In Frankreich betrug dieser Anteil 10 bis 20% der inländischen Konsumtion an landwirtschaftlichen Erzeugnissen, mit starken konjunkturbedingten Schwankungen. (Genaue Statistiken über den industriellen Sektor fehlen, oder sind wegen des Einfuhrverbots von Baumwollen- und Seidenwaren und des 100% Zollsatzes auf Roheisen belanglos.)2 Deshalb wurde über die Zollfrage meistens nur von sektoralen Gesichtspunkten diskutiert, während der Rekurs auf das allgemeine Wohl den Professoren und Beamten überlas­ sen blieb. (3) An den Zollabgaben waren die Staatsbehörden primär aus finanziellen Gründen interessiert. Z. B. kassierte der preußische Fiskus im Jahre 1850 etwa 13% der gesamten Einnahmen aus den Zollämtern; in Frankreich deckten diese 1840-45 18%, 1860 freilich nur noch 10% des Staatshaushal­ tes. 3 In der Debatte über Abschaffung oder Verminderung dieser Abgaben wurde also stets auf das Beispiel Englands hingewiesen, wo eine Erhöhung der Einkommensteuer als Ausgleich der aufgehobenen Getreidezölle ange­ kündigt werden mußte. Als Ergebnis dieser Vorbemerkungen ist festzustellen, daß der Kampf fin­ den Freihandel bald von eigennützigen Interessengruppen, bald von Theo­ retikern, bald von Staatsbeamten getragen wurde, deren Ziele und Beweis­ führung nicht immer übereinstimmten. D eshalb werden im folgenden Bei­ trag diese drei Schichten zuerst abgesondert und danach im Rahmen ihres unsicheren Bündnisses beobachtet. Interessengruppen. In Frankreich bestand die Freihandelspartei seit dem ersten Kaiserreich (und vielleicht noch früher: s. Eden-Vertrag von 1786!) aus vier Gruppen: a) Kaufleute, Reeder und »marchands-banquiers« der größten Seehäfen (Boulogne, Nantes, Bordeaux, Marseille) und der inneren Umschlagsplätze (Lyon, Paris); indessen hielten diese Erben des ›Pactccolonial‹an verschiede­ nen Sonderrechten wie Schiffahrtsmonopol, D iffenzialzöllen, Begünsti­ gung des Rohrzuckers, fest. b) Exportorientierte Landwirte, insbesondere Weinproduzenten in Languedoc, Bourgogne, und (wiederum!) Bordelais, die sich aber nicht scheuten für eine Erhöhung der Zollabgabe auf Tee zu plädieren. c) Exportorientierte Industrielle in Lyon (Seidenweberei), Saint-Etienne (Bandweberei), Paris (sog. Pariserartikel), und Mühlhausen (Baumwol­ lendruckerei), die um so leichter »weltoffen« handelten als die Rohstoffe ganz (Baumwolle) oder in immer größeren Mengen (Seide) aus dem Auslan­ de kamen und ihnen die Zollabgaben auf Halbfertigwaren beim Export rückvergütet wurden. 297 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

d) Zuletzt, in der zweiten Hälfte der 40er Jahre, Eisenbahngründer, die sich gegen die übertriebenen Preisforderungen und die ungenügende Pro­ duktion der einheimischen Eisenindustrie auflehnten. Trotz der letztgenannten einflußreichen Verstärkung konnten diese Grup­ pen im Rahmen der zuständigen offiziellen Einrichtungen nur vereinzelte Vertreter beeinflussen: Im Conseil général du Commerce wie im Conseil général des Manufactures saßen 1841 nur drei ausgesprochene Freihändler gegenüber einer schutzzöllnerischen Mehrheit von ca. 50 Mitgliedern. Auch unter den Bankiers des Conseil de la Banque de France (sog. Regenten) blieb das Verhältnis 3 zu 12. Über den Handelsvertrag mit Belgien sprachen sich 1842 nur 16 Conseils généraux de départements (darunter 14 aus weinbauen­ den Gegenden) günstig aus, und nur 8 Handelskammern (13 waren dagegen, 22 unentschieden).4 Auf deutscher Seite wurde die Freihandeisbewegung fast nur von Groß­ kaufleuten der Ostseehäfen und ostelbischen Großgrundbesitzern getragen, die den Getreideausfuhr- und Roheiseneinfuhrhandel mit England be­ herrschten. In diesen Kreisen war eine gewisse Übereinstimmung zwischen Zoll- und politischem Liberalismus feststellbar. Im Bereich der Nordsee­ Hafenstädte waren die anglisierenden Hamburger Kaufleute derselben Mei­ nung; hingegen stand bei den Bremer Reedern die Forderung nach D ifferen­ zialzöllen einem festen Bündnis mit den Kollegen im Wege. Hinzu kam, daß die Hansestädte noch dem Zollverein fernblieben. Sonst waren fast nur die Anhänger der Schutzpartei laut, die sich stets über die »niedrigen« Zollsätze auf Eisen, Garn und Gewebe beklagten. So beruhte der Meinungsstreit weder auf entgegengesetzten Prinzipien noch auf unbeschränkten Forderun­ gen (z. B. nach Einfuhrverbot bzw. Freihandel nach englischer Art), son­ dern auf abweichender Würdigung des preußischen Zollgesetzes von 1818. Aus der berühmtenm Pressefehde, die 1842 in der »Kölnischen Zeitung« ausgetragen wurde, wird offensichtlich, daß der angeblich liberale L. Camp­ hausen Ausfuhrprämien beanspruchte, während der angeblich schutzzöllne­ rische G. Mevissen tatsächlich keine prohibitive, sondern nur »erzieheri­ sche« Zollsätze forderte.5 Theoretiker. Obwohl die Freihandelspartei manchmal behauptete, auf libera­ le Lehren Bezug zu nehmen, muß man die Frage der Rezeption der Vorle­ sungen und Schriften der Theoretiker sehr vorsichtig behandeln. Französi­ scherseits kann von einer einheitlichen und einflußreichen Manchesterschule keine Rede sein. Freihändlerische Professoren und Journalisten der 40er Jahre vertraten nämlich zwei grundverschiedene Richtungen. Als Saint­ Simonist distanzierte sich Michel Chevalier ausdrücklich von den »D oktri­ nären«, und schlug eine stufenweise Abbröckelung der Zollmauer vor. Echt liberal dagegen waren Bastiat, D unoyer, Ad. Blanqui u. a., die alle Zollab­ gaben als »unnatürlich« zwar verwarfen, aber nicht als das Hauptziel ihres Generalangriffs gegen die »Monopolherren« betrachteten. Hinzu kam eine 298 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

gewisse soziale Absonderung dieser Professoren, die lange nicht salonfähig werden konnten, weil sie entweder aus dem Ausland (Italien, Polen) oder aus sozial niedrigen Familien stammten. z. Β. konnte Ad. Blanqui durch Abendvorlesungen in der Pariser Handelsschule und im »Conservatoire« zahlreiche jüngere Kaufleute, Facharbeiter und Handwerker von der Kon­ kurrenzfähigkeit, ja Überlegenheit der Kleinbetriebe (ganz im Sinne J . B. Says) überzeugen; indessen ignorierten ihn die vornehmen Jurastuden­ ten, die nicht einmal daran dachten, »vom Quartier Latin (Sorbonne) über die Seine bis zum rechten Ufer (Conservatoire) herüberzukommen«. D aß auf dem linken Ufer der Lehrstuhl für Wirtschaftslehre nur im damals bescheidenen »College de France« seinen Platz fand, hat auch dazu beigetra­ gen, den Einfluß der Liberalen auf die akademische Jugend zu vermindern. Allerdings standen ihnen einige der angesehensten Zeitungen und Zeit­ schriften (»Jornal des Débats«, »Revue des Deux Mondes« . . .) zur Verfü­ gung. 6 Merkwürdigerweise stammten auch die Haupttheoretiker des Freiheits­ systems in D eutschland, J . Prince-Smith und J . Faucher, aus dem Ausland, was sie den Angriffen, nicht nur der »nationalen« Schule, sondern auch ihrer empirisch gestimmten Kampfgefährten aussetzte, die sie gern als abstrakte Schwärmer abstempelten. Im Gegensatz zu Frankreich wurde aber hier auch an den Universitäten über Wirtschaftsichre vorgelesen, z. Β. in Königsberg und Göttingen, wo liberale Professoren den Nachwuchs der preußischen Staatsbeamtenschaft beeinflussen konnten. Staatsbeamten. Von einem Beamtenliberalismus in Frankreich kann ebenso­ wenig auf diesem Gebiet wie im Politischen eine Rede sein. So lange die hohen Beamten des Conseil d'Etat und der Zentralverwaltungen nur nach persönlicher Empfehlung von den Ministern ausgewählt wurden, konnten sich Standesbewußtsein und einheitliches Verhalten schwer entwickeln. Daß sie während der Julimonarchie die erfolglosen Zollgesetzvorlagen, die sehr vorsichtig eine Verminderung der Einfuhrverbote vorschlugen, in ihrer doppelten Rolle als Beamten und regierungsfreundliche Abgeordneten un­ terstützten, läßt keinen Schluß über ihre persönliche Gesinnung zu. Auch innerhalb der Zollverwaltung herrschte keine Übereinstimmung. Während der Restaurationszeit (1816—1830) mußte der freihändlerisch denkende Di­ rektor Saint-Cricq eine schutzzöllnerische Gesetzgebung vorbereiten und vollstrecken; in der Begründung zur Zollgesetzvorlage von 1816 gestand er gelassen, man müsse sich dem öffentlichen Wunsch beugen, »bis Zeit und Fortschritt eines täglich aufgeklärteren Publikums eine Lösung dieser höchstbedeutenden Frage erlauben«. D reißig Jahre lang (1830—1860) konn­ te sein Nachfolger Gréterin sein Amt im Einklang mit seinen und seines Schirmherren Thiers schutzzöllnerischen Ideen ausüben, bis er, von der Vorverhandlung zum Cobden-Vertrag ausgeschlossen, sich pensionieren lassen mußte. Trotzdem läßt der gegenwärtige Stand der Forschung eine 299 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

gewisse Kontinuität von Saint-Cricq bis Rouher vermuten: Hinter der Kulisse war mancher Beamte der fortdauernden Forderungen der Schutzpar­ tei überdrüssig und betrachtete die Zollpolitik weniger doktrinär denn als Mittel zum Zweck des wirtschaftlichen Wachstums.7 Ihrerseits standen die preußischen Staatsbeamten, als über allen Privatin­ teressen erhabene Diener des allgemeinen Wohles, fast geschlossen im Lager eines »juste milieu«-Zolliberalismus, wie er in dem Gesetz von 1818 sichtbar geworden war. Bald verteidigten sie den hohen Zollsatz auf Stabeisen zum Schutze der einheimischen Schienenindustrie, bald widersetzten sie sich einer Erhöhung der Leinengarnzölle, die die Leinenhandweber hart treffen würde. Nur über die heikle Frage der Differenzialzölle, die einen Aufschwung der deutschen Schiffahrt begünstigen sollte, war die Bürokratie uneinig. Es wäre also übertrieben, von einem Bündnis von Beamtentum und Großgrundbesitz zu sprechen.8 Freihandelsvereine 1846—1851. Aus diesen Kräfteverhältnissen entstanden im Jahre 1846 zwei auffallend ähnliche Bewegungen: der »Freihandelsverein« in Stettin, Berlin, usw., und die »Association centrale pour la Liberté des échanges« in Bordeaux, Lyon, Le Hâvre, Paris, usw. Nach dem Vorbild der Cobdenschen Free-Trade-Bewegung wurden auf beiden Seiten Versamm­ lungen gehalten, um ein gemäßigtes Programm bekannt zu machen: hier Wiedereinführung der Zollsätze von 1818; dort Abschaffung der Einfuhrver­ bote, der gleitenden Skala für Getreide, und der Einfuhrzölle auf Kohle und Eisen. Hauptstädte der Bewegung waren Stettin und Bordeaux. In Berlin war der Erfolg so begrenzt, daß man nicht einmal im Stande war, einen besoldeten Schriftführer anzuwerben. In Paris vereinigten sich einige Mitglieder der Kaufmannschaft mit den Journalisten (Bastiat) und Professoren (Chevalier). Den Schutzzöllnern war dies eine Zumutung, die zur Gründung zwei (zufäl­ lig?) gleichnamiger Vereine »zum Schutze der nationalen Arbeit« führte. Dagegen verhielten sich beide Vereine im Wirbel der Ereignisse von 1848 sehr unterschiedlich. D ie Führer der französischen Association verschwan­ den in die Reihen des konservativen Lagers und benutzten die neuen Wer­ bungsmöglichkeiten sehr wenig. Erst Anfang 1851 wurde in der National­ versammlung über die Zollfrage verhandelt, wobei eine Zwei-Drittel-Mehr­ heit das gemäßigte Programm von 1846 ablehnte. D agegen versuchte der deutsche Verein Ende 1848 das neu eingeführte Petitionsrecht auszunutzen, um der Unterschriftenkampagne der Schutzzöllner standzuhalten. Insgesamt konnte er kaum mehr als 20000 Unterschriften (gegenüber 370000!) sam­ meln, obwohl sich der Freundeskreis um eine Anzahl Industrielle und Land­ wirte erweitert hatte. Offensichtlich konnte das Schlagwort ›Schutz der nationalen Arbeit‹ viel wirksamer zum Klassenbündnis unter der Leitung des Bürgertums beitragen. D arüber hinaus kamen die Vertreter der Hansestädte in Verruf, indem sie sich gegen den Plan einer Einverleibung in den Zollverein sträubten.9 300 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Zehn Jahre später sahen aber die Erfolgschancen des Freihandels günstiger aus. Die Verträge von 1860 and 1862. Die Vorgeschichte des Cobden-Chevalier­ Vertrags stellte die starre Haltung, nicht nur der französischen Wirtschafts­ eiitc, sondern fast des ganzen Publikums bloß. Anläßlich der Pariser Ausstel­ lung von 1855 durften allerlei ausländische Fabrikate, auch ›verbotcne‹, zollfrei eingeführt und nach dem Ausstellungsschluß auf dem inneren Markt verkauft werden; aber das Experiment, das dem rational-handelnden Käufer den Preis- und Qualitätsvergleich erlauben sollte, mißlang; englische Han­ delsvertreter z. Β. konnten nur ein Drittel ihres Vorrates absetzen. Zuvor hatten die freihändlerischen bzw. saint-simonistischen Minister des Kaiser­ reiches (Rouher, Persigny) versucht, das alte Prohibitivsystem über den Verordnungsweg zu entkräften; aber selbst im engen Kreise des Conseil d'Etat konnten sie sich nicht durchsetzen, und als es 1856 notwendig wurde, dem zweiten Hause einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sich freilich damit begnügte, Einfuhrverbote durch sehr hohe Zollsätze zu ersetzen, brach ein Gewitter von Protesten wieder aus. Dann mußte der Kaiser zum Artikel der Verfassung von 1852 seine Zuflucht nehmen, der ihn ermächtigte, Han­ delsverträge ohne Mitbestimmung der Kammer zu ratifizieren. So entstand der berühmte Vertrag von 1860, dessen Inhalt genau dem früheren Pro­ gramm der Association entsprach: Zollfreiheit in England für französische Fertigwaren und Herabsetzung der Abgabe auf Wein; Abschaffung aller Prohibitionen in Frankreich sowie zollfreie Einfuhr der Rohstoffe und Le­ bensmittel und 30% (statt 60% bis 100%) Zollsatz auf Fertigwaren; dazu die Meistbegünstigungsklausel. Zwar versprach außerdem der Kaiser, um die peinliche Überraschung der Montan- und Textilindustriellen auszugleichen, in echtem saint-simonistischen Geiste staatliche Zuschüsse zur Förderung des technischen Fortschritts zu verteilen. Aber die kurz darauf von 1400 Unternehmern unterzeichnete Petition versäumte es nicht, die üblichen düsteren Prophezeiungen an die Wand zu malen. Noch im Jahre 1868, anläßlich einer Interpellation über den berüchtigten Vertrag, vereinigten sich nicht weniger als 63 Abgeordnete, die sämtliche Bezirke der Montan­ und Textilindustrie vertraten, um den Antrag zu unterzeichnen. In zwei Jahrzehnten waren nur Landwirte und ein einziger Hüttenbesitzer (Schnei­ der - Le Creusot) zum anderen Lager übergelaufen; umgekehrt hatten in Mülhausen i. E. die Spinnerei- und Webereibesitzer über den D ruckern die Oberhand gewonnen, und hißten jetzt die Schutzflagge. So unerschütterlich blieb das Minderwertigkeitsgefühl England gegenüber - oder sollte man von angeborenem Malthusianismus sprechen? In der parlamentarischen Debatte waren selbst die politischen Fronten verwischt: Freihandel wurde nacheinander von dem autoritären ehemaligen ›Vize-Kaiser‹ Rouher, dem gemäßigt-oppositionellen E. Ollivier und dem Republikaner J . Simon ver­ teidigt; als heftiger Schutzzöllner sprach der ebenfalls oppositionelle Ad. 301 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Thiers, der die kaiserliche Wirtschaftspolitik als »revolutionär« bezeichne­ te. 10 inzwischen war der Handelsvertrag mit dem Zollverein in Paris nur als Erweiterung des 1860er Systems, also ohne Kammerdebatte ratifiziert wor­ den. D aß er dagegen in der deutschen öffentlichen Meinung zum Thema einer heftigen D iskussion wurde und sogar eine schwere Krise des Zollver­ eins verursachte, erklärt sich dadurch, daß er die wirtschaftlichen und politi­ schen Beziehungen zwischen Preußen, den süddeutschen Staaten und Öster­ reich in Frage stellte. Bekanntlich gelang es Bismarck, durch geschicktes Manövrieren alle Hindernisse aus dem Wege zu räumen. Aber zweifellos hätte er die diplomatische Kraftprobe ohne die Unterstützung der Freihan­ delspartei schwerlich gewonnen, die sich nach ihrem Scheitern von 1848 verstärkt hatte. Einerseits hatte sich unter den deutschen Unternehmern eine auffallende Zuversicht gegenüber dem französischen und selbst dem englischen Wettbe­ werb allmählich entwickelt, die sich in den Handelskammerberichten aus­ drückte. Im Rheinland waren 1848 nur die Maschinenfabrikanten mit einer Abschaffung der Einfuhrzölle einverstanden. Aber schon 1857 kündigte ein Roheisenexporteur stolz an, er furchte die englische Konkurrenz nicht mehr. D en Handelsvertrag mit Frankreich billigten fünf Jahre später vier rheinische Handelskammern (darunter die Vertreter der Kleinindustrie in Solingen und Elberfeld), da jetzt beide Länder gleichwertig seien. Erst 1864 ordneten sich Chemie und Kabelindustrie in die Reihen der Optimisten ein. Während der Krise des Zollvereins spalteten sich selbst die süddeutschen Interessenvertretungen; in Bayern billigten sogar unter 94 Handelskammern 29 den Vertrag mit Frankreich, so daß im Handelstag von 1862 eine neue freihändlerisch-kleindeutsche Mehrheit hervortrat. Anderseits gelang es den Freihändlern, durch den 1858 gegründeten ›Kon­ gress deutscher Volkswirtc‹ die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Zwar waren zunächst weder Professoren noch Großunternehmer noch Süddeut­ sche vertreten, so daß die neue Bewegung eher als Journalistenklub denn als wirksame Lobby erschien. Hauptstützpunkte wurden dennoch bald Berlin, Frankfurt/M., Bremen und D anzig, mit entsprechender Verteilung der freihandelsfreundlichen Presse, der sich auch die »Kölnische Zeitung« an­ schloß. Unerwartet war die Stuttgarter Versammlung (1861) von einer süddeutschen, schutzzöllnerischen Mehrheit beherrscht, die den Zwiespalt zwischen ›politischen‹, d. h. Kleindeutschen, und ›unpolitischen‹ Freihänd­ lern ausnutzte. Aber schon 1862 wurde der Handelsvertrag mit Frankreich einstimmig gebilligt, während der Meinungsstreit darüber, ob der Zollver­ ein mit einem Parlament vervollständigt werden sollte, bis 1864 andauerte. Insgesamt ist keine eindeutig, doktrinär-liberale Haltung aus den Berichten dieser Kongresse zu lesen, sei es über die Zoll- oder die soziale Frage, wo sich die meisten Teilnehmer in Abwesenheit der Industriellen und der Arbeiter um einen mittelständischen Standpunkt vereinigten, der an die antimonopo302 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

listischen Angriffe ihrer französischen Vorläufer der 40er Jahre erinnerte. So wurde die Herabsetzung der Einfuhrzölle nicht aus abstrakten Gründen, sondern als Mittel empfohlen, die Interessen der nationalen Verbraucher und Produzenten zu fördern.11 Von einer engen Verbindung der Freihandelsbewegung mit kapitalisti­ schen Interessen kann also höchstens in Einzelfällen die Rede sein. D ie Mehrheit der französischen Bourgeoisie stand und blieb im protektionisti­ schen Lager bis in das 20. Jahrhundert hinein. Im Deutschland der 60er Jahre scheint der Drang nach Freihandel, der in einigen Unternehmer- und Jour­ nalistenkreisen gleichzeitig auftrat, zwar die Logik einer Modernisierungs­ theorie besser als dort zu rechtfertigen, ist aber keineswegs als einheitliche großbürgerliche Offensive zu betrachten. Hinzu kam, daß weder im damali­ gen Frankreich noch in Deutschland die Kleinbauern und Arbeiter ›die freie Luft der (nationalen und internationalen) Konkurrenz‹ einatmen wollten. Mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts wurde diese starre Haltung der unteren Klassen zum politischen Faktor, der das politisch liberale und wirtschaftlich illiberale Bürgertum verstärkte und den politisch autoritären und wirtschaftlich liberalen Regierungen den Weg in die politische Liberali­ sierung erschwerte.

Anmerkungen 1 V. Hentschel, D ie deutschen Freihändler und der Volkswirtschaftliche Kongreß 1858 bis 1885, Stuttgart 1975, S. 11; s. auch R. Walther, Wirtschaftlicher Liberalismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 787-815. 2 H. Best, Interessenpolitik und nationale Integration 1848—49, Göttingen 1980, S. 60; H. Boehme, D eutschlands Weg zur Großmacht, Köln 1966, S. 72; H. Kellenbenz, Handel, in: H. Anbin u. W. Zorn (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 394ff.; Ρ. Bairoch, Commerce extérieur et développement économique, in: REc 1970; A. Broder, Le commerce extérieur, in: E. Braudel u. E. Labrousse (Hg.), Histoire économique et sociale de la France, Bd. III/l, Paris 1976, S. 305 ff.; F. Caron, Histoire économi­ que de la France, XIXe-XXe siècles, Paris 1981, S. 94-96. 3 W. Zorn, Die öffentlichen Finanzen, in Aubin u. Zorn (Hg.), S. 179; J . Clinquart, L'admini­ stration des douanes en France, Bd. 2: 1815-1848, Paris 1981, S. 173 u. Bd. 3; 1848-1871, Paris 1984, passim. 4 L. Bergeron, Les capitalistesen France 1780-1914, Paris 1978, S. 97; C. Fohlen, Bourgeoisie française, liberté économique et intervention de l'Etat, in: REc 1956: M. Hau, L'industrialisa tion de l'Alsace 1800-1939, Strasbourg 1987; A. J . Tudesq, Les grands notables en France 1840-1849, Paris 1964, S. 606-627. 5 P. Aycoberry, Cologne entre Napoleon et Bismarck 1815-1875, Paris 1981, S. 151; Best, S. 41, 65, 77. 6 Herrn D r. Demier (Paris), der z. Zt. seine Habilitation über die Wirtschaftslehre im 19. Jahrh. vorbereitet, bin ich für mündliche Anregungen verpflichtet. 7 E. Demier, Avant-gardes économiques et diffusion de l'économie politique en France de 1815 à 1914, in: Les problèmes de l'institutionnalisation de l'économie politique en France au XIXe siècle, Economies et Sociétés, Cahiers de l'ISMEA, série PE N. 6; Tudesq, S. 379-408;

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vgl. C. Gide u. C. Rist, Histoire des doctrines économiques des Physiocrates jusqu'ànosjours, Paris 19224. 8 Best, S. 107 ff. 9 A. Dunham, The Anglo-French Treaty of Commerce of 1860, Ann Arbor 193(. S. 18; Tudesq, S. 613ff. 10 Cliuquart, 1848-1871, S. 148, 231; D unham, S. 64-103, 123-143; M. S. Smith, Free Trade versus Protectionism in the Early Third Republic, in: FHS 1977. 11 Ayçoberry, S. 282; Boehme, S. 73-135; Hentschel, S. 34 ff., 45ff., 61-78.

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HEINZ-GERHARD HAUPT/FRIED RICH LENGER

Liberalismus und Handwerk in Frankreich und Deutschland um die Mitte des 19. Jahrhunderts

Die Bedeutung des Handwerks als mögliche soziale Basis des Liberalismus in Frankreich und Deutschland in den Jahrzehnten um die Mitte des 19. Jahr­ hunderts bedarf kaum einer eingehenderen Begründung. Auch die Vorzüge eines internationalen Vergleichs zur näheren Bestimmung des Verhältnisses von Liberalismus und Handwerk scheinen offensichtlich. Problematisch ist hingegen die Festlegung eines angemessenen Zeitrahmens für einen solchen Vergleich. Wir haben uns für einen phasenverschobenen Vergleich entschie­ den, der für Frankreich die Jahre von 1830 bis 1850, für D eutschland die Zeitspanne zwischen Revolution und Reichsgründung umfaßt, da uns dies die Jahre zu sein scheinen, in denen in beiden Ländern die entscheidenden Weichenstellungen im Verhältnis zwischen dem Liberalismus einerseits und Handwerk und Arbeiterbewegung andererseits vorgenommen wurden. Dies obwohl Frankreich ja nun keinesfalls einen Industrialisierungsvor­ sprung besaß und die Lage des Handwerks in beiden Ländern sehr ähnlich war. 1 Zu klären, warum sich trotz vergleichbarer sozioökonomischer Rah­ menbedingungen Liberalismus und Handwerk in Frankreich sehr viel eher auseinanderentwickelten, gehört zu den Aufgaben des vorliegenden Bei­ trags.

A. D eutschland 1850-1870 Die vor allem von Lothar Gall betonte Ausrichtung des vormärzlichen Liberalismus in D eutschland am »Zukunftsbild einer klassenlosen Bürger­ gesellschaft »mittlerer Existenzen«, einer rückblickend formuliert, vorindu­ striellen, berufsständisch organisierten Mittelstandsgescllschaft auf patriar­ chalischer Grundlage« ist kaum noch strittig.2 So ist z. B. auf Elemente des Antikapitalismus bei den Frühliberalen sowie auf deren Zurückhaltung gegenüber dem Laisser-faire-Prinzip und uneingeschränkter Gewerbefrei­ heit verwiesen worden.3 Die Eigentumstheorie des Frühliberalismus, so hat Helmut Sedatis im Anschluß an C. B. Macpherson argumentiert, begründet 305 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

das Modell einer einfachen Marktgesellschaft, das viele Parallelen zu einer auf die Sicherung des Auskommens abzielenden - zünftig organisierten Handwerkswirtschaft aufweist.4 Auch wenn dies nicht für jeden einzelnen Liberalen gilt und insbesondere regionale Differenzierungen nötig sind, läßt sich festhalten, daß die Gesellschaftsbilder vieler vormärzlicher Liberaler und die Vorstellungen des Handwerks in der Orientierung auf eine Ökono­ mie kleiner Selbständiger eine starke Affinität zeigen. Vor diesem Hinter­ grund ist auch die soziale Verankerung des vormärzlichen Liberalismus im Handwerk nicht weiter verwunderlich. Andererseits ist bislang nicht hinrei­ chend gefragt worden, inwieweit die sozioökonomische Lage des vormärz­ lichen Handwerks diesem ein Maß an »Unabhängigkeit« garantierte, das die Zurechnung zum Mittelstand und damit die Wahrnehmung politischer Rechte in liberaler Sicht rechtfertigte. Man konfrontiere nur den politisch geprägten und an Bildung gebundenen Mittelstandsbegriff des Vormärz mit Berichten zur Situation des Handwerks im Pauperismus.5 Spannungen zwi­ schen sozialer Realität und der Utopie einer »klassenlosen Bürgergesell­ schaft« gab es auch vor »dem endgültigen D urchbruch der industriellen Revolution«. 6 Dieser Durchbruch ist fur Gall der Grund für die fortschreitende Degene­ rierung des Liberalismus zur bürgerlichen Klassenideologie nach der Jahr­ hundertmitte. D er behauptete Wandel liberaler Gesellschaftsbilder und libe­ raler Politik ist aber, sieht man von der recht holzschnittartig argumentie­ renden Studie Michael Gugels und einigen neueren Arbeiten zum Verhältnis von Liberalismus und früher Arbeiterbewegung einmal ab, bislang nur wenig untersucht.7 Hier soll deshalb zunächst dem Wandel liberaler Gesell­ schaftsbilder nach der Jahrhundertmitte nachgegangen und nach Verände­ rungen liberaler Bewertungen des Handwerks gefragt werden. Sodann sollen die liberalen Initiativen vor allem im Bereich des Genossenschaftswe­ sens betrachtet und in ihrem Verhältnis zur Handwerker- und zur Arbeiter­ bewegung diskutiert werden. D ie für unser Thema gleichfalls wichtigen Bildungsvereine können aus Raumgründen nicht angemessen berücksich­ tigt werden. I. Auch der nachmärzliche Liberalismus ist in Deutschland in vielerlei Hinsicht mittelständisch, auch nach der Revolution gehört das Handwerk ganz über­ wiegend nicht zum Mittelstand. Dies gilt sowohl sozial- als auch begriffsge­ schichtlich. »D as Freisein von der drückendsten Lebenssorge«, worin Lud­ wig August von Rochau »die im allgemeinen nicht hinwegzuleugnende Bedingung der bürgerlichen Tüchtigkeit« erblickt, ist gerade nicht typisch für die sozioökonomische Lage der überwältigenden Mehrheit der Hand­ werker. 8 Und wenn derselbe Autor sechzehn Jahre später »vermöge seiner 306 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Bildung, seines Wohlstandes, seines Unternehmungsgeistes, seiner Arbeits­ lust und Arbeitskraft« im Mittelstand den eigentlichen »Träger der gesell­ schaftlichen Kultur, des wirtschaftlichen Gedeihens und des politischen Fortschritts« ausmacht, hat er sicherlich nicht den selbständigen Hand­ werksmeister im Blick. 9 Dieser wird, wie im Vormärz, meist den arbeiten­ den Klassen zugerechnet.10 Weder nach seiner realen sozioökonomischen Lage noch in der Sicht der Liberalen zählt der Handwerker umstandslos zum Mittelstand. D ies gilt für vor- und nachmärzlichen Liberalismus in gleicher Weise. Was sich hingegen grundlegend verändert hat, ist das Interesse an den Bedingungen einer möglichen Integration des Handwerks in den Mittel­ stand. Zwar betont auch Rochau noch, »der Mittelstand ist ein Stand nur dem Namen nach, er ist nicht einmal eine Partei, sondern eine bloße gesell­ schaftliche Gruppe, deren Reihen jedermann offen stehen«, und bietet auch ein Rezept an, wie der »sogenannte vierte Stand« in den Mittelstand hinauf­ gehoben werden könne: ». . . macht man ihn unterrichtet, gebildet, wohlha­ bend, so hebt man ihn damit auf, so verschmilzt man ihn mit dem bisherigen Mittelstand«. 11 Nur findet man bei ihm, wie bei vielen anderen Liberalen der 1850er und 1860er Jahre, wenig konkrete Hinweise darauf, wie diese »Erhöhung« aussehen soll. Noch 1846 steht hingegen im Rotteck/Welcker­ schen Staats-Lexikon »D as Eine und Alles worauf es dabei ankommt« im Vordergrund, nämlich, »daß jedem Mitglied der Gesellschaft (. . .) die not­ wendigen Bildungsmittel und Arbeitsmittel fort und fort gewährleistet werden«. 12 D ie hier deutlich werdende Einsicht in die Notwendigkeit einer materiellen Fundierung politischer Gleichheit und Freiheit geht dabei mit einer ambivalenten Haltung zur Frage Zünfte oder Gewerbefreiheit einher, gilt es doch, die materiellen Voraussetzungen für die Konkurrenzfähigkeit aller zu sichern. D erartige Bedenken gegen die möglichen sozialen Kosten der Gewerbefreiheit sind nach der Jahrhundertmitte kaum noch zu finden. Gewerbefreiheit, Freizügigkeit und Genossenschaften sind die drei wenig umstrittenen Pfeiler der Wirtschafts- und Gesellschaftskonzeptionen des nachmärzlichen Liberalismus. Auf sie soll im folgenden näher eingegangen werden. In der »jetzt ihrer letzten Lösung entgegenstrebenden Frage der Gewerbe­ freiheit« herrscht sehr weitgehende Übereinstimmung.13 »Wie so viele an­ dere Glieder des mittelalterlichen Gemeinwesens sind auch die Handwerks­ zünfte nach und nach abgestorben.«14 Und selbst für den konservativen Huber »sind nur solche Mittel wirksam und überhaupt der Erwägung werth, welche sich mit den allgemeinen Bedingungen und Strömungen der modernen Industrie, namentlich also mit dem Prinzip der freien Konkurrenz vertragen.« 15 Unterschiede bestehen lediglich im Gewicht, das man dem Handwerk zumißt. Man wird den rheinischen Liberalen, deren Ausnahmestellung schon im Vormärz deutlich war, kaum Unrecht tun, wenn man sagt, daß das Hand307 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

werk für sie längst kein Thema mehr ist. Sieht man z. Β. die von Hansen abgedruckten Arbeiten Mevissens durch, findet man zum Handwerk so gut wie nichts und bei Korporation denkt er zunächst an Aktiengesellschaften.16 Dort wo es Berührungspunkte gibt, ist die Haltung der rheinischen Libera­ len gegenüber dem Handwerk aber oft kompromißlos. So lehnt z. Β. der Kölner Rat auf D rängen der Handelskammer Mitte der 1850er Jahre die Beschränkung der Neugründung von Magazinen zum Schutz der städti­ schen Handwerker, die die Gewerbegesetzgebung erlaubt, ab. 17 Selbst im Rheinland ist man nicht überall so rigoros, doch ist der Stellenwert des Handwerks hier insgesamt gering. Anderenorts wird die Lage des Handwerks im Zusammenhang mit einer erwünschten Reform der Gewerbegesetzgebung immer wieder themati­ siert. Regelmäßig diskutiert z. Β. der Volkswirtschaftliche Kongreß in sei­ nen Anfangsjahren »die traurigen Verhältnisse, die in der Gewerbegesetzge­ bung der verschiedenen deutschen Staaten herrschten.« Er beschließt, »die gesetzliche Einführung der Gewerbefreiheit ohne Zwischenlösungen zu empfehlen« und plädiert für Freizügigkeit.18 D enn es »gehört aber zu der Gewerbefreiheit in allen deutschen Staaten als ein nothwendiges Corrclat auch die gewerbliche Freizügigkeit«.19 Zweifel an der wohltuenden Wir­ kung dieser beiden Grundprinzipien gibt es kaum, ihnen wird in aller Regel historisch-statistisch begegnet, d. h. es wird darauf hingewiesen, daß auch in Preußen (unter den Bedingungen der Gewerbefreiheit) die Gesellenzahl schneller als die der Meister gewachsen sei. D er Schlußfolgerung Albert Schäffles - »D ie Gewerbefreiheit vermag so im Bunde mit der Freizügigkeit die Sicherheit der Ernährung viel fester zu verbürgen, als der Zunftzwang«­ wird kaum ein nachmärzlicher Liberaler widersprochen haben.20 Es wäre allerdings irreführend, so zu tun, als ob die Liberalen der 1850er und 1860er Jahre die positiven Wirkungen von Gewerbefreiheit und Freizü­ gigkeit für allein ausreichend gehalten hätten. Für die ganz überwiegende Mehrheit der Liberalen zählten Genossenschaften und (berufliche) Bildung zu den Voraussetzungen für den Bestand des Handwerks. Die Formulierung Wilhelm Adolf Lettes, Vorsitzender des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen und prominenter Teilnehmer an den Volkswirtschaftli­ chen Kongressen, ist durchaus typisch: »Noch gegenwärtig bewährt sich der alte Spruch, daß das Handwerk einen goldenen Boden habe, aber freilich nur dann, wenn der Handwerksmann mit Geschicklichkeit und Fleiß Mäßigkeit und Sparsamkeit verbindet und das lernt, was den altern Gewerbetreibenden zum Theil noch fehlt, nämlich Einnahme und Ausgabe mitein­ ander abzuwägen, gehörig Buch und Rechnung zu fuhren. Für die bessere Ausbil­ dung des Handwerkerstandes sorgen hingegen Real- und Gewerbeschulen und Gewerbeinstitute, nicht minder aber auch die Gewerbe-, Arbeiter- und Handwer­ kervereine wie die Sonntags- und sogenannten Fortbildungsschulen. Die dem Hand­ werk nöthigen Kapitalien aber führen ihm die nach dem Schulzeschen System immer weiter verbreiteten Genossenschaften zu.«21

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II. Der Genossenschaftsgedanke spielt in den 1850er und 1860er Jahren für Liberalismus und Arbeiterbewegung eine gleichermaßen zentrale Rolle. 22 Hier soll es zunächst weniger um die Differenzen zwischen den Genossen­ schaftskonzeptionen eines Hermann Schulze-Delitzsch und eines Ferdinand Lassalle, eines Friedrich Albert Lange oder Eduard Pfeiffer gehen, als um die Darstellung der Schulzeschen Vorstellungen.23 Ohne daß »das Genossen­ schaftswesen der 50er und 60er Jahre (. . .) mit Schulze identifiziert werden« soll, rechtfertigt dessen zentrale Bedeutung für das liberale Genossenschafts­ verständnis eine eingehendere Betrachtung.24 Wenn Liberale von Genossen­ schaften sprachen, so dachten sie zunächst an die Schulze-D elitzschs und wenn der Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen oder der Volkswirtschaftliche Kongreß gegen Ende der 1850er Jahre über sie disku­ tierten, war gleichfalls stets das Programm Schulzes der Bezugspunkt.25 Wenden wir uns zunächst der Zeit bis zur Gründung des AD Α Vs zu, so ist auch für diese die Bewertung des Schulzeschen Genossenschaftsprogramms ausgesprochen kontrovers. Steht für Bernhard Schulze, Toni Offermann u.a., wie schon für Franz Mehring, »Schulze-D elitzschs Werdegang vom Vertreter des Kleinbürgertums zum Befürworter einer bourgeoisen Politik« außer Frage, betont Rita Aldenhoff im Anschluß an Werner Conze eher die Kontinuität der Schulzeschen Genossenschaftsvorstellungen.26 Entschei­ dend ist hier die Frage, ob bei der Zusammenarbeit mit dem Volkswirt­ schaftlichen Kongreß Ende der 1850er Jahre aus einem früher antikapitalisti­ schen Schulze ein bloßer Mittelstandsideologe wird. D ies läßt sich aber an seinen Schriften kaum nachweisen. Schon in den frühen 1850er Jahren empfahl Schulze nämlich »statt des unfruchtbaren Versuchs, dem Kapital seine Bedeutung in der Volkswirtschaft zu entziehen«, vielmehr »die Vor­ theile desselben auch den Unbemittelten zugänglich zu machen.«27 Ledig­ lich die Begründung der Assoziation als notwendiges Gegenprinzip zu »schrankenlosem Egoismus« tritt zwischen 1853 und 1858 deutlich zurück. Systemüberwindend waren die Schulzeschen Genossenschaften zu keiner Zeit gedacht, so daß die Interpretation seiner Kompromißbereitschaft ge­ genüber dem Volkswirtschaftlichen Kongreß als »Wende« wohl übertrieben ist. D eshalb scheint es auch gerechtfertigt zur näheren D arstellung des Schulzeschen Genossenschaftsprogramms vor allem seine 1858 erschienene Schrift »D ie arbeitenden Klassen und das Assoziationswesen« heranzuzie­ hen.28 Schulze-Delitzsch verknüpft in interessanter - wiewohl sehr einseitiger­ Weise die Lage von Fabrikarbeitern und Handwerkern. D ie Verdrängung des Handwerks durch die Fabrik ist für ihn evident. D a er Rohstoffe billiger bezieht, über leichteren Zugang zu Kredit und Kapital verfügt und schließ­ lich auch die Vorteile der Arbeitsteilung zu nutzen vermag, ist der Großbe­ trieb dem handwerklichen Kleinbetrieb überlegen. Und »so liegt die Be309 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

fürchtung nahe, daß die ganze Masse der Handwerker allmählich zu bloßen Lohnarbeitern der großen Etablissements herabsinken und jenes unselige Fabrikproletariat vermehren wird.« D er Trend zum Großbetrieb fuhrt zu einer weiteren Verschlechterung der Lage der Arbeiterschaft, da zum einen die Konkurrenz um die Arbeiter bei sinkender Selbständigenzahl nachläßt, zum anderen der Zustrom verdrängter Handwerker die Arbeiterschaft an­ schwellen läßt und die Konkurrenz um Arbeit verschärft. Beide Folgen großbetrieblicher Konzentration resultieren im weiteren Verfall der Löhne. Die schwierige Lage von Handwerk und Arbeiterschaft ist für Schulze also ein systemisches Problem. Es ist für ihn unabweisbar, »daß die bedrängte Lage der arbeitenden Klassen, als die unleugbare Folge der großartigen Fortschritte der neuern Industrie, keine zufällige, blos vereinzelte Erschei­ nung ist, daß sie keiner blos momentanen Ursache beigemessen werden kann, sondern einer stetig fortwirkenden, weil sie der Gesammtheit der Bedingungen angehört, welche die Basis des heutigen Verkehrs, der wirt­ schaftlichen Entwicklung unserer Lage bilden.« Nachdem er einige Vorschläge zur Lösung dieser sozialen Frage von der Restitution der Zunftwirtschaft bis zur Wohltätigkeit diskutiert und als ungeeignet verworfen hat, wendet er sich der Assoziation, als der einzig für ihn realistischen Antwort auf die von ihm eingangs skizzierten Probleme zu. Zwar erhebt er den Anspruch, »die ganze arbeitende Bevölkerung« einzube­ zichen, rechtfertigt aber die Konzentration auf die Selbständigen des Klein­ gewerbes mit den angeführten Negativwirkungen einer Verminderung ih­ rer Zahl für die Lohnarbeiterschaft. D ie Assoziation - nach 1858 spricht er meist von Genossenschaft -, die er auch als »Innung der Zukunft« anpreist, soll zunächst »die Einzelnen mittelst ihres Zusammentretens unter solidari­ scher Haft (...) creditfähig« machen.29 D ie einzelnen Assoziationstypen gliedert Schulze in zwei Gruppen. Zu den Distributivassoziationen zählt er Rohstoff- und Konsumgenossenschaften sowie Vorschuß- und Kreditverei­ ne. »D en Gipfelpunkt des Systems« aber bilden die Produktivgenossen­ schaften. Nur hier findet sich »der gemeinsame Betrieb eines Gewerbes selbst durch eine Anzahl von Handwerkern und Arbeitern für Rechnung und Gefahr der Gesammheit«.30 Der Grund für die bevorzugte Stellung der »eigentlich gewerblichen oder produktiven« Assoziation liegt in der Er­ möglichung der gewerblichen Selbständigkeit, welche von Tag zu Tag einen immer größeren Capitalbesitz erfordert, auch für die unbemittelten Arbei­ ter.« Zu den segensreichen Folgen der so kollektiv ermöglichten gewerbli­ chen Selbständigkeit gehört neben der Konkurrenz für die »Inhaber der großen Etablissements« vor allem die Stärkung des Mittelstands. Ist doch auch für Schulze-D elitzsch »von jeher das Bedeutendste und Tüchtigste in Wissenschaft und Kunst, wie auf den praktischen Lebensgebieten, aus dem Schooße des Mittelstandes hervorgegangen.« D arüber hinaus vermögen die Genossenschaften aber auch die eingangs geschilderte zwangsläufige Ver­ schlechterung der Lage der arbeitenden Klasse zu korrigieren. 310 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

»Ist nur erst eine Anzahl solcher Associationsetablissements von den Arbeitern errichtet, und das bisherige Monopol der Großunternehmer hierbei durchbrochen, so kann es nicht ausbleiben, daß sich die enormen Gewinne derselben, welche sie früher ausschließlich zogen, vermindern, weil sie den Arbeitern ihr Theil zukommen lassen müssen. (...) D amit ist sowohl dem Mammonismus wie dem Pauperismus eine Grenze gezogen, diesen unseligen Auswüchsen unserer Industrie, in denen wir zwei gleich feindliche Mächte wahrer Cultur erblicken.« Diese Korrekturfunktion der Genossenschaften, die erst die Harmonie zwi­ schen Kapital und Arbeit in der sich industrialisierenden bürgerlichen Ge­ sellschaft garantiert, zeigt zweierlei: Zum einen, daß Schulze allen Grund hat, »gegen das Mißverständnis« zu »protestiren, als gehe unsere Meinung dahin, daß künftig die Association die allein herrschende industrielle Be­ triebsform zu werden bestimmt sei.« Zum anderen wird deutlich, daß er nicht in gleicher Weise »alle handwerkenden »Arbeiter« vom Handwerks­ meister über den Gesellen zum Fabrikarbeiter« meint.31 Zwar vergißt Schul­ ze nur selten, auf die wohltätigen Konsequenzen eines mit Hilfe von Genos­ senschaften gefestigten Handwerks für die Lohnarbeiterschaft hinzuweisen, doch tritt letztere sehr stark in den Hintergrund. In seinen Schriften ge­ braucht er die Begriffe Arbeiter, Handwerker und Gewerbetreibender häu­ fig synonym, meint aber fast immer den selbständigen Kleingewerbetrei­ benden. So fließt z. B. »der allgemeine Ruf nach Volksbanken Seitens unse­ rer Arbeiter« ganz zwanglos aus der D iskussion der Verhältnisse »bei dem Stande unsrer kleinen selbständigen Gewerbtreibenden«.32 D ie faktische Beschränkung auf das Handwerk findet also bereits auf der Ebene des Entwurfs, nicht erst bei der Umsetzung in die Praxis statt. D as liegt nicht in erster Linie daran, daß Schulze »eine Gesellschaft mit noch sehr gering entwickelter Industrie« zum Ausgangspunkt nimmt.33 Schließlich belegen ihm »die Macht der Association« gerade jene bewundernd geschilderten »ungeheuren Actienunternehmungen, welche den Bau und Betrieb von Eisenbahnen, Bergwerken, Fabriken, Gasanstalten, die Errichtung von Banken und Handelsgesellschaften u. a. bewirken.«34 Vielmehr spielt hier neben der begrenzten Theoriewilligkeit und -fähigkeit des Pragmatikers Schulze die Überzeugung von der grundsätzlichen Interessenidentität von Bürgertum und arbeitenden Klassen, die er mit dem nachmärzlichen Libera­ lismus insgesamt teilt, eine Rolle. Eine Bewertung des Schulze-D elitzschen Genossenschaftsprogramms muß aber vor allem die Genossenschaftspraxis einbeziehen. D avon soll der nächste Abschnitt handeln. Zuvor gilt es aber noch kurz die Haltung einiger Liberaler zu Schulzes System kurz zu umreißen. Zunächst ist das Gewicht assoziativer Selbsthilfe in den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Vor­ stellungen nachmärzlicher Liberaler höchst unterschiedlich. Für John Prin­ ce-Smith läßt sich »D ie sogenannte Arbeiterfrage« nicht »unabhängig von der allgemeinen Hebung des Volkshaushalts« betrachten. »Also ist die siche­ re Erhaltung des Kapitals die erste und größte Frage für das Wohl der 311 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Lohnarbeiter.«35 D ie meisten Liberalen messen den Genossenschaften weit größere Bedeutung bei. Nicht immer geht es dabei um »die Erreichung des würdigen Zweckes, eigenthumslose Arbeiter nach und nach zu arbeitenden Eigenthümern zu machen«.36 Dieses Ziel verfolgen am direktesten die Pro­ duktivassoziationen; sie sind aber unter den Liberalen keineswegs unum­ stritten. Für Max Wirth z. Β. widersprechen sie dem »deutschen Geist der Unabhängigkeit und individuellen Selbständigkeit« und der erste Volks­ wirtschaftliche Kongreß klammert die Produktivassoziationen aus seinen progenossenschaftlichen Empfehlungen aus. 37 Gerade der »Gipfelpunkt des Systems«, der noch am stärksten den »Traditionen eines vorindustriellen genossenschaftlichen Liberalismus« verhaftet war und am ehesten die »In­ nung der Zukunft« mit der alten Zunft verband, wurde also einer auf Individualismus pochenden Kritik unterworfen.38 D ie Kritik traf dabei den in der Praxis schwächsten Teil der Genossenschaftskonzeption Schulz-D e­ litzschs.

III. Die geringe Bedeutung der Produktivassoziation in der Praxis zeigte sich bereits in den 1850er Jahren. 1859 ist im Jahresbericht für Genossenschafts­ wesen von ihnen überhaupt nicht die Rede. Von etwa 300 Schulze-D elitz­ schen Genossenschaften waren zwei D rittel Kreditvereine, die übrigen vor allem Rohstoffassoziationen. Letztere wurden in erster Linie von Schuhma­ chern getragen, die ihre Lage durch den gemeinsamen Ledereinkauf zu verbessern suchten. Nur einige wenige Rohstoffassoziationen und hier vor allem solche der Schneider und Tischler organisierten auch den Verkauf in Magazinen genossenschaftlich. Am Übergewicht der Kreditvereine änderte sich auch in der Folgezeit nur wenig, so daß Engels' Wort vom »Sparkassen­ männchen« Schulze-D elitzsch durchaus seine Berechtigung hatte. 39 Wäh­ rend die Zahl der Rohstoff- (1870:135), Magazin- (1870: 38) und Produktiv­ genossenschaften (1870: 74) vergleichsweise unbedeutend blieb, entstand in den rasch wachsenden Konsumvereinen so etwas wie eine zweite Säule des Schulzeschen Genossenschaftssystems.40 Obwohl ihm Teile der Konsum­ vereinsbewegung skeptisch gegenüberstanden, konnte Schulze 1870 schon 739 Vereine mit über 45000 Mitgliedern in seinen Bericht aufnehmen. Weit übertroffen wurden diese Zahlen allerdings von den inzwischen fast 2000 Kreditvereinen mit mehr als 300000 Mitgliedern. Die Genossenschaftsbewegung war in den 1860er Jahren sicherlich eine Massenbewegung, Schulze-D elitzschs Bemühen insofern ein Erfolg. Gleichwohl entfernte sich mit der Dominanz der Kreditvereine die soziale Basis der von ihm als »Anwalt« betreuten Genossenschaften von der »arbei­ tenden Bevölkerung«, deren Lage Schulzes System zu bessern versprach. So 312 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

wurden Handwerker und Arbeiter in den Kreditgenossenschaften von ande­ ren Berufsgruppen, insbesondere Landwirten majorisiert. Zwar bildeten die selbständigen Handwerker die größte Einzelgruppe unter den Mitgliedern, doch waren selbst Rentiers, Pensionäre und andere Personen noch zahlrei­ cher vertreten als die Fabrikarbeiter, Bergarbeiter und Handwerksgesellen. Schulze selbst war sich dieser Entwicklung durchaus bewußt und schrieb schon in den frühen 1860er Jahren: »indessen bemächtigte sich sehr bald der im Verkehr überwiegende Mittelstand der hoffnungsvoll aufblühenden An­ stalten und paßte sie seinen Bedürfnissen an, jedoch ohne die unteren Klas­ sen auszuschließen.«41 D ie hier behauptete Offenheit nach unten ist jedoch mehr als zweifelhaft, gab es doch bereits Mitte der 1850er Jahre Kreditverei­ ne, die fünf oder gar zehn Thaler Eintrittsgeld verlangten. Auch innerhalb der handwerklichen Mitgliedschaft scheinen die wohlhabenderen Meister überrepräsentiert gewesen zu sein. In Düsseldorf z. Β. überwogen Ende der 1860er Jahre eindeutig die wohlhabenderen und kapitalkräftigeren Bau- und Nahrungsmittelhandwerker, während die verarmten Schneider und Schuh­ macher kaum Anteil hatten.42 Letztere dominierten dagegen die Rohstoff­ und zusammen mit den Tischlern die Magazin- sowie Produktivgenossen­ schaften.43 Auch wenn man die Bewertung auf den handwerklichen Bereich beschränkt, muß man festhalten, daß die Schulzeschen Genossenschaften in praxi nicht dem verarmten Kleinmeister und dem Gesellen den Zugang zu Kredit und Selbständigkeit eröffneten, sondern lediglich dem ohnehin bes­ ser gestellten Handwerker Kreditvorteile verschafften. D ie Grenze, die Schulze-Delitzsch dem Pauperismus ziehen wollte, schloß im genossen­ schaftlichen Alltag den pauperisierten Handwerker aus. Von diesem har­ schen Urteil sind lediglich die Konsumvereine auszunehmen, in denen die »Wohlhabenderen« in der Minderzahl blieben.44 Wiewohl die Diskrepanz zwischen Konzeption und Umsetzung eine ganz erhebliche ist, muß man bei einer Bewertung vorsichtig sein. Dabei ist es gar nicht so sehr falsch, als vielmehr unzureichend, zu betonen, Schulze habe »einem großen Teil der Arbeiterschaft und des deklassierten Kleinbürger­ tums, für den finanzielle Rücklagen auf gar keinen Fall möglich waren, (...) nicht einmal eine Perspektive für die Zukunft zu bieten« gehabt.45 Eine solche Kritik, die meist impliziert, das Lassallesche Projekt von Produktiv­ assoziationen mit Staatshilfe habe eine solche Perspektive geboten, fuhrt leicht zu einer Unterschätzung des liberalen Einflusses auf Arbeiterschaft und Handwerk noch in den 1860er Jahren. Auch wenn die Produktivassozia­ tion in der Genossenschaftspraxis keine große Rolle spielte, blieb sie doch Bestandteil der in zahllosen Arbeiter- und Handwerkerbildungsvereinen verbreiteten liberalen Programmatik. Ihre Popularität verdankte die Genos­ senschaftsidee ja nicht zuletzt der realen sozioökonomischen Lage verlegter Handwerker und Heimgewerbetreibender. D en parasitären Kaufmann und Verleger aus dem Produktions- und D istributionsprozeß auszuschließen und sich den verlorengegangenen direkten Zugang zu Kunde und Markt 313 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

kollektiv zu sichern, waren hier naheliegende Gedanken. Zu ihrer Verwirk­ lichung bedurfte es in vielen kaum Kapital erfordernden Handwerken nicht unbedingt der »Staatshilfe«. Gegen die in vielen D arstellungen durchschei­ nende Behauptung, die Lassallesche Genossenschaftskonzeption sei die der Lage der deutschen Arbeiterklasse in den 1860er Jahren angemessenere gewesen, bleibt zudem festzuhalten, daß sich auch der AD AV gerade aus den Bereichen des Handwerks und des Heimgewerbes rekrutierte, in denen Produktionsgenossenschaften auf der Grundlage der Selbsthilfe möglich scheinen mochten.46 Und schließlich ist den Schulzeschen Produktionsge­ nossenschaften trotz ihrer geringen Zahl ein gewisser Erfolg nicht abzuspre­ chen. Betrachtet man die von Christiane Eisenberg zusammengestellten Produktivgenossenschaftsprojekte der 1860er (und 1870er) Jahre, so wird deutlich, daß unter den erfolgreichen, d. h. länger bestehenden, die von liberaler Seite geförderten deutlich überwiegen.47 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum z. B. in Düsseldorf auch nach der Gründung einer ADAV-Gemeinde die Einschätzung Lassalles im liberalen Handwerker­ und Arbeiterbildungsverein eine gelassene ist. Sein Wirken wird dahinge­ hend kommentiert, daß »er doch nur den Boden der Gesellschaft für die Saat der Prinzipien von Schulze-Delitzsch lockere . . .« 48 Eine Frontstellung zwischen Staatshilfe und Selbsthilfe spielte ohnehin nur im preußischen Norden eine größere Rolle. Südlich der Mainlinie blieben organisatorische Erfolge des AD AVs fast völlig aus. Bebeis Ein­ schätzung der Wirkung von Lassalles »Offenem Antwortschreiben« ist durchaus glaubhaft: »Daß die Schrift auf die Mehrzahl der damals in der Bewegung stehenden Arbeiter so wenig Eindruck machte, mag manchem heute unerklärlich erscheinen. Und doch konnte es nicht anders sein. Nicht nur die ökonomischen, auch die politischen Zustände waren noch sehr rückständige. Gewerbefreiheit, Freizügigkeit, Niederlas­ sungsfreiheit, Paß- und Wanderfreiheit, Vereins- und Versammlungsfreiheit waren Forderungen, die dem Arbeiter der damaligen Zeit viel näher standen als Produktiv­ assoziationen, gegründet mit Staatshilfe, von denen er sich keine rechte Vorstellung machen konnte. Der Assoziations- oder Genossenschaftsgedanke war erst im Wer­ den. Auch das allgemeine Stimmrecht schien den meisten kein unentbehrliches Recht zu sein. Einmal war, wie wiederholt hervorgehoben, die politische Bildung noch gering, dann aber erschien der großen Mehrzahl der Kampf des preußischen Abge­ ordnetenhauses gegen das Ministerium Bismarck als eine tapfere Tat, die Unterstüt­ zung und Beifall, aber keinen Tadel und keine Herabsetzung verdiene.«49 Ohnehin dauerte ja im Süden, wo die Selbsthilfegenossenschaften noch von der SD AP positiv beurteilt wurden, die »Trennung der proletarischen von der bürgerlichen D emokratie«, will man diese allein an der Parteibildung festmachen, noch wesentlich länger.50 Zu den Gründen, warum diese »Trennung« von den Liberalen bis zur Reichsgründung nicht recht ernst genommen, zumindest aber nicht als irreversibel angesehen wurde, gehörte sicher auch der Anfangserfolg der liberalen Gewerkschaften. Schließlich 314 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

hatten diese am Vorabend des deutsch-französischen Krieges etwa ebenso­ viele Mitglieder wie die Internationalen Gewerksgenossenschaften der SDAP und die Arbeiterschaften des ADAVs zusammengenommen.51 Mit diesen im hiesigen Zusammenhang notwendig sehr verkürzten An­ deutungen soll keineswegs das Bild eines sich überzeugend und erfolgreich zur Arbeiterschaft hin öffnenden Liberalismus gezeichnet werden. Das wäre in zweifacher Hinsicht unzutreffend. Zum einen standen die Befürworter der Schulze-Delitzschen Genossenschaften und der liberalen Gewerkvereine nicht stellvertretend für den deutschen Liberalismus der 1860er Jahre Blindheit gegenüber der sozialen Frage und bloße Wachstumsgläubigkeit waren verbreitet. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß der liberale Enthusiasmus für das Genossenschaftsprogramm Schulzes in den 1860er Jahren merklich abkühlte, und es bleibt nachzutragen, daß die Befürworter einer liberalen Gewerkschaftsbewegung in der Minderheit blieben. Zum anderen dürfen auch die Grenzen eines sozial so engagierten Fortschrittlers wie Schulze-Delitzsch nicht übersehen werden. Hier sei nur daran erinnert, daß er Beitragssenkungen, die auch Arbeitern den Beitritt zum Nationalver­ ein gestattet hätten, kompromißlos ablehnte.52 Vielmehr sollten die kurzen Ausführungen die Stärke der Liberalen im Verhältnis zur noch jungen und schwachen Arbeiterbewegung deutlich machen. Organisatorisch konnten sie es mit dieser noch gut aufnehmen und was die Prägung des zeitgenössi­ schen Bewußtseins angeht, war die liberale Überlegenheit eher noch größer. Selbst auf dem Katholikentag wurde gefordert, »ähnliche Vereine wie die Schulze-Delitzschen zu gründen«. 53 Inwieweit diese »Hegemonie« auch Handwerkerschaft und -bewegung umfaßte, soll im folgenden untersucht werden. IV In gewerbepolitischen Fragen hatte das Handwerk in den 1850er und 1860er Jahren bei den Liberalen keine gute Presse. Schon die geringfügigen Ein­ schränkungen der Gewerbefreiheit in Preußen durch die Verordnungen von 1849 erzürnten die Liberalen und jede Agitation für den Fortbestand von Innungen wurde kritisch kommentiert.54 D ie Forschung hat diese Einschät­ zung eines zünftlerischen und reaktionären Handwerks übernommen. Doch gilt es auch hier zwischen Handwerkerschaft und Handwerkerbewegung zu unterscheiden. Gemessen an der immensen Zahl von Handwerkern, die während der Revolutionsjahre gewerbepolitische Petitionen unterzeichnet hatten, blieb die Basis der Handwerkerbewegung zwischen Revolution und Reichsgründung sehr schmal. Andererseits spielten Handwerksmeister in den zahlreichen Handwerker- und Arbeitervereinen eine beträchtliche Rol­ le. In den von der Enquete des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen in der Mitte der 1860er Jahre näher erfaßten preußischen Vereinen 315 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

stellten sie fast ein Drittel der Mitglieder.55 Darüber hinaus gab es in Gewer­ be- und sonstigen Vereinen sowie in den bereits behandelten Genossenschaf­ ten Zusammenarbeit von Liberalen und Handwerkern in großem Umfang. Vor allem in Süddeutschland waren viele Handwerker zudem in liberalen und demokratischen Parteien aktiv. 56 Und schließlich darf nicht übersehen werden, daß auch die sozialistischen Parteien und Gewerkschaften eine beträchtliche Zahl von Kleinmeistern zu ihren Mitgliedern zählten. D iese knappen Andeutungen mögen als Beleg dafür genügen, daß »die dem wirtschaftlichen (und politischen) Liberalismus verbundenen mittelstän­ disch-kleingewerblichen Leitbilder (. . .) in den 1850/60er Jahren unter Handwerkern und handwerklich sozialisierten Arbeitern starken Anklang fanden«.57 Es ist also mehr als fragwürdig, die Handwerker pauschal als zünftlerische Reaktionäre abzustempeln. Eine solche Einschätzung wird wohl nicht einmal der Handwerkerbewe­ gung, oder besser: allen Handwerkerbewegungen der 1850er und 1860er Jahre gerecht. D iese ist bzw. sind in ihrer regionalen Vielfalt bislang nur ganz unzulänglich erforscht. Hier kann nur ein Grobüberblick versucht werden. Nicht nur in Baden und Württemberg fällt »der Widerstand des zünftigen Handwerks gegen die Gewerbefreiheit (. . .) im Verlauf der 50er Jahre in sich zusammen.«58 1859 spricht sich »ein vorzugsweise von Hand­ werkern besuchter Kongreß hannoverscher Gewerkvereine in Celle für möglichst rasche und vollständigste Einführung einer freien Gestaltung des Gewerbewesens« aus. 59 Andere Beispiele ließen sich beibringen. Insgesamt ist aber wohl die Kennzeichnung der nachrevolutionären D ekade als einer »Periode des Stillhaltens« zutreffend.60 Erst die gegen Ende der 1850crJahrc intensivierte Agitation für Gewerbefreiheit und Freizügigkeit, für die der erste Volkswirtschaftliche Kongreß, an dem seinerseits ja auch Handwerker teilnahmen, als Beispiel dienen mag, führte zu einer Wiederbelebung einer zunftfreundlichen Handwerkerbewegung. D iese hatte ihren regionalen Schwerpunkt in Nord- und Mitteldeutschland. Besondere Bedeutung kam dabei zuerst dem Preußischen Landes-Handwerkertag in Berlin 1860 zu. Auf die Verteidigung der preußischen Gewerbenovelle abzielend, Befähigungs­ nachweis und Zwangsinnung fordernd, empfahlen sich die hier versammel­ ten - nicht sehr zahlreichen - Handwerker den Konservativen als Bündnis­ partner, indem sie »die Gewerbefreiheit als ein Kind der roten Republik« brandmarkten.61 Der Versuch, ein solches Bündnis durch die Gründung des »Preußischen Volks-Vereins« zu zementieren, war jedoch wenig erfolg­ reich.62 Gerade in Berlin war, wie später Befürworter einer reaktionären Handwerkerbewegung meinten, »die liberale manchesterliche Phrase am tiefsten in das Volk eingedrungen«.63 Ein erneuter Anlauf zur Organisation der Handwerkerschaft gegen die Gewerbefreiheit wurde mit der Gründung des deutschen Handwerkerbun­ des am 5. September 1862 in Weimar unternommen. Hier wurde beschlos­ sen, daß »diese Pest und der Schwindel freigewerblicher und gewerbefrei316 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

heitlicher Zustände auf Leben und Tod bekämpft werden müßten«.64 Späte­ stens auf dem Zweiten D eutschen Handwerkertag stellte sich aber heraus, daß die Meinungsverschiedenheiten zwischen den die Gewerbefreiheit grundsätzlich hinnehmenden preußischen Handwerkern und den auf Hei­ ratsverbote für die Gesellen etc. drängenden Hamburgern und Mecklenbur­ gern nicht zu überbrücken waren. D ie auf die Forderung nach Zwangsin­ nungen verzichtende Gruppe, die sich mit der Wiedereinführung des Prü­ fungszwangs begnügen wollte, blieb hier in der Minderheit und organisierte sich getrennt als Preußischer Handwerkerbund. D er D eutsche Handwer­ kerbund tagte noch einmal in Köln 1864, vermochte aber keine dauerhafte Organisation zu begründen. Belegt also der D eutsche Handwerkerbund jenseits aller internen Spannungen die Existenz einer gewerbefreiheitsfeind­ lichen Handwerkerbewegung in den frühen 1860er Jahren, so deutet seine bereits angesprochene regionale Beschränkung auf seine Schwäche hin. 65 Selbst dort wo Vertreter entsandt wurden, muß das nicht unbedingt auf Unterstützung für die Ziele des jeweiligen Handwerkertages verweisen. Als der D üsseldorfer Schuhmachermeister Breuer zum Preußischen Landes­ Handwerkertag nach Berlin fuhr, mußte er sich vorhalten lassen: »eine Hand voll Innungsmänner könne und dürfe sich nicht erlauben, Sie im Auftrage des ganzen Handwerkerstandes nach Berlin zu senden.« Und die Düsseldor­ fer Handwerksmeister, die wohl der Nähe wegen zum Kölner Handwerker­ tag reisen, sind kaum als Zunftfreunde einzustufen. Einige von ihnen wer­ den nämlich schon 1860 in einem Bericht von einer »aus 800—900 Personen bestehenden Versammlung« erwähnt, die u. a. eine Petition »um Aufhebung des Innungswesens« verabschiedet.66 Die Diskussionen um die Einführung einer Gewerbe-Ordnung für den Norddeutschen Bund fuhren schließlich in den späten 1860er Jahren erneut zu einigen Protestversammlungen nord­ deutscher Handwerker, so in Dresden, Hannover und Halle.67 Es ist nicht leicht, die verschiedenartigen Äußerungen von Handwerkern zum Themenkomplex Gewerbefreiheit gegeneinander abzuwägen. D ie vorstehende Skizze zeigt aber hoffentlich hinreichend deutlich, daß die zünftlerischen Bestrebungen innerhalb des Handwerks recht schwach sind, ja daß man geradezu von einer liberalen Phase der Handwerkerbewegung sprechen kann. 68 Unterstützung findet die zünftlerische Handwerkerbewe­ gung in den 1860er Jahren lediglich in konservativen und katholischen Kreisen.69 Auch das Handwerk steht also dem Liberalismus bis zur Reichs­ gründung keineswegs geschlossen feindlich gegenüber. Für zahlreiche Handwerksmeister sind die liberalen Vereine und Genossenschaften von ebenso großer Attraktivität wie für viele Arbeiter und Gesellen. Das liberale Angebot beweist so in den Jahren zwischen Revolution und Reichsgrün­ dung eine beträchtliche Integrationsfähigkeit, die vor dem Hintergrund einer zwar selbständigen, aber noch ganz schwachen Arbeiterbewegung und einer gleichfalls erst später an Bedeutung gewinnenden, zünftlerischen Handwerkerbewegung leicht unterschätzt wird. D urch Vereine, Gewerk317 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

schaften und Genossenschaften vermochten die Liberalen beträchtliche Teile der Handwerker- und Arbeiterschaft an sich zu binden. D ies verdankten sie ihrer Bereitschaft, auch zunehmend an den Rand des liberalen Spektrums gedrängte Ideen wie das Schulzesche Genossenschaftssystem, das ja direkte Anknüpfungspunkte zur Arbeiterverbrüderung aufwies, zu integrieren. Die Degenerierung oder Fortentwicklung des deutschen Liberalismus zur Klas­ senideologie war noch nicht so weit fortgeschritten, daß dies unmöglich gewesen wäre. Ohnehin überschätzt, wer »eine dauerhafte Chance für eine »liberale Arbeiterbewegung« (. . .) in den 60er Jahren schon wegen der Bindung der liberalen Modelle zur Lösung der sozialen Frage an eine be­ stimmte Phase des kapitalistischen Wirtschaftssystems« leugnet, den Ent­ wicklungsstand der deutschen Wirtschaft vor der Reichsgründung und ver­ kennt, daß der soziale Rekrutierungsort der frühen Arbeiterbewegung nicht die Fabrik sondern der handwerkliche oder heimgewerbliche Kleinbetrieb war. 70 D ie Gründe für die frühe, wiewohl in ihrer Endgültigkeit von den Zeitgenossen noch kaum zu erkennende, »Trennung der proletarischen von der bürgerlichen D emokratie« haben nur wenig mit der vermeintlichen Unangemessenheit liberaler Antworten auf die soziale Frage zu tun. Sie sind vielmehr in der den Liberalismus schwächenden politischen Konstellation zwischen deutsch-österreichischem Krieg und der Reichsgründung von oben zu suchen.71 B. Frankreich 1830-1850 Die Zeichen der Zeit standen in Frankreich in der ersten Hälfte des 19. Jahr­ hunderts günstig für eine Verbindung von Liberalismus und Handwerk. Das Loi Allard von 1790 hatte mit der Zunftverfassung ein wichtiges Hin­ dernis für Gewerbefreiheit und eine Institution beseitigt, die auch im Hand­ werk selbst bereits vor 1789 stark umstritten und teilweise funktionsunfähig war. 72 Wurden nach 1815 auch vereinzelt zunftfreundliche Stimmen in Handwerks- und Gewerbekreisen laut,73 so stand deren Restauration im späteren 19. Jahrhundert nicht mehr zur D iskussion. Selbst die im Kaiser­ reich eingeleiteten und von den folgenden Regimen übernommenen Maß­ nahmen, unter Bäckern und Schlachtern der großen Städte Zugangsbe­ schränkungen zum Beruf, staatliche Kontrollen der Rohstoffhaltung und der Preisgestaltung und die Wahl eines dem Zunftmeister vergleichbaren Syndicus einzuführen, wurden sowohl von den betroffenen Handwerks­ meistern als auch von Liberalen abgelehnt, die das Prinzip der Gewerbefrei­ heit über die staatliche Vorsorge für Krisen- und Mangelzeiten stellten. So verfielen die staatlich dekretierten zunftähnlichen Bedingungen im liberalen Lexikon von Coquelin und Guillaume des Jahres 1852 folgender Kritik: »L'organisation actuelle de la boulangerie en France et dans quelques Etats de l'Europe est aussi abusive et aussi barbare que du temps des corporations; 318 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

qu'il faudrait revenir au regime de la liberié complète et absolue proclamée par la premiere Constituante«.74 In dieser Option für die Gewerbefreiheit trafen sich Handwerksmeister und Liberale; ständische Parolen und Anklän­ ge an das Vokabular der Zunft fanden sich - wie William H. Sewell gezeigt hat75 - vor allem unter Gesellen und Arbeitern des Jahres 1848. Kleine Selbständige und liberale Bürger konnten überdies auf gemeinsa­ me politische Aktionen zurückblicken, die sie in der Restaurationszeit gegen eine Politik geführt hatten, die öffentliche Freiheiten begrenzte und die Stellung von Adel und Klerus überhöhte. Sowohl in den Verschwörungen zu Beginn der 1820er Jahre als auch in der Opposition gegen die Regierun­ gen Villèle und Polignac sowie in den »drei glorreichen« Revolutionstagen des Jahres 1830 hatten sich Liberale und Handwerksmeister in der Verteidi­ gung der revolutionären Errungenschaften gegen den Rückschritt zusam­ mengefunden.76 Als Versuch, diese Kooperation in der Julimonarchie fort­ zuführen, kann die 1831 durchgeführte Reorganisation der Nationalgarde interpretiert werden, die die Einheit der Besitzenden gegen konterrevolutio­ näre und revolutionäre Erschütterungen sichern sollte. So begrenzte das Gesetz vom 22. März 1831 den Kreis derer, die das Wehrrecht besaßen, auf diejenigen, die die Kopfsteuer (contribution personelle) bezahlten und die »par leur fortune et l'état de leur santé« in der Lage seien, den nächtlichen Ordnungsdienst und die Aufrechterhaltung der innerstädtischen Ruhe zu gewährleisten.77 Freilich konnte die Regierung nicht umhin, in einer Reser­ ve auch jene in die Nationalgarde aufzunehmen, die ohne steuerpflichtig zu sein, in der Julirevolution mitgekämpft hatten. Dennoch wurde das Gros der Truppe von steuerzahlenden Bürgern der Städte gebildet, die vor allem aus dem Klein- und Mittelbürgertum stammten, da sich etwa in Paris die Notabein unter allerlei Vorwänden vor dem Dienst drückten.78 Trotz dieser programmatischen und politischen Verwandtschaft ist die Julimonarchie als jene Phase, in der sich das Verhältnis von Liberalismus und Handwerk deutlich ausprägte, durch eine deutliche Entfremdung beider charakterisiert. Weder entwickelten die Liberalen eine Handwerkspolitik noch bezogen sie die Bedingungen der städtischen Handwerksmeister in ihre Überlegungen und Praxis ein. 79 D er orleanistische Liberalismus vor 1848 und darüber hinaus war eine Klassenbewegung, die sich auf die Wah­ rung der Interessen einer bürgerlichen Besitzelite konzentrierte. D ies kam schon in der Definition der »classes moyennes« zum Ausdruck.80 Während für François Guizot nicht nur die politische Vorherrschaft, sondern auch die Begrenzung der Mittelklassen auf die besitzenden Honoratioren außer Frage stand, kritisierte die dynastische Opposition um Odilon Barrot die Heraus­ bildung einer bürgerlichen Aristokratie, die sich aus dem Mittelbürgertum abhebe, die Regierungsgewalt monopolisiere und nicht mehr die Interessen der gesamten Mittelklassenexistenzen im Auge hätte.81 Damit gab sie dem Begriff seine das gesamte Bürgertum umfassende Bedeutung zurück. Dem Exklusivitätsanspruch der sich zur Mittelklasse konstituierenden Besitzbür319 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

ger - der Bildungsbürger konnte aufgrund des Wahlrechts und des Steuersy­ stems nur als Besitzer am politischen Leben teilnehmen - setzten die Repu­ blikaner die Rechte der Nation entgegen, d. h. die Mehrheit der vom politi­ schen Entscheidungsprozeß ausgeschlossenen Franzosen. In dieser kriti­ schen Perspektive wurden die Mittelklassen mit den Notabein identifiziert, die ihr politisches Monopol nicht aufgeben wollten. Ihnen wurde entweder die Nation oder das Volk (»le peuple«) agitatorisch entgegengesetzt.82 In dieser Diskussion spielten die Handwerksmeister keine wichtige Rolle. Sie wurden in den einschlägigen Lexika kaum mit einem eigenen Artikel bedacht und tauchten allenfalls als Kleinunternehmer oder als Teil des »peuple« auf. So hieß es in dem bereits zitierten Lexikon, das in der Jahrhun­ dertmitte eine der wenigen Publikationen ist, in der die »artisans« überhaupt erwähnt werden: »L'artisan est un homme de métier, exerçant un art méca­ nique, par exemple un menusier, un serrurier, un cordonnier«. Er besaß mithin keine besondere Stellung in der Gesellschaft, sondern war Teil der Berufsstruktur Frankreichs. »On le confond quelquefois avec l'ouvrier en ce qu'il travaille ordinairement de ses mains; il s'en distingue pourtant en ce qu'il travaille pour son propre comte et à ses risques, tandis que l'ouvrier travaille pour le comte d'autrui, moyennant un salaire déterminé. Α cet égard, il se rapproche davantage de la condition des entrepreneurs d'industries: e'est un petit entrepreneur . . .«.83 Während dieses Lexikon versuchte, die Meister als Teil einer breiten Unter­ nehmerklasse zu verstehen, siedelte das »Dictionnaire politique« von Pagu­ erre aus dem Jahre 1842, das republikanische Couleur trug, die »petits patrons« implizit im »peuple« an. Unter dem ersten Gesichtspunkt konnte mithin am Laissez-faire-Prinzip generell festgehalten und von seiner wohltä­ tigen Wirkung auch eine Verbesserung der Situation der Kleinunternehmer erwartet werden, unter dem zweiten angenommen werden, daß die Lösun­ gen, die für die Volksklassen vorgeschlagen wurden, auch den Kleinunter­ nehmern zugute kämen. D iese waren in beiden Fällen keine eigenständige Kategorie. Sie gewannen allerdings an Bedeutung in Situationen, in denen es um die Stabilität der Gesellschaft als Gesamtheit ging. In der D ebatte um die Re­ form der Gewerbesteuer im Jahre 1844 wurde von verschiedenen politischen Richtungen über das Wohlergehen vor allem des ländlichen Handwerks diskutiert. D ie Debatte ging von zeitgenössischen Enqueten aus, die erga­ ben, daß die französische Industrie stark dezentralisiert war und die Verbin­ dung von ländlicher und agrarischer Tätigkeit nicht nur den französischen Bauern an die Scholle band, sondern auch die politisch gefährliche geogra­ phische Konzentration und Entwurzelung der Proletarier verhinderte. In diesem Kontext erfuhr das ländliche Handwerk und die gewerbliche Neben­ tätigkeit eine bevorzugte Behandlung, deren Bedeutung durch folgende Zahlen umrissen ist: Sie stellten in Orten mit weniger als 2000 Einwohnern 320 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

60% aller Gewerbesteuerzahler und erbrachten 52,9% des nationalen Steueraufkommens.84 D ie ländlichen Notabein wollten einerseits die Posi­ tion der Handwerker auf dem Land stärken, andererseits die Steuerbelastung für die anderen wirtschaftlichen Berufe nicht erhöhen. Sie optierten mithin für eine geringe Steuersenkung. In dieser D ebatte anerkannten sowohl Konservative als auch Liberale die Bedeutung der ländlichen Gewerbetrei­ benden für die Stabilität der Gesellschaft. Sie nahmen damit Ideen vorweg, die später vor allem von Frédéric Le Play entwickelt wurden. 85 Zu einer konsistenten Handwerkspolitik reiften die Debatten indes nicht. Darüber hinaus erfuhr der Kleinbetrieb eine besondere Beachtung in den Werken und Schriften des liberalen Ökonomen Adolphe Blanqui, einem Bruder des bekannten Revolutionärs. Um die Spannungen zwischen Arbei­ tern und Unternehmern zu verringern, war nach seiner Meinung die Be­ wahrung der kleinbetrieblichen Struktur Frankreichs notwendig. D enn mit der Beseitigung der Zünfte sei folgende Situation eingetreten: » . . . il n'y a plus d'une part, qu'un capitaliste qui fait des conditions et de l'autre des ouvriers, ne possédant que leurs bras, qui les acceptent . . .«. 8 6 D iese Situa­ tion sei vor allem in der Großindustrie verbreitet, in der die Beschäftigten sich nicht mehr selbständig machen könnten. Zum Glück für den sozialen Frieden jedoch, vermerkte Blanqui, » . . . il reste encore un beau et vaste champ aux petits industriels: plus modestes, mais plus nombreux, plus heureux et plus riches, que ceux qui dependent des grands manufactures«. Aufgrund der stabilisierenden Wirkung der Werkstatt suchte Blanqui nach einem Gleichgewicht zwischen der Entwicklung industrieller Großbetriebe und der Bewahrung der Kleinunternehmen. Ein Teil der liberalen Ökono­ men, unter ihnen neben Blanqui A. Clément und L. Wolowski, kritisierte mithin den Laissez-faire-Optimismus, den weithin die Wirtschaftswissen­ schaftler C. Dunoyer, T. Fix, L. Faucher oder F. Bastiat vertraten. Ihr Ein­ fluß war aber nicht groß genug, um die liberale Politik in der Julimonarchie nachhaltig beeinflussen zu können.87 Nicht nur betrieben die Liberalen in der Julimonarchie keine systemati­ sche Handwerkerpolitik, sondern sie gerieten in der Frage des Wahlrechts und der Assoziationen auch in Opposition zu handwerklichen Interessen. Nur wenige Handwerksmeister gehörten zu jenen die Wahlkörper des Bür­ gerkönigtums bildenden Mittelklassen. D ie neue Verfassung senkte zwar den Zensus von 300 auf 200 Francs und öffnete damit auch sozial die Wahl­ versammlungen, aber sie gewährte nur selten den Kleingewerbetreibenden Zugang. D ies lag neben der Höhe des Zensus auch an der Tendenz der in der französischen Revolution eingeführten vier Steuern - »les quatres vielles« -, die den Grundbesitz deutlich stärker als die gewerbliche Aktivität besteuer­ ten.88 Dadurch konnten zwar kleinere Besitzer, kaum aber kleinere Unter­ nehmer das Wahlrecht erwerben. Im burgundischen D epartment Côte d'Or verdankten 1846 lediglich 112 von 3347 Wählern ihr aktives Wahlrecht der Gewerbesteuer. D ieses war unerreichbar für jene Mehrheit der Meister, die 321 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

wenig Kapital besaßen, von Zulieferern und Abnehmern abhängig waren und für die die Werkstatt eher ein Mittel war, der Armut zu entgehen, als eine Stufe auf dem Weg des sozialen Aufstiegs. So besaßen im Paris des Jah­ res 1847 66% aller Handwerksmeister weniger als 2000 Francs Kapital, und nur 5% von ihnen können insofern als unabhängig bezeichnet werden, als sie bei dem Einkauf ihrer Rohstoffe und bei dem Verkauf des Endproduktes unter mehreren Kaufleuten wählen konnten.89 Die materielle Unabhängig­ keit, die nach liberalem Credo Voraussetzung für politische Entscheidungs­ fähigkeit war, blieb eher Zielperspektive als Realität. D er Aufstieg in die Mittelklassen gelang nur einer Minorität, für die meisten Meister führte ein sozialer Platzwechsel allenfalls zur Öffnung eines Ladens. Insgesamt blieben die kleinen Meister eng mit den arbeitenden Klassen verbunden, aus denen sie stammten, in die sie in Krisenzeiten zurückkehrten und mit denen sie Existenzunsicherheit, Abhängigkeit und Not teilten.90 D ie Bürgergesell­ schaft der Julimonarchie umfaßte nur wenige Handwerksmeister und schloß die Mehrheit von ihnen von politischen Teilnahmerechten auf der nationalen Ebene aus. Im Laufe der 1830er Jahre und vor allem der 1840er Jahre nahm jedoch der Anspruch der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten zu, das politi­ sche Geschehen mitzugestalten. D er Gedanke der Wahlrechtsreform, den die Republikaner vor allem formulierten, fand auch im Handwerk Verbrei­ tung. In Limoges etwa befanden sich 1840 unter den 280 Personen, die an einem Reformbankett teilnahmen, 20 Handwerksmeister.91 Auch in der Nationalgarde, in der - wie bereits erwähnt - Bürger und Kleinbürger unter Waffen standen, zeigte sich in der Wahl der Offiziere und bei Paraden, daß der Anspruch, nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte zu besitzen, seinen Weg machte. In Paris etwa wählten die Bataillone keineswegs die liberalen Notabein, sondern Gardisten aus dem mittleren Bürgertum zu Offizieren und verwandelten in den 1840er Jahren gar die Wahlen zu Entscheidungen für und gegen die Regierungspolitik.92 Im Jahre 1840 mischten sich bereits in die Hochrufe der an Louis-Philippe vorbeimarschierenden Nationalgarden aus Paris Forderungen nach der Reform des zensitären Regimes. Da sich der Liberalismus eng mit dem Immobilismus Guizots verband und selbst die aus dem liberalen Lager stammende Opposition eher vorsichtige Vorschläge zur Wahlrechtsreform unterbreitete, konnten die Republikaner die Unzufrie­ denheit unter Handwerksmeistern artikulieren. D ie Opposition gegen die Enge des »pays legal« fand nicht im Liberalismus, sondern gegen ihn statt.93 Mit dem politischen verband sich in den 1840er Jahren zunehmend ein soziales Problem. In den wiederholten Krisen der Julimonarchie zeigte sich die Unsicherheit der handwerklichen Existenz deutlich. Überdies nahm in den Massenhandwerken wie Schneiderei, Schusterei, Tischlerei, aber auch im Baugewerbe die Abhängigkeit von Kaufleuten oder von Zwischenmei­ stern zu und neue bedrohliche Formen an. In dieser Situation versuchten zwar Meister auch, ihre Position mit Hilfe einer Verschlechterung der Ar322 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

beits- oder Lohnbedingungen der Gesellen zu verbessern,94 es gewann aber auch der Gedanke der »Assoziation« an Attraktivität unter ihnen.95 Dessen Wirkung im Handwerk ist auf zumindest zwei Faktoren zurückzuführen. Einmal war der Status des Handwerkers in Frankreich keineswegs so festge­ schrieben wie in Deutschland. D er »maitre artisan« konnte im Laufe seiner Berufskarriere sehr wohl für Jahre Lohnabhängiger werden oder außerhalb seines Berufes Einkommen und Auskommen suchen. Da überdies die zünft­ lerischen Strukturen fehlten, waren die Grenzen zwischen Kleinmeistern und Gesellen fließend.96 D adurch war der Gedanke einer Verbindung von Kleinunternehmern und Arbeitern den Meistern durchaus nicht fremd. Zum anderen war das Konzept der »Assoziation« nicht sozialistisch festge­ legt. In Buchez' Zeitschrift »L'Atelier« wurde es etwa verbunden mit der Apologie der Privatinitiative.97 Auch in dem republikanischen Lexikon von Duclerc und Paguerre verlor die Assoziation, die von der gleichmachenden »Communauté« unterschieden wurde, jeglichen Schrecken für Kleinmei­ ster. D enn in einer Genossenschaft wäre die Konkurrenz abgeschafft und folgender Zustand beseitigt: »plus de ces capitaux isolés, livrés aux hasards d'une lutte ruineuse, dévorés par les calculs haineux, de sacrifices égoistes d'un avide désinteréssement.« D amit würde auch der Unterschied zwischen Unternehmern und Arbeitern aufgehoben und »il n'aura plus parmi les travailleurs que des associés avec des fonctions différentes«.98 Weniger wur­ de damit ein Zustand angepeilt, in dem alle Eigentümer ihre Besitztitel verlören, sondern eine D emokratie von Kleinbesitzern in Handel, Land­ wirtschaft und Werkstatt. Mit diesem Programm wurden die Republikaner attraktiv für die kleinen Meister, die sich in der 1848er Revolution dann auch unter den Mitgliedern und Initiatoren der Genossenschaften fanden. D a sie überdies staatliche Eingriffe gegen Monopole rechtfertigten und auf die egalisierende Wirkung der Steuer setzten,99 kamen die Republikaner Forde­ rungen der Handwerksmeister sehr nahe, da sie einerseits den Privatbesitz und die Eigeninitiative gegen nivellierende Vorstellungen verteidigten, an­ dererseits die Monopole und die Konkurrenz, die den Kleinbetrieb vernich­ teten, ablehnten und von der Selbsthilfe, der Assoziation, aber auch von staatlicher Unterstützung die Verwirklichung einer Gesellschaft der Klein­ besitzer erwarteten. Es zeugt für die weite Verbreitung des Assoziationsgedankens, daß auch Blanqui ihn aufnahm. So schrieb er in seinem »Cours d'économie politique« des Jahres 1838/39 mit einer deutlichen Verbeugung vor Saint-Simon und Fourier: »Je crois, en un mot, que la prospérité de l'entreprencur pourrait venir du zèle et de rintelligence du travail et non pas de son exploitation, ce qui implique nécèssaire­ ment leur association, c'est-à-dire la participation du travail aux profits qu'il a concouru à créer par son alliance avec le capital«.100

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Wenn Blanqui auch die Vorschläge der Frühsozialisten ablehnte und in seinen Vorstellungen vage blieb, so stach seine positive Haltung zu der Assoziation doch von der Opposition ab, die die meisten Liberalen gegen­ über diesem Konzept an den Tag legten. So wetterte u. a. Adolphe Thiers im Jahre 1848 gegen die Produktionsgenossenschaften, in denen er zwar ein Mittel für die Arbeiter der Großindustrie, nicht aber für die Gesellschaft insgesamt sah. Denn nach seiner Diagnose raubten sie den Arbeitslosen ihre letzten Ersparnisse, berücksichtigten weder die Interessen der zahlenmäßig vorherrschenden Landbevölkerung noch der von der Krise nicht betroffe­ nen Arbeiter. D iese Vorschläge seien von den »adversaires de la propriété« gemacht und müßten bekämpft werden. 101 Damit blendete Thiers die Breite der bestehenden Assoziationsbewegung aus und reduzierte sie - eine gängi­ ge Praxis der Liberalen - auf die Pläne der Sozialisten. Diese bekämpften die »Tyrannei des Kapitals«, sännen auf Abschaffung des Privateigentums und trügen den Leistungen und Versagungen der Unternehmer nicht Rech­ nung.102 In direktem Gegensatz zu Produktivität und Leistung institutiona­ lisierten sie in den genossenschaftlich organisierten Unternehmen die Herr­ schaft der Faulen: »Vous figurez-vous le chef d'une usine élu par ses ouvriers, tour à tour destitué par les paresseux, ou porté par cux à la direction des ateliers?« Eine Lösung für Elend und Not, Arbeitslosigkeit und Existenzbe­ drohung liege nicht in diesen Chimären noch in staatlichen Eingriffen, sondern im normalen Lauf der Dinge: »il y a une incontestable amélioration due à la marche du temps, due à l'ardeur avec laquelle tout le monde travaille. «Diese liberale Therapie gründete sich auf das Laissez-faire Prinzip, die Konkurrenz und die Leistung. D a Thiers überdies die Institution des in der Revolution 1848 bekämpften Zwischenmeisters als Möglichkeit für Tüchtige verteidigte, dem Arbeitermilieu zu entrinnen und eine erste Spros­ se auf der Leiter des sozialen Aufstiegs zu erklimmen, geriet er - wie andere Laissez-faire-Theoretiker auch - in Widerspruch zu Interessen und Pro­ grammen, die unter Handwerksmeistern verbreitet waren. Da eine Handwerkerbewegung in Frankreich sich nicht aus der Organisa­ tion der Unternehmer insgesamt herausgelöst hatte,103 ist es schwierig, die politischen Einstellungen unter Meistern zu definieren. Leichter ist es, aus­ gehend von Regionaluntersuchungen, die politische Haltung von Hand­ werksmeistern zu bestimmen und aus ihr Rückschlüsse auf die Interessen­ Struktur im Handwerk zu ziehen. Alle Revolutionsstudien unterstreichen, daß die »démocrates-socialistes« des Jahres 1849 nicht nur die Interessen und Probleme der Kleinunternehmer vertraten, sondern auch von diesen ge­ wählt wurden. Sowohl die Forschungen von Alain Corbin als auch die von Ted Margadent haben ergeben, daß die Kader der republikanischen Opposi­ tion gegen den Staatsstreich Louis Bonapartes aus dem ländlichen und kleinstädtischen Handwerk stammten.104 Schließlich hat Raymond Huart für das Bas-Languedoc gezeigt, daß sich die republikanische Bewegung nach 1850 dank der Aktivitäten der Handwerker halten konnte.105 D as 324 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Handwerk war freilich politisch nicht homogen. D ie Schlachtermeister in Limoges etwa gehörten zu den Stützen des Royalismus und Katholizismus in der Stadt ebenso wie die von städtischen Honoratioren abhängigen Lu­ xushandwerker in Toulouse.106 In Niort dagegen dominierte das liberale Bürgertum die Kleinbürger.107 Aber der unter Meistern und Kleinhändlern bevorzugte Republikanismus setzte sich als Bewegung durch, die sowohl Traditionen der Französischen Revolution fortführte als auch Strukturen des letzten Jahrhundertdrittels vorwegnahm. Er ordnete sich in die Nachfolge des Jakobinismus ein, d. h. jener Bewegung, die mit einer Demokratie von Kleinbesitzern die Forderung nach direktem Einfluß dieser Gruppe auf politische Entscheidungen verband. Gleichzeitig setzte er sich indes ab von liberalen und konservativen Versuchen, über Klientelpolitik Einfluß zu gewinnen und vertikale Strukturen politisch zum Tragen zu bringen. Er nahm mit dem Engagement für Assoziation, Brüderlichkeit und Gleichbe­ rechtigung vielmehr Organisationsprinzipien der Arbeiterbewegung vor­ weg. 108 Die Liberalen scheiterten in der Julimonarchie, die Handwerksmeister für ihre Politik dauerhaft zu mobilisieren, ja, sie versuchten es seit dem Ende der 1830er Jahre nicht einmal ernsthaft. Nach den Flitterwochen zu Beginn der Julimonarchie brachen die Konflikte aus. D iese entbrannten um politische Rechte und hatten die strenge zensitäre Abschließung des Regimes gegen erfolgreiche und begüterte Meister, aber auch gegen jene zum Gegenstand, die in der Nationalgarde politische Praxis erworben hatten. D a das Bürger­ königtum unter der Regierung Guizots immer weniger zögerte, Korruption und Wahlbeeinflussung als Herrschaftsmittel einzusetzen, richtete sich der seit den Sanskulotten verbreitete Moralismus der Handwerker gegen diese liberale Politik.109 D iese besaß im Unterschied zu der Praxis des späteren Napoleon III. und zum Republikanismus kein Sozialprogramm, um Ant­ worten auf Probleme der Handwerksmeister geben zu können. D er vage Hinweis auf die heilende Kraft der freien Konkurrenz konnte kaum unter denjenigen auf Resonanz treffen, die die Nachteile des freien Wettbewerbs erfuhren und hautnah die Folgen von Krisen erlebten. Schließlich verfugten die Liberalen auch kaum mehr über Institutionen, die das Handwerk poli­ tisch an Ziele des Liberalismus und des liberalen Bürgertums hätten binden können. D ie Nationalgarde, die als Miliz aller Bürger geplant war, wurde von den reichen Notabein verlassen und von den Kleinbürgern oft gereinigt; sie entwickelte sich überdies in den 1840er Jahren, vor allem in den großen Städten, zu einem Hort der Opposition,110 die dem regierenden Liberalis­ mus außenpolitische Schwäche und innere Reformunfähigkeit vorwarf. Die traditionellen Vereinigungen, die kleine und große Bürger zusammenge­ führt hatten, wie die »pénitents« in Marseille oder Limoges, verloren zuneh­ mend an Bedeutung, während die bürgerlichen »cercles« nach Agulhons Analyse ausschließlich Besitz- und Bildungsbürger aufnahmen.111 Pro­ grammatisch und institutionell war die Trennung zwischen liberalen Nota325 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

blen und Handwerksmeistern bereits vor 1848 vollzogen. D er Republika­ nismus übernahm die Oppositionsrolle, die der Liberalismus vor 1830 ge­ spielt hatte, bot ein attraktives Sozialprogramm an, das das Privateigentum garantierte und entwickelte mit der klassenlosen Gesellschaft der Kleinbesit­ zer ein utopisches Modell, das bis in das 20. Jahrhundert hinein seine wer­ bende Kraft unter Meistern und Kleinhändlern nicht verlor.112 D er Libera­ lismus hingegen verkam zur Ideologie eines zunehmend immobilen und korrupten Regimes und widmete sich immer mehr der Wahrung der Interes­ sen der Besitzeliten Frankreichs.

C. Resümee Wir hoffen, daß unsere Darstellung die enormen Unterschiede im Verhältnis von Liberalismus und Handwerk in D eutschland und Frankreich hinrei­ chend deutlich gemacht hat, und wollen diese hier nicht noch einmal aufli­ sten. Statt dessen wollen wir knapp die Gründe für diese Verschiedenheit ansprechen, die vor allem im politischen Bereich liegen. Zum einen ist die (soziale) Integrationskraft des französischen Liberalismus im hier untersuch­ ten Zeitraum weit geringer als die des deutschen. D as hat mit der Rolle des französischen Liberalismus als Regierungspartei zu tun, entscheidend aber scheint, daß der deutsche Liberalismus vor der Reichsgründung ungeheure Integrationskraft als Nationalbewegung besitzt. Zum anderen aber entwik­ keln die französischen Liberalen anders als die deutschen keine auf das Handwerk gerichtete Sozialpolitik. D afür sind weniger unterschiedliche Gesellschaftsbilder verantwortlich, da auch viele französische Liberale das Kleingewerbe für durchaus bewahrenswert halten, als vielmehr politische. Das D esinteresse des französischen Liberalismus am Handwerk kommt einer Aufgabe dieser Sozialgruppe gleich und läßt sich als Eingeständnis verstehen, die Handwerker an den Republikanismus verloren zu haben. Die bloße Existenz des Republikanismus seit der Großen Französischen Revolu­ tion als Partei des peuple markiert so den vielleicht wichtigsten Unterschied zwischen beiden Ländern. Zum Mittelstand, zu den classes moyennes gehören die Handwerker aufgrund ihrer realen sozioökonomischen Lage weder in Deutschland noch in Frankreich. Nur in Frankreich aber gibt es links vom Liberalismus eine Partei des peuple, die auch und gerade die Handwerker anspricht. Bei gänzlich verschiedenartiger politischer Position steht dieser französische Republikanismus für Gesellschaftsbilder und Sozialprogram­ me, die denen des deutschen Liberalismus ähnlich sind. So ist denn auch in Frankreich das in Deutschland vor allem liberal geprägte Genossenschafts­ programm eindeutig links besetzt. Kein Wunder also, daß deutsche Liberale wie Schulze-D elitzsch genossenschaftliche Vorbilder in England, nicht in Frankreich suchten.113 326 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Anmerkungen 1 D azu knapp F. Lenger. D ie handwerkliche Phase der frühen Arbeiterbewegung in Eng­ land, Frankreich, D eutschland und den USA. Plädoyer für einen Vergleich, in: GG 13, 1987, S. 232-243. 2 L. Gall, Liberalismus und »bürgerliche Gesellschaft«, wieder abgedruckt in: Ders. (Hg.), Liberalismus, Köln 1976, S. 162-186, hier S. 176. 3 Vgl. Gall, S. 165/166, und R. Koch, »Industriesystem« oder »bürgerliche Gesellschaft«? Der frühe deutsche Liberalismus und das Laisser—faire-Prinzip, in: GWU 24, 1978, S. 605-628. 4 H. Sedatis, Liberalismus und Handwerk in Südwestdeutschland, Stuttgart 1979. 5 Vgl. W. Conze, Mittelstand, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 49-92, hier S. 62-73; zur Lage der Handwerker F. Lenger, Sozialgeschichte der deutschen Handwerker seit 1800, Frankfurt 1988, Kap. II. 6 Gall, S. 166. 7 M. Gugel, Industrieller Aufstieg und bürgerliche Herrschaft. Sozioökonomische Interes­ sen und politische Ziele des liberalen Bürgertums in Preußen zur Zeit des Verfassungskonflikts 1857-1867, Köln 1975. 8 L. A. von Rochau, Grundsätze der Realpolitik. Angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands, hg. von H.-U. Wehler, Frankfurt 1972, (Erster Teil von 1853), S. 89; zur Lage der Handwerker Lenger, Sozialgeschichte, bes. Kap. IV. 9 Rochau, (Zweiter Teil von 1869), S. 264. 10 Vgl. Sedatis, S. 43; Conze, Mittelstand, S. 62-81 und insbes. J . C. Bluntschli, Vierter Stand, in: Deutsches Staats-Wörterbuch (= D SW), hg. von Dans. u. K. Brater, Bd. 11, Stutt­ gart 1870, S. 72-76. 11 Rochau, (Erster Teil), S. 184. 12 Zitiert nach Sedatis, S. 42. 13 A. Schäffle, Gewerbe, in: DSW, Bd. 4, 1859, S. 318-336. hier S. 320. 14 Rochau, (Erster Teil), S. 97. 15 V. A. Huber, Assoziation, in: DSW, Bd. 1, 1857, S. 456-500, hier S. 458. 16 J. Hansen, Gustav von Mevissen, 2Bde., Berlin 1906; vgl. auch B.C. Padtberg, Rheini­ scher Liberalismus in Köln während der politischen Reaktion in Preußen nach 1848/49, Köln 1985. 17 Vgl Padtberg, S. 129. 18 V. Hentschel, D ie deutschen Freihändler und der volkswirtschaftliche Kongreß 1858 bis 1885, Stuttgart 1975, S. 55. 19 Wilhelm Adolf Lette, Handwerk, in: D as Staats-Lexikon, hg. v. Karl Rotteck u. Karl Welcker, Bd. 7, Leipzig 18623, S. 418-422, hier S. 421. 20 Schäffle, S. 327. 21 Lette, S. 421. 22 Zur Arbeiterbewegung zuletzt C. Eisenberg, Frühe Arbeiterbewegung und Genossen­ schaften, Bonn 1985. 23 Zu Schulze jetzt R. Aldenhoff, Schulze-D elitzsch. Ein Beitrag zur Geschichte des Libera­ lismus zwischen Revolution und Reichsgründung , Baden-Baden 1984; zu Lassalle u. a. Eisen­ berg; zu anderen Kritikern Schulzes: B. Schulze, Wirtschaftspolitische Auffassungen bürgerli­ cher D emokraten im Jahrzehnt der Reichscinigung, in: H. Bartel u. E. Engelberg (Hg.), D ie großpreußisch-militanstische Reichsgründung 1871, Berlin 1971, S. 379—410. 24 T. Offermann, Arbeiterbewegung und liberales Bürgertum in D eutschland 1850-1863, Bonn 1979. S. 213. 25 Vgl. z. B. Hermann Baumgarten, D er deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik, hg. v. A.M. Birke, Frankfurt 1974 [zuerst 1866], S. 94; zum Centralverein J . Reulecke, Sozialer Frieden durch soziale Reform, Wuppertal 1983, bes. S.255f.; zum volkswirtschaftlichen Kongreß Hentschel.

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26 Β. Schulze, Zur linksliberalen Ideologie und Politik. Ein Beitrag zur politischen Biogra­ phie Schulze-Delitzschs, in: Bartel u. Engelberg (Hg.), S. 271-307, hier S. 307. 27 Hermann Schulze-Delitzsch, Associationsbuch fur deutsche Handwerker und Arbeiter, Leipzig 1853, S. 8. 28 Ders., Die arbeitenden Klassen und das Assoziationswesen in Deutschland als Programm zu einem deutschen Congress, Leipzig 1858, die folgenden Zitate ebd., S. 4, 11 u. 49. 29 Ebd., S. 53, und Ders., Vorschuß- und Creditvereine als Volksbanken, Leipzig 18623, S. 5. 30 D ers., Die arbeitenden Klassen, S. 56-58, 61 f. 31 W. Conze, Möglichkeiten und Grenzen der liberalen Arbeiterbewegung in Deutschland. Das Beispiel Schulze-Delitzschs, Heidelberg 1965, S. 14. 32 Schulze-D elitzsch, Vorschuß- und Creditvereine, S. 2f. 33 Aldenhoff, S. 96. 34 Schulze-D elitzsch, Die arbeitenden Klassen, S. 53. 35 John Prince-Smith, Die sogenannte Arbeiterfrage, wieder in: Ders. Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. v. O. Michaelis, Berlin 1877, S. 26-42, hier S. 29 u. 40. 36 W. Emmich, Betrachtungen über verschiedene Übelstände und Bedürfnisse für die Erhal­ tung der kleineren Gewerbetreibenden, sowie über die Mittel zur Verminderung des Proleta­ riats, in: Mittheilungen des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, (1853/54); Nachdruck hg. v. W. Köllmann u. J . Reulecke, Hagen 1980, Bd. 4, S. 2180. 37 Zitiert nach O. Frühauf, Bürgerlich-liberale Sozialpolitik 1836-1865. Aus dem Frankfurter »Arbeitgeber« von Max und Franz Wirth, Diss. München 1966, S. 81; vgl. Aldenhoff, S. 112/113. 38 E. Pankoke, Sociale Bewegung - Sociale Frage - Sociale Politik. Grundfragen der deut­ schen »Socialwissenschaft« im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1970, S. 175. 39 Engels an Marx, 16. 10. 1862, in: Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Bd. 30, Berlin 1982, S. 288f. 40 D azu ausführlich E. Hasselmann, Geschichte der deutschen Konsumgenossenschaften, Frankfurt 1971, bes. S. 90-99, 126-183. 41 Schulze-D elitzsch, Vorschuß- und Creditvereine, S. 8. 42 Vgl. F. Lenger, Zwischen Kleinbürgertum und Proletariat. Studien zur Sozialgeschichte der Düsseldorfer Handwerker 1816-1878, Göttingen 1986, S. 201. 43 Vgl. die Aufstellung bei Offermann, Arbeiterbewegung, S. 555. 44 Alle nicht näher belegten Angaben in den beiden vorstehenden Absätzen nach Aldenhoff, S. 103-106. 161-170. 45 Eisenberg, S. 35, ähnlich urteilt Offermann, Arbeiterbewegung. 46 Zur sozialen Basis des ADAVs vgl. z. Β. Α. Herzig, Der Allgemeine deutsche Arbeiter­ Verein in der deutschen Sozialdemokratie. Dargestellt am Beispiel der Biographie des Funktio­ närs Carl Wilhelm Tölcke (1817-1893), Berlin 1979. 47 Vgl. Eisenberg, S. 124-179; vgl. auch S. 70-73. 48 Lenger, Kleinbürgertum, S. 198. 49 August Bebel, Aus meinem Leben, Berlin 1978 (zuerst 1910), S. 68. 50 Vgl. Eisenberg, S. 47; G. Mayer, D ie Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland [1912], wieder in: Ders., Sozialismus und bürgerliche Demokratie, hg. v. H.-U. Wehler, Frankfurt 1969. 51 Vgl. U. Engelhardt, Gewerkschaftliches Organisationsverhalten in der ersten Industriali­ sierungsphase, in: W. Conze/Ders. (Hg.), Arbeiter im Industrialisierungsprozeß, Stuttgart 1979, S. 372-402, hier S. 390. 52 Vgl. z. B. Aldenhoff, S. 128-131. 53 Lenger, Kleinbürgertum, S. 195. 54 Vgl. z. B. den Art. von Viktor Böhmort im Bremer Handelsblatt, den Hentschel, S. 27/28 referiert; ähnlich Lette. 55 G. F. Bandow u. Hermann Brämer, D ie Handwerker-, Arbeiter- und ähnlichen Vereine in Preußen, in: Der Arbeiterfreund 1866, S. 48-90, hier S. 79.

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56 Vgl. zu Württemberg: D . Laugewiesche, Liberalismus und D emokratie in Württemberg zwischen Revolution und Reichsgründung, D üsseldorf 1974, S. 375—377. 57 T. Offermann, Mittelständisch-kleingewerbliche Leitbilder in der liberalen Handwerker­ und handwerklichen Arbeiterbewegung der 50er und 60er Jahre des 19. Jahrhunderts, in: U. Engelhardt (Hg.), Handwerker in der Industrialisierung, Stuttgart 1984, S. 528-551, hier S. 528; dort weitere Belege. 58 Sedatis, S. 93. 59 W. Stieda, Handwerk, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaft, Bd. 4, Leipzig 21900, S. 1097-1114, hier S. 1104. 60 W. Gimmler, Die Entstehung neuzeitlicher Handwerkerverbände im 19. Jahrhundert, ihre Ziele, Struktur und Auseinandersetzungen um eine grundsätzliche, gesetzlich verankerte Rege­ lung des Organisationswesens, D iss. Erlangen 1972, S. 183. 61 E. F. Goldschmidt, Die deutsche Handwerkerbewegung bis zum Sieg der Gewerbefreiheit, München 1916, S. 107; vgl. auch Stieda. 62 Vgl. H. Herz, Preußischer Volks-Verein (PVV), 1861-1872, in: Lexikon zur Parteienge­ schichte, Bd. 3, Leipzig 1985, S. 599-603. 63 E. Jäger, D ie Handwerkerfrage, Berlin 1887, S. 81. 64 Zit. nach Stieda, S. 1104. 65 Hierzu und zum obenstehenden Offermann, Arbeiterbewegung, S. 272 f. 66 Lenger, Kleinbürgertum, S. 195. 67 Stieda, S. 1105. 68 D ies hat Implikationen für den verbreiteten Versuch, eine Kontinuität des »popular antimodernism« (Volkov) unter den Handwerksmeistern von 1848 bis 1933 zu konstruieren. Dazu kritisch F. Lenger, Tradizioni artigiane e origini del movimento operaio. Alcune reflessio­ ni sulla reccute letteratura tedesca, in: Movimento Operaio e Socialista VIII (1985), S. 477-485. 69 Vgl. z. B. Joseph Edmand Joerg, Geschichte der social-politischen Parteien in Deutschland, Freiburg 1867. 70 Offermann, Arbeiterbewegung, S. 195f. 71 interessant dazu J . Breuilly, Liberalismus oder Sozialdemokratie? Ein Vergleich der briti­ schen und deutschen politischen Arbeiterbewegung zwischen 1850 und 1875, in: J. Kocka (Hg.), Europäische Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. D eutschland, Österreich, England und Frankreich im Vergleich, Göttingen 1983, S. 129-166. 72 Vgl. S.L. Kaplan, Reflexions sur le monde du travail, 1700-1815, in: ReH 261, 1979, S. 17-77; Ders., Provisioning Paris. Merchants and Millers in the Grain and Flour Trade during the Eighteenth Century, Ithaca, N. Y. 1984, S. 163ff.; S. 466ff. 73 Vgl. die Hinweise auf zünftlensche Reaktionen in: G. u. H. Bourgin (Hg.), Les patrons, les ouvriers et l'état. Le régime de l'industrie en France de 1814 à 1830, 3 Bde., Paris 1912-1941, Bd. I. S. 79f., 335; Bd. 2, S. 9f.; Bd. 3, S. 203ff. Β. Gille, Le Conseil Général des Manufactures. Inventaire anytique des procés-verbaux, 1810-1829, Paris 1961, S. XIII, 66f. 74 Goquelin u. Guillaumin, Dictionaire de l'économie politique, Paris 1852, 2. Bd., S. 199. 75 W. H. Sewell jr., Work and Revolution in France: The Language of Labour form the Old Regime to 1848. New York 1980; Ders., Artisans, Factory Workers, and the Formation of the French Working Class, 1789-1848, in: I. Katznelson u. A. R. Zolberg (Hg.), Working-Class Formation. Nineteenth Century Patterns in Western Europe and the United States, Princeton 1986, S. 45-70. 76 H.~G. Haupt, Nationalismus und Demokratie. Zur Geschichte der Bourgeoisie im Frank­ reich der Restauration, Frankfurt 1974, S. 124 ff., 205 ff. 77 L. Girard, La garde national, 1814-1871, Paris 1964. 78 A. Daumard, La bourgoisie parisienne de 1815 à 1848, Paris 1963, S. 584ff. 79 Zahlenmäßig dominierte jedoch vor 1848 das ländliche Handwerk, das sich allerdings nur selten aus seinen symbiotischen Beziehungen mit der Landwirtschaft und der ländlichen Gesellschaft gelöst hatte. Vgl. J.-C. Farcy, Rural artisans in the Beauce during the ninteeth century, in: G. Crossick u. H.-G. Haupt (Hg.), Shopkeepers and master artisans in Ninteenth­ Century Europe, London 1984, S. 219ff.

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80 M. Fischer, Mittelklasse als politischer Begriff in Frankreich seit der Revolution, Göttin­ ­en 1974. 81 Journal des Débats 3., 4. und 5. Mai 1837; Daumard, S. 594. 82 D ie klassische Formulierung dieses Gedankens stammt bekanntlich von Jules Michelet, Le peuple [1846], Paris 1965. 83 Coquelin u. Guillaumin, S. 76. 84 J . Gaillard, Les intentions d'une politique fiscale: la patente en France au XIXe siécle, in: Bulletin du Centre d'Histoire de la France contemporaine 7, 1986, S. 15-38, bes. 19ff.; R. L. Koepke, The loi des patentes of 1844, in: FHS 11, 1979/80, S. 398 ff. 85 M. Z. Brooke, Le Play, engineer and social scientist, 1976. 86 Adolphe Blanqui, Cours d'économie industrielle (1838-1839), Paris 1840, S. 116. 87 Vgl. F. Demier, Libéralisme à la Française et Synthese républicaine, in: G. Lavau u. a. (Hg.), L'universe politique des classes moyennes, Paris 1983, S. 27—46; vor allem aber Ders., Adolphe Blanqui: Un économiste libéral face à la Revolution industrielle 1794—1854, These de 3e cycle, Paris-Nanterre 1981. 88 R. Rémond, La vie politique en France, 1789-1848, Bd. 1, Paris 1965, S. 299 ff. 89 P. Lévêque, Une société provinciale: La Bourgeoisie sous la monarchie de juillet, Paris 1983, S. 245; Daumard, S. 42f.; A. Cotterau, Vorwort zu D. Poulot, Le Sublime ou le travailleur comme il est en 1870 et ce qu'il peu être, Paris 1980, S. 69ff. 90 D as betont neuerdings zu Recht J. Ranciére, The Myth of the Artisan, in: S. L. Kaplan u. C. J . Koepp (Hg.), Work in France. Representations, meanings, organisation and Practise, Ithaca, N. Y. 1986, S. 317-334. 91 J . M. Merriman, The Red City. Limoges and the French Nineteenth Century, New York, N.Y. 1985, S. 76. 92 Vgl. D aumard, S. 597ff., L. Girard, La garde nationale, 1814-1871, Paris 1964; nach P. Vigier, La vie quotidienne en province et à Paris pendant les journées de 1848, Paris 1982, S. 30ff., waren an manchen Orten (z. Β. in Marseille) in der Nationalgarde verschiedene soziale Milieus integriert. 93 Obwohl inzwischen unzureichend, als Einstieg noch unerläßlich: G. Weill, Histoire du parti republicainn en France 1814-1870, Paris 19282. 94 C. Johnson, Economic Change and Artisan D iscontent: The Taylors History, 1800-1848, in: R. Price (Hg.), Revolution and Reaction: 1848 and the Second French Republic London 1975, S. 87-114; E. Hobsbawn u. J.Scott, Political shoemakers, in: PP 89, 1980, S. 86—114; R. Aminzade, Class, Politics and Early Industrial Capitalism: A Study of Mid­ Neneteenth Century Toulouse, France, Albany, Ν. Y. 1981. 95 B. H. Moss, The Origins of the French Labor Movement: The Socialism of Skilled Workers, 1830-1914, Berkeley, Cal. 1976. 96 Vgl. die Beispiele in: R. Gossez, Les ouvries de Paris: L'organisation 1848-1851, La Roche-sur-Yon 1967. 97 A. Cuivillier, P.-J. Buchez et les origines du socialime chrétien, Paris 1948. 98 D uclerc u. Paguerre, S. 115f. 99 Vgl. das Programm der »démo-socs« in der 1848er Revolution, in: J . Kayser, Les grandes batailles du radicalisme, Paris 1962, S. 316f. 100 Blanqui, S. 128. 101 Adolphe Thiers, D e la propriété, Paris 1848, S. 219ff.; ähnlich C. Dunoyer, Oeuvres, 3 Bde., Paris 1886, Bd. I, S. 39 ff.; zu Thiers jetzt: P. Guiral, Thiers, Paris 1986. 102 Thiers, S. 230ff.; die folgenden Zitate ebd., S. 247, 417 u. 263ff. 103 Vgl. Gossez. 104 A. Corbin, Archaisme et modernité du Limousin au XIXe siècle, 1845-1880, Paris 1975, S. 301 ff.; T. W. Margadant, French Peasants in Revolt. The insurrection of 1851, Princeton, N.J. 1979. 105 R. Huart, Le mouvement républicain dans le Languedoc, Paris 1985. 106 Merriman, S. 12ff.; Aminzade.

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107 J . C. Martin, Hiérarchie et structure de la société commerçante: les listes d'électeurs au tribunal de commerce de Niort en 1864 et 1874, in: MS 112, 1980, S. 57-77. 108 H.-G. Haupt, Langsame Industrialisierung und republikanische Tradition, in: Kocka (Hg.), S. 39-76. 109 Λ. Soboul, Les Sans-culottes parisiens en l'an II, Paris 1958. 110 Vgl. Girard; Merriman, S. 75ff. 111 M. Agulhon, Le cercle dans la France bourgeoise (1800-1848), Paris 1977. 112 Vgl. jetzt P. G. Nord, Paris Shopkeepers and the Politics of Resentment, Princeton, N.J . 1986. 113 Vgl. dazu Aldenhoff S. 89f.

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RAINER H U D E M A N N

Politische Reform und gesellschaftlicher Status quo Thesen zum französischen Liberalismus im 19. Jahrhundert*

Das wissenschaftliche Interesse am französischen Liberalismus im 19. Jahr­ hundert hat in jüngster Zeit eine fast sprunghafte Neubelebung erfahren. Allein 1984/85 erschienen in Frankreich und den USA drei größere Gesamt­ darstellungen.1 Neuere Anthologien liberaler Theoretiker2 deuten ebenso wie die Verlagswerbung für die größeren Werke darauf hin, daß die aktuelle politische D iskussion in Frankreich bei diesem gesteigerten Interesse eine Rolle spielt. Aus deutscher Perspektive besitzt der Liberalismus des 19. Jahr­ hunderts dagegen eine geringere tagespolitische Aktualität. D ies verweist bereits auf einen wesentlichen Unterschied zwischen den Liberalismen bei­ der Länder: Wenngleich die Liberalismusforschung auch für D eutschland vor erheblichen Eingrenzungsproblemen steht, so wird eine vorschnelle Aktualisierung wohl unter anderem dadurch behindert, daß die Vorstellung vom Liberalismus des 19. Jahrhunderts sich für den deutschen Bereich kon­ kreter mit bestimmten Parteiorganisationen verbinden kann und die Unter­ schiede zur heutigen Situation damit augenfälliger sind. In Frankreich gilt Liberalismus dagegen noch stärker als eine allgemeine Tendenz im Spek­ trum politischer Ideen, eine Tendenz, der sich daher auch leichter Elemente für die aktuelle Diskussion entnehmen lassen. Um so größer sind damit aber auch die Eingrenzungsprobleme im französischen Fall. Umstritten ist etwa, wie weit die Theoretiker der konstitutionellen Monarchie seit der Restaura­ tion und der Julimonarchie zum Liberalismus zu rechnen sind. Der Republi­ kanismus wird ihm gelegentlich zugerechnet, gelegentlich als eigenständige politische Tendenz gewertet. Das gleiche Problem stellt sich für den Radika­ lismus der zweiten Jahrhunderthälfte, den z. B. Gerd Krumeich in diesem Band vom Liberalismus abgesetzt hat, André Jardin seit dem II. Kaiserreich wie selbstverständlich dazurechnet. Im folgenden wird nicht der Anspruch einer Gesamtinterpretation ge­ stellt, welche der Forschungsstand für Frankreich auch noch nicht zuläßt. Gefragt werden soll nach den Gründen für diese - meist in der Literatur nicht explizit reflektierte - Begriffsverwirrung, und gesucht werden soll nach Möglichkeiten und Forschungsstrategien, die vielleicht einen Teil der damit 332

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gestellten Probleme zu lösen erlauben. Einige Gründe liegen, so meine ich, auf der methodischen Ebene. Hier können sich Perspektiven für die weitere Liberalismusforschung ergeben, und zwar auf zwei weiteren Ebenen: In diachronischer Perspektive meine ich, daß der französische Liberalismus im Verlauf des 19. Jahrhunderts seine Inhalte und seinen Charakter stärker verändert hat, als dies die Frankreichforschung bislang betont. In synchroni­ scher Perspektive schließlich halte ich es für möglich, daß aus der Sicht der Liberalismen in anderen europäischen Ländern einige Eigenheiten des fran­ zösischen Liberalismus deutlich herausgearbeitet und damit zumindest An­ sätze zu einer inhaltlichen Interpretation aufgezeigt werden können. Syn­ chronische und diachronische Perspektiven greifen selbstverständlich viel­ fältig ineinander. Um der Klarheit der Darstellung willen seien sie zunächst dennoch künstlich voneinander getrennt.

I. Methode Frankreich gilt weithin als das Land, in dem die Sozialgeschichtsschreibung sich am weitesten entwickelt hat, Paradoxerweise wird aber gerade die Liberalismusforschung, wie die neuesten Werke erneut bestätigen, bislang vor allem unter ideengeschichtlichen Gesichtspunkten betrieben. Ein Grund dafür mag sein, daß die - auch wissenschaftsgeschichtlich und wissen­ schaftsorganisatorisch bedingten - Gegensätze zwischen Politik- und Sozial­ geschichte in Frankreich lange Zeit, zumindest für die Forschung zum 19. Jahrhundert, zu einer Unterschätzung der gesellschaftlichen und sozial­ geschichtlichen Bedeutung politischer Ausdrucksformen beigetragen ha­ ben. So ist, verglichen etwa mit dem deutschen Fall, den Trägerschichten und Erscheinungsformen politischer Bewegungen ein eher geringes Interes­ se entgegengebracht worden. Umfassend aufgearbeitet sind dagegen die Inhalte liberaler Theorien, sei es in älteren Werken wie bei Dominique Bagge für die politischen Ideen der Restaurationszeit,3 sei es in den eingangs angesprochenen historischen D arstellungen von André Jardin oder Louis Girard, sei es in systematischem Zugriff wie bei Georges Burdeau.4 Neuere Arbeiten unterscheiden sich von älteren Traditionen dabei vor allem inso­ fern, als neben den großen Theoretikern wie Benjamin Constant, Madame de Staël oder Tocqueville in zunehmendem Maße auch unbekanntere Auto­ ren berücksichtigt werden und die Quellenbasis sich damit erweitert. Auf diese inzwischen recht gut bekannten Teilbereiche der Geschichte des fran­ zösischen Liberalismus sei hier daher auch nicht das Schwergewicht gelegt, sondern es ist einigen Schwierigkeiten nachzugehen, mit denen sich diese Forschung konfrontiert sieht. Sic liegen insbesondere darin, daß klassische liberale Programmpunkte5 wie Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Pressefreiheit und Geschworenengerichtsbarkeit, Ausweitung des Wahl333 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

rechts und der Rechte des Parlaments, Ministerverantwortlichkeit, Tren­ nung von Kirche und Staat und andere mehr zu verschiedenen Zeiten von unterschiedlichen politischen Gruppierungen getragen worden sind, deren Einordnung als »liberal« vielfach zumindest umstritten ist. Mit einem auf Programme konzentrierten Ansatz lassen sich die Eingrenzungsschwierig­ keiten auch schon deshalb nur begrenzt meistern, weil Programmtexte oft bewußt unpräzise formuliert waren, um eine größtmögliche Klientel anzu­ sprechen. Ähnliche Schwierigkeiten treten bei einem zweiten Ansatz auf: der Analy­ se und D efinition nach sozialen Trägerschichten. D er Forschungsstand ist hier höchst unbefriedigend: Solche Analysen sind in systematischer Form bislang kaum versucht worden. Sie sind einerseits schon von der Quellenla­ ge her schwierig. Heinz-Gerhard Haupts Analyse der Wählerlisten der Re­ staurationszeit in diesem Band ist eine der wenigen Ausnahmen; solche Listen können eine Basis bilden, entfallen als Quelle aber mit der Abschaf­ fung des Zensuswahlrechts. Sie unterliegen zudem, wie Haupt zeigt, der Problematik der Berufsangaben der Zeit, die teilweise so weit gefaßt sind, daß sie nur recht allgemeine Aussagen erlauben. Mir selbst scheinen die Schwierigkeiten der Abgrenzung zu anderen politischen Tendenzen aller­ dings auf mehr als auf reine Quellenprobleme hinzuweisen: eindeutige soziale Trägerschichten für den Liberalismus dürften in Frankreich kaum auszumachen sein, und den Gründen hierfür wird nachzugehen sein. Auch wenn Trägerschichtenanalysen versucht werden sollen, so setzen sie jedoch zunächst voraus, daß die zu untersuchenden Gruppen abgegrenzt sind. Und hier ist die Forschungssituation ähnlich problematisch. D ie Vor­ stellung, daß sich moderne politische Organisationsformen in Frankreich erst im frühen 20. Jahrhundert herausgebildet haben, beherrscht noch weit­ hin die Forschung. Vor einigen Jahren habe ich an einem Fallbeispiel zu zeigen versucht, daß solche Organisationen auf Parlamentsebene spätestens zu Beginn der III. Republik nicht nur längst bestanden, sondern für die parlamentarische Alltagsarbeit auch unentbehrlich waren.6 Unsere Kennt­ nis der politischen Organisationen in Frankreich im 19. Jahrhundert ist für die meisten Bereiche bislang noch rudimentär. Mit Sicherheit ist ihr Ent­ wicklungsstand unter dem Eindruck einer organisatorisch wenig differen­ zierten Notabelngesellschaft in der Forschung bisher unterschätzt worden; doch harren noch weite Felder einer genaueren, auch quantifizierenden Aufarbeitung. Gesellschaftliches Verhalten, wie es sich im Bereich politischer oder poli­ tisierender Organisationen niederschlägt, muß als Ausdruck sozialer und politischer Überzeugungen und Mentalitäten ernstgenommen und für eine Verbindung von Politik- und Sozialgeschichte genutzt werden. Hier ist die Forschung für die deutsche Geschichte, vor allem im Bereich der Parteien­ und Vereinsforschung, unvergleichlich viel weiter als die Frankreichfor­ schung, trotz wichtiger Anregungen, die etwa Maurice Agulhon in den 334 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

letzten Jahren gegeben hat.7 Auch im deutschen Bereich sind mit einer systematischeren Verbindung von quantitativen und qualitativen Methoden allerdings wohl noch wichtige Ergebnisse zu erzielen, doch gehört dies hier nicht zum Thema. Analysiert man die Vielfalt von Honoratiorenorganisa­ tionen im 19. Jahrhundert nach ihrer Bedeutung für ihr Umfeld - im Parla­ ment also z. B. der Bedeutung für den politischen Entscheidungsprozeß -, so ergibt sich eine Palette unterschiedlicher Funktionen und damit unter­ schiedlicher Organisationen.8 Erst nach der Erstellung einer solchen Typo­ logie wird es möglich, die als liberal einzustufenden, politisch relevanten Organisationen zu isolieren, und dies wiederum ist die Voraussetzung für eine Trägerschichtenanalyse. Trotz solcher Unzulänglichkeiten des derzeitigen Forschungsstandes bie­ ten sowohl Spezialstudien zu einzelnen Legislaturperioden oder einzelnen Regionen, wie sie z. Β. auf Anregung von Louis Girard, J ean-Marie Mayeur, Pierre Guiral oder Jean Tudesq entstanden sind,9 als auch einige der monumentalen Gesamtdarstellungen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhun­ dert10 Material, aus dem sich zumindest Arbeitshypothesen entwickeln lassen. D arüber hinaus liegt den folgenden Überlegungen eine systemati­ sche Auswertung der politischen Flugschriftenliteratur aus den Jahren 1860 bis 1875 zugrunde;11 für diese Jahre können die skizzierten Hypothesen daher auch relativ breiter abgesichert werden.

II. D ie diachronische Perspektive: Entwicklungsphasen des französischen Liberalismus im 19. Jahrhundert Eine der Eigenheiten des französischen Liberalismus besteht darin, daß politischer und ökonomischer Liberalismus keinewegs deckungsgleich und häufig eher einander entgegengesetzt waren. Auf die Gründe dafür wird im III. Abschnitt zurückzukommen sein. An dieser Stelle bedeutet es, daß zunächst der Liberalismus als politische Bewegung zu untersuchen ist. Der französische Liberalismus im 19. Jahrhundert ist mit einer allgemei­ nen D efinition nicht zu erfassen. Er hat sich im Verlauf des Jahrhunderts fortentwickelt, und für diesen Wandel haben die politischen und gesell­ schaftlichen Rahmenbedingungen eine entscheidende Rolle gespielt. D ie Wahlrechtsfrage stellte sich unter dem II. Empire anders als in der Juli­ monarchie, die Probleme von Vereinigungsfreiheit und Parlamentsrechten in der III. Republik anders als unter dem Empire, die Frage der Kirchenver­ fassung in der Restauration anders als in der Revolution 1848/49. Je nach Rahmenbedingungen, so meine These, hat der politische Liberalismus in Frankreich im Verlauf des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Kräfte und Gruppen umfaßt, er hat in der Wahl seiner inhaltlichen Schwerpunkte wechselnde Akzente gesetzt und er hat unterschiedliche Kräfte zum Gegner 335 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

gehabt. D er in der deutschen D iskussion gebrauchte Begriff des »Opposi­ tionsliberalismus«, der im III. Teil in anderem Zusammenhang wieder auf­ zugreifen sein wird, ist für die Beschreibung des französischen Liberalismus ein fruchtbares Instrument. Im Gesamtbild ergibt sich, wenn man in den Kategorien der Revolutionszeit bleiben will, gewissermaßen eine rechts­ links-Verschiebung des Liberalismus im Verlauf des Jahrhunderts. Zumin­ dest fünf Phasen lassen sich in der Entwicklung des französischen Liberalis­ mus seit dem Ende des I. Empire unterscheiden. 1. Phase: Restauration und Julimonarchie. D er Liberalismus der Zeit zwischen Napoleons Sturz und der Februarrevolution umfaßt im wesentlichen die verschiedenen Tendenzen des konstitutionellen Monarchismus. D ie internen Divergenzen dieser Zeit kristallisierten sich insbesondere um die Frage der Ausgestaltung des parlamentarischen Systems und des Wahlsystems. D ie Constitutionnels um Pasquier und Decazes standen für das politische System der Charte von 1814, die Doctrinaires um Guizot und Royer-Collard für das System der Verfassung von 1830 mit leicht erweitertem Wahlkörper und reduzierten Prärogativen des Königs. Beide Gruppen waren in deutscher Terminologie ein gouvernementaler Liberalismus, doch sie waren es nacheinan­ der, in den beiden politischen Regimen. Seit den 3öer Jahren bildete sich daneben eine Gauche dynastique heraus, eine gleichfalls konstitutionell­ monarchistische Gruppe, die aber in Opposition zum System der Julimonar­ chie und zu Guizot eine Weiterentwicklung der politischen Freiheiten for­ derte. Bereits seit der Restauration fand sich daneben, zunächst um Benja­ min Constant gesammelt, eine politisch liberale Gruppe bonapartistischer Tendenz, die Gauche indépendante, die sich an der liberalisierten Verfassung der »Hundert Tage« orientierte und im II. Empire eine Art Nachfolgeorga­ nisation finden sollte. Gemeinsam war diesen Gruppierungen, die als Frak­ tionen auf der Parlamentsebene klar zu fassen sind, eine sozial konservative Haltung, d. h. das Fehlen eines sozialen Programms gegenüber den sich allmählich abzeichnenden Problemen der beginnenden industriellen Revo­ lution und der Landflucht. Im Zentrum ihrer sozialen Interessen stand die Sicherung des gesellschaftlichen Status quo, die Sicherung der Notabeln­ herrschaft in Frankfurt, wie Gerhard Haupt sie in diesem Band differenzier­ ter analysiert. So bedeuteten auch die Reformforderungen der Gauche dyna­ stique der Julimonarchie nicht ein soziales Reformprogramm, sondern eine andere Vorstellung von den Prioritäten im politischen System. In dieser Gruppierung zeichnete sich früh eine Tendenz ab, politische Institutionen, welche der Sicherung dieses sozialen Status quo dienten, über die monarchi­ stischen Überzeugungen zu stellen. Nicht nur 1848, sondern vor allem bei der Durchsetzung der Republik 1871/75 spielte diese Bereitschaft zum poli­ tischen Kompromiß bei Sicherung sozialer Prärogativen eine entscheidende Rolle. 336 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

2. Phase: Die Revolution von 1848. In der Opposition der Gauche dynastique hatte sich eine links-rechts-Verschiebung des Liberalismus bereits abge­ zeichnet, und 1848 gewann sie an Gestalt: Zwar gelang es der Opposition dynastique unter Odilon Barrot im Februar 1848 nicht, an die Macht zu gelangen; diese übernahm eine Koalition aus liberalen Republikanern der Tendenz der Zeitung »National« um Lamartine und aus demokratischen Kräften der »Reforme« um Ledru-Rollin, Vorläufern der späteren Radikal­ Sozialisten. D ie National-Tendenz rückte nun in den Liberalismus ein, und mit ihr gingen Teile der Gauche dynastique, anders als die übrigen Liberalen der Julimonarchie, rasch Koalitionen ein. D ie Verfassung von 1848/49 ver­ körperte die wesentlichen Inhalte des liberalen Republikanismus, der seiner­ seits mit der Niederschlagung des Juni-Aufstandes 1848 bereits bewiesen hatte, daß auch er an politischen Reformen stärker interessiert war als an sozialisierenden Zielen. D ie Liberalen der Julimonarchie um D ufaure, Thiers, Tocqueville, Rémusat gingen zwar mehr oder weniger eindeutige Koalitionen mit den liberalen Republikanern ein, blieben aber organisato­ risch weitgehend selbständig in Gruppen wie der Reunion Mole. Hier sind genauere Aussagen nach dem gegenwärtigen Forschungsstand besonders schwierig, denn die Vielfalt der politischen Organisationen auf Parlaments­ ebene ist bislang fast nur im Rahmen der politischen Salonkultur erwähnt, nicht jedoch auf ihre genaue Zusammensetzung und ihre Funktion in der Revolution untersucht worden. Mit den sozialen und kirchlichen Konflikten der Revolutionszeit vertiefte sich allerdings der durch den Liberalismus gehende, noch von den alten Kategorien der Republik und Monarchie bestimmte Graben wieder. Organisatorisch schlug sich dies nieder in der zunehmenden Zusammenarbeit der konservativen Gruppen des Parti de l'ordre im »Comité de la Rue de Poitiers«, bis Louis-Napoleon bei den Präsidentschaftswahlen siegte. 3. Phase: Das Zweite Kaiserreich. Napoleons Staatsstreich und das autoritäre Empire leiteten eine Neuformierung der politischen Kräfte ein, welche ihre volle Wirkung erst nach dem Sturz des Empire entfaltete, sich organisato­ risch aber bereits um 1857/60 abzeichnete und auf kurzfristige Entwicklun­ gen der Revolutionszeit zurückgriff. Während ein Teil der Legitimisten sich auf seine Landgüter zurückzog und ein Teil der Orleanisten eine Allianz mit dem Empire einging, rückten andere Gruppen aus beiden Tendenzen mit sogenannten »gemäßigten« Republikanern zusammen im Kampf gegen das Empire. D as Spektrum des Liberalismus konsolidierte sich in dieser Phase nach »links«; organisatorisch fand dies seit 1863 in der »Union liberale« seinen Ausdruck. Alfred de Falloux, Albert de Broglie und Jules Simon sind führende Namen dieser Allianz. D as Empire ab 1863 ist das interessanteste Beispiel dafür, wie sich die organisatorische Konfiguration der politischen Kräfte unter dem Einfluß der Rahmenbedingungen wandelte und wie die Inhalte des Liberalismus dieser Entwicklung folgten. In politischer Hinsicht 337 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

bildete sich hier ein »Oppositions-Liberalismus« heraus, der sich ideolo­ gisch um die alten Themen der Parlamentarisierung gruppierte, aber auch um für den Liberalismus eher neue Themen wie insbesondere die Dezentra­ lisierung und die kommunalen Freiheiten.12 Adolphe Thiers hat das politi­ sche Programm dieser Gruppierung 1864 in seiner berühmten Rede über die fünf Freiheiten im Corps législatif formuliert: Individuelle Freiheiten des Bürgers, Freiheit des Ideenaustausches, Freiheit der Wahlen, Freiheit der Volksvertretung, Regierung nach dem Willen der Mehrheit.13 In der ab 1860 mit der beginnenden Liberalisierung des Empire anschwellenden Flug­ schriftenliteratur setzte erneut der Kampf um Budget- und Diskussionsrech­ te, um Thronadressen und Rednertribünen ein. D ie Gegensätze zwischen Republikanern und Monarchisten in der Frage der Regierungsform traten aufgrund der Rahmenbedingungen im gemeinsamen Kampf gegen das Em­ pire zurück. Hier liegt zugleich eine Erklärung und eine Legitimierung für die Unschärfe der Trennung von Liberalen und Republikanern in der Litera­ tur. Vom politisch-organisatorischen Verhalten her sind wesentliche, mit der Gauche républicaine der frühen III. Republik personell bereits weithin identische Teile der Republikaner zu dieser Zeit dem Liberalismus zuzurech­ nen, der Radikalismus dagegen - hier würde ich z. B. André Jardin wider­ sprechen - noch nicht. Mit der Liberalisierung des Empire nach 1860 wur­ den die engeren politischen Forderungen aber nach und nach erfüllt, und dementsprechend formierte sich eine zweite Spielart des Liberalismus: der sogenannte Tiers parti, eine - entgegen einer verbreiteten Annahme in der Literatur - von der Union liberale zunächst scharf geschiedene Gruppierung von Politikern bonapartistischer Couleur. Sie strebten gleichfalls eine Libe­ ralisierung und Parlamentarisierung des Regimes an, jedoch im Rahmen des Kaiserreiches und nicht durch seine Überwindung. D ie Grenzen zwischen Oppositionsliberalismus und bonapartischem Liberalismus konnten über­ wunden werden - der spektakuläre Fall des Republikaners Ollivier, der 1870 das Empire liberal schließlich politisch fuhren sollte, war am signifikante­ sten -; doch sie blieben scharf gezogen, und die Weigerung eines wesentli­ chen Teils der Liberalen der Union liberale, diese Grenze zur Kooperation mit dem Empire zu überspringen, legte politisch die Grundlage für ihre Karrieren in der Gründunesphase der Republik. Mit den Wahlen von 1869, die das Empire liberal einleiteten, zerfiel jedoch auch die Koalition von republikanischen und monarchistischen Liberalen wieder weitgehend, und die organisatorische D ifferenzierung auf der Füh­ rungsebene setzte sich offenbar über die - noch nicht hinreichend bekannten - im ganzen Land emporschießenden Wahlkomitees, republikanischen Zir­ kel und Lesegesellschaften auch auf die unteren Ebenen fort.14 Gesellschaft­ liche Konventionen mögen dazu beigetragen haben, daß die Umformierun­ gen der einzelnen liberalen Gruppierungen auf lokalem und regionalem Niveau vermutlich auch schon vorher nicht so weitgehend realisiert wurden wie auf der Spitzenebene; so scheint im D epartement Nord, nach der Dar338 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Stellung Menagers zu schließen, die D iskussion sich weiter im Gegensatz von Monarchisten und Republikanern bewegt zu haben, zwischen denen eine »liberale« Bewegung offenbar gar nicht recht thematisiert wurde. An­ dererseits gehörte in der Languedoc, Huards Ergebnissen zufolge, Bruch oder Fortführung der Union liberale, deren Tradition hier bis in die Juli­ monarchie zurückreichte, zu den zentralen Themen der politischen Ausein­ andersetzungen der 1860er Jahre. Hier bleibt noch viel Grundlagenarbeit zu leisten. D ie parallelen Formationen der Union liberale ab 1863 und des sich ab 1864 langsam herausbildenden Tiers parti zeigen das politische Gewicht der Forderungen nach individuellen Freiheiten innerhalb der verschiedenen liberalen Strömungen, zugleich aber auch die Bedeutung der Oppositions­ position im Liberalismus: die Union liberale gewann ihren Zusammenhalt durch die gemeinsame Gegnerschaft gegen das Empire. In dieser dritten Phase war noch eine weitere Weichenstellung für die III. Republik angelegt: das Problem der Partizipation. D er plebiszitäre An­ spruch des bonapartistischen Regimes und die zwar politisch wenig erfolg­ reichen, doch mit um so größerem propagandistischem Aufwand vorgetra­ genen sozialpolitischen Initiativen des Kaiserreichs weckten erneut die Furcht vor der sozialen Gefahr, die in der Commune 1871 bestätigt zu werden schien. 4. Phase: Die Gründungsphase der III. Republik. Der Sturz des Empire eröffne­ te neue Handlungschancen und Problemstellungen. Sehr rasch erfolgte auf der parlamentarischen Ebene nun eine organisatorische Festigung und Aus­ differenzierung der politischen Kräfte in Fraktionen, nachdem um die Rech­ te des Parlaments - Leitthema der 60er Jahre - grundsätzlich kaum mehr gekämpft zu werden brauchte. Damit und vor allem mit der Erfahrung und subjektiven Interpretation der Commune erhielt die »gesellschaftliche« D i­ mension jedoch wieder eine stärkere Bedeutung als die politischen Tren­ nungslinien. D er Kampf der frühen III. Republik wurde weniger um Repu­ blik und Monarchie als um die Frage des sozialen Status quo geführt. D ie seit Jahrzehnten andauernde wissenschaftliche Diskussion um die Trennung von »links« und »rechts« oder um die Existenz eines »marais« im französischen Zentrum15 ist für die frühe Republik eindeutig zu entscheiden: Keine Tren­ nungslinie innerhalb des Parlaments war ab etwa 1872 in jeder Hinsicht so scharf ausgeprägt wie diejenige zwischen den beiden Zentren. Untersucht man die Details des parlamentarischen Koalitionswesens, so wird deutlich, daß trennend nicht die Frage der Regierungsform war und auch nur begrenzt die Frage der Stellung der Kirche im Staat,16 sondern die Haltung gegenüber den Repräsentanten der »nouvelles couches sociales« um Gambetta und den beginnenden Radikalsozialismus. Sahen rechtes Zentrum und mit ihm die übrige Rechte durch die Partizipation der »nouvelles couches« an der politi­ schen Entscheidung den sozialen status quo bedroht, so akzeptierte das linke Zentrum die Zusammenarbeit mit den Repräsentanten der neuen Mittel339 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

klassen-Demokratie. D ies bedeutete jedoch nicht eine grundsätzliche Ände­ rung der sozialen Defensivhaltung, sondern eine begrenzte Ausweitung der Partizipation erschien im linken Zentrum als beste Strategie zur weiteren Sicherung der eigenen politisch-sozialen Position. Hier ging der tiefste Bruch mitten durch den Liberalismus hindurch. D ie Frage der Regierungs­ form war jetzt eher für die extreme Rechte und die »droite modérée« entscheidend; die gemäßigte Rechte meinte den sozialen Status quo nur mittels einer - durchaus konstitutionellen - Monarchie wahren zu können. Dagegen akzeptierten die zumeist ursprünglich auch aus dem liberal-monar­ chistischen Lager kommenden Politiker des rechten Zentrums eine »Répu­ blique sans les républicains« mit »sozialen« Garantien, d. h. vor allem einem starken Senat als - vermeintlich - konservative Bastion. Hier kam die bereits in der systemimmanenten Opposition der Julimonarchie angelegte Tendenz zur Wirkung, soziale Herrschaftsinteressen über die Frage der Regierungs­ form zu stellen. Orleanismus und Legitimismus bildeten ebensowenig die wesentlichen Gegensätze der frühen Republik wie Monarchie und Republik: Die seit etwa 1860 organisatorisch weitaus klarer als ideologisch angelegte Umgruppierung der politischen Kräfte in Frankreich brach nun durch, und die Frage der Stabilität der Notabeln-Gesellschaft bildete dabei das zentrale Problem. Als liberal im alten Sinne politischer Ziele konnten nun die Grup­ pierungen von der gemäßigt-monarchistischen Rechten bis zu den »républi­ cains modérés« der Gauche républicaine betrachtet werden; politisch ent­ scheidend war die Entwicklung an der Schnittstelle der beiden Zentren. Rechts der Mitte war dies nach wie vor ein »Oppositions-Liberalismus«, nunmehr jedoch stärker im Sinne der »defense sociale« als im politischen Sinn. Betrachtet man gerade den intensiven Kampf um die Partizipation der neuen Mittelschichten als Kernpunkt der Auseinandersetzung in den ersten Jahren der Republik, so läßt sich auch jetzt der Radikalsozialismus um Gambetta, als Inkarnation dieser Partizipationsproblematik, in der politi­ schen Praxis dem Liberalismus noch nicht zurechnen, auch wenn er in der Programmatik manche Ziele längst übernommen hatte. Andererseits war dies aber auch die Zeit des Schwanengesangs des Konservativismus rechts des Zentrums. 5. Phase: D ie Stabilisierung der Republik ab 1878/80. D er alte konservative Liberalismus, dessen Wurzeln noch in die Zeit der Julimonarchie zurück­ reichten, verlor um die Mitte der 70er Jahre das Spiel um die Führungsposi­ tionen der Republik. Es setzten sich - verkörpert im Centre gauche der neuen Kammer von 1876 - die Kräfte durch, welche eine Partizipation der »nouvelles couches sociales« an der politischen Führung akzeptierten: die Teile des alten Liberalismus, welche diese Politik trugen, konnten sich z. Τ. bis in die 90er Jahre hinein Spitzenpositionen sichern. Damit wurde jedoch eine erneute Umformierung des Liberalismus eingeleitet. Der - erst 1901 offiziell so benannte - Radikalsozialismus um Gambetta war in den 70er 340 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Jahren noch die Gruppierung, an der sich die Auseinandersetzungen um die Partizipation kristallisierten. Gerd Krumeich begründet in diesem Band die Unterschiede zwischen Radikalismus und Liberalismus. D ennoch scheint mir, daß seit den frühen 1880er Jahren-entgegen André Jardin jedoch auch nicht früher - der Radikalismus zunehmend zum Liberalismus zu rechnen ist. D ies ist nicht nur durch die sich festigende und ab 1890 durchsetzende Allianz in parlamentarischen Koalitionen und Regierungen begründet, also im politischen Verhalten. Einerseits war der Liberalismus während des ganzen Jahrhunderts schon durch interne programmatische D ivergenzen charakterisiert. Andererseits erscheint auch programmatisch in dem von Krumeich als zentral beschriebenen Streit um die Einkommensteuerreform und damit um die Grundfrage des Staatsinterventionismus die Trennungsli­ nie zwischen Radikalen und Liberalen nicht so eindeutig: Schon in der frühen III. Republik traten nicht nur liberale Wortführer wie Ernest D uver­ gier de Hauranne, Wolowski oder der Banquier Henri Germain für eine Einkommensteuer ein, sondern im praktischen politischen Verhalten auch große Teile der liberalen Fraktionen links des Zentrums.17 In der Frage der Trennung von Kirche und Staat entwickelte sich die Affinität zwischen Radikalen und linkszentristischen Liberalen gleichfalls zögernd, doch deut­ lich bereits seit der Commune. Der neue Liberalismus der III. Republik formierte sich jetzt aus dem alten Centre gauche, in dem die letzten ehemaligen Orleanisten weiter politisch aktiv waren, aus den liberalen Republikanern und aus dem »opportuni­ stisch« genannten Teil der die Republik tragenden Radikalsozialisten um Gambetta. D iese erneute Umformierung des Liberalismus durch Ausgrei­ fen auf zumindest wesentliche Teile des - in sich selbst höchst heterogenen Radikalismus und unter Verlust der konstitutionell-monarchistischen und rechtszentristischen Gruppierungen der frühen III. Republik entwickelte sich im Verlauf der 80er Jahre und erscheint um 1890 abgeschlossen. Gegen diese Gruppierung stand die wachsende antiparlamentarische Opposition auf der Linken, bei den Bonapartisten und besonders auf der sich in der Ligue des Patriotes seit Mitte der 80er Jahre neu formierenden Rechten, eine Opposition, die sich im Boulangismus 1886/88 kurze Zeit politisch zusam­ menfand. Gerade aus der Umformierung und Entwicklung der Radikalen erklären sich die von William Logue beschriebenen neuen ideologischen Charakteristika des Liberalismus, der neben den individuellen Freiheiten jetzt auch die sozialen Aufgaben des Staates zu akzeptieren begann. Kern seines politischen und sozialen Programms wurde die Stabilisierung der neuen Mittelklassendemokratie. D ies bedeutete die Realisierung der alten politischen Forderungen des Liberalismus in parlamentarisch-republikani­ scher Verfassung. Es bedeutete aber auch eine Art neuer Defense sociale der Mittelschichten gegen alte Herrschaftsansprüche der Notabein und gegen neue Partizipationsansprüche der Arbeiterschaft. Sie war in diesem Libera­ lismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht repräsentiert. 341 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Im Gesamtbild werden die D efinitionsprobleme des Liberalismus zwar nicht voll gelöst, aber doch geringer, wenn neben der ideengeschichtlich­ programmatischen Ebene das politische Verhalten einbezogen wird. Ein Teil der Diskussion um die Eingrenzung des Liberalismus wird damit inso­ fern gegenstandslos, als sich genauer bestimmen läßt, welche Gruppierun­ gen und Tendenzen zu einer bestimmten Zeit zum Liberalismus gehörten und welche nicht. Der französische Liberalismus erweist sich als eine Abfol­ ge von Liberalismen, die sich je nach den politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Zielsetzung und Trägergruppen wandelten. D abei lassen sich die Weichenstellungen der jeweils folgenden Epoche in der Regel bereits gegen Ende der vorangehenden Phase insbesondere auf der organisa­ torisch-gesellschaftlichen Ebene ablesen. Ein solcher Ansatz bedeutet zwar den Verzicht auf eine das ganze Jahrhundert erfassende Liberalismus-D efini­ tion. Er bedeutet zugleich aber auch, daß der Liberalismus konkreter faßbar wird. Gerade ein an den Epochenspezifika orientierter Ansatz zeigt, daß es den Liberalismus in Frankreich ungeachtet aller Eingrenzungsprobleme als politische Bewegung in der Tat gegeben hat und daß man aus den D efini­ tionsproblemen nicht die Konsequenz eines Verzichts auf den Begriff über­ haupt ziehen sollte, wie dies gelegentlich vorgeschlagen wird. Allerdings vermag das hier vorgeschlagene Raster, das wesentlich am politischen Verhalten der Eliten orientiert ist, erst eine Grundlage dafür zu liefern, auf der die bislang nur ansatzweise vorliegenden Untersuchungen der Trägerschichten systematischer ausgebaut werden könnten. Hierfür wären nicht nur die beschriebenen Gruppen der politischen Führungsebene, sondern insbesondere auch die vielfältigen Formen des Vereinswesens zu­ nächst in exakter prosopographischer Arbeit zu erfassen und auf das Verhal­ ten ihrer Mitglieder zu untersuchen, bevor vielleicht genauere Aussagen über die sich wandelnden und-am Beispiel des Departements Nord und der Languedoc wurde es angedeutet - regional höchst unterschiedlichen Träger­ gruppen möglich werden. Der umgekehrte Weg einer Liberalismus-D efini­ tion von den Trägerschichten her erscheint zumindest im französischen Fall schon aus methodischen Gründen nicht gangbar. Es sind jedoch nicht nur methodische Gründe: Zu vermuten ist, daß auch die sachlichen Ergebnisse höchst heterogen ausfallen werden. Einigen Gründen dafür sei nun nachge­ gangen.

III. Französischer Liberalismus in vergleichender Perspektive Die hier vorgeschlagene cpochenspezifische Eingrenzung des Liberalismus bedeutet nicht eine völlige Relativierung des Liberalismusbegriffes. Auch für den französischen Liberalismus lassen sich allgemeinere, epochenüber­ greifende Charakteristika aufzeigen. Sic werden deutlicher, wenn man eini342 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

ge Teilprobleme stärker aus der Perspektive anderer europäischer Länder zu betrachten versucht, was in der französischen Forschung bislang kaum geschieht. Vergleichsmomente können in diesen thesenhaften Bemerkun­ gen nur um den Preis einer starken, vielleich unzulässig starken Vereinfa­ chung der gerade in den Bielefelder D iskussionen deutlich gewordenen Differenzierungen innerhalb der Liberalismen anderer Länder angedeutet werden. Im Interesse der Zuspitzung von möglichen D iskussionsansätzen sei dies dennoch an einigen Stichworten versucht. 1. D er Wirtschaftsliberalismus. Einer der auffallendsten Unterschiede zwi­ schen Frankreich und anderen europäischen Ländern ist die Divergenz zwi­ schen ökonomischem und politischem Liberalismus in Frankreich. Insbe­ sondere gilt dies für den Freihandelsliberalismus, den Pierre Ayçoberry in diesem Band genauer untersucht. Während er bei der Entwicklung des britischen Liberalismus eine wesentliche Rolle spielte, ist er für den später entstandenen französischen Liberalismus nicht nur nicht charakteristisch, sondern politischer und ökonomischer Liberalismus gerieten weithin sogar in Gegensatz zueinander. D ie Frcihandelsverträge von 1860 wurden von Napoleon III. mit autoritären Herrschaftsinstrumentarien durchgesetzt, und zu ihren schärfsten Gegnern gehörte der zu dieser Zeit wichtigste Sprecher des politischen Liberalismus, Adolphe Thiers. D ie politischen Fronten in den Protektionismusdiskussionen der frühen III. Republik liefen auf allen Ebenen - Organisationsstatistik der innerparlamentarischen protektionisti­ schen Interessenorganisation, Koalitionsverhalten bei freihandelsbezogenen Initiativen, Abstimmungsverhalten in der Zollgesetzgebung - quer zu den ökonomischen Fronten.18 Die jeweiligen ökonomischen Interessen wurden auf Parlamentsebene vehement vertreten; dies geschah jedoch - im Gegen­ satz zu politisch und sozial relevanten Themen - nicht über die politischen Fraktionen, sondern durch eigene Gruppierungen, in denen sich Abgeord­ nete aller politischen Tendenzen z. Τ über längere Zeiträume hinweg, z. Τ. ad hoc zusammenfanden. Politischer und ökonomischer Liberalismus wa­ ren nicht deckungsgleich und konnten sich in der politischen Auseinander­ setzung gelegentlich eher gegenseitig blockieren. Hier liegt ein wesentlicher Grund für die eingangs geschilderten Schwie­ rigkeiten einer Trägerschichtenanalyse. D a ökonomische und politische Interesscnlagen sich nicht deckten, engagierten sich die Angehörigen be­ stimmter ökonomischer Interessengruppen politisch auch in unterschiedli­ chen Formationen. Untersucht man z. Β. die Führungspositionen in franzö­ sischen Wirtschaftsunternehmen auf die politische Tendenz der betroffenen Personen,19 - so ergeben sich gewisse Nuancen, wie Heinz-Gerhard Haupt sie auch für die Restaurationszeit herausarbeitete, doch insgesamt keine signifikanten Unterschiede. Vor allem in den beiden Zentren, die sich durch ihre fundamental entgegengesetzte Haltung zur Partizipation unterscheiden, engagierten Politiker sich in den gleichen oder selben Unternehmen und 343 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Branchen. Auch wenn die Ergebnisse dieser Untersuchung noch nicht abgeschlossen sind und auch wenn die Besetzung von Führungspositionen nur ein - zudem methodisch mit Vorsicht zu verwendender - Indikator ist, so bestätigt er doch das Gesamtbild einer mangelnden D eckungsgleichheit von politischen und ökonomischen Motivationen im französischen Libera­ lismus. Die Gegensätze sind hier größer als in Deutschland oder Großbritan­ nien, auch wenn die Forschung für diese beiden Länder zur Zeit gleichfalls Divergenzen deutlicher als früher herausarbeitet. 2. Nationsbildung. D as Auseinanderdriften der politischen und ökonomi­ schen Kräfte innerhalb des Liberalismus hängt zusammen mit den unter­ schiedlichen Formen des Nation-building in Europa und mit den französi­ schen Eigenheiten in diesem Bereich. Politisch-institutionell war die franzö­ sische Nation zu Beginn des 19. Jahrhunderts gebildet, die Integrationskrise des Nation-building war institutionell überwunden, der repräsentative Ver­ fassungsstaat war 1815 durchgesetzt. Ökonomisch, sozial und kulturell dagegen hatten die Franzosen das Nation-building noch vor sich. Die Schaf­ fung eines nationalen Marktes erfolgte im wesentlichen in der Zeit zwischen 1840 und 1890, vor allem im Zusammenhang mit dem Ausbau des Eisen­ bahnnetzes; für die z. Β. von Eugen Weber untersuchte Bauernschaft,20 aber auch für einzelne Regionen wie die Bretagne zog der Prozeß der ökonomi­ schen Nationsbildung sich jedoch noch bis in das 20. Jahrhundert hinein. Gleiches gilt für die kulturelle Integration, die der jakobinische Nationalstaat gegen die regionalen Kulturen vor allem im Baskenland, in der Bretagne, in Okzitanien oder auch im Elsaß erst im 20. Jahrhundert abschließen konnte, und auch dann - wie wir heute sehen - nur begrenzt. D ie Phasenverschie­ bung zwischen politischem, ökonomischem und kulturellem Nation-buil­ ding erklärt in Teilen den Gegensatz zwischen politischem und ökonomi­ schem Liberalismus. Regionale und lokale Fronstellungen und Interessen behielten in Frankreich ein stärkeres Gewicht als politische Fronten; quanti­ fizierend ist auf den verschiedensten Ebenen zu beobachten, wie solche regionalen ökonomischen Interessen die politischen Fronten überlagerten bzw. quer zu ihnen verliefen.21 Solche Konstellationen trugen zu der beschriebenen stark politischen Orientierung des französischen Liberalis­ mus wesentlich bei. Anders formuliert: eine D efinition des französischen Liberalismus, die stärker an politischen Zielen und an sozialen Herrschafts­ positionen orientiert ist, ist nicht eine Frage historischer Methode, sondern sie spiegelt die französische Form des Nation-building wider. Auch die unterschiedliche Funktion des Nationalismus in Frankreich und Deutschland steht in diesem Zusammenhang. In D eutschland wurde der Liberalismus zu einem wesentlichen Träger der nationalen Idee und daher umgekehrt auch selbst durch die politische Nationsbildung in seiner Wir­ kung und seinen internen Konflikten geprägt. In Frankreich standen Natio­ nalismus und Zentralismus eher in einer jakobinischen und bonapartischen 344 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

als in einer liberalen Tradition. In der Frühzeit des Liberalismus, in der Restauration und der Julimonarchie, sind die jakobinischen Tendenzen dem Liberalismus noch nicht zuzurechnen; Allianzen ergaben sich in stärkerem Maße erst mit der Revolution 1848. Unter dem II. Empire wurde wiederum gerade die Dezentralisierung zu einem der wichtigsten Themen des Libera­ lismus in seiner Auseinandersetzung mit dem Bonapartismus. D as Verhält­ nis zum Nationalismus stellte für den französischen Liberalismus daher ein geringeres Problem als in Deutschland dar. D iese Konstellation stärkte den französischen Liberalismus umgekehrt insofern, als er in der Weiterentwick­ lung des parlamentarischen Systems in Frankreich Modernisierungsfunktio­ nen übernahm, die in Italien und D eutschland eher dem Nationalismus zufielen. Hierin liegt ein weiteres Element zur Erklärung der starken Prä­ ponderanz politischer Zielsetzungen im französischen Liberalismus. 3. Parteibildung. Vor allem in Belgien, aber auch in anderen Ländern haben sich im 19. Jahrhundert große liberale Parteien gebildet, in Frankreich nicht. Wiederum hängt dies eng mit den Problemen von Nationsbildung und Zentralismus zusammen. In Frankreich entstanden liberale Organisationen vor allem auf der parla­ mentarischen Ebene als Fraktionen. Aus ideengeschichtlichen Zusammen­ hängen ist dies nicht hinreichend zu erklären. Fortschritte im politischen Organisationswesen habe ich selbst am genauesten für die frühe III. Repu­ blik untersucht, doch scheinen mir ihre Anfänge inzwischen zumindest in der Epoche der Restauration anzusetzen zu sein, vermutlich früher. Ent­ scheidend sind dabei weniger ideelle Affinitäten gewesen als die Funktion dieser Organisationen, die Anforderungen der alltäglichen parlamentari­ schen Arbeit: D ie Bildung von Kommissionen, die Ausarbeitung und Behandlung von Gesetzentwürfen, die Wahlen zu innerparlamcntarischen Ämtern und in späteren Zeiten auch die bis 1873 offenbar noch ungenügend organisierten Mechanismen der Regierungsbildung erforderten in großen Parlamenten, in denen sich nicht nur D utzende, sondern Hunderte von Abgeordneten zusammenfanden, ein Mindestmaß an Organisation der Arbeit. Nicht die Schaffung des Nationalstaates, sondern die Funktion für das parlamentarische System war in Frankreich ein wesentlicher und ver­ mutlich der entscheidende Anstoß für die Herausbildung von Organisatio­ nen auf der politischen Spitzenebene. D araus folgte aber auch, daß die parlamentarischen Fraktionen im Vergleich zu Deutschland oder Großbri­ tannien ein ungleich größeres Gewicht im politischen Gesamtsystem erhiel­ ten. Die Bildung politischer Parteien außerhalb des Parlaments wurde durch dieses Gewicht erschwert. In gleichem Sinne wirkte ein weiterer mit dem Zentralismusproblem zusammenhängender Faktor: D ie Bedeutung lokaler Strukturen und Ein­ flüsse. In Italien oder D eutschland bestand durch die Einzelstaaten eine politische Tradition auf regionaler Ebene. Sie fehlte im Frankreich des 345 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

19. Jahrhunderts weitgehend. Politische Sozialisationsmuster, Beziehungs­ und Verkehrskreise der politischen Kräfte lagen zum überwiegenden Teil auf der zentralen oder aber auf der lokalen Ebene, allenfalls noch auf der Ebene des D epartements. D as Gegengewicht, welches eine regionale politische Tradition gegen die Zentrale in anderen Ländern entwickeln konnte, entfiel damit aber gleichfalls. D ie Klientelstruktur politischer Organisationen, die unmittelbare Beziehung von Gewähltem und Wähler, hat sich in Frankreich im europäischen Vergleich bis weit ins 20. Jahrhundert besonders stark gehalten. Es ist eine Ebene, die über Wahlanalysen hinaus noch unzureichend unter­ sucht ist, trotz großer Arbeiten wie der genannten von Menager und Barral oder von Andre Tudesq.22 Wir wissen noch zu wenig über die Sozialisationsformen, über Vereine und Verbände, über die Beziehungen der Wahl­ komitees zu den lokalen Gesellschaftstraditionen. Vor allem die Salonkultur, wie Zola sie in der »Conquête de Plassans« für die Bonapartisten in Aix-cnProvence schilderte, dürfte als politische Ausdrucksform unterschätzt wor­ den sein. Auf der Spitzenebene zeigt sich inzwischen, daß einige in der Forschung als Honoratiorenklubs betrachtete Salons in Paris und Versailles tatsächlich die Versammlungsorte hochorganisierter Parlamentsfraktionen waren. Im autoritären Verfassungssystem des II. Empire, das zeitweise zu einer Rückentwicklung der Ansätze einer Fraktionsbildung führte, wurde die Academie franςaise zu einem gleichfalls eher dem Salon-Typus zuzuord­ nenden Sammelbecken der liberal-monarchistischen Opposition und der Union liberale. Es ist zu vermuten, daß auch auf lokaler Ebene über die bekannten Wahlkomitccs hinaus frühe politische Sozialisationsformen auf der Salon-Ebene zu suchen und zu finden sind. Hier war das politische Gewicht der lokalen Ebene gesellschaftlich vor allem verankert, und hier wäre auch anzusetzen, um den Vermittlungsmustern von Spitzen- und lokaler Ebene nachzugehen. Anders als in Belgien haben in Frankreich Entwicklungen auf der Spitzenebene zwar nur zögernd und phasenverscho­ ben auf die lokale Ebene zurückgewirkt; so hielt sich schon aufgrund gesell­ schaftlicher Traditionen in manchen Regionen der Gegensatz zwischen Legitimisten, Orleanistcn und Bonapartisten lange Zeit noch, als er auf der Ebene der Zentrale längst von anderen Problemen und Frontstellungen abgelöst war. Auch dies hat eine liberale Parteibildung in Frankreich verzö­ gert, wie im Kontrast besonders der Aufschwung republikanischer Lesegesellschaftcn und katholischer Arbeiterzirkel zeigt. Das allgemeine Wahlrecht trug seit 1848 zwar zur Partizipationskrise des französischen Staates bei, nicht jedoch zu einer liberalen oder konservativen Parteibildung.23 4. Die Kirche. Komplexer als in anderen Ländern erscheint in Frankreich das Verhältnis zwischen Liberalismus und Kirche. D er deutsche Liberalismus formierte sich weithin in Opposition zum Einfluß der Kirche im Staat. In Belgien schlug die Allianz zwischen Liberalismus und politischem Katholi346 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

zismus nach 1830 schon rasch wieder fehl, und Andre Cordewiener hat gezeigt, daß eine solche Allianz auf der lokalen Ebene ohnehin nie echte Chancen hatte.24 In Italien ergab sich die Gegnerschaft, wie Hartmut Ullrich in diesem Band differenzierter analysiert, bereits aus der nationalen Funk­ tion des Liberalismus, welche die Gegensätze zum Kirchenstaat schwer überwindlich werden ließ. Diese Fronten verliefen in Frankreich anders. D ie Überblicksliteratur behandelt den katholischen Liberalismus meist als eigene Bewegung und stellt kaum Verbindungen zum politischen Liberalismus her. D ie Verbin­ dungen sind in der Tat kompliziert, aber sie sind von Gewicht. Innerkirch­ lich gesehen entwickelte der liberale Katholizismus sich zu Jahrhundertbe­ ginn zunächst eher im Gegensatz zum Gallikanismus, der noch unter dem I. Empire zu stark in der Tradition des französischen Absolutismus veran­ kert schien. Bis etwa zur Jahrhundertmitte änderte sich dies. In einer kom­ plexen Entwicklung, für welche die Zusammenarbeit des Liberalen Monta­ lembert mit dem späteren ultramontanen Wortführer Louis Veuillot in der Anfangszeit der Zeitung »L'Univers« nur als Symbol steht, wandelten sich die Fronten. In der Forderung nach einer Trennung von Kirche und Staat stimmten Liberale und liberale Katholiken im ersten Jahrhundertdrittel häu­ fig überein. Um die Jahrhundertmitte fanden Gallikanismus und katholi­ scher Liberalismus allmählich zueinander in dem Ziel, die Kirche mit den Zielen der Revolution von 1789 zu versöhnen, ein Ziel, in dem Rom den liberalen Katholizismus innerhalb der französischen Kirche Zusehens iso­ lierte. Hatte Montalembert sich zu Beginn des Empire in Reaktion auf die sozialen Auseinandersetzungen der Revolution - im Gegensatz zu anderen libralen Katholiken wie Broglie - noch auf die Seite des Empire geschlagen, so begann bereits 1856 seine Wende, und mit dem Italienfeldzug 1859, der die italienische Nationalbewegung vor die Tore Roms brachte, entfremde­ ten liberale und ultramontane Katholiken sich dem Regime gleichermaßen. In der Opposition gegen das Regime näherte der katholische sich nun aber auch dem politischen Liberalismus an, und seit den frühen 60er Jahren spielten liberale Katholiken insbesondere in der Union liberale eine immer stärkere politische Rolle. In Albert de Broglie, Ministerpräsident zu Beginn der III. Republik, symbolisierte sich diese Allianz. Die politische Ausgestal­ tung des liberalen Katholizismus hing damit ebenso sehr von den Entwick­ lungen des politischen Regimes wie von der mit der italienischen Einigung sich verstärkenden dogmatisch-politischen Verhärtung der Amtskirche ab. Die Haltung Roms forderte ihrerseits wesentlich die Chancen, im monar­ chistischen Lager liberale Tendenzen orleanistischer und legitimistischer Provenienz auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene zusammenzufassen und damit auch die Umformierung der traditionellen dynastischen Frontli­ nien zu Beginn der III. Republik vorzubereiten. D er »Syllabus« klärte inso­ fern auch die Fronten auf dem rechten Flügel der in der Opposition gegen das autoritäre Empire als liberal betrachteten Kräfte. 347 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Bildete abweichend von Italien und Deutschland der liberale Katholizis­ mus unter den Eliten damit nicht von vornherein eine Gegenkraft gegen den Liberalismus, so schuf doch auf den unteren Ebenen vor allem das sich seit den 60er Jahren entwickelnde Netz der Cercles catholiques d'ouvriers ein starkes Gegengewicht gegen republikanisch-liberale Organisationen und trug zur organisatorischen Schwächung des Liberalismus von der Basis her bei. D iese von Beginn anti-liberale Komponente im französischen Katholi­ zismus begründete in langfristiger Perspektive eher die christdemokrati­ schen Traditionen.25 D ie Komplexität der Entwicklungen, die in dieser Hinsicht in der jüngeren regionalgeschichtlichen Forschung herausgearbei­ tet wurden, zeigt jedoch, daß auch hier das Verhältnis von Kirche und Liberalismus noch systematischer untersucht werden muß. Ähnliches gilt für das Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus. Trotz herausragender liberaler Sprecher wie Guizot26 ist eine klare Verbin­ dung während großer Teile des Jahrhunderts schwer zu ziehen; die prote­ stantischen Eliten verteilten sich über verschiedenste politische Tendenzen. Für die Languedoc hat Raymond Huard gezeigt, wie die internen Divergen­ zen zwischen »Orthodoxen« und Liberalen im kirchlichen Sinne sowohl bei Protestanten wie bei Katholiken immer wieder quer zu den politischen Fronten verlaufen und deren Entwicklung in schwer vorhersehbarer Weise beeinflussen konnten. Am weitgehendsten ist die Korrelation von Prote­ stantismus und Liberalismus, soweit ersichtlich, in der Gründungs- und Konsolidierungsphase der III. Republik gewesen, in der Republikanismus und Anti-Klerikalismus auf unteren Ebenen hierzu noch deutlicher beitru­ gen als in den Eliten.27 Immerhin gehörten die wichtigsten protestantischen Wortführer im Parlament nach 1871 zumeist den oben beschriebenen libera­ len Fraktionen an. 5. Beamtenliberalismus und Adelsliberalismus. Wie Pierre Ayçoberry in diesem Band ausfuhrt, hat ein eigenständiger Beamtenliberalismus in Frankreich nicht existiert. Wenngleich seine Existenz auch für den deutschen Bereich in Zweifel gezogen wurde, so bleibt in der politischen Zersplitterung der französischen Beamtenschaft wenn nicht qualitativ, so doch zumindest quantitativ ein Unterschied zum deutschen Fall bestehen. Er hängt zusam­ men mit der relativ starken Rolle, die der französische Staat-insbesondere während des II. Kaiserreichs - im Modernisierungsprozeß wie in Italien übernahm; er wirkte hier jedoch als Herrschaftssystem und weniger durch die Herausbildung eines bürokratischen Liberalismus. Hier zeichnen sich Wirkungen unterschiedlicher Typen einer »Modernisierung von oben« auf die Liberalismen ab, die wiederum einige Unterschiede im Vergleich er­ hellen. Ein ähnlich diffuses Bild zeigt sich beim Adel Auch Pierre Guiral bezieht sich bei der Betonung eines aristokratischen Liberalismus vor allem auf die Zeit um 1800.28 D as französische Beispiel stützt die in diesem Band von 348 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Christof Dipper vertretene These, daß ein eigenständiger Adelsliberalismus im wesentlichen in Gesellschaften entstand, in denen sich eine Bourgeoisie nicht herausbildete. Soweit die vorliegenden Informationen eine ansatz­ weise Quantifizierung erlauben, war der liberale französische Adel in allen politischen Gruppierungen vertreten, und umgekehrt gingen die inneren Frontstellungen innerhalb des Liberalismus quer durch Adel und Bürgertum hindurch. In der politischen Realität des 19. Jahrhunderts verloren die Tren­ nungslinien Adel-Bürgertum zwar weniger gesellschaftlich, jedoch poli­ tisch rasch an Bedeutung. Quantitativ ging die Bedeutung des Adels für den Liberalismus im Ver­ lauf des Jahrhunderts zurück, wobei zu prüfen wäre, ob sich signifikante Abweichungen ergeben von seiner allgemeinen Tendenz des Rückzugs aus politischen Spitzenpositionen. Eine ähnliche Abstufung ergibt sich erwar­ tungsgemäß im rechts-links-Spektrum. In Dippers Terminologie handelte es sich in Frankreich damit weit mehr um einen liberalen Adel als um einen Adelsliberalismus, der als eigenständige politische Formation hier nicht erkennbar ist. β. Die »soziale Frage«. Der französische Liberalismus fast aller Schattierun­ gen - und hier sehe ich eine Akzentverschiebung gegenüber dem deutschen Liberalismus - war bis zum Jahrhundertende durch einen ausgesprochenen Mangel an sozialpolitischem Problembewußtsein gekennzeichnet. Mit der »question sociale« wurden in der Regel nicht im deutschen Sinne die sozialen Folgen der industriellen Revolution bezeichnet, sondern die Gefahren, die von den als revolutionär eingeschätzten Schichten für die Stabilität der bestehenden sozialen Ordnung auszugehen schienen - »le péril social« in den Worten des Abgeordneten des rechten Zentrums und Bischofs von Orleans, Dupanloup.29 Ausnahmen gab es, so bei dem angesehenen Rechtsprofessor der Sorbonne und Fraktionskollegen von Dupanloup, Anselme Batbie, der seit den 60er Jahren den Genossenschaftsgedanken nach dem Vorbild von Schultze-Delitzsch propagierte.30 Gleichfalls vom rechten Zentrum ging im Zeichen der Erfahrung der Commune und der Streikbewegungen des fol­ genden Winters 1872 eine parlamentarische Untersuchungskommission über die »situation des classes ouvrières« und die »conditions du travail en France« aus. 31 In solchen Initiativen unterschied der konservative Liberalis­ mus sich jedoch nicht grundlegend von einem reformerischen Bonapartis­ mus, auch wenn die Genossenschaften des II. Kaiserreiches unter scharfer politischer Kontrolle standen und kaum als unabhängige Selbsthilfeorgani­ sationen der Handwerker- oder Arbeiterschaft anzusprechen waren. Bis zum ausgehenden Jahrhundert blieb das sozialreformerische Werk der ver­ schiedenen, dem Liberalismus unterschiedlicher Tendenz zuzurechnenden französischen Regierungen und Fraktionen bescheiden, und wenn William Logue seit Beginn der III. Republik einen sozialpolitisch reformfreudigen »new liberalism« in Frankreich herausarbeitet, so beschreibt er damit eher 349 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Grundlagen der Entwicklung des 20. Jahrhundert als die politisch wesentli­ chen Charakteristika des Liberalismus im 19. Jahrhundert. Im Fazit erweist sich die spezifische französische Form der nationalen Inte­ gration mit ihrer Phasenverschiebung von politisch-institutionellem, wirt­ schaftlichem und kulturellem Nation-building als ein Schlüssel für das Ver­ ständnis sowohl der Eigenheiten der Entwicklung des französischen Libera­ lismus als auch der Schwierigkeiten bei der Suche nach Kriterien für einen europäischen Vergleich. Eine an dem Wandel der politischen Organisatio­ nen orientierte Phaseneinteilung des französischen Liberalismus kann man­ chen Begriffen, die in der Gesamtanalyse zu unscharf erscheinen, ihre analy­ tische Funktion zurückgeben. Andere Kategorien verweisen in der Tat auf grundlegende Unterschiede zwischen Frankreich und anderen Ländern. Wirtschaftsliberalismus und politischer Liberalismus waren hier noch wesentlich weniger deckungsgleich als in Großbritannien oder D eutsch­ land, und dies ist seinerseits zu gutem Teil auf die Phasenverschiebung im französischen Nation-building zurückzuführen. Ein bürokratischer Libera­ lismus ist in Frankreich als eigenständige Gruppierung ebensowenig festzu­ stellen wie ein Adelsliberalismus. Enger war dagegen, und dies wieder im Gegensatz zu anderen Ländern wie insbesondere Belgien, die Verbindung zwischen liberalem Katholizismus und politischem Liberalismus. Spitzt man die geläufige Unterscheidung von englischem und kontinen­ taleuropäischem Liberalismus zu auf eine tendenziell stärkere Betonung der individuellen Freiheiten im englischen und des sozialen Konservatismus im kontinentalen Fall, so nimmt Frankreich eine Zwischenstellung ein. D er französische Liberalismus stand während des 19. Jahrhunderts in einer Art Spannungsfeld der doppelten Oppositionsposition gegen autoritäre Regie­ rungsformen einerseits und die »soziale Gefahr« »andererseits. Je nach poli­ tischen Rahmenbedingungen trat die eine oder andere Form dieses Opposi­ tionsliberalismus in den Vordergrund. D er Wandel der Inhalte und Forma­ tionen erklärt einen Teil der Eingrenzungsprobleme, und er erklärt auch, weshalb grundlegende Kategorien anderer Liberalismen in Frankreich mit­ unter schwer anwendbar sind. So kann unter der Restauration und der Julimonarchie von einem - in sich bereits gewandelten - gouvernementalen Liberalismus gesprochen werden, der zugleich in einer D efensivposition gegen sozialen Wandel verharrte. Unter dem II. Kaiserreich wurde er mit ähnlichen Motivationen zu einem primär politisch orientierten Opposi­ tionsliberalismus. Nachdem der Verfassungsstaat 1870/75 durchgesetzt war, trat die gesellschaftliche Komponente der »defense sociale« wieder in den Vordergrund und wurde in der Kontroverse um die Frage, wie dem Problem der politischen Partizipation der »nouvelles couches sociales« (Gambetta) in der neuen Mittelklassen-D emokratie zu begegnen sei, zum Kernpunkt der inneren Fraktionierung des Liberalismus. D ie Probleme der »defense sociale« wogen für den französischen Liberalismus stärker als 350 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

beispielsweise im Deutschen Reich der Gegensatz von Gebildeten und Volk (Gall). D ie Partizipationskrise wurde im Liberalismus der frühen III. Repu­ blik unterschiedlich beantwortet, ohne daß sich für die Reaktionen bislang eindeutige ökonomische oder soziale Unterschiede in den Trägergruppen nachweisen ließen. Diese inneren Gegensätze scheinen mir jedoch ebensowenig wie die Unschärfe der gesellschaftlichen Grenzen auf einen schwachen Liberalismus hinzudeuten, wie Dieter Langewiesche in der Bielefelder Schlußdebatte für Frankreich vermutete. Schwach blieb die Ausbildung einer Parteiorganisa­ tion. Sie implizierte jedoch nicht einen Mangel an politischer Bedeutung, sondern spiegelte die Präponderanz von lokaler und zentraler Ebene wider. Wenn der hier vorgeschlagene epochenspezifische Eingrenzungsversuch für den französischen Liberalismus zutrifft, so charakterisierte dieser eher im Gegenteil, und vergleichsweise stärker als der deutsche Liberalismus, wäh­ rend große Teile des 19. Jahrhunderts die politisch wichtigsten und durch­ setzungsfähigsten Kräfte in Frankreich.

Anmerkungen * Erweiterte Fassung meiner Saarbrücker Antrittsvorlesung am 13. Juli 1987. 1 W. Logue, From Philosophy to Sociology. The evolution of French Liberalism 1870-1914, DeKalb/Ill. 1984; L. Girard, Les libéraux français 1814-1875, Paris 1985; A. Jardin, Histoire du libéralisme politique de la crise de l'absolutisme à la constitution de 1875, Paris 1985. Entspre­ chend den Vorgaben des Herausgebers werden die Nachweise im folgenden sparsam gehalten; die wichtigste Literatur und ein Teil der Quellen ist über die zitierten Werke zu erschließen. Vgl. auch die Beiträge von G. Haupt und von G. Krumeich in diesem Band. 2 P. Manent (Hg.), Les libéraux, Paris 1986. 3 D . Bagge, Les idées politiques en France sous la Restauration, Paris 1952. Arbeiten in vergleichender Perspektive sind besonders selten geblieben: L, Gall, Benjamin Constant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz, Wiesbaden 1963. 4 Auf seinen alteren Werken aufbauend: G. Burdeau, Le Libéralisme, Paris 1979. 5 Vgl. dazu nach wie vor den Überblick von P. Guiral, D er Liberalismus in Frankreich (1815-1870), dt. in: L. Gall (Hrsg.), Liberalismus, Köln 1976, S. 283-307. 6 R. Hudemaun, Fraktionsbildung im französischen Parlament. Zur Entwicklung des Partei­ ensystems in der frühen Dritten Republik (1871-1875), München 1979. 7 M. Agulhon, Le Cercle dans la France bourgeoise 1810—1848. Etude d'une mutation de sociabilité, Paris 1977. Die Schwierigkeit des Unternehmens zeigt indirekt z. Β. die unbefriedi­ gende Studie von K. Auspitz, The radical bourgeoisie. The Ligue de l'enseignement and the origins of the Third Republic 1866-1885, Cambridge/Mass. 1982. 8 Vorschlag einer solchen Typologie für die frühe III. Republik in: R. Hudemann, Parlament und politische Parteien in Frankreich vor 1914, in: XVIe Congrès International des Sciences Historiques 1985, Rapports, S. 447-449. 9 Siehe insbes. B. Ménager, La vie politique dans le département du Nord de 1851 à 1877, 3 Bde., Lille 1983; R. Huard, Le mouvement républicain en Bas-Languedoc 1848-1881. La préhistoire des partis, Paris 1982. Unter älteren Werken nach wie vor u.a. P. Barral, Le Département de l'Isère sous la Troisième République 1870—1914, Paris 1962.

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10 Ρ. Duvergier de Hauranne, Histoire du gouvernement parlementaire en France 1814—1848, 10 Bde., Paris 1870-18722; P. Thureau-Dangin, Histoire de la Monarchie de Juillet, 7 Bde., Paris 1888-18922; P. de La Gorce, Histoire du Second Empire, 7 Bde., Paris 1894-1905; G. Hano­ taux, Histoire de la Fondation de la Troisième République, 4Bde., Paris 1925—1926. 11 Serien Lb56 und Lb57 in der Bibliothèque Nationale, Paris. 12 Zum Hintergrund siehe, wenngleich mit Schwerpunkt auf den Jahren 1848—1851, R. Riemenschneider, D ezentralisation und Regionalismus in Frankreich um die Mitte des 19. Jahrhunderts, Bonn 1985. 13 Annales du Senat et du Corps législatif, 1864 Bd. 2, 11. 1. 1864, S. 305-316. 14 L. Girard (Hrsg.), Les élections de 1869, Paris 1960. 15 Vgl. G. Krumeich in diesem Band. D etailliert zu den politischen Formationen: J.-M. Mayeur, La vie politique sous la Troisième République 1870-1940, Paris 1984. Belege fur die Thesen zur 4. Phase bei Hudemann, Fraktionsbildung. 16 J.-M. Mayeur, Les débuts de laΙIIcRépublique 1871-1898, Paris 1973, S. 18. 17 Hudemann, Fraktionsbildung, S. 313ff. 18 Qualitative und quantifizierende Nachweise ebd., u.a. S. 109ff., 136ff., 176 ff., 300 ff. 19 Wichtige Hinweise geben Börsenhandbücher wie: A. Vitu, Guide financier. Repertoire general des valeurs financières et industrielles, Paris 1864; P. Delombre, Annales financières (1863—1869). Repertoire general des valeurs françaises et étrangères cotées à la Bourse de Paris, Paris 1870; Didot-Bottin, Annuarie-almanach du commerce et de l'industrie, Paris 1871ff. 20 Ε. Weber, Peasants into Frenchmen, Stanford/Cal. 1976; R. Price, The Modernization of Rural France. Communications networks and agricultural market structures in nineteenth­ century France, London 1983. 21 Belege bei Hudemann, Fraktionsbildung, u.a. S. 115 ff., 302 ff., 310 ff. 22 A.-J . Tudesq, Les Grands Notables en France (1840-1849). Etude historique d'une psy­ chologie sociale, 2 Bde., Paris 1964. 23 Die These beruht auf den publizistischen Quellen (wie Anm. 11). 24 A. Gordewiener, Organisations politiques et milieux de presse en régime censitaire. L'ex­ périence liégeoise de 1830 à 1848, Paris 1978. 25 Einen Überblick über Forschungsstand und Probleme gibt insbesondere J.-M. Mayeur, Catholicisme social et démocratie chrétienne. Principes romains, expériences françaises, Paris 1986, und Ders. (Hg.), L'histoire religieuse de la France.19c— 20c siècle. Problémes et méthodes, Paris 1975. 26 D . de Coral, Doktrinärer Liberalismus. Guizot und sein Kreis, Neuwied 1976. 27 R. Fahre, Les protestants, in: G. Cholvy u. Y.-M. Hilaire, Histoire religieuse de la France contemporaine, Bd. 2, Toulouse 1986, S. 36—50. 28 Guiral, Liberalismus, S. 283 f. 29 Vgl. u. a. Mgr. l'Evêque d'Orléans, L'athéisme et le péril social, Paris 1866. 30 z. Β. Anselme Batbie, Le crédit populaire, Paris 1864. 31 Hudemann, Fraktionsbildung, S.316f. Bericht in Annales de l'Assemblée Nationale, Bd. 41, Paris 1875, Annexe S. 101-110 u. 251-349.

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GERD KRUMEICH

Der politische Liberalismus im parlamentarischen System Frankreichs vor dem Ersten Weltkrieg

Die große Schwierigkeit für eine komparatistische Untersuchung des politi­ schen Liberalismus im Frankreich der Vor-Weltkriegszeit besteht in der mangelnden Präzision des Liberalismus-Begriffes. Es gibt bislang keine Arbeit, die den sich selber als »liberal« bezeichnenden Parteien und parteiar­ tigen Gruppierungen der Jahre ab ca. 1890 gewidmet ist. D ie Arbeiten von Girard, Jardin, D iez del Corral oder Guiral1 behandeln frühere Zeiträume und sind deshalb hier nur bedingt brauchbar. D enn, wie Hudemann über­ zeugend dargelegt hat,2 ist der politische Liberalismus insofern »in Bewe­ gung«, als seine Ziele, Hemmnisse, Erfolge-auch sein »Versagen«-immer auf die konkreten politischen Rahmenbedingungen zu beziehen sind, unter denen er agiert. So sehr liberale Politiker und Parteien auch Politik aktiv gestalteten, so sehr waren sie doch auch immer Objekt der Politik anderer bisweilen ungleich mächtigerer - politischer und gesellschaftlicher Grup­ pen. Andererseits: solch relativierende und »historisierende« Betrachtung darf nicht übersehen, daß die Selbst- und Fremd-Qualifizierung als »liberal« doch auch immer eine Grundbefindlichkeit ausdrückt, die den Anspruch einer gewissen Überzeitlichkeit erhebt. In seinen »Gesprächen mit Ecker­ mann« hat Goethe dieses liberale Theorem folgendermaßen gültig beschrie­ ben: »Der wahre Liberale . . . sucht mit den Mitteln, die ihm zu Gebot stehen, soviel Gutes zu bewirken, als er nur immer kann; aber er hütet sich, die oft unvermeidlichen Mängel sogleich mit Feuer und Schwert vertilgen zu wol­ len. Er ist bemüht, durch ein kluges Vorschreiten ein öffentliches Gebrechen nach und nach zu verdrängen, ohne durch gewaltsame Maßregeln zugleich oft ebensoviel Gutes mit zu verderben. Er begnügt sich in dieser stets unvollkommenen Welt so lange mit dem Guten, bis ihn, das Bessere zu erreichen, Zeit und Umstände begünstigen. «3 in der Tat erscheint diese Beschreibung geeignet, sowohl den Anspruch als auch die eigentümliche historische Beschränktheit der Liberalismen der verschiedenen Epochen zu verstehen: D a wo ein »Liberaler« nach dem eigenen Selbstverständnis noch vorsichtig-abwägend gesellschaftliche Reformen (etwa in der Steuergesetzgebung) und politische Zugeständnisse 353

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(etwa im Wahlrecht) in Aussicht bzw. in Angriff nimmt, wird er mit dem Ideologie-Verdacht konfrontiert, der in dem Maße zunimmt, wie sich parti­ kulare Interessen unter dem Etikett »liberal« allgemeinen gesellschaftlichen Einfluß zu verschaffen bzw. zu erhalten suchen. Mehr noch als in Deutsch­ land lastet der Ideologie-Verdacht auf dem französischen Liberalismus, da dieser doch ungleich länger und eindeutiger als »regierende Partei« agierte. Als solche war er nachhaltiger zu den notwendigen Kompromissen der Politik gezwungen, wie er auch enger an die Privilegien der Macht heran­ rückte als der politische Liberalismus in D eutschland, welcher niemals im Machtzentrum stand und umso stärker zwischen »Prinzipien« und bloßem interessenpolitischen Opportunismus schwankte. Allein wegen dieser konkreten Einbindung des Liberalismus in Frank­ reich in die politischen und gesellschaftspolitischen Entscheidungen wären Einzelstudien zur Geschichte der »bürgerlichen« politischen Parteien, Parla­ mentsfraktionen und Interessengruppen von großem Interesse. D iese sind aber nahezu nicht vorhanden. Pionierarbeiten wie die von Hudemann4 über die »Fraktionen« in der Frühphase der Dritten Republik sind für die Zeit des entwickelteren Parteiwesens noch nicht vorhanden. Und im Unterschied etwa zur Geschichte des linksbürgerlichen »Parti Radical«,5 die heute als gut erforscht gelten kann,6 gibt es kaum Studien zur Geschichte der gemäßigten Bourgeoisie und deren parlamentarische und interessenpolitische Arbeit bis zum Ersten Weltkrieg. Symptomatisch für diesen wissenschaftlich äußerst unbefriedigenden Zustand ist, daß wir für die Geschichte des wichtigsten politischen Sammelbeckens des bürgerlichen Liberalismus, die »Alliance Républicaine Démocratique«, immer noch auf die - in Deutschland in keiner öffentlichen Bibliothek vorhandene! - Broschüre von Georges Lachapelle7 angewiesen sind, die zudem eher eine Fest- und Werbeschrift als eine histori­ sche D arstellung ist. Genauso schlecht steht es um die Erforschung der Geschichte der wichtigsten französischen Wirtschaftsverbände und Interes­ senorganisationen jener Zeit: Weder für das »Comité Mascuraud« noch für die mächtige »Union des Intérêts Economiques« noch für das »Comité des Forges« der Schwerindustrie und last but not least auch nicht für das »Comité central d'études et de defense fiscale«, dessen Verbindungen mit der Partei der rechten Mitte, der »Alliance républicaine démocratique« ganz offensichtlich waren, liegen heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen genü­ gende Arbeiten vor. Eine Folge dieses generellen Mangels an wissenschaftlichen Studien zum französischen Liberalismus zeigt sich in der Begriffsverwirrung, die in der neueren Literatur vorherrscht. Ein extremer Ausdruck dieser historiogra­ phischen Unsicherheit ist der »Liberalismus«-Artikel des 1986 erschienenen »Historical D ictionary of the Third French Republic«, in welchem expressis verbis sowohl Jakobiner als auch Orleanisten und Freidenker als »liberal« bezeichnet werden.8 Zuverlässiger als solche spekulativen Begriffserweiterungen erscheinen 354 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

die zeitgenössischen Eingrenzungen des Begriffs, wie sie etwa in der »Grande Encyclopédie« der Jahrhundertwende9 oder dem »Grand Larousse« von 1898 vorgeschlagen werden. Liberal, sagt die »Grande Ency­ clopédie«, sind diejenigen politischen Parteien, die sich dem gesellschaftli­ chen Fortschritt verschrieben haben, welcher aber synchron mit der Ent­ wicklung der individuellen »libertés« zu verlaufen habe. Ursprünglich war ein Liberaler im wesentlichen durch seine Opposition zum »ordre établi« gekennzeichnet, wobei die »radicaux« die »nuance la plus avancée du parti liberal« ausmachten. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts habe indessen die ursprüngliche Polarität von Liberalen und Konservativen an Bedeutung verloren. D enn die liberalen Werte seien weitgehend Gemeingut geworden. Durch die Entwicklung des Sozialismus und die überragende Bedeutung der sozialen Frage habe sich indessen in jüngerer Zeit eine neue Teilung des »esprit public« ergeben: Viele Liberale, besonders die doktrinären Ökono­ misten,10 hätten sich zu einem Bündnis mit den Konservativen zusammen­ gefunden. D ies sei in einem solchen Ausmaße geschehen, daß heute - um 1900 - die Bezeichnungen »liberal« und »reaktionär« oft synonym gebraucht würden. Überdies sei eine neue Zusammenfügung von politi­ schem und ökonomischem Liberalismus entstanden, deren Konsequenz eine »grande confusion« im Liberalismus-Begriff sei. Der »Grand Larousse« bemerkt seinerseits, daß die Verfassung von 1875 das dauerhafteste Werk des politischen Liberalismus im 19. Jahrhundert ausmache. D ieser sei dann immer stärker zu einer »doctrine de defense« des Mittelstandes und der Großen Bourgeoisie geworden: »Les partis libéraux du XXc siècle mettent l'accent sur la liberteé économique, conçue d'abord comme une défense de la libre entreprise contre l'ntervention de l'Etat«. Und abschließend stellt der »Grand Larousse« fest, daß sich die Gruppierun­ gen des politischen Liberalismus nunmehr alle im Zentrum des politischen Spektrums ansiedelten. Diese zeitgenössischen Bemerkungen lassen zwei grundlegende Tatsa­ chen hervortreten: zunächst die Tendenz des ökonomisch orientierten Libe­ ralismus, »reaktionär« zu werden; dann aber auch die Orientierung auf und die Fixierung im Politischen Zentrum, wohin ihn allein schon seine Tradition als »parti avancé« verweist. In dieser Polarität kommt ein Charakteristikum des französischen Liberalismus zum Vorschein, nämlich die Tatsache, daß sich seine ideologische Bandbreite von Mitte-links bis weit in die rechte Mitte erstreckte, was es ihm erlaubte, sich als eine zutiefst zentristische Gruppierung zu verstehen und darzustellen. Vor allem letzteres soll nun­ mehr näher untersucht werden. Denn es scheint, daß sich hier die Besonder­ heit und Originalität des französischen Liberalismus besonders deutlich fassen läßt - gerade auch im Vergleich mit der Situation im wilhelminischen Deutschland. Um ein naheliegendes - charakteristisches - Mißverständnis von vornherein auszuschließen, sei betont, daß der Begriff »politisches Zentrum« oder der häufig verwendete Begriff »Zentrismus« streng von 355 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

dem geläufigen deutschen Sprachgebrauch, wo »Zentrum« das katholisch­ konservative Element im Parteienspektrum bezeichnet, zu unterscheiden ist. Die Kategorie des »politischen Zentrums« dient hier nicht einer Parteien­ bezeichnung sondern vielmehr der Klassifizierung einer parteimäßig nicht genau abgegrenzten und auch nicht genau abgrenzbaren politischen »ten­ dance« im Spektrum des allgemeinen französischen Parteiwesens der D rit­ ten Republik. Konkret: Seit den Kampfjahren um die D urchsetzung der Republik gegenüber dem Monarchismus - später auch gegenüber der bou­ langistisch-konservativ-plebiszitären Herausforderung - hatten sich die Republikaner stets insgesamt als der »parti républicain« selber definiert und die linken - »radikalen« - Varianten wie auch die konservativen »modérés« waren besonders in der Sprachregelung der Gemäßigten stets nur im Grunde als »fractions« eben dieser Hauptrichtung anzusehen. Dieser stets latente Rekurs auf die grundsätzliche Gemeinsamkeit linker und gemäßigter Republikaner im Hinblick auf die Abwehr der sog. »kleri­ kal-monarchistischen Reaktion« besagt allerdings nicht, daß die Auseinan­ dersetzungen zwischen linksbürgerlich-radikalen und liberal-gemäßigten Republikanern nicht erhebliche Sprengkraft gehabt hätten. Symptomatisch sind die unverhältnismäßig scharfen Angriffe etwa Clemenceaus gegen die Kolonial- und Sozialpolitik eines Ferry.11 Und es läßt sich generell sagen, daß die linken und gemäßigten Elemente des »Parti Républicain« in dem Maße auseinanderdrifteten, wie der gemeinsame Antiklerikalismus und Antimonarchismus an Bindekraft verloren. Als nach dem Ende der D rey­ fus-Krise um 1900 die politisch-ideologischen Frontstellungen an Relevanz verloren gegenüber den neuen Herausforderungen sozialpolitischer Art, kam es dann auch tatsächlich zu einem erheblichen »reclassement« der französischen Parteien. Auf der Linken siedelten sich eindeutig die 1905 im »Parti socialiste unifié« vereinten Sozialisten an, 1901 wurde der »Parti républicain radical et radical-socialiste« gegründet und 1902 als Antwort hierauf die numerisch weniger bedeutende aber von hochstehenden Persön­ lichkeiten des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft getragene und gelei­ tete »Alliance Républicaine D émocratique« (ARD ). Wenn der »Parti radi­ cal . . . « sich als »ausschließlich linksstehend« verstand und zumindest rheto­ risch immer wieder versuchte, die Sozialisten mit dem Anspruch »keine Feinde links« zu haben, einzugliedern bzw. einzudämmen, so war vom Programm der ARD her deutlich, daß es sich in ihrem Selbstverständnis um eine bourgeois-liberal-republikamsche Gruppe konservativen Zuschnitts handelte. D er Bruchpunkt gegenüber den eigentlichen konservativen Par­ teien und den »ralliierten«12 Katholiken bildete insbesondere die Schul- und Kirchenfrage, denn auch den liberal-konservativen Republikanern war der Antiklerikalismus - in »liberaler« Variante allerdings - verbindlich. Es hat im übrigen den Anschein, daß diese parteiartigen Organisationen allein aus dem Zwang heraus, sich auf dem politischen Massenmarkt zu profilieren, eher zu plakativen Ab- und Eingrenzungen neigten als etwa die 356 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Fraktionen des Parlaments. D ie von Hudemann für die frühe Phase der Dritten Republik erarbeitete Konstellation blieb in vieler Hinsicht auch in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gültig, wenngleich die Fraktionen -die »groupes parlementaires« - doch als stärker in die Parteien eingebunden gelten können als 30Jahrc zuvor. Aber wie wenig selbstverständlich diese Einbindung immer noch war und wie lange doch der parlamentarische Nexus als ausschlaggebend galt, mag die Tatsache verdeutlichen, daß erst der Kongreß der Radikalen Partei im Oktober 1913 beschloß, künftig nur noch Parteimitglieder zu den radikalen und den radikalsozialistischen Frak­ tionen im Parlament zuzulassen.13 Noch bei den Parlamentswahlen von 1914 wurden aber seitens der Partei in vielen Wahlbezirken nach wie vor Abgeordnete aufgestellt, die keineswegs Parteimitglieder waren. Und auch den gemäßigten republikanischen Parteien gelang es trotz erheblicher Bemühungen nicht, die Parteiorganisationen im Lande wesentlich zu ver­ stärken. Die kläglichen Resultate der ARD und der gemäßigten »Federation des Gauches« bei den Wahlen von 1914 erwiesen die numerische und organi­ satorische Schwäche der meisten Basisorganisationen, die auch ein äußerst demagogisch geführter Wahlkampf nicht wettmachen konnte. Im Gegensatz zu der offensichtlich mangelnden Integrationsfähigkeit der bürgerlichen Parteien im Lande konnte das Parlament seine Position als eigentlicher Kristallisationspunkt des »esprit public« vollgültig erhalten. Hierin liegt vielleicht der wichtigste Unterschied zum Parteiwesen des Wilhelminischen D eutschlands, wo der trotz aller »Parlamcntarisierung« ungenügende Einfluß des Parlaments dazu führte, daß gesellschaftliche Interessen sich immer stärker in demagogisch »aufladbaren« und politisch letztlich unkontrollierbaren Massenverbänden außer- und antiparlamentari­ scher Art kristallisierten. In Frankreich dagegen blieb trotz aller Angriffe14 das Parlament das Forum, in welchem sich alte republikanische Gemeinsam­ keit immer wieder bewährte. D er Unterschied zum Wilhelminischen Deutschland ist hier offenkundig: In der außerparlamentarischen Öffent­ lichkeit Frankreichs erhielt »Liberalismus« im Verbund mit Massenpresse und Interessengruppen-Agitation in den Vorkriegsjahren zwar ebenfalls ein immer stärker rein antisozialisrischcs und sozialkonservatives Gepräge. Im Parlament hingegen konnte er den Anspruch, regierungstragende Gruppie­ rung zu sein, d. h. im politischen Zentrum zu stehen, nur aufrechterhalten, wenn die Verbindung zur republikanischen Linken in den konkreten Gesetz­ gebungsprojekten erhalten blieb. Das Problem aller bisherigen Versuche, das politische System der Dritten Republik zu beschreiben, scheint mir darin zu liegen, daß diese Grundstruk­ tur der Zweiteilung des politischen Lebens in parlamentarisches »bargai­ ning« und »decision making« einerseits und ideologisch-programmatisches »Politisieren« in der Öffentlichkeit andererseits nicht genügend beachtet wird. Der Graben zwischen parlamentarischer Organisation und politischer Öffentlichkeit konnte meistens nur durch das beide beherrschende Cha357 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

risma der »großen Persönlichkeit« einzelner Politiker überwunden werden. Dies gilt im übrigen nicht allein für die Liberalen. Selbst die bekanntesten Versuche, das politische System der D ritten Republik zu klassifizieren, verfehlen in dieser Hinsicht die Realität, und um die Bedeutung des Liberalismus für das parlamentarische System einzu­ schätzen, bieten sie wenig Hilfen. Symptomatisch ist Maurice Duvergers Essay über den »ewigen Sumpf« des französischen Zentrismus.15 Wenngleich D uverger zugesteht, daß der liberal-radikale Nexus im Parlamentarismus der Dritten Republik der aus­ schlaggebende politische Faktor gewesen ist, ist er gleichwohl nicht bereit, ihm eine eigenständige Gestaltungskraft für das parlamentarische Leben zuzugestehen. Er sieht wie Fraçois Goguel das französische Parteienspek­ trum durch eine schroffe Zweiteilung in »links« und »rechts« charakteri­ siert.16 D en Liberalismus hat Goguel ganz dem »rechten Pol« zugeordnet, wo er zusammen mit Traditionalismus und »Industrialismus« den »Ordre établi« verkörpere. Gegen dieses »rechte Temperament« stehe die Tendenz des linksrepublikanischen Jakobinismus sowie des Sozialismus. Ausdrück­ lich wendet sich Goguel gegen den Versuch von Andre Siegfried, der in seinem »Tableau des Partis en France«17 von drei bestimmenden »tendances politiques« spricht, nämlich der Rechten, der Mitte und der Linken. Goguel gesteht zu, daß man auf der Ebene der »Ideen« und der politischen D oktri­ nen zu dieser Klassifizierung gelangen könne, hält aber gleichwohl an seiner Polaritäts-These fest, da es in entscheidenden politischen Momenten der französischen Geschichte stets zu »Blocs« und anderen Manifestationen extremer Polarisierung gekommen sei. Es ist offensichtlich, daß in all diesen Theorien der Liberalismus als eine das politische Zentrum im Parlament mitbestimmende Krafte verschwin­ det. D ie Frage ist, ob dies lediglich einer mangelnden historiographischen Differenzierung zuzuschreiben ist oder ob tatsächlich die »Polarisierung« der französischen Gesellschaft so stark war, daß sich keine ideologisch und programmatisch klar definierte Mitte ausmachen läßt: Keinen Zweifel kann es an dem programmatischen Anspruch der Libera­ len geben, eben diese »Mitte« - das politische Zentrum - zu repräsentieren. Immer wieder behaupten sie, gegenüber den rechten und linken »Polen« des Parteiwesens die Republik gleichermaßen im Gleichgewicht halten zu kön­ nen: »ni réaction ni revolution« lautet die liberale Devise, die sich bei Jules Ferry ebenso findet wie bei Waldeck-Rousseau und die dann im Programm der »Alliance Républicaine Démocratique«, der ersten und wichtigsten par­ teimäßigen Gruppierung des politischen Liberalismus, ausdrücklich über­ nommen und ausformuliert wird: » . . . République ordonnée et liberale, respectueuse de tous les droits, basée sur la justice egale pour tous. Anticollectiviste mais constamment et passionnément préoc­ cupée de tous les progrès et avant tous les autres, du progrès social; antinationaliste 358 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

maisjalousegardienne de la puissance et de l'honneur de la patrie; anticléricale mais non anti-religieuse; vraiment démocratique, sagement et profondément réforma­ trice«.18 Der ältere politische Topos vom »juste milieu« findet sich in dieser Selbst­ definition ganz unmodifiziert, was auch von der Stabilität dieser traditionel­ len zentristischen Denkweise zeugt.19 Während die sich selber als »liberal« einschätzenden politischen Gruppen von jeher das politische Zentrum für sich beanspruchten, haben wir in der Phase vor dem Ersten Weltkrieg eine eigenartige politische Entwicklung vor uns, für die es in Deutschland keine Parallele gibt: Auch die innenpolitisch herrschende republikanische Linke, die sog. »radicaux et radicaux-sociali­ stes«, orientierte sich teilweise zur Mitte hin. D iese Tendenz ist in der historisch-politischen Literatur oft als »D ekadenz« bzw. als Selbstaufgabe der Linken beschrieben worden, zuletzt wohl von Arno Mayer. 20 Was hier als politischer Verfall, als Erosion etc. bezeichnet wird, läßt sich dem Selbst­ verständnis der betreffenden Gruppierungen viel besser entsprechend auch positiv beschreiben: D as politische Zentrum des Parlaments wurde nun­ mehr sowohl von »links« als auch von liberaler Seite aus beansprucht. D ies führte wiederum dazu, daß die neu entstandene sozialistische Linke in dem Maße mit dem äußersten linken Flügel der bürgerlichen »radicaux« zusam­ menfand, wie sich die zentristische Bewegung der gemäßigten Radikalen akzentuierte. Wenn das politische Zentrum somit mehr und mehr sowohl von den »radicaux« als auch von den bürgerlichen »libéraux« beansprucht und im parlamentarischen Alltag auch eingenommen wurde - die »radi­ caux« repräsentierten mitte-links und die »libéraux« mitte-rechts - gab es jedoch nie ein tatsächliches ideologisches »realignment« zwischen den Radi­ kalen und den Liberalen.21 Niemals haben die Radikalen ihren Anspruch, »keine Feinde links« zu haben, aufgegeben, und tatsächlich blieben Wieder­ annäherungen an die äußerste Linke stets möglich. D ahingegen war es für die rechte Mitte ungleich schwieriger, sich mit der Rechten zu konkreten politischen Absprachen zusammenzufinden. »Entre vous et moi il y a toute l'étendue de la question religieuse«: diese berühmte Abgrenzung eines gemäßigten Republikaners - Poincaré - gegenüber den Konservativen, war nur ganz selten zu durchbrechen; denn dies hätte bedeutet, aus dem sog. »republikanischen Konsensus« herauszutreten und hätte die berühmten Absprachen in den Stichwahlen der Parlamentswahlen (»ballottage«) unmöglich gemacht. Erst in der hysterisierten Rüstungsdebatte der Jahre 1913 und 1914 wurde teilweise versucht, diese Barriere aufzubrechen: Als Anfang 1913 die ARD das Motto ihrer Politik umformulierte: Pour la France avec les Fraçais, pour la République avec les Républicains«, so war dies in zeitgenössischer Perspektive eine »reaktionäre Wende«. D iese wurde indes­ sen vom Wähler nicht akzeptiert, wie das Fiasko dieser Gruppierung bei den Wahlen von 1914 deutlich zeigt.22 359 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Diese Skizze der Struktur des parlamentarischen Systems im Frankreich der Vor-Weltkriegszeit führt zu einigen grundsätzlichen Folgerungen im Hinblick auf Funktion und Anspruch des französischen politischen Libera­ lismus: 1. D ie Beanspruchung des politischen Zentrums und die Identifizierung mit der »republikanischen Tradition«. Hier wird ein bedeutsamer Unter­ schied zum deutschen Liberalismus sichtbar: Deutsche Liberale, gleich wel­ cher politischen Provenienz, fürchten im späten Kaiserreich, aus der parla­ mentarischen Schlüsselstellung verdrängt zu werden. Ein deutlich defensi­ ver Zug prägt ihre öffentlichen Äußerungen oder aber - im Fall der Natio­ nalliberalen - eine demonstrativ bekundete Bereitschaft zum »Mitmachen«, die Anlehnung an das übermächtige Andere. So heißt es etwa zu Beginn des Programms der Nationalliberalen Partei von 1907: »Nationale und liberale Grundsätze und Forderungen: Unverbrüchliche Treue zu Kaiser und Reich. Das Vaterland über der Partei, das allgemeine Wohl über allen Sonderinter­ essen . . . Pflichtbewußtsein und rechtzeitige Opferwilligkeit, wo die Macht und das Ansehen des Reiches nach außen in Frage steht . . .« Und ebenfalls charakteristisch defensiv erscheint etwa das Einigungspro­ gramm der »Fortschrittlichen Volkspartei« von 1910, wo neben der »gleich­ berechtigten Mitwirkung aller Staatsbürger in Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung« auch die »für die Gesamtheit unentbehrliche Steigerung des berechtigten Einflusses des deutschen Bürgertums« gefordert wird. 23 Diese Art von Sprache wäre für die damaligen Gruppen des französischen Liberalismus völlig undenkbar. In den programmatischen Äußerungen der deutschen Parteien dokumentiert sich wohl ihr Bewußtsein, nicht gesichert im politischen Zentrum zu stehen und vor allem nicht über eine eigene Tradition der verantwortlichen politischen Gestaltung der res publica zu verfügen. 2. D ie »Konkurrenz um die Mitte« zwischen linken und gemäßigten Gruppierungen hatte bedeutsame Auswirkungen auf die französische Partei­ enstruktur: Weil die republikanische Linke zu Teilen »zentristisch« wurde, unterblieb eine politische und damit auch ideologische Polarisierung. Gemä­ ßigte und Linke blieben koalitionsfähig, solange nur nicht an dem antikleri­ kalen Grundkonsens gerührt wurde. D ie sog. »Grands Ministères« der Krisenzeiten, etwa das von Waldeck-Rousseau oder das von Poincaré im Jahre 1912, sind nur auf dieser Basis möglich geworden. Was bislang mehr allgemein beschrieben wurde, soll nunmehr in einem zweiten Schritt anhand eines konkreten Falles näher erläutert werden, näm­ lich dem Verhalten der Liberalen in der Rüstungskrise der Jahre 1913/14. Die politische Mitte geriet hierbei unter einen doppelten D ruck: Zunächst war zu klären, welchen Zweck die Rüstungen eigentlich verfolgten. D abei ist interessant, daß sich die linke Mitte im Parlament, also die »gauche radi­ cale«, von vornherein auf den klaren Standpunkt stellte, daß Rüstungsan­ strengungen nur in unmittelbarer Reaktion auf einen drohenden deutschen 360 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Angriff unternommen werden sollten, gleichsam als Rückgriff auf den republikanischen Grundmythos der »levee en masse« gegen drohende Inva­ sion, wie er seit der Französischen Revolution tradiert war. D ie liberalen Gruppen der rechten Mitte versuchten im Parlament zunächst, die Rüstungsanforderungen in den Kontext der allgemeinen Außenpolitik zu stellen. So wurde etwa argumentiert, daß die Rüstungen unvermeidlich seien, solle der »Rang Frankreichs in der Welt« gewahrt bzw. das Gleichge­ wicht der diplomatischen »Blöcke« aufrecht erhalten bleiben. Rüstungen wurden von dieser Seite auch als Prestigefragen angesehen, gleichermaßen als Ingredienz einer »energischen« Außenpolitik der Art etwa, wie sie Poin­ caré - selber einer der führenden Politiker der rechten Mitte - in den Jahren 1912 und 1913 inaugurieren versucht hatte. 24 Diese Art »staatsmännischer« Argumentation stand in einem deutlichen Gegensatz zur politischen Kon­ zeption der linken Mitte, die im Frankreich der Dritten Republik stets unter dem »Primat der Innenpolitik« handelte - und die sich deshalb häufig dem Vorwurf ausgesetzt sah, sich allein an »Kirchturms«-Interessen zu orientie­ ren. Für die linken Republikaner, auch für die eher zentristischen »radi­ caux«, waren Außenpolitik und Rüstung nur unter dem Kennwort der »défense nationale« zu thematisieren. Im zeitgenössischen politischen D is­ kurs Frankreichs kann man nahezu sicher sein, es bei Wendungen wie »grandeur, prestige et influence de la France« oder »sauvegarder le rang de la France dans le monde« mit einem national-liberalen Politiker-der Ausdruck ist im damaligen Frankreich interessanterweise nicht geläufig - zu tun zu haben. Es wäre reizvoll, vergleichend zu untersuchen, ob ähnliches auch für den deutschen Liberalismus zu konstatieren ist. Mir scheint, daß in den programmatischen Äußerungen auch der linksliberalen Gruppen in Deutschland sehr viel eher als in Frankreich von der Bereitschaft die Rede ist, einen Beitrag zu leisten zur Bewahrung von D eutschlands Ehre, Würde, Großmachtrang usw. Jedenfalls liegt dem politischen Diskurs der deutschen Linksliberalen lange nicht so dominierend das Verteidigungsmotiv zugrunde, wie das für die französische republikanische Linke, einschließlich der »radikalen« linken Mitte im Parlament, festgestellt werden kann. So findet auch das liberal-imperialistische Konzept einer im Inneren fort­ schrittlichen und deshalb nach außen schlagkräftigen Nation kein wirkliches Pendant im Frankreich der Vorkriegszeit. Zu nennen wäre hier vielleicht die Persönlichkeit Aristide Briands, dessen »discours de Périgueux« von 190925 und dessen Reden in den Jahren 1913/1914 ähnliche Töne anschlugen, der indessen bis zum Krieg von der Linken stets als »reaktionär« abgelehnt und auch von den »modérés« nicht sonderlich ernstgenommen wurde. Ein zweites distinktives Element zischen Liberalen und Radikalen ist das jeweilige Verhältnis zur Steuerreform-Frage. Einen Liberalen im Vorkriegs­ frankreich erkennt man im Grunde daran, daß er gegen das große Einkom­ mensteuerreform-Projekt eingestellt ist, welches dazu dienen sollte, die sozial vielfach höchst drückenden und ungerechten indirekten Steuern durch 361 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

ein kompliziertes System der direkten Besteuerung der Einkommen »an der Quelle« zu ersetzen. D iese große Reform gehörte zumindest grundsätzlich in das Programm eines jeden linken Republikaners, spätestens seit der Jahrhundertwende. Sicherlich gab es auch hier Nuancen im Detail und viele Politiker werden technisch gar nicht verstanden haben, um was es genau ging. Aber die Forderung war sehr zum Kummer der Liberalen volkstüm­ lich, und auch die linke Mitte hing ganz geschlossen dem »impôt général et progressif« an. 26 Wenngleich sich die Liberalen in Details der Steuerreform ebenfalls nicht einig waren, kann doch kein Zweifel daran bestehen, daß von der rechten Mitte bis hin zu den hochkonservativen Ökonomisten vom Schlage eines Leroy-Beaulieu ein grundsätzliches Mißtrauen gegenüber diesem direkten Zugriff auf Einkommen und Vermögen vorherrschte und stereotyp öffent­ lich bekundet wurde. D as »secret des Affaires« wurde in heute gespenstisch anmutender Weise zum Kernbestand freier Wirtschaft und des liberalen Individualismus hochstilisiert; die Abwehr von »Inquisition« und »Quäle­ reien« war ein ebenfalls vielgebrauchtes Argument und das alte Sprichwort, daß der Zimmermann Herr im eigenen Haus bleiben wolle, wurde ad nauseam wiederholt. Selbstverständlich konterte die Linke, von den Soziali­ sten bis hin zur »gauche radicale« diese Befürchtungen mit dem Gegenvor­ wurf des »Egoismus der Bourgeoisie« — ein Vorwurf, wie ihn wohl am eloquentesten der damals führende Politiker der Radikalen Partei, Joseph Caillaux, Protagonist der Steuerreform, formulierte: »Je désire profondément que la bourgeoisie qui depuis cent cinquante ans . . . ajouéun rôle si utile, en sachant faire à temps les concessions nécetssaires, ne soie pas atceinte du vertige qui, à la fin du 18c siècle, s'est emparé des classes privilégiécs. L'incrtie des satisfaits n'est pas une formule de gouvernement démocratique«.27

Was den Kampf um die Steuerreform so erbitterte Formen annehmen ließ, war allerdings weniger der »Egoismus der Bourgeoisie« als die Tatsache, daß sich in dieser Neuerung das gesamte komplexe Problem von Erweite­ rung der Staatstätigkeit zu kristallisieren schien: Der Anti-Etatismus gehörte zum Kernbestand liberalen D enkens, mehr noch: er war nahezu ein Reflex liberal-individualistischer Weltsicht geworden. Auch hier gab es natürlich Nuancen und Abschwächungen in der Praxis. Liberale Staatsmänner wie Waldeck-Rousseau haben sich z. B. auf Verstaatlichung genauso einlassen müssen wie genuin linksrepublikanische Politiker. Aber bis weit ins 20. Jahrhundert blieben die Liberalen überzeugt, daß es gelte, den staatlichen Sektor zu begrenzen. Hier liegt der wichtigste sachliche Grund für die obstinate Verweigerung der Steuerreform. Man wollte verhindern, daß der Staat unbeschränkten Einblick in das geschäftliche Handeln bekam und glaubte, auf diese Weise der befürchteten totalen »mainmise« des Staates auf den gesellschaftlichen Verkehr einen Riegel vorschieben zu können. Im Gegensatz zu solcher liberaler Weltsicht steht die Überzeugung auch 362 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

des gemäßigten Flügels der Radikalen, daß der Staat sehr wohl eingreifen und gestalten dürfe, und zwar nicht als notwendiges Übel, sondern als Ausdruck der »souveraineté populaire«, deren gültigste Ausprägung er selber sei. In dieser Differenz wird man immer einen Radikalen von einem Liberalen unterscheiden können, auch einen Radikalen vom Schlage Alains, dessen berühmte »Propos« die Ablehnung des liberalen Gesellschaftsmo­ dells genauso beinhalten wie die Warnung vor dem überwuchernden Staat. Der entscheidende »Test« auf die Zeitgemäßheit der liberalen Doktrin war sicherlich die Rüstungsproblematik vor dem Ersten Weltkrieg, die u. a. auch die Stcuerreformfrage unabweisbar machte. Obwohl das Projekt des »impôt général sur le revenu« schon im Jahre 1907 von der radikalen Mehr­ heit der Kammer beschlossen worden war, trat es gleichwohl nicht in Kraft, weil der Senat sich noch nicht zur Zustimmung hatte entschließen können. Aber allen politisch denkenden Zeitgenossen war bewußt, daß die durch das Wettrüsten angespannte Budget-Situation nunmehr einschneidende Ände­ rungen im fiskalischen Bereich unabweisbar machen werde. Jeder Radikale, gleichgültig ob »zentristisch« eingestellt oder auf der äußersten bürgerlichen Linken angesiedelt, war der Auffassung, daß die Kosten für die Aufrüstung »von den Reichen« zu erbringen seien, wenn schon die Verlängerung der Dienstpflicht eine erhebliche Mehrbelastung für Arbeiter, Bauern und Kleinbürger mit sich brachte. Die verschiedenen Stellungnahmen der beiden Parlamentsfraktionen der Radikalen Partei, der radikalen Zeitungen, der »Conscils généraux« etc. lassen in dieser Hinsicht überhaupt keinen Zweifel aufkommen. D emgegenüber herrschte bei der rechten Mitte und den Kon­ servativen Furcht vor einem so erzwungenen sozialen Wandel vor. Yves Guyot, der bekannte liberale Ökonom, sah bereits sehr frühzeitig die düste­ ren ökonomischen Konsequenzen des Nationalismus und des Wettrüstens: »La mégalomanie militaire forge la clef qui permettra à la révolution sociale d'ouvrir les coffres-forts«.28 Daß der Militarismus das »Instrument des Sozialismus«29 sein werde, war die Furcht aller liberal-konservativen Gruppen. Man akzeptierte zwar die machtpolitische Notwendigkeit der Rüstungen, betrachtete sie aber gleich­ sam als Versicherungsprämie, die mit den geringstmöglichen Kosten auszu­ gleichen sei: »Dans notre civilisation productrice, la question militaire doit être envisagée comme une question d'assurance. Le problème consiste à obtenir le maximum de sécurite au minimum de frais«.30 Es ist indessen genau zu differenzieren zwischen diesem »antidemagogisch«­ liberalen Standpunkt und den Äußerungen des politisch-ökonomischen Konservatismus. Hochkonservative und nationalistische Politiker äußerten häufig die Meinung, daß die Linke mit ihrer Steuerreform-Forderung zum gegenwärtigen Zeitpunkt innere Unruhe schaffe, somit der notwendigen 363 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Sammlung aller Franzosen gegen die deutsche Gefahr entgegenarbeite und die »nationale Verteidigung« mehr oder weniger bewußt gefährde. Gerade jetzt gelte es indessen, das alte Steuersystem zu bewahren, welches genauso der »puissance du pays« dienlich sei wie eine schlagkräftige Armee. Aber diese sozialkonservative Position, die häufig durch extrem chauvini­ stische Sprache abgestützt wurde, war im Parlament nicht mehrheitsfähig. Der Sturz der Regierung Barthou im Dezember 1913 genau so wie der Sturz Ribots im Juni 1914 sind nur aus der Tatsache hinreichend zu erklären, daß sich eine große relativ geschlossene Gruppe der liberalen rechten Mitte, vor allem die rechts der »gauche radicale« angesiedelte Gruppe der »gauche démoeratique«, zu steuerpolitischen Zugeständnissen an die Linke bereit fand und sich in den steuerpolitisch entscheidenden Voten auf die Seite der Radikalen schlug. Das steuerpolitische Opfer war zu bringen - und es wurde gebracht -, um den fragilen verteidigungspolitischen Konsens nicht zu gefährden und den politischen Liberalismus in seiner Stellung als zumindest potentiellen »parti de gouvernement« im politischen Zentrum zu belassen. Der parlamentarische Liberalismus im Frankreich der Vorkriegszeit hatte somit eine erstaunlich große Anpassungsfähigkeit an die Erfordernisse des politischen Gesamtsystems unter Beweis gestellt. Wie stark auch die sozial­ politischen Ideologien sich in konservativer Richtung öffentlich profilieren mochten, die Verbindung zur linken »radikalen« Mitte blieb in der Konkur­ renz um die zentrale Position des »parti de gouvernement« gewahrt. Und hierfür war man bereit - und fähig! - erhebliche sozialpolitische Konzessio­ nen zu machen. D as war mehr als ein bloßer amorpher Zentrismus, wie Duverger es genannt hat, und Vermochte jenseits der tiefgreifenden Interes­ senkonflikte nur deshalb so effizient zu funktionieren, weil man sich stützen konnte auf jahrzehntelang eingeübte parlamentarische Verhaltensmuster. Diese waren darauf abgestimmt, im Krisenfall den republikanischen Kon­ sens der Linken und der Mitte aufrechtzuerhalten. Der französische politische Liberalismus der Vorkriegszeit präsentiert sich somit als eine wesentlich zentristische Bewegung, deren oft zum Konserva­ tivismus tendierenden Ordnungsvorstellungen durch das Spiel der parla­ mentarischen Kräfte - insbesondere im Ringen um die politische Mitte soweit modifizierbar waren, daß der republikanische Grundkonsens mit der bürgerlichen Linken nicht verloren eine. Erst als in der Kriegs- und Nachkriegszeit die linke Mitte durch die Deziminierung des »Parti Radical« an politischer Bedeutung verlor und damit das politische Zentrum erodierte, erfolgte ein Rechtsrutsch der Libe­ ralen im »Bloc National«, was im Grunde das gesamte republikanische System destabilisierte.

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Anmerkungen 1 L. Girard, Les libéraux fraçais, 1814—1875, Paris 1984; A. Jardin, Histoire du libéralisme politique de la crise de l'absolutisme à la Constitution de 1875, Paris 1984; L. Diez del Corral, Doktrinärer Liberalismus. Guizot und sein Kreis, Neuwied 1976; P. Guiral, Der Liberalismus in Frankreich (1815- 1870), in: L. Gall (Hg.), Liberalismus, Köln/Berlin, 19802, S. 283-307. 2 Vgl. R. Hudemanns Beitrag in diesem Band. 3 Zit. nach: Liberalismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 763. 4 R. Hudemann, Fraktionsbildung im französischen Parlament. Zur Entwicklung des Partei­ ensystems in der frühen D ritten Republik (1871-1875), München 1979. 5 D ie Radikale Partei unterlag insofern einem starken Wandel, als sie in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zum Sammelbecken der »liberal-demokratischen« Gruppen wurde, was sie vor dem Krieg nur ganz beschränkt war, als sie sich doch eher als Partei der bürgerlichen Linken verstand (trotz allfälligen »zentristischen« Verhaltens in vielen Fällen). Vgl. bes. die Arbeit von S. Berstein, Histoire du Parti Radical, 2 Bde., Paris 1980f., sowie A.J. Tudesq, La democratie en France depuis 1815, Paris 1971, S. 78. 6 Neben der Arbeit von Berstein sind noch zu nennen: J.-Th. Nordmann, Histoire des Radi­ caux, 1820—1973, Paris, 1974, und C. Nicolet, Le Radicalisme, Paris 1967. Die monumentale Caillaux-Biographie von J . C . Attain (2 Bde., Paris 1978/81) ist selbstverständlich zu guten Teilen auch ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Radikalen Partei. 7 G. Lachapelle, L'Alliance démocratique. Ses origines, ses hommes, son role, Paris 1935. 9 W. H. Logue, Liberalism, in: Historical D ictionary of the Third French Republic, 1870-1940, London 1986. Vgl. Ders., From Philosophy to Sociology: The Evolution of French Liberalism, 1870- 1940, Dekalb/111. 1983. 9 Erschienen Paris, 1886-1902. 10 Vgl. bes. die Arbeit von Diez del Corral. 11 Vgl. D R . Watson, Georges Clemenceau. A Political Biography, London/New York, 1974/76; J. D . Ellis, The Early Life of Georges Clemenceau, 1841-1893, Lawrence 1980; F. Furet (Hrsg.), Jules Ferry. Fondateur de la République. Actes du Colloque, Paris 1985. 12 So bezeichneten sich diejenigen Katholiken, die auf der Linie des Papstes Leo XIII. die republikanische Verfassung akzeptierten. 13 Vgl. Nordmann sowie G. Krameich, Aufrüstung und Innenpolitik in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg, Wiesbaden 1980, Kap. 7/2. 14 Insbesondere die ironische Abqualifizierung der sog. »Kameradenrepublik«, der Vettern­ wirtschaft usw., vgl. R. de Jouvenel, La République des Camarades, Paris 1914, aber auch R. Priouret, La République des Députés, Paris 1950. 15 M. Duverger, L'Eternel Marais. Essai sur le Centrisme Français, in RFSP 14, 1964, S. 33-51. 16 F. Goguel, La politique des Partis sous laΙΙIcRépublique, Paris 19734. 17 Paris 1930. 18 Zu. nach Lachapelle, S. 19. 19 So auch Tudesq, S. 73. 20 A. Mayer, Adelsmacht und Bürgertum. D ie Krise der europäischen Gesellschaft 1848-1914. München 1984 [englisch: New York 1981]. Ähnlich M. Rebérioux, La République Radicale?, Paris 1975. 21 Unsere Analyse bestätigt insofern die Dauerhaftigkeit der von Hudemann für die Frühzeit der Dritten Republik festgestellten Gräben zwischen den beiden Zentren. 22 Vgl. Krumeich, Aufrüstung und Innenpolitik. 23 W. Mommsen, Deutsche Parteiprogramme, S. 168 (nat. lib.). 173 (F. V. P.). Hervorhebung im Original. 24 Vgl. G. Krumeich, Poincaré und der Poincarismus, in: Francia 8, 1980, S. 429—453. 25 Vgl. E. Bonnefous, Histoire Politique de la 3c République, Bde. 1 u. 2. 1965 u. 1967, vgl. auch G. Suarez, Briand, Bd. 2. Paris 1928.

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26 Vgl. die leider schlecht zugängliche Arbeit von M. Fraiermann u. D . Winock, Le vote de l'impôt général sur le Revenu, Thèse, Université de Paris VIII (1972) (Ms); dazu auch ausführ­ lich Allain und Krumeich, Aufrüstung. 27 Journal officiel de la République Fraçaise, Chambre des Députés, débats parlementaires, 1913, S. 3663. 28 Journal des Economistes, März 1913. Hudemanns Kritik an dieser Auffassung (s. S. 341) übersieht den qualitativen Unterschied zwischen einerseits dem »impôt général et progressif sur le revenu« linksrepublikanischer Prägung, realisiert im »Projet Caillaux« von 1907, und den vielen anderen - selbstverständlich auch von liberaler Seite eingebrachten - mehr oder weniger gemäßigten Steuerreform-Vorschlägen. Zu dieser grundsätzlichen D ifferenzierung vgl. auch die ältere aber unüberholte Arbeit von R. v. Albertini, D ie D iskussion um die französische Steuerreform, 1907—1909, in: Schweizer Beiträge zur allgemeinen Geschichte 13, 1955, S. 183-201, 196f Albertini betont zu Recht, daß der Liberalismus trotz eigener Reformpro­ jekte sich grundsätzlich allen Steuertheorien verschlossen hat, die den sozialen Aspekt betonen und das Steuersystem als Verteilungssystem ansehen und anerkennen. 29 Journal des Economistes, Juli 1913. 30 Ebd., Juni 1913. Vgl. auch G. Lachapelle, Les Finances de la ΙIIc République, Paris 1937, bes. S. 74ff.

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MARCO MERIGGI

Der Adelsliberalismus in der Lombardei und in Venetien (1815-1860) Den Adelsliberalismus, ein politisches ebenso wie ein soziales Phänomen, nicht in der herkömmlichen Weise aus der Perspektive der nationalen Eini­ gung zu betrachten, kann den Anschein eines ungewöhnlichen histonogra­ phischen Unternehmens erwecken. Tatsache ist aber daß die nationale Eini­ gung nicht von vornherein als analytischer Fluchtpunkt vorgegeben werden kann, jedenfalls nicht soweit, daß die Analyse der auf die Nationalbildung einwirkenden Regionen, ihrer sozialen Struktur und ihrer vorherrschenden Ideologien, dahinter zurücktreten könnte. Die nationale Einigung, im allge­ meinen als geschichtliches Unterfangen eines aufsteigenden Bürgertums gedeutet, kann in anderer Hinsicht eher als eines der Randergebnisse gesehen werden, dessen Ursprung im stufenweisen Wandel der Traditionen des regionalen Landadels liegt, der sich moderneren ideologischen, politischen und wirtschaftlichen Formen liberal-konservativer Prägung zuwandte. Ich betone ausdrücklich, daß meine Deutung weit stärker die Aspekte der Kontinuität hervorhebt - oder besser gesagt: die Erhaltung in der Erneue­ rung - als jene des Bruches oder des Wechsels, die ebenfalls vorhanden sind; außerdem beschränkt sich meine Interpretation auf nur ein einziges, wenn auch bedeutendes Regionalgebiet unter allen jenen, die vor den Jahren 1859/ 1861 die italienische Halbinsel bildeten. D er knappe Raum zwingt dazu, auf Nuancen zu verzichten. D ie Konzentration auf die Hauptlinien mag es aber erleichtern, vertraut erscheinende Probleme erneut zur D ebatte zu stellen. Die nationale Einigung wird dabei nicht ins Zentrum der Analyse gerückt, sondern eher die Begegnung der führenden Stände der italienischen Gesell­ schaft mit den Strukturen der modernen Welt. Als ab der Mitte des 17. Jahrhunderts in der Lombardei und gegen Ende des Jahrhunderts auch in Venetien die Zentralregierungen in die herkömmli­ chen oligarchischen Machtformen und in die gesellschaftliche Organisation eingriffen, war weniger die Nation selbst als vielmehr der Adel der Haupt­ gegenstand dieser Reformen. Erzwungen zunächst in milderer Form durch das Haus Habsburg, dann durch Napoleon, nach 1814 bis zur italienischen Einigung wieder durch die Habsburger, konzentrierten sich diese Reformen im wesentlichen darauf, die Verfassungsmacht des örtlichen, oligarchischen Patriziertums abzutragen. Hingegen stellte sich in keiner Weise das Problem 367 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

der Entfeudalisierung, da die Grundherrschaft als Rechtseinrichtung kraft einer mehr als hundertjährigen Geschichte in diesen beiden Regionen nicht sehr verbreitet war. Die Reformpolitik der Habsburger (zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts) sowie Napoleons (1800—1815) dehnte die Kompetenzen der zentralen Staatsgewalt in Entscheidungsbereiche hinein, die zuvor der autonomen Verwaltung der Stände, vom Adel kontrolliert, zustanden. D iese hatten ähnliche Funktionen wie die ständischen Vertretungen Mitteleuropas, wenn sie auch unter andersartigen Kriterien ausgeübt wurden. Ihren Höhepunkt erreichte die Reformpolitik in den ersten fünfzehn Jahren des 19. Jahrhun­ derts, als die alten Verfassungsformen des ständischen Repräsentativsystems gemeinsam mit dem Adel - auf rechtlicher Ebene - abgeschafft wurden. Obwohl sich verschiedene Adelige an der Ausweitung der modernen zen­ tralisierten Verwaltung beteiligten, durchlebte die Aristokratie beider Regionen die napoleonische Epoche einzig mit dem Gedanken an den Sturz Bonapartes und in der Hoffnung auf eine Rückkehr zum verfassungsrechtli­ chen Gleichgewicht des Ancien Régime. Diese Wünsche schienen endlich im Jahre 1814 in Erfüllung zu gehen, als die beiden Regionen dem österreichi­ schen Kaiserhaus zugesprochen wurden. Der norditalienische Adel betrachtete die aufgezwungene Erneuerungs­ politik seitens des französischen Kaisers in folgenden Funkten als besonders schädlich für den eigenen Stand: (1) die Aufhebung der Standesunterschiede und der ständischen Privilegien; (2) die Abschaffung der ständischen Reprä­ sentativverfassung; (3) die Auflösung des alten »milden« Steuersystems; (4) die massive Verstärkung der staatlichen Machtapparate. Gegen den Großteil der Zivilreformen hingegen wurde kaum Einspruch erhoben. D as galt z. B. für die Aufhebung der Lehen - ihre Bedeutung war bereits zuvor minimal gewesen, den Feudalherren hatten sie eher Spesen als Ehre einge­ bracht - und für das individualistische Eigentumsrecht, ebenso für die Abschaffung der Handelsbeschränkungen. In diesen Punkten waren sich der nachrevolutionäre Staat und die Aristokratie Norditaliens völlig einig. D as kann angesichts der sozial-ökonomischen Lage dieses Adels nicht verwun­ dern. Bereits um 1700 hatte er, vor allem jener der Lombardei, unverkenn­ bare kapitalistische Neigungen gezeigt, die er in seinen landwirtschaftlichen Betrieben auch in die Praxis umsetzte; bemerkenswert ist, daß diese Betriebe schon damals rein auf der Grundlage des Privateigentums geführt wurden. Auf wirtschaftlichem Gebiet befand sich die örtliche Aristokratie, der die Feudalherrschaft fremd war, also bereits auf dem Wege in die Moderne. Geprägt wurde die Wirtschaftsstruktur vor allem noch von der Landwirt­ schaft und vom Handel. Anderen Neuerungen der nachrevolutionären Ära, wie der bürokrati­ schen Rationalisierung, die auch die Machtordnung veränderte und die rechtliche Egalisierung der Gesellschaft vorantrieb, stand der Adel hingegen äußerst feindselig gegenüber. Für diese Reformbereiche engagierte sich in 368 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

erster Linie jenes bürokratische Bürgertum, das sich als aufgeklärt betrach­ tete und vielfach unter dem Einfluß jakobinisch-demokratischer Ideologien stand. Sic kamen vor allem in den ersten fünfzehn Jahren des 19. Jahrhun­ derts auf und wurden im napoleonischen Königreich Italien (1808-14) von einem autonomen örtlichen Stand verbreitet, dessen Weltanschauung starke Ähnlichkeit mit der des deutschen Beamtenliberalismus aufwies. Die aristokratische Elite, die von der Zweckmäßigkeit der kapitalistischen Formen und der entsprechenden individuellen Rechtsnormen überzeugt war, blieb in der ersten Hälfte des Jahrhunderts sozial und wirtschaftlich vorherrschend. D as drückte sich in einer Art Verschmelzung dieses Libera­ lismus »von unten« (d. h. eines Liberalismus außerhalb des Staatsapparats) mit gesellschaftlicher Ungleichheit aus. D er politische und staatliche Bereich dagegen schien das Monopol eines Beamtenbürgertums demokra­ tisch-aufgeklärten Charakters geworden zu sein. Dies kann man als unvoll­ ständige Verschmelzung eines Liberalismus von oben und einer sozialrecht­ lichen Planierung auslegen. Es handelte sich also um zwei Formen des Liberalismus, die sich auch nach dem Sturz Bonapartes unter veränderten Kräfteverhältnissen noch ziemlich lange gegenüberstanden. Während sich aber der Liberalismus »von unten« im Vormärz - in noch stärkerem Ausmaß während des Neoabsolutismus (1848-1859) - immer weiter ausdehnte und als Paradigma einer bürgerli­ chen Gesellschaftsorganisation galt, verlor der vom Staat ausgehende Libe­ ralismus, in seinen Verwaltungsnormen erstarrt, jeglichen Schwung und die Fähigkeit, jene Zustimmung wieder zu erlangen, deren er sich während seiner »heroischen« Zeit unter Napoleon erfreuen konnte. Er identifizierte sich zunehmend mit einer überregionalen Planierungspolitik, die in der Region als Unterdrückung, als autoritäres Regierungssystem und Antilibe­ ralismus schlechthin wahrgenommen wurde. Zu Beginn des Vormärz übte die Aristokratie der beiden Regionen ­ nunmehr zum lombardo-venetianischen Königreich vereint und Teil der habsburgischen Monarchie - starken Druck aus, um die Wiedereinführung einer ständischen Verfassung und den Abbau der Zentralverwaltung bis auf einen als ideal erachteten Minimalstand zu erreichen. Außerdem kämpfte der Adel natürlich für eine formelle Wiederherstellung seiner früheren sub­ stantiellen und ehrenamtlichen Privilegien. D iese Vorstellungen hoben dar­ auf ab, den örtlichen Adel-er stellte nur 1% der Bevölkerung, war aber der reichste und hinsichtlich seiner Ziele der geschlossenste Stand - zum nahezu alleinigen Vertreter einer regionalen Öffentlichkeit mit vorrevolutionärer Prägung werden zu lassen. D er Plan war jedoch zum Scheitern verurteilt. Der Adel wurde zwar rechtlich wieder ins Leben gerufen, ohne daß er jedoch mit jenen Privilegien ausgestattet worden wäre, die für den gleichen Stand in den Erbprovinzen der Monarchie galten: Befreiung vom Militärdienst, eigener Gerichtsstand, steuerliche Vorteile. D ie Erneuerung des Adelsstan­ des brachte selbstverständlich auch nicht die Feudalherrschaft mit sich, die, 369 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

wie erwähnt, nicht zu den örtlichen Traditionen zählte. Abgesehen vom Titel verblieb den Adeligen der Lombardei-Venetien nur das Vorrecht, die Hälfte der Abgeordneten bei den Kongregationen zu wählen - regionale, mit den Ständen in etwa vergleichbare Versammlungen, die rein zur ehren­ vollen Erinnerung an das alte Regime 1815 wiedereingeführt wurden. Diese Zugeständnisse seitens der Regierung waren schon aufgrund der Zusammensetzung der Abgeordneten und der ihnen zugewiesenen unbe­ deutenden Bereiche nichts anderes als ein blasser Abdruck der einstigen ständischen Verfassung, über welche der lombardische Adel bis zur napo­ leonischen Invasion verfugt hatte. D em bereits Anfang 1820 immer deutli­ cher sichtbaren Untergang der Stände gesellten sich weitere Faktoren eines tiefgreifenden staatlichen Wandels hinzu, der seinerseits zu einem unerwar­ teten Ergebnis beitrug: D er Adel zog sich stufenweise vom institutionellen und konstitutionellen Leben des Königreichs zurück. Zu den Gründen für diese Entwicklung gehörte vor allem die immer schärfer durchdringende Bürokratisierung des Staatsapparates. Sie veranlaßte den Adel der beiden Regionen, aus dem öffentlichen D ienst zu desertieren, in welchem er ohne­ hin vor allem ein Instrument zur Verbreitung antagonistischer Vorhaben sah, gegen das Interesse des Adelsstandes gerichtet und vor allem gegen die nostalgische Einstellung zu seiner Vergangenheit. Vielleicht mangelte es auch an der Vertrautheit einer Aristokratie städtisch-republikanischen Cha­ rakters - einer Art Aristokratie ohne Monarchen - mit Einrichtungen wie dem Heer, dem diplomatischen D ienst, dem Hof- Institutionen, die dem Adel der Erbprovinzen vertraut waren und ihm eine Vorrangposition ein­ räumten, die den direkten Zugang zur kaiserlichen Zentralgewalt eröffnete. Durch diese Entwicklung sah sich der Adel Anfang 1820 praktisch ohne eigenes Zutun nun auch politisch auf die Seite der bürgerlichen Gesellschaft katapuliert, in welcher er als wirtschaftlich vorherrschende Gruppe bereits seinen Platz innehatte, und zwar innerhalb eines vom Korporativismus des alten Regimes rechtlich ausgegliederten Gebietes und folglich auf die Maße liberal-individualistischer Prinzipien zugeschnitten und neuorganisiert. Als sich der Wunsch nach einem »starken« Adelsstand - ihn hegten vor allem jene, die bis Ende 1700 die Möglichkeit gehabt hatten, in dieser Form zu leben - sich verflüchtigte und als gleichzeitig eine Beteiligung von innen her an der Machtpolitik des Staatsapparates, der sich immer mehr als extra­ regional entpuppte, ausgeschlossen schien, öffneten sich für die um 1790 geborene junge Generation des Adels neue Möglichkeiten, auf öffentlicher Ebene zu wirken: das Vereinswesen und in geringerem Ausmaß die politi­ schen Verschwörungen. Für letztere begannen sich Operationsmodelle abzuzeichnen, die sich auf die Erfahrungen aus der französischen Revolution stützten, wobei die Adeligen, welche an den Verschwörungen teilnahmen, ausdrücklich jegliche demokratische Einflüsse zurückwiesen. Was jedoch das Vereinswesen betraf, so setzte sich in beinahe ansteckender Weise das bürgerlich-liberale Modell der englischen Aristokratie durch, mit welcher 370 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

der örtliche Adel, vor allem jener der Lombardei, im übrigen intensive Kontakte unterhielt. Man folgte dem Vorbild einer Elite, die sich nicht ausschließlich auf den Blutadel beschränkte, sondern fähig war, sich in die neue bürgerliche Gesellschaft hinein zu öffnen, deren Repräsentanten an sich heranzuziehen und ihrerseits beispielhafte Initiativen zu entfalten, die dank dem großzügigen Einsatz ihrer Privatmittel möglich waren. Die ersten bedeutenden Beispiele dieser Tendenz nahmen in der Lombar­ dei Anfang 1820 in den Initiativen einer Gruppe Intellektueller Gestalt an, die sich mit der Zeitschrift »Il Conciliatore« (D er Versöhner) identifizierte. D ie Reformpläne dieser Gruppe, auch Bürger gehörten ihr an, aber geleitet wurde sie von Adeligen, betrafen verschiedene Städte der Lombardei. D aß sie ein privates, unentgeltliches Schulsystem mit bürgerlichen Erziehungs­ methoden, nach dem Vorbild von Bell und Lancaster ausgearbeitet, aufbau­ ten, charakterisiert die Ziele und Motive dieser Reformbewegung treffend. Weitere Pläne zielten darauf, in der Region Lombardei-Venetien durch Privatinitiative Neuerungen moderner Technik einzuführen, die in den Augen der gebildeten Aristokratie den fortschrittlichen liberalen Geist des Jahrhunderts verkörperten: Dampfschiffahrt und Gasbeleuchtung. Die Tätigkeit des Adelsliberalismus um den »Conciliatore« beschränkte sich aber nicht nur auf solche Bereiche bürgerlicher Tätigkeit. Als es 1821 im nahen Piemont zu einem Aufstand kam, mit dem eine Verfassung erzwun­ gen werden sollte, versuchte man in der Lombardei-Venetien einen ähnli­ chen Aufruhr auszulösen: D ie Österreicher sollten aus dem Königreich vertrieben und eine konstitutionelle norditalienische Monarchie, Lombar­ dei-Venetien und Piemont umfassend, errichtet werden. Aber die Ver­ schwörung wurde aufgedeckt, und die Verhaftung der Anstifter führte auch zum vorläufigen Scheitern der erwähnten Zivilreformen. Stendhal, in seiner bürgerlichen Herkunft und demokratischen Orientie­ rung so gänzlich unterschieden von den Liberalen Lombardei-Venetiens, hinterließ ein bissiges Abbild der Gruppe des »Conciliatore« und ihrer Initiativen: »Les nobles qui n'ont pas pu se faire employer par le gouverne­ ment ou accrocher quelque place de la Cour (. . .) se sont fait liberaux«.1 Damit wollte er den Elite-Charakter dieses neuen Liberalismus der jungen Aristokraten Mailands treffen. Tatsache ist jedenfalls, daß der Adel, der in seinem gesellschaftlichen Engagement die Zeichen seiner Geburt keines­ wegs abstreifte, neue Erfahrungen machte, die sich dann auch auf Gebieten auswirkten, die bürgerlichen Kräfte ebenfalls zugänglich waren. Bezeich­ nend für diese Entwicklung zu mehr sozialer Offenheit hin ist, daß Graf Federico Confalonieri, Haupt der Gruppe des »Conciliatore«, kurz vor seiner Verhaftung das Adelskasino - ein Club, der ausschließlich dem Bluta­ del vorbehalten war - reformieren wollte, um es auch den Exponenten der Kultur, Freiberuflern und der Geldaristokratie zu öffnen. D iese Vorschläge wurden zwar vom Kasino nicht angenommen, aber der Adel und das höhere Bürgertum vereinten sich in den folgenden Jahrzehnten in pragmatischer 371 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Hinsicht, was sich besonders in den Vereinen auf exemplarischer Weise zeigte. Die jungen Aristokraten lehnten auch nach dem Scheitern des Aufstandes von 1821 keinesfalls die politische Verschwörung als eine Form politischen Handelns ab und waren des öfteren sogar in den Reihen Mazzinis aktiv tätig. Eine in sozialer Hinsicht gemäßigte Auslegung der republikanischen Ideen Giuseppe Mazzinis war mit der städtisch geprägten Tradition der Aristokra­ tie durchaus vereinbar. Vor allem aber spielte der Adel im legalen bürgerli­ chen Vereinswesen eine führende Rolle. Karl Mittermaier beschrieb wäh­ rend seines Italienaufenthaltes im Jahre 1840 mit Erstaunen die intensive Klubtätigkeit in der Region Lombardei-Venetien, deren ausgeprägter städti­ scher Charakter diese Form der Kommunikation gewiß begünstigte. Beson­ ders beeindruckt war Mittermaier, wie sehr dabei die Blutaristokratie domi­ nierte, die ohne sonderliches Trauma auf ihre Titel und Ehrenstellungen zu verzichten und sich problemlos in die Rolle eine Elitebürgertums zu finden schien.2 D as Vereinswesen, vor allem soweit es die Erziehung der breiten Masse, die Verbreitung des gedruckten Wortes und die Gründung kultu­ reller, insbesondere wissenschaftlicher und technischer Institutionen bezweckte, brachte alle Voraussetzungen mit, um die reichen und kultivier­ ten, jedoch nicht-adeligen Stände für die Strategie des Adelsliberalismus zu gewinnen. D as gemeinsame Ziel hieß, gestützt auf die Hegemonie einer sozial-konservativen Elite eine Alternative gegen die Politik der Regierung zu schaffen. D ie Politik eines »starken« Adels, konzentriert auf die staatlich­ politische Ebene (Verfassung), hätte es der Aristokratie nicht erlaubt, bür­ gerliche Kräfte um sich zu sammeln. D ie nachständische Politik, die im Vereinswesen ihren gesellschaftlichen Angelpunkt besaß und die »bürgerli­ che Gesellschaft« formen wollte, ermöglichte hingegen eine Reformstrate­ gie, die geeignet war, die Überlegenheit des Adels als Kern der Reformelite im wesentlichen aufrechtzuerhalten. In den Klubs und Vereinen, die vor allem während der Regierungszeit Ferdinands I. (1835—1848) auf dem gesamten Territorium entstanden, begann sich eine Verschmelzung der Städtearistokratie mit dem gebildeten Bürgertum abzuzeichnen. Gemeinsam wirkten sie an der »Verbesserung des Sozialstaates«, wie es Karl Mittermaier formuliert hat.3 Besonders ausge­ prägt war diese gemeinsame Tätigkeit auf dem Gebiet der Philanthropie, der Wohltätigkeit, der Kultur, Wissenschaft und Technik. D er Adel führte dabei seine althergebrachten Gepflogenheiten der Wohltätigkeit und des Paterna­ Iismus gegenüber den untergeordneten Klassen weiter und gab außerdem, etwas poesieloser, das nötige Kapital zur Realisierung dieser Pläne. D as kulturell gebildete und ökonomisch progressive Bürgertum hingegen war von dem Wunsch beseelt, die Wirtschaftsstruktur des Landes den techni­ schen und wissenschaftlichen Neuerungen anzupassen, die den Entwick­ lungsprozeß der modernen, europäischen Gesellschaft vorantrieben. D iese Förderung von Wissenschaft und Technik zielte jedoch nicht auf Industriali372 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

sierung. D iese wurde ganz im Gegenteil in beiden Regionen als unvereinbar angesehen mit einem agrarwirtschaftlich ausgerichteten sozial-ökonomi­ schen Entwicklungsmodell, das die befürchtete Entstehung eines organi­ sierten Proletariats von vornherein ausschließen sollte. Es war kein Zufall, daß die Zeitschriften, die für den wirtschaftlichen Kurs des lombardisch-venezianischen Vereinswesens repräsentativ waren, Freihandelsprinzipien vertraten. D iese Orientierung hatte drei bedeutsame Ergebnisse: eine weitere Annäherung der örtlichen aristokratisch-bürgerli­ chen Wirtschaftselite an die Ideologien des liberalen Englands; die grundle­ gende Bestätigung des sozial-ökonomischen Leitbildes, das auf dem gesam­ ten Territorium vorherrschte; die Ablehnung des Prohibitionssystems, auf dem die Wirtschaftspolitik der österreichischen Regierung fußte. Noch bevor die lombardisch-venezianische Elite, die ökonomisch in der Land­ wirtschaft, dem Handel und teilweise der Geldwirtschaft verwurzelt war, sich ein eigenes Konzept des politischen Liberalismus schuf, hatte sie bereits Freihandelsforderungen gestellt. Wirtschaftlich-soziale Aspekte standen im Vordergrund, erst später kamen spezifisch-politische hinzu. Dies hing sicherlich auch mit der bestehenden Zensur zusammen. Es muß jedoch betont werden, daß die Reden und Schriften der Repräsentanten des Adelsliberalismus auch dann, wenn sie sich in voller Freiheit ausdrücken konnten - und viele hatten die Möglichkeit, sich für längere Zeit in Frank­ reich, Belgien und England aufzuhalten -, kaum von starken Wertideologien geprägt waren. Sic bewegte in erster Linie der Wunsch, eine stärkere Unab­ hängigkeit von der Wiener Zentralregierung für jenen Regionalstaat zu erlangen, den ihre Väter vor dem napoleonischen Einfall, auf ihr »starkes« Standeswesen gestützt, regiert hatten. In diesem regionalen Rahmen hatte der Adel die Absicht, sich als herrschende politische Kraft wieder zu etablie­ ren, und zwar auf der Basis einer gemäßigten Konstitution, die über ein streng begrenztes Wahlrecht auch dem reichen Bürgertum Partizipations­ möglichkeiten bieten sollte. Vor 1848 hielt es keiner der liberalen Adeligen für vorteilhaft, an den bestehenden Verfassungsstrukturen, die ein Mittel­ ding zwischen der rein ständischen Verfassung und einer Zensusverfassung darstellten, formell etwas zu ändern. Sic wollten lediglich, daß den Vertre­ terversammlungen, die »unnütz« waren, solange sie nur eine beratende Rolle spielten, gesetzgebende Gewalt verliehen werde, um eine brauchbares Werkzeug in Händen zu haben, mit dem sie sich der Exekutivgewalt und deren erstickenden polizeilichen Tendenzen wirksam entgegenstellen konnten. Der Adelsliberalismus verfocht das Ideal eines »Self-Government«, das keine besondere ideologische Legitimierung nötig hatte, da es in der regio­ nalen Geschichte, vor allem der Lombardei, tief verankert war - eine Region, das muß nochmals betont werden, welcher der Feudalbegriff fremd war und deren Struktur erheblich dazu beitrug, die örtliche Aristokratie zu einer informellen Vereinbarung mit dem Bürgertum, das aus dem Handel373 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

und Grundbesitz kam, zu veranlassen. D iese Bereitschaft verstärkte sich noch während des Vormärz. Wie bedeutsam es dafür war, daß die restlichen juristischen Privilegien, über die der Blutadel von der Revolution verfügt hatte, nicht erneuert worden sind, wurde schon betont. D iese »Entprivile­ gierung« motivierte, sich außerhalb der öffentlichen Institutionen mit einem reichen Bürgertum zu vermischen, das seinerseits bereits Elemente der wirtschaftlichen und kulturellen Erneuerung, vermischt mit einer sozial­ konservativen Ideologie, aufgenommen hatte. Zu Beginn des Jahres 1848 zeichnete sich in der lombardisch-venezianischen Gesellschaft bereits ein gemischter Stand aus Adel und Notablen ab, der nach modernen Leitbildern in der Landwirtschaft, im Handel, im Finanzwesen und in der Kulturförde­ rung tätig war. Er hegte eine starke Abneigung gegen die bürokratische Zentralisierung, die er als weitzurückliegende Erbschaft des jakobinischen staatspolitischen Modells sah, das als autoritär und gleichmachend empfun­ den wurde. D ie Adeligen und Notablen der Lombardei-Venetiens waren weniger gegen die Herrschaft einer ausländischen Macht gerichtet, als gegen das bürokratische Übergewicht im modernen Staat, das sie unabhängig davon, wer sich von Mal zu Mal an der Regierung befand, als erdrückend empfanden. Sie wollten nun auch politisch die Kontrolle über ein Gebiet erhalten, das sie bereits wirtschaftlich beherrschten. D amit hofften sie zugleich, den gesellschaftlichen Wandel mit mehr Sicherheit von oben her leiten und so eventuelle demokratischen Entwicklungen verhindern zu können. Wie ablehnend die adelig-bürgerliche Elite einer D emokratisierung gegenüberstand, bestätigte sich in den Ereignissen von 1848, vor allem in Mailand. Während der beiden letzten Jahre vor der Revolution hatte sie ihre Bemühungen um die unteren Klassen verstärkt, teils in der Befürchtung, daß die Regierung nach den Ereignissen von 1846 in Galizien auch in den italienischen Provinzen die Karte des »Volkssozialismus« ausspielen könnte und andererseits dem Beispiel der anderen italienischen Staaten folgend, wo nach der Berufung Pius' IX. auf den päpstlichen Stuhl eine massive Bewe­ gung zur Verfassungsreform entstand. D ie Adeligen der Lombardei unter­ hielten besonders durch die Person der Bürgermeisters von Mailand, Gabrio Casati, zwischen 1847 und dem Februar 1848 enge Beziehungen zum Adel in Piemont. D ieser unterstützte die Verfassungsreformen des Monarchen Carlo Alberto und engagierte sich aufjenen Gebieten des Vereinswesens, in die auch die Aristokratie der Lombardei-Venetien in der Vergangenheit einen Großteil ihrer Kräfte investiert hatte. Zwischen Dezember 1847 und Januar 1848 machten sich die Kongregatio­ nen des Königsreichs - ihnen kam die allgemeine Unsicherheit, die in der Zwischenzeit entstanden war, zugute - bei der Regierung lautstark durch verschiedene Eingaben bemerkbar, in welchen außer den herkömmlichen Anfragen ständischer Prägung - Reduzierung der Steuern, größere Autono­ mie für die italienischen Provinzen, Privilegien für den im öffentlichen 374 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Dienst tätigen Adel, Erweiterung der Vorrechte, welche die Kongregatio­ nen selbst innehatten - zum ersten Mal Forderungen erhoben wurden, die direkt unter dem Einfluß des veränderten »bürgerlichen« Klimas standen: Pressefreiheit bzw. Einschränkung der Zensur und Sicherung persönlicher Freiheit bzw. Einschränkung der Polizeigewalt. D ie Kongregationen, Schauplatz mißglückter Versuche, eine standesmäßig »starke« Aristokratie zu schaffen, öffneten sich auf diese Weise dem bürgerlichen Erneuerungs­ prozeß, der sich zuvor vor allem über das Vereinswesen vollzogen hatte. Zwei Seelen der Aristokratie standen sich so sinnbildlich vereint gegenüber, als sich nach 1814 die erste Gelegenheit bot, aus der D eckung ins Freie zu treten. Auf Grund dieser Initiativen leistete der Adelsliberalismus einen bedeu­ tenden Beitrag zu den Aufständen, die im März 1848 in Mailand und in Venedig ausbrachen; man kann jedoch nicht behaupten, daß es tatsächlich in seiner Absicht gelegen habe, diese auszulösen. D ie im Jänner eingereichten Anfragen betrafen grundsätzlich Forderungen nach einer verstärkten Auto­ nomie der beiden Regionen gegenüber den übrigen Provinzen der Monar­ chie. Die Aussicht auf eine Umwandlung der »unnützen« Verfassung in eine »nützliche« war dabei der Leitgedanke, wie auch die Hoffnung, die Selbst­ verwaltung und das private Vereinswesen ausweiten zu können. D ie Ereig­ nisse überstürzten sich dann im März 1848 durch den unerwarteten, die adelig-bürgerliche Elite schockierenden Eingriff des Stadtvolkes, das die Hauptrolle bei der Vertreibung der Österreicher spielte und wahrscheinlich weniger aus patriotischen Gründen als aufgrund der bereits seit etwa einem Jahr herrschenden Wirtschaftskrise auf die Barrikaden gestiegen war. Weder in Mailand noch in Venedig nahmen die Ereignisse des Jahres 1848 jedoch die dramatischen sozialen Ausmaße der Pariser 48cr-Rcvolution an. Es war gerade der Umstand, daß die Streitkräfte zum großen Teil aus Ausländern bestanden, der den revolutionären Ereignissen nach außen hin eine neutrale Färbung gab bzw. sie zunächst in sozialer Hinsicht »neutrali­ sierte«. D enn dieser Fremdkörper, der als staatliche Macht auftrat, war für die Aufständischen die Verkörperung des Hauptfeindes, den es zu bekämp­ fen galt. Sobald jedoch die Österreicher vertrieben waren, entflammte sofort zwischen den internen politischen Kräften der Kampf um die Macht. Dieser Machtkampf wurde bestimmt durch den Konflikt zwischen einer kleinen bürgerlichen Gruppe mit demokratisch-republikanischer Ideologie und der Front der gemäßigten Adelsliberalen, die in Mailand vom Bürger­ meister Casati angeführt wurden. D iesem gelang es, durch einen Hand­ streich den D emokraten Carlo Cattanco, der die strategische Leitung des Aufstandes übernommen hatte, zu stürzen und gemeinsam mit einer Gruppe von Adeligen und Notabeln sich der Regierung zu bemächtigen. Dann wandte sich Casati um militärische Hilfe an den piemonteser König Carlo Alberto. Er hegte damit sicherlich die Absicht, sich vor einer eventu­ ellen österreichischen Militäraktion zu schützen; zweifellos bezweckte er 375 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

außerdem mit diesem Schritt, Versuche der D emokraten, die Revolution weiterzutreiben, was angesichts der massiven Teilnahme der Bevölkerung an den militärischen Kämpfen erfolgversprechend zu sein schien, besser unter Kontrolle zu halten und wenn nötig zu ersticken. D ie demokratischen Tendenzen, welche sich während der ersten Hälfte der Revolution desJahres 1848 bemerkbar machten, wurden durch die Adelsliberalen Mailands in der Tat mit großer Entschlossenheit unterdrückt. In Venedig hingegen überdau­ erte die Stärke der demokratischen Bewegung noch mehrere Monate, mit Daniele Manin an der Spitze der provisorischen Regierung, welche die republikanische Erneuerung der Lagunenstadt proklamierte und eventuelle Einmischungen durch den König von Piemont heftig zurückwies. Von dem Einzelfall Venedig abgesehen, hielten 1848 in allen Provinzhauptstädten Venetiens - wie im übrigen auch in allen der Lombardei - die sozialen Kräfte, die sich von der Ideologie des gemäßigten Liberalismus repräsentiert fühl­ ten, die Zügel der lokalen Politik in ihren Händen, und zwar so lange, bis die österreichischen Truppen das Land neuerlich besetzten. Es darfjedoch nicht übersehen werden, daß diese sozialen Gruppierungen vor allem durch die neue, unvorhersehbare Lage, die aus dem Märzaufstand erwuchs, dazu gedrängt wurden, politisch einzugreifen und die anfänglichen Positionen neoständischer und regionalistischer Prägung in eine nationalpatriotische Richtung zu treiben. Adelige und Notable liberal-gemäßigter Einstellung standen vor einer vollendeten Tatsache: der Preisgabe ihres Landes durch seine Ord­ nungsschützer. Mit diesen einen Pakt zu schließen, hätten sie noch kurz vor dem Aufstand vorgezogen, um sich nicht später als Gegner gegenüberstehen zu müssen. D ie Tatsache, daß es den Adelsliberalen so rasch nach dem Ausbruch der Revolution gelang, die bürgerlich-demokratischen Gruppie­ rungen politisch zu entmachten, beweist klar, wie stark die nachständische Entwicklung, die sich in den beiden Regionen in den letzten dreißig Jahren vollzogen hatte, auch künftig durch das Fortbestehen einer neoaristokrati­ schen Vorherrschaft geprägt worden wäre. Vor 1848 drückte sich der Adelsliberalismus, wenn man von den Ereignis­ sen des Jahres 1821 absieht, vor allem durch wirtschaftlich-soziale Pro­ gramme aus. In den Revolutionsjahren erfuhr das Sozialprogramm, dann mehr durch die Macht der Ereignisse als durch eigene ideologische Wahl, eine bestimmte politische Wendung: D ie beiden Regionen schlossen sich 1849 dem konstitutionellen Königreich Piemont-Sardinien an, wo die Reformen von 1848 unter anderem jenes Zensusparlament schufen, welches die Elite der Lombardei-Venetien bereits seit mehr als zehn Jahren an Stelle ihrer »unnötigen« Verfassungsorgane setzen wollte. D er adelig-bürgerliche Liberalismus Lombardei-Venetiens schien 1849 also alles zu erreichen, was er zuvor vergeblich erhofft hatte. D och auch jetzt scheiterte er erneut, da Österreich wieder die Herrschaft über die Lombardei-Venetien errang und die lokale Aristokratie einer scharfen Bestrafung unterzog; es hielt den Adel, 376 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

nicht zu Unrecht, für den Hauptverantwortlichen der Revolution. D as Programm des Adelsliberalismus entwickelte sich jedoch in den folgenden zehn Jahren in Piemont weiter, wo sich viele der gemäßigten Liberalen im Asyl aufhielten, um den Repressalien Radetzkys zu entfliehen. D ort konnten sie am Parlamentsleben eines Königsreichs teilnehmen, das nachständisch geprägt war. Die italienische Geschichte nennt diese Periode das »Jahrzehnt der Vorbe­ reitung«. Man sollte aber nicht übersehen, daß sich der Adel der Lombardei­ Venetien noch in jenen Jahren mehr auf die Unabhängigkeit seiner Regionen als auf deren Anschluß an die restliche Halbinsel vorbereitete. Im übrigen wurde zwischen den lombardo-venezianischen liberalen Adligen und der piemontesischen Regierung der Zusammenschluß der Lombardei mit dem savoyischen Königreich (1859) vereinbart, bevor er sich auf den Schlachtfel­ dern konkretisierte; die Erstgenannten, die in Turin lebten, sahen in dieser Vereinigung vor allem ein wirksames Mittel, um die erhoffte Verwaltungsautonomie der gesamten Lombardei zu verwirklichen. Auch die Regierun­ gen des vereinten Italiens wurden sich bald der starken regionalen Neigungen der liberalen Elite der Lombardei-Venetiens bewußt, wenn man der Wahr­ heit Rechnung tragen will, daß es noch zu Ende des Jahrhunderts möglich war, das Verhältnis zwischen der italienischen Zentralregierung und der verzweigten, autonomen bürgerlichen Gesellschaft der Lombardei - sie mußte sich jetzt nicht mehr mit Wien, sondern mit Rom auseinandersetzen­ als Konflikt zwischen Crispi, dem Ministerpräsident Italiens, und dem »Staat Mailand« zu bezeichnen.

Anmerkungen 1 Henry Beyle (Stendhall), Voyages en Italic, Paris 1973, S. 246. 2 Carl Mittermaier, Delle condizioni d'Italia, Leipzig 1845, S. 220. 3 Ebd., S. 152. Weiterführende Literatur: M. Meriggi, Amministrazione e classi sociali nel Lombardo-Veneto (1814-1848), Bologna 1983; D ers., Il Regno Lombardo-Veneto, Torino 1987: Λ. Skcd, The Survival of the Habsburg Empire, London/New York 1979.

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HARTMUT ULLRICH

Der italienische Liberalismus von der Nationalstaatsgründung bis zum Ersten Weltkrieg Dem Andenken Alberto Aquarones gewidmet.

Vorbemerkungen: Ausgangslage und Rahmenbedingungen* Im Hinblick auf das Ziel eines europäischen Vergleichs und zur Erleichte­ rung des Verständnisses gerade der Spezifika des italienischen Liberalismus nach der Nationalstaatsgründung seien stichwortartig bestimmte Aus­ gangspositionen und Rahmenbedingungen, die uns von besonderem Gewicht erscheinen, ins Gedächtnis gerufen: 1. Italien erlebte bekanntlich - wie Deutschland - eine relativ späte Natio­ nalstaatsbildung, aber in einer für das Europa von 1861 bemerkenswert fortschrittlichen Verfassungsform, im Kontext jedoch allgemeiner wirt­ schaftlicher, sozialer und kultureller Rückständigkeit des Landes. 2. D as neue Italien durchlief in rascher Sequenz, ja unter teilweiser Gleichzeitigkeit die Phasen und Krisen des political development, d. h. Identi­ täts-, Legitimitäts- und Penetrationskrise waren noch nicht abgeschlossen, als die Herausforderungen der Partizipations- und - spätestens seit Ende der Achtziger Jahre - der D istributionskrise gebieterisch Antworten von den italienischen Liberalen zu verlangen begannen: D iese mußten in relativ kurzer Zeit und gleichzeitig das leisten, was andere nation- und statebuilders in früheren Perioden und nacheinander hatten leisten können. 3. Eine modernisierende liberale Elite hatte sich in den 1850er Jahren unter Cavours Führung des einzigen Staates der Halbinsel mit ungebroche­ ner dynastischer Tradition bemächtigt und diesen tiefgehend umgestaltet. Ausgehend von ihrem Werk im piemontesischen Kernstaat bauten sie nach 1861 den italienischen Staat auf und mit diesem das Instrument der Moderni­ sierung und »Verwestlichung« der Gesellschaft Italiens, wobei zunächst Frankreich, Großbritannien, Belgien und unter gewissen Aspekten die Schweiz, ab 1871 in hohem Maße auch Deutschland, Vorbild waren. 378

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In Leonard Binders1 Typologie der Beziehungen zwischen Modernisie­ rung und political development tritt in Westeuropa die Modernisierung vor­ wiegend als unabhängige Variable mit dem political development als der abhängigen Variable auf, während außerhalb Europas diese Relation gerade umgekehrt sei, was einer Priorität des political development gleichkommt; der Fall des liberalen Italien scheint durchaus eher der zweiten Kategorie anzuge­ hören (im Mittelmeerraum ist eine derartige Priorität des political develop­ ment gegenüber der Modernisierung keineswegs selten, man denke nur an den Kemalismus). 4. Weiterhin ist der Amalgamcharakter der liberalen nationbuilders in Ita­ lien hervorzuheben. 1861 war die zwar schon vielfach - insbesondere durch die Emigration süditalienischer Liberaler nach Piemont - nach 1848/49 eingeleitete Fusion der selbständigen, nach Herkunft und Programmatik sehr unterschiedlichen einzelstaatlichen liberalen Eliten zu einem italieni­ schen Liberalismus, oder auch enger gefaßt, zu einer gesamtitalienischen liberalen D estra, noch keineswegs abgeschlossen. Es ist auch hervorzuheben, daß das Ziel der Einigung Italiens in einem nationalen Einheitsstaat von den Liberalen erst sehr spät und von einer konkurrierenden politischen Kraft, nämlich der mazzinianischen Bewe­ gung, und unter dem Druck der Demokraten übernommen worden war. 5. D ie Liberalen hatten im Risorgimento bis zuletzt in hartem Wettkampf mit einer zweiten Nationalbewegung, der demokratisch-republikanischen, gestanden; aus dem D ualismus der beiden Nationalbewegungen waren die Liberalen als Sieger, die Demokraten/Republikaner in ihrer nationalen Ziel­ setzung als Sieger, was ihre politischen und gesellschaftlichen Ord­ nungsvorstellungen anging, aber als Besiegte hervorgegangen. Nach 1861 standen die Liberalen zwei Antisystem-Oppositionen gegenüber: einerseits der republikanischen (der gegenüber wenigstens ein Teil von ihnen jedoch weiterhin die Gemeinsamkeit in der nationalen Zielsetzung anerkannte), deren Bedeutung erst seit den 1890er Jahren durch die sozialistische Bewe­ gung relativiert werden sollte, und andererseits der klerikalen Opposition, die rasch alle anderen legitimistischen, an den gestürzten Anciens Régimes der Halbinsel festhaltenden Gruppierungen sowie partikularistische Ten­ denzen aufsog. 6. D iese Stellung der italienischen Liberalen in allen ihren Abstufungen zwischen zwei Antisystem-Oppositionen - auf der äußersten Linken und auf der äußersten Rechten -, sowie das durch die Ablehnung des neuen Staates durch das Papsttum und den politischen Katholizismus bedingte Fehlen einer eigenständigen staatsloyalen konservativen Partei erklären den Schwe­ bezustand, in dem sich der italienische Liberalismus zwischen 1861 und dem I. Weltkrieg befand, nämlich zwischen seiner Rolle als Partei(en) und jener eines Sammelbeckens der »staatstragenden« Kräfte. »D ie italienische [Eini­ gungs-]Bewegung«, erklärte 1865 einer der führenden gemäßigten Libera­ len, Marco Minghetti. 379 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

»war das Ergebnis des Bündnisses der Monarchie mit der Freiheit. Es hat zugleich das vorsichtigste und den Traditionen der Vergangenheit ergebenste konservative Ele­ ment mit den lebhaftesten Aspirationen der Demokratie versöhnt. Gewiß stellen sich dieser Bewegung jene entgegen, die die Einheit und die Freiheit ablehnen, stellen sich ihr jene entgegen, die die Monarchie negieren und aus der Revolution ein Ziel und nicht ein Mittel machen, es stellen sich ihr schließlich jene entgegen, die ihre Neigun­ gen auf das Rathaus konzentrieren [i.e.: die Partikularisten]. Aber außerhalb ihrer Reihen finden alle anderen ein weites Feld im Schatten der konstitutionellen Monar­ chie Viktor Emanuels«.2 Dieser Charakter des italienischen Liberalismus als Sammelbewegung der »staatstragenden« Kräfte findet übrigens einen beredten Ausdruck in der vielverwandten Selbstbezeichnung der liberalen Kandidaten als costituzio­ nali. Schließlich trug dieser Schwebezustand zwischen liberaler Partei - oder einer Pluralität liberaler Parteien - und Sammelbewegung der »staatstragen­ den« Kräfte zusammen mit der unter Punkt 2. angesprochenen Besonderheit des political development dazu bei, daß die italienischen Liberalen politische Positionen von einer in Europa ganz ungewöhnlichen Bandbreite ab­ deckten. Auf eine im europäischen Panorama hervorstechende Besonderheit der Situation der Liberalen in Italien ist hier noch hinzuweisen: Von der Natio­ nalstaatsgründung bis zum Ersten Weltkrieg stellten sie in ihren verschiede­ nen Tendenzen und Abstufungen ununterbrochen die Regierungen des Lan­ des (unter Heranziehung der Radikalen 1906 und deren dauerhaften Beteili­ gung seit 1910). Wichtiger noch, sie vermochten - insbesondere infolge des Selbstausschlusses der klerikalen Antisystem-Opposition von den Parla­ mentswahlen und, wenn auch erst in zweiter Linie, dank der Begrenzung des Wahlrechtes - über lange Jahrzehnte die parlamentarische Repräsenta­ tion, abgesehen von einer zunächst noch sehr schwachen äußeren Linken, zu kontrollieren. Noch 1895 verfügten sie über fast 90% der Sitze und bei der letzten Wahl (1909) vor der Einführung des fast allgemeinen Wahlrechts vermochten sie noch 75% aller Wahlkreise zu erobern. Nicht einmal die Einführung des fast allgemeinen Männerwahlrechtes 1912, sondern erst die durch den Ersten Weltkrieg herbeigeführten Umwälzungen sollten dieser Vorherrschaft ein Ende setzen.

I. Liberalismus, Staatsgründung, Modernisierung: die Destra Storica Die Destra storica, die Italien im wesentlichen bis 1876 regierte, kann nicht einfach als Verlängerung des Moderatismo des Vormärz und der Revolutions­ jahre 1848/49 betrachtet werden. Sie stellt vielmehr etwas substantiell Neues dar und dies in personaler Hinsicht, aber vor allem auch in Programm und politischem Wirken. Zuallererst ist dies auf die radikale Entprovinzialisie380 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

rung und Europäisierung durch Cavour, 3 der die Moderati eigentlich erst in den großen Strom des europäischen Liberalismus integrierte, zurückzufüh­ ren, sodann auf die darauf reagierenden Absonderungen der konservativen Elemente des Moderatismo, aber auch auf den Zustrom zahlreicher Elemente aus dem demokratischen Lager, die teils von Cavours Politik angezogen, teils von Mazzinis Fehlschlägen desillusioniert waren. Eine übergreifende Zielsetzung bewegte sie, und zwei zentrale unabän­ derliche Punkte sollten ihr Programm und das des gesamten italienischen Liberalismus bis zum Ersten Weltkrieg prägen: (1) D ie nationalstaatliche Einheit mit Rom als Hauptstadt, die den Kon­ flikt mit dem Papsttum unabhängig von Intentionen und der Haltung weiter Teile der Destra gegenüber der katholischen Religion endgültig unvermeid­ bar werden ließ! Nach anfänglicher Befürwortung eines regionalistischen Aufbaus fiel rasch, infolge der traumatischen Begegnung mit der rückstän­ digen Realität des Mezzogiorno, eine sich immer mehr verfestigende Ent­ scheidung zugunsten der Übernahme des französischen zentralistischen Modells. (2) D ie parlamentarische Monarchie. D ie Monarchie stellt ein starkes Element der Identität der italienischen Liberalen dar, das sich u. a. in der häufigen Selbstbezeichnung der Liberalen als Monarchici ausdrückte. D as Haus Savoyen, für die Piemontesen die angestammte Dynastie, war für alle italienischen Liberalen die einzige D ynastie gewesen, die sich nach dem Scheitern der Revolution 1848/49 für die Verfassung, gegen das österreichi­ sche Joch und den Ultramontanismus, zunehmend auch für Nation ent­ schieden hatte; für die Liberalen der anderen Teile Italiens war sie nach dem Scheitern der letzten Hoffnung auf Fortschritt und Reform immer mehr zum unentbehrlichen Bollwerk gegen die doppelte Gefahr von Reaktion und Revolution geworden. Bis noch in die 1890er Jahre war die liberale Führungsschicht von der Furcht beherrscht, ihr Einigungswerk könne unter dem doppelten D ruck zentrifugaler und subversiver Tendenzen von innen und diplomatischer Einwirkung von außen wieder zerfallen. Obgleich das Statuto Alhertino, das 1861 unverändert als Verfassung des neuen Königreichs übernommen wurde, dem Buchstaben und auch der ursprünglichen Inspiration nach die Verfassung einer konstitutionellen Monarchie war, bestand unter den Liberalen seit dem von Cavour vollzoge­ nen Durchbruch zur parlamentarischen Monarchie ein allgemeiner Konsen­ sus, demzufolge das Statuto - wie dies Cavour schon 1848 getan hatte - im Sinne der parlamentarischen Monarchie zu interpretieren sei und als flexible Verfassung nur eine Fortentwicklung im Sinne eines akzentuierten Liberalis­ mus und der D emokratie, nicht aber eine Rückentwicklung zulasse; diese Orientierung sollte erst unter völlig verwandelten Umständen in der Systemkrise der 1890er Jahre in Frage gestellt werden. Denn »die Geschichte der modernen Zivilisation« stellte sich ihnen - wie etwa 1867 der durchaus liberalkonservative Minister Broglio schrieb-als »eine Reihe von Anstren381 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

gungen« dar, »dem Wahlelement den gewünschten Anteil im Staatsorganis­ mus zu geben. «4 Die zentrale Stellung des Parlamentes war der Angelpunkt des verfassungspolitischen Credo der Liberalen, die sich für das Parlament bis hin zur Geschäftsordnung an Frankreich, Belgien und Großbritannien orientierten, im übrigen aber in steigendem Maße innerhalb der D estra die deutschen Lehren vom Rechtsstaat rezipierten. D ie Krone war wohl natio­ nales Integrationssymbol und Faktor der Konsolidierung, konnte aber mit einem im Vergleich zu Preußen ungleich geringeren Gewicht des Stammlan­ des im neuen Staate und auch infolge des Fehlens spektakulärer militärischer Erfolge nicht zu einem ernsthaften Gegenpol zum Parlament werden, solange die Liberalen selbst überzeugte Anhänger des Parlamentarismus blieben. Allerdings wurden ihr Prärogativen im Bereich der Außenbezie­ hungen und der Militärpolitik stillschweigend bis zum I. Weltkrieg einge­ räumt. 5 Wie die Verfassung, so wurde auch die Wahlgesetzgebung6des Königreichs Sardinien mit einem vornehmlich auf dem Zensus und erst in zweiter Linie auf Kapazität gegründeten Wahlrecht, das nur ca. 2% der Bevölkerung zukam, übernommen. D em oft erhobenen Vorwurf oligarchi­ scher Abschließung ist aber nicht nur das verfassungshistorische Gesamtbild Europas 1861, in dem die parlamentarische Monarchie Italien mit an der Spitze der konstitutionellen Bewegung marschiert, entgegenzuhalten, son­ dern auch die keineswegs überaus ungünstige Relation etwa zu den briti­ schen Verhältnissen vor der zweiten Wahlreform oder die durchaus auf gleicher Höhe liegenden Prozentzahlen im Königreich Belgien; schließlich ist zu bemerken, daß in absoluten Zahlen die Zensusanforderungen des italienischen Wahlrechtes unvergleichlich niedriger als in Belgien oder im Frankreich der Juli-Monarchie lagen und allein die relative Armut Italiens den Anteil der Wahlberechtigten an der Bevölkerung so niedrig hielt. Die übergreifende Zielsetzung der liberalen Führungsschichten war es, Ita­ liens Rückstand in einer dramatischen Anstrengung zu überwinden und es in seiner staatlichen und rechtlichen Ordnung wie in seiner wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung wieder einen gleichberechtigten Platz neben den großen Nationen Westeuropas und D eutschlands gewinnen zu lassen; dabei sollte die lange Reihe der Revolutionen, aus denen der neue Staat entstanden und die er nicht zu leugnen gewillt war, 1861 ihr Ende gefunden haben und der neue Staat ein außen- wie innenpolitisch respektables Mit­ glied des europäischen Konzertes werden. Es ist im Rahmen dieser höchst schematischen Skizze nicht möglich, das außen- wie das innenpolitische Werk der Destra auch nur in seinen zentralen Leistungen vorzustellen. D och sei im Hinblick auf die Fragestellung dieses Bandes wenigstens bemerkt, daß neben der weitgehenden Übernahme der Institution und Gesetze des Königreichs Sardiniens und der erwähnten Option der D estra für das zentralistische französische Verwaltungsmodell die Säkularisierung auf die gesamte Halbinsel ausgedehnt und schließlich mit der Lösung der Römischen Frage im Schatten von Sedan und mit der 382 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Legge delle guarantigie ein Kompromiß zwischen substantieller Trennung von Staat und Kirche, Berücksichtigung der Ängste des europäischen Katholi­ zismus und Bewahrung gewisser Abwehrwaffen aus der alten jurisdiktiona­ listischen Tradition gefunden wurde. Trotz dieser auch von Liberalen ande­ rer Länder bewunderten Leistung der Destra Storica sollte in internationaler Hinsicht die Achilles-Ferse der Römischen Frage für den neuen Staat jedoch bis zum Jahrhundertende nicht völlig beseitigt werden (auch der D reibund­ Beitritt ist in dieser Perspektive mit zu interpretieren); innenpolitisch machte die Einnahme Roms aber die radikale Ablehnung des liberalen Staates durch die Katholiken zu einer unumstößlichen Grundgegebenheit des neuen Staa­ tes, wobei im Unterschied zum Kulturkampf und zum Antagonismus zwi­ schen Klerikalismus und Antiklerikalismus in andern Ländern die klerikale Antisystem-Opposition in Italien Existenz und Legitimität des neuen Staa­ tes sowie seiner Hauptstadt bestritt. Genausowenig ist es möglich, auf den Aufbau einer modernen Verwal­ tung, die Vereinheitlichung und die Modernisierung des Rechtssystems, die Verschmelzung der Bürokratie, des Militärs, der Diplomatien etc. der Ein­ zelstaaten mit dem piemontesischen Kern hier einzugehen. Es sei aber betont, daß der neue Nationalstaat die freihändlerische Grundoption Cavours, die voll von der neuen Nationalökonomie Italiens (Ferrara, Scia­ loja, etc.) getragen war, ohne wesentliche Gegenstimmen übernahm: Erst in den 70er Jahren sollten sich derartige Gegenstimmen aus den Kreisen der erstarkenden ersten Industrien und zugleich als Echo des europäischen Mei­ nungsumschwungs artikulieren. War auch die klassisch freihändlerische Position bis Mitte der 1870er Jahre völlig unumstritten und bestand auch ein breiter Konsensus, Italiens Zukunft in der internationalen Arbeitsteilung im Bereich der Landwirtschaft zu suchen, so gab es doch für die Liberalen aller Schattierungen keinen Zweifel an der unabdingbaren Priorität eines zügigen Aufbaus der großen Infrastrukturen und einiger kulturstaatlicher Institutio­ nen (insbesondere Unterrichtswesen). Hier ging der italienische Staat in der Übernahme zentraler Aufgaben für die Modernisierung von Anfang an weit über die von den italienischen Liberalen selbst verehrten Vorbilder in West­ europa hinaus! Die in den 1870er Jahren heftig umstrittene Frage der Übernahme des Eisenbahnnetzes durch den Staat, eine Auseinandersetzung, die die Destra Storica schließlich 1876 die Macht kosten sollte, ließ verschiedene Grundop­ tionen in der Frage des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft, Staat und Wirtschaft im italienischen Liberalismus und innerhalb der Destra selbst besonders deutlich werden. Die staatliche Eisenbahn als eines der vornehm­ sten Instrumente eines Staates, der eine aktive Rolle in der Modernisierung und in der Dynamisierung der latenten wirtschaftlichen und sozialen Kräfte des Landes spielen sollte, befürworten leidenschaftlich in den Reihen des Destra Storica der Minister für Öffentliche Arbeiten, Silvio Spaventa, ein Hegelianer aus Neapel und Bruder des Philosophen Bertrando, und anderer-

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seits der Picmontcse Quintino Sella, berühmt fur seine Rettung des vom Staatsbankrott bedrohten Budgets mittels einer rigiden Spar- und Steuerpo­ litik, Bergbauingenieur mit einem in Großbritannien, Frankreich und Deutschland erworbenen wissenschaftlichen Horizont und Wollfabrikant, Verfechter eines neuen Italiens, das seine Mission in der Wissenschaft und seine Tugenden in dem rationalen Arbeitsethos der Industrie finden sollte. Dieser aktive Staat, der zwar gewiß den Rahmen einer liberalen Rechts- und Wirtschaftsordnung nicht durchbrechen durfte, kannte doch wenigstens fur den Hegelianer Spaventa α priori keine Grenzen seiner Aktivitäten im wirt­ schaftlichen Bereich; kein Feld war ihm prinzipiell verschlossen. »Hier gibt es keine Theorien, die halten; hier kann alles einbezogen werden. Heute übernimmt der Staat den Postdienst, morgen den des Telegraphen; der Staat hatte weder Post noch Telegraph vor einem Jahrhundert. Heute übernimmt der Staat die Eisenbahnen, morgen gibt er sie auf und übernimmt etwas anderes. Wir sind nicht hier, um Grenzen vorzuschreiben, in denen diese große menschliche Kraft einge­ schränkt werden kann. «7 Für Spaventa war der Staat gewiß zuerst Rechtsstaat (mit Mohl und Gneist hatte er sich eingehend beschäftigt). Allein seine Funktionen beschränkten sich nicht darauf und auf die Schutzfunktion (Verteidigung), sondern gingen in einer für den Manchester-Liberalen durchaus inakzeptablen Weise weit darüber hinaus. Er hatte in historischer Fortentwicklung des Prinzips der Gleichheit aller vor dem Gesetz eine zivilisatorische und damit Lenkungs­ funktion (direzione) zu übernehmen. D en »modernen Staat« definiert er als »den Staat, der sich nicht nur auf die Verteidigung der Gerechtigkeit und auf die Verteidigung der Gesellschaft beschränkt, sondern sie auf jenen Wegen leiten will, die zu höchsten Zielen der Menschen fuhren«. D iese Zivilisation definiert er als »D ie Einheit der Kultur und des Wohlstandes«, deren Ver­ breitung nicht auf eine kleine Schicht begrenzt bleiben dürfe.8 D iesem »Rechts-, Kultur- und Wohlfahrtsstaat« stellten Männer wie der Nationalö­ konom Ferrara, der 1877 aus prinzipiellen dogmatischen Gründen nicht einmal die allgemeine Schulpflicht zugestehen wollte, dezidiert Linkslibcralc, für die in jener programmatische Grundpositionen klärenden Kammer­ debatte im Juni 1876 unter dem Beifall der Sinistra der Abgeordnete La Porta unverzüglich prinzipiellen Widerspruch angemeldet und seine Rede mit den Worten »Ich werde dem ehrenwerten Spaventa nicht auf dem Wege durch die Übertreibungen der autokratischen sozialistischen Schule folgen«9 begonnen hatte, aber auch die toskanischen Freihändler, die oft auf dem äußersten Flügel der liberalen Destra standen, eine Konzeption entgegen, die der societä civile den Vorrang weiterhin einräumte und im seljgovertmtent nicht nur die rationalste Form der Organisation, sondern zugleich ein unentbehr­ liches Bollwerk der Freiheit sahen. 1861 rief Minghctti in der Kammer a u s und auch nach dem Triumph des französischen Verwaltungsmodells sollte er nicht von diesen Ideen abweichen -: D ie kommunale Selbstverwaltung sei 384 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

»die wahre Schutzgarantic des Verfassungsregimes«. »Wenn in einigen Teilen Euro­ pas die Verfassungsordnung keine gute Probe von sich gegeben« hätte, sei »dies vor allem der Tatsache zuzuschreiben, daß die Gemeinde und die Provinz nicht gut geordnet und vielleicht nicht frei genug waren; dadurch stürzt man, da das Indivi­ duum sich gegenüber der Übermacht des Staates isoliert findet, nicht nur in Rich­ tung auf die Demokratie, sondern in die Diktatur und den Despotismus.«10 Minghctti, der sich auch eingehend mit Tocqueville beschäftigt hatte, darf ungeachtet seiner pragmatischen Haltung in der Eisenbahnfrage als der vielleicht wichtigste Repräsentant, in der Generation nach Cavours Tod, dieser vor allem nord- und mittclitalienischen Interpretation des Liberalis­ mus gelten; die aktive Rolle des Staates mit einer zivilisatorischen Mission fand dagegen dezidierte Verfechter vor allem unter den süditalienischen Rcchtsliberalcn, in denen das Erbe der Reformpolitik im aufgeklärten Abso­ lutismus und dann der Parthenopeischen Republik noch lebendig war, die Säkularisation und Hegels Einfluß prägten11 und die andererseits die Gren­ zen der höchst bescheidenen Selbsterncucrungskräftc der süditalienischen Gesellschaft wenigstens in Umrissen kannten.

IL Paradoxe und Aporien des progressiven Liberalismus Am 18. März 1876 führten die Abgeordneten der Sinistra, der Centn sowie die meist toskanischen D issidenten der Destra, die die Eisenbahnpolitik des Ministers Spavcnta und überhaupt eine aktive Rolle des Staates in der Wirtschaft von der unbeirrt behaupteten Position eines klassischen Wirt­ schaftsliberalismus her ablehnten, mit einem prozeduralcn Votum den Sturz der letzten Regierung der Destra herbei und eröffneten so die l/^Jahrzchnte währende Periode der Regierungen der Sinistra Storica. Diese stellte 1876 ein bemerkenswert heterogenes Lager dar; ihr alter Kern selbst hatte einen tiefgreifenden Wandlungsprozcß erfahren: aus dem vom Garibaldi-Mythos faszinierten, immer noch zwischen Legalität und Revolution schwankenden partita d'azione war schrittweise die Sinistra Parlamentäre libcraldcmokratischcr Couleur geworden, an deren Rand die radikaldcmokratisch bis repu­ blikanischen Elemente nur noch eine bescheidene Rolle spielten und zugleich eine Brücke zur außerparlamentarischen republikanischen Antisystcm-Opposition darstellten; als systemloyale Opposition hatte sie sich in die liberale und parlamentarische Monarchie integrieren lassen. Begrenzter Frontwechsel zwischen D estra und Sinistra, vor allem aber parlamentarische Ausdiffercnzicrungen, besonders in Form der Bildung von »dritten Par­ teien« etc., hatten weiterhin zu Wandel und Annäherung zwischen D estra und Sinistra beigetragen, zudem wurde der Ruf nach einer Neugruppicrung der als überholt empfundenen alten Parteiungcn gemäß den großen issues der italienischen Politik immer nachhaltiger. Schließlich ist zu betonen, daß die 385 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Sinistra erfolgreich den Protest der süditalienischen Provinzen - die D esillu­ sionierung angesichts der unerfüllten Hoffnungen auf rasche Palingenese, antipiemontesisches Ressentiment etc. - sammelte, ohne dabei allzu genau nach der nicht selten bourbonischen oder klerikalen Vergangenheit oder der partikularistischen Grundinspiration der neuen Anhänger zu fragen; die Sinistra, der auf nationaler Ebene und im Norden hervorragende Patrioten des Risorgimento das Gepräge gaben, nahm in Teilen des Südens paradoxer­ weise bisweilen den Charakter eines buntscheckigen Sammelbeckens jegli­ cher Opposition der Peripherie, auch der rückständigsten, gegen das Zen­ trum an! Die Bedeutung dieser »parlamentarischen Revolution« von 1876 ist oft heruntergespielt worden,12 gleichsam als eines bloßen Wachwechsels inner­ halb ein- und derselben bürgerlichen Oligarchie ohne wirklich einschnei­ dende politische Veränderungen, allein von bedauerlichem kulturellen und moralischen Nivcauverlust der herrschenden Elite begleitet. D iesem baga­ tellisierend karikierenden Klischee sind mindestens drei grundlegende Aspekte entgegenzuhalten: 1. Mit der Ablösung der Destra durch die Sinistra erlebte das Verfassungssystem der parlamentarischen Monarchie seine erste große Bewährungs­ probe; die gestürzten Politiker der Destra selbst hoben diesen übergeordne­ ten Verfassungsgesichtspunkt einer funktionierenden Alternative innerhalb des Systems nach ihrem Sturz immer wieder hervor (wobei hier allerdings angemerkt sei, daß das Zweiparteienschema mit mehr oder weniger regel­ mäßigem Wechsel von Regierung und Opposition sich in der Verfassungs­ realität des Königreichs dann doch nicht durchsetzen sollte!). Zugleich bewies Cavours Erbe definitiv seine starke Assimilationsfähigkeit. 2. 1876 wurde mit der D estra Storica eine adlig-großbürgerliche Füh­ rungsschicht von zumeist europäischer Kultur, deren Sozialprofil Grundbe­ sitz, aber in bemerkenswertem, wenngleich im Lichte der bisherigen Aus­ führungen nicht mehr überraschendem Maße auch Staatsfunktionen (als Beamte, Richter oder Militärs) prägten,13 durch die überwiegend bürgerli­ che linksliberale Führungsschicht der Sinistra, in der rascher sozialer Auf­ stieg und bisweilen kleinbürgerliche Herkunft häufig waren und deren Horizont zweifelsohne in der Mehrzahl der Fälle ein bloßer italienischer, bisweilen provinzieller war, abgelöst. Zum Zeitpunkt der »parlamentari­ schen Revolution« betrug der Anteil der »Adligen und Besitzenden« unter den Parlamentariern der Destra fast 25%, unter denen der Sinistra nur 13,8%; der der Staatsbeamte und Richter war in den Reihen der D estra mit 11,3% mehr als doppelt so hoch wie in jenen der Sinistra, während umgekehrt 42,7% der Abgeordneten der Sinistra, aber nur 29% der der Destra »Anwälte und Notare« waren.14 Die Gestalten der beiden Ministerpräsidenten 1876 können als emblema­ tisch angesehen werden: einerseits Marco Minghetti aus einer hochbegüter­ ten Grundbesitzerfamilie des Kirchenstaates stammend, ein Mann, der mit 386 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

den Staatsmännern und Gelehrten seiner Zeit, von Gladstone bis Ranke, verkehrte und die Witwe eines sizilianischen Hocharistokraten ehelichte, die die Schwiegermutter des späteren Reichskanzlers Bülow werden sollte, Kenner der klassischen und zeitgenössischen Philosophie, der großen Juri­ sten und Ökonomen und selbst Autor international geschätzter Werke zum Verhältnis von Staat und Kirche, zum Problem der Parteien im liberalen Staat etc. - D agegen Agostino D epretis, dessen Biographie durch den raschen Aufstieg vom Verwalter und Großpächter der Ländereien einer der größten aristokratischen Familien der sogenannten neuen Provinzen Pie­ monts bestimmt war und so die Kräfteverschiebung vom adligen Groß­ grundbesitz zum bürgerlichen landwirtschaftlichen Besitz personifizierte, ein Mann, der von Anfang an in der konstitutionellen und liberaldemokrati­ schen Bewegung in Piemont aktiv gewesen war, aber ganz ein Mann der politischen Tat, dem bios theoretikos, zu dem ein Minghetti sich so gern zurückzog, ebenso abhold wie der Welt der europäischen Aristokratie fremd (vom Nationaldichter des neuen Italien Carducci wurde er in Gegen­ überstellung zu den Aristokraten und den Heroen des Risorgimento der »Vignattier di Stradella« genannt), schließlich ein Finanz- und Innenpoliti­ ker reinsten Wassers, dem jede Neigung zur Außenpolitik abzugehen schien! Auch erste grobe D aten der politischen Soziologie bestätigen diesen Ablö­ sungsprozeß: waren die Minister zur Zeit der D estra Storica noch zu 43% adliger Herkunft, so waren es zwischen 1876 und 1900 nur noch 16%. 15 3. D ie Sinistra - genauer gesagt: die dezidiert liberaldemokratischen und fortschrittlichen Komponenten der Sinistra, nämlich die Fraktion Cairoli­ Zanardelli und die Gruppe um Crispi - verfolgten eine umfassende D emo­ kratisierungsstrategie, deren vornehmstes Vehikel das Zweigespann aus der Einführung der allgemeinen Schulpflicht in Italien (Lex Coppino 1877)16 und der Wahlreform sein sollte und die sich darüber hinaus auch eine entschiedene Stärkung der Elemente des local self-government zum Ziel setzte. Die nach einem mehr als fünf Jahre währenden Ringen erst 1882 zustande gekommene Wahlreform, deren Bedeutung lange Zeit verkannt worden ist (so daß man noch jüngst nur eine »höchst schüchterne Stimmrechtserweite­ rung« sehen wollte), 17 verdreieinhalbfachte nicht nur die Wählerschaft des Königreichs und reduzierte damit den inzwischen eingetretenen Rückstand Italiens zu den anderen Verfassungsstaaten, soweit sie nicht wie die III. Re­ publik und das Bismarck-Reich das allgemeine Wahlrecht eingeführt hatten, wesentlich; vielmehr verschob sie dezidiert das Schwergewicht vom Zen­ suskriterium zu dem der Kapazität. Der Bruch mit den aus dem doktrinären Liberalismus der Restauration und der Juli-Monarchie stammenden Prämissen des 1848 eingeführten und überwiegend auf dem Zensus basierenden Systems war den Verfechtern der Reform, die, wie der Vater des neuen Wahlgesetzes, Zanardelli, ausrief, nicht mehr bereit waren, in den »Zensusschichten« die »einzigen Interpreten der Vernunft und der Gerechtigkeit, die einzigen Träger der Souveränität«18 387 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

zu sehen, und das Wahlrecht nicht als Funktion, sondern als Naturrecht des individuellen Staatsbürgers konzipierten, sehr wohl bewußt; nicht weniger klar war dies auch den Gegnern, die wie der rechtsliberale Codronchi beklagten, mit der Reformvorlage »ziele man darauf hin, alle Macht von den oberen Klassen auf die unteren Klassen zu übertragen«.19 Besonders schroff waren die Grundtendenzen in der Frage der politischen Partizipation in den ersten Sitzungen der neugewählten Wahlrechtskommis­ sion der Abgeordnetenkammer im Juni 1880 aufeinandergeprallt: für den Marquis di Rudinì »basier[te] das perfekte Wahlgesetz« eigentlich »aus­ schließlich auf dem Zensuskriterium«, und für Chimirri (ebenfalls von der Destra) »trug der Zensus dazu bei, die politischen Institutionen« des liberalen Königreichs »zu garantieren«: sie wären »von zu radikalen Neuerungen bedroht«. Angesichts der unwiderstehlichen D ynamik zugunsten einer Wahlrechtserweiterung geboten das Interesse der noch immer von den Anti­ System-Oppositionen bedrohten Institutionen und das »Gleichgewicht, das zwischen den verschiedenen Gesellschaftsklassen existieren muß«, konsoli­ dierend zu wirken; daher galt es - wie di Rudinì forderte -, »das Kapazitäts­ kriterium zu bremsen, das des Zensus auszudehnen und korrekt anzuwen­ den« und »das Stimmrecht allen Früchten der Arbeit zu gewähren«, also an die Zahlung direkter Steuern oder einer Miete etwa zu binden. Der dezidierteste Widerspruch kam von einem Wortführer der süditalicnischen Sinistra: Lacava, der das Zensuskriterium »als Erinnerung an das Feudalzeitalter von einer von demokratischen Prinzipien inspirierten Reform« überhaupt »aus­ schließen« wollte, auch im Einklang mit der allgemein europäischen Ent­ wicklungstendenz der »modernen D emokratie«, die sich »jeden Tag weiter von diesem feudalen Kriterium entfern[c]«. In jedem Falle »repräsentier[ej der moderne Staat nicht nur die Interessen des Besitzes, sondern auch jene nicht weniger heiligen der Arbeiterklassen«, daher hätten »alle gleiches Recht, bei der Wahl der Abgeordneten, die die Summe dieser allgemeinen Interessen repräsentieren, mitzuwirken«, woraus konkret die Forderung nach dem Wahlrecht für alle, die des Lesens und Schreibens mächtig waren (allerdings »nicht mechanisch gelernt, sondern mit einem gewissen Ver­ ständnis«), resultierte. D ie Kombination beider Kriterien, des Zensus und der Kapazität, ermöglichte - wenigstens provisorisch - einen weithin akzep­ tablen Kompromiß, der der Destra unter den obwaltenden Kräfteverhältnis­ sen die Rettung des Zensuskriteriums versprach, von den dezidiert Linksli­ beralen aber als Übergangslösung oder Preis für eine substantielle Erweite­ rung des Wahlrechtes akzeptiert werden konnte und der gemäßigten Orien­ tierung weiter Teile der Sinistra durchaus entsprach.20 Wenden wir uns den definitiven Bestimmungen des schließlich 1882 verabschiedeten Wahlreformgesetzes zu. Viel mehr als der allerdings beacht­ lichen Ausweitung des Kataloges der einzelnen Kategorien, denen nach dem Kapazitätskriterium das Wahlrecht zugesprochen wurde - eine Ausweitung gegenüber dem Wahlgesetz von 1848, die die verschiedenen bürgerlichen 388 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Schichten und bisweilen auch gezielt die staatsloyalen Elemente (z. Β. Wahl­ recht für die Träger der Medaille des Zuges der Tausend unter Garibaldi!) begünstigte -, kam einem einzigen, grundlegend neuen Kapazitätskriterium eine die ganze Reform prägende Bedeutung zu: nämlich der Kopplung des Wahlrechtes an die Alphabetisierung (mit dem Requisit der Absolvierung der ersten zwei Grundschulklassen sowie einer Übergangsregelung zugun­ sten aller anderen Alphabeten und Halbalphabeten). Mit der Koppelung des Wahlrechtes und damit der Voraussetzung für politische Partizipation an die Alphabetisierung war aber kraft der Einführung der allgemeinen Schul­ pflicht durch die oben erwähnte Lex Coppino ein potentielles allgemeines Männerwahlrecht eingeführt, ein Mechanismus für einen allmählichen, untraumatischen, auf einem allgemeinen zivilisatorischen Fortschritt beru­ henden und durch diesen gleichsam entschärften Übergang zum allgemei­ nen Wahlrecht in Bewegung gesetzt. Gegen das Argument vom »Sprung ins Ungewisse« und gegen jenes - vor allem auf die klerikale Gefahr bezogene zweite Argument, die Liberalen zeigten sich, indem sie »ihren Feinden selbst die Waffen gäben«, »den Trappisten ähnlich, die ihr Leben damit verbrin­ gen, sich das Grab mit eigenen Händen zu schaufeln«, hatte Zanardelli selbst schon 1878 den Gradualismus dieser Reform betont und eine Verdoppelung oder Verdreifachung der damaligen Wählerschaft in Aussicht gestellt: »Aber wenn sie [die Zahl der Wähler] gegenwärtig so begrenzt sein wird, wird doch jedes Jahr die obligatorische Gemeindeschule ihre Früchte tragen und aus dem Schulzyklus Myriaden von jungen Leuten entlassen dergestalt, daß sie geradewegs zum allgemeinen Wahlrecht führen wird, aber sie wird dahin mit einer schrittweisen und fortschreitenden Erweiterung führen, die jeden Sprung - sei er ins Licht oder ins Dunkel - und jede Gefahr ausschließt«. Bezeichnenderweise betonte er darüberhinaus, daß »in der Zwischenzeit« »zahlreiche, aber intelligente und patriotische neue Staatsbürgerkategorien« »zur Teilnahme an dem Votum berufen« würden, »darunter die 23 000 Lehrer der Elementarschulen, etwa 30000 und mehr Bürger, die Unteroffi­ ziere im Heer waren«. 21 Im Lichte der sozialen und kulturellen Verhältnisse der Halbinsel bedeutete aber die Koppelung des Wahlrechtes an die Schulbil­ dung bzw. die Fähigkeit des Lesens und Schreibens eine eindeutige Bevorzu­ gung des städtischen Elementes - einschließlich gerade auch der städtischen Unterschichten - zuungunsten des ländlichen Elementes. D ies war beiden Seiten, Verfechtern wie Kritikern der Reform, klar. Minghetti klagte, der Gesetzentwurf beabsichtige nicht, »das Stimmrecht nach Gerechtigkeit und Billigkeit zu gewähren«, er verfolge vielmehr das »Ziel, bestimmte Alters­ gruppen, bestimmte Klassen, bestimmte Orte zu begünstigen und ihnen ein ungebührliches Übergewicht gegenüber anderen Altersgruppen, anderen Klassen, anderen Orten zu verschaffen«,22 und ein anderer Redner beschwor das Schreckbild einer Herrschaft der von den Linksliberalen kraft der Lex Coppino mit dem Stimmzettel bewaffneten roten Arbeiter der Städte über 389 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

die schwer arbeitende und hohe Steuern zahlende Landbevölkerung: wolle man wirklich »gegen sie die städtischen Volksmassen bewaffnen, die mit einem kurzen flüchtigen Unterricht das Recht erworben haben, in den Taschen der anderen zu wühlen, um dort Steuern, die sie nicht oder nur in minimalem Umfange zahlen, einzusammeln?«23 Für die Liberalkonservati­ ven hatte die Stärkung des ländlichen Elements zunehmend entscheidende Bedeutung gewonnen, war doch - wie der Berichterstatter im Senat Lam­ pertico schrieb - ein verbreiteter Kleinbesitz das beste Bollwerk des Groß­ grundbesitzes und gab es doch kein »wahrhafteres Gegengewicht, keinen festeren D amm gegen den Kommunismus als jenes zähe Gefühl, mit dem der kleine Landbesitzer die Frucht seines eigenen Schweißes verteidigt«.24 Es galt, D ämme zu bauen, gegen die oft beschworene »D emagogie«, die gefürchteten Radikalen: Wer-in den Worten des berühmten Juristen Padel­ letti - »die Kraft und die Hoffnung der italienischen Revolution ausschließ­ lich auf den gebildeten Klassen, das heißt den Mittelklassen, ruhen«25 sah, war im allgemeinen politischen Klima gezwungen, unter ungünstigsten Bedingungen harte Rückzugsgefechte zu führen, hatte doch schon 1867 ein höchstoffizielles D okument des durchaus gemäßigten rechtsliberalen Mini­ sters Broglio einen unaufhaltsamen Prozeß schrittweiser Annäherung ­ »durch opportune Konzessionen und aufeinander folgende Erweiterungen« - der »politischen Schule des begrenzten Wahlrechtes« an »die juristische Schule des allgemeinen Wahlrechtes« konstatiert: »D er Wahlzensus wurde fast überall gesenkt, und weitere direkte Kapazitätsbeweise wurden zugelas­ sen, dergestalt, daß in dem Maße, in dem die Bildung sich verbreitet und der Wohlstand zunimmt, das Kapazitätswahlrecht schließlich mit dem allgemei­ nen Wahlrecht eines werden wird«. 26 Die Ablehnung des allgemeinen Wahl­ rechtes a priori als »mit der guten Ordnung der öffentlichen Freiheiten unvereinbar«27 fand immer weniger Zustimmung, Wahlrechtsbcschrän­ kungen mußten zunehmend pragmatisch gerechtfertigt werden; denn - wie der Mehrheitsbericht des mit der Wahlreform befaßten Kammerausschusses erklärte - »nichts ist auf der prinzipiellen Ebene gerechter als das allgemeine Wahlrecht«.28 Gegen die Strategie der Sinistra bot ein substantielles Festhalten an der zensitären Logik des Wahlgesetzes von 1848 auch unter partieller Modifika­ tion, wie dies vor und nach 1876 vielfach zur Debatte gestanden hatte, keine wirksame D efensive. Umso zäher aber kämpfte die Destra zwischen 1880 und 1882, im Ausschuß und im Plenum der Kammer, dann im Senat, wo sie ungleich starker war, um die politische Stärkung des ländlichen Elements. insbesondere durch die Gewährung des Stimmrechtes an den bäuerlichen Kleinbesitz durch radikale Senkung des Zensus, als Gegengewicht gegen die Wahlrechtserweiterung zugunsten der städtischen Unterschichten mittels der Koppelung an die Alphabetisierung. Wenn Sella bereits im Juni 1880 erklärt hatte, »die Basis der Kapazität zu erweitern, ohne andererseits den Zensus zu verringern«, sei »fanatisch parteiisch [settario] und gefährlich«, so 390 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

hatte spiegelbildlich - also unter umgekehrter politischer Präferenz - Zanar­ delli damals klargestellt, er ziehe als »Minimalgrenze der Kapazität die [Absolvierung des] obligatorischen Unterrichts vor«, würde jedoch bei substantieller Senkung des Zensus nicht zögern, die Gewährung des Wahl­ rechtes »an alle, die lesen und schreiben können«,29 zu verfechten. Aus dem zähen Ringen, in dem parteistrategische Motive den Kampf zwischen Ver­ teidigern eines möglichst elitären Wahlrechts und Verfechtern der Demokra­ tisierung in einen Wettlauf mit dem Ziel maximaler Einbeziehung der jeweils eigenen potentiellen Wählerklientel zu verwandeln schienen (»D iese Senkung des Zensus kann der konservativen Partei nützen, die der Kapazität hingegen nützt der liberalen Partei«,30 hatte der die Auswirkungen aller möglichen Reformmodelle sehr genau kalkulierende Zanardelli ganz offen gesagt), war schließlich die dezidierte Sinistra als substantieller Sieger her­ vorgegangen: D ie Zensuswählerschaft stieg zwar kraft der von der Destra durchgesetzten Halbierung des Zensus von einer reichlichen halben Million auf gut 700000, doch die Zahl der Kapazitätswähler schwoll infolge der Senkung des erforderlichen Schulnivcaus auf die 2. Elementarklasse, der Ausdehnung des Wahlrechtes auf Absolventen der Regimentsschulen sowie auf die sonstigen des Lesens und Schreibens Mächtigen von der auserwähl­ ten Schar von ca. 113 000 Notabeln im Jahre 1878 auf ein Heer von l,3Mill. im Jahre 1882 an, dessen Gesicht kaum mehr jene »gebildeten Mittelklas­ sen«, 31 sondern vielmehr die städtischen Unterschichten prägten und das binnen einem Jahre noch um fast eine weitere halbe Million anwachsen sollte.32 Nach der Niederlage im Kampf um die Erschließung des ländlichen Potentials durch drastisches Senken des Zensus gewann eine letzte, vielleicht verzweifelte Alternative an Interesse: Eine Bremswirkung schien parado­ xerweise - aber nur scheinbar paradoxerweise, wenn man an die Erfahrun­ gen des zweiten Kaiserreiches und an Bismarcks Kalkül denkt - nur ein kühnes Überflügeln der linksliberalen Position, nämlich die Gewährung des allgemeinen Männerwahlrechtes im Vertrauen auf die noch intakte soziale Kontrolle seitens der Großgrundbesitzer und einen als natürlich angesehe­ nen Konservatismus der kleinen Landwirte und Pächter zu bieten. D arin trafen sich manche Abgeordnete der Destra mit dem jungen Sonnino,33 der aus prinzipiellen Erwägungen wie auch im Hinblick auf sein Ziel, einer geeinten liberalen Partei eine gleichzeitige progressive und konservative Funktion zuzuweisen, für diese Lösung eintrat, die nun auch dem ländlichen Italien gestatten sollte, seine sozialen und wirtschaftlichen Probleme poli­ tisch zu artikulieren. Gerade jene noch weitgehend intakt erscheinende soziale Kontrolle des Großgrundbesitzes über seine Pächter, Bauern und Landarbeiter, die die Gewährung des Stimmrechtes an die Analphabeten für so viele Liberalkon­ servative attraktiv machten, mußte bei den dezidierten Liberaldemokraten innerhalb der Sinistra Vorbehalte und Mißtrauen wecken. D er politisch prägende Gegensatz war der zwischen jenen in der D estra überwiegenden 391 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Kräften, die vor allem infolge Gewährung des Wahlrechts an städtische Kleinbürger, Handwerker und Arbeiter ein schlagartiges Anwachsen des Radikalismus befürchteten, und jenen, die unter Zanardellis Führung - die Orientierung der Sinistra bestimmend - fest entschlossen waren, weder mit der radikalen Zensussenkung ihren liberalkonservativen Rivalen das große ländliche Stimmreservoir zugänglich zu machen, noch mit der Gewährung des Stimmrechtes an die Analphabeten, gar durch die sofortige Einführung des allgemeinen Wahlrechts, der zugleich als antinational geltenden und dem Prinzip der Freiheit zutiefst feindlich gegenüber stehenden klerikalen Bewe­ gung die für den noch prekären liberalen Staat lebensgefährliche Waffe einer Wählermobilisierung der ländlichen Unterschichten durch den Klerus in die Hand zu spielen. Eine elastische Strategie der Systemverteidigung, die vor allem gegen die immer noch als die hauptsächliche Bedrohung empfundene klerikale Anti­ System-Opposition gerichtet, zugleich aber auch dararuf bedacht war, die liberale Ordnung durch rechtzeitige Partizipationserweiterung zu konsoli­ dieren (denn - so in bezeichneter Analogie der Schöpfer des ersten großen Sozialgesetzgebungskomplexes des liberalen Italien, D omenico Berti ­ »wenn Louis Philippe rechtzeitig der Reform zugestimmt hätte, hätte er nicht seinen Thron verloren«,34) eine je nach den einzelnen Gruppierungen der Sinistra wechselnde Dosierung von Reformimpetus und D emokratisie­ rungsbestreben bei realistischem Gradualismus und nicht ohne kräftigen parteipolitischen Opportunitätssinn, sodann die grundsätzliche Bejahung des allgemeinen Wahlrechtes, der gegenüber der nur als temporär konzi­ pierte Ausschluß der Analphabeten, die ja durch das Instrument der obliga­ torischen Schulbildung heranzubilden waren, letzelich nur durch die prag­ matische Erwägung, derzufolge die Unfähigkeit zu lesen und zu schreiben einen freien und verantwortlichen Gebrauch des Stimmrechtes unmöglich mache, gerechtfertigt war und dabei zugleich eine staatspolitisch wie im Parteiinteresse beruhigende langfristige Perspektive eines langsam gleiten­ den Überganges verbürgte, und schließlich ein tiefverwurzelter Zivilisa­ tions - und Bildungsoptimismus fügten sich so nahtlos zu einer in sich geschlossenen Position zusammen. Sie hatte sich insgesamt 1882 durchge­ setzt.35 Die Wahlreform von 1882 führte in der Tat und in einem der bisherigen Forschung wohl kaum bewußten Umfange zugunsten städtischer Unter­ schichten - wenigstens im Norden und in Mittelitalien - zu einer tiefgreifen­ den Verwandlung der Wählerschaft, die noch durch die Ablösung des Ein­ Mann-Wahlkreissystems durch das Listensystem verstärkt wurde. Aller­ dings ist hervorzuheben, daß die von Zanardelli und seinen Freunden avi­ sierte gradualistische D ynamik des Zwiegespanns Wahlrecht/allgemeine Schulpflicht in recht begrenztem Umfange Realität wurde: D ie Zunahme der Wählerschaft von 1882 bis 1892 von 6,9% auf 9,4% war zu einem nicht geringen Teil einer sehr laxen Praxis in der Registrierung der Wähler zuzu392 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

schreiben, die 1895 von Crispi mit antisozialistischer Zielsetzung wieder rückgängig gemacht wurde. Erst 1904 überschritt der Prozentsatz der Wahl­ berechtigten wieder das von der Wahlreform 1882 realisierte Niveau; 1910—11 nahm das Parlament das substantielle Versagen des Alphabetisie­ rungsprogramms, wie es durch die Lex Coppino hätte befördert werden sollen, zur Kenntnis und reformierte das Elementarschulwesen. Einer der großen Entwürfe permanenter schrittweiser Reform war infolge des Unge­ nügens des staatlichen Apparates, lokaler Gegenkräfte, unzureichender finanzieller Ressourcen und schließlich eines oft lauen Engagements Stück­ werk geblieben; eine große Chance der allmählichen Erweiterung der Basis des liberalen Staates und seiner Konsolidierung war vertan: Die Volksschule war nicht wie in der III. Republik zum Ausstrahlungszentrum der politi­ schen Kultur des neuen Regimes, der italienische Volksschullehrer nicht wie der instituteur zum Apostel der laizistischen liberaldemokratischen Kultur geworden! 1911 legte so das Reformministerium Giolitti, dem auch Radi­ kale angehörten und das die sozialistische Fraktion im Parlament unter­ stützte, einen neuen Entwurf eines Wahlreformgesetzes vor, der das Wahl­ recht auch auf die Analphabeten ausdehnte und ein fast allgemeines Männer­ wahlrecht vorsah, das nach anfänglichem verdecktem, aber zähem Wider­ stand 1912 Gesetz werden sollte. Diese Politik der dezidiert Linksliberalen beinhaltete auch - wie dies schon in der Wahlrechtsreformfrage sichtbar wurde - eine Politik der Integration der radikalen und republikanischen Elemente, die sich auf der parlamentari­ schen Ebene als Fraktion der Estrema sinistra 1877 konstituiert hatten, den Versuch also, sie durch für sich selbst sprechende Erfolge der Reform- und Demokratisierungspolitik zu assimilieren nach Zanardellis Motto prineipa­ tum et libertatew. Gerade gegen diese Politik wehrte sich aber die besiegte Destra. Nicht die Entwicklung seit 1876 mit einer Sisyphusanstrengung rückgängig zu machen, galt es, wohl aber den D emokratisierungsprozeß einzudämmen: 1882 stellte die Säulen des Herkules für sie dar. Wenn die dezidierte Reform- und D emokratisierungspolitik der Liberaldemokraten mit der Regierung Cairoli-Zanardelli 1878 ihren Höhepunkt erreicht hatte, so fand diese Eindämmungspolitik der besiegten D estra, die schon vorher eine gewisse Entsprechung in der retardierenden Haltung der gemäßigten Teile der Sinistra, insbesondere ihrer süditalienischen Komponente (Nico­ tera!), gefunden hatte, nunmehr verstärkten Zuspruch in den Reihen der gemäßigten Sinistra, einschließlich des Ministerpräsidenten D epretis selbst. Mehrere Strategien boten sich hier an: der konservative Gebrauch des allgemeinen Wahlrechts war in den damaligen parlamentarischen Verhält­ nissen, wie bereits gesehen, nicht durchzusetzen, aber eine institutionelle Eindämmung des Demokratisierungsprozesses durch eine Reduzierung des demokratisierenden und nivellierenden Einflusses, der in dem zentralistisch organisierten Königreich von dem infolge der Wahlrechtserweiterung radi­ kalen Tendenzen immer mehr ausgesetzten Parlament auf die Gesellschaft 393 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

ausgehen mußte, schien einem Theoretiker wie Marco Minghetti ein viel­ versprechender Ansatz. Gegen diese gefährlichen jakobinischen Mechanis­ men galt es, das self-government zu stärken, Besitz und Bildung an der Peripherie den Aufbau von Gegengewichten zu ermöglichen: D ies war die politische Intention, die sich aufs Engste mit der Rechtsstaatsthematik in seinem klassischen Werk über »die politischen Parteien und ihre Einmi­ schung in die Justiz und die Verwaltung«36 (1881), im Kontext einer übri­ gens verbreiteten Kritik an der nicht immer gerade skrupulösen Verwal­ tungspraxis der Sinistra, verband. Minghetti selbst sollte der Protagonist einer parlamentarischen Eindäm­ mungsstrategie werden: Gegen das unter dogmatischer Berufung auf Eng­ land propagierte, in Wirklichkeit eng mit dem Ziel der Assimilation der Estrema sinistra und einer allgemeinen Reformpolitik verbundene Zwei­ Parteien-, Rechts/Links-Schema, wie es Zanardelli, Crispi etc. verfolgten, führte er zusammen mit dem Ministerpräsidenten D epretis bereits in den Wahlen 1882 und dann definitiv 1883 eine breite Sammlung zur Bewahrung des status quo gegen die durch die Wahlrechtserweiterung - in den Augen so vieler bedrohlich - expandierenden Radikalen herbei, die (bald mit dem zunächst pejorativ gemeinten Terminus trasformismo bezeichnete) Ver­ schmelzung des Gros der Mehrheit mit dem Gros der rechtsliberalen Oppo­ sition; sie ließ als Oppositionen nur noch auf der Linken die Estrema sinistra und die dezidiert linksliberale Pentarchic, auf der Rechten einen kleinen Rest der alten D estra. Entgegen dem verbreiteten Klischee einer italienischen Tradition des Marais, eines letztlich entpolitisierenden Zentrismus von Cavour bis de Gasperi oder gar bis zum »historischen Kompromiß« (eine fast metahistorische Kategorie in manchen Interpretationen!) sei hier betont, daß es sich um eine juste-milieu-Koalition, die Bildung eines Lagers mit der klaren Zielsetzung einer Verteidigung des status quo, der Eindämmung wei­ terer D emokratisierungsbestrebungen sowie der Isolierung der Radikalen handelte. Zu einem Zeitpunkt, in dem sich bereits die D istributionskrise deutlich abzeichnete, sollten die dezidierten Linksliberalen und die Radika­ len an die Seite der republikanischen Anti-System-Opposition und der sich da und dort formierenden ersten Kerne der sozialistischen Bewegung gedrängt und damit ausgegrenzt werden, tendenziell sollten Regierungsla­ ger - abgesehen von gleichsam internen Umgruppierungen stark personen­ bezogenen Charakters - und staatstragendes Lager zusammenfallen gegen­ über den »roten« und »schwarzen« Systemgegnern. Letzteren gegenüber schwankten die Regierungen D epretis' und später Crispis und ihre Anhän­ ger zwischen einer politisch und philosophisch begründeten radikalen Abwehrhaltung und - allerdings fruchtlosen - Versuchen, das katholische Wählerpotential wenigstens teilweise dem Ziele konservativer Stabilisie­ rung dienstbar zu machen. Die »parlamentarische Revolution« von 1876, die wie angedeutet durch den Abfall der betont wirtschaftsliberal-freihändlerisch orientierten Toska394 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

ner von der Destra erst ermöglicht worden war, bezeichnete zunächst einen klaren Sieg klassisch liberaler Positionen und wohl auch der Verteidigung großer privater Interessen gegenüber allen Versuchen, wie sie eine Mehrheit der D estra Storica betrieben hatte, dem Staat eine besonders aktive Rolle in der Modernisierung des Landes zuzuweisen und einen sektoriell begrenzten Interventionismus zu betreiben. Hatte der gestürzte Minister für Öffentliche Arbeiten Spaventa auf entsprechende Vorwürfe stolz geantwortet: »Ja, ich bin ein Anbeter des Staates«,37 so erklärte hingegen sein Nachfolger Zanar­ delli, die neue Regierung der Sinistra setze ihren »einzigen Ehrgeiz« darin, »darauf hinzuwirken, daß die italienischen Staatsbürger sich weniger regiert fühlen können«;38 für ihn und die meisten seiner politischen Freunde war Interventionismus etwas zutiefst Konservatives oder schlimmer noch ein Charakteristikum des Caesarismus oder Bonapartismus. Aber dieser Triumph Manchesters in Montecitorio sollte sich bald als ephemer heraus­ stellen! Unter dem Druck allmählich erstarkender industrieller Gruppen, die sich nun auch innerhalb des Liberalismus, anders als zu Cavours Zeiten, Gehör zu verschaffen wußten, leitete die Regierung der Sinistra 1878 mit dem neuen Zolltarif eine sehr begrenzte Kurskorrektur mit dem Ziel der Verbesserung der Ausgangschancen für den Aufbau italienischer Industrien ein. D er eigentliche Durchbruch aber zum Protektionismus sollte erst 1889 mit dem neuen Tarif infolge einer Entente agrarischer und industrieller Interessen in einem nunmehr - abgesehen von Großbritannien, Belgien, den Niederlanden, der Schweiz - dezidiert schutzzöllnerischen Europa stattfin­ den.39 In der Theorie sollte es in Italien keinen protektionistischen Liberalis­ mus geben; wenn sich schon Mitte der 1870er Jahre die italienischen Natio­ nalökonomen in zwei Schulen, die eine klassisch-freihändlerisch, die andere, sogenannte Lombardo-Venetische Schule, die, mit Luigi Luzzatti als poli­ tisch und publizistisch einflußreichstem Vertreter, einer pragmatischen Anpassung an das neue rauhe protektionistische Klima, vor allem aber auch sozialpolitischen Forderungen wohlwollend gegenüberstand, gespalten hatte, so sollte doch weiterhin der italienische Liberalismus von wachsender Polansierung zwischen einer klassisch-freihändlerischen akademischen Nationalökonomie, die in Luigi Einaudi den Brückenschlag zum 20. Jahr­ hundert finden sollte, einerseits und einer protektionistischen Regierungs­ praxis andererseits, die pragmatisch als Retorsion vor allem, erst zweitran­ gig als Übergangsmaßnahme für die eigene Industrialisierung begründet war, gekennzeichnet bleiben. D abei haben liberale Regierungen in hohem Umfange Staatsausgaben, z. B. den Aufbau der Kriegsmarine, für den Auf­ bau einer nationalen Schwerindustrie eingesetzt. Zugleich war dieser Revi­ sionismus mit schlechtem Gewissen und ohne Theorie, wie man ihn unter Bezug auf die Studien von Are40 etwas überzeichnend charakterisieren könnte, oft genug auch die wenigstens deklamatorische Basis für den schrittweisen Aufbau einer sozialen Gesetzgebung und die Ansätze zu einer aktiven Sozialpolitik. D iese stand in engem Zusammenhang, denken wir 395 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

nur an das erste große sozialpolitische Reformpaket des Ministers Berti 1881 —84, mit der Wahlrechtserweiterung von 1882 und dem Wunsch, präv­ entiv das Anwachsen des Radikalismus und des am Horizont bereits erblick­ ten Sozialismus zu konterkarrieren. In Italien ist keine sozialliberale Partei oder Gruppierung entstanden; die Positionen italienischer Liberaler zu Sozialgesetzgebung und Sozialpolitik waren überaus unterschiedlich und reichten von der Bejahung im Rahmen einer liberalkonservativen Eindämmungspolitik, nicht ohne einen weiter fortbestehenden Einfluß vorkapitalistischer Werte und Gesellschaftsvorstel­ lungen, bis zu doktrinärer Ablehnung als Attentat auf die liberale Wirt­ schaftsordnung, übrigens in sehr unterschiedlichen Sektoren des italieni­ schen Parlaments, von pragmatischer und oft interessengebundener Ableh­ nung (beispielhaft die Polemik zwischen Luigi Luzzatti und dem Industriel­ len und Schutzzöllner Alessandro Rossi in den späten 1870er Jahren) bis zu einer prinzipiellen Bejahung als Bestandteil und sogar Instrument einer liberaldemokratischen Politik, die auf Emanzipation und zugleich Integra­ tion des 4. Standes zielte, dabei oft in der Wahl der Instrumente durchaus vorsichtiger war als die liberal-konservativen Befürworter der Sozialgesetz­ gebung.41 Wie Sellin herausgearbeitet hat, bedeutete das Gesetz von 1898 über die obligatorische Unfallversicherung den Übergang von dem Prinzip der Freiweilligkeit und der privaten und Genossenschaftsinitiative zu Akti­ vität des Staates und Versicherungszwang;42 und im neuen Jahrhundert sollten sich unter dem D ruck des übergeordneten Imperatives der System­ verteidigung und des »sozialen Friedens«, der »erfordert, schnell zu han­ deln«, 43 die Liberalen verschiedenster Schattierung zu immer weitergehen­ dem Umdenken und zur Neuorientierung in Richtung auf obligatorische staatliche Daseinsvorsorgeinstitutionen bereit finden. Am Ende der 1880er Jahre knüpfte Crispi mit seinem umfassenden Reformwerk mit dem Ziel weiterer Modernisierung und der Stärkung des Staatsapparates sowie - wie die Erweiterung des Kommunalwahlrechtes zeigt - zunächst auch weiterer Demokratisierung ausdrücklich an Prinzipien der Französischen Revolution an. 44

III. D ie Krise des italienischen Liberalismus Das kurzlebige erste Kabinett Giolitti, das mit einem konkreten, wenn auch bescheidenen Reformprogramm eine Reaktivierung der parlamentarischen Tradition der Sinistra hatte verbinden wollen, scheiterte 1893 in den Wirren des Bankenskandals, der ein grelles Licht auf das bisherige Unvermögen warf, das Währungs-, Finanz- und wirtschaftspolitische Instrumentarium des doch in Modernisierung und Industrialisierung so aktiven italienischen Staates rational und effizient neu zu ordnen. D as Kabinett stürzte aber auch 396 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

vor dem Hintergrund gleichzeitigen heftigen Aufflammens sozialen Prote­ stes (fasci siciliani, Unruhen in den Lunigiana etc.) mit teils sozialistischen, teils anarchistischen Obertönen. Nunmehr geriet das liberale Italien in eine tiefgreifende Systemkrise, die von 1893 bis 1900 dauern sollte und als crisi di fine secolo bekannt ist. Auswirkungen der letzten Phase der ganz Europa bedrückenden great depression schlugen voll auf Italien durch, das sich in einer Phase beschleunig­ ter Industrialisierung wenigstens im Norden und punktuell in zentralen Regionen befand, während der Zollkrieg mit Frankreich auf einigen export­ orientierten süditalienischen Provinzen schwer lastete. Unter derartigen Bedingungen erlebte das liberale Italien, in dem die politische Kultur der Risorgimento-Generation noch vorherrschte, eine akute doppelte Partizipa­ tions- und D istributionskrise bei noch anhaltender Legitimitätskrise. Leo XIII. hielt die alte kategorische Abwehrhaltung des Heiligen Stuhls gegen­ über dem liberalen italienischen Staat ungeschmälert aufrecht und entwik­ kelte zudem, anders als sein Vorgänger, eine als bedrohlich empfundene internationale Aktivität. D ie klerikale Bewegung erstarkte immer mehr und bewies auf allen Ebenen, von den Kommunalwahlen (an denen die Katholi­ ken im Gegensatz zu den Parlamentswahlen offiziell teilnahmen) bis zum Aufbau von vielfachen sozialen und wirtschaftlichen Organisationen eine die Liberalen beängstigende Vitalität der katholischen Subkultur, ihre Mobilisations- und Organisationsfähigkeit. Auf dem anderen Extrem ver­ folgten die Liberalen mit wachsender Furcht das Anwachsen nicht nur der Radikalen und der Republikaner, sondern auch und vor allem des Sozialis­ mus, der sich 1892 definitiv in der nunmehr von den Anarchisten getrennten Sozialistischen Partei organisierte und nicht nur in den Städten, sondern gerade auf dem flachen Land der Pocbene und des heutigen roten Gürtels Mittelitaliens sprunghaft expandierte. Ein großer Teil der alten liberalen politischen Führungsschicht - an der Spitze der betagte Ministerpräsident Crispi selbst - vermochte in dieser politischen Bewegung weder einen Ausdruck sozialer Mißstände, noch gar das Resultat eines epochalen wirt­ schaftlichen und sozialen Wandlungsprozesses, wie ihn die Industrialisie­ rung herbeiführte, zu begreifen, sondern sah mit zur Panik werdendem Schrecken hier anarchische Umtriebe, Verschwörungen der »Roten« und der »Schwarzen«, bei denen sie nicht nur Drahtzieher des Vatikans, sondern gar auch Emissäre Frankreichs vermuteten, letzthin den das Einigungswerk des Risorgimento und im weiteren Sinne die Zivilisation bedrohenden Ansturm der neuen Barbaren. D ie herrschende Mentalität war die der von den »Roten« und »Schwarzen« belagerten Festung! Mehrere sehr unterschiedliche Strategien wurden zur Bewältigung der weitgehend fehlinterpretierten Herausforderung der D oppelkrise der 90er Jahre entwickelt: abgesehen von bloßer Repression, unter Abbau des Verfas­ sungsstaates, wie sie bei Hof und bei Teilen des Militärs gewisse Sympathien fand, sind vor allem drei Strategien zu unterscheiden: 397 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

1. Institutionelle Strategien, die in verschiedener Weise die Rolle der Krone zu stärken suchten - entweder direkt oder mit einer Stärkung des ja auf Ernennung durch den König gegründeten Senats, der in einem halben Jahrhundert viel politisches Gewicht verloren hatte, oder durch die Rück­ entwicklung des parlamentarischen Regierungssystems in die ursprünglich vom Statuto 1848 vorgesehene konstitutionelle Monarchie, wie sie Sonnino 1897 verfocht mit einer Umprägung der bisherigen Figur des Ministerpräsi­ denten in einen starken Kanzler; Sonnino selbst betrachtete dies nicht als Reaktion, sondern mehr als eine Roßkur für den nach dem Urteil auch der Zeitgenossen degenerierten Parlamentarismus und suchte zugleich einer modern zu organisierenden liberalen Partei, die konservativ und reforme­ risch sein sollte, die beherrschende Stellung auch in Zukunft zu erhalten. 2. D emgegenüber hielten der rechtsliberale Ministerpräsident di Rudinì und sein Mentor, der junge Gaetano Mosca, an dem Rahmen des Parlamen­ tarismus fest, suchten aber durch ein eventuell um Wahlrechtsbeschränkun­ gen oder Pluralwahlrecht zu ergänzendes Selbstverwaltungsmodell (decen­ tramento conservatore) die gesellschaftlich destabilisicrenden Auswirkungen und den Demokratisierungsprozeß überhaupt aufzufangen. Gegen die zen­ tralistischen und in den Auswirkungen letztlich radikal-demokratischen und den Sozialismus fordernden Mechanismen des nach französischem Vorbild errichteten Staatsgebäudes des parlamentarischen Italien galt es ein künstli­ ches italienisches Pendant zur englischen Gentry zu schaffen. Gaetano Mosca schrieb 1896: »Die wirksamste und sicherste Abhilfe für die Übel des parlamentarismo würde in einer weitgehenden und organischen D ezentralisierung liegen, die nicht nur in der Verlagerung von Kompetenzen von der zentralen zur Provinzbürokratie und für eine Kammer des nationalen Parlaments zu den lokalen Wahlgremien bestehen sollte, sondern in der Übergabe großer Teile der Aufgaben, die heute von der Bürokratie und den Wahlkörperschaften wahrgenommen werden, an jene Klasse von Personen, die durch Bildung und Wohlstand bei höherer Kapazität, Unabhängigkeit, gesell­ schaftliches Ansehen besitzt, als die Massen.«45 3. Eine Kombination von Repression und ambitiöser Außenpolitik, vor allem koloniale Expansion, wie sie Crispi bis zu dem D esaster von Adua 1896 betrieb. Diesen verschiedenen Eindämmungs- und Reaktionspolitiken stellten sich aber nicht nur, wenn auch mit manchem Zögern, mit vielen Schwan­ kungen und taktischen Wendungen, die Fraktion Zanardellis, der an seinem eigenen liberaldemokratischen Programm der Sinistra festhielt, und Giolitti entgegen, der in den tumultarischen Bewegungen dieser Jahre die Sym­ ptome des Aufstiegs des 4. Standes, den er mit dem Aufstieg des 3. Standes ein Jahrhundert zuvor verglich, als Resultat der Industrialisierung erkannte und darauf mit Reformen und sozial orientierter Steuerpolitik antworten wollte; Protagonisten der Risorgimento-Generation wie der Kammerpräsi398 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

dent Farini wollten nicht das Erbe des Risorgimento der allgemeinen Angst opfern. Eine eigenständige Antwort bot die neue lombardische Destra, die unter der Führung eines der Protagonisten der dynamischen neuen Realität des sich rasch industrialisierenden Nordwesten, des Ingenieurs und Rektors des Mailänder Polytechnikums, Colombo, 46 und des Fahrradfabrikanten Pri­ netti (dessen Betrauung mit dem Außenministerium 1901 nicht nur in den konservativen Kanzleien der beiden Dreibund-Verbündeten Befremden und sarkastische Kommentare provozieren sollte)47 nicht nur mit der vom Adel und Großgrundbesitzertum geprägten alten rechtsliberalen consorteria - der alten, an den Ideen und Werten von vor 1876 hängenden D estra in der Lombardei - brechen wollte, sondern auch eine radikale Alternative zu Crispi verfocht: von der Ablehnung der ehrgeizigen Kolonial- und Militär­ politik über die Skepsis gegenüber dem D reibund bis zur Verfechtung des Freihandels und zur Kritik an der protektionistischen Wende von 1889 und am Handelskrieg mit Frankreich, zur Polemik gegen römische Bürokratie und übermäßigen Einfluß einer vorwiegend süditalienischen Advokatencli­ que als regierender Elite. Diese neue D estra lombarda artikulierte nicht nur den Protest der wirt­ schaftlich dynamischen Lombardei gegen das als inadäquat, ja geradezu als parasitär empfundene politische Zentrum in Rom samt seinem süditalieni­ schen Hinterland, sondern begriff sich als Partei der Modernisierung und Industrialisierung, die Italien insgesamt, ausgehend von dem nordwestli­ chen Industriedreieck, den Anschluß an die dynamische Gesellschaft Euro­ pas nicht nur in der Ausstattung mit einem zeitgemäßen Industrieapparat, sondern auch durch den Import einer ebenso modernen technisch-wissen­ schaftlichen Kultur und durch die Entwicklung politischer Programme und Organisationen, die den Realitäten der Industrialisierung angemessen sein sollte, garantieren wollte. Der Liberalkonservatismus mußte sich daher nach ihrer Ansicht radikal erneuern: Nicht mehr die Tradition, sondern die Frei­ setzung einer noch latenten Dynamik, die Anpassung und behutsame politi­ sche Bewältigung mit »wissenschaftlicher Methode« unter antirevolutionä­ rer Zielsetzung der Stabilisierung bei aller D ynamisierung sollte die Basis dieses neuen Konservativismus sein. »Der moderne Konservative ist nicht der Rückständige, der Codino, der laudator temporis acti [...], er ist vielmehr der wahre aufgeklärte Fortschrittler, der mit wissenschaftlicher Methodik die gesellschaftlichen Probleme studiert und die Gesell­ schaft ohne Erschütterungen durch die Evolutionen, die der dauernde Wandel der materiellen Bedingungen fordert, zu führen sucht; er stellt sich daher gegen die extremen Parteien: gegen die Rückständigen, die die Evolution aufhalten möchten, ja sogar rückwärtsgehen wollen, und gegen die Radikalen, die sie mit ›cmpirismo‹ und Gewalt beschleunigen möchten. «48

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Die kulturellen Inhalte suchten eine Gruppe um Prinettis Circolo popolare und die Zeitschrift L'Idea Liberale49 mit einem »wissenschaftlichen Liberalis­ mus« auf der Grundlage von Positivismus, Spencer und Sozialdarwinismus zu erarbeiten, was übrigens bei vielen Sympathisanten wegen des mehr oder weniger expliziten Bruches mit dem Katholizismus Proteste hervorrief. Eine Belebung des Liberalismus - vom Freihandel zur D ezentralisierung ­ sollte Ausgangspunkt einer solchen zugleich liberalen und konservativen Partei sein, die entschieden der »demokratischen, autoritären sozialistischen Partei in allen ihren Abstufungen« entgegentreten sollte.50 Für diese Gruppe bestand ein innerer Zusammenhang zwischen Zentralismus, Protektionis­ mus, D emokratie, die entweder jakobinisch oder bonapartistisch, aber auch stets autoritär sei, und Sozialismus. Schon 1890 hatte Colombo gegen Crispi gewandt ausgerufen: »Wir haben eine Regierung demokratischer Form, was so viel heißt wie auf der Basis von Autokratie, Bürokratie, Parlamentarismus und übertriebener Zentralisierung. Der Staat ist alles, das Individuum ist nichts«.51 Dieser industrialistisch-aristokratische Liberalismus (artistokratisch im Sinne nicht einer Geburts-, sondern einer Leistungsartistokratie), der gewisse Berührungspunkte auch mit Gaetano Moscas Ideen aufweist, stand dem Demokratisierungsprozeß mit Mißtrauen gegenüber. Die Ausdehnung der Partizipation schien ihm nicht als ein begrüßenswertes Ziel, auch kaum als eine zu bewältigende Notwendigkeit, sondern eher als eine angesichts des Druckes der Massen abzuwehrende Gefahr. In der Phase tiefer Zerrissenheit der italienischen Liberalen in wesentli­ chen Fragen - von der Rolle des Staates in der Wirtschaft bis zu ihrem Verhältnis zu der katholischen und der sozialistischen Bewegung, von der Kolonialpolitik bis zur Verfassungspolitik - scheiterte 1900 die dilettantische Reaktionspolitik des weitgehend von Sonnino inspirierten 2. Kabinetts Pel­ loux. D ies war aber keineswegs - wie oft behauptet - die Niederlage des statisch-agrarischen und bürokratischen Italien gegenüber dem modernen Italien der Industrialisierung, das seine Repräsentanten in der linksliberalen Koalition Giolittis und Zanardellis gehabt habe. Gegen derartige Korrelatio­ nen und Interpretationen der liberalen Wende zur Ära Giolitti als erfolgrei­ che Opposition einer modernen unternehmerischen Bourgeoisie des Nor­ dens, getragen auch von dem take off von 1896, spricht schon die Tatsache, daß sich gerade die einzige als industrialistisch zu bezeichnende Komponente des italienischen Liberalismus, eben die neue lombardische Destra, größten­ teils selbst in die Pelloux-Reaktion verstrikt hatte; außerdem war die soziale Basis der linksliberalen Gruppierung um Zanardelli und Giolitti höchst heterogen! Die »Reaktion des fin de siècle« wurde nicht von den Protagoni­ sten der Industrialisierung besiegt, sondern scheiterte, als sie direkt und zugleich unbeholfen die Rechte des Parlamentes selbst angriff!

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IV. D ie Erneuerung: die Ära Giolitti War die liberale Systemkrise der 1890er Jahre als eine durch die spezifischen Probleme und Belastungen der italienischen Nationalstaatsgründung noch verschärfte Manifestation der allgemeineren Krise des europäischen Libera­ lismus in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts anzusehen, mit den typischen Erscheinungen des Selbstzweifels und hilflosen Eklektizismus angesichts des wachsenden Auseinanderklaffens zwischen ererbten Gewiß­ heiten und klassischen theoretischen Modellen einerseits und einer sich rasch wandelnden, insgesamt aber doch immer bedrückenderen Realität anderer­ seits, mit jenen wiederkehrenden Reaktionen von Angst, Pessimismus und bloßer D efensive gegenüber dem perhorreszierten »Aufstieg der Massen«, der sich abzeichnenden Herrschaft der »Zahl« und den Herausforderungen der sozialen Folgeerscheinungen der Industrialisierung, mit dem Rückzug in die bloße Verteidigung des status quo mit immer weniger wirksamen Waffen, so sollte andererseits der italienische Liberalismus in der Ära Giolitti (1901 —1914)52 einen keineswegs zweitrangigen Platz im Panorama der Revitalisierung und inhaltlichen Erneuerung des europäischen Liberalismus zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg einnehmen. Giolittis sozial-liberale Reform- und Integrationspolitik weist Berührungs­ punkte insbesondere mit dem britischen new liberalism auf. Die Bildung des Kabinetts Zanardelli-Giolitti Anfang 19Ü1 sanktionierte definitiv die schon von der Übergangsregierung Saracco nach den für die Regierung Pelloux enttäuschend ausgegangenen Wahlen 1900 vollzogene Abwendung von jeglicher Reaktionspolitik. Der uneingeschränkt parlamentarische Charakter der italienischen Ver­ fassung und die zentrale Stellung des Parlamentes im politischen System waren auch fur jene Liberalen, die die reaktionären Versuche der 1890er Jahre in der einen oder anderen Weise mitgetragen hatten, und insbesondere auch für Sonnino, rasch wieder eine unumstrittene Grundlage der italieni­ schen Politik geworden. Restriktionen der Presse- und Versammlungsfrei­ heit etc. waren nicht mehr diskutabel, Koalitions- u. Streikrecht wurden durch die neue Regierung garantiert, die auch eine Politik der - nicht selten den streikenden Arbeitern gegenüber wohlwollenden - Neutralität der Prä­ fekten in den Arbeitskämpfen einleitete. In der Integrationspolitik Giolittis, der in dem Aufstieg des 4. Standes nicht nur einen unaufhaltsamen und epocheprägenden Prozeß, sondern auch einen die Entfaltung der Wirtschaftskräfte des Landes und seine Modernisie­ rung stimulierenden Faktor sah (hier zeichnete sich eine durch und durch untheoretische Übereinstimmung mit den underconsumptionists ab!), nahmen Sozialreform und Sozialgesetzgebung - auch wenn sie in seinen verschiede­ nen Regierungen durchaus nicht fehlten, allerdings stets den Charakter einer piece-meal-legislation bewahrten - einen vielleicht überraschend bescheidenen Raum ein: Giolitti gab dem freien Spiel der Kräfte des Arbeitsmarktes, das 401 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

sich im Zeichen der europaweiten Wirtschaftsbelebung zunächst zugunsten des 4. Standes auswirkte (dem er durch den Verwaltungsapparat nicht selten in dieser Richtung ein wenig nachhalf) eine klare Priorität, und dies keines­ wegs entgegen den Orientierungen der reformistischen Führung der Soziali­ stischen Parteien und der Gewerkschaften; weiterhin spielten eine hervorra­ gende Rolle die Politik der öffentlichen Arbeiten unter planmäßiger Förde­ rung der Genossenschaften sowie der von ihm modernisierte bürokratische Apparat der Zentralverwaltung. Auf der parlamentarischen Ebene konkretisierte sich seine Politik der Integration einmal in der Einbeziehung der Radikalen, die noch 1901 u. a. wegen des Militärhaushalts sich einer Regierungsbeteiligung verweigert hatten, in Parlamentsmehrheit und Regierungsverantwortung; die - 1904 endlich förmlich auf nationaler Ebene konstituierte - Radikale Partei ist von nun an als Teil des italienischen Liberalismus zu betrachten, bei allem Gewicht der alten Bindungen zu den anderen Parteien der Estrema sinistra. Zum anderen konkretisierte sie sich in einem engen Zusammenspiel mit dem reformistischen Sozialismus: in der Partei, den Genossenschaften, den Gewerkschaften, aber auch (im wilhelminischen D eutschland unvorstell­ bar!) in der Bürokratie. D ie Freimaurerei spielte eine komplexe Rolle für Giolittis Integrationspolitik,53 stellte aber keineswegs eine prinzipielle Oppositionskraft dar, wie oft angenommen wird. Sie trug im Gegenteil zur Integration der Parteien der äußersten Linken wesentlich bei. Ein italieni­ sches Pendant zu Millerands Eintritt in das Kabinett Waldeck-Rousseau sollte es in Italien allerdings nicht geben, wohl aber unterstützten die Sozia­ listen 1901 —1903 und 1910—1912 liberale Regierungen im Parlament. Die Hauptfrontenbildung der italienischen Innenpolitik läßt sich für die Jahre zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg auf fol­ gende Formel reduzieren: Giolittis Politik der sana democrazia stützte sich auf einen breiten Konsensus, unabhängig von tagespolitischen Konstellationen im Parlament, von Liberalen, Radikalen und Reformsozialisten; ihm wider­ sprachen grundsätzlich auf der extremen Linken die »Revolutionäre« sozia­ listischer Couleur innerhalb und außerhalb der Partei (Syndikalisten) und, wenigstens prinzipiell, die Republikaner, auf der Rechten die Liberalkonser­ vativen der Fraktion Sonnino und - differenzierter und weniger kompaktdie letzten Epigonen der Destra Storica, während auf der äußersten Rechten die Katholiken unter dem Eindruck der »sozialistischen Gefahr« und im Gegenzug zu einer gewissen Öffnung seitens Giolittis eine schillernde Poli­ tik zwischen der grundsätzlichen Opposition des Heiligen Stuhles, einem raffinierten do ut des mit der Regierung und zielstrebigem Vormarsch an der Peripherie betrieben. Und zu jener Zeit, als Lloyd George nach dem Triumph des people's budget das Projekt der National Insurance vorantrieb, präsentierte Giolitti bei der Bildung seines 4. Kabinettes mit Beteiligung der Radikalen, für das er die Sozialisten zwar nicht zur Übernahme von Mini­ sterämtern, wohl aber für die parlamentarische Unterstützung gewinnen 402 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

konnte, ein umfassendes Reformprogramm, das die sozialpolitische Kom­ ponente mit einer weiteren Etappe der Demokratisierung verband: Das auf ein zu errichtendes Staatsmonopol für Lebensversicherungen zu begrün­ dende nationale Renteninstitut sollte der Sozialversicherung zu einem ent­ scheidenden D urchbruch verhelfen, und gleichzeitig sollte das Wahlrecht auf die Analphabeten - von geringen Ausnahmen abgesehen - ausgedehnt werden, also ein fast allgemeines Männer-Wahlrecht eingeführt werden; der dritte Programmpunkt sah die Gewährung von Diäten für die Parlamenta­ rier vor. Es scheint mir nicht unangebracht, von einer italienischen Parallele zur Progressive Alliance zu sprechen: D ie Idee einer pragmatischen Konvergenz des demokratischen Liberalismus, des Radikalismus und eines realistisch gewordenen gradualistischen Reformsozialismus war in jenen Jahren in Italien in dem Giolitti stützenden Teil des politisch-parlamentarischen Spek­ trums weit verbreitet. D aß die Sozialisten - wie Giolitti 1911 sarkastisch sagte — »Marx in die Rumpelkammer« gestellt hatten, erleichterte vielen Liberalen eine derartige Öffnung. War man sich nicht in konkreten Reform­ vorschlägen weitgehend einig? D enn weite Teile des Liberalismus und das Gros der Radikalen Partei schrieben dem Staat ihrerseits eine neue, viel dynamischere Rolle zu und betonten zugleich die soziale neben der politi­ schen Komponente der Demokratie. Im Lichte der konkreten gesetzgeberi­ schen Tätigkeit, der engen Kooperation von Liberalen und Radikalen und Reformsozialisten etwa in der Ministerialbürokratie, aber nicht weniger der programmatischen Äußerungen und der wenn auch oft konfusen theoreti­ schen Prämissen, erscheint es uns also nicht illegitim, Parallelen mit der Progressive Alliance und dem New Liberalism in Großbritannien oder dem Radikalismus eines Leon Bourgeois (Solidarismus) oder etwa auch den Anstößen Friedrich Naumanns zu ziehen, zumal die italienischen Liberalen die Entwicklungen und Tendenzen in ihren Nachbarländern mit größter Aufmerksamkeit und beachtlicher Rezeptivität verfolgten. Giolitti betrieb aber bekanntlicherweise auch eine Integrationspolitik gegenüber der katholischen Opposition,54 auf deren Voraussetzungen und Etappen hier einzugehen nicht möglich ist. Entgegen einer verbreiteten Meinung erscheint uns dieser Aspekt allerdings nicht als gleichwertig in seiner Strategie, da er allein dem Aufstieg des 4. Standes einen epocheprä­ genden Charakter zuerkannte; aber eine Entspannung (conciliazione silen­ ziosa) mit komplexer taktischer Zielsetzung fand sehr wohl statt. D ie Katholiken bildeten ein strategisch wichtiges konservatives Widerlager für jede Politik der Integration der Sozialisten, auch wenn ihre Stimmen im ganzen wohl eher den liberal-konservativen Gegnern Giolittis zugute kom­ men sollten. Der italienische Liberalismus zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg läßt sich allerdings nicht auf Giolittis sana democrazia redu­ zieren, so beherrschend diese auch sein mochte. D ie wichtigste Alternative 403 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

bot wohl sein Rivale Sonnino mit seinem Programm einer zugleich reforme­ rischen und konservativen großen liberalen Sammlungspartei, die - um ein viel gebrauchtes zeitgenössisches Bild zu zitieren - zugleich Motor- und Bremsfunktion gewährleisten sollte und - eventuell unter Einbeziehung der Radikalen - die politische Führung weiterhin allein den Liberalen garantie­ ren wollte. Richtete sich Giolittis Blick vor allem auf das Industriedreieck unter abstützender wohlwollender Berücksichtigung der modernen Land­ wirtschaft, so galt Sonninos Reformismus vor allem dem Süden und dem flachen Land Mittelitaliens (welch letzterem er immer noch das von Harmo­ niedenken geprägte Modell der Mezzadria anempfohl). Gab es eine Alternative im italienischen Liberalismus, die stärker die Werte und die Forderungen des aufsteigenden industriellen Italien in den Vordergrund rückte, vielleicht gar den Liberalismus durch diese definierte? Die neue lombardische Rechte sollte sich nach 1900 nicht mehr von den Folgen ihrer Verstrickung in die Reaktionspolitik erholen und schrittweise Terrain an die Überreste der traditionellen D estra verlieren, wobei auch das Problem der angesichts des Vormarschs der Sozialisten und der Terraingewinne der Radikalen immer wichtigeren katholischen Wahlhilfe eine nicht geringe Rolle spielte.55 Daß dieses industrielle Italien sich auf den liberalen Bänken der Abgeordnetenkammer nicht genügend repräsentiert fühlte, sollte u. a. die Bildung einer, wenn auch recht glücklosen, »Industriepartei« zeigen. Die ethischen, kulturellen und sozialen Werte, das wirtschaftliche Pro­ gramm und die politischen Entwürfe eines neuen dynamischen Bürger­ tums, des sich industrialisierenden Italien fanden ihren artikulierten Aus­ druck nicht in einer Partei oder Parlamentsfraktion, sondern im Corriere della Sera, dessen neuer D irektor, Luigi Albertini, in seiner allein auf Lei­ stung gegründeten vita eines Aufsteigers, unter zugleich tiefem Respekt für das politische und kulturelle Erbe der D estra Storica Programm und Ethos einer neuen borghesia liberale Italiens verkörperte; am Corriere della Sera arbeitete damals der junge, aber bereits bekannte Nationalökonom Luigi Einaudi56 mit: Sein konfliktbejahender Liberalismus - auch mit der positi­ ven Wertung der Rolle etwa der Gewerkschaften und der Streiks - kontra­ stierte mit dem extremen Harmoniestreben etwa eines Luzatti, das sehr stark auch die reformerischen Tendenzen in weiten Teilen des italienischen Libera­ lismus beeinflußte, oder gar mit mehr oder weniger paternalistischen Ten­ denzen. An dieser Stelle sei wenigstens en passant auf die Oppositionsstel­ lung großer Teile auch der liberalen Intellektuellen gegen die Regierungspolitik in der Ära Giolitti hingewiesen und insbesondere auf den Kontrast zwischen der freihändlerischen akademischen Nationalökonomie und der Regierungspraxis des gemäßigten Protektionismus sowie des sozialpolitisch motivierten empirischen Interventionismus. Ihre Kandidatur als Partei der Modernisierung und Industrialisierung hatte Anfang des Jahrhunderts auch die Radikale Partei angemeldet in der 404 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Hoffnung, die dynamischen Teile der Liberalen ebenso wie die reformisti­ schen Sozialisten zu assimilieren. Diesem Anspruch versuchte der National­ ökonom Nitti einen theoretisch fundierten und artikulierten Inhalt zu verlei­ hen, allerdings mit sehr beschränktem Erfolg; politisch unmittelbar schlag­ kräftiger war ohne Zweifel, insbesondere angesichts der wachsenden Aggressivität der klerikalen Kräfte, der laizistische Abwehrreflex, der Libe­ rale, Radikale, Reformsozialisten und Republikaner immer wieder zusam­ menführte. Keiner dieser politischen Gegenentwürfe sollte sich aber so dynamisch erweisen wie die politica nazionale des Liberalkonservativen Salandra,57 der angesichts Giolittis Reformvorlagen und seiner Bündnispolitik, die auf die definitive Einbeziehung der Sozialisten zielte, 1911 die Grundlagen für ein breites Rechtskartell der Liberalkonservativen mit gezielter Nutzung des katholischen Wählerreservoirs und unter Einbeziehung der jungen nationa­ listischen Bewegung als Speerspitze der Opposition legte. D ie Wahlen von 1913, die auch mit dem neuen fast allgemeinen Männerwahlrecht den Libe­ ralen erneut die Parlamentsmehrheit gegeben hatten, schienen - mochte auch die neue Kammer zunächst besorgte alte Parlamentarier an D antes Inferno erinnern und ihnen gar als eine wahre »bolgia infernale« erscheinen58 - die optimistische Schlußfolgerung zu gestatten, daß Giolittis Regierungs­ kunst auch diese neue Herausforderung, die Welle der analphabetischen Massen, erfolgreich in die liberale Institution kanalisiert habe. Oder hatten Skeptiker wie der Meridionalist Fortunato recht mit der Befürchtung, der Vulkan drohe unter der Lavadecke mit einem baldigen Ausbuch? Er sah »das Neapel von 1799«, als die aufklärerische Reformelite der Parthenopeischen Republik von den fanatisierten unter dem Schlachtruf der Santa Fede mor­ denden und brandschatzenden bäuerlichen Scharen des Kardinals Ruffo massakriert wurde, wiedererstehen; »Klerikale, Sozialisten und Anarchi­ sten« bildeten in seiner pessimistischen D iagnose den wahren »sottosuolo dell' Italia elettorale«.59 1914 sollte der Politik des nunmehrigen Minister­ präsidenten Salandra, die auf die Wiedergewinnung uneingeschränkter Hegemonie der »liberalen Bourgeoisie« gegenüber den D emokraten und den Reformsozialisten gemäß der Strategie seiner politica nazionale hinarbei­ tete, ein ephemerer Erfolg beschieden sein: Es gelang ihm, das Giolitti­ System tödlich zu treffen, aber die Hegemonie der »borghesia liberale« zerbrach schon in den Zuckungen der Maggio radioso 1915, als die von D'Annunzio faszinierte piazza das Führungsmonopol der liberalen Regie­ rung in Frage stellte und das Parlament zu einem Schatten seinerselbst zu werden drohte; am Ende des Ersten Weltkrieges sollte von dem Traum einer Revanche der »borghesia liberale« nichts mehr übrig geblieben sein.

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V. D ie »nicht zustandegekommene Partei des Bürgertums«? Die vor einem reichlichen Jahrzehnt lebhaft unter Historikern und Soziolo­ gen geführte D iskussion über den italienischen Liberalismus als »die nicht zustandegekommene Partei des Bürgertums« (il mancato partito della bor­ ghesia60) bietet nicht nur einen guten Einstieg in die Organisationsge­ schichte - und das heißt im Falle des italienischen Liberalismus in die Problematik des Organisationsdefizites, ja des Unvermögens, sich in einer modernen Partei zu organisieren -, sondern sie lenkt unsere Aufmerksam­ keit zugleich auf die in diesem Ansatz ja implizierte enge Korrelation, wenn nicht Gleichsetzung von Liberalismus und Bürgertum. Die Charakterisierung des liberalen Italien als Schöpfung und Instrument einer sich im übrigen oligarchisch abschließenden Bourgeoisie, der die Italia popolare der breiten katholischen und sozialistischen Massen als die Ausge­ schlossenen entgegenstehe, ist seit 1945 ein gängiges Interpretationsraster, dessen Fortune keineswegs von seiner Legitimitätsfunktion für die politi­ schen Ansprüche der DC einerseits, der Kommunistischen Partei anderer­ seits unabhängig gewesen ist! Aber hatten nicht von der ersten Stunde an die Liberalen selbst immer wieder auf die Diskrepanz zwischen dem pays légal und dem pays réel hingewiesen? Dennoch erscheint uns dieses klischeehafte Interpretationsraster nicht nur modifikationsbedürftig, sondern grundsätz­ lich nicht haltbar. So wenig das Risorgimento heute noch als das zielbe­ wußte Werk einer die Schaffung eines nationalen Marktes anstrebenden Bourgeoisie betrachtet werden kann, so wenig trifft auch die Korrelation italienischer Liberalismus gleich Bürgertum, katholische und sozialistische Bewegung gleich Unterschichten oder breite Volksmassen zu. Gewiß vollzog sich in den 1860er und 1870er Jahren ein rascher Fusions­ prozeß der verschiedenen - ursprünglich disparaten - bürgerlichen Gesellschaftsgruppen, wie sie noch um die Mitte des Jahrhunderts existierten, der vielleicht allmählich die Verwendung des Terminus italienisches Bürgertum für das spätere 19. Jahrhundert rechtfertigt. Waren um die Jahrhundertmitte die wenigen Unternehmer, Fabrikanten, etc. noch durchaus Randfiguren des Panoramas des Liberalismus gewesen (und im Süden meist sogar Aus­ länder und jedenfalls an den Protektionismus der bourbonischen D ynastie gebunden!), so gewannen die Trägerschichten der Industrialisierung dann in den 70er und 80er Jahren schrittweise ein durchaus anderes Gewicht im italienischen Liberalismus. Aber eben nur als eine der verschiedenen Kom­ ponenten, und dafür ist bezeichnend, daß der Protektionismus erst dann sich durchsetzte, als die Landwirtschaftsinteressen ihre Unterstützung den dahin gehenden Forderungen der Industrie liehen. Vor allem aber ist der Charakter des italienischen Liberalismus nach der Einigung als einer gemischt adlig-bürgerlichen modernisierenden Elite hervorzu­ heben. D ies tritt vor allem in der D estra Storica ganz deutlich hervor. D er Adel in den verschiedenen Staaten der Halbinsel war durch Liberalismus, 406 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Nationalbewegung und Konflikt mit dem Papsttum tief gespalten, und aus der dauerhaften Spaltung ging eine vermutlich majoritäre Gruppierung mit einer legitimistischen später klerikalen Oppositionshaltung sowie eine im gesamten Italien wohl minoritäre Gruppierung von liberaler Haltung her­ vor, die die neue Ordnung teils selbst aktiv verfochten hatte, teils sie wohl akzeptierte. Allein im alten Königreich Sardinien erleichterte die dynastische Bindung auch den konservativeren Elementen des Adels die Akzeptierung der neuen Ordnung. D ie bürgerlichen Schichten Italiens waren ihrerseits dreigespalten zwischen Liberalen, der klerikalen Opposition und der demo­ kratisch-republikanischen Bewegung; letztere hatte übrigens beachtliche Teile der städtischen Unterschichten (Handwerker, Arbeiter etc) für sich gewinnen können, während die ländlichen Unterschichten weitgehend unter dem Einfluß des Klerus standen oder völlig apolitisch blieben.61 Innerhalb des Liberalismus läßt sich auf parlamentarischer Ebene (wie schon oben ausgeführt) deutlich ein unterschiedliches Sozialprofil der Destra Storica und der Sinistra Storica (insbesondere was ihre nord- und mittelitalie­ nischen Komponenten angeht) erkennen.62 Eine für spätere Jahre von Farneti versuchte parlamentssoziologische Analyse des Liberalismus nach der der Parlamentstopographie entlehnten Einteilung in Linke, Mitte und Rechte ist aber angesichts der viel komplexeren tatsächlichen politischen Fronten und Fraktionsbildungen unfruchtbar.63 Hier müssen vielmehr die historisch greifbaren einzelnen Gruppierungen, Fraktionen und fraktions­ ähnliche Gruppen, wie z. B. die Zanardellianer oder Sonninos centro, sowie die Parteivereine untersucht werden. D abei dürfen auch die tiefen Unter­ schiede in Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur der einzelnen Landesteile nicht aus dem Blick geraten! In der liberal-konservativen Mailänder Associa­ zione costituzionale, die die Traditionen der Consorteria der Epigonen der alten Destra Storica hochhielt, waren in den 1890er Jahren von 460 Mitgliedern fast die Hälfte possidenti. D er Anteil des Grundbesitzeradels allein erreichte 22,4%! Anwälte und Notare stellten hingegen nur gut 14%, und die nicht­ juristischen freien Berufe waren mit 10 Ärzten, zwei Architekten, drei Musik- und einem Fechtlehrer nur minimal vertreten. Wie stark engagierten sich überhaupt die Protagonisten des Wirtschaftslebens der dynamischsten Industriemetropole Italiens in der liberal-konservativen Organisation? Beachtenswert der Anteil der Ingenieure: 11,7%, aber wir begegnen nur acht Industriellen und ebenso wenigen Bankiers und Bankdirektoren etc.! Handeltreibende, Geschäftsleute etc. stellen1/15der Mitglieder, minimal gar die Präsenz der Angestellten o. ä., ganz sporadisch jene von Handwerkern und Arbeitern!64 D er Erneuerungsanspruch der neuen lombardischen D estra mit ihrem Modernisierungsprogramm beschränkte sich nicht nur auf die Programmatik, sondern fand in bemerkenswertem Maße auch eine Entspre­ chung in der unterschiedlichen Zusammensetzung ihres wichtigsten Partei­ vereins, des Circolo popolare, im Vergleich zur Associazione costituzionale: nicht daß die adlige Komponente im Circolo popolare gefehlt hätte, aber in 407 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

den Führungsgremien und unter den aktiveren Mitgliedern sowie unter den hauptsächlichen Mitarbeitern der Zeitschrift »L'Idea Liberale« waren doch die bürgerlichen, ja gerade die mittelständischen Komponenten tonange­ bend.65 Im Florenz der Vorkriegsjahre mit seinem starken (privaten wie öffentlichen) tertiären Sektor war die unter betontem Bruch mit der alten liberalkonservativen Führungsgruppe der toskanischen moderati und ihrer Neigung zur Bildung eines »Ordnungsblocks« unter Einschluß auch der Katholiken 1910 gegründete Unione liberale durch das Übergewicht der städtisch-bürgerlichen Elemente über die Exponenten des großen toskani­ schen grundbesitzenden Adels geprägt; dies galt nicht nur für die Mitglie­ derschaft, sondern auch für die Führungsgruppe, in der Industrie, Handel, freie Berufe, aber auch die Welt der Kultur dominierten. Bezeichnender­ weise sollte das Scheitern der laizistisch-zentristischen Linie der Unione liberale 1914 mit dem darauffolgenden Kurswechsel auch dem Wiedererstar­ ken der aristokratisch-großgrundbesitzenden Komponente den Weg öffnen.66 Das Parlament der letzten Legislaturperiode vor der Einführung des fast allgemeinen Wahlrechtes (der Rückgriff auf Zahlen für das gesamte Parla­ ment ist insofern nicht illegitim, als die Liberalen noch eine breite Mehrheit besaßen, weder die radikale Fraktion, noch die klerikale Gruppierung eine wesentlich andere soziale Zusammensetzung aufwiesen und das halbe Hun­ dert sozialistischer Abgeordneter das Gesamtbild nicht einschneidend ver­ änderte) bestand noch zu 90% aus Angehörigen der Oberschicht und der oberen Mittelschicht. D er Rest rekrutierte sich aus der Mittelschicht. Adlige, Grundbesitzende stellten 16,5% der Abgeordneten, die freien Berufe fast die Hälfte der Parlamentarier mit einem starken Übergewicht der juristischen Freiberufler (allein fast 40%; zu ihnen müßte man noch gut 10% Universitätsdozenten mit gleichzeitiger freiberuflicher Tätigkeit zählen). Die Unterrepräsentation der Unternehmer ist dagegen mit nur 5,3% beein­ druckend. In der ganzen Zeit zwischen 1892 und dem Ersten Weltkrieg liegen Unternehmer und Bankiers zusammen zwischen 5 und 7% der Abge­ ordneten, ein im Vergleich zu Frankreich oder Deutschland noch wesentlich geringerer Prozentsatz! Richter, D iplomaten, Offiziere oder sonstige Staats­ beamte erreichten gerade 7%, ganz gering war auch der Anteil von Journali­ sten und Publizisten (3,5%). 67 Eine kurze abschließende Bemerkung sei wenigstens noch dem Problem Liberalismus und Arbeiterbewegung gewidmet: in der Frühzeit der italieni­ schen Arbeiterbewegung hatten die gemäßigt Liberalen den Wettlauf um die Gewinnung der Arbeiterschaft gegenüber der mazzinianischen Bewegung verloren. Aber dies bedeutete keineswegs das Ende jeglichen Einflusses auf Arbeiterorganisationen und Arbeiterwähler, worüber wir allerdings bekla­ genswert wenig, eigentlich nichts wissen. Das Thema läßt sich sicherlich nicht nur mit dem Schlagwort ›paternali­ stischc Arbeitervereine in wenig entwickelten Gebieten‹ abtun. Manches 408 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

scheint darauf hinzudeuten, daß etwa in Piemont bis gegen 1890 der liberale Einfluß auf Arbeitervereine noch bedeutend war. Selbst in der Ära Giolitti spielten übrigens im Genossenschaftswesen Liberale - von Luzzatti bis zu dem Linksliberalen Abbiate - eine einflußreiche und herausragende Rolle, neben ihnen auch Radikale. Daß sich die Liberale Partei (PLI), wie sie heute noch besteht, im Oktober 1922 konstituierte, scheint in der Ironie des D atums (Marsch auf Rom!) emblematisch das Unvermögen des italienischen Liberalismus, sich recht­ zeitig eine adäquate moderne Parteiorganisation zu geben, zu beleuchten. Das hergebrachte Bild eines zur Organisation unfähigen italienischen Libe­ ralismus mit einem durch Personalismen, extreme Fluktuation, opportuni­ stischen Marais (trasformismo), Patronage-Politik statt politischer Prinzipien etc. geprägten Parlament, verlangt jedoch mehr als nur Nuancierungen und Differenzierungen. Zunächst ist festzuhalten, daß die Grundrealität politischer Organisation für die italienischen Liberalen der lokale Parteiverein war, der bisweilen eine die ganze Provinz umfassende, sehr selten eine regionale, D achorganisation seinerseits entwickelte. D ie Parteiorganisation und der (außer von 1882 bis 1891 bestehende) Ein-Mann-Wahlkreis als strukturelles Ausgangsdatum politischer Aktivität standen in einem engen funktionalen Zusammenhang. Die Partei wurde bis zum Ersten Weltkrieg hin im wesentlichen als Instru­ ment zur Gewinnung von Wahlen auf nationaler wie lokaler Ebene konzi­ piert. D abei standen die Liberalen der Parteiorganisation, der politischen Organisation überhaupt, durchaus ambivalent gegenüber: Sie schwankten zwischen der Überzeugung, Partei gleich politische Gesinnungsgenossen­ schaft bedeute den Primat der Ideen gegenüber lokalen und sektoriellen Interessen und Personalismen, der Furcht, straffe Parteiorganisation und -disziplin führe zur Unterjochung des Abgeordneten unter einen Apparat und sei mit dem Prinzip liberalen Parlamentarismus unvereinbar, und einer von Angst nicht freien Faszination angesichts der Organisationserfolge ihrer politischen Rivalen, denen man nolens volens etwas Gleichartiges an die Seite stellen müsse um des eigenen Überlebens willen. D ie Rezeption der europäischen Parteiendiskussion von Bluntschli - durch Minghetti - bis zu Ostrogorskis und Michels Werken in Italien ist beachtlich. Aber was wurde tatsächlich in dieser Richtung geleistet? Zunächst einmal spielt lange die Zeitung die Rolle eines Surrogats nicht nur regionaler, sondern auch natio­ naler Parteiorganisation. D ie Abgeordnetenkammer wies eine Grundstruk­ turierung in Mehrheit einerseits und Opposition andererseits auf, die eine Zeitlang mit dem Schema D estra Sinistra einigermaßen übereinstimmte, doch früh schon bildeten sich fraktionsähnliche Gruppen heraus, die schon bald nach der parlamentarischen Revolution von 1876 auch regelrechte Fraktionen, einige von beachtenswerter Konstanz werden sollten. Die Geschichte der politischen Organisation der italienischen Liberalen im Parlament und draußen im Lande68 entspricht in ihren Grundzügen, die 409 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

eher einen wellenförmigen Ablauf aufweisen, als in einer von einem Null­ punkt der totalen Atomisierung in Richtung auf die moderne Massenpartei aufsteigenden Konstante (etwa im Sinne des D uvergerschen Schemas) zu verlaufen, in ihren Höhepunkten den großen Krisen und Momenten besonderer Challenges für die Liberalen. So veranlaßte die parlamentarische Revolution von 1876 sowohl die Verlierer als auch die Sieger zu umfassen­ den Organisationsanstrengungen, gerade auch auf der außerparlamentari­ schen Ebene, auf nationalem Niveau mit der Bildung zentraler Parteiorga­ nisationen ebenso wie zur Gründung einer Vielzahl lokaler Parteiverbände. Die parlamentarische Parteibildung wurde aber durch große Sammlungs­ bewegungen der juste-milieu-Koalition des trasformismo unter D epretis 1882 im wesentlichen abgebrochen, und eine dieser Eindämmungsstrategie durchaus konforme Fragmentierung unter starker Fluktuation setzte wie­ der ein. D ie Krise der 90er Jahre sollte erneut eine Vielzahl von Organisa­ tions- und Parteibildungsansätzen sehen, auf die hier nicht weiter einge­ gangen werden kann. Schließlich sah die Ära Giolitti ein schrittweises Wachsen der Organisationsanstrengungen der Fraktionsbildung und eine gewisse Modernisierung schon mancher Parteivereine, wobei die Einfüh­ rung des allgemeinen Wahlrechtes einen starken zusätzlichen Impuls gab. So kam es 1913 zu der Gründung des partito democratico costituzionale ita­ liano, der ersten linksliberalen, als einigermaßen modern zu bezeichnenden Partei. 1904 hatten die Radikalen nach einem schwierigen Einigungsprozeß sich - drei Jahre nach dem entsprechenden Ereignis in Frankreich - endlich eine nationale Parteiorganisation mit den entsprechenden Strukturen ge­ geben. Ein deutlicher organisatorischer Rückstand der italienischen Liberalen auf der parlamentarischen wie auf der nichtparlamentarischen Ebene - ist unbestreitbar, selbst gegenüber vergleichbaren politischen Gruppierungen in Frankreich; angesichts der dominierenden Stellung der Liberalen prägte dies selbstverständlich das ganze politische System Italiens vor dem Ersten Weltkrieg. D ieses Organisationsdefizit ist sicher auch auf institutionelle Faktoren (wie das Wahlsystem: Ein-Mann-Wahlkreis), vor allem aber die Struktur und die Geschäftsordnung des Parlamentes, zurückzuführen, aber doch nur teilweise! Einen weiteren Faktor dürfte der reduzierte Konkur­ renzdruck, besonders infolge der Nichtbeteiligung der Katholiken an den Wahlen, dargestellt haben. D er wichtigste Faktor ist aber m. E. in der höchst komplexen Cleavage-Struktur, die ihrerseits die Besonderheiten des nation- und state building-Prozesses des neuen Italien im 19. Jahrhundert widerspiegelte, zu suchen: Die Frontlinien in den großen Fragen - von der Partizipation zum Verhältnis von Staat und Kirche, von den Grundoptio­ nen der Wirtschafts- und Zollpolitik bis zur Außenpolitik - überschnitten sich dergestalt, daß - berücksichtigt man auch die starken Unterschiede zwischen dem nationalen und dem lokalen bzw. regionalen patterns - die Herausbildung von zwei oder drei großen liberalen Parteien mit einigerma410 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

ßen kohärenten Programmen außerordentlich erschwert, wenn nicht unmöglich war.

Anmerkungen * Zur bibliographischen Orientierung (für die die weitgehende Überschneidung von Geschichte der italienischen Liberalen und Geschichte des Königreichs Italien bis 1914 zu berücksichtigen ist) sei verwiesen auf die hervorragenden états de la question in: E. Rota (Hg.), Questioni di storia del Risorgimento e dell' Unità d'Italia, Milano 1951, und in: L. Bulferetti (Hg.), Nouve Questioni di storia del Risorgimento e dell'Unità d'Italia, Milano 1961, sowie auf die grundlegende Bibliografia storica dell'età del Risorgimento. In onore di Alberto M. Ghisalberti, Firenze 1971—1976. Wir können uns hier auf wesentliche Neuerscheinungen beschrän­ ken. Wegweisender Essay: A. Aquarone, Alla ricerca del'Italia liberale, in der Aufsatzsammlung gleichen Titels, Napoli 1972, S. 275-344. Für das Thema italienischer Liberalismus und Außenpo­ litik. das hier nicht erörtert werden kann, aber gewiß besonders eng mit der Geschichte des Königreichs verflochten ist, stellt immer noch F. Chabod, Storia della politica estera italiana dal 1870 al 1896, Bari 1951, den Ausgangspunkt dar. Vgl. ferner E. Decleva, L'Italia e la politica internazionale dal 1870 al 1914. L'ultima fra le grandi potenze, Milano 1974; Ders., Da Adua a Sarajevo. La politica estera italiana ela Francia, Bari 1971; Ders., Tra »raccoglimento« e »politica attiva«: la politica estera nella stampa liberale italiana (1870-1914), in: B. Vigezzi (Hg.), Opinion publique et politique extérieure, Bd. I: 1870-1915. Colloque organisé par l'Ecole française de Rome et le Centre per gli studi di politica estera c opinione pubblica de I'Univcrsité de Milan (Rome 13-16 février 1980), Roma 1981, S. 427-71; für die historiographischen Tendenzen vgl. B. Vigezzi. Politica estera e opinione pubblica in Italia dal 1870 al 1914. Orientamenti degli studi dopo il 1945 e prospettive della ricerca, in: ebd., S. 75-123. 1 Vgl. L. Binder, Crises of Policital D evelopment, in: D ers. u.a., Crises and Sequences in Political D evelopment, Princeton, N.J. 1971, S. 3-72. 2 Schreiben an seine Wähler, 1. 10. 1865, in: L. Lucchini (Hg.), La politica italiana dal 1848 al 1897. Programmi di governo, Bd. I, Roma 1899, S. 313f. Wichtig auch zur Bio-Bibliographie M. Minghetti, Scritti politici, hg. v. R, Gherardi, Roma 1986. 3 Grundlegend: R. Romeo, Cavour e il suo tempo, Bd. I —III, Bari 21971 — 1984. Zum Ver­ hältnis moderatismo - Liberalismus vgl. auch G. Galasso, Potere e istituzioni in Italia. D alla caduta dell'Impero romano a oggi, Torino 1974, S. 182ff. 4 Introduzione, in: Statistica del Regno d'Italia. Elezioni politiche e amministrative. Anni 1865-1866, Firenze 1867, S. VII. 5 Grundlegend: C. Ghisalberti, Storia costituzionale d'Italia 1849/1948, Bari 1974; für Parla­ mentsrecht und -geschäftsordnung: P. Ungari, Profilo storico del diritto Parlamentare in Italia, [Assisi] 1971. 6 Unerläßlich jetzt: P. L. Ballini, Le elezioni nell' Italia unita, Bd. I: Le elezioni politiche nel Regno d'Italia, Bologna 1988. 7 Atti parlamentari (zit. AP], Camera dei D eputati [zit. CD ], Legislatura [zit. Leg.] XII, Discussioni [zit. D isc.], 24. 6. 1876, (2a tornata), S. 1856. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 1867. 10 In: Lucchini, Bd. I, S. 156 f. Ähnlich aber auch in dem in Anm. 2 genannten Brief an seine Wähler von 1865 (ebd., S. 286f). 11 Wertvolle Orientierung bietet der Katalog des Istituto italiano per gli studi filosofici und der Biblioteca nazionale di Napoli: Gli hegeliani di Napoli e la costruzione dello stato unitario. Mostra bibliografica e documentaria. Palazzo Reale di Napoli, 4 giugno 1986—15 febbraio 1987. Napoli 1987.

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12 Zuletzt Α. Mastropaolo, Sviluppo politico e Parlamento nell'Italia liberale. Un' analisi a partire dai meccanismi della rappresentanza, in: Passato e presente, 1986, n. 12, S. 29ff., bes. S. 50f. 13 »Adlige und Grundbesitzer« stellten 24,6% der Parlamentarier der Destra storica in der XII. Legislaturperiode, Beamte, Richter und Militärs 20,2%; außerdem ist wenigstens teil­ weise die Gruppe der Universitätsprofessoren und Lehrer (6,1%) zu berücksichtigen (ebd., Tabelle 5). Die Quellenbasis dieser Studie scheint (s. ebd., S. 34, Anm. 14) allerdings keines­ wegs jener - in der Tat beeindruckenden - D okumentation vergleichbar, die der in Anm. 67 zit. Untersuchung zugrunde lag. 14 Ebd., Tabelle 5. 15 P. Farneti, Sistema politico e societa civile, Torino 1971, S. 170, 180. 16 Vgl. G. Talamo, Istruzione obbligatoria ed estensione del suffragio, in: Stato e socièta dal 1876 al 1882. Atti del XLIV Congresso di storia del Risorgimento italiano (Viterbo 20 set­ tembre-5 ottobre 1978), Roma 1980, S. 57 ff. 17 A. Mastropaolo, Elezioni, in: II mondo contemporaneo - Storia d'Italia, Bd. 1, hg. v. F. Levi, U. Levra u. N. Tranfaglia, Firenze 1977, S. 258; fast gleichlautend 1986 in: D ers., Sviluppo politico, S. 52. Zur Wahlreform s. auch: R. Romanelli, Alla ricerca di un corpo elettorale. La riforma del 1882 in Italia e il problema dell'allargamento del suffragio, in: P. Pombeni (Hg.), La trasformazione politica nell'Europa liberale 1870-1890, Bologna 1986, S. 171-212; C. Vallauri, Zanardelli e la riforma elettorale del 1882, in: R. Chiarini (Hg.), Giuseppe Zanar­ delli. Atti del convegno Brescia 29, 30 settembre 1983 - Pavia 1 ottobre 1983, Milano 1985, S. 134-49 (für die Kenntnis Zanardellis ist jedoch der ganze Band unerläßlich). 18 G. Zanardelli, D iscorsi parlamentari, Bd. I, Roma 1905, S. 570. 19 AP, CD, Leg. XIV, D isc, 24. 3. 1881, S. 4651. 20 Archivio Storico, Camera dei Deputati, Rom. Disegni e proposte di legge e incarti delle commissioni (auch: »fascicoli d'aula« gen.; zit.: AstCD ), vol. 304. An dieser Stelle sei der Archivleitung und insbesondere Herrn dott. Roncaglia für die liebenswürdige und sachkun­ dige Hilfe bei der Konsultation des Fonds gedankt. 21 In: Lucchini, II, S. 165. 22 AP, CD, Leg. XIV, D isc, 5. 5. 1881, S. 5347. 23 Ebd., 24. 3. 1881, S. 4652 (Codronchi). 24 AP, Senato del Regno, Leg. XIV, Sessione 1880-1881, Atti interni, III, n. 119-Α, S. 60. 25 Zitiert nach: R. Nieri, Il dibattito del 1872-73 all'Accademia dei Georgofili sulla rap­ presentanza proporzionale, in: Bollettino storico pisano, 49, 1980, S. 388. 26 Introduzione (Anm. 4), S. VIII. 27 G. Padelletti, II suffragio universale, in: Nuova Antologia, Mai 1870, S. 55. 28 Relazione Zanardelli, in: AP, CD, XIV, Sessione 1880-1881, Atti stampati, II, n. 38-A, S. 35. 29 AstCD, vol. 304, Sitzung vom 24. 6. 1880. 30 Ebd. 31 Siehe Anm. 25. 32 Ballini, Tab.; Ministero di Agricoltura, Industria e Commertio/Direzione Generale della Statistica, Statistica degli elettori amministrativi e degli elettori politici secondo le liste defini­ tivamente approvate per Panno 1883, Roma 1883, S. XX. 33 S. Sonnino, Scritti e discorsi extraparlamentari 1870-1902, Bd. I, hg. v. B. F. Brown, Bari 1972. 34 AstCD, Vol. 304, Sitzung vom 15. 6. 1880. 35 Eine vertiefte Analyse der Genesis und der Auswirkungen der Wahlreform bleibt einer späteren Abhandlung vorbehalten. Vorerst sei verwiesen auf meinen Beitrag Italie zu Sektion II (Litérature/Méthodologies/Sources) des Kongresses über L'Etude comparé des réformes électorales en Europe, 19 ème et 20 ème siècles. Une approche interdisciplinaire (Badia Fieso­ lana 28-30 mars 1988), Institut Universitaire Européen, Dok. IUE 64/88, COL 23.

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36 Μ. Minghetti, I partiti politici e la ingerenza loro nella giustizia e nell'amministrazione, Bologna 1881. 37 AP, CD, Leg. XII, Disc., 24. 6. 1876 (2a tornata), S. 1858. 38 Zanardelli, III, S. 188. 39 Vgl. Ε. Del Vecchio, La via italiana al protezionismo. Le relazioni internazionali economi­ ­­e dell'Italia 1878-1880, Roma 1979-80 (Bibliographie insbes. Bd. I). 40 Vgl. insbes. G. Are, Economia e politica nell'Italia liberale (1890-1915), Bologna 1974; u. Ders., Il liberalismo economico in Italia dal 1845 als 1915, in: R. Lill u. N. Matteucci (Hrg.), Il liberalismo in Italia e in Germania dalla rivoluzione del '48 alla prima guerra mondiale, Bologna 1980, S. 451-84. 41 Vgl. meinen Beitrag: Sozialer Liberalismus in Italien, in: K. Holl u.a. (Hg.), Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986, S. 126-48. 42 V. Sellin, Die Anfänge staatlicher Sozialreform in Italien, Stuttgart 1971. 43 Brief Luigi Luzzattis an Rava (1902), in: L. Luzzatti, Opere, Bd. IV: L'ordine sociale, Bologna 1952, S. 842f 44 A. Caracciolo, Stato e societa civile. Problemi dell'unificazione italiana, Torino 1977, [Nachdruck der erw. 2. Aufl.], S. 64ff. 45 G. Mosca, Elementi di scienza politica, Roma 1896, S. 389. 46 Vgl. C. G. Lacaita, Giuseppe Colombo e le origini dell'Italia industriale, in: Ders. (Hg.), Giuseppe Colombo. Industria e politica nella storia d'Italia. Scritti scelti: 1861 — 1916, Milano/ Roma/Bari 1985, S. 5-86. 47 D ecleva, Da Adua, S. 145 ff.; sowie mein Beitrag L'opinione pubblica tedesca di fronte al governo Zanardelli, in: Chiarini (Hg.), Zanardelli, S. 313. 48 G. Colombo, Che cosa dovrebbe essere un partito conservatore in Italia (1890), in: Ders., Scritti e discorsi, Bd. III: Scritti e discorsi politici, hg. v. G. Gallavresi, Milano 1934, S. 228. 49 Vgl. jetzt M. Rizzo, Una proposta di liberalismo »moderno«. »L'Idea liberale« dal 1892 al 1906. Lecce 1982. 50 So der Parlamentarier und Industrielle Gavazzi 1894, vgl. F. Fonzi, Crispi e lo »Stato di Milano«, Milano 1965, S. 119, Anm.9. 51 Colombo, S. 236. 52 Zur Ära Giolitti vgl. auch für weiterführende Quellen- und Literaturangaben meine Studie: La classe politica nella crisi di partecipazione dell'Italia giolittiana. Liberali e Radicali alla Camera dei deputari 1909-1913,Roma 1979; sowie A. Aquarone, L'Italia giolittiana (1896—1915), Bd. I: Le premesse politiche ed economiche, Bologna 1981. Für die Einordnung in den internationalen Kontext vgl. meine Skizze: Zanardelli e il liberalismo europeo, in: Chiarini (Hg.), Zanardelli, S. 317-58. 53 Vgl. insbes. A. Mola, Storiadella massoneriaitaliana dall'Unità alla Republica, Milano 1976; F. Cordova, Massoneriae politica in Italia 1892-1908, Bari 1985; so wie für die Rolle der blocchi auch: Istituto per la Storia del Risorgimento Italiana, Comitato di Roma, Roma nell'età giolittiana. L'ammimstrazione Nathan. Atti del Convegno di Studio (Roma, 28-30 maggio 1984), Roma 1986, insbes. die Beiträge von L. Cafagna, R. Ugolini, Α. Α. Mola, sowie des Verfassers. 54 Wegweisend: G. Spadolini, Giolitti e i cattolici (1901-1914), Firenze 19602. 55 Eingehender meine Studie: Il declino del liberalismo lombardo nell'età giolittiana, in: Archivio storico lombardo, 101, 1975, S. 199-250. 56 Vgl. O. Barié, Luigi Albertim, Torino 1972; R. Faucci, Luigi Einaudi, Torino 1986. 57 Grundlegend für ein neues Salandrabild sind die Arbeiten von B. Vigezzi, insbes.: L'Italia di fronte alla prima guerra mondiale. Bd. I: L'Italia neutrale, Milano/Napoli 1966; L'Italia liberale e la guerra (1914—15), in: Nuove Questioni di Storia contemporanea, Bd. I, Milano 1968, S. 689 ff.; D a Giolitti a Salandra, Firenze 1969. 58 Archive di Stato Torino, Carte Carlo Compans de Brichanteau, c. 18, Cionni an Compans, s.d. [aber Dezember 1913]. 59 Biblioteca Nazionale Centrale Firenze, Carte Ferdinando Martini, b. Fortunato, Brief Giustino Fortunatos an Martini, 10. 11. 1913.

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60 Vgl. bes. Farneti u. Galli, I partiti politici, Torino 1974. 61 D azu mein Beitrag: Bürgertum und nationale Bewegung im Italien des Risorgimento, in: O. Dann (Hg.), Nationalismus und sozialer Wandel, Hamburg 1978, S. 129-156. 62 Vgl. für die Legislaturperiode vor und nach der »parlamentarischen Revolution« von 1876 die Tabelle 5 in: Mastropaolo, Sviluppo politico. Eine großangelegte parlamentssoziologi­ sche Untersuchung, die mit der in Anm. 67 genannten vergleichbar ist, wird gegenwärtig für die Zeit nach 1861 unter der Leitung von Prof. F. Andreucci unternommen (vgl. D ers. u. a., I parlamentari in Italia dall'Unità a oggi. Orientamenti storiografici e problemi di ricerca, in: Italia contemporanea, n. 153 (dicembre 1983), S. 145 — 164. 63 Farneti. D ie Zugrundelegung grundsätzlich gleicher Kriterien läßt folglich auch die Tabellen in Mastropaolo, Sviluppo politico, als für die 1890er Jahre kaum brauchbar erscheinen. 64 Auswertung der gedruckten Mitgliederlisten: Associazione Costituzionale di Milano, Elenco dei soci. 1 Gennajo 1891, Milano 1891; und D ers., Elenco dei soci 1 Gennajo 1895, Milano 1895 (in Museo del Risorgimento, Milano). Zugrundegelegt wurden die 413 Mitglieder von 1891 sowie die 43 neuen Mitglieder der zweiten (insgesamt aber einen Mitgliederrückgang reflektierenden) Liste von 1895. 65 D er Gegensatz zwischen den beiden Parteivereinen ist sowohl unter dem Gesichtspunkt des Sozialprofils (da zahlreiche Mitglieder des »Circolo popolare« auch der »Associazione costituzionale« angehörten) als auch der Programmatik zu relativieren, da nur ein Teil der Linie der »Idea liberale« vollinhaltlich folgte. Vergleichbare Mitgliederlisten sind mir für diese Vereinigung nicht bekannt, wichtige Informationen jedoch in: Circolo popolare di Milano 1882-1892, Milano 1882. 66 Für die consiglieri comunali der Unione liberale: L. Piccioli, Il ceto politico amministrativo fiorentino dal 1910 al 1926, in: Rassegna storica toscana XXXI/1, 1985, S. 8 7 - 1 1 9 . Zu den Florentiner Liberalen vgl. unsere Analyse: Fra intransigenza laica e blocco dell'ordine. I Überall fiorentini dalle prime elezioni a suffragio unversale alle elezioni amministrative dell'estate 1914, in: NRS 51, 1967, S. 297-357. 67 L. Lotti, Il Parlamento italiano 1909-1963. Raffronto storico, in: S. Somogyi u.a., Il Parlamento italiano 1946-1963. Una ricerca diretta da G. Sartori, Napoli 1963, S. 156f., 168; für den Anteil 1892-1913 s. Farneti, S. 243. 68 Ausführlicher in meiner Skizze: L'organizzazione politica dei liberali italiani nel Parla­ mento e nel Paese (1870-1914), in: Lill u. Matteucci, S. 4 0 3 - 5 0 .

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J E A N STENGERS

Der belgische Liberalismus im 19. Jahrhundert Historiker, die sich mit dem Liberalismus in Belgien beschäftigen, stehen vor einer weitaus leichteren Aufgabe als Historiker, die sich anderen Län­ dern zuwenden. Es muß nicht erst mit Hilfe schwer festzulegender Kriterien definiert werden, wer die »Liberalen« eigentlich sind, wie dies zum Beispiel für Frankreich oder über lange Zeit auch für England notwendig ist. In Belgien sind die Liberalen unter dieser Bezeichnung bekannt und haben unter ihr eine klar abgegrenzte Partei gegründet, die sich von Anfang an von der katholischen Partei und gegen Ende des Jahrhunderts auch von der sozialistischen Partei unterschieden hat (diese wurde 1885 unter dem Namen P. O. B. -Parti Ouvrier Beige- gegründet). Schon seit dem Königreich der Vereinigten Niederlande (1815-1830), dem Belgien angegliedert war, gab es dort Liberale, und sie behielten diesen Namen und die ihnen eigene Prägung unverändert bis gegen Ende des Jahrhunderts bei. Unsere Untersuchung wird mit dem Jahr 1893 enden, d. h. mit der grundlegenden politischen Reform, die anstelle des Zensuswahl­ rechts, nach dem nur ca. 2% der Bevölkerung an den Parlamentswahlen mitwirken durften, das allgemeine Wahlrecht (mit Pluralstimmen für bestimmte Bürgerkategorien) einführte. D iese große Reform im Jahre 1893 veränderte die politische Landschaft Belgiens in vielerlei Hinsicht. D eshalb werden wir nicht über diesen Zeitpunkt hinausgehen. Die Bezeichnung »Liberale« löst in Belgien das Problem der Identifizie­ rung, wenn auch nicht vollständig. In den Jahren unmittelbar nach der belgischen Unabhängigkeit (1830) gab es eine Parteigruppe der Oranier, die vor allem in gewissen Industrickreisen, besonders in Gent, einflußreich war und deren Ziel hieß: Wiederherstellung des Königreiches der Vereinigten Niederlande.1 Ihr Hauptmerkmal war der »Orangismus«, d. h. die Anbindung an das Haus der Oranier. Obwohl sie sich nicht als Liberale bezeichne­ ten, teilte die große Mehrheit von ihnen praktisch die liberalen Ansichten; nach dem definitiven Ende des »Orangismus« im Jahre 1840 schlossen sie sich dann den Liberalen an. Noch eine weitere kleine Schwierigkeit: In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts vertraten gewisse fortschrittliche Liberale­ sie wurden als »Radikale« oder als »Progressisten« bezeichnet - vor allem in der Wahlrechtsfrage Ansichten, die den konservativen Liberalen (»D oktri­ näre«) als nicht annehmbar galten, so daß diese ihnen das Recht absprachen, sich weiterhin liberal zu nennen. D iese Zwietracht ging manchmal so weit, 415 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

daß die »D oktrinäre« und die »Progressisten« bei den Wahlen getrennte Listen aufstellten.2 Wir werden diesen Ausschluß jedoch nicht wiederholen und die Progressisten zur großen Familie der Liberalen zählen. Diese Familie nannte man im 19. Jahrhundert auch die »Linke«. D er Begriff tauchte hauptsächlich im parlamentarischen Vokabular auf, während er in den politischen Auseinandersetzungen außerhalb des Parlaments nur wenig benutzt wurde. In den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit konnte man im Repräsentantenhaus beobachten, daß die liberalen Abgeordneten zweifellos durch das französische Vorbild angeregt - immer häufiger die Bänke links vom Präsidenten besetzten, während die Katholiken mehr auf der rechten Seite blieben. So bürgerten sich die Begriffe »rechts« und »links« ein. 1841 wurden sie in einer Regierungserklärung zum erstenmal offiziell erwähnt, als eine »unionistische« Regierung, d. h. eine Regierung, die bean­ spruchte, über den Parteien zu stehen, ankündigte, sie wolle vermeiden, daß »die Macht von rechts oder von links getragen werde«: 3 die Macht sollte weder bei den Katholiken noch bei den Liberalen liegen. Als dann um die Mitte des Jahrhunderts im Halbrund des Parlamentssaales jeder Abgeord­ nete einen eigenen Sitz bekam, wurden die Dinge noch offensichtlicher, da die Sitzordnung nun eine Art institutionellen Charakter annahm. Entspre­ chend wurden auch die »Linke« und die »Rechte« im Parlament zu institu­ tionellen Begriffen. Als 1894 schließlich auch die Sozialisten in die Kammer einzogen, bildeten sie die »extreme Linke«. Vergleicht man den belgischen Liberalismus mit dem gesamteuropäi­ schen, so stößt man auf drei charakteristische Besonderheiten, die ihm eine eigene Prägung verleihen. Erste Besonderheit: Der belgische Liberalismus unterschied sich vom euro­ päischen Liberalismus - ausgenommen Italien - durch den Charakter seiner Leitidee. Es handelte sich nicht um eine Partei, deren vorrangige Aufgabe, wie es oft anderswo der Fall war, darin bestand, um die Errichtung bzw. den Erhalt von liberalen Institutionen oder einer konstitutionellen Regierung zu kämp­ fen. D ies war in Belgien schon seit 1830 gewonnen, und es lag der ganzen Nation, allen politischen Richtungen am Herzen. D urch die Verfassung von 1831 wurde die parlamentarische Monarchie eingeführt-ein Regierungssy­ stem, das ganz den liberalen Vorstellungen dieser Epoche entsprach, wenn­ gleich ihm in Belgien Katholiken ebenso wie Liberale zugestimmt haben. Während des ganzen 19. Jahrhunderts blieb dies ihr gemeinsames Gut. 1848 gehörte Belgien zu den wenigen Staaten auf dem Kontinent, die von dem revolutionären Sturm verschont blieben. Die Belgier, und zwar alle, stellten sich hinter ihre Institutionen. Als im März 1848 die Kammer über die Vorhersagen sprach, daß »die Ideen der Französischen Revolution um die Welt gehen würden«, rief ein liberaler Abgeordneter aus: »Auch wenn sie um die ganze Welt geht, Belgien braucht sie nicht zu passieren«.4 D ieser Ausspruch fand den tosenden Beifall des ganzen Parlaments. 416 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Der Liberalismus sah seine Aufgabe auch nicht im Kampf um die bürgerli­ chen Freiheitsrechte. Auch sie waren bereits seit 1830 gewonnen; da gab es nichts mehr, um das man noch hätte kämpfen müssen. D ie Belgier waren stolz auf ihre Freiheiten. Hören wir einen hohen Beamten, der sie 1871 emphatisch voll Selbstvertrauen wie folgt definierte: »Bei uns herrscht Freiheit, unvergänglich und unantastbar. Sie durchdringt alles, sie gibt allen Gesetzen Kraft. Als Person bin ich frei, und das Vorgehen bei Verhaftungen ist festgelegt. Mein Haus ist frei und meine Wohnung ist dank gesetzlicher Regelung unverletzlich. Mein Besitz ist frei; er ist gesichert gegen Enteig­ nung, Konfiszierung und willkürlich erhobene Steuern. Ich bin frei in meiner Tätigkeit; ich habe die Freiheit zu arbeiten, die Freiheit der Berufs­ wahl, der Arbeitsverträge (contrats industriels). Meine Meinung ist frei, denn alle Mittel der Presse und der Öffentlichkeit stehen mir offen. Mein Wort ist frei, denn ich habe die Freiheit, mich auf der Rednertribüne, auf der Kanzel, vor Gericht, als Anwalt frei zu äußern. Meine Gedanken sind frei, denn man garantiert mir die Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses und die Ohnmacht des Gesetzes gegenüber meinen Gedanken, selbst wenn sie schuldhaft wären. Ich habe die Glaubensfreiheit, denn man garantiert mir Gewissensfreiheit, die Unabhängigkeit der Priester meiner Religion, die Möglichkeit, ihr jeglichen Einfluß und Wirkungskraft zu geben. Man garan­ tiert mir die Ausbildungsfreiheit, denn ich habe die Möglichkeit, Wissen weiterzugeben und zu erwerben, wo ich es will, in allen Zweigen der Wissenschaft und der Lehre. D er Verkehr ist frei, alle Behinderungen im Inneren sind verschwunden und der Schutz der Fremden ist gewährleistet. Beschwerden, Einsprüche, der Schrei des Schwachen sind möglich, denn ich kann das Petitionsrecht nach meinem Gutdünken benutzen. Somit bin ich wahrhaft ein freier und unangefochtener Bürger. «5 Man kann sagen, daß dies - und wir nähern uns allmählich dem zentralen Punkt unserer Untersuchungen - eine wunderbare D efinition der bürgerli­ chen Freiheit ist, aber selbst die Sozialisten haben, als sie ihre große politische Kampagne eröffneten, praktisch keine neuen Freiheitsforderungen mehr an die Verfassung gestellt. D ie Vereinsfreiheit, wie sie in der Verfassung garan­ tiert war, ließ ihnen breiten Raum für die Organisation von Syndikaten und Arbeitervereinigungen. D as Prinzip des »Rechts auf Arbeit« gehörte nicht zu ihren praktischen Forderungen. Sic kämpften um mehr Freiheit bei der Ausübung des Streikrechts - aber dies war eine Frage konkreter, durch das Strafgesetz geregelter Modalitäten, keine Prinzipienfrage. Die in der Verfassung von 1831 aufgeführten Freiheiten der Belgier schie­ nen heilig und auf ewig festgelegt zu sein. Ein Mitglied des Nationalkon­ gresses von 1830/31, der 1880 an den Feierlichkeiten zur fünfzigjährigen Unabhängigkeit teilnahm, sagte mit großem Ernst: »Sicher, die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Ideen; aber die vom Nationalkongreß prokla­ mierten fundamentalen Prinzipien ändern sich nicht. Sie sind die Wahrheit, und die Wahrheit ist unveränderlich. « 6 Einmal mehr lösten solche Worte vor 417 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

dem Parlament sowohl auf den Bänken der Katholiken als auch auf denen der Liberalen emotionale Zustimmung aus. D er D omherr D e Haerne sicherlich kein Liberaler - schrieb 1856: »D ie Verfassung ist für uns eine Bundeslade, die wir in unserem Innersten hüten, sie ist wahrhafter Ausdruck gegenwärtiger und künftiger Bedürfnisse der belgischen Nation, es wäre ein Verbrechen gegen das Vaterland, ihr Schaden zuzufügen, es wäre Vater­ mord«. 7 Wir müssen das eben Gesagte jedoch leicht korrigieren: während der untersuchten Zeitspanne waren die Liberalen zweimal Überbringer einer Freiheitsbotschaft, die sie allein bzw. authentisch verkörperten. D as erste Mal war dies in den Jahren vor der Revolution von 1830. Sowohl Katholiken als auch Liberale legten der Regierung König Wilhelms der Niederlande Forderungen nach mehr Freiheiten vor; aber nur die Liberalen bestanden von Anfang an mit Nachdruck auf einer wirklichen Pressefreiheit. D ie Katholi­ ken schlossen sich der Forderung recht schnell an, und die Einführung dieser Freiheit - die die Kirche ihrerseits übrigens recht wenig schätzte - wurde dann einstimmig im Nationalkongreß beschlossen. Beim zweiten Mal handelte es sich um eine Angelegenheit von weitaus größerer politischer Tragweite. Ungefähr zwischen 1860 und 1880 zeichnete sich in mehreren katholischen belgischen Zeitungen und auch bei einem Teil des Klerus eine deutliche »ultramontanistische« Haltung ab. D er Begriff »Ultramontanismus« hatte in Belgien eine andere Bedeutung als in den übrigen Ländern, in denen er angewendet wurde. D ie belgischen »Ultra­ montanen« standen unter dem Einfluß von Pius IX. und seinem Syllabus, und unter dem Louis Veuillots, eines in manchen katholischen Kreisen Belgiens sehr bewunderten Lehrmeisters. Sie griffen die Freiheiten an, da sie nach ihrer Ansicht den unverzeihlichen Fehler begingen, sowohl den Irrtum als auch die Wahrheit zu schützen. D iese oft sehr heftigen Angriffe waren mit für die Zukunft bedrohlichen Aussprüchen verbunden. Eine ultramon­ tane Zeitung schrieb: »D ie Aufgabe eines Gesetzgebers, der sich den Segen Gottes verdienen wolle, werde es sein, der heiligen Kirche ihre Rechte und Privilegien und der Lüge ihre Ketten zu geben.«8 Und weiter: »Unsere Gegner haben alle Freiheiten: Pressefreiheit, Freiheit der Lehre, Religions­ freiheit, Vereinsfreiheit; mögen sie sie so lange behalten, bis wir das Recht haben, durch eine revidierte Verfassung diesen Freiheiten den Stachel zu nehmen.«9 Solche Angriffe wurden jedoch von fast allen verantwortlichen katholischen Politikern heftig zurückgewiesen. Es gab in dieser Hinsicht eine tiefe Kluft zwischen der Presse, oder zumindest eines gewichtigen Teils der kirchlich gebundenen Presse, und den politischen Führern. 1864 zitierte der Liberale Frère-Orban vor der Kammer diese ultramontanen Lehren; als er dann den Mitgliedern der Rechten zugestand, daß sie ohne Zweifel mehrheitlich diese Lehren ablehnten, erhob sich auf der Rechten ein einziger Schrei: »Alle, Alle!« 10 Ein Veteran der katholischen Partei sagte 1878 vor der Kammer über diese - anonyme - Broschüre, aus der unser zweites ultra418 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

montanes Zitat stammt: »D ies ist das Werk eines Verrückten! Mit dieser Broschüre in der Hand kann sich der Autor in einem Irrenhaus melden, und er kann sicher sein, daß man ihn dort behalten wird, auch ohne ärztliche Bescheinigung und ohne offizielle Einweisung.« 11 D iese parlamentarische Rechte proklamierte ihre Anbindung an die Verfassung, und als man ihr den Syllabus entgegenhielt, berief sie sich auf den Unterschied zwischen These und Hypothese. Aber diese Unterscheidung stieß bei den Linken auf großen Argwohn. Man mißtraute ihr - wenn auch sicherlich zu Unrecht - oder man gab vor, an der Verfassungstreue der Katholiken zu zweifeln. D ie Liberalen behaupte­ ten, das einzig wirksame Bollwerk gegen die ultramontane Gefahr zu sein. Diese ihre Rolle als alleiniger Verfechter aller Freiheiten fand jedoch ihr Ende, als Léo XIII., Nachfolger von Papst Pius IX., die katholische belgi­ sche Presse aufforderte, ihre Angriffe auf die Verfassung einzustellen, was diese dann auch tat. Die besondere Berufung der liberalen Partei Belgiens lag auch nicht darin, für eine Ausweitung der politischen D emokratie zu kämpfen, konkret also für eine Erweiterung des Wahlrechts Wie wir bereits festgestellt haben, vertraten die Liberalen in diesem Punkt, vor allem im letzten D rittel des 19. Jahrhunderts, äußerst unterschiedliche Meinungen. D iese Kontroverse stellte jedoch keineswegs das Prinzip der Demokratie in Frage. D ie Doktri­ näre, Verfechter eines eingeschränkten Wahlrechts, hielten sich selber für die besten Verteidiger einer echten Demokratie. Sie hatten Angst, daß das Land einmal dem ausgeliefert sein würde, was einer von ihnen »die Herrschaft einer unwissenden und blinden Menge« nannte.12 Schon 1846, anläßlich des liberalen Kongresses, rief Frère-Orban, der der berühmteste D oktrinär des 19. Jahrhunderts werden sollte, aus: »Viele der Zwanzig-Gulden-Wähler (d. h. die neuen Wähler, die auf Grund der Senkung des Wahlzensus zu den Urnen gehen konnten) bieten keine hinreichenden Garantien für eine auf Einsicht und Unabhängigkeit beruhende Ordnung; für zwanzig Gulden werdet ihr nicht Wähler, sondern D iener haben, Leute, die unter der Herr­ schaft anderer stehen, Männer, die nicht genügend Einsicht haben und nicht unabhängig genug sind, sich den Einflüssen ihrer Umwelt zu entziehen.«13 Frère-Orban vertrat diese These bis zu seinem Lebensende, wenn auch nicht immer mit der gleichen Härte und oft mit anderen Formulierungen. 1884 schrieb ein für die damalige Zeit repräsentativer D oktrinär, er sehe die Gefahr darin, daß »offene und freie Wahlen in einer Flut ignoranter und fanatisierter Wähler untergehen«.14 »Fanatisiert« bedeutet hier, daß sieblind wählen würden, was der Klerus ihnen vorschrieb. D ies wäre dann »die sicherste Grundlage für den Despotismus der Kirche«.15 Man berief sich hier auf geschichtliche Erfahrungen: »In der Neuzeit wie in der Antike ist der Pöbel stets die Stütze der Aristokratie und des Priestertums gewesen.« 16 Die gleiche Lehre zogen die Doktrinäre aus der Gegenwart: Konnte man nicht in Frankreich während des Zweiten Kaiserreichs beobachten, daß das allge419 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

meine Wahlrecht zu einer Stütze des »Cäsarismus« wurde? Eine solche Argumentation ließ die Progressisten nicht unbeeindruckt: Viele wollten zwar das Wahlrecht erweitern, fürchteten jedoch die Folgen einer generellen Ausweitung und wollten deshalb das Wahlrecht an Mindestanforderungen knüpfen. Aber ihr Wunsch nach einer möglichst breit vom Volk getragenen Demokratie war groß. Paul Janson, der Beredsamste und Glühendste unter den Progressisten, eröffnete 1892 sein Plädoyer zugunsten des allgemeinen Wahlrechts vor der noch immer zensitären und somit bürgerlichen Kammer mit den berühmt gewordenen Worten: »Meine Herren, erlauben Sie mir, Ihnen meinen Klienten vorzustellen: Es ist das Volk!« Und Janson fuhr fort, dieses Volk, diese Arbeiter zu verherrlichen, denen zu Unrecht das funda­ mentalste politische Recht, das Wahlrecht, vorenthalten werde. »Alle die von ihrer Hände Arbeit leben, haben einen unanfechtbaren Anspruch auf das von ihnen geforderte Recht, im eigenen Vaterland nicht länger Ausländer zu sein.«17 Man sieht, welch tiefe Kluft zwischen den Liberalen bestand. Die Liberalen zeichneten sich in Belgien auch nicht durch eine besonders glühende Verteidigung liberaler Wirtschaftsprinzipien aus. D iese wurden durchweg anerkannt in Belgien18 - auch wenn es Unterschiede gab, die aufzuzählen hier zu lange dauern würde, wenngleich sie nicht unwesentlich waren - und manches Mal sind die Katholiken hier den Liberalen überlegen. Einige der überzeugendsten Apologien gegen Staatsintervention stammen aus dem Munde von Katholiken. Einem Redner, der beklagte, daß Belgien das einzige Land sei, das keine Gesetze zugunsten der in den Minen arbeiten­ den Frauen und Kinder erließ, antwortete Charles Woeste 1878 vor der Kammer: »Na und! Was das ehrenwerte Mitglied hier in gewisser Weise als eine Schande für Belgien darstellt, ist nach meiner Ansicht für dieses Land ein Ruhmesblatt. Was die Achtung individueller Freiheit und individueller Entschlüsse betrifft, muß Belgien Vorbild für ganz Europa sein.« 19 Woeste, der innerhalb der katholischen Partei eine bedeutende Stellung innehatte, erklärte im Namen der »Mitglieder der Rechten« und der »meisten Linken« zu sprechen, als er mit größtem Nachdruck äußerte: »Wir können einer Reglementierung der Arbeit nicht zustimmen, denn dann stünden wir den Forderungen der Arbeiter, die sich auf die Not ihrer Angehörigen, auf die Arbeit und das Brot bezichen, machtlos gegenüber.« 20 »Jede Reglementie­ rung der Arbeit ist ein Angriff auf die individuelle Freiheit« sagte 1869 Frère­ Orban (seine Worte bezogen sich jedoch nicht auf die Kinderarbeit).21 Einige seiner politischen Freunde widersprachen dieser Ansicht - es waren nur wenige-, und es war kein einziger Katholik dabei. Worin liegt nun die Besonderheit des belgischen Liberalismus, der sich auch vom Liberalismus im gesamten übrigen Europa so grundlegend unter­ scheidet? Eine Antwort auf diese Frage stammt aus der Feder des Außenmi­ nisters, der im Februar 1848 die diplomatischen Repräsentanten Belgiens aufforderte, ihren ausländischen Gesprächspartnern die Besonderheiten der belgischen Politik folgendermaßen zu erklären: »D ie liberale Partei ist hier 420 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

eine Partei der Unabhängigkeit der bürgerlichen Gewalt. «22 Stark vereinfa­ chend gesagt bedeutet dies: sie ist eine antiklerikale Partei. Und darin liegt ihre Besonderheit. Wir werden darauf zurückkommen. Zweite Besonderheit: Ausländer, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­ derts nach Belgien kamen, standen staunend vor einem in Europa einmali­ gen Schauspiel: politische Parteien, die ständig laufenden Maschinen gli­ chen, mit einem ständig anwesenden Personal. Eine der ersten war die liberale Maschine, aber seit den siebziger Jahren hatte die katholische Maschine die gleiche Leistung, manchmal sogar eine stärkere. Die liberale Partei war nicht von Anfang an eine dauerhaft organisierte Partei. Erst als sich eine klare liberale Tendenz abzuzeichnen begann, d. h. zur Zeit des Königreichs der Vereinigten Niederlande, sprach man von einer liberalen »Partei«. Aber dieser Begriff »Partei« bezeichnete genaugenom­ men nicht mehr als eine Meinungstendenz. Auch in den ersten Jahren der Unabhängigkeit Belgiens änderte sich an dieser Situation kaum etwas, außer daß man von Zeit zu Zeit liberale Wahlkomitees zur Unterstützung der einzelnen Kandidaten entstehen sah. Aber solche Komitees gab es nur wäh­ rend der Wahlen. Es war der Brüsseler Liberale Théodore Verhaegen, der schließlich eine fundamentale Neuerung einführte. Er hatte schon einmal eine wichtige Rolle gespielt: 1834 gab er den Anstoß zur Gründung der Freien Universität von Brüssel. D iese von einem liberalen Geist getragene Universität wurde als Gegenpol zur katholischen Universität von Louvain gegründet, da man befürchtete, daß diese eine Monopolstellung im Hochschulbereich erhalten würde. Nach 1840 ergriff Verhaegen eine weitere wichtige Initiative: Er führte in Brüssel das System des ständigen politischen Vereins ein. D essen Aufgabe war keineswegs die D iskussion politischer Programme - ganz im Gegenteil, Verhaegen hielt die Diskussion von Pro­ grammen für äußerst gefährlich, und er schaffte sie ab, da sie nur zur Spaltung unter den Mitgliedern führen würden. D ie Funktion des Vereins bezog sich ausschließlich auf die Wahl: Auswahl der Kandidaten bei den verschiedenen Wahlen (Gemeinden, Provinzen, nationales Parlament), Organisation der Propaganda, die Wähler ständig in Atem halten. D ieses von Verhaegen in Brüssel eingeführte Modell wurde bald auch von anderen Kreisen übernommen-der Kreis entsprach dem Wahlbezirk bei Parlaments­ wahlen, er war der Rahmen für die wichtigsten Vereine —, und auf dieser Grundlage wurde dann 1846 im Rathaus zu Brüssel der erste liberale Kongreß von Belgien einberufen. Oft wird behauptet, daß die liberale Partei moderner Prägung auf dem Kongreß von 1846 »gegründet« wurde. D iese Aussage ist in zweierlei Hin­ sicht irreführend. Sie verschleiert die Tatsache, daß die eigentlichen »Grün­ dungen«, d.h. die Einführung der ständigen liberalen Vereine, in vielen Fällen schon vor dem Kongreß stattgefunden haben. Auf der. anderen Seite könnte man auf Grund dieser Formulierung annehmen; daß die Partei nun seit 1846 zentral organisiert wurde. Dies war jedoch keineswegs der Fall: vor 421 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

1846 und auch in den Jahrzehnten danach wurde praktisch nichts auf zentra­ ler Ebene entschieden. D ie »liberale Partei« bestand im wesentlichen aus autonomen Kreisvereinen. Dennoch war das Jahr 1846 von entscheidender Bedeutung. D er liberale Kongreß hat im ganzen Land die Bildung liberaler Vereine ausgelöst. Und er verabschiedete das »Programm des belgischen Liberalismus«, das für alle Liberalen gültig wurde. Ein kurzes Programm, dessen wesentlicher Artikel aus sechs Worten bestand: »L'indépendance réelle du pouvoir civil«. Das Geflecht dieser Vereine verlieh dem belgischen Liberalismus inner­ halb Europas eine Sonderstellung. In einem Schreiben an Adolphe Thiers beklagte sich Léopold I. 1864 sehr bitter über diese Entwicklung. Er schrieb: »Man muß wissen, daß wir hier in der Tat von ständigen (vom König selbst unterstrichen) liberalen Vereinen regiert werden. Was hätten Sic in Frank­ reich mit solchen ständigen Klubs getan?« Leopold I. fügte hinzu: »Ich habe diese Gefahr schon 1831 erkannt, schon bevor ich annahm (die belgische Krone), und ich war nahe daran, eben aus diesem Grunde abzulehnen.«23 Leopold I., der ein politischer Kopf war, hatte sehr wohl erkannt, daß die Vereinsfreiheit eine der fundamentalen und folgenschwersten Neuerungen der Verfassung von 1831 war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewannen die politischen Ver­ eine immer mehr an Einfluß, weil sie die Überwachung der Wahllisten übernahmen, wobei sie peinlich genau vorgingen. Sie achteten darauf, daß alle der Partei Nahestehenden, welche die Wahlbedingungen erfüllten, auch in den Listen eingeschrieben waren. (D en Wahlbeauftragten gelang es, die Meinung der großen Mehrheit der Bürger zu erfassen, wobei sie zwischen den »Sicheren«, den »Gegnern« und den »Zweiflern« unterschieden.) Waren nicht alle Bedingungen ganz erfüllt, lagen sie zum Beispiel unter dem vorgeschriebenen Steuersatz, so zeigte man ihnen Mittel und Wege, wie dieser zu erreichen war, und oft übernahm der politische Verein selber die Zahlung dieses Steuerzuschlages. D ie Wähler, die für die gegnerische Partei stimmten, wurden geradezu verfolgt: Man suchte nach Mitteln und Wegen, um sie aus den Listen streichen zu lassen; alles was sie zu Wählern machte, versuchte man anzufechten, so die Steuern, die sie zahlten, ihren Wohnsitz, ihre Nationalität. All dies führte zu einer Unzahl von Klagen, und diese zahllosen Prozesse entzweiten die politischen Vereine, da jeder Verein »seine« vom gegnerischen Verein angegriffenen Wähler verteidigte. Zwi­ schen 1882 und 1892 lagen dem Appellationsgericht des Landes 145000 Streitfälle vor. 24 Joseph Barthélémy bemerkte sehr treffend: »D ie Hauptauf­ gabe der Politik unter dem Zensuswahlrecht war die Überprüfung der Wahllisten.«25 Beamte mußten eingestellt werden. Für die D urchführung der Prozesse waren spezialisierte Anwälte erforderlich, die sich auf Kosten der Vereine oft nur mit solchen Angelegenheiten befaßten. So wurde eine in Europa einmalige politische Maschinerie in Gang gesetzt, die, um es noch einmal hervorzuheben, allein auf die Liberalen zurückzuführen ist. 422 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Dritte Besonderheit: Eine weitere Besonderheit, die die Besucher Belgiens während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erstaunen setzte, war die Intensität, mit der dieser politische Kampf geführt wurde, und vor allem die Tatsache, daß er das gesamte gesellschaftliche Leben beeinflußte. Man fragte sich einmal, wie das Land unter solchen Bedingungen überhaupt überleben konnte. »Als ich durch das Land reiste«, schrieb 1877 ein französischer Journalist, »konnte ich überall die Symptome dieser leidenschaftlichen Aus­ brüche beobachten, welche die Nation in zwei feindliche Völker spalteten, die nur darauf bedacht waren, sich gegenseitig zu verschlingen«.26 D iese beiden verfeindeten Völker waren nicht - wie man vermuten könnte - die Flamen und Wallonen, sondern die Katholiken und die Liberalen. Ein Beob­ achter, selbst Belgier, schrieb 1882: »Belgien scheint in zwei feindliche Lager gespalten, in zwei nebeneinander existierende Gesellschaften, von denen jede sich selber zu genügen und die andere zu ignorieren scheint - außer, daß sie sich verachten und bekämpfen. Nur in einigen großen Städten gibt es Gruppen, die von dieser Bewegung noch nicht erfaßt sind. Ansonsten hat jedes Lager seine eigene Zeitung, seine eigenen Zirkel und Schulen, seine eigenen Armen, seine Lieferanten und Kunden, die nichts mit der geg­ nerischen Partei zu tun haben wollen. Selbst die Familien werden dadurch entzweit und in feindliche Lager gespalten.«27 Oft besuchten Liberale, die weiterhin zur Kirche gingen - und es waren noch sehr viele, in kleinen Städten und auf dem Lande waren sie oft die große Mehrheit - andere Gottesdienste als die Katholiken: sehr früh am Sonntagmorgen fanden »libe­ rale Messen« statt; die Anhänger der Kirche und der katholischen Partei dagegen gingen zur großen 11-Uhr-Mcsse. D ie Händler waren katalogi­ siert. In den Zeitungen von Anvers wurde 1874 folgende Mitteilung veröf­ fentlicht: »D as Zentralkomitee des liberalen Vereins hat der Bitte vieler unserer politischen Freunde entsprochen und die Namen aller Lieferanten und Handwerker, die sich zu liberalen Ansichten bekennen, in einem Ver­ zeichnis aufgelistet, um sie denen, die die gleiche politische Meinung vertre­ ten, zu empfehlen. Unsere politischen Freunde können dieses Verzeichnis in den Geschäftsstellen des liberalen Vereins einsehen, « 28 Einer meiner Profes­ soren erzählte mir, wie er um 1880 als Kind in einer kleinen flämischen Stadt von seinen Eltern, guten Liberalen, ausgeschimpft wurde, weil er unvor­ sichtigerweise Bonbons in einem »katholischen« Geschäft gekauft hatte. Diese Besonderheit traf zwar für beide Parteien zu, für die katholische und für die liberale Partei, aber sie gab dem belgischen Liberalismus gegenüber dem europäischen ein unverwechselbares Gepräge: die Partei war die Ursa­ che für eine Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft, versehen mit dem Etikett Liberalismus. Ein vergleichbares Phänomen tauchte in Europa erst wieder mit der Entwicklung des Sozialismus auf. Nachdem wir den belgischen Liberalismus kurz charakterisiert haben, kommen wir nun zu der Hauptaufgabe: Was verbindet diesen Liberalismus mit der Bourgeoisie, der bürgerlichen Klasse, dem bürgerlichen D enken?29 423 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Lassen Sie uns dieses Problem unter drei Gesichtspunkten angehen: die Zusammensetzung der Partei und wie sie sich auf die Interessen, die sie vertrat, auswirkte; ihre politische Philosophie; ihre Politik insgesamt. Was die Zusammensetzung betrifft, hier zunächst einige Zitate. 1840 schrieb ein Liberaler: »D ie liberale Meinung hat die Hälfte der Abgeordne­ tenkammer, die Mehrheit fast aller Ratsversammlungen in den Provinzen und in den großen Städten, die Mehrheit bzw. eine wachsende Minderheit in den Kleinstädten gewonnen. Fast alle Kader der Armee sind Anhänger dieser liberalen Ansicht. Zu ihr bekennt sich die große Mehrheit unter den Anwälten, den Richtern, in der Verwaltung, der Großindustrie, unter den Schriftstellern, in der Wissenschaft und Kunst, und vor allem gilt das für die Jugend der einflußreichen Mittelklassen, welche die Hauptkraft unserer belgischen Gesellschaft sind. « 30 Ebenfalls aus dem Jahr 1840, jedoch von einem Katholiken, stammt das folgende Zitat: »D ie liberale Bevölkerung lebt fast ausschließlich in den Städten. Sie besteht aus Ungläubigen, die keine religiösen Pflichten aus­ üben, und aus unterschiedlichen Schattierungen sogenannter Katholiken, denen die Religion nichts bedeutet. Es handelt sich um eine sehr rege Bevölkerungsgruppierung, um Geschäftsleute, Advokaten, Richter, Schriftsteller, vor allem Journalisten, um Beamte, hohe und niedere, um die halbgebildete Jugend, Finanziers, Industrielle, Offiziere, usw.« Für die Katholiken kommt die Bedrohung demnach von dieser Art »bürgerlicher Aristokratie«.31 Hier nun die Ansicht eines ausländischen Diplomaten aus dem Jahre 1847, dem Geschäftsträger Sardiniens in Brüssel: »D ie Katholiken haben die Tra­ ditionen auf ihrer Seite, den hohen Adel, die Verbindungen mit den französi­ schen Legitimisten und den Einfluß auf dem Lande, den sie durch ihre Besitzungen und durch das Wirken des hohen Klerus unter den Massen erworben haben. D ie Liberalen haben die Industriellen und die Banken auf ihrer Seite, sie haben Anhänger in allen großen Städten, in der Anwaltschaft und bei einem Großteil der Universitäten und des Adels. «32 1864 analysierte ein anderer D iplomat, ein Franzose, die Situation wie folgt: »D er Handel, die Industrie, die Anwaltschaft, die freien Berufe führen (der liberalen Partei) die meisten und treuesten Mitglieder zu; die großen Zentren sind ihre strategischen Stützpunkte.«33 Aus dem Jahre 1877 stammt die Äußerung eines Katholiken, Charles Woeste: »Neben der Unterstützung, welche die liberale Partei hier und da von den Großgrundbesitzern erfährt, stehen ihr der Großhandel, die Groß­ industrie und die Freimaurer zur Seite. Außerdem kann sie auf die von Leidenschaft getriebenen Strömungen in den großen Städten zählen«.34 In all diesen Analysen liegt eine offensichtliche Konvergenz. D ie für uns interessanteste Bemerkung ist sicherlich die des sardischen Geschäftsträgers über den Adel. Er unterscheidet zwischen »hohem Adel«, der katholisch ist und dem Adel ganz allgemein, d. h. also dem Adel, der nicht zum hohen 424 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Adel gezählt wird, der »zum größten Teil« liberal eingestellt sei. Diese letzte Behauptung ist zweifellos übertrieben, wenn nicht sogar falsch, und den­ noch gab es um 1840/50 unter den Liberalen eine nicht unbedeutende Zahl von Adligen, die im Laufe der Zeit jedoch immer geringer wurde. 1857 ordnete Frère-Orban den Adel kurzerhand dem gegnerischen Lager zu. Vor der Kammer rief er aus: »Die alteingesessene Aristokratie in diesem Land, zu der von Zeit zu Zeit immer noch neue Adlige dazustoßen, da sie dem Beispiel dieser Aristokratie folgen und so den Anschein erwecken wollen, aus einer alten Familie zu stammen, dieses ganze beachtliche und mächtige Potential ist, von einigen Ausnahmen abgesehen, Helfershelfer des Klerus. D ie Aristokratie hat vor langer Zeit einen Fehler begangen, der sich noch immer nachteilig für sie auswirkt: sie hat ihr politisches Schicksal an das politische Schicksal des Klerus gekettet. Nirgendwo auf dem ganzen Kontinent ist sie dem Beispiel der intelligenten englischen Aristokratie gefolgt, die dadurch, daß sie sich an den Interessen des Volkes orientiert hat, seit 150 Jahren die Führer der Partei des Fortschritts und der Freiheit stellt.« 35 Zwanzig Jahre später beschrieb ein satirischer Journalist, überspitzt, wie die Satire nun einmal ist, einen liberalen Adligen als ein seltsames Tier: »Ein adliger Liberaler flößt mir zunächst etwas Mißtrauen ein. Ich gebe zu, ich habe Ehrliche getroffen, aber ich habe auch Kälber mit zwei Köpfen gese­ hen, was mich aber nicht daran hindert zu glauben, daß ein Kalb nur einen Kopf haben sollte.« 36 Aber nicht nur durch solche persönlichen Aussagen läßt sich dieses Phänomen darstellen, auch eine zahlenmäßige Annäherung ist möglich. Ausgangspunkt dafür bildet die Zusammensetzung des Senats. Der Senat war vor 1893 eine recht ungewöhnliche Institution. D ie Senato­ ren wurden nach dem gleichen Wahlverfahren gewählt wie die Abgeordne­ ten, doch das passive Wahlrecht war ganz anders: um in den Senat gewählt werden zu können, mußte man einen wesentlich höheren Zensus erreichen als die Wähler. Im allgemeinen konnte nur, wer eine hohe Grundsteuer bezahlen mußte, also die Großgrundbesitzer, diesen Betrag erreichen. D a der Großgrundbesitz aber in starkem Maße dem Adel gehörte, lag der Anteil der Adligen, die in den Senat gewählt werden konnten, sehr hoch. 1842 stellten sie 47% aller Wählbaren. Fünfzig Jahre später, 1892, betrug ihr Anteil noch immer 38%, obwohl das bürgerliche Vermögen inzwischen angestiegen war. Angesichts dieser Position unter den Wählbaren war natürlich auch die Adelsquote bei den Senatoren recht beachtlich. Uns interessiert vor allem die Entwicklung bei den Liberalen.37 1848 kamen auf 34 liberale Senatoren sie bildeten die Mehrheit in diesem Gremium - nicht weniger als 18 Adlige, gegenüber 16 Nichtadligen. In Liège und Huy gab es nur adlige Senatoren: Baron de Waha, Baron de Potesta, Baron de Chestret de Haneffe, Baron de Tornaco. In Brüssel gehörten von den fünf liberalen Senatoren zwei dem Adel an. D ie beiden Senatoren aus Limburg waren liberal und adlig. Aber schon 1863 war eine deutliche Abnahme festzustellen: auf 33 liberale Senato425 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

ren kamen nur noch 12 Adlige gegenüber 21 Nichtadligen. 1878 fielen auf 36 liberale Senatoren 6 Adlige gegenüber 30 Nichtadligen. Und 1892 war schließlich der tiefste Punkt erreicht: nur 3 Adlige unter den 30 liberalen Senatoren. Es waren dies große Namen des belgischen Liberalismus, die sich ständig tapfer dem Kampf stellten: Alfred de Brouckère, Graf Goblet d'Al­ viella, Baron de Selys-Longchamps. Auf katholischer Seite verlief die Entwicklung im Senat anders: der Adel konnte seine Vormachtstellung beibehalten - 1848 kamen 15 Adlige auf 17 katholische Senatoren; 1863 22 auf 25; 1878 21 auf 28; 1892 dann 36 auf 46. Hieraus läßt sich höchstens eine gewisse Stärkung des bürgerlichen Anteils feststellen. Vergleichbares läßt sich bei den Freimaurern beobachten. Nach 1830 lebte die Mehrheit in einer immer engeren Symbiose mit der liberalen Partei. Lange Zeit wurde eine beachtliche Anzahl von Adligen aufgenommen. Dieser Zufluß versiegte dann jedoch. Zwischen 1845 und 1855 nahm die Hauptloge in Brüssel, Amis Philanthropes, nur noch 7 Adlige gegenüber 77 Nichtadligen auf. Zwischen 1855 und 1865 kamen auf die 253 Neu­ aufnahmen nur noch 6 Adlige und in dem folgenden Jahrzehnt auf 365 nur noch 2. 38 Warum zog sich der Adel aus den Reihen der Liberalen zurück? Warum verließ er die Freimaurer? D ie Antwort ist einfach: auf Grund des Drucks von seiten der Kirche. Im D ezember 1837 verdammten die belgischen Bischöfe die Freimaurerei unwiderruflich. Sie erklärten, wer sich weiterhin zu den Freimaurern bekenne, sei »der Absolution unwürdig«. 39 D ie Ver­ dammung des Liberalismus wurde um so härter, je mehr die Liberalen eine Politik betrieben, die von der Kirche als Verletzung ihrer Rechte und der Religion beurteilt wurde. Konnte man unter solchen Bedingungen in einem Milieu, wie dem des Adels, in dem die Treue zur Kirche in gewisser Weise Teil der sozialen Verhältnisse war, einfach Liberaler oder Freimaurer blei­ ben? Es gab eine ganze Reihe von Familien, die, obwohl sie innerhalb der liberalen Partei eine große Rolle gespielt haben, ganz und endgültig zur katholischen Partei übergingen. Kommen wir auf die erwähnten Zitate zurück. D ie Texte von 1840 erwähnen die »Kader der Armee«, die »Offiziere«. D ies ist für diese Zeit sehr charakteristisch. Es gab damals zahlreiche militärische Logen, die zwar mehr der Zerstreuung dienten, in denen aber ein liberaler Geist herrschte.40 Diese militärischen Logen trugen übrigens 1834 nicht unerheblich zur Grün­ dung der Freien Universität von Brüssel bei. Später setzte sich der Liberalis­ mus im Offizierskorps völlig durch - ein Korps, in dem der Adel seltsamer­ weise nur sehr selten zu finden war: Offensichtlich gab es die Tradition des »Adels des D egens« im Belgien des 19. Jahrhunderts nicht mehr.41 Aber diese Art von Liberalismus horte auf, sich auf eine so klare Weise zu erken­ nen zu geben. Die Zitate zeigen aber auch die dauerhaften Elemente unter den Kräften 426 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

des Liberalismus: die Anwaltschaft, die Industrie, die Banken, um nur drei zu nennen. Was hier besonders auffallt: in diesen und anderen Milieus, die der Liberalismus für sich gewann, erreichten die Liberalen immer nur eine dominierende, nie eine exklusive Position. In der Anwaltschaft? Obwohl in der Minderheit, gab es brillante und sehr einflußreiche katholische Anwälte, die innerhalb der katholischen Partei oft eine bedeutende Rolle spielten. In der Industrie? Selbst in so liberalen Städten wie Gent oder Verviers, den Zentren der Textilindustrie, gab es Großunternehmen, die fest in den Hän­ den von Katholiken waren. Im Bankwesen? Selbst in der Société Générale­ der Hauptbank des Landes - konnte man katholische D irektoren finden. Und was die sonstige Geschäftswelt betraf, so wurde eines der größten Unternehmensnetze im 19. Jahrhundert, das übrigens einen spektakulären Zusammenbruch erlebte, von dem Finanzier Langrand-D umonceau begründet, der besonders stark katholisch geprägt war. 42 . Es gab keinen Gesellschaftsbereich, der rein liberal oder rein katholisch war. D er Großgrundbesitz lag zwar zum größten Teil in den Händen von Katholiken, aber es gab auch liberale Großgrundbesitzer, vor allem unter den Nachkommen derer, die Nationalgüter gekauft hatten. In der Hesbaye, eine der reichen Agrarregionen, gehörten zahlreiche ausgedehnte Güter bürgerlichen Liberalen aus Liege oder Huy. 43 D ie Klagen während der Wahlen, Druck auf ihre Pächter auszuüben, bezogen sich sowohl auf liberale als auch auf katholische Großgrundbesitzer.44 Nur eine einzige Gruppe existierte in Belgien, die einem einzigen Lager zugehörte: der Klerus. Es gab nicht einen liberalen Priester. Was wir bis jetzt beschrieben haben, vermittelt uns das Bild einer bürgerli­ chen Partei. D er Begriff »bürgerliche Partei« veranlaßt uns jedoch zu drei äußerst wichtigen Bemerkungen. (1) D er Begriff »bürgerliche Partei« bedeutet hier nicht Klassenpartei in dem Sinne, wie dies später z. B. bei der P. O. B. der Fall war, die sich selber eine Klassenpartei nannte: die Partei der Arbeiterklasse. Bei den Liberalen gab es durchaus eine antiaristokratische Einstellung, wenn auch nur selten und vereinzelt. Ein typisches Beispiel hierfür war die Reaktion auf das Mißtrauensvotum des Senats gegen das Kabinett von Lebeau-Rogier im Jahre 1841. Dieses Kabinett nannte sich zwar »unionistisch«, d. h. über den Parteien stehend, doch in der Zusammensetzung war es durch und durch liberal. Von daher die Opposition vieler Katholiken, das Mißtrauensvotum des Senats. Man sah sich also einer zweiten vom Adel beherrschten Kammer gegenüber, die sich gegen eine Regierung stellte, die von der Mehrheit der ersten Kammer - sie wurde gewöhnlich als »Volksver­ sammlung« bezeichnet - getragen wurde. D ie Reaktion der Liberalen ließ nicht lange auf sich warten. Hören wir die bissigen Bemerkungen in der Zeitung »L'Observateur«: »Es gibt hier einige Siebzigjährige aus adligem Stand, die sich von jenen Standesgenossen, welche die Zeit verstehen, lossagen und damit das Feuer sozialer Leidenschaften entfachen. Vom Alter 427 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

zitternde Hände schlagen der jungen und starken Bourgeoisie ins Gesicht, dieser Klasse, in der die gesamte soziale Kraft brodelt, der alle Talente und fortschrittlich Gesinnten zuströmen, zu der Industrie und Handel und alles, was Macht und Zukunft in dieser Gesellschaft hat, zählt. Der Schatten Karls X. schwebt über der belgischen Hauptstadt. «45 Solche Außerungen sind jedoch nicht Ausdruck einer tiefgründigen Hal­ tung; sie sind allein auf diesen Zwischenfall zurückzuführen. Zentral ist für uns jedoch: Wenngleich diese Partei offensichtlich von der Bourgeoisie beherrscht war, dringt sie doch bis tief in die Volksschicht der Gesellschaft vor. Zunächst jedoch noch ein Wort zu dem Begriff »Bourgeoisie«, der offen­ bar eine breite soziale Skala abdeckt. Die »bourgeoise Aristokratie«, von der in einem der Zitate von 1840 gesprochen wird, repräsentierte nur eine kleine Minderheit. 1850 z. B. stellten die drei Bereiche Anwaltschaft, Industrie und Bankwesen kaum mehr als 6% der Zensuswähler.46 Neben der Großbour­ geoisie und den wohlhabenden Bürgern gab es vor allem in den Städten ein Kleinbürgertum, zu dem hauptsächlich mittlere und kleinere Händler zähl­ ten. Sie verfugten recht häufig über das Wahlrecht und hatten dadurch Einfluß auf das politische Leben; die Mehrheit neigte den Liberalen zu, vor allem in den großen Städten. Zu ihren Wählern gehörten auch Handwerker, die zwischen dem Kleinbürgertum und der Volksklasse standen. D ie Wäh­ lerschaft ging also weit über die Bourgeoisie hinaus. Wie schon erwähnt, lag der Anteil der Zensuswähler an der Gesamtbevöl­ kerung bei ca. 2%. 47 Ein niedriger Wert, aber immerhin repräsentierte er ungefähr 7% der männlichen Erwachsenen. Auf dem Lande gehörten der Wählerschaft eine große Anzahl von Bauern an, die wohlhabend genug waren, den Zensus zu erreichen, aber gewiß nicht in die Reihen der Bour­ geoisie vorgedrungen sind. 1850 lag der Anteil der Landwirte bei ungefähr 30%. 48 Es gab noch eine weitere wichtige Kategorie von Wählern außerhalb des Bürgertums, die Schankwirte. D er Ausschank war mit einer relativ hohen Steuer belegt. D iese Steuer, die im Prinzip Strafcharakter hatte, ermöglichte den Schankwirten den Zugang zur Wählerschaft, wo sie später eine bedeutende Rolle spielten: um 1870 war einer von 8 Wählern ein Schankwirt. D ies wiederum kam der liberalen Partei zugute, denn die meisten Wirte standen in dem Ruf Liberale zu sein, und dies sicherlich zu Recht. Ein katholischer Abgeordneter machte daraus ein böses Wortspiel, indem er erklärte, daß die »baes« (das flämische Wort für »patrons«) der Schenken die Basis der liberalen Macht seien. Als 1870 die Katholiken an die Macht kamen, senkten sie den Anteil der Wirte an den Wählern, indem sie die Getränkesteuer änderten. Das bisher Skizzierte bezieht sich allein auf die Wählerschaft in den Parla­ mentswahlen. D ie Wählerschaft zu den Provinz- und vor allem den Kom­ munalkörperschaften war bedeutend größer, da hier der Wahlzins niedriger lag. 1875/76 wählten in den Parlamentswahlen 114000 Männer, in den 428 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Provinzwahlen 225000 und bei den Kommunalwahlen 359000. D adurch konnten die Parteien, die den politischen Kampf organisierten, noch tiefer in die Volksschichten vordringen. Es wäre sicherlich ein schwerer Irrtum, diesen politischen Kampf nur auf den »pays légal« zu beziehen, d. h. auf die Wähler. D ie liberale Partei und ebenso die katholische hatten auch Anhänger unter denen, die von den Zeitgenossen »die Massen« genannt wurden. Diese waren zum Teil ebenfalls von den leidenschaftlichen Verwicklungen, die die Wählerschaft teilten, erfaßt. »D es Wahlrechts beraubt«, heißt es in einem Pamphlet, »von der Politik ausgeschlossen, haben sie dennoch den unbesiegbaren Wunsch, sich mit Öffentlichen Angelegenheiten zu befassen, sie ergreifen jede sich bie­ tende Möglichkeit, sie stürzen sich in dieses wilde Getümmel, stoßen Ver­ wünschungen aus und verteilen Schläge auf äußerst abstoßende Weise (d. h. abstoßender als im ›pays réel‹)«. 49 Diese vom Volk ausgestoßenen Verwün­ schungen - die Schläge waren glücklicherweise seltener - waren ebenfalls ein wichtiger Teil des belgischen Liberalismus. (2) Im Februar 1848, einige Tage vor seiner Ausweisung aus Belgien, rief Karl Marx auf einer politischen Versammlung in französischer Sprache aus: »Ici, en Belgique, la lutte du libéralisme et du catholicisme est-elle autre chose que la lutte du capital industriel et de la grande propriété foncière?«50 Die Bemerkung ist geistreich, sie paßt zu einem Mann, der gekommen warnach Brüssel übrigens -, um den historischen Materialismus erstrahlen zu lassen, und dennoch ist sie absolut falsch. Das von Marx angesprochene wirtschaftliche Gegensatzpaar erklärt in keiner Weise die Genese des Gegensatzes katholisch-liberal. Und es erklärt in keiner Weise, was dieser Gegensatz im Jahr 1848, noch was er in späteren Jahren bedeutete. Um die Mitte des Jahrhunderts spielten die Vertreter des Industriekapitals in den Reihen der Liberalen sicherlich eine wichtige Rolle, aber sie waren keineswegs tonangebend. Nehmen wir einen Mann, wie Théodore Verhaegen, der den Liberalismus und auch die Bourgeoisie ver­ körperte. Wir kennen die Rolle, die er innerhalb der liberalen Partei spielte. Keiner verkörperte die triumphierende Bourgeoisie besser als er. Kurz nach seinem Tod schrieb ein Kommentator: »Hätte Sicyès, der wollte, daß der dritte Stand alles sei, Verhaegen gekannt, so hätte er ausgerufen: Exegi monumentum!«51 Die Statue von Verhaegen, die vor der Brüsseler Univer­ sität steht, kann mit dem Portrait des Monsieur Bertin von Ingres rivalisie­ ren, wenn es darum geht, späteren Generationen ein lebendiges Bild des Bourgeois, Herr seines Jahrhunderts, zu hinterlassen. Verhaegen war sehr reich und trotzdem rief er im März 1839 vor der Kammer aus: »Mir ist jede Agiotage, jede Börsenspekulation fremd, und ich versichere Sie, daß ich keine einzige Industrieaktie besitze.«52 Sein Vermögen bestand hauptsächlich in Grundbesitz.53 Zwar wies Verhaegen in seiner Rede im März 1839 auf die Notwendigkeit hin, die Industrie, »die kraftspendende Quelle des Reichtums der Nation« zu 429 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

unterstützen, aber weder er noch andere liberale Bürger, die wesentlich dazu beitrugen, der Partei Gestalt zu verleihen - vor allem die Advokaten - waren ausgesprochene Repräsentanten eines Industriekapitalismus. Vor allem waren sie keineswegs dazu bereit - und dies aus gutem Grund -, den Großgrundbesitz preiszugeben. Was sich feststellen läßt ist folgendes: sobald im Parlament oder im Land selbst wichtige Interessen der Industrie disku­ tiert wurden, pflegten die Liberalen diese am leidenschaftlichsten zu vertei­ digen; ging es jedoch um die Verteidigung landwirtschaftlicher Interessen, so waren hier die Katholiken an erster Stelle. D ie Landwirtschaft wurde durch die Politik katholischer Regierungen generell begünstigt. Die Formel von Marx - oder besser gesagt sein Versuch, die politischen Divergenzen auf wirtschaftliche Interessen zurückzuführen - läßt sich, zumindest in gewissen Fällen, später besser auf die Gegensätze innerhalb des Liberalismus selbst anwenden, nämlich zwischen Doktrinären und Progres­ sisten. In Liège, Mons und Charleroi standen die bekannten D oktrinäre und die reiche Industriebourgeoisie in enger Verbindung zueinander. In diesem Milieu wurden Geschäfte abgewickelt, eine entsprechende Heiratspolitik betrieben (Heiratsverbindungen, und sei es auch mit Katholiken, sicherten den Fortbestand regelrechter D ynastien), kurz, es wurde eine Politik gemacht, deren Ziel es war, den wirtschaftlichen Einfluß innerhalb des Staates zu stärken. D ie Progressisten dagegen, vor allem in Brüssel und in Liege, stammten, wie Mme. Eliane Gubin sehr treffend bemerkte, »zum Großteil aus dem mittleren, wenn nicht sogar aus dem kleinen städtischen Bürgertum. Ihr wichtigstes Kapital ist intellektueller Art - es sind vor allem Advokaten, Mitglieder der freien Berufe. Ihre finanziellen Mittel sind zwar nicht unbedingt mittelmäßig, aber doch in keiner Weise mit denen der großen D oktrinäre zu vergleichen. Sie setzen alles auf den politischen Kampf Er ist für sie der einzige Zugang zur Macht, da ihnen der entspre­ chende wirtschaftliche Einfluß fehlt.«54 Es gab natürlich, wie Mme. Gubin selbst hervorhebt, noch andere Gründe. So war das Phänomen des jungen Progressisten, der im reifen Alter zum überzeugten Doktrinär wurde, nicht selten. Unter vielen anderen spielte also auch die Generationenfrage eine Rolle. Hätte Karl Marx, der sich nach seiner erzwungenen Abreise im Jahre 1848 kaum noch für Belgien interessierte, die politischen Kämpfe in Belgien weiterhin aufmerksam verfolgt, so hätte er mit dem Gegensatz zwischen Progressisten und D oktrinären die Schärfe seiner Analyse weitaus besser rechtfertigen können, als im Jahre 1848. (3) Zu sagen, die liberale Partei ist eine bürgerliche Partei, bedeutet keineswegs zu behaupten, die katholische Partei sei keine bürgerliche Partei gewesen. D er Adel spielte innerhalb der katholischen Partei eine weitaus wichtigere Rolle als bei den Liberalen, und vor allem auf dem Land, wo ein katholischer Adliger oft Schloßherr, Großgrundbesitzer und Bürgermeister 430 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

in einer Person war, stärkte er die Kraft der Partei. Und dennoch war es nicht der Adel, der ihr seinen Stempel aufdrückte. Als im Parlament die liberale Mehrheit allmählich von einer katholischen verdrängt wurde und deshalb die liberale von einer katholischen Regierung abgelöst wurde — das geschah 1870 und 1884 -, reagierten die Liberalen mit wütenden Kommentaren. Sie beschuldigten die fortschrittsfeindliche Landbevölke­ rung, diese Einstellung auch auf die aufgeklärte Stadtbevölkerung über­ tragen zu haben, aber keiner von ihnen dachte je daran, daß sich in der Machtausübung und in der sozialen Klassenstruktur selber ein Wandel vollzogen hatte. Von sechs Ministern, die der katholischen Regierung 1870 angehörten, waren nur zwei Adlige (darunter allerdings der Kabinettschef, Baron d'Anethan). Als sie 1871 von einer anderen katholischen Regierung abge­ löst wurde, gehörten von deren Mitgliedern wiederum zwei dem Adel an. 1884, als die Katholiken erneut an die Macht kamen, war unter den sieben Regierungsmitgliedern nur ein einziger Adliger. D ieser - so ist zu beachten - leitete, wie auch jeweils einer der beiden Adligen aus den Regierungen von 1870 und 1871, das Außenministerium, das einen ganz spezifischen Charakter hatte. D ie finanziellen Aufwendungen, die mit die­ sem Amt verbunden waren, vor allem für die Repräsentation, überstiegen im allgemeinen bei weitem ein Ministergehalt. Man war daher für das Außcnministerium auf eine Persönlichkeit angewiesen, die materielle Ein­ bußen verkraften konnte. D eshalb war für ein solches Amt ein wohlha­ bender Adliger besonders geeignet.55 In dem von uns untersuchten Zeit­ raum gab es aber auch vier liberale Adlige als Außenminister. Will man von der Spitze der Regierung zur Basis der Partei vordringen, so sollte man dies anhand der Zusammensetzung des katholischen Zirkels in einer Stadt mittlerer Größe, wie z. Β. Namur, untersuchen. Er wurde dort 1866 gegründet. Es handelt sich sowohl um einen Zirkel als auch um einen ständigen Verein, in dem, wie 1875 festgestellt wurde, »man mit Ausdauer und bewundernswertem Scharfsinn dieses Gewirr an Beitrags­ zahlungen durchwühlte, um in den Wählerlisten all die Betrügereien auf­ zudecken, die eine schuldhafte Verwaltung (sprich: liberal) dort hinterlas­ sen hat«. 56 Uns liegt eine Namensliste der Mitglieder dieses Zirkels von 1883 vor. Von denen, die in Namur selbst wohnten, gehörten weniger als ein Zehntel dem Adel an; die übrigen neun Zehntel kamen aus allen beruflichen Sparten des großen und mittleren Bürgertums. Unter denen, die außerhalb von Namur wohnten, ungefähr ein Fünftel aller Mitglieder, übertraf der Anteil der Adligen den der Nichtadligen. Hier fassen wir die Bedeutung des Adels auf dem Lande. D iese Zahlen haben für sich gesehen nur eine relative Bedeutung, da sie keinen Aufschluß über den Einfluß der einzelnen Mitglieder geben. Ein wichtiges Kriterium dafür bietet die Besetzung des Präsidentenamtes im Zirkel. Von der Gründung bis 1883 war der Präsident ein Nichtadliger, von 1883 bis 1887 ein Adliger und 431 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

und danach wieder ein Nichtadliger. Halten wir also fest: Die Liberalen sind im Kampf gegen die Katholiken mit der eigenen sozialen Klasse konfrontiert. Befassen wir uns nun etwas intensiver mit der politischen Philosophie der Liberalen. Erklärtes Ziel des Liberalismus war es, wir erwähnten es schon und werden noch darauf zurückkommen, die Unabhängigkeit der »bürger­ lichen Gewalt« (pouvoir civil) zu sichern. Wie aber sah für die Liberalen das Prinzip der politischen Philosophie aus, dem dieses Verlangen zugrunde lag, d. h. der Wille, als Bürger nicht dem Gesetz der Kirche unterworfen zu sein? Viele haben hierfür einen Namen gefunden: sie nennen es »libre examen«. 57 Nach 1836 konnte man in der liberalen Zeitung »L Observateur« über die liberale Partei folgendes lesen: »Es ist diese Grundhaltung der individuellen Entscheidungsfreiheit (esprit d'examen), die diese Partei radikal von der katholischen unterscheidet, das Ablehnen jeglicher nicht aus freiem Willen akzeptierten absoluten Autorität, die Antipathie gegen jede traditionelle Autorität, die sich keiner Rechtfertigung unterzieht, und nur aus eigener Kraft behaupten will«. 58 D iese Vorstellung setzte sich immer mehr durch, bis sie dann schließlich von Frère-Orban dank seiner Fähigkeiten und seiner Autorität 1851 endgültig bestätigt wurde. Im Juni 1851 äußerte sich dieser große liberale Führer vor der Kammer wie folgt: »Meine Herren, wir stellen eine große Partei dar. Einige scheinen dies zu bedauern. Manchmal hört man sogar Ausrufe, wie: welch ein Unglück, daß solche Parteien existieren! Ich bin nicht dieser Ansicht. Im Gegenteil, ich bin davon überzeugt, daß die Existenz zweier großer Parteien, in denen jeweils die unterschiedlichen Nuancen einer gleichen Meinung zusammentreffen können, nützlich und notwendig ist. In unserem Land repräsentieren diese beiden Parteien Grund­ ideen, die sich diametral widersprechen, konträre Prinzipien. D ie eine geht vom Prinzip der Autorität aus, die andere vom Prinzip des ›libre examen‹.« 59 Seit dieser Zeit ist der Grundsatz der liberalen Partei, der Partei »du libre examen«, endgültig festgelegt. D er Geist des »libre examen« hatte seine Vorteile, aber er hatte auch Nachteile: er konnte zu parteiinternen D ifferen­ zen führen. Frère-Orban selbst hatte es erkannt, als er 1857 an die Katholiken gerichtet sagte: »D er Liberalismus ist der Schwäche seines eigenen Prinzips unterworfen, nämlich dem Geist der Unabhängigkeit und des ›libre examen‹, so wie das Autoritätsprinzip die Stärke ihrer Partei ist.« 60 Aber gleichzeitig wurde diese Grundhaltung auch als Waffe eingesetzt: »Unsere Waffen sind das ›librc examen‹, die freie D iskussion«, konnte man in der Zeitung »LObservateur« des öfteren lesen.61 Über den philosophischen Ursprung dieses Gegensatzes zwischen Katholiken und Liberalen bestand auf jeden Fall eine recht breite Übereinkunft. »D er Liberalismus und der politische Katholizismus - d. h. die Lehre ›du libre examen‹ und die des blinden Glaubens - bekämpfen sich und schließen sich aus«, schrieb 1859 eine liberale Zeitung in Anvers. 62 D ie historischen Wurzeln dieser Gegen­ sätzlichkeit wurden mit einem ebenso ausdrucksvollen wie vereinfachenden Lyrismus beschworen. D ie Vorfahren unserer beiden politischen Parteien? 432 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

»Jene, die wie Sokrates das ›libre examen‹ wollen und jene, die ihm den Schierlingsbecher reichten; Galilei und die Inquisition; le Taciturne und die, die ihn ermordet haben. «63 Für die Liberalen waren jedoch nicht die großen Ideen das Wesentliche, sondern der politische Kampf, der antiklerikale Kampf. Der Klerikalismus, den sie bekämpften, war keineswegs ein Papiertiger; durch die von ihr besetzten Positionen, ihr Wirken und ihren Anspruch lastete die Kirche schwer auf der bürgerlichen Gesellschaft.64 Unter Berufung auf ihre mora­ lische und religiöse Mission forderte die Kirche für sich ein Kontrollrecht über das gesamte Unterrichtswesen, nicht nur fur das von ihr selbst organi­ sierte, was selbstverständlich gewesen wäre, sondern auch über die staatli­ chen und kommunalen Einrichtungen. Sie forderte ein Mitspracherecht letztendlich ein Vetorecht - bei allen Stellenbesetzungen in den Schulen. Da ihr trotz allem die eigenen Schulen die einzig sicheren zu sein schienen, versuchte sie das vom Staat organisierte Unterrichtswesen so einzuschrän­ ken, daß für ihre eigenen Schulen keine Nachteile entstehen könnten. Auch im Wohlfahrtsbereich wollte sie die führende Rolle spielen und auch hier die öffentlichen Einrichtungen möglichst zurückdrängen. Nach ihrer Ansicht waren diese nicht in der Lage, Wohltätigkeit im eigentlichen Sinne des Wortes zu organisieren. 1854 schrieb der Bischof von Brügge: »Wer den Wohlfahrtseinrichtungen ein rein bürgerliches, administratives Gepräge geben will, kann das Wort Wohlfahrt nicht mehr benutzen, denn dieses Wort hat nur eine Bedeutung im christlichen Sinne.« D ie Kirche beanspruchte das Kontrollrecht über das Friedhofswesen. Ungläubigen wollte sie eine Bestattung verwehren; sie sollten anderswo beerdigt wer­ den, in einem »trou aux chiens« (Hundeloch), wie man es in einigen D ör­ fern nannte. Sie überwachte die Lektüre ihrer Gläubigen, und sie achtete besonders darauf, daß keine »schlechten Zeitungen« gelesen wurden. Was wird unter solchen Bedingungen aus der Pressefreiheit, rief ein Liberaler aus, wenn es der flämischen Landbevölkerung »unter Androhung der Ver­ dammnis verboten ist, etwas anderes zu lesen, als das, was der Klerus erlaubt hat zu lesen?« Und außerdem - und dies war das Wesentlichste — sah es die Kirche als ihre Aufgabe an, anläßlich von Wahlen darüber zu wachen, daß ihre Gläubigen »richtig wählten«, d.h. daß sie ihre Stimme dem Kandidaten gaben, der die religiösen Interessen vertrat. In diesem Bereich wurde ihr Einfluß im Laufe der Jahre immer stärker, er zeigte sich in allen Formen, offen und versteckt. Nach Ansicht der Liberalen verstieß die Kirche hier gegen Verfassungsprinzipien. Ein einflußreicher Liberaler, Tesch, äußerte sich 1856 wie folgt: »D urch die Verfassung ist die Trennung zwischen bürgerlicher und religiöser Gewalt festgelegt. Ich behaupte, daß durch die Intervention des Klerus bei den Wahlen diese Trennung nur noch illusorisch ist. Wo liegt der Ursprung der Regierungsgewalt? In den Wah­ len. Wenn es dem Klerus nun gelingt, durch seinen Einfluß eine Majorität festzulegen, so frage ich mich, ob die Trennung zwischen der bürgerlichen 433 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Gewalt und der Religion überhaupt noch besteht. In Wirklichkeit ergreift der Klerus Besitz von der bürgerlichen Gewalt. «65 Die Liberalen sahen in der Kirche noch eine andere Gefahr, da diese, um ihre Ziele zu erreichen nicht nur ihren Einfluß auf die katholische Partei, sondern in gleicher Weise auch ihre spirituellen Waffen einsetzte. Seit der Mitte des Jahrhunderts wurde denen, die ›falsch‹ wählten, die Absolution immer häufiger verweigert. 1877 rief ein katholischer Parlamentarier den Liberalen, die sich darüber empörten, zu, der Priester im Beichtstuhl habe »nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, ungläubigen Katholiken mit göttlichen Strafen zu drohen«.66 Zur Zeit des »Schulkampfs« zwischen 1879 und 1884, als die Kirche Hand in Hand mit der katholischen Partei mit außergewöhnlicher Heftigkeit gegen die von der liberalen Regierung gegründeten konfessionsneutralen Elementarschulen ankämpfte, wurden Eltern, die ihre Kinder auf diese Schulen schickten, systematisch die Sakra­ mente verweigert. Und das war nur die offizielle Maßnahme. Im Beicht­ stuhl ging man sehr viel weiter: Oft zwang man verheiratete Frauen, sich ihrem Ehemann zu verweigern, wenn dieser darauf bestand, für seine Kin­ der eine neutrale Schule zu wählen. Gegen diese Ansprüche der Kirche, die von der katholischen Partei, wenn auch nicht insgesamt, so doch zum großen Teil unterstützt wurden, kämpf­ ten die Liberalen für die »Unabhängigkeit der bürgerlichen Gewalt«. D er Kampf wurde an allen Fronten geführt, überall dort, wo man »Übergriffe« der Kirche vermutete - wir können hier nur eine kurze, nicht umfassende Aufzählung geben. Besonders heftig war er an der Schulfront. D ie Liberalen kämpften für die Schule: zunächst für die Entwicklung eines vom Staat organisierten Unterrichtswesens; und dann dafür, daß die Schule dem Ein­ flußbereich des Klerus völlig entzogen wurde. Hier einer der wesentlichen Punkte im Wahlprogramm der Liberalen von 1846: »Die Organisation eines alle Stufen umfassenden öffentlichen Unterrichtswesens, das ausschließlich unter ziviler Aufsicht steht..., Ablehnung jedes Eingriffs kraft Amtsautori­ tät durch Kultusminister in einem durch die bürgerliche Gewalt organisier­ ten Unterrichtswesen.« In den kommenden Jahrzehnten wird dieses Pro­ gramm allerdings verändert: D ie Liberalen wollten nun etwas, was 1846 noch nicht in ihrer Absicht lag, nämlich eine Schule, in der weder der Klerus noch die Religion eine Rolle spielten. Dieser Gedanke ging in das Gesetz von 1879 ein, das die konfessionsneutrale Elementarschule schuf- eine Schule, die von den Katholiken als die »Schule ohne Gott« bezeichnet wurde. D iese wichtige Initiative - das letzte große liberale Gesetz, bevor die Liberalen 1884 endgültig die Macht verloren - spiegelte ganz offensichtlich eine Ent­ wicklung wider, die sich innerhalb des Liberalismus vollzogen hatte: Einige Liberale, zweifellos eine Minderheit, wenn auch eine einflußreiche, waren von einer traditionell antiklerikalen zu einer eindeutig antireligiösen Einstel­ lung übergegangen. D iese Minderheit war zwar innerhalb der Partei keines­ wegs tonangebend, den Katholiken aber diente sie als Schreckgespenst. 434 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Steht die Philosophie des »libre examen«, der Kampf gegen die »Über­ griffe« der Kirche und schließlich auch das leichte Abgleiten in eine antireli­ giöse Haltung in irgendeiner Beziehung zur Bourgeoisie, zur bürgerlichen Gesinnung (esprit bourgeois)? Die Verweltlichung der Gesellschaft, die fortschreitende Ungläubigkeit waren ganz offensichtlich Phänomene, die weit über die eigentliche Bour­ geoisie hinausgingen. Und dennoch lassen sich auf subtile und tiefgehende Weise spezifisch bürgerliche Wesenszüge in der liberalen Haltung erkennen. Ich möchte hier drei dieser Wesenszüge sehr knapp hervorheben, wobei ich mehr Forschungstrends als etablierte Positionen umreiße. 1. D ie wachsende wirtschaftliche und politische Stärke der Bourgeoisie erklärt, weshalb es ihr immer schwerer fällt, sich von anderen bestimmen zu lassen. Je stärker man sich fühlt, um so mehr strebt man nach Unabhängig­ keit, um so weniger möchte man jemanden über sich haben. Es genügt, die Statue von Theodore Verhaegen zu betrachten, um dies zu verstehen: dieser einflußreiche und stolze Bürger, der zur Messe ging - Verhaegen blieb bis zum Ende seiner Tage praktizierender Katholik - konnte es nicht ertragen, von seinem Priester Vorschriften zu erhalten. 2. D ie Bourgeoisie war eine Klasse, die den antiklerikalen Kampf am leichtesten führen konnte, denn sie konnte sich der sozialen Kontrolle der Kirche am besten entziehen. Über den Adel übte die Kirche eine soziale Kontrolle aus, die im Geist der Adelsgesellschaft verankert war: überwarf sich jemand mit der Kirche, so ging er das Risiko ein, aus dieser Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Im ›einfachen Volk‹ (»classe populaire«), und hier besonders auf dem Land, wirkte die soziale Kontrolle noch kraftvoller: Dem Priester war es aufgegeben, die Widerspenstigen zur Vernunft zu bringen. Nur der Bürger blieb davon unberührt, ihn konnte man nicht zur Vernunft bringen, er konnte nicht gesellschaftlich ausgeschlossen werden: er konnte liberal sein. 3. D ie bürgerliche Gesinnung ist keine Legende, auch wenn ihre Kontu­ ren verwischt und manchmal schwer erfaßbar sind. Vor allem in einigen besonders typisch bürgerlichen Berufszweigen - Anwaltschaft, Medizin, Handel - zeigt sich dem subtilen Blick eine Unabhängigkeit des Denkens, die sich schlecht mit den Geboten der Kirche vereinbaren läßt. D em Klerus mag es gelingen, die Landbevölkerung zu hindern, schlechte Zeitungen zu lesen, sollten sie je in Versuchung geraten, das zu tun; er mag unter Berufung auf den Index das Leseverhalten auf den Schlössern steuern und den Umgang mit Voltaire verbieten, aber wie will er einen Anwalt oder Arzt hindern, Voltaire oder die von ihm bevorzugte Zeitung zu lesen? Wie kann er ihm Respekt vor den Regeln des Index einflößen? Wir gehen sicherlich nicht fehl, wenn wir annehmen, daß hier die eigentli­ chen bürgerlichen Charakterzüge zu finden sind. D er Schankwirt - auf dessen Rolle innerhalb der Wählerschaft haben wir bereits hingewiesen gleicht in vieler Hinsicht dem Bürger (sofern es sich um die Zeitungslektüre 435 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

handelt, selbstverständlich nicht im Blick auf Voltaire). Auch der Arbeiter zeigt, nachdem er von der sozialistischen Bewegung erfaßt ist, oft eine ähnliche Gesinnung. Und dennoch bleibt der Bürger auf diesem Gebiet ein eigener Typus. Nur einige Spuren konnten in groben Umrissen abgesteckt werden, es gibt mit Sicherheit noch weitaus mehr. Aufjeden Fall rechtfertigen sie es, Libera­ lismus und Bourgeoisie eng zusammenzurücken.

Anmerkungen 1 J . Stengers, Sentiment national, sentiment orangiste et sentiment français à l'aube de notre indépendance, in: RBPH 28, 1950. 2 Zum Gegensatz Progressisten-Doktrinäre s. den grundlegenden Artikel von E. Gubin u. P. Lefèvre, Obligation scolaire et société en Belgique au XIXe siède, in RBPH 63, 1985. 3 C. Lebas, L'Union des catholiques et des libéraux de 1839à1847, Louvain/Paris 1960, S. 92. 4 L. Hymans, Histoire parlementaire de la Belgique de 1831à1880, Bd. 2, Brüssel 1878-1880, S. 663. 5 Charles Faider, in: La Belgique judiciaire, 26. März 1871, Col. 390f. Faider, Oberstaatsan­ walt am Kassationsgericht, erwähnt hier besonders die »liberté du parquet«, eine wichtige Besonderheit im belgischen Rechtswesen: D urch eine Art Gewohnheitsrecht hatte sich die Staatsanwaltschaft eine Unabhängigkeit bewahrt, die fast der Unabhängigkeit des Richterstan­ des gleichkam. Diese Tatsache ist bemerkenswert, denn im Grundsatz waren die Gesetzestexte in Belgien und in Frankreich praktisch die gleichen - und in Frankreich blieb die Staatsanwaltschaft in Händen der Staatsmacht. 6 P. Hymans, Portraits, essais et discours, Brüssel 1914, S. 61 f. 7 Annales parlementaires, Chambre (= Ap) 1856-1857, S. 121, 24. November 1856. 8 Artikel aus »La Croix«, die von 1874—1878 eines der schärfsten ultramontanen Organe war: K. van Isacker, Werkelijk en wettelijk land. D e Katholieke opinie tegenover de Rechterzijde (1863-1884), Anvers 1955, S. 223-231. 9 Catholique et Politique, Brügge 1878, S. 24f D iese anonyme Broschüre war - welche Pikanterie - das Werk von Arthur Verhaegen (s. van Isacker, S. 262), dem Enkel des großen Liberalen Theodore Verhaegen, von dem noch mehrmals die Rede sein wird. 10 Ap 1863-1864, S. 449f., 3. Juni 1864. 11 Barthélémy D umortier, Ap 1877-1878, S. 881, 15. Mai 1878. 12 L. Hymans, La Belgique contemporaine, Mons 18842, S. 17. 13 P. Hymans, Frère-Orban, Bd. 1, Brüssel 1905, S. 104. 14 D iscours de Gobletd'Alviella au Grand Orient, 29. Juni 1884, in: Bulletin antimaçonnique, 1912, S. 119. 15 E. de Laveleye, Encore la question flamande, in: Revue de Belgique, 15. März 1871, S. 172. 16 Lettre à M.Jules Guillery à propos d'une réforme électorate, par un ancien journaliste, Brüssel 1866, S. 22f. 17 Paul Janson, Discours parlementaires, Bd. 2, Brüssel 1906, S. 11 u. 13. Zu Janson wichtig: J . L. de Paepe in: Biographie Nationale, Bd. 40, Brüssel 1878, Col. 476-531. 18 »D ie Wirtschaftstheorien dieser beiden Parteien sind nahezu dieselben«, schreibt 1864 ein französischer D iplomat in einer Analyse der politischen Parteien Belgiens (La Tour du Pin, 6. Februar 1864; Paris, Archives du Quai d'Orsay, Correspondance politique, Belgique, Bd. 54). 19 L. Bertrand, L'ouvrier beige depuis un siècle, Brüssel 1924, S. 382. 20 Ebd., S. 383.

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21 Ap 1868-1869, S. 283, 19. Januar 1869. Zum Kontext dieser Rede Gubin u. Lefèvre, Obligation, S. 373-374. 22 Circulaire du ministre d'Hoffschmidt au corps diplomatique beige, 9. Februar 1848, in: A. de Ridder, La crise de la neutralité beige de 1848. Le dossier diplomatique, Bd. 1, Brüssel 1928. S. 3. 23 L. de Lanzac de Laborie, Correspondances du siècle dernier, Paris 1918, S. 338f. 24 Joseph Barthélémy, L'organisation du suffrage et l'expérience beige, Paris 1912, S. 217. Um bei einem lokalen Beispiel zu bleiben: Allein in dem Arrondissement von Verviers beliefen sich die Wahlverfahren (die nicht notwendigerweise zu einem Prozeß führten) im Jahre 1885 auf 977, 1886 auf 784 und 1887 auf 683. (Ein Bericht, der am 19. Februar 1888 der liberalen Vereinigung des Arrondissements von Verviers vorgelegt wurde, Verviers 1888.) 25 Barthélémy, S. 217. Die Erinnerungen eines Katholiken aus Gent enthalten eine verblüf­ fende Seite über die Aktivitäten des Sekretärs, später dann Präsident der katholischen Vereini­ gung von Gent, Theodore Leger: »Wie viele Abende, wie viele Nächte wurden der geduldigen, gewissenhaften und komplizierten Arbeit zur Rekrutierung der Wählerschaft gewidmet: das Haus von Leger wurde fast vollständig zu diesen Zwecken genutzt; ein unmöblierter Salon diente der Revision der Wahllisten, die Zimmer und selbst die Korridore waren mit Akten und mit Paketen unterschiedlicher Größe überfüllt. D ie Namen aller Wähler mußten in eine beson­ dere Liste eingetragen werden, und zwar unterteilt nach Kantonen und Kommunen außerhalb von Gent, nach Pfarrgemeinden für die Stadt, mit Straßen- und Hausnummerangaben, nach Alter, Beruf, Wahlzensus, und Einflüssen, etc. Diese gigantische Arbeit, die ständig wiederholt werden mußte, war in vier Register aufgeteilt. Zur Zeit des zensitären Regimes, als die Zahl der Wähler abgenommen hatte, war jeder Name von Bedeutung. Léger hatte eine ganz besondere Art diese Listen durchzugehen, er machte die Liberalen, die hier einen Platz usurpierten, ausfindig und er fand die Katholiken, die noch eingeschrieben werden konnten, heraus« (J. Art, Vaticaanse brieven en plaatselijke politiek. D e Nuntius en de Gentse partijstrijd rond 1890, in: Bijdragen tot de Geschiedenis, Bd. 63, 1980, S. 406). Nach 1870 hatte Leger zur Revision der Wählerlisten vier Vollzeitbeschäftigte in seinen Diensten (Art, S. 406). In Liege beschäftigte der liberale Verband zur gleichen Zeit einen Sekretär und zwei Vollzeitbeschäftigte (M. Dechesne, Le parti libéral à Liège, 1848-1899, Louvain/Paris 1974, S. 28 f. u. 116). 26 Francisque Sarcey, Retour de Belgique, in: Le Précurseur (d'Anvers), 18. Januar 1877. 27 Goblet d'Alviella in: Cinquante ans de liberié, Bd. 1, Brüssel 1882, S. 193. Unter den »Gruppen, die von der Bewegung nicht erfaßt waren«, auf die d'Alviella anspielt, sind hier besonders die Familien der Großindustriellen zu nennen, die manchmal den Eindruck erwekken, mehr durch wirtschaftliche und soziale Solidarität geeint als durch politische Antagonis­ men getrennt zu sein. 28 Zitiert von Jacobs vor der Kammer am 16. November 1876, Ap 1876-1877, S. 19. 29 D ie grundlegende Studie dazu, der wir mehrere Zitate entnommen haben: J . Bartier, Partis politiques et classes sociales en Belgique, in: Res Publica, Bd. 10, 1968; nachgedruckt in: Ders., Libéralisme et socialisme au XIXe siècle, Brüssel 1981, S. 207-288. 30 Paul D evaux. Retraite et renouvellement du cabinet, in: Revue Nationale, April 1840, S. 287 f. 31 Situation des catholiques vis-à-vis des libéraux en Belgique, in: Journal historique et littéraire, 1. Juni 1840, S. 94. 32 D epesche von Emmanuel d'Azeglio vorn 23. März 1847, Turin, Archives de l'Etat, Lettre Ministri, Belgio. Veröffentlicht in: Belgio e Piemonte nel Risorgimento Italiano, Turin 1930, S. 106. 33 La Tour du Pin, 6. Februar 1864 (s. Anm. 18). La Tour du Pin war Sekretär der Gesandt­ schaft in Brüssel. 34 Ap 1876-1877, S. 746, 12. März 1877. 35 Ap 1856-1857, S. 1542, 12. Mai 1857. 36 Noël, Autre temps, in: La Chronique, 28. Juli 1879. Noel ist das Pseudonym von Leon Monnier, der Liberaler war und den Sozialisten sehr nahe stand.

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37 D ie folgenden Zahlen basieren auf dem Index des Eligibles au Sénat (1831-1893), publiziert unter Anleitung von J. Stengers, Brüssel 1975, worauf wir uns in allem, was den Senat betrifft, beziehen. 38 J . Bartier, Laïcité et Franc-Maçonnerie, Brüssel 1981, S. 329. 39 Barrier, S. 225-232. 40 R. Desmed, Les loges militaires en France et en Belgique, et la loge des Amis Philanthro­ pes, in: Visages de la Franc-Maçonnerie beige du XVIIIe au XXe siècle, publiziert unter der Leitung von H. Hasquin, Brüssel 1983. 41 1860 kamen auf 2725 Offiziere (einschließlich der Reserveoffiziere) weniger als 40 Adlige (G. Jacquemyns, Langrand-D umonceau, promoteur d'une puissance financière catholique, Bd. 3, Brüssel 1963, S. 60). D er Anteil der Adligen nahm später jedoch zu. D ie Militärlager wurden vom Kriegsministerium im Jahre 1846 verboten, vgl. D esmed, S. 140. 42 Wir verweisen hier auf das Hauptwerk von Jacquemyns, Lagrand-D umonceau, 5 Bde., Brüssel 1960-1965. 43 R. Demoulin, Recherches de sociologie électorale en régime censitaire, in: RFSP, 1953, S. 707. 44 J . Stengers, Sur L'influence électorale des grands propriétaires fonciers en Belgique au XIXe siècle, in: La Belgique rurale du moyen âge à nos jours. Melanges offerts à Jean-Jacques Hoebanx, Brüssel 1985. 45 L'Observateur, 19. März 1841. 46 Expose de la situation du royaume, 1841 — 1850, 3e partie, S. 24f. D ie Zahlen beziehen sich auf 760 Anwälte, 3536 Industrielle, 90 Bankiers und 424 Geschäftsleute, insgesamt 4810 Personen, bezogen auf insgesamt 78228 Wähler. 47 Hier handelt es sich um das Verhältnis ab 1848, d. h. seit der Zeit, als der Zensus im gesamten Land auf das in der Verfassung vorgesehene Minimum gesenkt wurde. Vorher, mit dem in den Arrondissements variablen Zensus, war das Verhältnis entsprechend schwächer. 1840 entsprach die Anzahl der Wähler weniger als 1,2% der Bevölkerung. 48 Expose de la situation du royaume, S. 24f. 49 Edmond Picard, Grelots progressistes. Histoire du suffrage censitaire en Belgique depuis 1830, Ausg. 5, Brüssel 1883, S. 204. 50 Anläßlich der Feierlichkeiten des zweiten Geburtstages der polnischen Revolution am 22. Februar 1846 in Brüssel, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA), 1. Abteilung, Bd. 6, Neuauflage 1970, S. 411. Zum Kontext dieser Rede vgl. L. Somerhausen, L'humanisme agissant de Karl Marx, Paris 1946, S. 225—228, und E. de Maesschalk, Karl Marx in Brussel (1845-1848), Brüssel 1983, S. 190f. 51 L. Hymans, Types et silhouettes, Brüssel 1877, S. 64. 52 Moniteur Beige, 7. März 1839. Hervorhebung vom Verfasser. 53 »Sitz fast meines gesamten Vermögens ist Boitsfort (d. h. innerhalb der Grundstücke dieser Gemeinde)«, schreibt er 1859 (Brief an Frère-Orban vom 22. Januar 1859, Archives Générales du Royaume, Papiers Frère-Orban, Nr. 686). Trotzdem besitzt Verhaegen auch Wertpapiere von Aktiengesellschaften, allerdings von Gesellschaften, die keinen industriellen Charakter hatten. Er ist Verwalter der Hypothekenkasse, einer Bodenkreditgesellschaft (L. B. F. Trioen, Collection des Statuts de toutes les sociétés anonymes . . . de la Belgique, Bd. 1, Brüssel 1841, S. 41; A. Demeur, Les Sociétés anonymes de Belgique à partir du ler janvier 1858, Brüssel 1859, 2. Teil, S. 4). 54 Eine Arbeitsnotiz meiner Kollegin Eliane Gubin, der ich für ihre wertvolle Hilfe bei der Redaktion dieses Textes sehr herzlich danke. 55 D ies trifft auch ganz besonders für die Stellen innerhalb des diplomatischen Korps zu. Der belgische Diplomat mußte sein unzulängliches Gehalt durch persönliche Mittel ergänzen. 1860 waren ungefähr 43% der belgischen D iplomatenstellen im Ausland durch Adlige besetzt (Jacquemyns, Langrand-D umonceau, Bd. 3, S. 59). 56 J . Bovesse, Notes sur l'histoire du Cercle catholique de Namur (1865- 1921), in: Annales de la Société archéologique de Namur, Bd. 56, 1972, S. 311. Alles, was wir hier über den

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katholischen Zirkel von Namur geschrieben haben, wurde dieser sehr präzisen Studie ent­ nommen. 57 J . Stetigen, L'apparition du libre examen à l'Umversité de Bruxelles, in: Revue de L'Uni­ versité de Bruxelles. Oktober 1963-April 1964, S. 101 ff. 58 L'Observateur, 1. Februar 1836. 59 Ap 1850-1851, S. 1489-1490, 27. Juni 1851. 60 Ap 1856-1857, S. 1542, 12. Mai 1857. 61 17. Oktober 1855, 13. Juli 1856 etc. 62 La Liberté, feuille politique et littéraire, 5. Juni 1859. 63 L'Observateur, 3. Oktober 1858. 64 Für alles Nachfolgende siehe J . Stengen, L'Eglise en Belgique. D octrine et pratique, in: Histoire de la Laïcité, principalement en Belgique et en France, veröffentlicht unter der Leitung von H. Hasquin, Brüssel 1979. 65 Ap 1856-1857, S. 104, 24. November 1856. 66 Stengers, L'Eglise, S. 73.

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JOAQUÍN ABELLÁN

Der Liberalismus in Spanien 1833—1868

Diese Studie zum spanischen Liberalismus soll auf zwei Fragen Antwort geben: Inwieweit gibt es im Liberalismus eine Kontinuität traditioneller Züge, und wie ist die Beziehung des Liberalismus zur industriellen Welt beschaffen? Es wird deshalb zunächst der Liberalismus als politisch-konsti­ tutionelle Bewegung (I), dann seine Idee der Gesellschaft und seine Haltung zur Industrialisierung (II) betrachtet, und schließlich danach gefragt, welche Position die Liberalen in der »liberalen isabellinischen Gesellschaft« innehat­ ten (III). Diese Aspekte scheinen sich auch am besten für einen Vergleich mit anderen europäischen Ländern zu eignen.

I. Liberalismus und Repräsentativverfassung a) D ie absolutistische Erhebung der Anhänger von Don Carlos, die wegen der Thronnachfolge nach Fernando VII. im Jahre 1833 ausbrach, zwang die Regentin Maria Cristina, den verfassungspolitischen Reformforderungen der liberalen Öffentlichkeit nachzugeben. D er Aufstand der Carlisten war der entscheidende Faktor für die Entstehung und die politische Entwicklung liberaler Regierungen in Madrid. D er Widerstand gegen den Carlismus erzeugte darüber hinaus eine äußerliche Einheit zwischen den Verteidigern des Liberalismus, formiert aus verschiedenartigen sozialen und politischen Gruppierungen. D ies erklärt zugleich die internen Unterschiede und charak­ teristische Züge des liberalen Regimes in Spanien.1 Seit Beginn der Regentschaft bildeten sich zwei Strömungen bei den Liberalen heraus, Gemäßigte und Fortschrittliche, die bereits während der dreijährigen konstititutionellen Herrschaft von 1820 bis 1823 in Erscheinung getreten waren. Es waren jedoch keine prinzipiellen Unterschiede, sondern eher unterschiedliche Akzentsetzungen, die sie trennten, und der Traum einer liberalen Einheitspartei bewegte die liberalen Politiker weiterhin über lange Jahre hinweg. D ie Gemäßigten neigten einem Gedankengut der Art Edmund Burkes zu, eine Mischung aus historischem Konservatismus und Prinzipien, die sich von den französischen D oktrinären herleiteten. Ihr Beitrag bestand in der These, daß sich die historische Verfassung Spaniens 440

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einer Veränderung durch abstrakte Prinzipien widersetze. D ie Fortschrittli­ chen unterschieden sich von den Gemäßigten durch ihren entschiedenen Angriff auf die Kirche und durch ihre These von der Legitimität der Revolu­ tion. Ihre Auffassung, daß die Nation auf die Barrikade berufen werden könne, wenn rechtliche Mittel, zur Macht zu gelangen, fehlten, trennte sie eindeutig von den Gemäßigten. Beide Richtungen kämpften darum, ihre Prinzipien in der Verfassung zu verankern. D aher kannten die Konstitutio­ nen des repräsentativen Regimes auch diese Spannung zwischen beiden liberalen Richtungen: beginnend mit dem »gemäßigten« Estatuto Real 1834 über die »fortschrittliche« Verfassung 1837 hin zur »gemäßigten« Verfas­ sung 1845, die mit der »fortschrittlichen« Unterbrechung 1855 — 56 bis 1868 Bestand hatte.2 b) Schon im Estatuto Real 1834 erscheinen die Prinzipien des gemäßigten spanischen Liberalismus. Sein Architekt, Martinez de la Rosa, hielt jene Doktrin für überholt, die auf Theorien des Naturzustandes zurückging und allgemeine und abstrakte Prinzipien in praktischen Regeln der Regierungs­ kunst umzuwandeln vorgab. Dies bezog er insbesondere auf das Prinzip der Nationalsouveränität und auf die Menschenrechte. Er glaubte, daß Spanien derartige Doktrinen nicht brauche, sondern praktische und heilsame Refor­ men. Er ergänzte diese Auffassung durch die These, Spanien besitze seinen eigenen durch die Geschichte geformten Charakter, demgemäß das Regie­ rungssystem ausgestaltet werden müsse. D er spanische Gesetzgeber sollte berücksichtigen, daß die Gesetze »nicht für eine unbestimmte Nation seien, nicht für ein neu geschaffenes Volk ohne Geschichte, das gestern angefangen habe zu bestehen, sondern für eine alte Nation, die ihre Sitten und Institutio­ nen habe«.3 D as Estatuto Real erstrebe die Wiederherstellung der histori­ schen Verfassung Spaniens und seiner alten Grundgesetze, die während drei Jahrhunderten mit sehr schädlichen Folgen außer Gebrauch geraten seien. Diese historische Verfassung könne die Grundlage werden, um Harmonie zwischen Thron und Nation zu stiften.4 Das Estatuto Real geht von einem D ualismus aus, der immer den spani­ schen D oktrinarismus bezeichnen wird. D er D ualismus Parlament-König wird auch in der »fortschrittlichen« Verfassung vom Jahre 1837 aufrechter­ halten und wird noch mehr in der Verfassung von 1845 verstärkt vor dem Hintergrund einer Souveränitätslehre des Bestehenden: »D ie konstitu­ ierende Gewalt ruht nirgendwo anders, als in der konstituierten Gewalt, und in unserem Spanien ist diese Gewalt nichts anderes, als die Cortes zusammen mit dem König. Lex fit consensu populi et constitutione regis; diese Losung unserer Väter, erhaben aufgrund der ihr eigenen Einfachheit, hat sich auf uns übertragen, Zeiten und Revolutionen besiegend.«5 Das verfassungsrechtliche D enken der Liberalen knüpft also ausdrücklich an die Vergangenheit an. D iese Verbindung zeigt sich auch in der Anerken­ nung bestimmter Stände, wie des Adels, der die führende Schicht bleibt. Es ist richtig, daß die verfassungsrechtliche Bedeutung des Adels zwischen 441 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

1834 und 1845 abnimmt, aber seine Stellung im wirtschaftlichen und politi­ schen Leben blieb erhalten. D ie verfassungsrechtliche Schwächung des Adels wird durch den Machtzuwachs des Militärs zum Teil aufgewogen.6

IL D as Gesellschaftsmodell des spanischen Liberalismus 1. Mittelklassengesellschaft Das Gesellschaftsmodell der spanischen Liberalen bezieht sich auf eine Gesellschaft der Mittelklassen, die sie mit dem allgemeinen Interesse identi­ fizieren und die folglich den Kern des Staates bilden sollen. D iese an die Ideen der französischen D oktrinäre (Republikaner) angelehnte Konzeption, die sie in ihren politischen Klubs und ihren parlamentarischen D ebattenbei­ trägen vertraten, forderte für die Mittelklasse die politische Macht. Alcalá Galiano beispielsweise äußerte: »D ie Geschichte hat uns in eine Epoche geführt, in der die Mittelklassen gewachsen sind und die Hauptkraft, wenn nicht sogar die einzige Potenz des Staates sind; und diesen Zeiten, gemäß den unterschiedlichen Verhältnissen der Völker, entspricht es, daß in den Mittel­ klassen Einfluß und Vorherrschaft ruhen... In diesem Jahrhundert von Han­ del und Literatur ist es unabdingbar, daß die Mittelklassen herrschen, weil in ihnen die materielle und ein nicht geringer Teil der moralischen Kraft liegt, und wo diese Kraft ist, da ist die soziale Macht. Und da soll gleichfalls die politische Macht sein.« 7 Ähnlich schreibt Pachcco: »Die Mittelklasse ist die einzige, die wirklich die öffentlichen Interessen und Vorstellungen versteht, ausdrückt und vertritt, die einen solch großen Raum in unseren heutigen Regierungen einnehmen sollen. «8 Auch bei Borrego findet man eine Identi­ fizierung der Mittelklassen mit den nationalen Interessen,9 und ähnlich drückt sich der Abgeordnete Calderón Collantes aus. Er setzt die Interessen der Mittelklasse mit denen der Gesellschaft gleich und folgert daraus, daß die Verteidigung jener niemals die Gesellschaft als Ganze gefährden könne. 10 Die Eigenschaften, die die Liberalen den Mittelklassen zuschreiben und die ihnen eine so entscheidende Rolle im politischen Bereich zuweisen, tauchen mit gewissen Nuancen immer wieder auf: Intelligenz, Verfügung über Eigentum, Selbständigkeit, Ordnungssinn. Alcalá Galiano hebt die Bildung und die Selbständigkeit hervor.11 D as Fehlen dieser Eigenschaften rechtfertigt in seinen Augen die untergeordnete Stellung der unteren Klas­ sen, solange sie in einer Situation der Ungebildetheit und Abhängigkeit verharren. Ebenso sagt Borrego, daß die »gebildeten und steuerzahlenden« Klassen zur Ausübung der politischen Macht berufen seien, zugunsten der ungebildeten und verwahrlosten Mehrheit«.12 D er Faktor der Intelligenz wird vor allem bei D onoso Cortés betont, der die Souveränität der Intelli­ genz zum Grundprinzip seiner politischen D oktrin erhebt. Im Menschen unterscheidet er zwei Prinzipien, nämlich die Intelligenz und den Willen 442 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

(bzw. die Freiheit). D ie Intelligenz sei universell, das harmonische, soziale Prinzip überhaupt. D er Wille hingegen sei das Besondere in jedem, das ihn zu Individualismus und Isolierung führe. Allein die Intelligenz sei die Quelle der legitimen Gewalt, denn nur sie könne die Einzelnen, die sonst isoliert leben würden, zu einer Einheit zusammenfügen und damit den Zusammen­ halt der Gesellschaft ermöglichen. D er Grund sei, daß nur die Intelligenz die Kraft der Vorausschau besitze, die erst die politische Macht in die Lage versetze, den Bestand der Gesellschaft zu erhalten. Donosco Cortés schreibt die Intelligenz den Mittelklassen zu, denn »wenn auch der Handel und die Industrie sie (die Mittelklasse) hervorgebracht hat, ist sie nur durch die Intelligenz zu einer Macht geworden und nur durch sie trägt sie die Krone«.13 Neben Eigentumsverfügung und Intelligenz erscheint bei Pacheco ein weiteres Merkmal der Mittelklasse, nämlich die Stabilität, der Sinn für Ordnung: »D en beiden Extremen [Aristokratie und unterste Klasse] gegenübergestellt [ist] die Mittelklasse unseres Jahrhunderts; sie besitzt, wenn auch in kleinen Anteilen, den größten Teil des Eigentums, Intelligenz und disziplinierte Kraft; einerseits steht sie der armen Klasse nahe und anderseits der reichen, sie ist gegenüber der ersten offen und erhebt sich allmählich auf die Stufe der letzteren; sie hat weder Interesse an Widerstand noch an Revolution.«14 Durch ihren offenen Charakter ist die Mittelklasse in ständiger Ausdeh­ nung begriffen. Sic hat eine expansive Kraft, denn sie ist stetigem Zuwachs nicht verschlossen, insofern neue Mitglieder durch den Erwerb der Mittel­ klasseeigenschaften bereit sind, sich ihr einzufügen. Für Pacheco steht den untersten Klassen der Aufstieg in die Mittelklasse offen. Mehr noch, die Mittelklassen müssen diesen Aufstieg fördern.15 Alcalá Galiano glaubt eben­ falls, daß die Mittelklasse stetig wachsen soll, indem sie ihre Anzahl durch Mitglieder anderer Klassen erhöht. In der Parlamentsdebatte von 1844—45 sagte er: »Ich bin kein blinder Anhänger einer unendlichen Aufteilung des Eigentums, aber ich glaube, daß es in Spanien in diesem Augenblick not­ wendig ist, viel für eine solche Aufteilung zu tun.« 16 Aber es ist Borrego, der die Kraft zur Integration und sozialer Harmonisierung als Eigenschaft der Mittelklasse am stärksten betont. Er schreibt der Mittelklasse eine versöh­ nende Funktion zwischen den entgegengesetzten sozialen Interessen zu, die in den Volksaufständen der vierziger Jahre schon klar zum Ausdruck gekommen waren. D ie Mittelklassen machen für Borrego die Verbindung zwischen alter und neuer Gesellschaft möglich. Die Volksklassen müßten bei den Mittelklassen Schutz und Hilfe finden. D iese sollten jenen Erziehung und moralische Orientierung vermitteln, so daß, in dem Maße wie die Armen Bildung und Vermögen erhielten, die wohlhabenden Mittelklassen wüchsen.17 Die Schriftsteller hoben aber vor allem die moralischen Tugenden der Mittelklasse hervor, die sie von den Reichen und Geschäftsleuten unter­ schieden. Larra entrüstete sich wegen der Bedeutung des Vermögens in der 443 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Gesellschaft von 1834 und der Duque de Rivas äußerte sich feindlich gegen die Säkularisierung, denn der Verkauf der Kirchengüter unter Juan Alvarez Mendizábal begünstige nur die Kapitalisten und Spekulanten.18 Die Liberalen verstanden die Mittelklassen als eine zwischen den Reichen und den Armen vermittelnde Schicht, die eine überwiegend moralische Mission und Anspruch auf die politische Macht habe. D ie politische Ent­ wicklung entsprach jedoch dieser Vorstellung nicht. Mit der selbstbewußten Öffnung der Mittelklasse zum Adel, wie sie Alcalá Galiano forderte, rea­ gierte man auf die Unfähigkeit, die politischen Ansprüche aus eigener Kraft in die Tat umzusetzen.19 2. Liberalismus und Besitzergesellschaft Gemäßigte und Fortschrittliche waren sich einig, daß das freie Eigentum die Grundlage der neuen Gesellschaft sowie des Staates sein sollte. Sie unter­ schieden sich nur hinsichtlich der Eigentumsgröße, die sie für das Wahlrecht ansetzten. Hinzu kam der Unterschied zwischen naturrechtlicher und utili­ taristischer Argumentation. 20 Als die Liberalen die Regierung übernahmen, versuchten sie - besonders seit dem Sommer 1835 - eine »große Besitzerfa­ milie« zu schaffen, die von Kapitalisten und Großgrundbesitzern, aber auch von Bauern und Tagelöhnern gebildet werden sollte. D ies war eines der beiden maßgebenden Ziele der Säkularisierung ab 1836.21 Die Säkularisierung erreichte jedoch in keiner Weise die angestrebten Ziele. D ie erhoffte große Zahl von Besitzern wurde nicht geschaffen, denn der größte Teil der Grundstücke und Gebäude wurde von wenigen Besitzen­ den gekauft. In der Provinz Madrid erwarben 17,29% der Käufer 76,06% der Grundstücke, in der Provinz Sevilla 16,10% der Käufer 76,10% der Grundstücke. Von den städtischen Gebäuden gingen 76% an 147 Käufer. Die Bauern und Tagelöhner standen nicht nur mit leeren Händen da, son­ dern ihre Lage war schlimmer als zuvor: Sie verloren ihre Stellen als Pacht­ bauern. D iese Bauern stärkten den Carlismus, auf dessen Niederlage die Säkularisierung zielte. In den fünfziger Jahren dominierte in Spanien der Großgrundbesitz und die Adligen besetzten die ersten Ränge. D ie zweite Phase der Aufhebung von lehnsrechtlicher Bindung während der Jahre 1855 — 56, die auch den Gemeindebesitz betraf, veränderte nichts an der Lage der Bauern. Kurz, die Säkularisierung begünstigte diejenigen, die ihre Opfer hätten sein sollen. D as traditionelle agrarische Wirtschaftssystem wurde verstärkt, und die städtische Wirtschaft legte viel Kapital in der Landwirt­ schaft an, das damit nicht der Industrialisierung diente.22 Viele kritische Stimmen innerhalb des liberalen Lagers, wie die von Florez Estrada, betonten immer wieder, daß die liberale Gesellschaft nur auf der Basis eines breit gestreuten Besitzes gegründet werden könne.23 D och die Realität widersprach völlig diesem liberalen Gesellschaftsbild. D as liberale Gedankengut und die liberale Politik wurden in eine Richtung getrieben, die 444 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

die Träger des traditionellen Wirtschaftssystems begünstigte. Das Eigentum wurde zur Basis des politischen Systems, aber der Wahlzensus grenzte sehr große Teile der Bevölkerung aus. 24 3. Liberalismus und Industrialisierung Das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das die ersten liberalen Reform­ maßnahmen hervorbrachten, entsprach einer Option für einen agrarischen Kapitalismus, der mit einer antiindustriellen Politik einherging. D iese nega­ tive Haltung gegenüber der Industrialisierung seitens der regierenden Libe­ ralen und des größten Teils der Liberalen im Lande wird deutlich, wenn man die beiden großen polemischen Auseinandersetzungen der 40er und 50er Jahre betrachtet. a) Es begann mit der Debatte über Freihandel versus Protektionismus. Sie legte im Grunde die Gegensätze frei zwischen denen, die nach einer indu­ striellen Alternative suchten und denen, die die traditionelle Wirtschaft erhalten wollten - verbunden mit der Problematik der Beziehungen zwi­ schen Madrid und Katalonien. D ie Protektionisten gingen davon aus, daß ohne eine staatliche Intervention im Bereich des Außenhandels und ohne eine Repression des Schmuggels, von den Carlisten an der Grenze zu Frank­ reich betrieben, eine Erhaltung der katalanischen Industrie nicht möglich sei. Die Protektionisten, im wesentlichen Katalanen, aber auch Kastilier und Andalusier, wie beispielsweise Borrego, beriefen sich stets darauf, dem Gemeinwohl der Nation zu dienen. Sic glaubten, daß Spanien nicht mit England konkurrieren könne und die Öffnung der Handelsgrenzen, alle Möglichkeiten, Spanien zu industrialisieren, verhindere. Wirtschaftliche Freiheit, sagte Borrego, müsse ähnlichen Bedingungen wie die moralische, bürgerliche oder politische Freiheit unterliegen; nur auf diese Weise ver­ schwänden die verheerenden Wirkungen der ungezügelten Konkurrenz und der unbegrenzten Macht Einzelner, die Bedingungen des Marktes zu stören und seine natürliche Grundlage zu erschüttern.25 Die Verteidiger des Freihandels, in der Hauptsache Kastilier und Andalu­ sier, aber auch in Madrid ansässige Katalaner wie Figuerola und Sanromá, betonten, daß die katalanischen Industriellen nur ihre Monopolposition auf Kosten der Verbraucher aufrechterhalten wollten. Sie argumentierten, daß Katalonien den eigenen Interessen das Wohl Gesamtspaniens opfere, indem es einen Protektionismus fordere, der nichts als ein Vorwand zur Ansamm­ lung von Kapital sei. In dieser Auseinandersetzung war es üblich, volkspsy­ chologische Argumentationen zu gebrauchen: D ie Anhänger des Freihan­ dels pflegten vom katalanischen Egoismus zu sprechen, während die katala­ nischen Industriellen das Wort von der Faulheit der Freihändler gebrauchten. Diese Auseinandersetzung brachte außerdem einen tiefsitzenden Antikatalanismus hervor, wie er sich beispielsweise in der »Revista Militar« nieder­ schlug. General Fernández Sanromán schrieb z.B. im Jahre 1849, daß das 445 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

schlechte und ungerechte System des wirtschaftlichen Protektionismus nichts anderes als die Bereicherung Kataloniens zu Folge habe und unmittel­ bar schädlich für das Wohl und die Zukunft des spanischen Gemeinwesens sei. 26 b) Bei der Entwicklung der Eisenbahnen läßt sich ebenfalls die antiindu­ strielle Haltung der liberalen Regierungen beobachten. Die erste Eisenbahn­ strecke wurde 1848 zwischen Barcelona und Mataró eingeweiht. Zwischen 1855 und 1865 kam es zu einer fiebrigen Investitionstätigkeit im Eisenbahn­ wesen, die jedoch nicht darauf gerichtet war, die spanische Grundindustrie zu stimulieren. In diesem Zeitraum wurde siebenmal mehr Geld im Eisen­ bahnwesen als in die verarbeitenden Industrien investiert. Weder das System der staatlichen Finanzierung noch das Streckennetz zielten darauf, die Indu­ strialisierung voranzutreiben, sondern entsprachen ganz im Gegenteil ledig­ lich den Interessen der getreideproduzierenden Großgrundbesitzer. Auch die unbegrenzte Freiheit, das benötigte Material aus dem Ausland zu importieren, trug nicht zur Förderung der nationalen Schwerindustrie bei. Allgemein läßt sich feststellen, daß die Investitionen im Eisenbahnwesen ausschließlich die Konstruktion der Eisenbahn als solche, nicht jedoch gesamtwirtschaftliche Interessen im Blick hatten. Kritik am Eisenbahnge­ schäft, in das skandalöserweise auch die königliche Familie und die Kama­ rilla verwickelt waren, wurde häufig geäußert. Man forderte eine Verlangsamung der Streckenausdehnung, eine Anpassung an die tatsächlichen Not­ wendigkeiten des Güter- und Personenverkehrs und eine Streichung oder Verminderung der übermäßigen staatlichen Subvention.27 Für die antiindustrielle Haltung gibt es viele zeitgenössische Zeugnisse. In einigen wird mit Stolz darauf angespielt, daß Spaniens Reichtum in seinen Feldern, Viehzucht und Weingegenden liege und es daher nicht nötig sei, mit Schwindeleien nach fiktiven Reichtümern zu suchen. Andere Zeugnisse bedauern hingegen, daß die Reichen kein Interesse an der neuen Industrie haben, und stellen den Madrider Rentier dem Industrieunternehmer gegen­ über.28 III. Liberales Regime und »Burguesía« Die Träger des liberalen Gedankenguts auf der einen Seite und des liberalen Regimes auf der anderen entstammten unterschiedlichen sozialen Gruppen, die allerdings die Gegnerschaft gegen den Carlismus einte. Industrielle und Händler gehörten dazu, aber diese bildeten nicht den Kern des neuen Regi­ mes. Dessen Herrschaftszentrum wurde gebildet durch den Adel, die Gene­ ralität und die Gruppe der Politiker-Juristen. D ies verweist uns auf ein Charakteristikum des Liberalismus in Spanien, nämlich das Fortleben von Elementen des Ancien Regime. 1. D er Adel der isabellinischen Epoche war innig mit dem liberalen 446 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Regime verknüpft. D ie Adligen schlossen sich zum größten Teil der liberalen Bewegung an, und keines der großen Adelshäuser verband sich mit den Carlisten.29 D ie Säkularisierung durch die Liberalen nutzte dem Großadel, während die »hidalgos« des spanischen Kleinadels sich umstellen mußten. Der Adel dieser Epoche jedoch war kein erstarrter Stand, Die Krone erwei­ terte den titeltragenden Adel in einer Geschwindigkeit, die seit dem 17. Jahr­ hundert keine Vorläufer hat. 1834 bis 1868 wurden 401 neue Titel verliehen, in der Hauptsache an Militärs, Kolonialhändler und einige Bankiers.30 Jenseits seiner politischen Bedeutung (hauptsächlich durch den Senat) und seiner wirtschaftlichen Stellung (als Großgrundbesitzer) behielt der Adel ein gera­ dezu magisches Prestige bei den traditionellen Mittelklassen und den nicht proletarischen Volksschichten. D iese kollektive Wertschätzung, die histori­ sche Wurzeln hatte, ging in die politische Theorie der Doktrinäre ein. 31 2. D ie Verbindung der Militärs zum Liberalismus ist ein anderes Charak­ teristikum der Epoche. Für die Rolle der Militärs in den Regierungen und im politischen Leben allgemein haben schon die Zeitgenossen Erklärungen angeboten. Es muß hervorgehoben werden, daß auch einige liberale Denker eine Theorie der D iktatur lieferten. D ie Thesen von D onoso Cortes sind bekannt, aber auch Alcalá Galiano spricht in seinen Vorlesungen zum Staats­ recht (1843) davon, daß Diktaturen manchmal unumgänglich seien, »wenn im Streben nach der Herrschaft der Gesetze, die Unordnung weiter regiert, weil es keine Macht gibt, die für eine gesetzmäßige Regierung notwendig ist«. Jene Diktaturen, die er als nützlich bezeichnet, »müssen als Ziel haben, die Errungenschaften der Revolutionen zu bewahren, den Auswüchsen bei der Erringung der Macht ein Ende setzen und etwas vom Alten übernehmen und mit dem Neuen verschmelzen. Sie müssen sich, das ist wahr, auf die geläuterten religiösen Gefühle und auf die Verbesserung der in den Revolu­ tionen erworbenen Laster stützen. Aber diejenigen D iktaturen, die nur darauf aus sind, die Dinge wieder in ihre alte Ordnung vor der Revolution zu stellen, richten Schaden an und begehen Fehler.«32 Auch in der Forschung hat die Rolle der Militärs in den liberalen Regie­ rungen und im Vorstand der liberalen Parteien verschiedenartige Erklä­ rungen gefunden. Payne hat sie der politischen Spaltung der Gemäßigten zugeschrieben, die den Militärs die Möglichkeit schuf, politisch tätig zu werden.33 Pabon weist auf den schwierigen Übergang vom Krieg zum Frieden hin.34 In der Tat haben sich die Militärs im ständigen Kriegszustand, den Spanien seit 1808 erlebt hatte, als unentbehrlich gezeigt: Freiheitskriege gegen Napoleon, Unabhängigkeitskriege der Kolonien und der erste Carli­ stenkrieg. Im Verlauf dieses letzten Krieges zeigte sich die Unfähigkeit der liberalen Regierungen, die Bedürfnisse des Heers zu befriedigen. D ie Gene­ räle sahen sich gezwungen, in die Provinzial- und Gemeindeverwaltung einzugreifen, um Nahrungsmittel und Ausrüstung zu beschaffen. D adurch wurden ihre militärischen Aufgaben mit den politischen verschmolzen. Die wichtige Rolle der Militärs in der liberalen Politik beschränkte sich 447 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

nicht nur auf ihre Teilnahme an der Regierung; auch im Senat hatte sie viele Sitze. 1843 zählte man über 40 Generäle auf Senatorensitzen, im Jahre 1850 stellten sie 93 von 314 Senatoren. D arüber hinaus wurde das Heer ein Vor­ bild für die Gemäßigten, die seine hierarchische Organisation und seine Leistungsfähigkeit bewunderten.35 3. Zu den Trägern des liberalen Regimes zählten weiterhin verschiedene kleine Gruppen, die man »Bürgerliche« (burgueses) zu bezeichnen pflegt. Es ist zwar ein Topos, daß die spanische Bourgeoisie in dieser Epoche zu unterentwickelt und schwach gewesen sei. Man darf jedoch nicht überse­ hen, daß sie aus verschiedenartigen Gruppierungen mit unterschiedlichen Einstellungen zum Regime bestand. D a diese Unterschiede die Fortdauer traditioneller Züge enthüllen, sind sie geeignet, die Kontinuität zur »alten Gesellschaft« zu verdeutlichen.36 Die traditionelle Handelsbourgeoisie, im Kolonialhandel engagiert, hatte ein enges Verhältnis zum neuen Regime, denn sie hatte den liberalen Regie­ rungen Geld geliehen, um den Kampf gegen den Carlismus voranzutreiben. Diese Handelsbourgeoisie - sie hatte ihren Sitz vor allem in Cadiz - war jedoch dem alten Wirtschaftssystem verbunden, denn sie wirkte hauptsäch­ lich als Zwischenhändler und beteiligte sich nicht an der Gründung von Industrien. D ie neuen Agrarier, die sich im Zuge der Säkularisierung berei­ chert hatten, sahen ihre Interessen ebenfalls mit denen des Regimes verbun­ den. Auch sie gehörten mehr zum alten Wirtschaftssystem, denn man kann im allgemeinen sagen, daß sie die Position der Landwirtschaft stärkten. D ie Bankiers und Finanziers, deren Zahl nach dem Gesetz vom Jahre 1855 erheblich stieg - auch sie mit dem Regime verquickt - waren im Grunde Abenteuerkapitalisten. D ie katalanischen Industriellen schließlich zeigten ein unterschiedliches Profil. Sie erkärten sich auch für das liberale Regime und förderten von Anfang an dessen politische und militärische Tätigkeiten. Aber schon im Jahre 1835 ist bei den liberalen Industriellen in Katalonien eine Wendung wahrzunehmen: Bei dem Aufstand in den Städten im Jahr 1835 wurden nicht nur Klöster, sondern auch Fabriken in Brand gesetzt. Das war das Werk einer Arbeiterschaft, die inzwischen entstanden war und ein neues Klassenbewußtsein entwickelt hatte. D ie Industriellen gingen fortan zu einer defensiven Haltung über und verzichteten, die liberale Politik aktiv mitzuprägen. Statt dessen widmeten sie sich ihren Geschäften und forderten Ruhe auf der Straße und in den Fabriken, während sie den Aufbau und die Ausgestaltung des neuen liberalen Staates den Kastiliern überließen. Infolge­ dessen bekam das Regime sein Profil nicht von der Industriebourgeoisie, sondern von den anderen Gruppen, die am ausgeprägtesten traditionelle und antiindustrielle Einstellungen zeigten. D ie durch eine hohe Arbeitsmoral charakterisierten katalanischen Industriellen gehörten nicht zu den maßge­ benden Vertretern des Liberalismus der 50er und 60er Jahre. 37

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IV. Resümee 1) D as politische Regime und die Gesellschaft zwischen 1834 und 1868 wurzelten tief in der Vergangenheit. D as wird deutlich an der Auffassung über die historische Verfassung Spaniens, ebenso an der wirksamen Präsenz des grundbesitzenden Adels, der neben den Militärs die führende Schicht blieb. D ie verschiedenen bürgerlichen Schichten waren in unterschiedlicher Intensität mit dem liberalen Regime verbunden, am wenigsten die Indu­ striellen. D enn wirtschaftlich zielten die regierenden Liberalen nicht auf Industrialisierung, sondern auf die Stärkung traditioneller agrarischer Inter­ essen. 2) Es gelang nicht, das mittelständische Gesellschaftsbild der Liberalen aus seiner Bindung an die Vergangenheit zu lösen. D aß die Liberalen die Führungsrolle des Adels anerkannten, weist darauf hin, daß die Mittelklas­ sen sich nicht in der Lage sahen, die Gesellschaft und den Staat nach ihren Vorstellungen zu organisieren. Wir wissen jedoch noch nicht genügend, welche Beziehungen andere Gruppen, die ebenfalls mit der traditionellen Gesellschaft eng verflochten waren, zum Liberalismus hatten. D as gilt vor allem für Handwerker und »Hidalgos«. D ie Erforschung dieser Gruppen 1860 fast eine Million unter einer Bevölkerung von 15 Millionen - würde es ermöglichen, die »Mittelklasse(n)« und das liberale Gesellschaftsmodell prä­ ziser zu erfassen. D ie liberale Epoche 1834—1868 - dies kann man jedoch schon jetzt feststellen - hat die ständische Gesellschaft nicht völlig zerstört. Die Versöhnung mit der Kirche im Jahre 1851 verstärkte sogar noch die Bindungen an die Vergangenheit.

Anmerkungen 1 1848 und 1872 brachen der zweite bzw. der dritte Carlistenkrieg aus. Zur Geschichte des Carlismus vgl. R. Oyarzun, Historia del carlismo, Madrid 19653. D ie These, daß sich der gesamte Adel den Liberalen anschloß, ist unlängst revidiert worden von F. Asin, Carlismo y sociedad 1833-40, Zaragoza 1987. 2 Zu den politischen Parteien in der lsabellinischen Epoche vgl. C. Marichal, La revolucián liberal y los primeros partidos políticos en España (1834—1844), Madrid 1980; F. Canovas, El partido moderado, Madrid 1982; E. Eiras Roel, El partido democrata español (1849—1868), Pamplona 1961; Μ. Artola, Partidos y programas políticos, 2 Bde., Madrid 1975. Zur Verfas­ sungsgeschichte: L. Sánchez Agesta, Historia del constitucionalismo español, Madrid 19783 (zuerst 1955). 3 D iario de Sesiones, 8. 1. 1836, S. 316. Zum Estatuto Real vgl. J . Tomás Villarroya, El sistema politíco del Estatuto Real, Madrid 1968. Zum Doktrinarismus L. Diez del Corral, D oktrinärer Liberalismus, Neuwied 1964. 4 D as ist die Botschaft der Regentinrede bei der Oktroyierung des Estatuto Real, in: Diario de Sesiones, 24. 7. 1834. 5 J . D otioso Cortés, in: Diario de Sesiones 2. 11. 1844, S. 212.

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6 D er Text nimmt nicht den Regierungsvorschlag auf, daß der Adel und der Klerus eine ständische Vertretung haben sollten. Text des Regierungsentwurfes bei Tomás Villarroya, Apéndice 1. Nach dem Estatuto Real sind die Granden von Amts wegen erbliche Mitglieder des »Estamento de Próceres«, ebenso wie die »Titulos de Castilla«, deren Anspruch jedoch nicht vererbbar ist. Mit der Verfassung von 1845 wird die Erblichkeit der Senatsitze aufgehoben, die Senatoren werden in unbegrenzter Zahl auf Lebenszeit vom König ernannt. 7 A. Alcalá Galiano, Lecciones de Derecho Politico [1843], Nachdruck Madrid 1984. S. 50, 53. 8 J . F. Pacheco, Lecciones de Derecho Politico [1840], Nachdruck Madrid 1984, S. 175. 9 A. Borrego, Lo que ha sido, lo que es y lo que puede ser el Partido Conservador, Madrid 1857, S. 58. 10 D iano de Sesiones, 24. 11. 1844. 11 Alcalá Galiano, S. 60. 12 Borrego, S.39f. 13 D onoso Cortés, Ley Electoral, in: Obras Completas, Madrid 1970, I, S. 186f., 150. 14 Pacheco, S. 175. 15 Ebd., S. 179. 16 Alcalá Galiano, in: Diario de Sesiones 18. 11. 1844, S. 511. 17 Borrego, S. 62. 18 Larra schreibt: »für die Verfassung kämpfte ich, [...] damit dann wenige andere reich wurden«, in: La clase media [1834], in: D ers., Obras, Bd. I, Madrid 1960, S. 411-412. D ie Tugenden der Mittelklassen, die bei Larra angeführt werden, sind: Ordnungssinn, Hochschät­ zung des Nützlichen, Kraft, Gleichgewicht, Weisheit. Über Duque de Rivas vgl. A. Derozier, Escritores políticos españoles, Madrid 1975, S. 80. D as spätere Theaterwerk von A. Lopez de Ayala stellt die Mittelklassemoral der Moral des Geschäftsmanns gegenüber. Siehe z. B. sein Theaterstück »Consuelo«. 19 Alcalá Galiano, S. 53, 193. D as »D iccionario de la Real Academia« [1884] beschreibt jedoch die Mittelklasse nur noch als »die Klasse, die zwischen den Reichen und denjenigen, die vom Gehalt oder Lohn leben, steht«. Ende der vierziger Jahre erscheint bei den Katholiken Donoso Cortes und Balmes eine zweiteilige Vorstellung der Gesellschaft. 20 Zum Eigentumsbegriff bei den Liberalen: J. M. López, Curso político-constitucional [1840], Nachdruck Madrid 1987, Kap. 11; Alcalá Galiano, S. 67ff.; N. Pastor Diaz, Problemas del socialismo [1848/49], in: Ders., Obras, IV, S. 152ff.; Pacheco, Kap. 10. 21 Real-D ecreto 19. 2. 1836, in: Ferrer y Jou, Reales Decretos y Ordenes de S. M., Madric 1837. Zur Säkularisierung: F. Simón Segura, La desamortización española del siglo XIX, Madrid 1973. 22 Vgl. J. Nadal, El fracaso de la revolución industrial en España 1814-1913, Barcelona 1975. 23 Vgl. A. Florez Estrada, Del uso que debe hacerse de los bienes nacionales (1836], in: Ders. Obras, Madrid 1958, I, S. 363ff. 24 Vgl. D . Nohlen, Spanischer Parlamentarismus im 19. Jahrhundert, Meisenheim am Glar 1970. 25 A. Borrego, Principios de economía política, Madrid 1844, S. 31. Zur Protektionismus­ auseinandersetzung: J . Vicens Vives, Historia de España y América, Bd. V, Barcelona 1972, S. 220ff.; E. Lluch, El pensament econòmic a Catalunya 1760-1840. Els origens ideologies de proteccionismc i la presa de conscieencia de la burguesia catalana, Barcelona 1973. 26 E. Fernández San Román, Consideraciones sobre la guerra de Cataluña, in: Revista Militai IV, 1849, S. 129-153, hier S. 138f., nach P. Vilar, Liberalisme politique et libéralisme économique dans l'Espagne du XIX. siècle, in: Ο Liberalismo na Peninsula Iberica na primeira metad‹ do século XIX, Lisboa 1982, Bd. II, S. 15. Diese Auseinandersetzung verband sich auch mit der Kolonialfrage und der Aufhebung der Sklaverei. D azu G. Rodriguez, La idea y el movimiente antiesclavistaen Espana durante el siglo XIX, Ateneo de Madrid 1886/87. 27 Vgl. J . Nadal, S. 37ff. 1853 hatte das Streckennetz 200km, 1865 5145 km. Kritik an der

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Eisenbahnpolitik in: Revista Industrial (26. 9. 1858), Revista Minera XV, 1864, S. 705-712. Andererseits wurde die Industrialisierung von der Entwicklung des Bankwesens mehr benach­ teiligt als begünstigt. Siehe G. Torteita, Los origenes del capitalismo en España. Banca, indu­ stria, ferrocarriles, Madrid 1973, S. 336ff. 28 Zum ersten Zeugnis vgl. Boletín de Empresas, 37 (6. 8. 1845). Zum zweiten vgl. der Beitrag des Senators Acebal, in: Diario de Sesiones, 1848/49, S. 1243/44. 29 D as Gewicht des Adels war geographisch sehr unterschiedlich. Nach der Volkszählung von 1826 war das Verhältnis der Adligen zur Gesamtbevölkerung in Nordkastilien 1 zu 3 Einwohner, in Leon: 1 zu 5, in Navarra 1 zu 7, in Valencia 1 zu 240, in Katalonien 1 zu 300 Einwohner. D as neue Buch von Asin zeigt, daß auch Adlige sich dem Carlismus an­ schlossen. 30 Nach M. Tuñón de Lara, in: La Question de la »bourgeoisie« dans le monde hispanique au XIX siecle, Bordeaux 1973, S. 107. 31 Zu dieser kollektiven Wertschätzung A. Domínguez Ortíz, La sociedad españolaen el siglo XVII. Madrid 1963. Ders., La sociedad española en el siglo XVIII, Madrid 1955. 32 Alcalá Galiano, S. 334, 335. Über D onoso Cortes: Ε. Schramm, Donoso Cortes. Leben und Werk eines spanischen Antiliberalen, Hamburg 1935; C. Schmitt, Der unbekannte Donoso Cortes, Hamburg 1940. 33 S. Payne, Ejército y sociedad en la España liberal, 1808-1936, Madrid 1977, S. 24. 34 J . Pabon, El regimen de los generales desde una fecha y un archivo, Madrid 1968. 35 E. Christiansen, Los origenes del poder militar en España, 1800—1854, Madrid 1974, S. 109. Siehe auch J. M. Jover, Política, democracia y humanismo popular, Madrid 1976, S. 281-303. 36 Wir haben noch keine umfassende begriffsgeschichtliche Untersuchung von »burgués« und »clase media«. Einen ersten Ansatz geben J. F. Botrel u. J. Le Bouil, Sur le concept de »clase media« dans la pensee bourgeoise en Espagne au XIX. siecle, in: La question (Anm. 30), S. 137-151. D er Terminus »burgués« wird sehr spät (ab 1868) mit einem kritischen, pejorati­ ven Sinn bei den Arbeitern gebraucht. Das »Diccionario de la Real Academia« (1884) hingegen beschreibt »burgués« als »Bürger der Mittelklasse« und versteht die Mittelklasse als zwischen­ stehende Schicht. 37 Zur Bourgeoisie in Katalonien: J. Vicens Vives, Cataluña en el siglo XIX, Madrid 1961; A. Jutglar, Els burgesos Catalans, Barcelona 1966. Über Cádiz: A. Ramos, Laburguesia gaditana en la época isabelina, Cádiz 1987. Allgemeiner Überblick in: J . Vicens Vives, Historia de España y America, Bd. 5, Barcelona 1972. Siehe auch R. Carr, España 1808-1939, Barcelona 19702, S. 197 ff. (englisch: Oxford 1966 u. ö.).

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IV. Südost- und Osteuropa: Ungarn und Rußland

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DIETRICH GEYER

Einführung

Der letzten Sektionssitzung der Bielefelder Liberalismus-Konferenz war die Aufgabe zugedacht, den europäischen Rahmen der Erörterungen um zwei Beispiele zu erweitern: um das Königreich Ungarn und das russische Kaiser­ reich. D ie Zusammenfassung dieser Länder zu einer Sektion war nur ta­ gungstechnischer Natur; keinesfalls sollte unterstellt werden, daß Ungarn und Rußland einander im europäischen Vergleich besonders nahestünden. Ob Ähnlichkeiten, die es dennoch gab, für tiefergehende Analysen viel zu bieten haben, steht dahin. Immerhin drei solcher Gemeinsamkeiten seien hier genannt. Erstens: Ungarn und Rußland waren bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Vielvölkerstaaten. Im Zarenreich machten die Russen wenig mehr als die Hälfte aller Untertanen aus. In Ungarn waren die Magyaren sogar in der Minderheit. D araus ergab sich, daß eine erfolgreiche liberale Politik versuchen mußte, auch die Nationalitätenverhältnisse nach eigenen Grundsätzen zu regulieren. Zweitens: Beide Vielvölkerreiche waren über­ wiegend agrarisch strukturiert. D as bedeutete, daß ohne die Emanzipation der ländlichen Bevölkerung eine Gesellschaft freier Staatsbürger nicht zu haben war. Und drittens schließlich waren Bürgertum und Städtewesen in Ungarn wie in Rußland gleichermaßen schwach entwickelt. D ie Folge war, daß die liberale Bewegung in beiden Ländern vorwiegend aus dem Adel kam. Modernes Wirtschaftsbürgertum baute sich im Königreich Ungarn erst später auf - durch die Magyarisierung deutscher und jüdischer Ge­ schäftsleute, Händler und Unternehmer, Auch im kaiserlichen Rußland bildete sich eine moderne bürgerliche Klasse nur sehr allmählich aus. Mit Liberalismus hatte diese Bourgeoisie im allgemeinen nichts im Sinn. Die folgenden Beiträge, je zwei für Ungarn und für Rußland, zeigen im Vergleich, daß die strukturellen Unterschiede zwischen beiden Ländern erheblicher waren als die Ähnlichkeiten. Ergiebig dürften Seitenblicke auf die polnische Sozialgeschichte sein. In Ungarn wie im geteilten Polen begriff sich der Adel als Nation. In Rußland dagegen war der Adel ein Untertanen­ verband der zarischen Autokratie. Für das Königreich hat András Gergely einleuchtend dargetan, daß der Liberalismus bereits im Vormärz die politische Leitidee des ungarischen Adels war. D ieser Adel hatte ungewöhnlich breite Fundamente. Fünf Pro­ zent aller Landesbewohner gehörten im Königreich dem Adel an. Bezieht 455

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man diese Rechnung allein auf die Ungarn im ethnischen Sinn, so waren sogar zehn Prozent von ihnen adligen Standes. Höhere Anteile im damaligen Europa hatte allein der polnische Adel. Im ungarischen wie im polnischen Adel gab es nach Besitz und Bildung ein großes soziales Gefälle. D ie Masse der Edelleute waren kümmerliche Existenzen. Selbst der mittlere Adel, der die liberale Bewegung in Ungarn trug, lebte eher bescheiden als »feudal«. Den Übergang zur kapitalistischen Landwirtschaft wagte nur ein kleiner Teil. Anders als in Rußland gab es in Ungarn wie in Polen starke adelsständi­ sche Traditionen. D ie Adelsnation umfing auch den heruntergekommenen Edelmann. D as Prinzip rechtlicher Gleichheit hielt das Selbstbewußtsein auch des kleinen Adels wach. In Ungarn wie in Polen waren die Edelleute davon überzeugt, daß vor allem sie den Kampf um Unabhängigkeit und Freiheit der Nation zu fuhren hätten. Bedeutsam war, daß sich in Ungarn, anders als in Polen, die ständische Landesverfassung noch erhalten hatte: Im Landtag wie in den Komitaten gewann der ungarische Adelsliberalismus schon im Vormärz Schwung und Publizität. Nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 kam der libera­ le Adel in Budapest ans Ruder. D ie Probleme, die sich für die ungarische Staatspolitik nun ergaben, hat István Diószegi in seinem Beitrag dargestellt. Grundlage liberalen Regierens war ein großangelegtes Reformprogramm. Es zielte auf die Modernisierung der politischen und gesellschaftlichen Ver­ hältnisse, auf den liberalen Rechtsstaat mit unabhängiger Justiz, öffentlicher Verwaltung und allgemeiner Schulpflicht. Im Blick hatte man das Idealbild einer Staatsbürgergcsellschaft, die alle Landeseinwohner umfassen sollte. Die Adelsnation sollte sich zur modernen Nation erweitern. D ie Politik jedoch hielt sich an ein straff zentralisiertes Staatsmodell. D as Wahlrecht beruhte auf einem hochgesteckten Besitz- und Bildungszensus. D as schloß die große Mehrheit der Bevölkerung, darunter auch die Nationalitäten, aus dem parlamentarischen Leben aus. D as Nationalitätengesetz von 1868, als Großtat der liberalen Reformer gepriesen, beruhte auf der Erwartung, daß die Bauernemanzipation die Loyalität der Nationalitäten verbürgen werde. Doch die Erwartung trog. Mit Ausnahme Kroatiens blieb den nichtungari­ schen Landesteilen territoriale Autonomie versagt. Zu eigener Nationsbil­ dung moderner Prägung sollten die Nationalitäten nicht kommen. Sic soll­ ten Magyaren werden, Staatsbürger der einen und unteilbaren ungarischen Nation. D ie rigide Assimilationspolitik mochte freilich als Hebel des sozia­ len Aufstiegs dienen. Diese Möglichkeiten haben überwiegend deutsche und jüdische Bevölkerungsteile genützt. Sie bildeten in Ungarn das Reservoir einer modernen Bourgeoisie. Auch in Rußland waren bürgerliche Schichten für den Liberalismus vor geringem Belang. Weder der traditionelle Kaufmannsstand noch kapitalisti­ sche Unternehmer haben in der liberalen Bewegung eine nennenswerte Rolle gespielt - auch in den 1905 entstandenen liberalen Parteien nicht. Wie Dietrich Beyrau zeigt, gingen die wesentlichen Anstoße vom Zusammen456 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

wirken zweier Faktoren aus: von aufgeklärten Beamten in den Ministerien und von liberal gesonnenen Minderheiten des Landadels. Nach der Nieder­ lage Rußlands im Krimkrieg setzten diese Kräfte in den 1860er Jahren einschneidende Reformen in Gang. Vergleiche mit der preußischen Reform­ zeit unter Stein und Hardenberg liegen nahe. Kern dieser Reformpolitik war die Aufhebung der bäuerlichen Leibeigenschaft. Gesetze zur Modernisie­ rung des Behördensystems, der Justiz, der Städteordnung und der Militär­ verfassung schlossen sich an. Nicht angetastet werden sollte die autokrati­ sche Herrschaftsform. D as bedeutete, daß der russische Beamtenliberalis­ mus, ungleich stärker als der preußische, vom Willen des Monarchen abhän­ gig blieb. Auch die beschränkte Handlungsfähigkeit liberaler Adelskreise erklärt sich daraus. Anders als in Polen und in Ungarn hatte der Adelsstand in Rußland keine korporativen Traditionen. Noch im 19. Jahrhundert wurde er vor allem durch den Staatsdienst definiert. D ie russischen »Adelsgesellschaften« wa­ ren Produkte der aufgeklärten D espotie Katharinas IL Erst die nach 1864 eingeführten Selbstverwaltungsinstitutionen (Zemstvo) haben dem Land­ adel öffentliche Wirkungsfelder angeboten. D och gegen die Behörden hat dieser »Zemstvo-Liberalismus« nichts vermocht. Vor der Revolution von 1905 konnte er sich auf lokaler Ebene nur in bescheidenem Umfang entfal­ ten. Neben liberalen Grundbesitzern bekam im Lauf der Zeit die im Zemst­ vo tätige berufsständische Intelligenz eigenes Gewicht und teilte der eher gemäßigten Zemstvo-Bewegung auch radikale Züge mit. 1905 haben sich in diesem Milieu zwei liberale Parteien formiert: die Konstitutionellen D emo­ kraten (kadety) mit dem Ziel einer Parlamentarisierung der Reichsverfassung und die »Oktobristen«, die als loyale Opposition die vom Zaren zugestandenen Spielräume nutzen wollten. Heinz-D ietrich Löwe hat sich in seinem Beitrag auf die Periode von 1890 bis 1914 konzentriert und im einzelnen gezeigt, daß die großen Modernisierungsschübe dieser Zeit dem gouvernementalen Liberalismus viel verdanken. D as gilt vor allem für die Industriepolitik des Finanzministers Witte (1892—1903) und für die von Peter Stolypin (1906—1911) initiierten Reformen. D ie Fragenach der gesell­ schaftlichen Verankerung des russischen Liberalismus stellt sich indessen immer wieder neu.

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ANDRÁS GERGELY

Der ungarische Adel und der Liberalismus im Vormärz 1. Forschungsstand und Deutungsmuster In Ungarn bekannten sich seit 1830 die Adligen, soweit sie sich politisch engagierten, überwiegend zum Liberalismus. In der Mehrzahl der Komitate wie auch an der Unteren Tafel des Landtags gewannen die Liberalen zwi­ schen 1830 und 1848 die Mehrheit. D ie Regierung und der Wiener Hof hatten es vergeblich zu verhindern versucht. Auch wenn man bedenkt, daß nicht der gesamte Adel politisch aktiv war und ein Komitat mit einem geringen Adelsanteil ebenso wie ein Komitat mit 10000 Adligen zwei (an Instruktionen gebundene) Abgeordnete an die Untere Tafel entsandte, kann man feststellen: D er Liberalismus war im Vormärz die dominierende Strö­ mung im ungarischen Adel. Er vertrat - das hat die ungarische Geschichts­ schreibung gründlich erforscht - Reformforderungen, die ohne jede Ein­ schränkung und ohne provinziellen Beigeschmack dem europäischen Libe­ ralismus zuzuordnen sind. D er ungarische Adel, der sich im Rahmen einer ständischen Öffentlichkeit frei politisch äußern konnte, drängte also auf bürgerliche Reformen - ohne Zweifel ein in der europäischen Geschichte einmaliges Phänomen. Betrachten wir nun die bisherigen D eutungsversuche, zunächst das libe­ rale Selbstbild. D ie ungarischen Liberalen bezeichneten sich als oppositio­ nelle Liberale. D ies bezog sich nicht nur auf ihre konkreten Forderungen, sondern auf ihre gesamte Ideenwelt, die sich am westeuropäischen Liberalis­ mus orientierte. D ie Zeichen der Zeit besser als der Adel in den anderen europäischen Staaten verstanden zu haben, erfüllte ihn mit Selbstbewußt­ sein. Daß er seine Privilegien freiwillig mit dem Volk teilen wollte, verstand er als ein Opfer, für das das Volk dankbar sein müsse. Gleichzeitig gewann aber im ungarischen Adel auch eine positivistische Betrachtungsweise an Bedeutung: Die Entwicklung der Menschheit gehe auf jeden Fall diesen Weg und der Adel könne, selbst wenn er wollte, sich dem Zeitgeist nicht wider­ setzen. Was andernorts auf revolutionärem Weg erreicht worden sei, müsse hier schrittweise durch Reformen geschehen. D ie Verspätung ermögliche es, Fehlentwicklungen zu vermeiden. Gewissermaßen als Lohn für die Re­ formen werde der Adel einen Teil seiner Positionen bewahren. Im Gegensatz 458

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zu früher stehen diese aber nur dem Einzelnen auf Grund seiner Verdienste, nicht dem Adel in seiner Gesamtheit zu. Vor allem aber werde das Land aus dieser bürgerlichen Umgestaltung, vom Adel durch Reformen erzwungen, als eine starke Nation hervorgehen. Ungarn dreht »sich fortan um seine eigene Achse« - selbstverständlich nur im Rahmen des Habsburger Reiches. Dieses Selbstbild des ungarischen Adels beeinflußte die liberale Ge­ schichtsschreibung des 19. Jahrhunderts stark. D er Fortschritt, so betonte sie, hätte aufjeden Fall seinen Weg gebahnt, doch der schnelle und harmoni­ sche Reformverlauf sei ausschließlich der Selbstopferung des ungarischen Adels zu verdanken. In dem Prozeß der bürgerlichen Umgestaltung habe die politisch führende Klasse ein Zeugnis ihrer Größe abgelegt. Zu den wichti­ gen Ergebnissen, die von der Forschung bis 1918 erarbeitet wurden, gehört vor allem der Nachweis, daß die herrschenden Kreise in Wien für den gesamten Modernisierungsprozeß kein inhaltliches Konzept besessen ha­ ben. Als nach dem Ersten Weltkrieg das historische Ungarn auseinanderbrach, entstand ein neuer konservativ geprägter D eutungsversuch. D er hervorra­ gende Historiker Julius von Szekfü beschrieb die Geschichte Ungarns im 19. Jahrhundert als eine Geschichte des Untergangs, beginnend im Jahre 1830.1 D en gesamten Liberalismus, das Zeitalter der Reformen, die Ereig­ nisse von 1848 und was sich daran anschloß, führte er auf den Einfluß fremder Ideen zurück - eine Folge der politischen Unreife und falschen Orientierung des Adels, die konsequent zur Katastrophe von 1918 — 1920 führten. D er Liberalismus, eine zersetzende Idee, deren Frucht auch noch der Bolschewismus gewesen sei, habe die ungarische Gesellschaft zerrüttet. Die große Schwäche dieser bereits damals sehr umstrittenen Konzeption Szekfüs war ihre Unfähigkeit, Motive für den »irrtümlichen« Weg des Adels anzugeben; er spricht von nationalen Charakterfehlern und von agitatori­ schen Tätigkeiten. Beachtenswert bleibt aber, daß der Autor den Adel verurteilt, eben weil er sich dem Liberalismus angeschlossen und den »lais­ sez-faire«-Kapitalismus gebilligt habe. Ob man überhaupt von einem Liberalismus des ungarischen Adels spre­ chen könne, wurde erstmals von dem marxistisch-sozialdemokratischen Theoretiker Ervin Szabó bezweifelt.2 D ie Reformbewegung sei nur die letzte Periode zahlreicher, Jahrhunderte währender Kämpfe des ungarischen Mitteladels gewesen, der im Vormärz und abermals 1848 versucht habe, dem Hochadel die führende Rolle in Gesellschaft und Staat zu entreißen bzw. Wien gegenüber seine Eigenständigkeit zu sichern. D er Mitteladel habe zwar moderne Prinzipien und Ideen vertreten, sie aber in den D ienst adelig-ständischer Klasseninteressen gestellt. D a eine bürgerliche Umge­ staltung nicht im Interesse des ungarischen Adels gelegen habe, sei seine Politik auch nicht zu verurteilen. Als sich Jószef Révai, ein Theoretiker der kommunistischen Bewegung, auf Grund aktueller politischer Ereignisse in einer seiner grundlegenden 459 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Untersuchungen aus der 2. Hälfte der 1930er Jahre mit der Reformzeit beschäftigte, ging er ohne Vorbehalt von einer fortschrittlichen bürgerlichen Reformbewegung aus; was 1848 in Ungarn geschehen war, bewertete er als eine bürgerliche Revolution.3 Ursache der politischen Aktivität des Adels seien seine Erwartungen an eine kapitalistische, warenproduzierende Land­ wirtschaft gewesen. D eshalb sah Révai überwiegend den grundbesitzenden Adel als Träger des Adelsliberalismus an, da sich nur in der Landwirtschaft eine kapitalistische Produktion entwickelte, gehemmt allerdings von den feudalen Verhältnissen. Der Wunsch nach wirtschaftlicher Selbstbestimmung zog in der Tat, wie Révai zu Recht feststellte, die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung nach sich; und die starke Stütze der Reformbewegung war, wenn auch nicht in seiner Gesamtheit, der grundbesitzende Adel. Gleichwohl gilt es zu betonen, daß der Weg des Adels in Richtung Kapitalismus nicht etwa agrarkapitalistisch motiviert, sondern eher durch die Krise der alten Wirt­ schaftsordnung bedingt war. Die in der Krise steckenden Grundbesitzer und nicht jene, die über die Mittel zur Modernisierung verfügten, suchten nach einem Ausweg. Letzteren, dafür gibt es zahlreiche Beispiele, gelang auch unter den gegebenen Verhältnissen die erfolgreiche Konsolidierung; ihre Strategie bestand im Abwarten. Die ortsgeschichtliche Forschung konnte zeigen, daß sich die Reformbe­ wegung am besten als ein zweistufiger gesellschaftlicher, mentalitätsbeding­ ter Prozeß verstehen läßt: D ie adelige Elite übernahm das Programm des Liberalismus und konnte dieses Programm mit ihrer Mehrheit auch durch­ setzen. D as System der Privilegien war überholt, aber immerhin konnte in seinem Rahmen für das Modernisierungsprogramm gewirkt werden.

2. Privilegierte in der Krise Worin bestand nun der Unterschied zwischen dem ungarischen Adel und dem Adel anderer europäischer Länder? Am auffälligsten war der hohe Anteil des Adels an der Gesamtbevölkerung. Jeder Zwanzigste, etwa 5% der Bevölkerung, gehörte dem Adel an; nur in Polen lag die Adelsquote höher. Bedenkt man aber, daß die nicht-ungarischen Nationalitäten die Bevölke­ rungsmehrheit bildeten, die überwiegende Mehrheit des Adels dagegen Ungarn waren, so kann man den Anteil für die Ungarn selbst verdoppeln. Jeder zehnte Ungar verfugte also über Adelsprivilegien. In den meisten europäischen Ländern betrug der Adelsanteil nicht mehr als 2%, oft weni­ ger. Ein großer Teil dieser ungarischen Adelsmassen war nie in der Lage, Herr über Hörige zu sein. Aber auch bei dem über Hörige verfugenden Adel gab es eine außerordentlich starke Differenzierung der Vermögen. Innerhalb der Adelsgesellschaft bildete sich deshalb eine kontinuierliche Schichtenfol460 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

ge heraus, in der alle Vermögensgruppen vertreten waren. Als anläßlich der Insurrektion von 1809 die Vermögensverhältnisse des Adels erfaßt wurden, kamen etwa 1000 Familien auf ein Jahreseinkommen von mehr als 1000 Gulden und ca. 2000 erreichten über 2000 Gulden. D iese 3000 Familien dienten auf eigene Kosten im Militär. Weitere 32000 Adelige wurden durch andere Adelsfamilien oder durch den Staat im Kriegsfall ausgestattet. D ar­ über hinaus lebten in Ungarn etwa 100000 Oberhäupter von Adelsfamilien, die angesichts ihrer materiellen Lage in die Vermögenserfassung nicht ein­ mal einbezogen wurden. Der Hochadel bestand im Vergleich zu anderen europäischen Ländern aus nur wenigen Familien: 4 herzögliche, wenig über 100 gräfliche und kaum mehr freiherrliche. Fast alle verfügten über einen außerordentlichen Reich­ tum; einige besaßen ein größeres Gebiet als mancher deutsche Fürst. In dem - rechtlich gesehen - einheitlichen Stand des Adels bildeten die »bene possessionatus« die Spitzengruppe. Ihr gehörten je Komitat nur einige wenige Familien an, die mit ihrem Besitz von ein paar 1000, manchmal auch über 10000 Morgen die Politik im Komitat bestimmten. D anach folgte auf der Schichtskala der Adelsgesellschaft die größere, aber immer noch nicht sehr zahlreiche Gruppe des grundbesitzenden Mitteladels. Seine untere Grenze läßt sich nur schwer anhand des Grundeigentums bestimmen. Wich­ tig war, wieviel in Eigennutzung (Allodialbesitz) bzw. unmittelbarer Nut­ zung der Leibeigenen lag; vor allem aber, ob der Grundbesitzer cm herr­ schaftliches Leben fuhren konnte. Nach diesen Kriterien läßt sich die untere Grenze bei einigen 100 Morgen ziehen. Die erstere Gruppe größeren Unifangs bildete der Kleinadel. D ie Fami­ lienmitglieder waren hier noch von der landwirtschaftlichen Arbeit befreit, wenngleich die ausgesprochen patriarchalische Lebensweise von den nach­ folgenden Generationen, die den Grundbesitz weiter untereinander aufteil­ ten, oft nicht mehr erreicht werden konnte. Ihnen folgten die sog. »SiebenPflaumenbaum-Adeligen«, die zwar noch im Besitz von Stiefeln und Säbeln waren, ihre landwirtschaftlichen Arbeiten aber selbst verrichten mußten. Ebenfalls noch zu den Besitzenden zählend, folgten ihnen die »Bundschuh­ Adligen«, die auf ihrem eigenen Bauernhof, also gewissermaßen als Hörige von sich selber, wirtschafteten. Und schließlich die Besitzlosen, die sich sogar als Hörige anderer verpflichteten. In einem 1836 verabschiedeten Gesetz wurden die »Bundschuh-Adeligen« auch zur Zahlung der staatlichen Steuer verpflichtet. Wovon lebte die beträchtliche Zahl der Adeligen ohne Grundbesitz? Es gab zwar auch in Adelskreisen Proletarier, Knechte und Tagelöhner, doch das waren nur wenige. D ie Mehrheit ging einer nicht-manuellen Beschäfti­ gung nach: Pfarrer, D orflehrer, Notare, Gutsverwalter, Offiziere, Ange­ stellte des Staates, der Großgrundbesitzer und der Kirche. Groß war auch die Gruppe der Gewerbetreibenden; das Gewerbe der Stiefelmacher war bei­ spielsweise eine Domäne des Adels. Noch am 1. Mai 1890 beteiligten sich 461 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

die Stiefelmacher in nationaler Tracht mit Säbel am traditionellen Auf­ marsch! Der Magistrat der Marktflecken setzte sich mehrheitlich aus Adeli­ gen zusammen. Andere lebten als Bürger in den königlichen Freistädten. Generell läßt sich feststellen: D ie Masse des ungarischen Adels wurde nicht zuletzt auf Grund seiner materiellen Verhältnisse organisch in die ungarische Gesellschaft integriert. D azu trug auch die hohe, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark zunehmende Verschuldung selbst der wohlhabenden Grundbesitzer bei. Hatte die sehr große Gruppe der mittle­ ren Grundbesitzer im Komitat Pest zu Beginn des Jahrhunderts eine Schuld von ca. 1 Million Gulden auf seine Güter aufgenommen, so betrug die Kreditsumme 1848 bereits 16 Millionen. Ein immer größerer Teil der feuda­ len Abgaben und der landwirtschaftlichen Erlöse floß in die Taschen der Geldverleiher bzw. der Kapitalisten. Auf diese Weise wurde der Zwang zur Modernisierung des Landes die gemeinsame Aufgabe von Landbesitzern und Kreditgebern. Um sich einen Überblick über die ungarische Adelsgesellschaft zu ver­ schaffen, muß man auch deren regionale Verteilung betrachten. In elf der 52 Komitate (ohne Siebenbürgen), alle in nördlichen sowie nordwestlichen und östlichen Landesteilen gelegen, lebte etwa die Hälfte des ungarischen Adels. Während in jedem dieser elf Komitate 2000, in manchen sogar mehr als 3000 Adelige ansässig waren, gab es in den von den Türken zurücker­ oberten südlichen Komitaten zu Beginn des Jahrhunderts nur noch einige Dutzend adelige Familien; bis zur Mitte des Jahrhunderts stieg ihre Zahl auf einige Hundert. D iese Adeligen verfügten nicht über Grundbesitz, sondern sie stellten die Beamten, Angestellten, und die Freien Berufe in diesen Gebieten. Es war daher kein Zufall, daß gerade diese südlichen Komitate am konsequentesten für die liberalen Ideen des Reformzeitalters eintraten. Der Adel, so können wir als Resümee festhalten, unterschied sich recht­ lich zwar scharf von den übrigen Schichten der Gesellschaft, doch hinsicht­ lich der realen sozialen Lage hob sich der weitaus größte Teil der Adelsgesell­ schaft kaum von ihnen ab, z. Τ. lebte er sogar in schlechteren Verhältnissen als die zu Wohlstand gelangten Bauern und Bürger der Marktflecken. Wie die Finger zweier Hände, die sich ineinander verflechten, so fügten sich die Gruppen der Gesellschaft ineinander - Adelige und Bürger, auch noch die Bauern und die jüdischen Händler, die sich rechtlich gesehen im Status von Hintersassen befanden. D iese Finger gehörten freilich zu je einer Hand: entweder zu der privilegierten - und dies erleichterte ihre Bewegungsfrei­ heit, auch politisch - oder zu der nicht-privilegierten Hand, und dies er­ schwerte ihre Bewegungsfreiheit. Nicht übersehen werden darf auch, daß etwa 20% der Bevölkerung Ungarns weder Adelige noch Hörige waren: Szekler, Sachsen, Jazygen, Kumanen, Heiducken und Bauernsoldaten der Grenzgebiete waren Zwischengruppen, die über territoriale Privilegien ver­ fügten. Die Frage, welche gesellschaftliche Gruppe am stärksten die Reformbe462 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

wegung trug, läßt sich nicht eindeutig beantworten, denn die politische Trennlinie verlief nicht horizontal, sondern vertikal durch sie hindurch. Das Lager der Reformer war sozial heterogen, doch es gab gewisse Grundmuster des Verhaltens: Je größer der Besitz desto wahrscheinlicher war die Anpas­ sung an die gegebenen Verhältnisse bzw. desto annehmbarer schien die Strategie des Abwartens. Die größte Reformbereitschaft zeigten wohl dieje­ nigen Grundbesitzer, die mit 300—500 Morgen Allodialbesitz an der unteren Grenze für eine kapitalistische Wirtschaftsführung lagen. Bei den Adeligen, die über einen geringeren Grundbesitz verfügten, dürfte sich der Zwang, sich für oder gegen eine Reformpolitik zu entscheiden, verringert und die Verhaltensunsicherheit erhöht haben. D ie unterste adelige Schicht, die »Bundschuh-Adeligen«, entschieden sich zugunsten der Konservativen, da sie um den Verlust ihrer Privilegien fürchteten. Die zentrale Machtbastion, der die ungarische Adelsgesellschaft ihre un­ gewöhnlich starke Überlebenskraft verdankte, war die ständische Verfas­ sung, die gegen alle Versuche des Hofes, auch in Ungarn eine absolutistische Herrschaft aufzubauen, verteidigt werden konnte. D em ungarischen Adel, der die Konflikte mit dem Hof ohne Waffengewalt austrug, gelang diese ständische Selbstbehauptung u. a. deshalb, weil er niemals zur Aufgabe der unteren Stufe der Ständeordnung, der Komitate, gezwungen wurde. Infolge dieser Zweistufigkeit des Ständewesens blieben die Stände auch dann hand­ lungsfähig, wenn kein Landtag einberufen wurde. Bis etwa 1830 nutzte der Adel die Möglichkeiten, welche die Verfassung bot, die Grundpfeiler seiner Position, die adeligen Freiheitsrechte und seine Steuerfreiheit, mit Erfolg zu verteidigen. D ann aber zeigte sich, daß dieses ständische Verfassungssystem Ungarns zugleich eine hervorragende Gelegenheit bot, das Programm der bürgerlichen Umgestaltung öffentlich in den Institutionen des Ständewe­ sens, in den Komitaten und auf dem Landtag, zu verkünden. Auf diese Politisierung war der ungarische Adel dank der weitreichenden ständischen Selbstbehauptung besser vorbereitet als die erheblich schwächeren Stände in den westlichen Ländern des Reiches, wo eine ähnlich starke politische Re­ formbewegung bis 1848 nicht entstand. In Ungarn dagegen hatte die Vertei­ digung der stets gefährdeten Ständeverfassung und die politische Arbeit in den ständischen Gremien für den Adel frühzeitig eine politische Schulung bedeutet, die der Reformbewegung des 19. Jahrhunderts zugute kam. Außerhalb des Adels fand der Liberalismus wenig Rückhalt. D as Bürger­ tum der freien königlichen Städte verschanzte sich hinter seinen Privilegien, wie ihre für den Landtag bestimmten Deputierteninstruktionen zeigen. Für die politische Entwicklung blieben die Städte, die einer strengen und unmit­ telbaren staatlichen Aufsicht unterworfen waren, bedeutungslos, da sie auf dem Landtag gemeinsam nur über eine einzige Stimme verfugten. Alle Städte zählten politisch also ebensoviel wie ein einzelnes Komitat. Auch die Tatsache, daß zahlreiche Städte starke deutsche Bevölkerungsteile hatten, trug zu ihrer Isolierung von der ungarischen Nationalbewegung bei. Hinzu 463 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

kam ihre nicht unbegründete Angst, daß sich der Adel auf die Übernahme traditionell bürgerlicher Funktionen vorbereitete, schuf dieser doch eine Gesellschaft zur Gründung von Fabriken, einen Industrieverband und eine Handelsgesellschaft. Die ungarische Bourgeoisie, die damals im Entstehen begriffen war, ging in erster Linie aus dem Kreis der Händler mit landwirtschaftlichen Produk­ ten hervor. Diese meist nicht-ungarische Handelsbourgeoisie, deren größter Teil jüdischer Abstammung war, trat nicht als eigenständiger politischer Faktor auf, doch ihre Interessen sah sie durch den liberalen Adel gewahrt; deshalb unterstützte sie dessen Politik, mitunter auch materiell. Hauptsäch­ lich in den südungarischen Gebieten vermochte es die Handelsbourgeoisie auch, sich innerhalb der freien königlichen Städte durchzusetzen. Das zeigte sich z. B. 1843 und 1847 in den Deputierteninstruktionen der Stadt Szeged, die einen für alle Komitate vorbildlichen liberalen Katalog schufen. Auch auf gesellschaftlichem Gebiet begann in diesen Teilen des Landes die Verschmel­ zung zwischen Bürgertum und Adel. D ie Belletristik eilte den neuen Ent­ wicklungstendenzen bereits voraus: In ihr findet sich schon der für nationale Werte aufgeschlossene Idealtyp eines Bürgers, der wirtschaftlich erfolgreich und politisch aktiv war. Zur verstärkten Artikulation von Interessen und zur schichtübergreifenden gesellschaftlichen Kooperation trug von 1844 an auch das Netz der Schutzvereine (Védegylet) bei, in denen jeder Mitglied werden konnte, der sich verpflichtete, Produkte des Heimatlandes zu kaufen, soweit es das Angebot zuließ. Politisch wurden die »bürgerlichen Interessen« aber nach wie vor vom Adel vertreten; nur er war dazu in der Lage, denn die Verfassung machte die Policik zu einem Monopol des Adels. Er war es, der auf dem Landtag von 1840 eine partielle Emanzipation der Juden durchsetzte - die von den Stän­ den angestrebte völlige Emanzipation verhinderte der Hof; der Landtag verabschiedete auch ein Wechselgesetz, veranlaßte die Gründung von Fabri­ ken und verordnete den Händlern, Geschäftsbücher zu fuhren. Wohl erst­ mals auf dem Kontinent kam zudem ein Gesetz zur Begrenzung der Frauenund Kinderarbeit zustande. D er Begriff »Adelsliberalismus« zielt also nicht etwa auf ein adeliges Klassenprogramm, sondern es soll die gesellschaftliche Basis dieses Liberalismus charakterisieren. Die ungarische Geschichtsschrei­ bung spricht daher auch von einer »adelig-bürgerlichen Reformbewegung«.

3. Motive der Reformbereitschaft Objektiv gehörte die existentielle Unsicherheit der adeligen Grundbesitzer zu den Faktoren, die für die Reformbereitschaft entscheidend waren, doch in der Gedankenwelt des Einzelnen und in der Reformagitation spielte sie nur eine untergeordnete Rolle. Auch die Zeitungen gingen kaum darauf ein. 464 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Volkswirtschaftliche Motive wurden dagegen stets stark betont: D ie im Interesse der gesamten Gesellschaft notwendige Verbesserung der wirt­ schaftlichen Lage sei nur durch Reformen zu erreichen. So argumentierte von der Jahrhundertwende an die sog. merkantile Opposition, die im Un­ terschied zum alten Oppositionstypus sich nicht mehr in der Verteidigung der ständischen Verfassung erschöpfte, sondern zu wirtschaftlichen Fragen sofort mit konstruktiven Vorschlägen aufwartete: D er Zoll müsse gesenkt oder ganz abgeschafft, die Ausfuhr begünstigt, eine Landeskasse, d. h. ein Investitionsfonds des Landes, gegründet und das Straßennetz ausgebaut werden. D ie neue Opposition merkantilen Typs bereitete das Denken der Zeit auf die späteren grundlegenden ökonomischen Reformen vor. Schon vor der Reformära verschloß also der Adel nicht die Augen vor den wirt­ schaftlichen Problemen. Er sah sie allerdings einseitig, denn er lastete sie ausschließlich der Regierung an. Für die politische Motivierung zur Reform war die in der napoleonischen Ära durchlebte Erfahrung das Schlüsselerlebnis. D as gilt für viele Staaten Europas, für Ungarn jedoch in besonderem Maße. D er ungarische Adel mußte mit Bestürzung die Schwäche des Habsburger Reiches erkennen und daß Napoleon Ungarn als eigenständige politische Macht nicht einmal zur Kenntnis nahm. D ie Schockwirkung der napoleonischen Kriege öffnete dem ungarischen Adel die Augen für die Ohnmacht seines Landes Eroberern gegenüber. D ie dritte Teilung Polens von 1795 galt als warnendes Beispiel dafür, daß ein in seiner Entwicklung zurückgebliebenes Land auch vollstän­ dig von der Landkarte verschwinden konnte. Als politische Erneuerungskraft komme in Ungarn nur der Adel in Be­ tracht - nicht der Hochadel, dessen Position auf Grund verwandtschaftlicher Beziehungen überall in Europa und seiner Beziehungen zum Hof gesichert sei; nicht das Bürgertum, das, oft nicht einmal magyarisch, um seiner Sicherheit und seines Vermögens willen stets auf Seiten des Stärkeren stehe; und auch nicht die Bauern, die man für den Militärdienst einfangen müsse, die ihre Herren haßten und, im Falle der Nationalitäten, auf Väterchen Zar hofften. An der Erhaltung des Landes sei nur jener Adel interessiert, der zwar über Privilegien verfugte, aber damals keine politische Kraft mehr darstellte. Erst als nach 1820 das System der Heiligen Allianz erschüttert wurde, kehrten seine Handlungsmöglichkeiten zurück: nun konnte er außer einem passiven, nur der Abwehr dienenden auch einen aktiv gestaltenden Widerstand leisten. D ie ständische Gedankenwelt des Adels gab seinem politischen Erneuerungswillen die Richtung vor: Der Adel als solcher sollte sich erneuern; das Programm eines erneuerten Ständestaates tauchte auch in Ungarn auf. D och mit der Leitidee der Erneuerung deutete sich zugleich bereits ein Ausweg aus den ständisch geprägten Vorstellungen an. Teile des Adels begannen einzusehen, daß die Auflösung des Ständestaates unaufhalt­ sam sein werde und die Politik des Adels sich darauf einzustellen habe. Die Privilegien erkannten sie als anachronistisch: Was davon bewahrt werden 465 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

sollte, müsse auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt werden, den Rest aber gelte es stufenweise zu beseitigen. Auch staatsrechtliche Motive, die Lage Ungarns innerhalb des Reiches betreffend, flossen in die Reformbewegung ein. D ie staatliche Autonomie Ungarns - nach dem Verständnis der Reformer hieß das: Personalunion war zwar 1790 (Gesetz X) unmißverständlich verankert worden, doch bald wurde deutlich, daß die Eigenständigkeit nur zu verwirklichen war, wenn es gelingen sollte, jene Modernisierung nachzuholen, die im Westen Europas schon lange begonnen hatte. Als die zentralen Organe des Reiches jeden Willen zu Veränderungen zu blockieren suchten, richtete sich das erstarken­ de Reformverlangen gegen sie. Reformen, das wurde unübersehbar, ließen sich nur durchsetzen, wenn die Autonomie gestärkt und rechtlich abgesi­ chert werden könnte. Über die Personalunion als Maximalforderung ging die Reformopposition jedoch nicht hinaus. Eine Auflösung des Reiches zog sie lediglich als prinzipielle Möglichkeit in Betracht, die sie jedoch nicht realisieren wollte. Das Reich galt ihr vielmehr als eine Art Sicherheitsgaran­ tie gegen Gefährdungen Ungarns in der internationalen Politik. Auch konkrete Ängste um Leib und Leben und Vermögen gehörten zu den Motiven, die nach Reformen als einem Ausweg aus der Krise der Gesellschaft suchen ließen. Während sich der Hochadel auf seinen Schlössern sicher fühlen konnte oder bei einem Aufstand der Bauern ins Ausland hätte fliehen können, lebte der übrige Adel in täglicher Berührung mit den Höri­ gen im Dorf. Der durch eine Cholera-Epidemie 1831 ausgelöste oberungari­ sche Bauernaufstand wurde zwar niedergeschlagen, aber was die Bauern mit den besetzten Herrenhäusern und ihren Bewohnern getan hatten, bestätigte die Ängste der Adligen. Angesichts der täglichen Gefahren lebten sie in ständiger Bereitschaft, mit den Gefährten gemeinsam zu den Waffen zu greifen oder notfalls in die Städte zu fliehen. D enn für die Sicherheit eines Komitats sorgten nur ein paar Panduren. Bei Bedarf rückte zwar auch Militär aus, aber wenn es die gestörte Ordnung wiederherstellte, konnte es für die bedrohten Adligen und ihre Familien bereits zu spät sein. D er Kleinadel dagegen, der manchmal in ganzen D örfern zusammenlebte, konnte sich ebenso wie die in den Städten wohnende adelige Intelligenz in größerer Sicherheit fühlen. D ie Masse der mittleren Grundbesitzer aber konnte ihren Hof, den die kleineren unter ihnen selber führten, nicht verlas­ sen. Sie ließen ihre Fronarbeiter bei Ungehorsam auf die Bank schnallen; danach fehlte ihnen der Mut, allein in den Wald zu gehen, und nachts verriegelten sie sorgfältig ihre Fensterläden, Tore und Türen. Neben dieser aus Klassengegensätzen gespeisten Angst entstand eine an­ dere, von der Mehrheit jeden Tag bewußt erlebte, die sich allmählich zu einer gesellschaftlichen Neurose entwickelte: D ie Angst vor den ungebilde­ ten Bauernmassen der nationalen Minderheiten, denen nach Auffassung des Adels die Kultur und Werte wie Freiheit und Bildung nur sehr wenig bedeuteten. Ihre Loyalität gegenüber der Staatsmacht war noch unsicherer 466 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

als die der ungarischen Hörigen. D ie Sprachverwandten, die die Stütze der Nationalitäten waren oder zumindest hätten sein können, lebten außerhalb der Landesgrenzen. D aneben verstärkte sich bei den Nationalitäten die Illusion, der Zar werde sie aus religiöser Solidarität und Ideologie unterstüt­ zen. Wenn es den nationalen Minderheiten in Ungarn besser ginge als ihren Sprachverwandten außerhalb, könnten sie vielleicht, so hofften die adligen Reformer, für die Erhaltung des Landes gewonnen werden. Mit der Angst vor den Nationalitäten wird die Problematik des Nationalismus angespro­ chen. Das gesellschaftliche Ziel des bürgerlichen Reformprogrammes war die Nation: eine Gruppe von Menschen, die eine Sprache spricht, unter gleichen rechtlichen Bedingungen lebt, in ihren Interessen nicht antagonistisch ist und nach außen Verbundenheit zeigt. D ie Erweiterung der adeligen »natio« zu einer solchen die gesamte Gesellschaft umfassenden Nation betrachtete man als Voraussetzung für die Erhaltung Ungarns. Und als Preis für die Schöpfung dieser Nation und gleichzeitig als ihr Werkzeug galt die Reform. D iese Entwicklung vollzog sich überall in Europa; in Ungarn wurde sie jedoch durch die besonders komplizierte Nationalitätenproblematik belastet. Auch dafür versprach man sich eine Lösung durch Reformen. D iese Hoffnung bewog diejenigen, die durch Angst vor den Nationalitäten gelähmt waren, ein fortschrittliches Programm anzunehmen: Die Hörigen zu befreien, ihnen politische Rechte zu geben, garantiere Ungarn die Loyalität der Nationalitä­ ten; und die gemeinsame Freiheit verschmelze nicht nur staatsbürgerlich zu einer »einzigen politischen Nation«, sondern setze damit auch einen Assimilierungsprozeß in Gang. Das Land und der Staat jedoch gehören den Ungarn, denn nur bei ihnen seien Nation und Fortschritt harmonisch verbunden: Der Fortschritt sichere die Erhaltung und Stärkung der ungarischen Nation. Für die Nationalitäten gelte das nicht; sie müßten im Tausch für die Freiheit die eigene Nationalität aufgeben - freilich erst am Ende eines langen Prozesses. Dieser Tausch sei ihnen das Opfer wert, so glaubten die ungarischen Libera­ len. Auch sie würden die eigene Nationalität aufgeben, wenn sie zwischen Freiheit und Nation zu wählen hätten: »Ich wäre lieber Spanier oder gehörte lieber zu einer anderen Nation«, betonte Kossuth, dem man nationale Gleich­ gültigkeit sicher nicht vorwerfen kann, »wenn ich als Ungar nicht als freier Mensch leben könnte«.4 Für uns ist es überraschend, daß bis 1848, als eine völlige Wandlung in der Nationalitätenfrage eintrat, den Zeitgenossen die Einsicht fehlte, daß der Verbürgerlichungsprozeß, den sie durch Reformen bewirken wollten, selbstverständlich auch die nationale Entwicklung der Nationalitäten beschleunigen werde. Es bedarf weiterer Untersuchungen, um einschätzen zu können, welche Rolle dabei die Selbsttäuschung des Adels spielte - sie erst ermöglichte die Reformbereitschaft-, welche die reale Rückständigkeit der Nationalitäten und welche die beginnende Assimilie­ rung vor allem der Deutschen und der Juden. Gerade letzteres ließ viele auf eine Wechselscitigkeit von Verbürgerlichung und Assimilierung hoffen. 467 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Zweifellos wünschten die Reformer mehrheitlich eine Beschleunigung des als objektiv notwendig erachteten Magyarisierungsprozesses. D enn so­ lange der Assimilierungsprozeß nicht abgeschlossen sei, bestehe die Gefahr einer Auflösung Ungarns. Drei Strategien können grob unterschieden wer­ den. D er intensive Nationalismus, dessen bekanntester Vertreter Graf Széchenyi war, setzte auf den »Weg der schmelzenden Überlegenheit«, den es zu beschleunigen gelte durch Einrichtungen der hohen Kultur, wie Akade­ mie der Wissenschaften, Theater und Literatur. D as Programm des extensi­ ven Nationalismus wurde durch die Einführung der ungarischen Sprache an Schulen und in der Kirche vorangetrieben. D er von den meisten vertretene Standpunkt, den das »Pesti Hirlap« (Pester Journal) formulierte, bildete eine Mischung aus intensivem und extensivem Nationalismus. D as Blatt be­ grüßte die Magyarisierungsbestrebungen und unterstützte die in diesem Sinne wirkenden Organisationen. Gewalt und Aggressionen lehnte es je­ doch ab; staatliche Machtinstrumente zur D urchsetzung einer Magyarisie­ rungspolitik standen vor 1867 noch nicht zur Verfügung. Generell gilt es aber zu betonen, daß seit 1830 die Magyarisierung nicht mehr als Vorausset­ zung, sondern als eine erhoffte Folge von Reformen betrachtet wurde. Der nationale Liberalismus des Reformzeitalters war - das ist entscheidend - ein genuiner Liberalismus: Bei den Reformen (Befreiung der Leibeigenen, Aus­ dehnung der politischen Rechte usw.) sollten keine nationalen Unterschiede gemacht werden. Es war also kein Zufall, daß die Nationalitäten vor 1848 kein eigenes gesellschaftliches Reformprogramm besaßen, wohl aber einen eigenen Nationalismus hervorbrachten. D a sie dem Liberalismus nicht sel­ ten feindlich gegenüberstanden, konnten sich die ungarischen Liberalen in ihrer Beurteilung des Verhältnisses von Freiheit und Nationalität bestätigt fühlen. Dem Adel, so können wir zusammenfassen, gelang es, sich über seine Existenzängste hinwegzusetzen, als er begriff, daß die Schwäche und Bedro­ hung der gesamten ungarischen Nation nur zu überwinden sei, wenn sich der Adel zur Veränderung seiner traditionellen Rolle bereit und fähig erwei­ se. Die politische Kultur des Adels und das Ständewesen hatten eine nüchter­ ne Situationsanalyse ermöglicht. Man erkannte, daß es einer gründlichen wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Erneuerung der Gesellschafts­ ordnung bedürfe, um dem Schicksal Polens zu entgehen. Das Stichwort für diese Erneuerung hieß: Reform. Um sie durchzusetzen, mußten die aktuel­ len Aufgaben und zugleich die Zukunftsperspektiven deutlich gemacht werden. Es galt ein handlungsleitendes Modell für liberale Reformen zu entwickeln.

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4. D ie Wende von der ständischen Politik zum Liberalismus (1828-1832) Der entscheidende Durchbruch gelang zwischen 1828 und 1832, ermöglicht durch eine Reihe konkreter politischer Veränderungen. D er stärkste Anstoß ging von den 9 Kommissionen aus, die auf dem Landtag von 1825—27 ihre Arbeit wiederaufnahmen, nachdem die 1790 begonnenen Beratungen auf Grund der napoleonischen Kriege viele Jahre lang vertagt worden waren. Unter dem Vorsitz des Palatins schlossen sie ihre Beratungen in den Jahren 1828 und 1829 ab. Obwohl sie in Pest hinter verschlossenen Türen tagten, belebten sie das politische Leben ungemein. Ihre vorsichtigen Gesetzesvor­ schläge (Operate), in lateinischer Sprache gedruckt, erfüllten zwar nicht die in sie gesetzten Hoffnungen, doch für das politische Leben Ungarns bedeu­ tete es einen ungeheuren Anstoß, daß die Regierung ausdrücklich anordne­ te, die Vorschläge in den Komitaten zu beraten und in Form von Deputier­ teninstruktionen dazu Stellung zu beziehen. D ie von oben verordnete Dis­ kussion zwang den Adel, Farbe zu bekennen und konkrete Anträge bei der Regierung einzubringen. Auch die Abwicklung der ebenfalls im Jahr 1827 verordneten, ein Jahr später durchgeführten Konskription trug dazu bei, daß sich die Adligen verstärkt mit der Realität auseinanderzusetzen begannen. Das wirkliche Ausmaß der bäuerlichen Armut und die Zurückgebliebenheit des Landes wurde vielcnjetzt erstmals bewußt. Entsprechend ihrer üblichen Verfahrensweise stellten die Generalversammlungen der Komitate die Ope­ rate nicht sofort zur D ebatte, sondern setzten ihrerseits Ausschüsse zur Begutachtung ein, die angesichts der Bedeutung und Brisanz der Themen meistens sehr gut besucht wurden. Im wesentlichen traf sich hier die ge­ samte Elite des Komitats: die Beamten, Rechtsabsolventen, Angestellten der Kirche und die im Komitat lebenden Großgrundbesitzer. Inoffiziellen Freundeskreisen, die geschickt die Beratungen in die Hand nahmen, gelang es, ihren prinzipiell liberalen Standpunkt durchzusetzen und die Vorschläge der Landeskommissionen im fortschrittlichen Sinn weiter zu entwickeln. Ein großer Teil der adeligen Elite des Landes und der Komitate bekannte sich also zum Liberalismus und konnte so die Mehrheit des Adels gewinnen. Warum das so war, müssen wir noch erörtern. Betrachten wir zunächst noch die Verfahrensweise: Die von den inoffiziellen Kreisen bearbeiteten Vorschläge gingen an die Komitatsausschüsse, von denen ein großer Teil nach erneuter Beratung zustimmte und sie, so modifiziert, an die Generalversammlungen der Ko­ mitate zurückgab. Auf diesen Versammlungen, an denen sich alle Adligen eines Komitats beteiligen konnten, bestand die Möglichkeit, die Anträge im Laufe einer öffentlichen, mehrere Tage dauernden D iskussion abermals zu modifizieren - sei es konservativ oder liberal. Nach der Schlußabstimmung faßte man die Ergebnisse in Landtagsinstruktionen und wählte dann die Deputierten, die im Sinne dieser Weisungen auf der Unteren Tafel des 469 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Landtages, die Ende 1832 zur Behandlung der von den Landtagskommissio­ nen erstellten Operate einberufen wurde, abzustimmen hatten. Der Landtag erwies sich als oppositionell-liberal, wobei es in einzelnen Fragen natürlich zu wechselnden Mehrheiten kam. Ein großer Teil der Anträge war noch sehr bescheiden: Sie forderten die freiwillige Erbablösung, die Beschränkung der Patrimonialgerichtsbarkeit, die Sicherheit für die Person und den Besitz des Hörigen. D ie Abschaffung der Avitizität, die den adeligen Besitz als uraltes Erbgut der Krone unveräußerlich und erbbar machte, fand zu jenem Zeit­ punkt nur in sechs Komitaten Zustimmung. D er D urchbruch war jedoch gelungen: D ie Grundtendenz war eindeutig liberal, das Tor zu einer konti­ nuierlichen, stufenweisen Weiterentwicklung hatte sich geöffnet. Ein Grund für diesen raschen Erfolg bestand auch darin, daß es einen Konservativismus im modernen Sinn in Ungarn noch nicht gab. Er entstand erst in den 1840er Jahren. D ie feudalen, die Interessen des Hofes vertreten­ den Kreise der Komitate mischten sich selten in die Landespolitik ein, wie sie auch der Person des Abgeordneten keine Bedeutung beimaßen. An die Opposition der Unteren Tafel des Landtages waren sie gewöhnt, zumal bisher die Obere Tafel ein verläßliches Gegengewicht gebildet hatte. Wenn überhaupt ein Aristokrat in den Komitaten aktiv geworden war, unterstütz­ te er größtenteils die Reformer, und dies reichte, um deren Durchbruch zu sichern. 5. D as Programm Die Bewegung der adeligen Liberalen konnte nicht mit der Unterstützung der Regierung rechnen. Um dennoch auf dem Wege der Gesetzgebung zu ihrem Ziel zu gelangen, mußten erstens die Foren der ständischen Öffent­ lichkeit und das System der legalen Institutionen genutzt werden, obwohl diese im Prinzip nur den Privilegierten vorbehalten waren, und zweitens mußten diese Institutionen zugleich auch umgestaltet werden, um schließ­ lich zu einer auf einer bürgerlichen Verfassung beruhenden Staatsordnung zu gelangen. D as Ständewesen war also Mittel und gleichzeitig Ziel der Umgestaltung. Man dachte daran, zunächst das Komitat stufenweise auf parlamentarische Grundlage zu stellen, danach werde sich auch der Landtag zu einer Vertretung des Volkes entwickeln. Ergänzt wurde die Reformarbeit in diesen traditionellen ständischen Institutionen durch die Presse, die aller­ dings mittels Zensur eingeschränkt war, und durch eine Vereinsbewegung. Die Adeligen nutzten auch die Möglichkeit, Noten unter den Komitaten auszutauschen, zu einem regen Informationsfluß, an dem sich die entschie­ denen Reformer besonders intensiv beteiligten. Der ungarische Adelsliberalismus entwickelte eine einzigartige gesell­ schaftspolitische Konzeption: das Programm der Interessenvereinigung, das die nationale Integration Ungarns verwirklichen sollte. Als erster formulierte es 470 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Graf István Széchenyi im Jahre 1831: »Ungarn wird solange weder hochge­ stellt noch glücklich sein, bis wir das Volk nicht in die Reihen der Nation erheben, das heißt bis Ungarn aus einer durch Interessen bisher ewig zer­ fleischten Provinz nicht zu einem durch Interessen sich für ewig zusammen­ zuschließenden glücklichen Land wird.« 5 Fast gleichzeitig mit Széchenyi schrieb sein Freund, Kampfgefährte und größter Agitator der liberalen Reform, Baron Miklós Wesselényi, sein Werk »Balítéletekröl« (Über Fehl­ urteile), in dem knapp zusammengefaßt ist, was mit Interessenvereinigung gemeint war: »Schon ein geringes mathematisches Können genügt, um zu verstehen, daß 10 Millionen in jeder Hinsicht mehr sind als eine aus kaum 800000 freien Bürgern bestehende Nation; auch ist es leicht einzusehen, daß eine Nation niemals durch das in ihren Reihen lebende noch so große, aber unterdrückte Volk groß, mächtig und glücklich gemacht wurde; nur freie Menschen, die der bürgerlichen Konstitution etwas zu verdanken haben, werden zur Verteidigung derselben bereit sein. D ie unterdrückte Masse hat niemals eine bürgerliche Konstitution beschützt und aufrecht erhalten, aber unzählige gestürzt. «6 Hinter dem Aufruf zur Interessenvereinigung verbarg sich nicht lediglich die Forderung nach bürgerlicher Rechtsgleichheit. D ie damit verbundene gesellschaftliche Aufgabe war um vieles schwieriger: Es ging vor allem um die Verwirklichung der Bauernbefreiung. D ie feudalen wirtschaftlichen und rechtlichen Bindungen zwischen Grundherr und Hörigem sollten auf der Grundlage freiwilliger Vereinbarung liquidiert werden. Interessenvereinigung bedeutete hier, daß die Interessen beider Seiten gewahrt werden soll­ ten. In der Praxis hatte das Reformgesetz von 1840 über die freiwillige Erbablösung allerdings kaum Auswirkungen, da die Bauern das für die Ablösung notwendige Kapital nicht aufbringen konnten. Erst infolge der Revolution von 1848 wurde die Leibeigenschaft dann mit sofortiger Wir­ kung aufgehoben; die Grundherren sollten später durch den Staat entschä­ digt werden. Zur Politik der Interessenvereinigung gehörte auch die Forderung nach der Emanzipation der Juden; des weiteren sollten die Selbstverwaltung der Städte und deren Repräsentation auf den Landtagen verbessert, die Wirt­ schaft von rechtlichen Hindernissen befreit, die Rechtsgleichheit gesichert werden, usw. D ie Idee der Interessenvereinigung wurde auch auf die Natio­ nalitäten ausgedehnt. D och wandte man sich damit nur an einzelne Bürger, für die Nationalitäten als solche entwarf man kein Programm. Das sollte sich 1848 als verhängnisvoll erweisen. Die Politik der Interessenvereinigung rechnete damit, daß sich aus den rechtlich gleichgestellten Bürgern ein neuer Mittelstand herausbilden werde, der dann die nationale Integration verwirklichen und an die Spitze des staatlichen Lebens treten sollte. Mit seiner Forderung, das Staatsleben zu liberalisieren, erstrebte der ungarische Adel nicht eine konstitutionelle, son­ dern eine parlamentarische Monarchie. D ie Gesetzgebung sollte durch die 471 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Wahl von Volksvertretern gesellschaftlich erweitert werden. Gedacht war an ein Zensuswahlrecht, wie es dann 1848 verwirklicht wurde; der Zensus war niedrig genug, um auch die besitzende Bauernschaft einzubeziehen. Mit ihrer Forderung nach einer verantwortlichen Regierung zielten sie auch darauf, die administrative Position der Legislative zu stärken. D a dies im Vormärz nur ein Zukunftsziel sein konnte, beschränkten sie sich auf eine Taktik, die vorsah, Gesetze mit präzisen, detaillierten Bestimmungen zu schaffen, um so der Exekutive die Hände zu binden. Um einige Beispiele zu nennen: In den Verhandlungen über das Strafgesetzbuch wurden nicht nur die Einzelheiten des Schwurgerichtsverfahrens oder die Abschaffung der Todesstrafe behandelt, sondern es wurde auch detailliert und ganz in libera­ lem Sinn geregelt, wieviel Raum, wieviel Fleisch und wieviele Spaziergänge den Gefangenen im Gefängnis zustehen. Nicht einmal dies wollte man der Exekutive überlassen; der Wiener Hof verhinderte jedoch die Annahme des liberalen Strafgesetzbuches. D ie Stände erreichten aber - das war einmalig in Europa -, das 1840 gegründete Nationaltheater nicht der Leitung eines von Regierungsorganen eingesetzten D irektors zu unterstellen, sondern einem Direktor, der vom Landtag gewählt und nur diesem verantwortlich war. Der Landtag übte auch die unmittelbare Aufsicht über den von einer Privat­ gesellschaft durchgeführten Bau der Kettenbrücke zwischen Buda und Pest aus. Zu den staatsbezogenen Forderungen gehörten auch, das Königreich Ungarn mit dem über eine getrennte Gesetzgebung verfugenden Großher­ zogtum Siebenbürgen zu vereinigen und die Verwaltung zu modernisieren. In ihrem eigenen Wirkungsbereich setzten die Komitate zahlreiche Refor­ men in Kraft. Sie ließen z. Β. die Öffentlichkeit bei Gerichtsverhandlungen zu oder dehnten das Stimmrecht in den Komitatsversammlungen auch auf die nicht-adelige Intelligenz aus. Ein Teil der adeligen Elite zahlte sogar freiwillig Steuern. D ie Steuerfreiheit des Adels aufzuheben war ein sich ständig wiederholender Programmpunkt der adeligen Liberalen und der Widerstand des Kleinadels dagegen bildete einen stetigen Prüfstein für den gesamten Liberalismus. D a der Wiener Hof über die an den Staat fließenden Kriegsteuern keine Rechenschaft ablegte, wünschten die Liberalen als erstes, eine allgemeine, vom Landtag verwaltete Steuer bzw. Landeskasse zu schaf­ fen, die infrastrukturelle Investitionen fordern sollte. Die Liberalen konnten zwar schon vor 1848 einen Teil ihrer Forderungen nach einer Reform des Staatslebens durchsetzen, doch auch hier brachte erst die Revolution mit dem parlamentarischen Regierungssystem die Wende. Zum liberalen Reformkatalog gehörte auch das Ziel, das Verhältnis Un­ garns zu den übrigen Teilen des Reiches in Form einer Personalunion neu zu ordnen. Hier kam besonders stark die historisch-rechtliche Argumentation zum Zug, die unter Berufung auf das X. Gesetz aus dem Jahre 1790 und die Pragmatische Sanktion von 1723 erklärte, Ungarn sei »hinsichtlich seiner Regierung unabhängig und ein nach seinen eigenen Gesetzen zu regierendes 472 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Land«. D ieses Recht wollten die liberalen Reformer Wirklichkeit werden lassen. Wirtschaftspolitisch betonten sie das Recht Ungarns auf ein selbstän­ diges Zollgebiet und schlugen Österreich einen Zollvertrag vor. 1848 blie­ ben dann bekanntlich nur die äußeren Angelegenheiten und der Hofstaat »gemeinsame Sache«, und Erzherzog-Palatin Stefan lockerte in seiner Rolle als Staatsoberhaupt weiter die Personalunion auf. Mit Ausnahme einiger sog. »reservierter Rechte« bekam er während der Abwesenheit des Herr­ schers aus Ungarn sämtliche Vollmachten. Auch die Wiener Bürokratie mußte Herbst 1848 feststellen, daß für eine österreichische Einmischung in die »ungarischen« Angelegenheiten keinerlei rechtliche Grundlagen bestan­ den. Die ungarische Politik war 1848/49 eher bereit, das Risiko einer Auflö­ sung des Reiches einzugehen, als auf die nationale Selbstbestimmung zu verzichten.

6. Europäische Beziehungen Dem politischen Liberalismus gingen auch in Ungarn Jahrzehnte der Auf­ klärung und der Romantik voraus, die den liberalen Forderungen ideell den Weg bereiteten. Hunderte von Studenten, die ausländische, hauptsächlich deutsche Universitäten besuchten, schufen ebenso geistige Kontakte wie Verlage und die Presse. Einige Monate nach dem Original erschien Toque­ villes berühmtes Amerikabuch bereits in ungarischer Sprache; Lajos Kos­ suth redigierte das liberale »Pesti Hirlap« (Pester Journal), das ständig über die englischen und französischen Parlamentsverhandlungen berichtete. D as Staatslexikon von Rotteck und Welcker galt den ungarischen Liberalen als Bibel, die sie täglich zur Hand nahmen. Von den Engländern tauchte der Name Benthams, von den Franzosen der Lamartines am häufigsten auf. D ie Werke der Nationalökonomen Smiths, Sismondis und Lists erschienen auch in ungarischer Sprache. Die Publizisten setzten sich häufig mit der Entwick­ lung der englischen und französischen Gesellschaft auseinander, z. Β. mit den Grundbesitzverhältnissen. D en gesellschaftlichen Zustand Europas idealisierten sie dabei keineswegs, im Gegenteil, es ging ihnen von Anfang an darum, Fehlentwicklungen zu erkennen, um sie in ihrem Heimatland vermeiden zu können. D eshalb galt ihre besondere Aufmerksamkeit auch Irland. In ihren eigenen politischen Zukunftsvorstellungen sahen sie vor allem Parallelen zur englischen Entwicklung, da es auch dort gelungen sei, alte Zustände schrittweise zeitgemäß weiterzuentwickeln und Erschütte­ rungen zu vermeiden: »D ie politische Verfassung Großbritanniens ist nicht einheitlich, da sie nicht auf einmal fertiggestellt wurde. Sie entstand nicht, wie einige Verfassungen neuerer Reiche, die aus Unruhen hervorgegangen sind. - Jene Verfassung besteht aus einzelnen Stücken, von denen jedes einzelne ein treues Zeichen jener Zeit ist, in der es entstanden ist... Und 473 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

dennoch entstanden die neueren europäischen Verfassungen, die schwach gewordenen Monarchien abgepreßt wurden, nach jenem Muster«, schrieb das »Pesti Hirlap« 1842.7 Eine genauere Betrachtung der ungarischen Ver­ fassungsgesetze von 1848 zeigt, daß einzelne Bestimmungen aus dem ameri­ kanischen, englischen, französischen, schweizerischen, norwegischen und bayerischen Grundgesetz übernommen wurden. Als Grundmodell aber diente die belgische Verfassung aus dem Jahre 1831.8 Für die ausgedehnte Autonomie der Komitate, die die Mehrheit bewahren und weiterentwickeln wollte, fand man eine Parallele in dem föderativen Staatensystem der Verei­ nigten Staaten.9 Nach Kossuth konnte die Entwicklung der Komitate zu bürgerlichen Selbstverwaltungseinrichtungen beispielhaft für Europa sein und in seinen nach 1848 entstandenen Verfassungsplänen dachte er ihnen auch bei der Lösung der Nationalitätenfrage eine Schlüsselrolle zu. Aus ihren Gesandten hätte er das Oberhaus formiert. Als Negativbeispiel galt den ungarischen Reformern das zentralistische Frankreich, das nicht fähig war, seine Krisen ohne Revolutionen zu bewältigen. Der ungarische Liberalismus baute konkrete politische Kontakte sowohl in den Kleinstaaten Süddeutschlands auf, als auch zu den böhmischen und österreichischen Liberalen. So veröffentlichte man in der bayerischen Zei­ tung »D ie deutsche Tribüne« Artikel, übte regelmäßig Polemik in den Spalten der im Sold des Wiener Hofes stehenden Augsburger »Allgemeinen Zeitung«, gab zur Information der deutschen Öffentlichkeit 1843 und 1844 in Leipzig die »Vierteljahresschrift aus und für Ungarn« heraus, ließ unter Umgehung der Zensur in deutschen Verlagen, hauptsächlich in Leipzig, aber auch in Halle, München, Mainz und Hamburg, liberale Programm­ schriften drucken, die dann häufig auch in deutscher Ausgabe erschienen. Die Orientierung nach D eutschland wurde neben der geographischen Nähe auch durch gesellschaftliche Parallelen in der Situation der süddeut­ schen und der ungarischen Liberalen begünstigt. D as liberale »Modell« für die Abschaffung der Leibeigenschaft stammte z. B. aus den süddeutschen Staaten, und für die Sorgen einer Gesellschaft, die trotz ihrer präindustriellen Verhältnisse bürgerlich wurde, fand man ebenfalls theoretisch anspruchs­ volle Erörterungen bei den süddeutschen Liberalen. Entscheidend für den Blick nach Deutschland waren jedoch die außenpolitischen Hoffnungen der ungarischen Liberalen. Sie rechneten mit einer schrittweisen Liberalisierung der deutschen Staaten und mit der Verwirklichung der deutschen Einheit. Die Liberalisierung betrachteten sie als ihre stärkste Stütze, denn auch die österreichischen Erbländer müßten, so hofften sie, dieser Entwicklung fol­ gen. Dann werde es sich im liberalen Mitteleuropa von selbst verstehen, daß Ungarn und D eutsche aufeinander angewiesen seien, hatten sie doch ge­ meinsame Gegner: das Zarenreich und die von ihm manipulierten, in erster Linie natürlich in Ungarn ansässigen slawischen bzw. orthodoxen nationa­ len Minderheiten. D ie slawische Gefahr - beinahe schon eine Phobie - und ein gemeinsam mit den liberalen deutschen Staaten bzw. mit einem einheitli474 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

chen D eutschland zu schließendes Bündnis waren die unerschütterlichen Angelpunkte des ungarischen liberalen Denkens im Vormärz. Möglichkeiten, zu Erbländern des Habsburger Reiches Verbindungen aufzubauen, entstanden erst in den vierziger Jahren, als besonders in Böh­ men und Niederösterreich eine kleine, nicht sehr starke Oppositionsbewe­ gung entstand, die, ähnlich wie in Ungarn, die ständischen Foren und die gesellschaftlichen Institutionen für sich nutzte. Die politischen Führer dieser Bewegung nahmen noch vor 1848 Kontakte auf, die aber noch kaum er­ forscht sind.

7. Charakteristika des Adelsliberalismus Die ungarischen Liberalen betonten stets die Legalität ihres Wirkens. Es sei geradezu ihre Pflicht, auf den Foren der Öffentlichkeit aufzutreten und die Regierung zu kritisieren, um die Aufmerksamkeit des Herrschers auf die Versäumnisse seiner Ratgeber zu lenken. D a jedoch nach Metternichs uner­ schütterlicher Überzeugung sich hinter der liberalen Bewegung eine Ver­ schwörermacht verbarg, reagierte die Staatsmacht mit Sanktionen bis hin zu willkürlichen Verhaftungen, um die politische Öffentlichkeit mundtot zu machen. D ieses Vorgehen mobilisierte jedoch auch die ständische Opposi­ tion alten Typus, so daß sich in der zweiten Hälfte der 1830er Jahre eine sonderbare Einheitsfront des Ständewesens und des Liberalismus gegen den Absolutismus herausbildete. Die Opposition hatte dem liberalisierten und von Liberalen geführten Staat angesichts der gesellschaftlichen Schwächen eine entscheidende Rolle bei der Modernisierung zugedacht. Staat und Gesellschaft waren in ihrem Denken aber nicht scharf voneinander getrennt. D as entsprach ihrer Erfah­ rung mit den ständischen Institutionen. Politische Betätigung galt ihnen als selbstverständlich, bekleideten sie doch zahlreiche öffentliche Ämter in den Komitaten, für die sie zum großen Teil keine oder nur eine geringe Bezah­ lung erhielten, da die Übernahme politischer Funktionen als Pflicht gegen­ über der Gesellschaft galt. In den vierziger Jahren erschienen im Kreis um den »Pesti Hirlap« jedoch auch schon professionelle Politiker, die aufgrund ihres Wissens und ihrer Fähigkeiten, nicht aber wegen ihres Besitzes oder ihrer gesellschaftlichen Position zu den Ämtern gelangten. Die bedeutendste Gestalt war der besitzlose Herausgeber der Zeitung: Lajos Kossuth. Die gute Organisation der liberalen Bewegung kompensierte beinahe ihre Heterogenität und ihre Schwäche an der Basis. D ie unteren Organe der Staatsmacht waren in der Hand des Adels; die Komitate, in denen sich eine liberale Mehrheit gebildet hatte, entwickelten sich zu organisatorischen Hochburgen der liberalen Bewegung. Besondere Bedeutung erlangte das größte, sich um die Hauptstadt herum erstreckende »Führungskomitat«, 475 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Pest, dessen in der Generalversammlung gefaßten Beschlüssen das ganze Land Beachtung schenkte. Darüber hinaus bildete sich bereits in den dreißi­ ger Jahren das Netz der Casinos aus, den politischen Mittelpunkt der vierzi­ ger Jahre stellte die Presse dar. Die Führer der liberalen Bewegung trafen sich regelmäßig, vor allem während der Landtage, um ihre Taktik zu beraten. Sie legten fest, wer wo als Abgeordneter kandidiert und welcher Unterstützung - gegebenenfalls auch materieller - er bedarf Seit Mitte der vierziger Jahre war ein Pressekomitee für die Opposition tätig und schnell entwickelte sich daraus - auch im formalen Sinne - eine Parteiorganisation. D abei waren die Konservativen schneller als die Liberalen. Sie gründeten 1846 die erste moderne politische Partei der ungarischen Geschichte: die »Konservative Partei«. D ie 1847 gegründete liberale Oppositionspartei gab sich ein regulä­ res Programm und wählte ein Führungsgremium, sie informierte ihre An­ hänger per Rundschreiben über die nächsten Vorhaben und richtete Geld­ fonds ein, ließ in Leipzig und Hamburg Grundsatzprogramme erscheinen und veröffentlichte ganze Aufsatzbände, wie z.B. 1847 »Ellenör« (D er Kontrolleur) in Leipzig oder »Magyar Szozatok« (Ungarische Stimmen) in Hamburg. D ie neuen Organisationserfahrungen und die Verwaltungs­ kenntnisse, über die sie als ständische Elite seit jeher verfugten, trugen in entscheidendem Maße zu jener ungeheuren Leistung bei, welche die an die Macht gelangten Liberalen 1848 und 1849 vollbrachten. Dezidierte Gegner hatten die Liberalen anfangs fast keine. Die Trennlinie verlief zunächst zwischen denjenigen, die dem Hof nahestanden, und denen, die der ständischen Opposition angehörten, wobei sich erstere als Beschüt­ zer der Bauernschaft ausgaben und gelegentlich für Modernisicrungsmaß­ nahmen plädierten, während letztere am Bestehenden festhielten. Als dann aber Adlige als Befürworter einer Bauernreform auftraten, bildeten sich neue Fronten. D ie Anhänger der konservativen ständischen Auffassung und die des Hofes schlossen sich zu einem feudalen Konservativismus zusam­ men. An der Oberen Tafel verfugten sie zwar über eine sichere Mehrheit, aber neue Ideen hatten sie nicht. »Was geht mich die Freiheit an, wenn jeder Mensch frei ist«, rief einer der konservativen Abgeordneten im Jahre 1834.10 Erzherzog-Palatin Josef, Repräsentant des Wiener Hofes in Ungarn und Präsident der Oberen Tafel des Landtages, tendierte nicht dazu, seine beque­ me Rolle »über den Parteien« aufzugeben. Auch die Spitzengruppe der einheimischen Hocharistokratie hielt es für unter ihrer Würde, sich mit den konkreten politischen Fragen Ungarns zu beschäftigen, und der Wiener Konservativismus besaß bezüglich Ungarns kein Programm. D er Hof und die Bürokratie entwickelten für das territorial größte und bevölkerungs­ reichste, an wirtschaftlicher Bedeutung stetig wachsende Gebiet des Reiches keine Konzeptionen - außer Entwürfen für den Abbau der ungarischen Bodenschätze, die aber nur darauf abzielten, die ungarische Sonderstellung zu beseitigen. Eine Gruppe ungarischer Konservativer, die erkannte, daß etwas geschehen müsse, entwickelte Anfang der vierziger Jahre eine neue 476 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Strategie, die unter Beibehaltung der Hegemonie der Großgrundbesitzer und des Absolutismus einige unvermeidbare Änderungen ermöglichen soll­ te. D ie Liberalen zu bekämpfen und die Mehrheit im Landtag zu erlangen, sahen diese »Jungkonservativen« als ihre Hauptaufgaben an; dem diente auch die erwähnte Parteigründung. Obwohl Metternich selbst andere Vor­ stellungen hatte, übergab er ihnen 1844 die Leitung der ungarischen Regie­ rungspolitik. Einen durchschlagenden Erfolg vermochten sie trotzdem nicht zu erlangen, da aus Wien die Unterstützung ihrer Vorschläge ausblieb und ihre politischen Gewaltakte lediglich die eigene Basis in der Heimat schwächten. In einem Punkt allerdings hatte die Wiener Regierung gegenüber den ungarischen Liberalen zweifelsohne Erfolg: in der internationalen Propa­ ganda. Es gelang ihr, einem großen Teil der europäischen Öffentlichkeit Glauben zu machen, daß es dem ungarischen Adel nur um die Bewahrung seiner Privilegien gehe, daß er sich den nützlichen Reformbestrebungen der Wiener Regierung widersetze und die Nationalitäten assimilieren wolle und daß, da in Ungarn elementare Voraussetzungen der Zivilisation fehlen, der dortige Liberalismus eine reine Mode, eine Manier oder ein vorgetäuschter Glanz in asiatischer Grobheit sei. Da im Vormärz 90% der ungarischen Bevölkerung in oder von der Landwirtschaft lebte, kann es nicht verwundern, daß das Gesellschaftsbild der Liberalen agrarisch geprägt war. Sic zeigten sich zwar von der Unvermeid­ barkeit der Industrialisierung überzeugt, stellten sich das Ungarn der Zu­ kunft aber lange als agrarische Gesellschaft freier Besitzer vor, in der die Schichten der Klein-, Mittel- und Großgrundbesitzer in Harmonie neben­ einander leben. D iese Vorstellung war keineswegs archaisch, denn die Libe­ ralen gingen vom Bild einer warenproduzierenden Landwirtschaft aus, in der unterschiedliche Besitzgrößen nicht automatisch zu Klassengegensätzen fuhren mußten. D iese Art Landwirtschaft, ergänzt durch ein solides Hand­ werk, sollte durch Export das Kapital für infrastrukturelle und industrielle Investitionen schaffen. Dem Staat fiel in dieser Entwicklungskonzeption die Führung zu, Privat­ unternehmen hielten sie eher für ein unvermeidbares Übel. Gleichwohl unterstützten die Liberalen ohne Ausnahme die »Fabrikindustrie«. »Ohne Industrie ist die Nation ein einarmiger Riese«, hieß es z. B. bei Lajos Kos­ suth. 1840 brachten sie ein Gesetz ein, das die Errichtung von Fabriken betraf, und sie unternahmen auch große Anstrengungen, ausländisches Ka­ pital ins Land zu holen. D ie Liberalen erkannten jedoch früh auch die Gefahren einer unkontrollierten industriellen Entwicklung. Bliebe diese sich selbst überlassen, sei nicht nur die Entstehung eines Bundes zwischen »Fa­ brikherren und Burgherren«, wie es in zeitgenössischen Formulierungen hieß, zu befürchten, sondern auch die Ausbreitung einer Armut, die zu sozialen Spannungen innerhalb der Gesellschaft führen werde. Die Liberalen verlangten deshalb eine von der Gesellschaft geplante Industrieentwick477 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

lungspolitik, die durch den Staat gelenkt werden sollte: »Aber nur jener Staat wird ruhig in die Zukunft blicken können«, heißt es bei Baron Zsigmond Kemeny, einem der führenden Publizisten, der nicht nur den kleine­ ren und mittleren Grundbesitz sichert, »sondern durch freien loyalen Wett­ bewerb eine Industrie schafft. Aber diese freie Konkurrenz, die die kleinen und mittleren Vermögen in letzter Konsequenz zu Grunde richtet, vermag der Staat durch Wachsamkeit in seinen Auswüchsen zu begrenzen. D . h. der Staat soll die Fabrikarbeit organisieren, wie wir durch Urbarialgesetze die Fronarbeit, und er soll aus Unternehmungen des Geldkapitals ausreichende Zinsen entstehen lassen, dabei soll er den Tagelöhnern ausreichenden Lohn sichern... D a Ungarn jene Richtung, die auf dem Bauernhof begonnen hat, konsequent weiter fortsetzt..., wird - wenn die Vorhersehung das Land mit Fabriken segnet - die Industrie und der Arbeitslohn organisiert werden: In diesem glücklichen Fall kann die Reform auf einem ständigen Weg des Ausgleichs ohne Erschütterungen allen Krisen der sozialen Umgestaltung begegnen, während mehrere, auch gebildetere, erfahrenere und ältere Län­ der nur um den Preis des Opfers und des Blutes dorthin gelangten.« 11 Die Liberalen lehnten damit nicht die unternehmerische Freiheit ab, doch wenn sie von der Freiheit des Einzelnen sprachen, meinten sie immer die politische Freiheit, nicht die einer »Laissez-faire«-Gesellschaft. Das gesellschaftliche Zukunftsbild des ungarischen Adels wurde von den Lehren Sismondis über die Gefahren einer zunehmenden Besitzkonzentra­ tion beeinflußt - Gefahren, mit denen sich Teile des Adels konfrontiert glaubten, waren doch ihre kleineren, von riesigen Feldern der Großgrund­ besitzer umgebenen Güter nicht selten in deren Hände gelangt. D er liberale Adel sprach daher dem Staat für die Organisation der Gesellschaft eine wichtige Rolle zu. Als Ferenc Deák, einer der führenden Liberalen, 1848 als Minister an die Macht kam, betonte er: Eine Regierung muß organisieren, investieren und agieren, um Erfolge zu erzielen; nur mit der Förderung der gesellschaftlichen Entwicklung könne sie Vertrauen erlangen.12 Im Budget von 1848 wurden diese Absichtserklärungen in die Wirklichkeit umge­ setzt.13 Das Gesellschaftsmodell des ungarischen Liberalismus war nicht indivi­ dualistisch. Es sah vielmehr einen in Selbstverwaltungseinheiten geglieder­ ten, zur kollektiven Selbsthilfe fähigen Gesellschaftsaufbau vor, der dem einzelnen Selbstverantwortung geben, ihn aber nicht isolieren sollte. »Ich brauche eine Gemeinde«, sagte Kossuth 1848 auf dem Landtag, »aber keine, die in den Händen der Verwaltung ein bloßes Werkzeug ist, sondern eine, die sich aus individuellen und moralischen Persönlichkeiten zusammensetzt und die eine Kraft darstellt.«14 Noch Jahrzehnte später sprach er mit Widerwillen von der Profitsucht der Versicherungsgesellschaften: »D ie bürgerliche Ge­ sellschaft müßte sich selbst als eine große und gegenseitig versichernde Gesellschaft betrachten.« Obwohl er bekanntlich alle Formen sozialistischen Denkens ablehnte, verlangte er hier eine auf alles und jeden ausgedehnte 478 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Sozialpolitik.15 Eine herausragende Rolle gedachte das liberale Gesell­ schaftsbild dem noch zu schaffenden Mittelstand zu. D ieser war aber nicht identisch mit dem Mitteladel, obwohl diese Schicht gute Voraussetzungen besaß, ein konstitutives Element des neuen Mittelstandes zu werden. Klar waren die patriarchalischen Züge des Gesellschaftsbildes erkennbar: »Die Zukunft taucht nicht in einem solchen Bilde vor meiner Seele auf, in dem es keinen Adel gibt«, bekannte Kossuth 1847, »sondern in dem der Adel mit dem Volk in Freiheit verschmolzen ist. D er Adel ist dabei wie der treue Erstgeborene bei Geschwistern der Führer der Familie, der starke Eckstein des Hauses, der nur mit dem Blick der Liebe und des Vertrauens begegnet, dessen geschwisterliche Kraft dem jüngeren Bruder Mut macht und Ver­ trauen einflößt, der bei den Kämpfen der Familie voranschreitet, der den gefährdetsten Punkt des angegriffenen gemeinsamen Hauses ohne Unterlaß bewacht, der den jüngeren Bruder pflegend und erziehend lehrt, sich auf dem schlüpfrigen Felde der Freiheit zu halten. D as Bild meines Vaterlandes sieht also vor, daß der Einfluß des Adels nicht aufgrund seines Monopols, sondern aufgrund seiner moralischen Kraft und seines historischen Gewich­ tes entsteht. D ieser Einfluß bildet den Kern eines Zentrums, um das herum sich das Obst der Gemeinfreiheit zu entwickeln beginnt.«16 Deutlicher noch werden die patriarchalischen Züge im Programm der literarischen Volks­ tümlichkeit sichtbar, die zur dominierenden literarischen Strömung der Epoche wurde und als deren politische Entsprechung der Liberalismus gelten kann. Um es mit dem größten D ichter der Zeit, Sandor Petöfi, zu sagen: »Wenn das Volk erst einmal in der Dichtung die Führung übernom­ men hat, steht es kurz davor, auch in der Politik zu herrschen. Es ist das Ziel des Jahrhunderts, das Ziel jeder edlen Brust, dieses durchzusetzen.«17 Hinter diesem Patriarchalismus verbargen sich vor allem die Interessen der Intelli­ genz, denn sie besetzten die staatlichen Führungspositionen, von denen aus die Liberalen die Nation leiten und die Gesellschaft organisieren wollten. Das Reformprogramm der klassenlosen oder mittelständischen Gesell­ schaft - so können wir zusammenfassen - entsprach den vorindustriellen bürgerlichen Verhältnissen. D a in Ungarn die industrielle Revolution erst in den 1880er Jahren begann, wird man dieses Programm der Interessenver­ einigung nicht als irreal betrachten können, zumal Korrekturen jederzeit möglich waren. Soweit es sich auf die Umgestaltung des Staatslebens bezog, konnte es erst 1848 in die Praxis umgesetzt werden. Als das am schwierig­ sten zu verwirklichende Element des Programms der ungarischen liberalen Opposition entpuppte sich aber die nationale Selbstbestimmung. Im Herbst 1848 erteilte die Führung des Reiches dem Vorschlag auf Personalunion eine unmißverständliche Antwort. Von da an war deutlich, daß günstige interna­ tionale Bedingungen zur vollen Realisierung des liberalen Programms unab­ dingbar sein würden. Insofern markierten die Jahre 1848/49 die äußeren Schranken der immanenten Entwicklungsmöglichkeiten Ungarns. Hinsichtlich der nationalen Selbstbestimmung einen Kompromiß mit 479 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

dem Habsburgerreich einzugehen, hätte bedeutet, grundlegende Prinzipien des liberalen Programms aufzugeben, denn man hätte damit auf die Institu­ tionen verzichtet, die allein die erhoffte Entwicklung ermöglichen konnten: auf den liberalisierten nationalen Staat. Das eigentlich unlösbare Problem war jedoch die Multinationalität Un­ garns. D er Ausgleich mit den Nationalitäten war zwar prinzipiell mit dem liberalen Programm vereinbar, und seit 1848 entstanden auf ungarischer Seite auch mehrere solcher Ausgleichspläne. Aber sie gingen alle von einem freien Wettbewerb der Nationalitäten aus. Die Nationalitäten lehnten jedoch aufgrund ihres Gesellschaftsaufbaus und ihrer Bindung an den byzantini­ schen Kulturkreis einen solchen, auf liberaler Freiheit beruhenden »Aus­ gleich« ab bzw. hielten ihn sogar für gefährlich. Als Beispiel für eine Natio­ nalbewegung, die dem Liberalismus feindlich gesonnen war, sei die kroati­ sche genannt, deren gesellschaftliche Struktur allerdings der ungarischen glich und die ebenfalls mit Privilegien ausgestattet war. Auf den gemeinsa­ men Landtagen vertraten die Kroaten konsequent konservative Ansichten, und die Spitzen ihrer nationalen Bewegung standen in geheimen Kontakten zum Zaren. Nationalitäten mit einer homogenen bäuerlichen Gesellschafts­ struktur waren für individuelle Werte grundsätzlich weniger empfänglich. Ihnen ging es um die Nation, die sie weit über die liberalen Freiheitsrechte stellten. Betrachtet man die liberale Wertewelt, so entwickelte sich in Un­ garn tatsächlich eine Art Zivilisationsgrenze (Frontier) zwischen den Natio­ nalitäten und den Ungarn. D ie zahlreichen archaischen Forderungen, die 1848 von den Nationalitäten erhoben wurden, markieren diese Grenze deutlich. Zweifellos hätte die Verbürgerlichung der Nationalitäten die Lage verändert, aber bis zur Zeit des Dualismus stand die führende Schicht der Nationalitäten dem für jüdisch-ungarisch gehaltenen Prozeß der Verbürger­ lichung feindlich gegenüber. D as gehört zu den Gründen, warum die libera­ le Führungsschicht Ungarns zwischen 1861 und 1865 ihr ursprüngliches Programm der Interessenvereinigung aufgab und das Bündnis der Liberalen mit den konservativen Kräften die Oberhand gewinnen konnte. Ein weiterer Grund ist in dem Wandel zu sehen, der sich in der sozialen Basis der liberalen Bewegung Ungarns vollzog. D as sei abschließend skiz­ ziert. In der Mitte der vierziger Jahre ließ die Verbindung zwischen der führen­ den liberalen Adelselite und dem Komitatsadel nach. Unter der Elite darf man sich aber keinen engen Kreis vorstellen. An den Landtagen nahmen mit unterschiedlichen Befugnissen 1000-2000 Menschen teil, über 5000 waren Abonnenten des »Pesti Hirlap«. Gleichwohl schien sich die liberale Bewe­ gung festzufahren, nicht zuletzt auch infolge des immer besser organisierten Widerstandes der Konservativen. Als es 1843 um eine der wichtigsten Refor­ men, die allgemeine Steuerpflicht, ging, sprachen sich von 52 nur 19 Komitate dafür aus. In zahlreichen Orten kam es bei D eputiertenwahlen und der Erstellung ihrer Instruktionen zu blutigen Auseinandersetzungen. In 480 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

einem seiner Leitartikel verlieh Kossuth seiner Enttäuschung Ausdruck: »Von Tag zu Tag mehr durchzieht ein schwermütiger Schreck meine Gedan­ ken: D aß der Adel nicht nur auf Grund mangelnder Fähigkeiten, sondern auch auf Grund mangelnden Willens nicht in der Lage ist, die große Arbeit der nationalen Wiedergeburt zu Ende zu führen. Ja, ich gehe sogar noch weiter: seelischen Gesetzen gemäß ist dies auch nicht möglich... Ich behaup­ te dies nicht von Einzelnen, sondern von der Mehrheit, die ja den Ausschlag gibt.« 18 Kossuths Ausweg aus der Stagnation des Adelsliberalismus hieß: Einbeziehung der Bürger der Städte und Marktflecken, der Intelligenz und der befreiten Bauerngemeinden in die Verfassung. Mit dieser Beschleuni­ gung des Reformprozesses radikalisierte er das liberale Entwicklungspro­ gramm: »Seien wir eine kleine, aber entschlossene Schar!«19 Die innere Unsicherheit der liberalen Bewegung und die soziale Differen­ zierung ihrer Basis führten - zunächst noch verborgen - zur politischen Polarisierung. Kossuth suchte aus der zeitweisen Krise der liberalen Bewe­ gung den Ausweg in Richtung D emokratisierung; im Kreise der gemäßig­ ten Liberalen entwickelte sich dagegen eine andere Richtung, nach deren Ansicht die Interessenvereinigung vom Adel einen zu hohen Preis fordere, das ganze Programm der staatlich-gesellschaftlichen Umgestaltung über­ trieben riskant und, so ihr Hauptargument, angesichts des Widerstands aus Wien auch nicht zu realisieren sei. Der Versuch, sich der »Realität« anzunä­ hern, trieb sie zu den Konservativen. D ie durch die Revolution von 1848 geschaffenen Verhältnisse ordneten das politische Spektrum dann völlig neu, wenngleich deutlich ist, daß der ungarische Liberalismus sich nach 1849 dort in zwei Teile spaltete, wo sich im Vormärz die Spaltung bereits ange­ kündigt hatte. D er Teil, den der in die Emigration gegangene Kossuth repräsentierte, entwickelte sich in Richtung Demokratie weiter. Der andere, von Ferene Deák geführt, ging ein Bündnis mit den Konservativen ein und schloß damit einen Bund mit dem Habsburgerreich, das durch die Geschich­ te bereits zur Auflösung verurteilt war. Um diesen Preis wurden die Libera­ len 1867 Teilhaber an der Macht, jedoch nicht ihr alleiniger Besitzer.

Anmerkungen 1 Gyula Szekfü, Három Nemzedék. Egy hanyatló kor története [D rei Generationen. Ge­ schichte einer untergehenden Epoche], Budapest 1920. 2 Ervin Szabó, Társadalmi és pártharcok a 48-49 es magyar forradalomban, Becs 1921; dt.: Gesellschafts- und Parteienkämpfe in der ungarischen Revolution von 1848/49, Wien 1921. 3 Jázsef Révdi, Marxizmus, népiesseg, magyarság [Marxismus, Volkstum, Ungarntum], Budapest 1948. 4 Mihály Bábolnai (= Lajos Kossuth), Α magyar konservativ párt és a nemzetiség [D ie ungarische Konservative Partei und die Nationalität], in: Magyar Szozatok [Ungarische Stim­ men], Hamburg 1847, S. 236.

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5 István Széchenyi, Világ [Licht], Pest 1831. 6 Miklós Wesselényi, Balitelétekröl [Über Vorurteile], Bukarest [Leipzig!] 1833, S. 218. 7 Csendes (= Károly Nagy), Levél-cyclus czim nélkül [Briefzyklus ohne Titel] XIII. Pesti Hirlap [Pester Journal] 1842, 147 sz. 8 András Gergely, Az 1848-as magyar polgári államszervezet [D ie ungarische bürgerliche Staatsorganisation von 1848], in: Ferenc Pölöskei u. György Ránki (Hg.), Α magyarországi polgári államrendszerek [Die bürgerlichen Staatssysteme in Ungarn], Budapest 1981, S. 50-80. 9 György Szabad, Kossuth on the Political systems of the United States of America, Budapest 1975. 10 La Motte, Károly gróf véleménye 1834. november 10-én hangzott el az országgyülés alsó táblájának ülásán [Die am 10. Nov. 1834 verkündete Meinung des Grafen Károly la Motte auf der Sitzung der Unteren Tafel des Landtages], in: Lajos Kossuth (Hg.), Országgyülési Tudosítások [Landtagsberichte] (S. a. r. István Barta) III köt., Budapest 1949, S. 719. 11 Zsigmond Kemény, Igéntelen nézetek [Anspruchslose Betrachtungen], in: Ders., Korkiv­ ánatok, [Wünsche der Zeit], Budapest 1983, S. 349, 351. 12 Ferenc Deák, Beszédei [Reden], hg. von Manó Kónyi, Bd. I, Budapest 1903, S. 229. 13 Lajos Kossuth, Ministeri jelentés az országos pénzügy iránt [Ministerialbericht betreffs der Finanzangelegenheit des Landes], in: Ders., Összes Munkai [Gesammelte Werke], hg. von István Barta, Bd. XII, S. 466-481. 14 D ers., beszéde az országgyülés alsó tábláján 1848. február 18 [Rede an der Unteren Tafel des Landtages vom 18. Februar 1848], in: ebd., Bd. XI, Budapest 1951, S. 549. 15 D ers., Nyíltlevele, 1867. Október 14 [Offener Brief vom 14. Oktober 1867], in: Ders., Iratai [Schriften], Bd. VIII, hg. v. Ferenc Kossuth, Budapest 1900, S. 128. 16 D ers., Adó [Steuer], in:József Bajza (Hg.), Ellenör [Der Kontrolleur], Leipzig 1847. 17 Sándor Petöfi: Arany Jánoshoz, Pest 1847. február 4 [Sándor Petöfi an János Arany, Pest, 4. Februar 1847], in: D ers., Összes prózai müvei és levelezése [Gesammelte Prosawerke und Briefwechsel], Budapest 1973, S. 259. 18 Pesti Hirlap [Pester Journal], 1844, S. 319 sz. 19 Lajos Kossuth, Adózzunk! [Zahlen wir Steuer!], in: Ders., Hirlapi Czikkei [Zeitungsarti­ kel], hg. v. Ferenc Kossuth, Bd. II, Budapest 1911, S. 484.

Publikationen in westeuropäischen Sprachen János Varga, Typen und Probleme des bäuerlichen Grundbesitzes in Ungarn 1767 — 1849, Budapest 1965. Vera Bácskai u. Lajos Nagy, Market Areas, Market Centres and Towns in Hungary in 1828, in: AH, 1980. István Diószegi, La noblesse hongroise et la crise du féodalisme dans premiere moitié du XIX siècle, in: Noblesse francaise-noblesse hongroise XVIe-XIXe siècle (Red. Béla Köpeczi u. Eva H. Balász), Budapest/Paris 1981. Gyula Mérei, Der Außenhandel des Königreichs Ungarn (1790-1848), Budapest 1980. Károly Vörös, Ungarns Judentum vor der bürgerlichen Revolution, in: Studies in East European Social History, Bd. II, Leiden 1981. István Barta, Entstehung des Gedankens der Interessenvereinigung in der ungarischen bürger­ lich-adeligen Reformbewegung, in: EHH, 1965, Bd. I. Erzsébet Andics, Metternich und die Frage Ungarns, Budapest 1973. Domokos Kosáry, Napoleon et la Hongrie, Budapest 1979. Pál Sándor, Deák und die Frage der Hörigen auf dem Reichstag der Jahre 1832—1836, Budapest 1977. Aladár Urbán, Attempts at Reform and the Lessons of History. Constitutional Models and the Beginnings of Political Journalism in Feudal Hungary 1841 — 1842, Budapest 1980.

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ISTVÁN D IÓSZEGI

Die Liberalen am Steuer Der Ausbau des bürgerlichen Staatssystems in Ungarn im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts

1. D ie staatsrechtliche Natur und die europäische Einzigartigkeit des österreichisch-ungarischen Ausgleichs Mit dem Ausgleich vom Jahr 1867 verwandelte sich die Habsburger Monar­ chie in einen dualistischen Staat mit zwei Zentren und nahm statt ihres bisherigen Namens Österreich die Bezeichnung Österreichisch-Ungarische Monarchie an. Hinsichtlich der öffentlich-rechtlichen Struktur unterschied sich das Staatsgebilde mit neuem Namen von sämtlichen Staaten Europas. Vom zentralisierten Modell - vom französischen Muster genauso wie vom russischen - wich es ab, aber auch vom Bundestyp: von dessen, die Gleich­ berechtigung der einzelnen Elemente respektierenden schweizerischen Mu­ ster, ebenso wie vom deutschen, das durch das preußische Übergewicht charakterisiert war. Einigermaßen glich es der als Ergebnis der 1814er Union zustandegekommenen schwedisch-norwegischen Einrichtung, aber auch dieser gegenüber herrschten seine eigenartigen Züge vor. Das Einmali­ ge der österreichisch-ungarischen Einrichtung bestand darin, daß Cisleithanien sowie Ungarn - die Gesamtheit der »im Reichsrat vertretenen König­ reiche und Länder« - in innenpolitischer Hinsicht völlige Selbständigkeit erlangten, gleichzeitig aber wichtige Teile staatlicher Tätigkeit- die auswär­ tige Politik und das Kriegswesen sowie die beide Reichshälften betreffenden Finanzfragen - als gemeinsame Angelegenheiten anerkannt wurden. Zur Leitung der gemeinsamen Ressorts ernannte der Kaiser ohne jedwede parla­ mentarische Mitwirkung die Minister, diese waren jedoch nicht allein ihm, sondern auch den parlamentarischen Körperschaften verantwortlich. D ie drei gemeinsamen Minister bildeten zusammen keine zentrale Regierung; eine derartige Befugnis übte der unter Teilnahme des österreichischen und des ungarischen Ministerpräsidenten gelegentlich einberufene gemeinsame Ministerrat aus. D ie eigentliche und regelmäßige Aufgabe des unter dem Vorsitz des Kaisers bzw. des Außenministers zusammentretenden gemein­ samen Ministerrats war es, das Budget der gemeinsamen Angelegenheiten vorzubereiten, aber er entschied auch in den wichtigsten Fragen der Außen484

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politik und des Kriegswesens (Kriegserklärung, Friedensschluß, Bestands»rhöhung, Aufrüstung) bzw. veranlaßte Entscheidungen. D as Budget der gemeinsamen Ministerien behandelte und genehmigte eine aus den Parla­ menten der beiden Landesteile gebildete, aus jeweils sechzig Mitgliedern bestehende und separat zusammentretende Körperschaft, die D elegation. Die Budgetdebatte bot den D elegierten die Möglichkeit zu den meritori­ schen Fragen der Außenpolitik und des Kriegswesens ihre Meinung zu äußern, und da die Verabschiedung des Budgets von ihnen abhing und die Minister auch ihnen verantwortlich waren, übten die D elegationen im Endergebnis die Funktion einer parlamentarischen Kontrolle aus. Neben diesen ständigen gemeinsamen Kompetenzbereichen, die das gesamte Reich betrafen, gab es zwischen den beiden Ländern der Monarchie auch befristete Angelegenheiten, in denen sie alle zehn Jahre eine neue Vereinba­ rung treffen mußten. D azu zählten die gemeinsamen Kosten, die Quoten­ frage, die Zoll- und Handelsunion und ebenso das gemeinsame Geldsystem, die Notenbank, die Verbrauchssteuer und die gemeinsame Eisen­ bahn. D iese minutiöse, aber ziemlich komplizierte Regelung der gemeinsa­ men Angelegenheiten der beiden Länder gab schon den Zeitgenossen viel­ fach Anlaß zu Witzen, der dualistische Staat wurde spöttisch »Monarchie auf Kündigung« genannt. D as Hauptproblem entsprang aber nicht den befristeten gemeinsamen Angelegenheiten, sondern teils den Unzuläng­ lichkeiten der verfassungsmäßigen Regelung, teils dieser Regelung selbst. Das Fehlen einer gemeinsamen Regierung und eines - durch die Delegatio­ nen nicht zu ersetzenden -- gemeinsamen Parlaments beließ den Herrscher in vielen Beziehungen im Besitz der Exekutivgewalt und gab ihm die Möglichkeit, diese Gewalt zum Nachteil eines Landesteils oder sogar bei­ der Reichshälften auszuüben. D er Monarch verkörperte also eine Art drit­ te, absolute Macht über beiden Landesteilen. D ie Unzulänglichkeit der Verfassung, die prävalierende Gewalt des Herrschers konnten zum Hinder­ nis einer weiteren Modernisierung des staatlichen und politischen Systems werden. Hinzu kam, daß das Ausgleichsgesetz einen Teil der Befugnisse zur Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten, wie die für das gemein­ same Kriegswesen grundlegend wichtige Heeresergänzung, nicht den D e­ legationen übertrug, sondern sie im Wirkungsbereich der beiden Parlamen­ te beließ. D as ungarische Parlament nahm im Jahr 1868 das Wehrgesetz an, das die allgemeine Wehrpflicht einführte, ob es aber das vorgeschriebene Rekrutenkontingent bewilligen und ob es einer dem Bevölkerungszuwachs proportionalen oder seitens des gemeinsamen Kriegsministers für notwen­ dig erachteten Erhöhung dieses Kontigents zustimmen würde, hing aus­ schließlich von ihm ab. Falls es sich dem widersetzen sollte, mußte es in der Institution der gemeinsamen Angelegenheiten zu schweren Funktionsstö­ rungen kommen. D as Zusammenleben mit der Monarchie hing auf der ungarischen Seite von der politischen Einsicht ab, ob man dieses Zusam­ menleben für notwendig hielt. Wenn dies nicht der Fall sein sollte, sicherte 485 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

die verfassungsmäßige Regelung selbst dem ungarischen Widerstand einen rechtlichen Rahmen.

2. D as Nationalitätengesetz von 1868 als eine hervorragende Leistung des ungarischen Liberalismus Der Ausgleich regelte das öffentlich-rechtliche Verhältnis zwischen Öster­ reich und Ungarn, die Nationalitätenfrage harrte aber noch einer Lösung. Ungarn war ein multinationales Land und auf dem historischen Staatsgebiet - einschließlich Kroatiens und Sloweniens - lebten außer dem Ungartum noch sechs Nationalitäten mit großen Bevölkerungszahlen. In den Jahren des Ausgleichs betrug das Ungartum mit etwa sechs Millionen 40% der Gesamtbevölkerung des Landes, die übrigen verteilten sich auf Deutsche, Slowaken, Rumänen, Karpato-Ukrainer, Serben und Kroaten. D er Anteil der Deutschen, Slowaken, Rumänen und Kroaten war höher als je 10%, und abgesehen von den Deutschen lebten sämtliche Nationalitäten, obwohl eine deutliche Vermischung zu verzeichnen war, in zusammenhängenden, ge­ schlossenen Einheiten. Auch seit dem Anschwellen des politischen Nationa­ lismus verhielten sich die Nationalitäten nicht völlig abweisend der Monar­ chie und Ungarn gegenüber. Außenpolitische Überlegungen spielten dabei eine Rolle. D ie Slowaken und die Kroaten befürchteten eine Expansion der deutschen bzw. der italienischen Nationalität. D ie Rumänen und die Serben hatten hingegen die Ansprüche Rumäniens und Serbiens im Blick, die gegenüber der russischen bzw. der türkischen Bedrohung die Unterstüt­ zung der Monarchie und Ungarns nicht entbehren konnten. D ie Nationali­ täten lehnten sich jedoch nicht bedingungslos an die Monarchie und an Ungarn an. Sie verknüpften die Respektierung der ungarischen territorialer Integrität vielmehr mit der Forderung, die territorialen Autonomien auszu­ bauen, wobei die Forderungen im einzelnen unterschiedlich weit reichten. Die ungarische politische Führungsschicht würdigte und erwiderte diese Haltung der Nationalitäten nicht, sondern zeigte ausgesprochen zentralisti­ sche Vorstellungen. D ie Regierung liquidierte nach dem Ausgleich die älte­ ren und jüngeren Autonomien, die siebenbürgische und sächsische Sonder­ stellung genauso wie die serbische Selbstverwaltung der Woiwodschaft; der Landtag aber wies alle Bestrebungen ab, die auf eine föderative Umorgani­ sierung des Landes bzw. auf die Bildung von Nationalitätskomitaten zielten. Von der strengen Zentralisierung sah man nur im Falle von Kroatien und Slawonien ab. Im Sinne des ungarisch-kroatischen Ausgleichs vom Jahr 1868 erlangte Kroatien-Slawonien, das auch zuvor über eine ständische Sonderstellung verfugt hatte, innenpolitische Selbständigkeit: D ie zum Be­ reich der Selbstverwaltung gehörenden Gesetze schuf der Zagraber (Agram, Zagreb) Sabor, die Exekutivgewalt übte die autonome Regierung aus. In 486 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

den für die gemeinsamen Angelegenheiten zuständigen Pester Landtag ent­ sandte der Sabor D elegierte, die dort in ihrer Muttersprache das Wort ergreifen konnten, und in der ungarischen Regierung saß ein kroatischer Minister ohne Portefeuille. Die Bestrebungen der Nationalitäten, ihre territorialen Autonomien aus­ zugestalten, wies der Landtag mit der Begründung zurück, daß es in Ungarn nur eine politische Nation gebe, die ungarische, und mit dieser Doktrin sei die Aufteilung des Landes in territoriale Autonomien - von Kroatien abgese­ hen - unvereinbar. D er Landtag wies zwar den Anspruch der Nationalitäten auf kollektive politische Individualität ab, schloß aber deren sprachlich­ kulturelle Individualität nicht aus. Jeder Einwohner des Landes, zu welcher Nationalität er auch gehörte, galt ihm als gleichberechtigter Staatsbürger. Indem er die Gleichberechtigung der Nationalitäten gesetzlich verankerte, meinte der Landtag der multinationalen Beschaffenheit Ungarns Rechnung zu tragen. D er diesbezügliche Gesetzesartikel 44 vom Jahre 1868 regelte den Sprachgebrauch auf Antrag von József Eötvös mit einer liberalen Großzü­ gigkeit, die sich über den Zeitgeist erhob. D as Gesetz bestätigte zwar das Ungarische als Staatssprache, beschränkte jedoch deren Ausschließlichkeit auf die Regierungs- und Gesetzgebungsebene, wobei es aber die Ausgabe der Gesetze in Übersetzungen vorschrieb; in den Komitaten und Munizipien ordnete es hingegen neben dem Ungarischen den Gebrauch jedweder ande­ ren Sprache an, sofern dies ein Fünftel der Delegierten wünschte. Die Komitats- und Munizipialbeamten waren verpflichtet, mit den Gemeinden und Privatpersonen in deren Sprache zu verhandeln, die Gemeinden hingegen durften ihre eigene Sprache gebrauchen. Auch die Gerichtsbeamten mußten mehrere Sprachen beherrschen. In den Schulen gewährleistete das Gesetz den Unterricht in der Muttersprache - teils so, daß bei einer Gründung durch eine Gemeinde bzw. Kirche die Bestimmung der Unterrichtssprache dem Gründer überlassen blieb, teils in der Weise, daß der Staat dazu ver­ pflichtet wurde, in den Gebieten der Nationalitäten für eine Ausbildung in der Muttersprache zu sorgen. Die Kirchen erhielten eine umfassende Befug­ nis in ihren inneren Angelegenheiten und im Schulwesen; der rumänischen und der serbischen orthodoxen Kirche wurde in einem besonderen Geset­ zesartikel Autonomie zugesichert. D as Nationalitätengesetz befriedigte frei­ lich die Politiker der Nationalitäten, die eine territoriale Autonomie anstreb­ ten, nicht, und die starre Zentralisation stimmte mit der ethnischen Struktur des multinationalen Landes tatsächlich nicht überein. Wenn wir jedoch bedenken, daß in Europa zu jener Zeit mit Ausnahme der Schweiz und Österreichs die Rechte der Nationalitäten gesetzlich noch nirgends geregelt waren, ja im Gegenteil, fast überall, so auch in Frankreich, Deutschland und Rußland, die sprachliche Uniformierung vorangetrieben und der Gebrauch der Nationalitätensprache im Verordnungsweg verboten wurde, dann kön­ nen wir das ungarische Gesetz über die Gleichberechtigung der Nationalitä­ ten als eine beispielgebende Lösung betrachten. 487 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

3. D ie Modernisierung des politischen und gesellschaftlichen Systems Nach dem Ausgleich wurde unter der Regierung Andróssys mit einer Reihe wichtiger, vom Parlament beschlossener Gesetze das bürgerliche Staatssy­ stem ausgestaltet. D iese Reformen konnten an Vorläufer anknüpfen, hatte doch schon die Gesetzgebung von 1848 die Grundlagen des bürgerlichen Staatssystems gelegt, und auch zur Zeit des Absolutismus hatten bereits zahlreiche Maßnahmen auf eine Modernisierung der Verhältnisse gezielt. Erstere bedurften jedoch teils einer Ergänzung, teils einer Modifizierung, die letzteren aber waren einfache Adaptationen der österreichischen Gesetze und erwiesen sich nach Wiederherstellung der ungarischen Gesetzlichkeit nicht als wirksam. Eine Gruppe der vom Landtag verabschiedeten Gesetze bezweckte die Reform des Rechts und der Justizpflege. Sie verwirklichten die Gleichbe­ rechtigung der Staatsbürger vor dem Gesetz, trennten die Justizpflege von der öffentlichen Verwaltung, schrieben die juridische Bildung der Richter vor und sicherten deren Unabhängigkeit; in der strafrechtlichen Praxis beseitigten sie die unmenschliche feudale Gerichtspraxis. Als Ergebnis der Gesetze kam ein modernes System der Gerichtsbarkeit zustande, das mit gewissen Einschränkungen - in den Strafprozessen wurde z. B. das Schwur­ gerichtsverfahren nicht eingeführt - dem damaligen europäischen Niveau entsprach. Eine andere Gruppe von Gesetzen diente der Modernisierung der öffentli­ chen Verwaltung. Von diesen war das Gesetz über die »Regelung der öffent­ lichen Munizipien« - es befaßte sich mit den Aufgaben und den Befugnissen der Komitate - von besonderer Bedeutung. D as adelige Komitat, dieses eigenartige Gebilde der ungarischen ständischen Verfassungsmäßigkeit, verfugte über eine traditionelle Autonomie und durfte gegenüber der zentra­ len Macht eine gewisse gesetzgebende und Exekutivgewalt sein eigen nen­ nen. D ie Rechtsprechung vom Jahr 1848 hatte den feudalen Inhalt der Selbstverwaltung der Komitate beseitigt, nicht aber die Komitatsautonomie angetastet. Der Selbstverwaltung der Komitate kam vor dem Ausgleich eine gewisse politische Funktion zu, denn als 1861 die Komitatsautonomie wie­ derhergestellt wurde, erwiesen sich die Munizipien als tatkräftige Stützen des Landtags in seinen Auseinandersetzungen mit dem Wiener Hof. Nach dem Ausgleich bekam jedoch auch die ungarische Regierung die Nachteile dieser Autonomie zu spüren: Ein Teil der Komitate verwahrte sich unter Berufung auf sein gesetzlich verankertes Recht gegen den Gesetzesartikel XII vom Jahre 1867 und wies seine Beamten an, die Regierungsverordnun­ gen nur mit Bewilligung des Komitats durchzuführen. D ie Teilung der gesetzgebenden und der exekutiven Gewalt zwischen dem Landtag und den Komitatsversammlungen bzw. der Regierung und den Vizegespanen ließ sich mit einem Staat, der auf den Grundsätzen des Parlamentarismus und Zentralismus aufbaute, im Grunde nicht vereinbaren. D a der mittlere Adel, 488 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

die Basis der führenden Partei des Landtages, jedoch an der Komitatsautono­ mie festhielt, konnte von vornherein nur eine Kompromißlösung Zustande­ kommen. D as Gesetz über die Regelung der öffentlichen Munizipien hielt die Selbstverwaltung der Komitate in lokalen Angelegenheiten aufrecht, und es gestattete den Komitatsversammlungen, sich auch weiterhin mit Landesangelegenheiten zu beschäftigen. D ie Komitate wurden aber ande­ rerseits verpflichtet, die Gesetze des Landtages und die Verordnungen der Regierung gänzlich durchzuführen, und diese Verpflichtung linderte auch das Recht einer formalen Verwahrung nicht. Außerdem galt für den Groß­ teil der Munizipalbeschlüsse, daß sie erst durch den Innenminister in Kraft traten; der von der Regierung ernannte Obergespan aber verfügte über einen außerordentlich weitgehenden Wirkungskreis. Für die Wahl der Munizipal­ ausschüsse verfugte das Gesetz ein abgestuftes Verfahren. Nur die Hälfte der Mitglieder wurde aufgrund des Parlamentswahlrechtes gewählt, die andere Hälfte ergab sich aus jenen, welche die höchsten direkten Staatsabgaben zahlten, den sog. Virilisten. Am Maßstab einer modernen öffentlichen Verwaltung gemessen, kann das Gesetz über die öffentlichen Munizipien nicht als erfolgreich bezeichnet werden. Es stellte zwar einen Fortschritt gegenüber dem früheren ziemlich anarchischen System der Verteilung von Befugnissen dar, aber es machte Konzessionen zu Lasten eines zentralistischen Staatsaufbaus, ohne damit eine Selbstverwaltung, die dem »Zeitgeist« entsprochen hätte, zu kräftigen. Der »Ausgleich zwischen Staat und Komitat«, wie die Zeitgenossen das Gesetz über die Regelung der öffentlichen Munizipien nannten, sicherte vielmehr den Elementen des Ständewesens ein langes Leben. Die dritte Gruppe der nach dem Ausgleich geschaffenen Gesetze diente der Modernisierung des Unterrichtswesens sowie den Religions- und kirch­ lichen Angelegenheiten. D as auf Initiative József Eötvös' entstandene Gesetz über die Volksschulen führte die allgemeine Schulpflicht ein, stellte die Schulen unter staatliche Aufsicht und schrieb vor, jeden Schüler in seiner Muttersprache zu unterrichten. D as Religionsgesetz bestimmte die völlige Gleichberechtigung der christlichen Konfessionen; ein anderes Gesetz ge­ währleistete die bürgerliche und politische Gleichberechtigung der Juden. Die Kirchen behielten ihre frühere Autonomie, und die Selbstverwaltung der serbischen und rumänischen orthodoxen Kirche garantierte, wie bereits erwähnt, ein besonderes Gesetz. Ein Gesetzentwurf, der eine den Einspruch von Laien gewährleistende katholische Autonomie vorsah, wurde hingegen nicht verabschiedet; die römisch-katholische Kirche - sie wies unter allen Konfessionen die größte Seelenzahl auf - konnte ihre bevorzugte Lage gegenüber dem Staat auch später bewahren. Die vierte Gruppe der Gesetze betraf das Wirtschaftsleben. Seit dem Ende der 60er Jahre entstanden zahlreiche Gesetze, die das Kreditwesen, den Geldund Warenverkehr sowie die Rahmenbedingungen für die industrielle Pro­ duktion im Geiste des Ökonomischen Liberalismus regelten. Schließlich ist 489 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

auf das bereits erwähnte Wehrgesetz zu verweisen. Indem für den Dienst in der selbständigen ungarischen Wehrmacht, der Honvedarmee, die allgemei­ ne Wehrpflicht auf alle männlichen Einwohner des Landes ausgedehnt wur­ de, setzte man auch hier den Grundsatz der bürgerlichen Rechtsgleichheit durch.

4. D ie Eigenarten des ungarischen Parlamentarismus Die Körperschaft, welche die genannten Gesetze geschaffen hat, nannte sich Volksvertretungslandtag - eine einigermaßen euphemistische Bezeichnung. Das im Jahr 1848 verabschiedete und auch danach gültige Wahlgesetz - erst 1878 wurde es modifiziert - knüpfte das Wahlrecht an einen ziemlich hohen Vermögens- und Bildungszensus, demzufolge kaum mehr als 6% der Be­ völkerung des Landes, ungefähr ein Viertel der erwachsenen Männer, nach 1874 noch weniger, wählen durften. Trotz des beschränkten Wahlrechtes war das Unterhaus des Parlaments aber eine Vertretungsinstitution des Volkes, denn ein Mandat erhielt, wer in seinem Wahlbezirk die absolute Mehrheit der Stimmen erhielt. Ins Oberhaus des Parlaments gelangte man dagegen auf Grund seines Standes oder man wurde vom Herrscher ernannt. Die Durchführung der Wahlen zum Unterhaus lag in der Hand der Komi­ tatsorgane. D as bot Gelegenheit zu gewissen Mißbräuchen, doch niemand behinderte die Kandidaten, frei ihre Meinung zu äußern und ihr Programm vorzustellen. Nach dem Amtsantritt der Regierung Andrássy 1867 traten wieder die aus dem Jahr 1848 stammenden Gesetze und Verordnungen in Kraft, welche die bürgerlichen Rechte gewährleisteten, die Presse befreiten, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit zusicherten - all dies wirkte sich auf das gesamte politische öffentliche Leben, auch während der Wahlen, positiv aus. Die Abgeordneten nahmen im Unterhaus ihrem politischen Programm entsprechend Platz, die Gruppe von Gleichgesinnten bildete eine Partei. Diese Form der Parteibildung hatte es vor dem Ausgleich nur in Ansätzen gegeben. Auch zuvor hatten sich die Abgeordneten in Klubs getroffen und gemeinsam über die Adreßentwürfe verhandelt, wie sich auch bereits Grup­ penmeinungen abzeichneten und bei den Abstimmungen sichtbar wurden. Doch erst nach dem Zustandekommen des Ausgleichs zeichneten sich die Parlamentsparteien prägnant ab. Die damaligen Parteigebilde wiesen zwei charakteristische Züge auf: D ie Parteien waren Parlamentsklubs (Fraktionen), und sie grenzten sich gemäß ihrer Einstellung voneinander ab. D as erste Charakteristikum war keine ungarische Eigenart. Auch anderwärts gab es Parteien ohne außerparlamen­ tarische Parteiorganisation und -mitgliedschaft: Partei bedeutete einen Zu­ sammenschluß von Abgeordneten. D er zweite Zug ist spezifisch ungarisch. 490 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Die Parteien sonderten sich nicht aufgrund des Klassencharakters, der in­ nenpolitischen Vorstellungen oder der Weltanschauung voneinander ab, sondern auf öffentlich-rechtlicher Grundlage - je nachdem, welchen Standpunkt sie in der Beurteilung des Ausgleichs vom Jahr 1867 bezogen. Die stärkste Gruppierung des Parlaments war die Ausgleichspartei; sel­ ber nannte sie sich die Mittlere Rechte, am ehesten läßt sie sich als die Deák-Partei charakterisieren. D iese Partei verkündete kein Programm; sie formulierte ihre Ansichten in Adressen und im Rahmen von Parlaments­ debatten. Ihr Charakteristikum bestand darin, daß sie an einem Zusam­ menleben mit der Monarchie festhielt und ebenso an deren im Jahr 1867 ausgestalteten Form: an der Sonderstellung Ungarns innerhalb des Reichs und der Gemeinsamkeit der auswärtigen Angelegenheiten sowie des Kriegswesens. Unter den 250 Abgeordneten der Partei finden wir die von Berufsbewußtsein durchdrungenen, talentiertesten Persönlichkeiten jener Zeit: die einstigen Zentralisten, wie József Eötvös, Antal Gyengery, Ágoston Trefort und Boldizsár Horváth, die liberalen Aristokraten, wie Gyula Andrássy, die Vertreter des Großbürgertums, wie den hervorra­ genden Publizisten Miksa Falk; das Gros der Partei bestand jedoch aus den verbürgerlichten Elementen des mittleren Adels. Ihr Gewicht erhielt die Partei aber durch Ferene D eák, der die Kontinuität zum Reformzeitalter und zum Jahr 1848 personifizierte und auch weiterhin ein unbestrittenes Ansehen genoß. Die etwa 100 Abgeordneten der Opposition reihten sich hinter Kaiman Tisza. D iese als Linke Mitte oder Tisza-Partei bezeichnete Gruppierung verstand sich anfangs als loyale Opposition zum Ausgleich, aber im Früh­ ling 1868 wies sie in den Biharer Punkten die Institution der gemeinsamen Angelegenheiten zurück und verlangte, die ungarische Selbständigkeit in den auswärtigen Angelegenheiten und im Kriegswesen wiederherzustel­ len. In ihrer sozialen Basis unterschied sich diese Partei, die sich den öf­ fentlich-rechtlichen Radikalismus zu eigen machte, im wesentlichen nicht von der D eák-Partei; ihre Führer waren jedoch weniger gewichtige Per­ sönlichkeiten. D as Programm der Linken Mitte erklärte zwar nicht dezidiert. keinen völligen Abbruch der Beziehungen zu Österreich zu wün­ schen, deutlich war jedoch, daß sie die Institution des gemeinsamen Herr­ schers, also die Personalunion zwischen den beiden Ländern, auch weiter­ hin anerkannte. D as bewog 15 Abgeordnete der Linken Mitte dazu, sich unter der Bezeichnung 1848er-Partei abzuspalten und zugleich mit den Biharer Punkten ein Unabhängigkeitsprogramm in entschiedenerem Ton zu formulieren. D ie 1848-Partei übernahm es, die Ansichten Lajos Kos­ suths in Ungarn zu vertreten, obzwar der nach wie vor in der Emigration lebende einstige regierende Präsident mit den heimischen Achtundvier­ zigern nicht völlig einer Meinung war. D ie zahlenmäßig nicht allzu kräfti­ ge 48cr-Partci unterschied sich hinsichtlich ihrer Klassenbasis nur insofern von ihren beiden großen Rivalen, als sich unter ihren Abgeordneten selte491 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

ner Großgrundbesitzer befanden und neben den mittleren Gutsbesitzern, die das Rückgrat der Partei bildeten, auch adelige und bürgerliche Intellektuelle anzutreffen waren. Diese Parteien, die sich in ihren öffentlich-rechtlichen Positionen unter­ schieden, standen sich hinsichtlich ihrer innenpolitischen und weltanschauli­ chen Grundsätze sehr nahe. Der Leitgedanke aller war der Liberalismus, den sie im gesellschaftlichen und politischen Leben durchzusetzen trachteten. Aber auch darin waren sie einer Meinung, daß eine konsequente Verwirkli­ chung liberaler Prinzipien den Zielen der politischen Führungsschichten nicht dienlich wäre und im multinationalen Land den ungarischen nationa­ len Interessen widersprechen würde. In der praktischen Anwendung der liberalen Grundsätze traten nur, wenn es um den öffentlich-rechtlichen Standpunkt ging, Abweichungen zutage. D ie Linke Mitte opponierte z. Β. in erster Linie deshalb dem Gesetzentwurf über die Regelung der öffentli­ chen Munizipien, weil sie befürchtete, eine Schmälerung der Komitatsauto­ nomie werde die Basis des nationalen Widerstandes gegenüber Wien gefähr­ den. Das öffentlich-rechtliche Grundproblem durchdrang und prägte das ge­ samte politische Leben in Ungarn. Allein die Arbeiterbewegung, die sich in den Jahren nach dem Ausgleich zu entfalten begann, entzog sich dem. D er 1868 unter dem Einfluß Lassalles gebildete Allgemeine Arbeiterverein ver­ stand sich als die Interessenvertretung der Arbeiterklasse, erwies sich aber gegenüber den Problemen »1848« und »1867« als gleichgültig. D ie Parteibil­ dung in Kroatien erfolgte dagegen ebenfalls auf öffentlich-rechtlicher Grundlage-entsprechend der Haltung, die man zum ungarisch-kroatischen Ausgleich einnahm. D ie Nationalitäten Ungarns, die Parteien der Serben, Rumänen und der Siebenbürger Sachsen hingegen machten sich - abgesehen davon, daß sie eine Revision des Nationalitätengesetzes verlangten - den öffentlich-rechtlichen Standpunkt einer der ungarischen Parteien zu eigen. Die Deák-Partei verfugte, wie erwähnt, über eine starke parlamentarische Mehrheit, und der Regierung Andrássy gelang es, die skizzierten Gesetzes­ anträge im Abgeordnetenhaus ohne besondere Schwierigkeiten durchzu­ bringen. An den parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen änderten die 1869 abgehaltenen Wahlen nichts von Bedeutung; auch Menyhárt Lónyay, der Ende 1871 an Stelle des zum gemeinsamen Außenminister avancierten Gyula Andrássy Ministerpräsident wurde, vermochte sich auf eine kräftige Regierungspartei zu stützen. Zur Zeit der Regierung Lónyay begann sich die Kohäsion der D eák-Partei jedoch zu lockern, als Ende 1873 in den Reihen aller Parteien eine Bewegung zugunsten der öffentlich-rechtlichen Grundla­ ge des Jahres 1867 einsetzte. Aus einem Teil der Abgeordneten der TiszaPartei und der Deák-Partei organisierte sich eine Mittelpartei auf der Grund­ lage des Ausgleichs von 1867, ein anderer Teil der Anhänger der Tisza-Partei vereinigte sich unter dem Namen Unabhängigkeitspartei mit den Achtund­ vierzigern, doch bekannte sich letztere - trotz des Parteinamens - zum 492 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

öffentlich-rechtlichen Programm der Personalunion. In dieser Situation konnte die Anfang 1874 ernannte letzte Regierung der D eák-Partei, das Kabinett von István Bittó, nur noch ein Übergangsgebilde sein. Am 1. März 1875 vereinigte sich die Deák-Partei dann mit der Linken Mitte unter dem Namen Liberale Partei, und im Oktober wurde - nach einer kurzen Regie­ rung von Béla Wenckheim - Kálmán Tisza zum Ministerpräsidenten er­ nannt. D ie überwiegende Mehrheit der Abgeordneten stellte sich hinter den neuen Ministerpräsidenten und die Opposition schrumpfte zu einer unbe­ deutenden Minderheit zusammen. Angesichts der Entwicklung in den zurückliegenden Jahren sagten die Zeitgenossen der im Oktober 1875 antretenden Regierung Tisza kein langes Leben voraus. Hatten doch in der ersten Hälfte der Siebzigerjahre die Regie­ rungen fast jährlich gewechselt, und die D eák-Partei, die den Ausgleich zustandebrachte, sich völlig aufgerieben. D ie Zweifler behielten dennoch nicht recht. Kálmán Tisza blieb in einer Weise, die in der ungarischen Geschichte auch seither nicht ihresgleichen hat, anderthalb Jahrzehnte lang an der Regierung, und seine Partei erwies sich als ein starkes Gebilde. Hierzu trugen zweifellos auch die persönlichen Qualitäten des Ministerpräsidenten bei. Kálmán Tisza war der »geborene« Parlamentspolitiker: Im Abgeordne­ tenhaus war er ein ausgezeichneter D ebattenredner, der in Streitfragen niemals unterlag, in seiner Partei aber eine unbestrittene Autorität, ein wahrhafter General, wie ihn die Zeitgenossen nannten. Zudem verstand er es, in den Augen der politischen öffentlichen Meinung seine einstige opposi­ tionelle Einstellung dem Schein nach zu wahren, gleichzeitig aber dem Hof gegenüber seine Loyalität zu beweisen. D ie Stabilität seiner Regierung beruhte jedoch nicht allein und nicht einmal in erster Linie auf seiner persön­ lichen Begabung. In seiner Person fanden sich vielmehr die durch die materi­ ellen und politischen Interessen des Zeitalters bestimmten Ideen verkörpert: Der dualistische Gedanke, dem er sich anschloß, erreichte in den Jahrzehnten 1870/80 seine größte Popularität, und der Liberalismus, zu dem er sich stets bekannte, erlebte damals seine letzte Blüte.

5. D ie Vollendung des Ausbaus des bürgerlichen Staatssystems In den Wahlen vom Sommer 1875 erzielte die Liberale Partei eine große Mehrheit, was der Regierung Gelegenheit bot, den Faden der legislativen Reformen, der infolge der ungewissen Parteiverhältnisse der ersten Hälfte des Jahrzehnts gerissen war, wieder aufzunehmen. Zu Reformen großer Tragweite kam es freilich nicht, denn die Grundlagen des bürgerlichen Staates und seiner Rechtsordnung hatte der Landtag ja schon zur Zeit der Regierung Andrássy gelegt. Notwendig war es aber, zahlreiche D etails zu regeln, und die Regierung Tisza kam dieser Aufgabe nach, indem sie etwa 493 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

600 Gesetzesanträge innerhalb von anderthalb Jahrzehnten vorbereitete und vorlegte. D ie Zeitgenossen und die Nachwelt schätzten und schätzen diese Leistung nicht hoch ein, doch man wird feststellen müssen, daß ohne sie die Modernisierung des öffentlichen Lebens unvollständig geblieben wäre. In dem weiterverzweigten Gesetzgebungswerk verdient vor allem die weitere Verfachlichung der öffentlichen Verwaltung besondere Beachtung. D as neue Verwaltungsgesetz ließ zwar die Elemente der früheren Munizipalverwal­ tung bestehen, baute jedoch auf diesen die seit dem Ausgleich zustandege­ kommene staatliche Ressortverwaltung auf. D er neu errichtete Verwal­ tungsausschuß erwies sich als wirksamer Hebel, mit dem die Regierung den Komitaten gegenüber den Willen der Staatsgewalt durchsetzte. D as bedeu­ tete eine weitere Schmälerung der Komitatsautonomie - durchgeführt durch einen Ministerpräsidenten, der einst zu den Verfechtern der Selbstän­ digkeit der Komitate gehört hatte. D ie Anzahl der Komitate wurde auf 63 festgelegt; deren nun erreichte Struktur blieb während der ganzen Zeit des Dualismus erhalten. Erwähnt zu werden verdient auch die Modernisierung der Finanzverwaltung, der Steuer- und Gebührenangelegenheiten; sie ist mit dem Namen des ausgezeichneten Finanzexperten Sándor Wekerle verbunden, der später als ungarischer Ministerpräsident das Ende der Doppclmonarchie erleben soll­ te. Zu den bedeutenden Reformen gehört weiterhin die 1881 geschaffene Gendarmerie, die an die Stelle der unter Komitatsleitung stehenden Pandu­ renorganisation trat. Die neue Institution ging erfolgreich gegen Kriminelle vor, erwies sich aber zugleich auch als verläßlicher Wächter der gesell­ schaftspolitischen Ordnung. Im Rechtswesen stellte das Strafgesetzbuch von 1878 einen bedeutenden Fortschritt dar. D en Gesetzentwurf hatte Károly Csemegi ausgearbeitet, einer der bedeutendsten ungarischen Juristen jener Zeit. Er griff auf die westeuropäischen Erfahrungen zurück, als er die Grundprinzipien des klas­ sischen Strafrechts in dem neuen Gesetz zur Geltung brachte. Unter den strafbaren Handlungen, die wie das Strafmaß festgelegt wurden, nannte das Gesetz die Hetze gegen Klassen, Nationalitäten oder Konfessionen. Als Rechtsgrundsatz war das wohl vollkommen korrekt, in der Praxis galt aber nur die Hetze gegen eine Klasse - die herrschende - und eine Nationalität­ die ungarische - als strafbare Handlung. Von den Gesetzen zur Modernisierung des Wirtschafislebens war bereits die Rede. Es sei hier nur noch darauf verwiesen, daß sie mit den Namen hervorragender Fachmänner und Politiker jener Zeit verbunden sind. Jenö Kvassay lenkte als Leiter des Landesamtes für Kulturtechnik die Bodenme­ liorations- und Entwässcrungsarbeiten, Gábor Baross schuf als Minister für Verkehrswesen das System der Staatseisenbahnen. Schließlich wollen wir noch jene Gesetze erwähnen, die das Arbeitsverhält­ nis regelten. D as Gesetz bezüglich der Fabrikarbeiter richtete sich nach den Erfordernissen des kapitalistischen freien Wettbewerbs, das Dienstbotenge494 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

setz aber wies patriarchalische Züge auf; beide waren stark voreingenom­ men zu Gunsten der Arbeitgeber.

6. D ie politische und gesellschaftliche Wirkung der bürgerlichen Gerichtsbarkeit: retrograde und progressive Kritik Die im Zeichen des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus entstande­ nen Gesetze tangierten die verschiedenen Gesellschaftsschichten nicht im gleichen Ausmaß. Obwohl die Modernisierung im Endergebnis für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung von Nutzen war, begünstigten die neuartigen Regelungen offensichtlich in erster Linie die sich kapitalisie­ renden vermögenden Gesellschaftsklassen. D ie dynamische wirtschaftliche Entwicklung veränderte die traditionellen gesellschaftlichen Verhältnisse: Auf der einen Seite hob sie neben, ja sogar über den Grundbesitz das Bankund Handelskapital, auf der anderen Seite verunsicherte sie den Klein- und Mittelbesitz und vergrößerte immerfort jene Klasse, deren einziges Eigen­ tum ihre verkäufliche Arbeitskraft war. D ie gesellschaftliche D ifferenzie­ rung, die sich entlang der Vermögens- und Eigentumsverhältnisse vollzog, wurde den betroffenen Schichten sehr bald bewußt, und als getreues Spie­ gelbild der veränderten Verhältnisse artikulierten sich in den 70er Jahren die unterschiedlichen Interessen auch politisch. Ihre Kritik ging zwar stets von der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aus, doch sie formulierten diese Kritik aus entgegengesetzten Perspektiven: die einen blickten zurück in die Vergangenheit, die anderen voraus in die Zukunft. Eine Variante der retrograden Kritik war die Agrarierbewegung. D er herr­ schaftliche Grundbesitz hielt zwar Schritt mit der kapitalistischen Entwick­ lung, auch er war Nutznießer der Getreidekonjunktur, doch er fühlte sich durch das Bank- und Handelskapital immer mehr in den Hintergrund gedrängt, als er sah, daß die Bourgeoisie am stärksten von dem Aufschwung profitierte. D er Bauernbesitz litt bald am Kreditmangel, bald unter der Rückzahlungslast der Schulden, das städtische Handwerk aber blieb im ungleichen Wettbewerb mit der Fabrikindustrie rettungslos zurück. Aus alldem zogen viele die Folgerung, daß für die Sorgen und Nöte breiter Gesellschaftsschichten das Bankkapital und die Großindustrie verantwort­ lich seien und nur ein wirksamer Interessenschutz helfen könne. D ie Agra­ rierbewegung proklamierte ihr Programm auf dem Land wirtekongreß von 1879 in Székesfehérvár. Gefordert wurden billige Kredite, staatliche Sub­ ventionen, Agrarschutzzölle und eine Revision der wirtschaftsliberalen Ge­ setzgebung. D ieses Programm formulierte zweifellos Interessen, die allen Agrarkreisen gemeinsam waren, doch der Gegensatz zwischen herrschaftli­ chem Besitz und Bauerngut erwies sich als zu tief, um überbrückt werden zu können. Die Agrarierbewegung, die auf Initiative des Grafen Sándor Káro495 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

lyi entstanden war, blieb stets eine Interessenvertretung des Großgrundbe­ sitzes. Eine andere Variante der gegen die kapitalistische Wirtschaftsordnung gerichteten fortschrittsfeindlichen Kritik zeigte sich in der antisemitischen Bewegung. Ein ansehnlicher Teil des ungarländischen Bürgertums rekrutier­ te sich aus dem Judentum, aus dem auch die bedeutendsten Vertreter des Bank- und Handelskapitals kamen. Zum Teil war das eine Folge der frühe­ ren gesellschaftlichen Lage des Judentums, zum Teil ging es aus einer gewis­ sen Einseitigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung Ungarns hervor. Juden hatten sich infolge der Verbote des Mittelalters fast ausschließlich dem Handel widmen müssen; nach der Emanzipation wandten sie sich dann mit noch größerer Intensität den profitablen finanziellen und kommerziellen Unternehmungen zu. D er ungarischen Gesellschaft, die den Weg einer Verbürgerlichung der Landwirtschaft beschritt, galt hingegen Grundbesitz nach wie vor als zentraler Maßstab für Vermögen und sozialen Rang, während sie für die neuen Sektoren der Wirtschaft geringeres Interesse zeigte. An dieser Verteilung änderte auch der Umstand nichts - er verlieh ihr höchstens eine neue Färbung-, daß das Judentum bestrebt war, sein Vermö­ gen durch den Erwerb von Adelstiteln zu legitimieren und sich in die ungarische Herrengesellschaft zu integrieren. Wer mit der Entfaltung der kapitalistischen Ordnung unzufrieden war, mochte aus dieser Entwicklung leicht die Folgerung ziehen, Kapitalismus und Judentum seien identisch und um die Mißstände zu beseitigen, müßten die Juden zurückgedrängt werden. Als diese Ostern 1882 beschuldigt wurden, in Tiszacszlár ein vierzehnjähri­ ges Dienstmädchen aus rituellen Gründen ermordet zu haben, nahmen die zuvor sporadischen antisemitischen Kundgebungen landesweite Ausmaße an. D as Gericht, vor dem der bekannte Unabhängigkeitspolitiker Károly Eötvös die Verteidigung übernahm, wies die Grundlosigkeit der Klage nach, und die Regierung bekämpfte mit starker Hand die antisemitischen Unruhen. Trotzdem nahm dieser mit religiösem Vorurteil gepaarte verzerr­ te Antikapitalismus eine organisierte Form an: Im Oktober 1883 wurde unter der Leitung von Gyözö Istóczy die Antisemitische Landespartei be­ gründet. Mit dem Kapitalismus entwickelte sich eine stark expandierende Arbei­ terklasse, welche die neue Form der ökonomischen Ungleichheit nicht mehr aus der Vergangenheitsperspektive, sondern mit Blick auf die Zukunft zurückwies. D ie Kritik war anfangs nicht mehr als Selbstschutz: höhere Löhne und Selbsthilfe, Kampf um die gesellschaftliche und politische Gleichstellung der Arbeiterklasse. Auch die im Jahr 1868 gegründete erste ungarländische Arbeiterpartei, der Allgemeine Arbeiterverein, verlangte wie bereits erwähnt - vor allem politische Rechte für die Arbeiterklasse. Aber daß die Arbeiterbewegung bereits über eine Verbesserung der Lage der Arbeiter im kapitalistischen Staat hinausblickte, geht daraus hervor, daß die Pester Arbeiter gegen die Niederwerfung der Pariser Commune demon496 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

strierten, um die französischen Proletarier, die vorübergehend im Besitz der politischen Macht waren, zu unterstützen. D ie Regierung leitete vergeblich einen Hochverratsprozeß gegen die Führer der Bewegung ein und hielt sie lange in Untersuchungshaft; der Ausbreitung der Arbeiterbewegung und der Steigerung ihres Selbstbewußtseins vermochte sie keinen Einhalt zu gebieten. Seit Januar 1873 verfugte die Bewegung auch schon über ein selbständiges Presseorgan, das in ungarischer und deutscher Sprache er­ schien (Arbeiter-Wochenchronik). D ie Ideen der internationalen Arbeiterbe­ wegung drangen allmählich vor. Leó Frankel, der ehemalige Arbeitsmini­ ster der Pariser Commune, trug dazu bei. Er wirkte seit 1876 in Ungarn, stand in unmittelbarer Beziehung zu Karl Marx und Friedrich Engels, und vermittelte in den Spalten der Arbeiter-Wochenchronik die Lehren des wissenschaftlichen Sozialismus. Die organisatorische Neugestaltung gelang nach mehrmaligen erfolglosen Versuchen erst im Mai 1880 mit der Grün­ dung der Allgemeinen Arbeiterpartei Ungarns. Ihr Programm umfaßte soziale Forderungen, wie Einschränkung der Arbeitszeit und Versicherung für Arbeiter, ebenso wie aktuelle politische Ziele: vor allem das allgemeine, geheime Wahlrecht. D as Programm nannte aber auch das sozialistische Endziel: die Übernahme des Bodens und der Produktionsmittel in Gemein­ besitz. Dieser Programmpunkt weist klar darauf hin, daß die Arbeiterpartei nicht eine Reform des Kapitalismus, sondern eine neue gesellschaftliche Ordnung, den Sozialismus, anstrebte. D ie junge Arbeiterbewegung hatte freilich keine ungetrübte Kindheit. Sic mußte mit dem Unverstand der Behörden genauso fertig werden wie mit ihrer eigenen inneren Uneinigkeit, und es dauerte zwei volle Jahrzehnte, bis sie sich in organisierter Form endgültig kräftigen konnte. Als jedoch im Jahr 1890 dem Aufruf der II. In­ ternationale folgend 60000 Budapester Arbeiter den Ersten Mai feierten, konnte kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß die Ideen des Sozialismus auch in Ungarn einen fruchtbaren Boden fanden. Die in der Kritik des Kapitalismus wurzelnden retrograden und vorwärts­ weisenden Bewegungen waren neue Phänomene des öffentlichen Lebens, sie änderten jedoch am Charakter des ungarischen politischen Lebens nichts. Die Agrarierbewegung verblieb auf der Ebene des Interessenschutzes, ver­ mochte sich jedoch nicht zu einer politischen Partei zu organisierten. D ie Antisemiten brachten zwar ihre eigene Partei zustande, und 1884 gelangten sie mit einigen Mandaten auch ins Abgeordnetenhaus, dort umgab sie aber eine derart eisige Atmosphäre, daß sie nicht einmal ihren ersten Parlaments­ zyklus überlebten. D ie Arbeiterbewegung aber konnte, trotz ihrer großen Resonanz bei den Massen, weder damals noch später Parlamentsmandate erzielen. D as Zentrum des ungarischen politischen Lebens blieb nach wie vor das Parlament, und die Parlamentsparteien gruppierten sich - ungeach­ tet aller gesellschaftlichen Veränderungen - auf öffentlich-rechtlicher Grundlage. Die auf der Grundlage von 1867 stehende Liberale Partei bewahrte unter 497 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

der Führung ihres Generals, Kaiman Tisza, mit geringerem oder größerem Erfolg ihre Mehrheit - wenn nötig mit Hilfe von Wahlmißbrauch -, und ihr Liberalismus, zu dessen Programmkern die Wahrung der öffentlich-rechtli­ chen Grundlage gehörte, behauptete auch gegenüber den Agrariern und den Antisemiten seine Kohäsionskraft.

Literatur G. Barany, Ungarns Verwaltung 1848-1918, in: A. Wandruszka u. P. Urbanitsch (Hg.), D ie Habsburgermonarchie, Bd. II: Verwaltung und Rechtswesen, Wien 1975. J . D iószegi, D ie Nationalitätenpolitik in Europa im letzten D rittel des XIX. Jahrhunderts, in: AUSB 26, 1986. T. Erényi, Die Sozialdemokratische Partei Ungarns und der Dualismus, in: EHH 1965, Bd. II. A. Gergely u. J . Veliky, D er Weg der ungarischen Presse in der Politik nach 1867, in: AH 27, 1981. F. Gottas, D ie antisemitische Bewegung in Ungarn im Zeitalter des Hochliberalismus, in: Zeitgeschichte 1, 1974. Ders., Ungarn im Zeitalter des Hochliberalismus. Studien zur Tisza-Ära 1875-1890, Wien 1976. P. Hanák, Ungarn in der Donau-Monarchie. Probleme der bürgerlichen Umgestaltung eines Vielvölkerstaates, Wien/Budapest 1984. L. Katus, Über die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen der Nationalitätenfrage in Ungarn vor dem Ersten Weltkrieg, in: Die nationale Frage in der Österreichisch-Ungari­ schen Monarchie 1900-1918, Budapest 1966. B. Sarlós, Das Rechtswesen in Ungarn 1848-1918, in: AH 21, 1975. A. Toth, Parteien und Reichstagswahlen in Ungarn 1848-1892, München 1973.

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DIETRICH BEYRAU

Liberaler Adel und Reformbürokratie im Rußland Alexanders II. Liberalismus als Epochenbegriff und als Ensemble vieldeutiger D oktrinen und Leitbilder werden in der Regel dem Aufstieg und der Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft in West- und Mitteleuropa zugeordnet. Aber selbst hier wurde er nicht von den bürgerlichen Schichten monopolisiert, sondern seine Doktrinen fanden Resonanz auch unter dem Adel und Beam­ tentum. Erreichte der Liberalismus mithin sogar in seinem Ursprungsgebiet nicht-bürgerliche Gruppen, so wirkte seine Ausstrahlung auch auf Gesell­ schaften wie die des Zarenreiches, denen noch alle Attribute einer bürgerli­ chen Gesellschaft fehlten: Presse- und Religionsfreiheit, Verfassungsord­ nung, Rechtsstaatlichkeit und die Existenz einer dem Adel wie Militär und Bürokratie ebenbürtigen kommerziellen Klasse. Wenn dennoch seit dem Ende der napoleonischen Kriege Fragmente liberalen D enkens auch im Osten Europas zu erkennen sind - z. B. in der Rezeption Adam Smith', in den Reformentwürfen des Beamten und Kodifikators Michail M. Speranskij oder im Verfassungsentwurf des Dekabristen Nikita Murav'ev -,1 so spie­ gelt sich hierin ein spezifisches Merkmal von Politik und intellektuellem Leben in Rußland. Es bestand in dem oft unvermittelten Nebeneinander überstürzter Übernahme und Verarbeitung westlichen Gedankenguts und einer zähen Beharrungskraft von Staat und Gesellschaft. Es gehörte zum »Privileg der Rückständigkeit«, Entwicklungen im Westen zu registrieren, in denen sich das Bild der eigenen Zukunft zu erkennen gab. Diese Perspek­ tive konnte aber auch dazu dienen, abwehrend die eigene »Herrlichkeit« zu behaupten.2 Hier waren die merkwürdigsten Kombinationen denkbar, in denen die Folgen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ihren Ausdruck fanden. Rußland stand kaum am Beginn bürgerlich-kapitalistischer Transforma­ tion, als die Kritik an Bourgeoisie und Liberalismus aus der Sicht der Pauper und Proletarier mindestens ebenso lautstark vorgetragen wurde wie das Plädoyer für liberale Reformen. Es sei an Alexander Herzens Hohn über die französische Bourgeoisie mit ihrer »Religion« des Eigentums und dem Verrat an ihren eigenen Idealen erinnert. Sie habe ihre Zukunft bereits hinter sich, denn »die Liberalen entfesseln die D emokratie und wollen doch zur früheren Ordnung zurückkehren«.3 Fedor D ostoevskij entwarf vor dem 499 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

russischen Lesepublikum ein dämonisches Bild vom Londoner Pöbel, der sich wie die gesamte Gesellschaft dem Götzen Baal ergeben habe.4 Und Nikolaj Černyševskij fesselte ganze Generationen von Populisten und Mar­ xisten mit seinen Visionen von Phalanstères,5 die den Kapitalismus mit seiner Ausbeutung als überwunden erscheinen ließen, noch bevor er im Osten des Kontinents zur rechten Entfaltung gekommen war. Diesen im Einzelnen sehr unterschiedlich begründeten Ansichten war die vehemente Ablehnung der bürgerlichen Ordnung, des Kapitalismus und Liberalismus gemeinsam. Liberalismus, so bemerkte Herzen nach seiner ersten Begegnung mit dem Westen, tauge bestenfalls zur Milderung der Sitten.6 D as damals gängige Verb liberal'ničat (sich liberal geben) hatte immer den Beigeschmack von politischer Frivolität und Heuchelei. Auch wenn der Liberalismus in Rußland keine Tradition begründet hat, die der in Westeuropa vergleichbar wäre, so ist seine Faszination auf die Schichten von Besitz und Bildung des Zarenreiches in der Mitte des 19. Jahr­ hunderts nicht ganz gering zu schätzen. Zu den in sich oft inkohärenten Leitbildern des russischen Liberalismus gehörten - wie im Westen - die Anerkennung des Privatbesitzes als Basis der Entfaltung des Individuums, die Aufhebung feudal-ständischer Privilegien, die Befreiung des Marktes von merkantilistischen Monopolen und die Geltung des Vertragsprinzips in den Arbeitsbeziehungen. Die immer als evolutionär gedachte Emanzipation des homo oeconomicus war in dieser Sicht in wechselndem Umfang ver­ bunden mit der Anerkennung seiner moralischen und politischen Autono­ mie wie mit seiner rechtlichen, aber keineswegs seiner politischen Gleich­ stellung.7 Wie anderswo auch bezogen sich diese Prinzipien in erster Linie auf die Schicht der Besitzenden und Gebildeten, in der liberalen wie in der slavophilen Terminologie auf die »Gesellschaft« (obščestvo). Sie war durch ihre Integration und Teilhabe an der gesamteuropäischen Zivilisation ge­ trennt vom weitgehend noch in traditionalistisch-patriarchalischcn K on­ ventionen lebenden »Volk« (narod). In der oft pathetischen Einforderung der Befreiung der »Gesellschaft« von staatlicher Bevormundung trafen sich Slavophile und Liberale. In unterschiedlichem Umfang schloß dies die Verrechtlichung und Selbstbeschränkung der Staatsgewalt ein, einen Prozeß, den man sich ohne Gewalt und ohne Revolution vollzogen sehen wollte. Liberale Grundsätze stießen sich besonders hart an den Gegebenheiten der Autokratie und an den sozialen Strukturen, auf denen sie aufbaute. Die Selbstherrschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts läßt sich zwar bis zu einem gewissen Grad mit dem westlichen Absolutismus des 18. Jahrhun­ derts vergleichen, ihr fehlten aber die zahlreichen, gesetzlich fixierten Selbst­ regulative, welche die ständische Sozialverfassung insbesondere Frank­ reichs, aber auch des westlichen Deutschlands gekennzeichnet hatten. Im Sinne Herbert Spencers ließe sich die von Peter dem Großen geschaffene und von seinen Nachfolgern »regulierte« Staatsordnung immer noch als eine »kriegerische« beschreiben, in der die Funktion der Behörden und Institu500 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

tionen wie der soziale Status der Untertanen nach ihrer Aufgabe für den Staat festgelegt waren. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts hatten sich der zentrale Verwaltungsapparat und das Bildungssystem, das ihn zu beliefern hatte, erheblich erweitert. D aher war die Administration in der Mitte des Jahrhunderts trotz aller Mängel, die besonders nach dem Krimkrieg ange­ prangert werden sollten, überhaupt erst dazu befähigt, Reformen im Sinne liberaler Grundsätze in Angriff zu nehmen.8 Die lokalen ständischen Einrichtungen waren auch nach den zaghaften Reformen Nikolaus' I. Anhängsel und Substitute defizitärer staatlicher Ver­ waltung geblieben. Sie bildeten keineswegs, wie die französischen Korpora­ tionen vor 1789, selbstbewußte Einrichtungen, die dem staatlichen Handeln anders als in Devotheit und passiver Resistenz hätten begegnen können. Die Stände einschließlich des Adels besaßen ein nur wenig ausgeprägtes Eigen­ bewußtsein, so daß ihnen vielfach die Fähigkeit zur Artikulation und mehr noch zu dauerhafter Selbstorganisation fehlte.9 D ie Schwäche einer nach Ständen, ständischen Nationen und Regionen gespaltenen Gesellschaft kor­ relierte mit der Übermacht von Autokratie und einer wachsenden Bürokra­ tie, die im Grunde fast alle »Intelligenz« aufsog. D ies betraf auch den ersten Stand: Seine materielle Lage und seine Einflußmöglichkeiten wurden mehr durch seine dienstliche Stellung als durch seine ständische Qualität be­ stimmt. Erst seit der Gnadenurkunde Katharinas II. von 1785 hatte sich der Adel als ländlicher Stand konstituieren dürfen. Aber angesichts der unterge­ ordneten Position seiner Korporationen und angesichts der materiellen Ab­ hängigkeit von den Einkünften aus dem Staatsdienst - von den Gütern konnte nur eine kleine Minderheit standesgemäß leben - verschafften sich seine Interessen nur über bürokratische Kanäle Geltung.10 Aus dieser Kon­ stellation ergab sich, daß die zentralen Behörden in Petersburg maßgeblich Intensität und Reichweite der Veränderungen nach 1856 bestimmten.11 Der erst im Verlauf der Reformgesetzgebung mobilisierte Adel gewann aller­ dings ein informelles Mitspracherecht, das die Handlungen der Regierung nachhaltig beeinflussen sollte. In mancher Hinsicht war die Niederlage des Zarenreiches im Krimkrieg vergleichbar mit dem Zusammenbruch Preußens im Jahre 1806. In beiden Fällen war es - zumindest symbolisch - nicht nur um verlorene Schlachten gegangen, sondern »um den Kampf des vergangenen mit dem gegenwärti­ gen Jahrhundert«. Und Rußland, so wünschten es manche Zeitgenossen, bedürfe wie Preußen nach 1806 eines Staatsmannes wie Stein.12 Mit einer Verspätung von fünfzig Jahren sah sich die östliche Großmacht vor ähnliche Probleme gestellt wie die deutschen Staaten: die Beseitigung ständischer Barrieren, die Zurückdrängung staatlicher Reglementierungssucht, die glei­ chermaßen beengend und ineffektiv war, die Freisetzung ökonomischer Energien, die nicht anders gedacht wurde als durch eine - wenigstens selektive - Aneignung liberaler Prinzipien in Wirtschaft und Gesellschaft. Trotz des repressiven Zuschnitts der Herrschaft Nikolaus' I. besonders in 501 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

den »finsteren sieben Jahren« nach 1848, als Zensurterror und staatlich verordneter Obskurantismus geherrscht hatten, traten nach dem Tod des übermächtigen K aisers sehr bald kleine Zirkel von Akademikern, Adligen und Beamten hervor, denen die Niederlage im Krieg und der Autoritätsver­ lust der Selbstherrschaft Mut machten, ihre Ansichten über die Mißstände und über die Reformbedürftigkeit des Landes zu artikulieren. Da die ständi­ schen K orporationen keine politischen Rechte besaßen, von organisierten Interessen ohnehin nicht die Rede sein konnte, waren es zunächst diese Kreise innerhalb der Bürokratie und die mit ihnen liierten Akademiker, die seit 1855 unter dem Schutz des Großfürsten K onstantin Niklaevič aktiv wurden. In den Zeitschriften des Marineressorts, das dem Großfürsten unterstand, und bald darauf auch in denen des K riegsministeriums, wurde zuerst das Prinzip der glasnost' verfochten, also der Transparenz und Öffentlichkeit, um die Behörden mit den bestehenden Mängeln vertraut zu machen und an den Gedanken von Reformen zu gewöhnen. Erst seit 1857/58 traten den offiziö­ sen Zeitschriften kommerzielle an die Seite, die bald zu K ristallisationsker­ nen öffentlicher Meinungsbildung in den schmalen Schichten von Besitz und Bildung werden sollten. Solange systematische Untersuchungen zum Lesepublikum dieser Jahr­ zehnte fehlen, ist eine konkrete Vorstellung vom Umfang der »Öffentlich­ keit«, die an diesen Debatten teilnahm oder sie rezipierte, nicht zu ermitteln. Die führenden fünf bis zehn »dicken Journale«, in denen sich die maßgebli­ chen Diskurse vollzogen, hatten Auflagen zwischen 2000 bis maximal 10 000 Exemplaren. Zur Erfassung des numerischen Potentials der Bildungs­ schichten seien folgende Daten genannt: Von den dreißiger bis sechziger Jahren stiegen die Schülerzahlen an den Gymnasien von 15000 auf knapp 30000, die der Universitätsstudenten von 2000 auf weniger als 5000. Die Anzahl der Rangbeamten umfaßte 1857 86000 Personen. In den 1856 noch mobilisierten Streitkräften dienten ca. 40000 Offiziere. Den ersten beiden Kaufmannsgilden, die innerhalb der städtischen Stände wohl nur zum ge­ ringeren Teil als Lesepublikum infrage kommen, gehörten 1854 über 3000 Haushalte an. In der Kategorie der sog. Ehrenbürger, die zwischen Adel und Kaufmannschaft stand, waren 1858 21 000 Personen registriert. Während auf dem Lande etwa 104000 Gutsbesitzer lebten, umfaßte der erbliche und persönliche Adel (einschließlich der Familienangehörigen) über 900000 Per­ sonen. Diese Zahlen können nur den Umfang des Potentials, aus dem sich die Bildungsschichten rekrutierten, andeuten. Sic dürfen selbstverständlich nicht einfach addiert werden, da sich die sozialen und (berufs-)ständischen Merkmale in einer Person vielfach überschneiden konnten. Die Angaben müssen in Relation gesetzt werden zur Gesamtbevölkerung von 69 Millio­ nen Einwohnern, davon 24 Mio. Leibeigene und knapp 24 Mio. staatshörige Bauern, die zum allergrößten Teil noch Analphabeten waren.13 Für die Stimmungslage in den Bildungsschichten nach 1855 war es be502 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

zeichnend, daß zunächst die radikalen Publikationen A. I. Herzens, in Lon­ don hergestellt, aber in Rußland verbreitet, das Feld zu beherrschen schie­ nen, ehe seit 1857 auch liberal orientierte Zeitschriften offensichtlich erfolg­ reich konkurrieren konnten. Einen prominenten Platz nahm der von N. M. Katkov herausgegebene »Russische Bote« (Russkij Vestnik) ein. Für kurze Zeit wurde er zum »Sprachrohr« der Moskauer Liberalen. Er bot dem »Zeitgenossen« (Sovremennik) unter Leitung N. G. Cernyšcvskijs, dem »Organ« der jungen radikalen Intelligenz, erfolgreich Paroli. Obwohl der Freiraum der Presse immer noch sehr eng war und man sich vielfach einer äsopischen Sprache zu bedienen hatte, war die maßgebliche Publizistik doch reformorientiert. Nach dem Nazimov-Reskript vom November 1857, das den Adel Litauens zu »Verbesserungs«-Vorschlägen in der Bauernfrage aufforderte, war es mindestens so gefährlich, für den status quo wie allzu offen für die Bauernbefreiung zu agitieren.14 In den teils inoffiziell zirkulierenden, teils in den Behörden verfaßten Denkschriften nach 1855 dominierten zunächst liberale Grundgedanken. Sie lieferten häufig den Maßstab, um bestehende Zustände zu kritisieren und Reformen anzuregen. D a über die Leibeigenschaft selbst nicht geschrieben werden durfte, wurden alle anderen Formen höriger Arbeit in den staatli­ chen und »zugeschriebenen« Manufakturen und Montanwerken kritisiert, die Vorzüge »freier« Arbeit hervorgehoben und für eine rationelle Landwirt­ schaft agitiert, die - auf vertraglicher Lohnarbeit basierend - auch bessere Erträge erzielen werde. Mit Blick auf England empfahl man eine Freisetzung brachliegenden Kapitals, eine vermehrte Hinwendung zur Industrie. Redu­ zierung der prohibitiven Zölle bis hin zu Auseinandersetzungen über die Vorzüge des Freihandels, zur Neuordnung des Kreditwesens, zur Einfüh­ rung des Aktienrechts bestimmten die D iskussionen in den ökonomisch interessierten Kreisen von Beamten und Gelehrten. Wirtschaftsliberale An­ sichten wurden sehr rasch zur herrschenden »Lehrmeinung«, die von Pro­ fessoren wie I. K. Babst, V. P. Bezobrazov und N. Ch. Bunge vertreten wur­ de und unter den Beamten des Finanzressorts eine positive Resonanz fand.15 Die Vorherrschaft wirtschaftsliberaler D oktrinen erfaßte aber kaum die eigentlichen Träger der seit den vierziger Jahren angelaufenen Industrialisie­ rung. D ie Unternehmer - noch der ständischen Kategorie der Kaufmann­ schaft zugeordnet - standen diesen D iskussionen fern. D ie privilegierten kommerziellen Schichten waren in sich zu heterogen und vielfach auch noch zu traditionalistisch, um sich an öffentlichen D isputen zu beteiligen. D ie »Kaufmannschaft« umfaßte die Moskauer Textilfabrikanten, die in den Hafenstädten ansässigen, zumeist in ausländischer Hand befindlichen Han­ delsfirmen, die russische Händlerklasse, die einen großen Teil ihrer Umsätze noch auf den periodischen Warenmessen im Innern des Landes tätigte wie das jüdische Händler- und Unternehmertum in den Westgebieten des Rei­ ches.16 Soweit überhaupt Stellungnahmen vorliegen, scheint die Kauf­ mannschaft der beabsichtigten Bauernbefreiung und dem Abbau ständi503 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

scher Schranken insgesamt positiv gegenüber gestanden zu haben, ohne die herrschende liberale Volkswirtschaftslehre, insbesondere in bezug auf den Freihandel zu teilen, sofern sie diese überhaupt zur Kenntnis nahm. Indu­ strielle und wohl auch ein Teil der Großhändler waren zu sehr auf den Staat als Protektor, als Abnehmer und Auftraggeber fixiert, als daß sie sich für die freie oder gar die internationale Konkurrenz hätten begeistern können. Vertreter der Kaufmannschaft wurden in Einzelfragen wie den Zolltarifen oder der Fabrikgesetzgebung zwar hinzugezogen, und die Regierung be­ rücksichtigte auch ihre Interessen, aber dies alles geschah weitgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit. D ie seit Mitte der fünfziger Jahre allmählich durchgesetzte Senkung der Schutzzölle erfolgte eher im Interesse staatlicher Industrialisierungspolitik als in dem der bestehenden russischen Unterneh­ men. D er latente Gegensatz zwischen dem liberalen Finanzressort und vor allem der zentralrussischen Industrie bildete eine der Voraussetzungen, daß diese in den folgenden Jahrzehnten ein eigenes politisches Profil entwickelte, in dem russischer Nationalismus und Schutzzoll-Interessen eine enge Liai­ son eingehen sollten.17 Nicht unter der Kaufmannschaft, sondern unter dem begüterten Adel fanden liberale Grundsätze eine wachsende Anhängerschaft. In der Historio­ graphie ist man sehr lange der Frage nachgegangen, ob eine Korrelation herzustellen ist zwischen den materiellen Interessen in der Gutsherrenschicht und liberalen D ispositionen. Eine vielfach benutzte Argumentation lief darauf hinaus, in den adligen Liberalen und in der Minderheit der reform­ orientierten Gouvernementskomitees, zur Beratung der bevorstehenden Bauernbefreiung von der Regierung einberufen, bereits Vertreter eines vor­ wiegend kommerziellen »Junkertums« zu sehen, das auch ein praktisches Bedürfnis gehabt hätte, sich selbst von den leibeigenen Bauern zu befreien.18 Aber D etailstudien zeigen, daß sich eine Beziehung zwischen politischen Einstellungen und ökonomischer Lage erst im Verlauf des Reformprozesses herstellte. D ie grundsätzlichen politischen D ispositionen scheinen hiervon aber wenig berührt worden zu sein. D iese ergaben sich wohl eher aus dem Gegensatz zwischen Erziehung und Sitten, wie Herzen es formulierte. D ie auf den Staatsdienst hin ausgerichtete Ausbildung der Generation, die nach 1855 hervortrat, war trotz allen repressiven Zuschnitts, der vor allem die »finsteren sieben Jahre« gekennzeichnet hatte, eher aufgeklärten Werten mit einer starken Betonung des allgemeinen Staatswohls verpflichtet. D isziplin, Pflichterfüllung und Gehorsam spielten hier eine große Rolle, aber nicht die Verherrlichung patriarchalischer Werte, wie sie noch zu Beginn des 19. Jahr­ hunderts vom Literaten und Historiker Μ. Ν. Karamzin propagiert worden waren. 19 Erziehung und die Lektüre russischer wie ausländischer Belletristik hat der Bildungsschicht einen starken Widerwillen gegen jene oft grob­ schlächtigen Sitten vermittelt, die das Alltagsleben auf dem Lande mit seinem Nebeneinander von europäisch geprägter Zivilisation auf den Her­ rensitzen und von Ausbeutung und Willkür gegenüber den Leibeigenen 504 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

kennzeichneten. Voraussetzung liberaler Dispositionen im Adel war in je­ dem Fall ein gewisser Wohlstand, die Zugehörigkeit zum standesfähigen Gutsbesitz mit mehr als hundert männlichen Seelen und damit verbunden die Möglichkeit, eine gewisse Bildung zu erlangen. So lassen die Biogra­ phien bekannter liberaler Adliger wie z. B. von A. I. Košelev, B. N. Cičerin, von A. A. Golovačev und Α. Μ. Unkovskij erkennen, daß Bildung und materielle Absicherung, die im Konfliktfall erlaubte, sich aus dem Staats­ dienst zurückzuziehen, Bedingungen waren, die liberales Engagement er­ möglichten.20 Obwohl die liberalen und reformwilligen Edelleute zweifellos nur eine Minderheit unter ihren Standesgenossen bildeten, lag ihre Stärke nach 1856 darin, daß sie sich bis zur Verabschiedung der Befreiungsgesetze im Februar 1861 der staatlichen Unterstützung erfreuten. D ies zeigte sich in der bevor­ zugten Plazierung in den adligen Gouvernementskomitees und zuletzt in ihrer Ernennung zu Friedensvermittlern. D eren Aufgabe bestand darin, die Verträge über die Regulierung und die Übergangsbestimmungen bis zur Ablösung auszuhandeln und im Notfall zwischen Gutsherren und Bauern zu vermitteln. Das erste Aufgebot von ca. 1700 Friedensvermittlern wurde bald zum Angriffsziel aufgebrachter Gutsbesitzer, weil deren Haltung in den Auseinandersetzungen angeblich zu bauernfreundlich sei. Beim neuen, im April 1861 zum Innenminister ernannten P. A. Valuev, fanden diese Be­ schwerden ein aufmerksames Gehör.21 Angesichts ihrer Minderheitenposition befanden sich die Liberalen in einem besonderen Konflikt. Einerseits lehnten sie aus prinzipiellen Gründen staatliche Bevormundung und bürokratische Intervention ab, andererseits bedurften sie der Protektion der zentralen Instanzen, um sich gegen die Mehrheit der eher widerwilligen Standesgenossen zu behaupten. Hatte zunächst nur eine verschwindende Minorität in der Gutsherren­ schicht die Reformimpulse »von oben« aufgenommen, so gewannen libera­ le Forderungen in dem Maße an Resonanz und Gewicht, in dem sich abzeichnete, daß die Gouvernementskomitees zwar Ideen und Stellungnah­ men abliefern durften, aber an der unmittelbaren Ausarbeitung der Befrei­ ungsgesetze und an den Reformen der Lokalverwaltung nicht beteiligt werden sollten. In Opposition gegen die allein hierfür zuständigen sog. Redaktionskomitees, seit dem Februar 1859 in Petersburg eingerichtet, fand der erste Stand einen weitreichenden Konsens in Forderungen, die cum grano salis als liberal bezeichnet werden können. D ie in verschiedenen Varianten und bei unterschiedlichen Gelegenheiten vorgelegten Projekte konzentrierten sich darauf, eine sofortige Zwangsablösung der Bauern, eine rechtliche und vereinzelt sogar auch eine steuerliche Gleichstellung aller Stände, in seltenen Fällen sogar ihre Aufhebung, die Reform der Lokalver­ waltung im Sinne einer Trennung von Justiz, Polizei und Exekutive, damit implizit eine unabhängige Justiz und Pressefreiheit, und nicht zuletzt allstän­ dische Vertretungsorgane, sei es auf Gouvernements-, sei es auf gesamt505 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

staatlicher Ebene, zu verlangen. Die sog. K onstitutionskampagne in den Jahren 1859 bis 1862, der sich zeitweilig sogar Vertreter der radikalen Intelli­ genz anschlossen, vereinigte sehr unterschiedliche Vorstellungen und Inter­ essen: sie reichten von oligarchischen Ansprüchen der Aristokratie, die den Verlust der Leibeigenschaft durch eine Adelskonstitution kompensieren wollte, über »Klassen-Nihilisten«, die den Adel als Stand am liebsten besei­ tigt gesehen hätten, bis hin zur Mehrheit der gemäßigten Projekte, denen es vor allem auf eine rechtsstaatliche Ordnung in den Lokal verhältnissen unter maßgeblicher Beteiligung des Adels ankam.22 Seine Mobilisierung speiste sich einerseits aus der Furcht vor den Folgen einer für Bauern und Gutsher­ ren gleichermaßen unbefriedigenden Regelung der Befreiung und anderer­ seits aus einem verbreiteten Affekt gegen die »rote« Bürokratie, die sich anzuschicken schien, den ersten Stand aus der Lokalverwaltung zu drängen. Die liberale Plattform, die der Adel vor allem in politischen Fragen gefunden zu haben schien, konnte aber nicht seine Heterogenität und seine Organisationsschwäche überdecken. Die Petitionskampagne wurde nicht zum Vorspiel eines russischen 1789, wie manche Zeitgenossen und auch Marx gehofft haben.23 Die Schwäche des Adelsliberalismus spiegelte diejenige des ersten Standes überhaupt. Die Gouvernementskomitees wie die Adelsversammlungen und ihre Deputationen nach Petersburg 1859 und 1860 besaßen nirgends die Kraft und die Fähigkeit, sich gegen die zentrale Intervention und gegen vereinzelte Repressionen zur Wehr zu setzen. Auch die Deputationen konn­ ten sich nicht zu einer Gesamtvertretung des ersten Standes konstituieren. Hinter dem Adel stand keine andere Schicht in der Bevölkerung, zu deren Sprecher er sich hätte aufwerfen können. Einen politisch aktionsfähigen Mittelstand gab es nicht, und die Bauern waren eher gegen als für den Adel zu mobilisieren, gleichgültig wie philantropisch und liberal er sich geben mochte. Das diffuse Gespenst einer Jacquerie zügelte die Opposition wie die Rigorosität bürokratischer Reformabsichten.24 Es war diese K onstellation, die eine Reihe prominenter Liberaler dazu veranlaßte, K onstitutionsforderungen fürs erste abzulehnen. Insbesondere B. N. Cičerin und K . D. Kavelin als bekannteste Vertreter der sog. histori­ schen Rechtsschule hatten - in der Nachfolge Hegels - ein ganzes System entworfen, das die positive Rolle des autokratischen Staats in der russischen Geschichte begründete. In seiner Entfaltung sah insbesondere Cičerin die Garantie für die allmähliche Ausbreitung individueller und bürgerlicher Freiheiten. Die Gnadenurkunden an den Adel von 1762 und 1785 erschienen in dieser Sicht als der Beginn einer Befreiung von staatlichem Zwang, die in der Aufhebung der Leibeigenschaft ihre konsequente Fortsetzung finden würde. Diese Akte wurden als Voraussetzung für die Entstehung von Ge­ sellschaft überhaupt gesehen. Erst in Zukunft könnten nach Befestigung der bürgerlichen Verhältnisse auch konstitutionelle Forderungen erhoben wer­ den.25 Unter dieser Perspektive konnten sich Liberale mit progressiven 506 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Beamten treffen. Für den gegebenen Moment sahen auch diese in einer Konstitution nur den Versuch des Adels, seine ohnehin vorhandene Privile­ gierung zu zementieren oder, wie es Alexander IL formulierte, eine »oligar­ chische Herrschaft« zu errichten.26 In diesem Verdacht lag zweifellos auch etwas D emagogisches, da die Mehrzahl der Petitionen aus dem Adel ein größeres Gewicht auf die Reform der lokalen Verhältnisse als auf eine Konstitution im engeren Sinne legte. Allerdings mußten nach den Normen der Autokratie selbst diese Erwartungen als unziemlich erscheinen, da Rechtsstaatlichkeit notwendigerweise eine Beschränkung der obersten Ge­ walt und damit konstitutionelle Elemente beinhaltete - also eine Sünde wider den Geist der Autokratie. Regierung und zentrale Behörden nahmen die Forderungen aus dem Adel aber nicht nur negativ auf. Auch in Petersburg hatte man die Notwendigkeit einer Neuordnung der Lokalverwaltung erkannt, da sie sich in einem bekla­ genswerten Zustand befand. Hatten zunächst bürokratisch-polizeiliche Mo­ delle zu ihrer Reform die Überlegungen in den Ministerien bestimmt, so veranlaßten die öffentlichen D iskussionen über Tocqueville und die Rolle des Zentralstaates wie über das englische self-government (und Gneists Schrif­ ten hierüber)27 dazu, sich mit der Idee lokaler Selbstverwaltung anzufreun­ den: D ie Bürokratie würde sich von Aufgaben entlasten, die sie zentra­ listisch ohnehin nicht bewältigte; zugleich ließe sich der Konstitutionskam­ pagne die Spitze nehmen, wenn es gelänge, die offenbar brachliegenden Kapazitäten des Adels für die Lokalverwaltung nutzbar zu machen. Mit der Einführung der sog. Landschaften (zemstva) im Jahre 1864 und dem Erlaß einer neuen Städteordnung im Jahre 1870, die übrigens auf Drängen des in den Städten ansässigen Adels und nicht so sehr durch das der Kaufmannschaft zustande kam, wurden formal allständische Selbstverwal­ tungen etabliert. An die Stelle der bisher rein ständischen Auswahlkriterien traten nun in den Städten ein Besitzzensus und auf dem Lande eine kompli­ zierte Verbindung von ständischen Kategorien und Besitzzensus bei der Wahl der Körperschaften und der Besetzung ihrer Ämter. Trotz einer viel­ fach engherzigen Beschränkung ihrer Kompetenzen waren ihre Amtsträger den Wahlkörperschaften gegenüber verantwortlich und nicht - wie vordem in den alten ständischen Institutionen - der staatlichen Administration. Bei der Ausarbeitung der Gesetze zur Landschafts- und Städteordnung standen sich Verfechter eines »administrativen Konstitutionalismus« und Zentralisten gegenüber, welche die absolute Prärogative der Petersburger Ministerien nicht geschmälert wissen wollten. D aher erschienen die Selbst­ verwaltungen nach der konservativen Wende »als eine Anspielung auf et­ was, als ein Beginn von etwas Unbekanntem, als die Grimasse eines Men­ schen, der niesen will und nicht kann. So wie sie aufgebaut und zusammen­ gesetzt sind, sind sie notwendigerweise dazu ausersehen, ein Herd der Unzufriedenheit und der Agitation zu werden«. 28 D ies schrieb 1880 der einst liberale, aber seit Mitte der sechziger Jahre zum konservativen Zentra507 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

listen gewordene Μ. Ν. Katkov. Der prominente Publizist hatte eine Ambi­ valenz erfaßt, die den Reformen der sechziger Jahre und den K onzeptionen sowohl der liberalen Adligen als auch ihrer zeitweiligen Gegner, der »aufge­ klärten« Bürokraten, innelag. Denn den Vorstellungen der einen wie der anderen lag perspektivisch die Überwindung der Autokratie zugrunde, ohne daß dies immer deutlich ausgesprochen werden konnte. Die Geg­ nerschaft beider Seiten, wie sie sich auf dem Höhepunkt der Konstitutions­ kampagne darstellte, ging letztlich um das Vorrecht bei der Umgestaltung Rußlands: Sollte hierbei dem Adel eine maßgebliche Rolle zufallen oder sollte einer als interesselos gedachten Bürokratie das Monopol auf Reformen überlassen bleiben? Die erst in der historischen Literatur so genannten progressiven oder aufgeklarten Beamten bildeten ebenso wie die Liberalen im Adel eine aktivi­ stische Minderheit innerhalb der Petersburger Ministerien. Sie kannten sich z. T. bereits seit den vierziger Jahren, hatten in der Zeit der Reaktion im Innenministerium Zuflucht gefunden, im Umgang mit behördlichen Proze­ duren, aber oft auch in den lokalen Verhältnissen gute Kenntnisse erworben. In Salons und informellen Diskussionszirkeln hatten sie sich mit frühsozialistischem so gut wie mit liberalem Schrifttum vertraut gemacht. Einst hatten sie sich zusammengetan, um die Deutschbalten aus der Geographischen Gesellschaft zu verdrängen und diese für die Exploration Rußlands im Interesse seiner gewerblichen Erschließung nutzbar zu machen.29 Dieser Kreis, der nach 1855 auch Kontakte zu den Beamten im Umfeld des Groß­ fürsten K onstantin Nikolaevič, den sog. konstantinovey, knüpfen sollte, sah in der Bürokratie und Autokratie trotz aller Mängel die entscheidenden Instanzen, um das Zarenreich auf den Weg des Fortschritts zu bringen. Es war wohl ihr Glauben an die Vernunft verwaltungsmäßigen Handelns und ein rigoroser russischer Nationalismus, der sie von den »K onstantinovcy« unterschied. K avelins Bekenntnis an den liberalen Historiker Τ. Ν. Gra­ novskij aus dem Jahre 1848 kann wohl als Leitspruch der »aufgeklärten« Beamten gelten: »Ich glaube an die unbedingte Notwendigkeit des Absolu­ tismus für das gegenwärtige Rußland, aber er sollte progressiv und aufge­ klärt sein«.30 Gleichsam als Antwort darauf schrieb Granovskij im Jahre 1855: Rußland bedürfe wieder eines Peters des Großen und »auch dessen Stocks«.31 Wie an diesen Zitaten eines Etatisten und eines Liberalen deutlich wird, waren die Übergänge zwischen Liberalen und progressiven Beamten fließend. Akzentunterschiede sind in den Vorbildern erkennbar: Orientier­ ten sich die Liberalen, vor allem die im Adel, am englischen Modell mit seiner evolutionären Entwicklung, seinem self-government und der parla­ mentarischen Tradition mit der bevorrechtigten Stellung des Adels, so scheinen die progressiven Beamten eher den bonapartistischen Zentralstaat als nachahmenswertes Beispiel gesehen zu haben. Wie Bismarck feindselig, aber wohl zutreffend kommentierte, erträumten sie sich einen »Bauernstaat mit Gleichheit ohne Freiheit, aber mit viel Intelligenz, Industrie, Bürokratie, 508 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Presse, etwa nach dem Napoleonischen Muster«. 32 D ies galt insbesondere für den eigentlichen Inspirator der Bauernbefreiung, für Nikolaj A. Miljutin, ebenso aber auch für seinen Bruder, den langjährigen Kriegsminister Dmitrij A. Miljutin, der die Armee modernisierte und europäischen Stan­ dards anglich.33 Gegenüber der Widerspenstigkeit und vermeintlichen Uneinsichtigkeit des Adels galt wie für die übrige Bevölkerung das Mot­ to: »Tout pour le peuple - rien par le peuple«.34 Mit Ausnahme D mitrij Miljutins blieben die progressiven Beamten nur im zweiten Glied der Hierarchie, da der Kaiser bedacht darauf blieb, ihnen das Feld nicht zu überlassen. Angesichts der Erfahrungen mit der Mißwirtschaft in der Ad­ ministration waren sie aber insoweit lernfähig, als sie sich dem Gedanken der D ezentralisierung und der lokalen Selbstverwaltung nicht verschlos­ sen. Ähnliche Überlegungen bestimmten auch die Bereitschaft zu einer gründlichen Reform des Rechtssystems. D ie ersten Anstöße hierzu kamen aus dem Kreis der konstantinovcy, noch ehe die Publizistik und der Adel Forderungen nach mehr Rechtsstaatlichkeit erhoben. Unter dem neuen Justizminister D . N. Zamjatnin (seit 1862) war es vor allem der Justizbe­ amte Sergej I. Zarudnyj, der als treibende Kraft der Reform des Gerichts­ wesens von 1864 gilt. 35 Mit der Einführung von Geschworenen-Gerich­ ten, der Abschaffung der schriftlichen Verfahren und der D urchsetzung mündlicher Verhandlungen und der - zumindest intendierten - Unabhän­ gigkeit der Richter wurde die Umgestaltung des Justizwesens eine der erfolgreichsten Reformunternchmen. Es gab allerdings einige Schönheits­ fehler: D ie administrative Straf- und die Kriegsgerichtsbarkeit mit einer zeitweiligen Ausweitung auf den zivilen Sektor blieben erhalten. Auch widerstand die Regierung nicht der Versuchung, in die Unabhängigkeit der Justiz immer wieder einzugreifen. Aber im Vergleich zur Zeit vor dem Krimkrieg war das Zarenreich dem Status eines Rechtsstaates ein gutes Stück näher gekommen. D er Erfolg der Justizreform beruhte zwei­ fellos auch darauf, daß der Wunsch nach Veränderungen auf diesem Feld weit über liberale und reformorientierte Kreise hinaus Zustimmung ge­ funden hatte und hier ein Konsens bestand, der erst in der neuen Reak­ tionszeit nach 1881 zerbrach. Noch 1855 hatte Nikolaj Miljutin den Adel als »egoistisch, unvorberei­ tet und unentwickelt«36 bezeichnet. D ieses Urteil war insofern nicht ganz falsch, als der durchschnittliche Gutsadlige, der von der Arbeit seiner Bauern lebte, weder die Kosten für die Arbeitskraft noch für das Inventar kannte, das in der Regel die Leibeigenen stellten. Er hatte auch kaum eine klare Vorstellung davon, wie die Umstellung auf eine kommerzielle Landwirtschaft funktionieren sollte.37 Aber auch die Petersburger Behör­ den erwiesen sich anfangs als recht hilflos in der Frage, wie die Bauernbe­ freiung zu bewerkstelligen sei. D aher dominierten anfangs doktrinäre Konzepte, deren Gegensätzlichkeit sich erst im Verlauf der politischen Be509 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

ratungen und der praktischen Arbeit an den Reformen abschliffen. Eine der zunächst unter dogmatischen Gesichtspunkten heftig umstrittenen Fragen betraf die bäuerliche Feld- und Umteilungsgemeinschaft, die sog. obščina. Im einstigen Prinzipienstreit zwischen Westlern und Slavophilen in den dreißiger und vierziger Jahren, in dem es um die universelle Gültigkeit historischer Entwicklungsgesetze für Rußland oder um die Einzigartigkeit russischer Lebensgrundsätze gegangen war, hatte die obščina als Institut spezifisch orthodoxer Vergemeinschaftung eine maßgebliche Rolle ge­ spielt.38 Nach 1855 lebte diese Auseinandersetzung um ihren historischen Ursprung wieder auf, aber in der praktischen Reformarbeit verlor sie bald an Bedeutung. Zunächst hatten sich gelehrte Ökonomen, liberale Beamte und Adlige für die Beseitigung der Bauerngemeinschaft engagiert, da ihre nivellieren­ de Steuerverfassung und der Zwang zur Landumteilung einer Steigerung landwirtschaftlicher Produktivität und generell dem Prinzip des Privatei­ gentums entgegenstehe. Slavophile Reformer und Radikale wie Černyševskij verteidigten sie: die einen, weil sie in ihr eine nationale Institution erblickten, die anderen, weil sie in dieser vermeintlich ursprünglichen Ge­ meinschaft einen Ansatzpunkt für den Übergang zu sozialistischen Pro­ duktionsformen erhalten wissen wollten.39 Aus der Sicht der progressiven Beamten sprachen andere Faktoren für den Erhalt der Bauerngemeinschaft. Dabei gingen sie vom unvermeidli­ chen Gegensatz zwischen den Gutsherren und den Leibeigenen und von deren unterschiedlicher Rechtstradition aus. Verstand der Adel seinen Be­ sitz an Land und Leuten als Privatbesitz, lebten die Bauern noch in Vorstel­ lungen einer moskowitisch geprägten patriarchalischen Diensthierarchie. Sie sahen im Grund und Boden »Gottes- oder Zarenland«, auf das in erster Linie sie selbst einen Nutznießungsanspruch hätten. Aus der Sicht der Bürokraten im Umkreis Miljutins brachte der Erhalt des obščina zweierlei Nutzen: Unter verwaltungstechnischen Gesichtspunkten war es einfacher, Regulierungs- und Ablösungsvereinbarungen mit der Gemeinde statt mit dem einzelnen bäuerlichen Haushalt auszuhandeln. Zudem war ihr Erhalt wohl auch als Teil des Bauernschutzes gedacht, weil ihre gesetzliche Fest­ schreibung ein Bauernlegen erschweren würde, wie man es in Mitteleuro­ pa beobachtet hatte. Sie wurde somit zum Vertragspartner bei der Befrei­ ung, Regulierung und Ablösung und sie konstituierte eine besondere Sphä­ re bäuerlichen Rechts. Sie trennte die Dorfbevölkerung von den übrigen Schichten durch eine eigene niedere Gerichtsbarkeit und Steuererhebung und durch eine besondere Form der Landnutzung. Das Bauernland wurde nicht zum Privatbesitz der Wirte, sondern es gehörte der Gemeinde. Zwar konnte diese oder auch einzelne Bauern Privatland kaufen oder pachten, aber Angehörige nicht-bäuerlicher Stände durften kein Bauernland erwer­ ben. Es blieb mithin vom Kreislauf eines freien Bodenmarktes ausgeschlos­ sen. 510 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Mit Beginn der Ablösung endete auch die gutsherrliche Gewalt über die ehemaligen Leibeigenen. In diesem Punkt ging die russische Gesetzgebung weiter als die preußische, indem sie jede Form patrimonialer Herrschaft beseitigte. D ie Bauernverwaltung blieb auch den zemstva entzogen. D as Dorf unterlag statt dessen im Laufe der folgenden Jahrzehnte wechselnden Organen staatlicher Aufsicht. Festzuhalten bleibt, daß die Landbewohner in eine besondere ständische Kategorie eingebunden blieben. Individuelle Freizügigkeit, individuelle Verfügung über den Grund und Boden und individuelle Berufswahl blieben an die Zustimmung der Dorfobrigkeit gebunden. D iese ständische Einhe­ gung, welche die Reformgesetzgebung teils aus fürsorgerischen, teils aus verwaltungstechnischen Gesichtspunkten initiierte, hat damit eine Tradition dualer Kultur perpetuiert, die dem liberalen Grundsatz der rechtlichen Gleichstellung fundamental widersprach.40 So setzte sich in der Bürokratie eine Politik des - zumindest intendierten Bauernschutzes durch. Sie kombinierte eine vorbeugende Abwehr von Pauperisierung und Proletarisierung mit der Verdrängung des Adels aus der Bauernverwaltung. D as Verständnis der progressiven Beamten stand dem des aufgeklärten Absolutismus mithin näher als dem einer liberalen Agrar­ politik, die sich im Grunde erst mit den Maßnahmen Stolypins nach 1906 durchsetzen sollte. Berücksichtigt man den Ausgangspunkt, von dem aus das Zarenreich die Umgestaltungen in Angriff zu nehmen hatte, so erwies sich das Mit- und Gegeneinander von progressiven Beamten und liberalen Adligen als ein produktives Zusammenspiel. D er Gang der Reformen zeigte, daß die Be­ hörden von der Kooperation gesellschaftlicher Gruppen abhängig waren, daß aber auch der Adel nichts ohne die Anstöße aus der Bürokratie unter­ nommen hätte. D ie erstaunlich rasche Mobilisierung des ersten Standes unter liberalen Vorzeichen verdeutlichte aber auch, wie prekär das Gleichge­ wicht war zwischen Staatsmacht und »Gesellschaft« auf der einen und dem »Volk« als unbekannter Größe auf der anderen Seite. Die Reformen hoben den sozialen D ualismus, der Rußlands Kultur und Politik seit dem 18. Jahrhundert geprägt hatte, nicht auf, sondern transfor­ mierten ihn. In diesem Nebeneinander zweier Zivilisationsstufen, einer europäisch geprägten und einer traditonalistischen, wird man einen wesent­ lichen Faktor für die strukturelle Schwäche des Liberalismus in Rußland zu suchen haben. Denn Autokratie und Bürokratie waren diejenigen Institutio­ nen, welche die Kluft zwischen beiden »Zivilisationen« überbrückten. Un­ ter solchen Umständen konnten sich liberale Prinzipien, die immer auf einen gesellschaftlichen Konsens angewiesen waren, nur in sehr begrenztem Um­ fang durchsetzen. Zudem waren der adelsliberalen Mobilisierung nach den Erfahrungen der französischen Revolution und - noch näher liegend - nach denen in Galizien 1846 enge Grenzen gesetzt. Aber die Niederlage im Krimkrieg und die 511 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Einsicht in den unvermeidbaren Fortschritt, den man jenseits der Grenzen vor Augen hatte, drängten zum Handeln. Die Befreiung und die ihr folgenden Reformen paßten sich den eigenen Verhältnissen und Interessen an. Sie orientierten sich aber auch an Mustern, die man vor allem in Mitteleuropa hatte studieren können, um sie gewisser­ maßen antizipierend zu korrigieren. In diesem Verhalten zeigte sich, wie sehr der Beamtenapparat und die »Gesellschaft« als Teil einer gesamteuro­ päischen Kultur agierten. Ihre Forderungen und Maßnahmen entsprachen­ bei Anpassung an die Gegebenheiten in Rußland - dem Geist des bürgerli­ chen Zeitalters, auch wenn es nicht-bürgerliche Schichten waren, die ihn im Zarenreich repräsentierten. Die Wende, die Alexander II. nach Verabschiedung der Bauernbefreiung allmählich vollzog, traf progressive Beamte in gleicher Weise wie liberale Adlige. Nach dem Februar 1861 wurden die mit der Agrargesetzgebung befaßten Beamten im Umkreis von N. Miljutin entlassen, und zur Beruhi­ gung der aufgebrachten Standesgenossen wurden die liberalen Adligen und insbesondere die Friedensvermittler in ihre Schranken verwiesen. So zeigte sich wieder die Schwäche einer Minorität, die dem Bewußtsein ihrer Berufs­ und Standesgenossen beträchtlich vorausgeeilt war und nun, nach getaner Arbeit, abzutreten hatte. Bald darauf sollten Nationalismus und Konservati­ vismus, der sich allerdings auf den neuen status quo bezog, und die radikale Kritik aus der Intelligenz das Feld beherrschen, weil sich die Autokratie nur in begrenztem Umfang als »aufgeklärt und progressiv« erwiesen hatte.

Anmerkungen 1 M. Raeff, Michael Speransky. Statesman of Imperial Russia, 1772-1839, Den Haag 19692; N. Družinin, D ekabrist Nikita Murav'ev, Moskau 1933. 2 Vgl. den berühmten Ausspruch A. Graf v. Benckendorffs, Chef der Geheimpolizei unter Nikolaus I.: »La passé de la Russie aétéadmirable; son présent est plus que magnifique; quant à son avenir il est au dela de tout ce que l'imagination la plus hardié se peut figurer«. Zit. nach Μ. Lemke, Nikolaevskie žandarmy i literatura 1826-1855 gg., Petersburg 19092, S. 411; vgl. auch Μ. Hildermeier, Das Privileg der Rückständigkeit, in: HZ 244, 1987, S. 557-603. 3 A. I. Gercen, S togo berega (1850], in: Ders., Sobranie sočinenij, Bd. 6, Moskau 1955, S. 7-143. Zitat: S. 55, S. 52-60; Ders., Pis'ma iz Francii i Italii [1847], in: ebd., Bd. 5, Moskau 1955, S. 34-36, 62-66. 4 F. M. Dostoevskij, Zimmie zametki ο letnich vpečatlenijach [1863], in: Ders., Polnoe sobra­ nie sočinenij, Bd. 5, Moskau 1973, S. 70-74. 5 N. G. Tschernyschewski. Was tun?, Berlin 1980, S. 450-459. 6 Gercen, Pis'ma, S. 11. 7 Zum Liberalismus in Rußland gibt es bisher keine befriedigende Gesamtdarstellung. Als erste Orientierung vgl. V. Leontowitsch, Geschichte des Liberalismus in Rußland, Frankfurt 1957; G. Fischer, Russian Liberalism From Gentry to Intelligentsia, Cambridge/Mass. 1958. 8 H.-J. Torke, Das russische Beamtentum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: FOG 13, 1967, S. 7-345; P. A. Zajončkovski, Pravitel'stvennyj apparat samoderžavnoj Rossii v XIX

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v., Moskau 1978; teilweise engl. Übersetzung in: SSH 18, 1979, S. 11-113; W. M. Pintner, Civil Officialdom and the Nobility in the 1850s, in: Ders., u. D. K. Rowney (Hg.), Russian Official­ dom, London 1980, S. 227-249; D.T. Orlovsky, The Limitis of Reform: The Ministry of Internal Affairs in Imperial Russia, 1802-1881, Cambridge/Mass. 1981, S. 13-51, S. 104-122. 9 S. F. Starr, Decentralization and Self-Government in Russia, 1830-1870, Princeton/N.J. 1972; B. Schalhorn, Lokalverwaltung und Ständerecht in Rußland zu Beginn der Herrschaft Nikolaus I., in: FOG 26, 1979, S. 7-261; M. Hildemeier, Bürgertum und Stadt in Rußland, 1760-1870, K öln 1986, S. 181-270. 10 Als Orientierung zum russischen Adel vgl. F. Diestelmeier, Der russische Adel im 19. Jahr­ hundert, in: JGO 26, 1978, S. 376-400; D. Field, The End of Serfdom. Nobility and Bureaucra­ cy in Russia, 1855-1861, Cambridge/Mass. 1976, S. 9-50. 11 Zur Reformperiode und den einzelnen Maßnahmen vgl. mit ausführlichen Literaturanga­ ben G. Schramm (Hg.), Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. 3/1, Stuttgart 1983. 12 V. N. Rozental', Obščestvenno-političeskaja programma russkogo liberalizma v seredine 50-ch godov XIX v., in: IZ 70, 1961, S. 196-222, S. 217. 13 N. Hans, History of Russian Educational Policy (1701-1917), New York 1964, S. 235, 239; Zajončkovskij, Prav. apparat, S. 69; L. G. Beskrovnyj, Russkaja armija i flot v XIX veke, Moskau 1973, S. 16; A. P. Korelin, Dvorjanstvo v poreformennoj Rossii 1861-1904, Moskau 1979, S. 296, 302; Hildenneier, Bürgertum, S. 345, 350. 14 C. A. Ruud, Censorship and the Peasant Question, in: CSS 5, 1970, S. 137-168. 15 A. A. Skerpan, The Russian National Economy and Emancipation, in: A. D. Ferguson u. A. Levin (Hg.), Essays in Russian History, Hambden/Conn. 1964, S. 161-229; N. A. Cagolov, Očerki russkoj ekonomičeskoj mysli perioda padenija krepostnogo prava, Moskau 1956, bes. Kap. 7-10. 16 Hildermeier, Bürgertum, S. 328-594. 17 Th. C. Owen, Capitalism and Politics in Russia, Cambridge 1981, S. 29-70; A.J. Rieber, Merchants and Entrepreneurs in Imperial Russia, Chapel Hill 1982, S. 75-103, 133-218. 18 P. A. Zajončkovskij, Otmena krepostnogo prava v Rossii, Moskau 19602, S. 56, 89. 19 R. Pipes, K aramzin's Memoir on Ancient and Modern Russia, Cambridge/Mass. 1955; Field, S. 96-98. 20 Zum liberalen Adel vgl. maßgeblich Τ Emmons, The Russian Landed Gentry and the Peasant Emancipation of 1861, Cambridge 1968, S. 79-84, 171-73; N. M. Družinin, Izbrannye trudy. Social'no-ekonomičeskaja istorija Rossii, Moskau 1987, S. 5-97; L. G. Zacharova, Dvorjanstvo i pravitel' stvennaja programma otmeny krepostnogo prava ν Rossii, in: VI 1973, H. 9, S. 32-51. 21 V. G. Černucha, K rest janskij vopros v pravitel' stvennoj politike Rossii, Leningrad 1972, S. 25-69. 22 Emmons, S. 224-265, 285-98, 334-347, 369-389, Zitat S. 357; Starr, S. 200-10, 264-271; Field, S. 301-322. 23 K . Marx, Über die Bauernbefreiung in Rußland [1859|, in: K. Marx u. F. Engels, Werke, Bd. 12, Berlin 1969, S. 673-82, S. 679. 24 F. Diestelmeier, Soziale Angst. K onservative Reaktionen auf liberale Reformpolitik in Rußland unter Alexander II. (1855-1866), Frankfurt 1984. 25 K .-D. Grothusen, Die historische Rechtsschule, Gießen 1962, S. 130-151; V. A. Kitaev, Ot frondy k ochranitel'stvu, Moskau 1972, S.86f., 125-29; S. Benson, The Conservative Liberalism of Boris Chicherin, in: FOG 21, 1975, S. 17-114. 26 V. V. Garmiza, Podgotovka zemskoj reformy 1864 goda, Moskau 1957, S. 44. 27 K itaev, Ot frondy, S. 87-104; G. Weiss, Die russische Stadt zwischen Auftragsverwal­ tung und Selbstverwaltung. Zur Geschichte der russischen Stadtreform. Phil. Diss. Bonn 1977, S. 113-21. 28 N. M. Pirumova, Zemskoe liberal'noe dviženie. Social'nye korni i evoljucija do načala XX veka, Moskau 1977, S. 34.

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29 W. B. Lincoln, In the Vanguard of Reform. Russia's Enlightened Bureaucrats, 1855-1861, D eKalb/Ill. 1982. 30 Ebd., S. 85. 31 D . Offord, Portraits of Early Russian Liberals, Cambridge 1985, S. 74. 32 B. Nolde, Die Petersburger Mission Bismarcks, 1859-1862, Leipzig 1936, S. 185. 33 W. B. Lincoln, Nikolai Miliutin. An Enlightened Russian Bureaucrat of the Nineteenth Century, Newtonville/Mass. 1977; F. A. Miller, Dmitri Miliutin and the Reform Era in Russia, Charlotte/N. C. 1968, S. 5-24; D . Beyrau, Militär und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland, Köln 1984, Kap. III/2-6. 34 J . A . Malloy, N.A. Miljutin and the Zemstvo Reform of 1864, in: SEER 14, 1969, S. 83-102, S. 89. 35 F. B. Kaiser. Die russische Justizreform 1864, Leiden 1972, S. 156-57, 190-94, 436-445; Lincoln. S. 59-67. 36 Lincoln, S. 146. 37 M. Confino, Système agraire et progrès agricole. L'assolement triennal en Russie aux XVIIIe—XIXe siècles, Paris 1969; J . Blum, Lord and Peasant in Russia From Ninth to Nine­ teenth Century, Princeton/N. J . 1961, S. 386-413. 38 A. Walicki, A Slavophile Controversy, Oxford 1975, S. 168-178, 256-265. 39 C. Goehrke. Die Theorien über Entstehung und Entwicklung des »mir«, Wiesbaden 1964, S. 51 -65; Cernucha, S. 124-204. 40 Zur Bauernbefreiung vgl. Schramm (Hg.), Handbuch, S. 43—47 (mit Lit.).

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HEINZ-DIETRICH LÖWE

Bürgertum, liberale Bewegung und gouvernementaler Liberalismus im Zarenreich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert

Der Liberalismus in Rußland hat für Historiker wie für Zeitgenossen beson­ dere Probleme aufgeworfen. Schon auf eine einheitliche Benennung hat man sich nicht einigen können. Oft gilt als ›liberal‹, was ein anderer als ›radikal‹ oder auch als ›konservativ‹ charakterisiert. Diese Ambivalenz ist nicht unge­ wöhnlich. Die liberale Ideologie hatte ja auch in Mitteleuropa spätestens seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nicht mehr die nötige Pro­ blemlösungs- und Bindekraft, um die Einheit der liberalen Bewegung zu sichern. Folglich ergaben sich auch hier, je nach politischer Position des Betrachters, ähnliche D iskrepanzen im Urteil. Aber die Verspätung der russischen Entwicklung hat den Liberalismus vor Probleme gestellt, die er in West- und Mitteleuropa nicht zu lösen hatte oder die er dort doch nacheinan­ der hatte in Angriff nehmen können. Gleichzeitig wurde der Übergang des Liberalismus zu einer Klassenpartei in Rußland noch problematischer als in West- und Mitteleuropa. Ansätze dazu zeigten sich erst sehr spät. D ie russischen Liberalen meinten in der Regel auch weiterhin, über den Klassen zu stehen. D ie verschiedenen Elemente des Liberalismus sind von einer einzelnen Partei so gut wie nie in ihrer Gänze vertreten worden, vielmehr enthielten ihre Programme Positionen, die nicht dem entsprachen, was konventionell für das 19. Jahrhundert als ›liberal‹ gilt. Zudem hat man im Rahmen der angestrebten Modernisierung des Reiches wichtige Maßnah­ men von oben her in Gang gesetzt. Sie wurden zwar nicht als Ausdruck liberaler Politik verstanden, wohl aber drängte ihre innere Logik das wider­ strebende System genau auf diesen Weg. Es verbietet sich deshalb, den russischen Liberalismus und seine Variante, den gouvernementalen Libera­ lismus, nur anhand einer kleinen Zahl vermeintlich zeitlos gültiger Prinzi­ pien zu bestimmen. Ihn gar nur aufgrund eines einzigen Indikators, etwa anhand des Eintretens für das Privateigentum, zu definieren, muß zu unge­ nügenden Ergebnissen und Wertungen führen.1 Vielmehr gilt es, ihn in seinen Rahmenbedingungen zu verstehen, die durch die sozioökonomische Andersartigkeit der russischen Verhältnisse verursacht waren. Dann werden die Faktoren deutlich, die den gesellschaftlichen und den gouvernementalen 515

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Liberalismus programmatisch bestimmten und den jeweiligen Handlungs­ spielraum umschrieben. Ein wichtiges Hindernis für die Entwicklung des Liberalismus in Rußland war die Tatsache, daß das Bürgertum in Rußland zahlenmäßig, aber auch hinsichtlich seines politischen Einflusses und seiner wirtschaftlichen Macht, immer relativ schwach blieb. Das hatte zum einen mit der sozialen, ökono­ mischen, nationalen und immer noch fortwirkenden ständischen Fraktio­ nierung der russischen Gesellschaft zu tun. Zum anderen begannen sozio­ ökonomische Prozesse, die in West- und Mitteleuropa schon abgeschlossen oder doch bereits in voller Entfaltung waren, in Rußland erst allmählich ihre Wirkung zu zeigen, jedoch in einer Form, die bürgerliche Gruppen z. Τ. nur sehr langsam entstehen ließ. D er russische Staat schuf auch noch nach der Bauernbefreiung durch Reformen vor allem im wirtschaftlichen Bereich, besonders durch die seit den neunziger Jahren betriebene Industrialisierung, überhaupt erst wichtige Voraussetzungen für eine bürgerliche Gesellschaft und für die Entstehung eines Bürgertums, das als Träger einer liberalen Bewegung hätte auftreten können. D as geschah, nicht ohne Widerstände in der alten Oberschicht, dem Adel, zu wecken. Aber selbst soziale Gruppen, die als potentiell bürgerlich anzusprechen wären, wandten sich mit wach­ sender Vehemenz gegen diese staatliche Politik. D as galt vor allem für die russische Intelligenz. Die vielfach bedeutende Rolle des Staates trug anderer­ seits zumindest zeitweise dazu bei, das Wachsen eines Bürgertums, aber auch bürgerlich-liberaler Ideen und Lebensformen, eher zu behindern als zu fördern.2 Seit Beginn des 19. Jahrhunderts hatte der Staat zu einem nicht unbeträchtlichen Teil das nur langsam wachsende Potential abgeschöpft, das zur Ausbildung und Erweiterung des ›Dritten Standes‹ hätte dienen können: für die Schaffung einer modernen Bürokratie.3 Auch wenn diese Bürokratie sich immer noch weitgehend aus dem Adel rekrutierte, ging doch der Anteil des gutsbesitzenden Adels mehr und mehr zurück. D ie Beamten der mit der Modernisierung des Landes befaßten Ministerien entstammten einem sozia­ len Rekrutierungsfeld, das durch Schulen und Universitäten wesentlich stärker geprägt war als durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozia­ len Schicht oder zu einem Stand. D ie Bürokratie entwickelte ihr eigenes Bewußtsein und ihre eigenen Traditionen, die es nicht möglich machen, von ihr schlechthin als dem Werkzeug einer herrschenden Klasse zu sprechen.4 Hier entstand die soziale Basis für einen gouvernementalen Liberalismus, der das Bewußtsein pflegte, über den Klassen zu stehen. Gouvernementaler Liberalismus entwickelte sich aus dem Bestreben, das Land um der außenpolitischen Machtentfaltung willen zu modernisieren.5 Dabei sollte der autokratische Staat erhalten bleiben, weil man ihn als die entscheidende Kraft der Modernisierung ansah. D iese ›defensive Moderni­ sierung‹ führte aber zu sozialen und politischen Ergebnissen, die mit aller Macht die ihr gesetzten Grenzen zu sprengen drohten.6 Damit wurde gleich­ zeitig deutlich, daß sich die traditionellen Strukturen nicht würden erhalten 516 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

lassen und daß nur durch Liberalisierung von oben gesellschaftliche Unruhe zu kanalisieren wäre. Das angestrebte Niveau der Modernisierung war ohne eine weitgehende Freisetzung gesellschaftlicher und individueller Kräfte nicht zu erreichen. Dieser erste Versuch der mehr wirtschaftlich orientierten Modernisierung endete um 1900 mit einem partiellen Zusammenbruch, der durch eine Wirtschaftskrise mitverursacht wurde. Die Einsicht begann Platz zu greifen, daß die Politik der Modernisierung nur durch eine viel grundsätzlichere Umgestaltung fortgesetzt werden konnte. D iese Politik wurde seit 1905, durch die erste russische Revolution vorwärtsgetrieben, mit einiger Ent­ schiedenheit in Gang gesetzt, ohne daß liberale Prinzipien unbestrittene Geltung zu gewinnen vermochten. Der russische Liberalismus der Jahrhundertwende, der ›gesellschaftliche‹ wie auch der ›gouvernementale‹, hatte mit dem Problem zu ringen, daß er sich an zwei Fronten behaupten mußte: Einmal gegen die adlige Reaktion, die in wirtschaftlicher Modernisierung, im Aufkommen von Liberalismus und Bürgertum das Ende der gesellschaftlichen und politischen Vormacht­ stellung des Adels nahen sah. 7 Zum anderen trafen Bürgertum und bürgerli­ che Gesellschaft bereits auf den Widerstand der wohl radikalsten Arbeiterbe­ wegung Europas. D ie potentiellen Verfechter des politischen Liberalismus erwiesen sich in dieser Frontenstellung als zu schwach, als daß sich eine einheitliche bürgerliche Ideologie, ein in seiner Zielsetzung einiges Bürger­ tum mit gemeinsamen Traditionen und gesellschaftlichen Idealen hätte her­ ausbilden können. Nur in zeitlich begrenzten politischen Bündnissen ent­ stand eine Art Bürgerlichkeit auf Widerruf. Bürgertum und Liberalismus, auch in Form einer liberalen Klassenpartei, kamen nicht zur D eckung. Es gilt daher zu untersuchen, welche Maßnahmen der Regierung in den beiden angesprochenen Zeiträumen als Ausdruck eines gouvernementalen Liberalismus begriffen werden können, wo die grundlegenden Problembereiche staatlicher Politik im Sinne eines ›vorgreifenden Liberalismus‹ ange­ siedelt waren und wo dem gouverncmentalen Liberalismus kaum übersteig­ bare Grenzen gezogen wurden. Auf der anderen Seite sollen die bürgerlichen Schichten benannt werden. Zu fragen bleibt auch, wie weit sie oder andere für eine Liberalisierung und Individualisierung des Rechts und des Wirt­ schaftens eintraten. Ihr Verhältnis untereinander und zur Politik des Staates muß erklären, warum es zu einer bürgerlichen Gesellschaft noch nicht kam und warum der gouvernementale Liberalismus hier historisch notwendige Reformen vornahm und vornehmen konnte, die als Voraussetzung einer bürgerlichen bzw. staatsbürgerlichen Gesellschaft gelten. Konflikt- und Gestaltungsfelder bildeten dabei u. a. die Bauernfrage in allen ihren Aspek­ ten, die Wirtschaftspolitik, die bürgerlichen Rechte, die Bildungspolitik und die Konstitutionalisierung und Parlamentarisierung des Reiches. Vom Blickwinkel liberaler Ansprüche her hatten die Reformen der sechzi­ ger Jahre ein ganz zentrales Problemfeld der russischen Gesellschaft bestehen 517 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

lassen: Die Bauern wurden nach der Befreiung von 1861 nicht zu individuel­ len Eigentümern ihres Landes und sie verblieben in ihrer eigenen, durch das Gewohnheitsrecht geprägten, Rechtssphäre.8 Die erste Bresche in das tradi­ tionelle Gefüge der Bauerngesellschaft schlug in den achtziger Jahren Fi­ nanzminister Bunge, der - vielleich etwas vorgreifend - die in den moderni­ sierungswilligen Teilen der Bürokratie wachsende Bereitschaft verkörperte, liberale Prinzipien anzuwenden. Im Rahmen einer großen Steuerreform beseitigte er ein Überbleibsel aus der Zeit der Leibeigenschaft, die Kopfsteu­ er. Damit entfiel zumindest grundsätzlich der Zwang zu periodischen Um­ verteilungen des Landes - also der Druck, eine relativ egalitäre Struktur der Bauerngesellschaft zu erhalten, um die Steuerlasten möglichst gleichmäßig zu verteilen - und damit auch die fiskalisch begründete Notwendigkeit, die Obščina als kollektive Eigentümerin des Bauernlandes zu bewahren. Die Abschaffung der K opfsteuer erfolgte u. a. auch als eine Konzession an die liberal gestimmten Elemente der Öffentlichkeit, nachdem die Ermordung Alexanders II. die Vertreter des zarischen Systems zutiefst verunsichert hatte.9 Bunges Politik war zudem eingebettet in ein umfassenderes Pro­ gramm, das durch steuerliche Entlastung der Unterschichten und vor allem der Bauern die wirtschaftliche Entwicklung des Landes vorantreiben wollte. Industrialisierung und wirtschaftliche Entwicklung sollten von unten, über den Markt, in Gang gesetzt werden.10 Die hiermit Hand in Hand gehende freihändlerische Ausrichtung stieß, vor allem in Kreisen der Landwirtschaft, ebenfalls auf positive Resonanz. Aber der politische Wille, der hinter diesem Programm stand, war nicht einmal stark genug, einige Jahre ein Budgetdefi­ zit durchzustehen. Für das zarische System war eben nicht die Rücksicht auf die Stimmung der Öffentlichkeit kennzeichnend, sondern die fieberhafte Suche nach einem wirtschaftlichen Programm, das durch eine forcierte Entwicklung der wirtschaftlichen Resourcen das Machtpotential des Rei­ ches möglichst schnell steigern sollte, ohne soziale Umwälzungen in Gang zu setzen. Unter Bunges Nachfolger Vyšnegradskij, vor allem aber unter dem näch­ sten Finanzminister Sergej Jul'evič Vitte, entwickelte sich ein System der direkten und indirekten Einmischung des Staates in das Wirtschaftsleben. Diesem ›Vitte-System‹ verdankte das Russische Reich Wachstumsraten, die bis dahin in der industriellen Welt nicht ihresgleichen hatten. Dahinter stand aber kein liberales Programm, auch kein gouvernementaler Liberalismus. Ziel dieser Politik war es nicht, die rechtlichen oder sozialen Strukturen zu verändern, vielmehr wollte man das bestehende System stärken. Vitte, zumindest über lange Strecken seiner Amtszeit ein überzeugter Anhänger der Autokratie, glaubte zudem in den ersten Jahren, daß gerade die vormo­ dernen Strukturen, besonders die bäuerliche Umteilungsgemeinde, es ihm erleichtern würden, seine Politik durchzusetzen.11 Fast sein gesamtes wirtschaftspolitisches Programm mußte Vitte gegen die öffentliche Meinung, auch gegen ihren liberalen Sektor, durchsetzen. 518 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Aber je länger desto mehr sah er sich auf die Mobilisierung gesellschaftli­ cher Kräfte angewiesen. Sein D ilemma dabei blieb, daß die sozialen Gruppen, die sein Programm hätten tragen können, noch zu schwach ent­ wickelt waren. D aß es gerade Vitte war, der - ursprünglich angewiesen auf die Machtfülle des Zaren - immer stärker den entwicklungspolitischen Durchbruch Rußlands mit Reformen letztlich bürgerlich-kapitalistischer Art und schließlich mit einem liberalen Programm suchte, entsprang nicht der inneren Widersprüchlichkeit seiner Person. Vielmehr spiegelten sich hier Widersprüche in der Wirklichkeit Rußlands, wo kühne Ambitio­ nen und ernüchternder sozialer und wirtschaftlicher Entwicklungsstand weit auseinanderklafften. Auf der Grundlage des alten Systems suchte der Finanzminister mehr und mehr für eine Gesellschaft und im Vorstellungs­ rahmen einer Gesellschaft zu arbeiten, die sich noch nicht entfaltet hatte. Er wurde nicht etwa von bürgerlichen Kräften zu Reformen gedrängt, sondern seine Vorstellungen von der wirtschaftlichen Zukunft Rußlands und seiner außenpolitischen und inneren Stärke trieben ihn vorwärts. Sein Problem lag darin, im Rahmen der Autokratie eine starke, auf Selbsttätig­ keit gegründete Gesellschaft schaffen zu müssen, da er auf sie für die wei­ tere Modernisierung des Reiches angewiesen war. Eine solche Ordnung vermochte sich jedoch auf D auer nur nach ihren eigenen Gesetzen, und das hieß letzten Endes nur im Gegensatz zur zaristischen Sozialordnung, zu entwickeln. Hatte Vitte anfangs die Maßnahmen, die auf eine Zementierung der traditionellen Bauernpolitik hinausliefen, mitgetragen, so kam er doch in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre tastend zu anderen Ansätzen und Methoden. 1898 legte er in einer D enkschrift an den Zaren dar, daß der ökonomische Rückstand des Landes wesentlich durch die rechtlich unglei­ che und minderwertige Stellung der Bauern bedingt sei und daß Rußland nur durch ihre rechtliche Gleichstellung, die Gewährung ihres Landes als festes und gesichertes Privateigentum und durch eine schnelle Verbreitung von Bildung unter den Bauern seine Kräfte entwickeln und in der Welt die Stellung einnehmen könne, die ihm eigentlich zukomme. Um seine eigene Position zu stärken, wagte Vitte sogar einen direkten Appell an die liberale Öffentlichkeit und den in der Zemstvo-Bewegung12 sich organi­ sierenden oppositionellen liberalen gutsbesitzenden Adel, obwohl dieser sich erst in Gegnerschaft zu seiner Wirtschaftspolitik formiert hatte: In den Kreisen und Gouvernements ließ er gemischte Komitees aus gewähl­ ten Vertretern der Zemstva und aus Repräsentanten der Bürokratie schaf­ fen. Sic sollten die Bauernfrage beraten und eine zentrale Kommission unter Vittes Vorsitz mit Material versorgen. D as war ein wichtiger Schritt über eine rein bürokratische Reformpolitik hinaus, durch den in der libe­ ralen Öffentlichkeit Unterstützung gesucht wurde. Ein erster, aber noch vereinzelter Erfolg war dabei die Abschaffung der kollektiven Steuerhaf­ tung der Bauerngemeinde im Jahr 1903, was endgültig den Weg freiräum519 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

te für eine Auflösung der bäuerlichen Umteilungsgemeinde. Aber es bedurf­ te erst der Erschütterungen durch die Revolution von 1905, bevor diese Pläne in Kraft gesetzt werden konnten.13 In der Bildungspolitik zeigte sich das Finanzministerium unter Vitte ebenfalls reformfreudiger, ›liberaler‹ und stärker um die Hebung des Bil­ dungsniveaus bemüht als das Bildungsministerium. Kurz nach einer Phase, in der dieses den Besuch weitergehender Schulen reduziert hatte, weil die Schüler durch ihrem Stand nicht angemessene Bildung nur dazu gebracht würden, »die in der Natur der Dinge liegende Eigentumsordnung zu ver­ achten«, begann das Finanzministerium mit einem von den Kräften von Industrie und Handel mitgetragenen Ausbau der ihm unterstehenden Schu­ len, vor allem der Handelsschulen. Auch Polytechnika, den Universitäten gleichgestellt, wurden umgebildet oder neu gegründet, um die technische und naturwissenschaftliche Bildung im Lande zu verbessern.14 In der Frage der Diskriminierungen nicht-russischer Minoritäten zeigte sich das Finanz­ ministerium ebenfalls kontinuierlich großzügiger als alle anderen Sektoren der Bürokratie.15 Gebrochen hat sich diese Art des gouvernementalen Libe­ ralismus aber an der Arbeiterfrage, und zwar nicht nur am Widerstand des die klassische Bürokratie repräsentierenden Innenministeriums, sondern vor allem an dem Widerstand der Industriebourgeoisie. Über rudimentäre Arbeitsschutzgesetze und über ein weitgehend folgenloses Gesetz zur Wahl von Arbeitervertretern in den Fabriken kam man nicht hinaus. Legalisiert hat man die Gewerkschaften vor 1905 nicht. Auch eine D enkschrift des Finanzministeriums, die empfahl, Streiks zu legalisieren und so den Staat aus den Arbeitskämpfen herauszuhalten, erwies sich für russische Verhältnisse als zu radikal.16 Gesellschaftlich kann man in den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahr­ hunderts keinen einheitlichen Träger des Liberalismus festmachen. Unter­ stützt hat das Programm der vom Staat forciert geförderten Industrialisie­ rung vor allem die zahlenmäßig schwache Industriebourgeoisie, besonders die Moskauer, die ihre Interessen aber nicht in einem umfassenden liberalen Programm aufgehoben sah. Über die Forderungen nach mehr Rechtssicher­ heit und ein gelegentliches Eintreten für diskriminierte jüdische Unterneh­ mer und nach einer stärkeren Berücksichtigung der Industrie gegenüber adligen bzw. landwirtschaftlichen Belangen gingen sie nicht hinaus. Eine Konstitutionalisierung des Reiches faßte man nicht ins Auge. 17 In manchen Bereichen traten sie auch eher für ordnungspolitische oder wirtschaftliche Maßnahmen ein, die nicht als liberal zu klassifizieren sind: Das gilt z. Β. für die Hochschutzzollpolitik für Industriegüter, selbst wenn der Zoll nicht dieselbe antiliberale Stoßrichtung hatte wie etwa im Deutschen Reich. Auch versuchten einflußreiche Industrielle hin und wieder, die staatliche Steuer­ politik in dem Sinne zu beeinflussen, daß kleinere oder neue Betriebe be­ nachteiligt wurden.18 Ein liberales Programm entwickelte dagegen ein Teil derjenigen Schicht, 520 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

die vehement die Wirtschaftspolitik des Finanzministeriums bekämpfte. Ausgangspunkt für diese Entwicklung war zuerst die Opposition fast des gesamten gutsbesitzenden Adels gegen die bevorzugte Förderung der Indu­ strie durch den Staat. In der Erkenntnis, daß sich mit partiellen Maßnahmen diese Politik nicht würde aushebeln lassen, entwickelte ein Teil des Adels, vor allem derjenige, der in den ländlichen Selbstverwaltungsorganen beson­ ders aktiv war, allmählich ein umfassendes Programm sozialer und politi­ scher Umgestaltung, das zuerst eine stärkere Rolle für die gewählten ländli­ chen Selbstverwaltungsorgane des Reiches vorsah, um das ›Wahlelement‹ gegen die ›Bürokratie‹ zu stärken. Neben der Forderung, die Wirtschaftspo­ litik grundlegend zugunsten der Landwirtschaft zu verändern, rückte die nach einer Anpassung der bäuerlichen Rechtsstruktur an die allgemeinen Verhältnisse und nach umfassender Rechtsstaatlichkeit immer mehr in den Mittelpunkt. Ein Teil dieses liberalen Gutsadels rang sich nach der Jahrhun­ dertwende auch dazu durch, einen Umbau der politischen Ordnung des Reiches zu einer konstitutionellen Monarchie zu verlangen.19 Einen wichtigen Verbündeten fanden die liberalen Gutsbesitzer in der technischen und berufsständischen Intelligenz, deren Zahl gerade unter dem beschleunigten wirtschaftlichen Wachstum seit der zweiten Hälfte der acht­ ziger Jahre deutlich zunahm. Eine besondere Rolle spielte in dieser das sog. ›Dritte Element‹, die Angestellten der ländlichen Selbstverwaltungen, wie Ärzte, Lehrer, Agronomen, Veterinäre, Statistiker usf. Ihre Zahl hatte sich in den neunziger Jahren fast verdoppelt, was sich einmal aus dem wachsen­ den Umfang der Tätigkeit der Zemstva ergab, aber auch Teil einer bewußten Politik der Zemstvo-Leute war, durch eine forcierte Ausweitung der Tätig­ keit und der Stellen der ländlichen Selbstverwaltungsinstitutionen eine stär­ kere steuerliche Berücksichtigung des flachen Landes zu erzwingen. Ver­ knüpft mit der städtischen Intelligenz war diese Schicht über die gemeinsa­ me Arbeit in verschiedenen ›gelehrten‹ Organisationen, wie in der Freien Ökonomischen Gesellschaft in St. Petersburg, der Kaiserlichen Landwirt­ schaftsgescllschaft in Moskau, in der Moskauer Juristischen Gesellschaft oder auch über die gemeinsame Anhängerschaft an ein überregionales ›dik­ kes‹ Journal, wie man in Rußland die umfangreichen Zeitschriften nannte, die sich mit Kultur und Politik beschäftigten. D as Bündnis mit dem liberalen Gutsadel, das sich trotz mancher Schwierigkeiten herausbildete, mußte jedoch notwendigerweise partiell und zeitlich begrenzt bleiben.20 Denn das ›Drittc Element‹ war zu einem beträchtlichen Teil sozialistisch eingestellt, große Gruppen hielten an der bäuerlichen Umteilungskommune fest als der für diese Wirtschaftssphäre geeigneten Form des Besitzes und als einem Brückenkopf für eine sozialistische Zukunft. D as Zusammengehen bezog sich daher nur darauf, die absolute Monarchie zu beseitigen. Selbst der gemäßigtere Teil des ›D rittcn Elementes‹, der seit etwa 1901/02 mit den fortschrittlicheren Zemstvo-Konstitutionalisten nicht nur im ›Bund der Be­ freiung‹, sondern 1905 auch in der Konstitutionell-D emokratischen Partei 521 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

zusammenging, vertrat schon sehr früh Positionen, die über den klassischen Liberalismus hinausgingen, z. Β. mit der Forderung nach teilweiser Enteig­ nung von Gutsbesitzerland zu einer unter den Marktpreisen liegenden Ent­ schädigung.21 Die russische Intelligenz befand sich nicht unter der Hegemonie einer Klasse. Weder die zahlenmäßig kleine und politisch schwache Bourgeoisie, noch der liberale gutsbesitzende Adel, noch die Arbeiterklasse vermochten sie zu ihrem Sprachrohr zu machen. Die Intelligenz entwickelte vielmehr ein Bewußtsein der ihrer Gruppe gemeinsamen Interessen. Sie agierte, wenn es die Umstände gestatteten, politisch eigenständig. Kurzfristig fand dies während der Revolution von 1905 — seinen Ausdruck in dem organisatori­ schen Zusammenschluß im ›Bund der Bünde‹, der bis zum Oktobermanifest 1905, als der Zar eine gewählte gesetzesbeschließende Volksvertretung und wichtige bürgerliche Freiheiten gewährte, die einflußreichste oppositio­ nelle bzw. revolutionäre Gruppe bildete. Aber hier, wo sich fast alle politi­ schen Strömungen außer der dogmatisch marxistischen mit dem Ziel zu­ sammenfanden, die Autokratie zu stürzen, gingen die Forderungen weit über ein liberales Programm hinaus.22 Auch wenn die Organisation nach dem Erlaß des Oktobermanifestes zerfiel, zeigte sich dieses Bewußtsein der gemeinsamen Interessen der Intelligenz immer wieder. D ie übrigen Schich­ ten des Reiches blieben, von der Arbeiterklasse einmal abgesehen, politisch stumm. D ie Bourgeoisie, oder auch das Bürgertum im weiteren Sinne, trat vor der Jahrhundertwende nicht mit einem politischen Programm auf. D as lag an der grundsätzlichen Schwäche dessen, was man Bürgertum nennen könnte. Aus den unterschiedlichsten sozialen Gruppen heraus entstanden, stellte es nur eine dünne Schicht dar. Ein Zusammenwachsen mit der adligen Gutsbesitzerschaft zeigte sich kaum, jedenfalls nicht in den Lebensformen oder in politischen Programmen. Statt eines ›Bildungsbürgertums‹, wie etwa in Deutschland, hatte sich eine ›Intelligencija‹ herausgebildet, die alles Bürgerliche verachtete.23 D as ›Bürgertum‹ repräsentierte vielleicht etwas mehr als 1% der Bevölkerung, wobei hier wohl auch die kleineren Hand­ werks- und Handelsbetriebe eingerechnet sind. D ie wirklich wohlhabende Schicht blieb auf einige zehntausend beschränkt. Aber auch hier zeigte sich eine grundlegende Inhomogenität. Einen nicht unbeträchtlichen Prozent­ satz stellten Ausländer. Ein Teil war aufs engste mit der Bürokratie verfloch­ ten und vom Staat wirtschaftlich abhängig, weil diese Industriellen als Vertreter der Schwerindustrie auf Staatsaufträge angewiesen blieben. Dieser Gruppe, die man vereinfachend die Petersburger Industrie genannt hat, standen die ›Moskaucr‹ gegenüber, die auf die Konsumindustrie - die Textil­ industrie - orientiert, im wesentlichen ohne Staatsaufträge auskamen. Aber auch sie spielten vor der Revolution von 1905 keine eigenständige Rolle. Die Konzentration in der Industrie mag ein übriges getan haben, die Zahlen der Bourgeoisie klein zu halten.24 D ie kleinen Handwerk und Handel treiben­ den Unternehmer blieben eher konservativ bis reaktionär, auf ständische 522 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Verhaltensmuster fixiert, was die leichte Mobilisierbarkeit dieser Gruppen für antijüdische Pogrome und ihre Neigung zu reaktionären und antise­ mitischen Parteien beweist. D ie nicht unbeträchtliche Zahl der auf dem Lande Handel und Handwerk treibenden Schichten war eher vom Land und seinen Verhaltensmustern geprägt und zeigte in Krisenzeiten allenfalls soziale bzw. ständische Ressentiments, oft gepaart mit einer reaktionären Grundeinstellung.25 Wie stark der Staat das potentielle Personal für bür­ gerliche Schichten in Anspruch nahm, zeigt die Tatsache, daß Beamte und Offiziere die größte Gruppe derjenigen stellten, die mehr als 2000 Rubel im Jahr verdienten.26 Unter der Intelligenz im weitesten Sinne waren Be­ amte und Offiziere das wichtigste Element.27 Die gesellschaftlichen Schichten, die ein liberales Programm hätten tra­ gen können, waren also schwach und in sich inhomogen. Auch die Träger eines gouvernementalen Liberalismus blieben bis in die Revolution von 1905 hinein noch zu schwach, um entscheidend über den Entwurf eines neuen Programms staatlicher Reformen hinauszukommen.28 Zudem lehnte eine Gruppierung der Bürokratie, mit der möglicherweise ein Teil­ programm liberaler Reformen durchzusetzen gewesen wäre, ebenso wie der liberale Adel die Wirtschaftspolitik des Finanzministeriums ab. Erst unter dem D ruck der wachsenden Opposition und der Niederlagen im Krieg gegen Japan begann man zögernd mit einer neuen Politik. Nach der Ermordung von V. K. Pleve setzte der neue Innenminister SvjatopolkMirskij einige kleinere Konzessionen durch. Körperstrafen für Bauern be­ seitigte ein kaiserlicher Erlaß, für Juden gab es einige Erleichterungen. Ein Zarenukaz vom 12.(25.) 12. 1904 versprach weitere Reformen, z. B. die Bauern der übrigen Bevölkerung rechtlich gleichzustellen, die Unabhän­ gigkeit der Gerichte zu sichern, die Möglichkeiten der administrativen Beschneidung bürgerlicher Rechte einzuschränken, eine eigene Verwal­ tungsgerichtsbarkeit einzuführen, die Rolle der Zemstva zu stärken, wei­ tere Arbeiterversicherungen zu schaffen, D iskriminierungen von religiö­ sen Minderheiten abzubauen, mehr Pressefreiheit zu gewähren u.a. 29 Al­ lerdings scheiterte der Innenminister mit dem Herzstück seines gewiß nicht radikalen Programms: D er Zar lehnte eine gewählte, aber nur geset­ zesberatende Kammer ab. Von jetzt an stolperte die zarische Bürokratie immer zu spät, um noch Wirkung zu erzielen - nach jeder weiteren Stei­ gerung der revolutionären Bewegung von Konzession zu Konzession, die sie vergeblich mit Repressionsmaßnahmen zu koppeln suchte. D ies gilt gerade auch für das unter dem Eindruck des Blutsonntags vom 9. (22). 1. 1905 und der Ermordung des Zarenonkels Sergej gegebene Versprechen einer gesetzesberatenden Versammlung. D ie Konkretisierung des Wahl­ rechts im August sollte ebenfalls dazu beitragen, die Opposition der Oberschichten zu mildern oder zu beenden. Eine Reform des Universi­ tätsgesetzes, das die Autonomie der Universitäten wiederherstellte, zielte in dieselbe Richtung. All dies hatte den Zweck, das System ohne ein523 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

schneidende Veränderungen zu stabilisieren.30 Partielle Liberalisierungen sollten die Opposition spalten. Im Revolutionsjahr 1905 sah sich die zarische Regierung einer wachsen­ den oppositionellen Einheitsfront gegenüber. Zu dieser gehörte praktisch die gesamte Intelligenz und ein großer Teil der Angestellten, die liberale und die gemäßigte Gutsbesitzerschaft aus der Zemstvo-Bewegung und Vertreter von Handel und Industrie, wobei man allerdings den Kleinhandel und die alte ständische Kaufmannschaft nicht einrechnen darf Neben diese Gruppen traten mit viel weitergehenden Forderungen die revolutionäre Arbeiter­ schaft und die Bauern. In der ersten Phase der Revolution bis fast zum Oktober 1905 spielte die in den verschiedensten Organisationen sich formie­ rende nicht parteigebundene Intelligenz die führende Rolle. 31 Ein liberales Programm entwickelte neben der von einem Teil des Adels getragenen Zemstvo-Opposition praktisch nur der fortschrittlichere Teil der russischen Industriebourgeoisie, die mit ›Moskaucr Flügel‹ eigentlich falsch beschrie­ ben ist, da auch ein beträchtlicher Teil der Moskauer sich nicht zur Forde­ rung nach einer Volksvertretung mit Gesetzgebungskompetenz, aber ohne Ministerverantwortlichkeit, durchringen konnte. Aber dieses liberale Pro­ gramm entstand auch erst, nachdem die Erfahrungen mit den Experimenten des ›Polizeisozialismus‹32 im Blutsonntag geendet hatten und die Industriel­ len jetzt befürchteten, der Staat wolle unter dem Druck der Revolution die Arbeiter vor allem mit wirtschaftlichen Konzessionen zu Lasten der Indu­ strie befrieden. Konsequenterweise verlangte man auch, der Staat solle sich in Zukunft aus den Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern heraushalten und Koalitionsfreiheit und Streikrecht gewähren.33 D iese bei­ den Forderungen verstummten nach der Stabilisierung des Systems auf der Basis des Oktobermanifests und des Staatsstreiches vom 3. (16.) Juni 1907 allerdings weitgehend. Von den anderen oppositionellen Gruppen, die für eine Volksvertretung mit Gesetzgebungsrecht eintraten oder gar für eine Parlamentarisierung, wurden die Grenzen eines liberalen Programms schon sehr früh im Jahr 1905 insofern überschritten, als man eine gänzliche oder teilweise Enteignung des Gutsbesitzerlandes zu einer unter den Marktprei­ sen liegenden Entschädigung forderte. D ies signalisierte aber im Selbstver­ ständnis der Akteure keine grundsätzliche Abkehr von einem liberalen Programm. Vielmehr zeigten sie sich mit gutem Grund davon überzeugt, daß das von ihnen favorisierte liberal-demokratische - oder konstitutionell­ demokratische - Modell nur so zu verwirklichen sei. Man befürchtete, daß sonst die liberale Gutsbesitzerschaft und die mit ihr verbündete liberale und demokratische Intelligenz zwischen der Masse der Bauernschaft, die sonst rechtsradikalen Gruppen folgen könnte, und der Regierung zerrieben wür­ den.34 Erst im Oktober 1905, unter dem D ruck des ersten Generalstreiks der russischen Geschichte, erarbeitete man in der Bürokratie ein umfassendes Konzept staatlicher Politik zur Überwindung der Revolution. Es war der 524 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

ehemalige Finanzminister Vitte, der zusammen mit anderen reformwilligen Elementen der Bürokratie und in Konsultation mit einzelnen, nicht autori­ sierten Vertretern der Zemstvo-Bewegung ein Programm der Reformen und vor allem der K onstitutionalisierung des Reiches entwarf, ohne den Begriff ›Verfassung‹ zu gebrauchen, da Nikolaus II. dies nicht toleriert hätte.35 Das Zaren-Manifest vom 17.(30.) Oktober 1905 und der im Nach­ spann veröffentlichte Vortrag des neuen Ministerpräsidenten versprachen, außer einer gesetzgebenden Duma - das Wahlrecht auszudehnen, die grund­ legenden bürgerlichen Freiheiten zu verwirklichen und die Gleichstellung aller Untertanen vor dem Gesetz voranzutreiben. Letzteres war vor allem ein Hinweis auf die Bauernfrage und die Probleme der nationalen Minder­ heiten. Ein kaiserlicher Erlaß vom 19. 10. (1. 11.) reorganisierte den Mini­ sterrat, dessen Vorsitzender zum ersten Mal mit wirklichen Befugnissen ausgestattet wurde. Damit war eine wichtige Voraussetzung für ein konsti­ tutionelles K abinett geschaffen.36 Der Begriff ›Verfassung‹ kam zwar auch in den Grundgesetzen vom April 1906 nicht vor, doch wird man sagen müssen, daß zumindest nach dem Staatsstreich vom 3. (16.) Juni 1907, durch den der Zar einseitig das Wahlrecht änderte, das politische System immer mehr den Charakter einer konstitutionellen Monarchie annahm. 37 Unter dem Druck der revolutionären Bewegung, vor allem der Agrarun­ ruhen, spielte man auch in Regierungskreisen mit dem Gedanken, über im engeren Sinne liberale Programme hinauszugehen: Zuerst entstanden in Hofkreisen Pläne zur Landverteilung, dann erarbeitete das Landwirtschafts­ ministerium ebenfalls ein Programm zur Enteignung von Gutsbesitzerland. Dieses ließ man schnell wieder fallen. Aber die Abschaffung der Loskaufzah­ lungen, die das Befreiungsstatut von 1861 den Bauern auferlegt hatte, mach­ te endgültig den Weg frei für einen Auszug der Bauern aus der Obščina.38 Daß dieses Programm des gouvernemcntalen Liberalismus in seiner Reich­ weite sehr stark von der jeweiligen politischen Konjunktur, von der Selbst­ sicherheit des Systems abhing, das allmählich wieder die Oberhand gewann, läßt sich auch an einem weiteren Beispiel zeigen: Während das im Dezember 1905, zum Zeitpunkt des bewaffneten Aufstandes der Arbeiter verabschie­ dete Wahlrecht relativ demokratisch war, hatten die Grundgesetze vom April 1906 vor allem den Sinn, den zu wählenden Volksvertretern Grenzen zu setzen und deutlich zu machen, daß der zarische Staat die Bedingungen der Zusammenarbeit zwischen ›Staat‹ und ›Gesellschaft‹ selbst bestimmen wollte. 39 Nach dem Sturz Vittes trat aber erst vor die Zweite Duma wieder ein Regierungschef, der wußte, was er wollte, und der bereit war, sich mit hohem Einsatz und Risiko durchzusetzen.40 Das Programm des neuen Ministerpräsidenten Petr Stolypin sah eine Reihe von liberalen Maßnahmen vor: die Angleichung der bäuerlichen Rechtssphäre an die der anderen Bevölkerungsschichten, die Auflösung der Obščina, mit der Absicht, einen Stand individueller, wirtschaftlich starker bäuerlicher Eigentümer zu schaffen, der in Zukunft als Stütze des neuen 525 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Systems dienen sollte. D ie Bahn wurde freigemacht für den unternehmen­ den und tüchtigen Bauern, den man von den Fesseln der alten paternalisti­ schen Gesetzgebung befreite. D ie neue Klasse sollte den Adel als Stütze des Systems zumindest teilweise ablösen. Von der seit Jahrzehnten gehegten und gepflegten Ideologie der Opeka (Schutz), aufgrund derer man glaubte, eine Proletarisierung der Bauern verhindern zu müssen, wandte man sich weit­ gehend ab. Weitere wichtige Punkte des Programms der Regierung waren eine Reform und Erweiterung der ländlichen Selbstverwaltung, die Lösung der lokalen Verwaltung aus den letzten Klammern des Ständeprinzips, eine Reform der bäuerlichen Rechtssphäre, die allgemeine Schulpflicht, die Gleichstellung religiöser Minderheiten u.a. D as Agrarprogramm ließ sich aber mit einer Volksvertretung aufgrund des geltenden Wahlrechts nicht verwirklichen. Nur kleine gesellschaftliche Gruppen, die weder publizi­ stisch, noch bei Wahlen Gewicht gewinnen konnten, unterstützten es. Die Regierung entschloß sich, den gordischen Knoten zu zerschlagen, indem sie die Zweite D uma auflöste und gleichzeitig in einem Staatstreich ein neues Wahlrecht verordnete, nachdem man bereits vor dem Zusammentritt der Dritten Duma ebenfalls durch ›Notverordnungsrecht‹ das eigene Agrarpro­ gramm in Gang gesetzt hatte. D as neue Wahlrecht verschob die Gewichte stark zugunsten des Gutsbesitzes und der städtischen Oberschichten und benachteiligte zugleich die nicht-russischen Minderheiten. D ieser zweite Aspekt verweist auf eine weitere Komponente der Politik im ›System des 3. Junic D as zarische Rußland sollte zunehmend durch einen Appell an den Nationalismus der Großrussen stabilisiert werden. Im Laufe der Zeit schien das nationalistische Element das gouvernemental-liberale in den Hinter­ grund zu drängen. 41 Die Politik, die man als gouvernemental-liberal bezeichnen könnte, be­ gann also mit einem Sündenfall wider den liberalen Geist, wie auch die Verwirklichung des liberal-demokratischen Programms, für das die Partei der Konstitutionellen D emokraten42 stand, unter Verletzung klassisch-libe­ raler Prinzipien, mit einer Landenteignung begonnen hätte. Daß die Regie­ rung Stolypin ihren Kurs mit einem Verfassungsbruch begann, zielte nicht gegen die neue quasikonstitutionelle Ordnung, sondern vielmehr darauf, sie gegen den Widerstand von rechts abzusichern und mit den kooperationswil­ ligen Elementen der Gesellschaft, die auf einer Verfassung bestanden, ein Bündnis einzugehen. Ein Programm auf der Linie des skizzierten gouverne­ mentalen Liberalismus und der Modernisierung des Landes, aber auch der imperialen Machtentfaltung, sollte dabei die Kooperation erleichtern. Ge­ koppelt war es mit harten Repressionsmaßnahmen, die die Regierung für notwendig ansah, um die immer noch züngelnden Flammen der Revolution auszutreten.43 Die gesellschaftliche Basis dieser Politik bildeten die konservativ-liberalen Gutsbesitzer, der Minderheitenflügel der Zemstvo-Bewegung, der vor 1905 meist nur eine beratende D uma gefordert hatte und der nun, nach dem 526 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

17. Oktober, auch innerlich auf den Boden der neuen Ordnung trat. Er organisierte sich vor allem im Bund des 17. Oktober, der nach der Wahl­ rechtsänderung von 1907 die bei weitem stärkste Kraft in der Volksvertre­ tung wurde. Unterstützt haben diesen Kurs der Regierung auch weite Kreise der Industrie, vor allem die ›Petersburger‹ und die Bergbau-, Eisen- und ErÖlindustrie im Süden und Südosten des Reiches, welche auch personell immer mehr mit den Spitzen der Petersburger Bürokratie, aber auch der Banken zusammenwuchsen, die eine immer stärkere Rolle in der Industrie­ finanzierung übernahmen. D ie hier verbreitete Tendenz zu monopolartigen Zusammenschlüssen wurde von der Regierung nicht unterbunden und zeit­ weise sogar gefördert. D er Staat stützte Teile der Industrie durch massive Rüstungsaufträge. Aber die Interessen von Landwirtschaft und Industrie konnten auch in diesem Zeitraum nicht wirklich harmonisiert werden, so daß die gesellschaftliche Basis für den Kurs des ›gouvernementalen Liberalismus‹ brüchig blieb. D ie Agrarier kämpften gegen die Monopole und, schwerwiegender noch für manche Branche, gegen die staatliche Hoch­ schutzzollpolitik, auf welche die russische Industrie noch glaubte angewie­ sen zu sein. Allein innerhalb der Fraktion der Union des 17. Oktober fanden Vertreter der Industrie einen Rahmen, der sie mit den Vertretern des konser­ vativ-liberalen Gutsbesitzerstandes zusammenführte. Allerdings blieben sie eindeutig auf die Rolle des Juniorpartners verwiesen. 44 D ie Industriellen zogen es deshalb einer alten Tradition folgend vor, in direkter Konsultation mit der Bürokratie ihre Anliegen vorzubringen und nicht über die D uma und die Parteien, in denen sich, wenn überhaupt, immer nur ein Teil der Industrie repräsentiert fühlte. Im politischen und gesellschaftspolitischen Bereich übte ein großer Teil der Vertreter der Industrie Enthaltsamkeit.45 Den aktiveren Elementen der ›Moskauer‹, die weniger von der Regierung abhingen, war eine solche Haltung allerdings zu quietistisch. Sie versuchten, als die vom Staat versprochenen Reformen stecken zu bleiben drohten,46 durch die Gründung der ›Progressiven Partei‹ und durch ihre Arbeit in den Verbänden der russischen Industrie, diese für einen aktiveren Kurs zu ge­ winnen. D ie Vorstellung war, die Bourgeoisie auch politisch zu formieren und durch ein Bündnis mit Teilen der berufsständischen Intelligenz und des Gutsbesitzes zu stärken. Obwohl sich tieferliegende Umstrukturierungen andeuteten, die längerfristig ein Bürgertum in einer mehr ›europaischen‹ Form und eine liberale Klassenpartei hätten entstehen lassen können, zeigten solche Bemühungen vor Kriegsausbruch keine praktischen Auswirkungen mehr.47 Nicht aus dieser Ecke drohte jedoch dem Kurs des gouvernemcntalen Liberalismus die größte Gefahr, sondern von rechts, vom legitimistischen Adel, der bereits 1907 die Beseitigung der Verfassung verlangte und dem einflußreiche Hofkreise und wohl auch der Zar selbst zuneigten.48 Maßnah­ men, die auf eine Stärkung der konstitutionellen Entwicklung des Reiches hinausliefen, trafen auf entschiedenen Widerstand im Reichsrat, dem russi527 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

schen ›Oberhaus‹. Rechtsradikale Kräfte, extrem nationalistisch und antise­ mitisch, machten Front selbst gegen das Kernstück des Stolypinschen Pro­ gramms, gegen die Bauernpolitik.49 Der Kurs des gouvernementalen Libe­ ralismus ließ sich immer schwerer durchhalten. Erleichterungen für religiö­ se Minderheiten wie für die Juden und, wichtiger noch, die Altgläubigen scheiterten. Die Reform der Zemstva kam kaum voran, ebenso wie die Reform der lokalen Verwaltung.50 Die Bauern in die allgemeine Rechts­ sphäre und die K ompetenz allgemeiner Gerichte einzubeziehen, bereitete große Schwierigkeiten und ließ sich gegen den wachsenden Widerstand von rechts nur ansatzweise verwirklichen. Die Rechte sah in solchen Projekten nur den gefährlichen Geist der égalité und ein Signal dafür, daß die konstitu­ tionelle Ordnung Fuß faßte. Nach den ersten Krisen des Jahres 1909 ließen sich deshalb liberale Maßnahmen, wie es im Grunde in Stolypins K urs angelegt war, nur noch dann durchsetzen, wenn sie mit nationalen Anliegen verbunden waren. Deutlich wurde dies vor allem bei der schweren K abi­ netts- und Verfassungskrise um die Einführung der ländlichen Selbstverwal­ tung in sechs westlichen Gouvernements im Jahr 1911. Die Gegner des gouvernementalen Liberalismus auf der Rechten brachten den Gesetzent­ wurf der Duma mit dem Argument zu Fall, daß hier letztlich nur eine Politik betrieben werde, die darauf ziele, die Macht des Monarchen weiter zu beschneiden. Besonderen Argwohn erregte wohl die Tatsache, daß die Duma zum ersten Mal Bauern mit Grundbesitz außerhalb der Obščina bei Wahlen eine besondere Rolle zuschrieb, wie sie bisher allein den Gutsbesit­ zern vorbehalten war. Stolypin setzte dieses Gesetz während einer kurzfristi­ gen Vertagung beider Häuser der Volksvertretung - wohl unter Bruch der Verfassung, zumindest aber unter Verletzung der konstitutionellen Etikette - durch kaiserliche Verordnung in der Form in K raft, in der es die Duma verabschiedet hatte. Die Absicht hinter diesem Vorgehen lag mit Sicherheit darin, auf einen Schlag die immer mehr ins Zwielicht geratene Politik des Premiers auf lange Sicht gegen seine Widersacher von rechts abzusichern. Aber der Preis für diesen Triumph war zu hoch: Der Premier verlor die Unterstützung der Dumamehrheit.51 Was als entscheidender Durchbruch für die Politik des gouvernementalen Liberalismus gedacht war, erwies sich als sein Zusammenbruch. Nach der Ermordung des Premiers ein halbes Jahr später, verlor der ›gouvernementale Liberalismus‹ auch seine institutionelle Voraussetzung. Unter dem Bemühen des Zaren um ein stärker persönliches Regiment zerfiel das K abinett als ein einheitliches K ollektivorgan immer mehr, wobei die einzelnen Minister oft eine Politik verfolgten, die der anderer K ollegen diametral zuwiderlief Die gesellschaftlichen K räfte, die den Kurs Stolypins gestützt hatten, gerieten in die Defensive oder orientier­ ten sich auf die Opposition hin um. Für die Entstehung eines gouvernementalen Liberalismus in Rußland war sicher von großer Wichtigkeit, daß ein Bürgertum, das als Träger einer liberalen Bewegung hätte auftreten können, sich nur in Ansätzen zeigte. 528 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6

Wegen der Rückständigkeit des Russischen Reiches, wo die Schwäche des russischen Bürgertums nur ein Strukturproblem unter anderen war, mußte das System selbst die Modernisierung des Landes in Angriff nehmen. An­ fangs geschah das in der Erwartung, daß dies keine Änderung der politi­ schen Strukturen des Reiches nach sich ziehen werde. Aber diese Form der defensiven Modernisierung stieß sich schon bald an den Grenzen der alten Sozialordnung. Sie rief eine Opposition gegen die Industrialisierungspolitik des Staates hervor, die sich zu einem großen Teil - zum ersten Mal überhaupt in Rußland - als liberale Bewegung formierte, mit einer erkennbaren sozia­ len Basis aus Teilen des Gutsbesitzes und der Intelligenz, aber nicht aus bürgerlichen Schichten im engeren Sinn. Auch konservative Adlige be­ kämpften diese Politik. D as Bürgertum und die Bourgeoisie waren zu inhomogen und zu schwach, um als Einheit aufzutreten oder um vor 1905 energisch mit politischen Forderungen aufzuwarten. Zudem glaubten gera­ de große Teile der Bourgeoisie, in ihren Auseinandersetzungen mit der erwachenden Arbeiterbewegung auf den Staat angewiesen zu sein. D ies verhinderte eine Entwicklung, die zu einer umfassenden Bejahung liberaler Prinzipien in bürgerlichen Schichten geführt hätte. Der Staat, genauer, Teile der Bürokratie, übernahm hier Aufgaben, die eine starke liberale Bewegung sich hätte stellen können. Unterstützung für liberale Reformen gab es aber nur bei Kräften, die die herkömmliche ›bürokratischc‹ Form des Regierens ablehnten und deshalb bei aller ziemlich weitgehenden Übereinstimmung im Programmatischen eine Zusammenarbeit ablehnten, so lange nicht eine Volksvertretung geschaffen war. Erst die Revolution von 1905 gab dem gouvernemcntalen Liberalismus die Stoßkraft, sein im Grunde schon zuvor entwickeltes Programm in Gang zu setzen. Gouvernementaler Liberalismus war dabei auch ganz wesentlich als antirevolutionäre Strategie konzipiert. Sein Problem blieb, daß er immer nur als eine Möglichkeit staatlichen Handelns gesehen wurde und daß die Kräfte, die eine konservativere oder gar reaktionäre Politik betreiben wollten, ihn nur als Stabilisierungsstrategie sahen, die es in möglichst engen Grenzen zu halten galt. D ies bedrohte wiederum die gesellschaftliche Basis des gouvernemcntalen Liberalismus, ohne die auch im Rußland dieser Zeit keine Politik mehr zu machen war.

Anmerkungen 1 D as ist etwa der Fehler von V. Leontovitsch, Geschichte des Liberalismus in Rußland, Frankfurt 19712, der folgerichtig bei einer D arstellung anlangt, in der ansonsten in der Regel als konservativ geltende Persönlichkeiten oder Gruppen als Liberale gesehen werden. Ähnlich verweigert L. Schapiro den Konstitutionellen D emokraten, die gemeinhin als ›Liberale‹ defi­ niert werden, dieses Etikett, weil sie u. a. eine Enteignung von Gutsbesitz zugunsten der Bauern verlangten, vgl. L. Schapiro, The Pre-Revolutionary Intelligentsia and the Legal Order, und Ders., The Vekhi Group and the Mystique of Revolution, in: D ers., Russian Studies, London

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1986, S. 53—92. Eine modernen Ansprüchen genügende D arstellung des russischen Liberalis­ mus steht noch aus. Siehe auch G. Fischer, Russian Liberalism. From Gentry to Intelligentsia, Cambridge, Mass. 1958. 2 Auch die von Gerschenkron z. B. beobachtete Erscheinung, daß die Industrie in den Ländern mit nachziehender Industrialisierung besonders stark konzentriert war, mag dazu beigetragen haben, das Wachstum der Bourgeoisie zu begrenzen, siehe A. Gerschenkron, Econo­ mic Backwardness in Historical Perspective, Cambridge, Mass. 1962. 3 H.J. Torke, Das Russische Beamtentum in der Ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: FOG 13, 1967. 4 D . K. Rowney u. W. M. Pintner (Hg.): Russian Officialdom. The Bureaucratization of Russian Society from the Seventeenth to the Twentieth Century, London/Basingstoke 1980. 5 Th. H. von Lane, Sergei Witte and the Industrialization of Russia, Columbia 1963; G. von Schulze-Gävemitz, D er Nationalismus in Rußland und seine wirtschaftlichen Träger, in: PJ 1 - 3 , 1894. 6 Zum Begriff der defensiven Modernisierung s. C. Black, The Dynamics of Modernization, New York 1966: D. Rüschemeyer, Partielle Modernisierung, in: W. Zapf (Hg.), Theorien sozia­ len Wandels, Köln 1969, S. 382-396. 7 Zur Rolle des reaktionären Adels siehe S. Becker, Nobility and Privilege in Late Imperial Russia, D eKalb/Ill. 1985, S. 55ff.; H. D. Lowe, D ie Auseinandersetzung um die staatliche Industrialisierungspolitik. Angriffe auf das Witte-System und adlige Interessenvertretung, in: Handbuch der Geschichte Rußlands, hg. von M. Hellmann u. a., Bd. 3: Von den autokratischen Reformen zum Sowjetstaat (1856-1945), hg. von G. Schramm, Stuttgart 1981, S. 2 4 6 - 2 5 1 ; H. D. Löwe, Antisemitismus und reaktionäre Utopie. Russischer Konservatismus im Kampf gegen den Wandel von Staat und Gesellschaft, 1890-1917, Hamburg 1978, S. 26 ff., 125 ff. und passim. 8 Vgl. dazu D . Beyrau in diesem Band. 9 P. A. Zaionchkovsky, The Russian Autocracy in Crisis, 1878—1882. ed. and transl. by G. M. Hamburg, Gulf Breeze, Fl. 1979. 10 Zur Steuerpolitik von Bunge und zur Abschaffung der Kopfsteuer für Bauern siehe die noch unveröffentlichte Freiburger D issertation: S. Plaggenborg, Staatsfinanzen und Industriali­ sierung in Rußland. D ie Bilanz der Steuerpolitik für Fiskus, Bevölkerung und Wirtschaft, 1881 — 1903, Freiburg 1986; sie soll in den Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte (Bei­ lin) erscheinen. 11 Zu Wittes Credo in dieser Zeit s. von Laue; zum Witte-System: H. D. Löwe, Von der Industrialisierung zur Ersten Revolution, 1890 bis 1904, in: Schramm (Hg.), Handbuch, S. 213ff. 12 Zemstva hießen in Rußland die Organe der ländlichen Selbstverwaltung, aus denen sich in den neunziger Jahren eine Bewegung gegen die Wittesche Wirtschaftspolitik, für mehr Öffentlichkeit (›gIasnost'‹) in den Regierungsgeschäften, für mehr Rechtsstaatlichkeit und schließlich für die Konstitutionalisierung des Reiches entwickelte. 13 Zur Entwicklung einer neuen Konzeption der Bauernpolitik in Konkurrenz zwischen Innen- und Finanzministerium s. H. D. Löwe, Die sozialen Probleme auf dem Land, in: Schramm (Hg.), Handbuch, S. 251-258; ausführlich D . A. Macey, The Russian Bureaucracy and the »Peasant Problem«. The Pre-History of the Stolypin Reforms, 1861-1907, Ph. D. Columbia University 1976. 14 von Laue, S. 19. 15 Löwe, Antisemitismus, S. 26ff. 16 Η. D. Löwe, Die Arbeiterfrage. Unfähigkeit zur Abkehr von der paternalistischen Ideolo­ gie, in: Schramm (Hg.), Handbuch, S. 258-265, dort weitere Literatur. 17 Allgemeine Darstellung: V.Ja. Laveryčev, K rupnaja buržuazija v poreformennoj Rossii, 1861 — 1917. Moskau 1974; s. auch die in Anm. 24 zit. Werke von Owen und Rieher. 18 Dazu Plaggenburg, passim. 19 Siehe K . Fröhlich, The Emergence of Russian Constitutionalism 1900-1904, Den Haag

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1981; Siehe auch Fischer, kurze Darstellung auf deutsch: H. D. Löwe, Intelligenz und Zemstvo­ Bewegung. Agrarische Opposition und Anspruch auf Mitbestimmung, in: Schramm (Hg.), Handbuch, S. 304-315. 20 Ebd. 21 S. Galai, The Liberation Movement in Russia, 1900-1905, Cambridge 1973. 22 Hier schlossen sich Organisationen der genannten Berufsgruppen zusammen; dazu H. D. Löwe, Die Rolle der Intelligenz in der Revolution von 1905, in: FOG 32, 1983; S. Galai, The Role of the Union of Unions in the Revolution of 1905, in: JGO 24, 1976. 23 O. W. Müller, Intelligencija. Untersuchungen zur Geschichte eines politischen Schlag­ wortes, Frankfurt 1971; R. Pipes (Hg.), D ie russische Intelligenz, Stuttgart 1962; A. Besançon, Éducation et société en Russie dans le second tiers du XIXe siècle, Paris/D en Haag 1974; D. R. Brower, Training the Nihilists. Education and Radicalism in Tsarist Russia, Ithaca, N. Y./ London 1975. 24 Zur Entwicklung der städtischen Schichten s. den Überblick von M. Hildermeier, Sozialer Wandel im städtischen Rußland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: JGO 25, 1977, S. 526-566, dort weitere Literatur; V. Bill, The Forgotten Class. The Russian Bourgeoisie from the Earliest Beginning to 1900, New York 1959; A.J. Rieber, The Moscow Entrepreneurial Group: The Emergence of a New Form in Autocratic Politics, in: JGO 25, 1977, S. 1-20, 174-199; Th. C. Owen, Capitalism and Politics in Russia. A Social History of the Moscow Merchants, 1855-1905, Cambridge 1981. Zur Konzentration der Einkommen siehe V. S. Dja­ kin, Samoderžavvie, buržuazija i dvorjanstvo v 1907-1911 gg., Leningrad 1978, S. 6; zur Konzentration der Arbeiterschaft H. D. Löwe, Wirtschaftspolitik, S. 227f., dort weitere Litera­ tur. Die staatliche Steuerreform mag zu dieser Konzentration beigetragen haben, siehe Plaggen­ hurg, passim; Α. Gerschenkron allerdings hat diese als ein allgemeines Zeichen der nachholen­ den Industrialisierung beschrieben, s. Gerschenkron, passim. 25 Zur antisemitischen Haltung der städtischen Schichten während der Judenpogrome im Westen Rußlands: H. D. Löwe, Antisemitismus; vgl. Owen, S. 206ff. 26 D jakin, Samoderžavie, S. 17. 27 L. K.Erman,Sostav intelligencii ν Rossii ν konce XIX i načale XX v.. in: Istorija SSSR 1963, Nr. 1, S. 161-177. Zur Sozialstruktur der Intelligenz siehe D. Geyer, Zwischen Bil­ dungsbürgertum und Intelligenzija. Staatsdienst und akademische Professionalisierung im vorrevolutionären Rußland, in: W. Gonze u. J . Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahr­ hundert, Teil I, Stuttgart 1983, S. 207ff. 28 A. Levin, Russian Bureaucratic Opinion in the Wake of the 1905 Revolution, in: JGO 11, 1963, S. 660-677. 29 Leontovitsch, S. 296ff. 30 H. Gross, Die Politik der Regierung: K ooperation mit der Gesellschaft oder Befriedung durch Gewalt?, in: Schramm (Hg.), Handbuch, S. 370-373; G. Schramm, Zu Vorgeschichte und Ausbruch der russischen Revolution von 1905. Kritik einer polnischen Darstellung, in: JGO 18, 1970, S. 604ff. 31 Löwe, Die Rolle der Intelligenz; Galai, Union. 32 Zu diesen Experimenten der Geheimpolizei mit legalen Gewerkschaften unter den Fitti­ chen der Obrigkeit siehe D. Pospielowsky, Russian Police Trade Unionism. Experiment or Provocation, London 1971;J. Schneiderman, Sergei Zubatov and Revolutionary Marxism. The Struggle for the Working Class in Tsarist Russia, Ithaca, N. Y. London 1976. 33 H. Gross, Die großen Themen der Politik. Die Arbeiterfrage, in: Schramm (Hg.), Hand­ buch, S. 424ff., dort weitere Literatur; J. Hartl, Die Interessenvertretungen der Industriellen in Rußland 1905-1914, Wien/K öln/Graz 1978, S. 24ff.; R. A. Roosa, Russian Industrialist, Poli­ tics and the Labor Reform in 1905, in: RH 2, 1975, Nr. 2, S. 124-148. 34 So z. B. Petr Struve, in: Osvoboždenie 67, 1905, S. 281 ff.; zum Agrarprogramm der Konstitutionell-Demokratischen Partei siehe I. Fleischhauer, The Agrarian Program of the Russian Constitutional Democrats, in: CMRS 20, 1979, S. 173-201. Überzogen sind aus dem oben Dargelegten heraus die Attacken auf die Intelligencija und die Verweigerung des Begriffes

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»liberal« für die Partei der Konstitutionellen D emokraten in älteren Untersuchungen, vgl. die in Anm. 1 zitierten Werke von Leontovitsch und Schapiro. 36 Zu diesen Verhandlungen und zur Politik der Regierung im Jahr 1905 insgesamt siehe H. D. Mehlinger u. J . M. Thompson, Count Witte and the Tsarist Government in the 1905 Revolution, Bloomington, Ind./London 1972. 36 G. S. D octorow, The Introduction of Parliamentary Institutions in Russia D uring the Revolution of 1905-1907, Ph. D. Columbia Univ. 1975; Ders., The Government Program of 17. October 1905, in: RR 34, 1975, S. 123-136. 37 Zu einem ungerechtfertigt negativen Urteil kam Max Weber, Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, in: AfSS 22, 1906; Ders., Rußlands Übergang zum Scheinkonstitutiona­ lismus, in: ebd. 23, 1906, ähnlich u.a. R. Pipes, Rußland vor der Revolution. Staat und Gesellschaft im Zarenreich, München 1977; eine konträre Position vertritt M. Hagen, D ie Entfaltung politischer Öffentlichkeit in Rußland 1906-1914, Wiesbaden 1982. 38 Macey, S. 446ff.; T. B. Rainey, Sergei Witte and the Peasant Problem, 1901-1905, Buffa­ lo, Ν. Y. 1973. 39 G. S. Doctorow, The Fundamental State Laws of 23. April 1906, in: RR 35, 1976, S. 33-52; Mehlinger u. Thompson, S.289ff.; M. Szeftel, The Russian Constitution of April 23, 1906, Bruxelles 1976. 40 V. A. Maklakov, The First State Duma, Bloomington, Ind. 1964; G. Tokmakoff, Stolypin and the Second Duma, in: SEER 50, 1972, S. 4 9 - 6 2 . 41 Eine Monographie über Programm und Politik von P. A. Stolypin, die allen Ansprüchen genügen würde, steht noch aus, vgl. A. Levin, Peter Arkad'evich Stolypin. A Political Reap­ praisal, in: J M H 37, 1965, S. 445—463; M. S. Conroy, Peter Arkad'evich Stolypin. Practical Politics in Late Tsarist Russia, Boulder, Col. 1976; G. A. Hosking, The Russian Constitutional Experiment. Government and D uma 1907—1914, Cambridge 1974. 42 Eine Monographie zu dieser Partei fehlt, kurze Charakteristik bei H. D. Löwe, D ie Konstitutionellen D emokraten. D emokratisierung ohne Gewalt, in: Schramm (Hg.), Hand­ buch, S. 4 0 1 - 4 0 6 . 43 Sowjetische Historiker haben diesen Kurs Stolypins als bonapartistisch beschrieben, vgl. H. Giertz, Zu einigen Fragen des Stolypinischen Bonapartismus, in: JGSLE 14, 1970, Nr. 2, S. 167—177; zur Kritik an diesem Konzept siehe M. Hagen, D er russische ›Bonapartismus‹ nach 1906. Genese und Problematik eines Leitbegriffs in der sowjetischen Geschichtswissenschaft, in: JGO 24, 1976, S. 369-393; und H. D. Löwe, D ie neue Ordnung und ihre Chancen, in: Schramm (Hg.), Handbuch, S. 455—462. Es erscheint angebrachter, hier von einer Politik des gouvernementalen Liberalismus zu sprechen. 44 Zu den Oktobristen E. Birth, D ie Oktobristen, Stuttgart 1974; auch H.D .Löwe, D ie Oktobristen. D ie Partei des Status quo, in: Schramm (Hg.), Handbuch, S. 397-400, dort weitere Literatur. 45 Vgl. dazu H. Haumann: Kapitalismus im zaristischen Staat, 1906-1917, Hain 1980. 46 In der Aufgeregtheit der Zeit ging unter, daß beileibe nicht alle Reformen steckenblieben. Ein Bereich, in dem ein großer Erfolg im Kampf um die Schaffung von mehr Rechtsstaatlich­ keit errungen wurde, war die Beseitigung der administrativen Verbannung, vgl. V. Rabe, D er Widerspruch zwischen Rechtsstaatlichkeit und strafender Verwaltung in Rußland 1881 - 1917, Karlsruhe 1985. Zwiespältiger ist das Bild bei der Reform der lokalen Verwaltung und Selbst­ verwaltung, vgl. N. B. Weissman, Reform in Tsarist Russia: The State Bureaucracy and Local Government, 1900-1914, New Brunswick, N.J. 1981. In der Angelegenheit der ländlichen Kreditkooperativen wurde der Staat ebenfalls zunehmend aktiv und gab seine restriktive Haltung weitgehend auf, Mitteilung von Thomas Markowsky, Freiburg. 47 Vgl. Th. Steffens, D ie Progressisten. Vertreter des Reformflügels der Industrie, in: Schramm (Hg.), Handbuch, S. 400f., dort weitere Literatur. 48 D azu vor allem D jakin, Samoderžavie. 49 Löwe, Antisemitismus, S. 125ff., 1 0 9 - 1 1 3 ; Hosking, S. 9 7 - 1 0 0 , 179. 50 Zur allgemeinen politischen Entwicklung siehe Hosking; A. Ja. Avrech, Stolypin i tret'ja

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du ma, Moskau 1968; zum Scheitern der Reform der lokalen Verwaltung und der Zemstva: V. S. Djakin, Stolypin i dvorjanstvo (Proval mestnoj reformy), in: Problemy krest'janskogo zemlevladenija i vnutrennoj politiki Rossii, Leningrad 1972, S. 231—274. 51 E. Chmielewsky, Stolypin's Last Crisis, in: CSS 3, 1964, S. 95—126; A.Ja. Avrech, Vopros ο zapadnom zemstve i bankrotstvo Stolypina, in: Istoričeskie Zapiski 70, 1961, S. 61-112.

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Abkürzungsverzeichnis

ADAV AfB AfÖG Aß AfSS AH AHVN AUSB BNZ BVZ GEH CMRS CSS DFP DR EHH EHR FHS EOG Fs. GG GWU HZ IZ Jb.,Jbb. JGO JGSLE JMH JMO KZ LZ MIÖG MÖStA MS NRS NRV ÖGL PP PVS RBPH REc

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Tagungsteilnehmer und Autoren (ohne die Mitglieder der ZiF-Forschungsgruppe)

Prof. Dr. Joaquín Abellán, Univ. Complutense, Madrid, Spanien. Prof. Dr. Pierre Ayçoberry, Universite des Sciences Humaines, Strasbourg. Frankreich. Privatdozent Dr. Dietrich Beyrau, Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Prof. Dr. Harm-Hinrich Brandt, Universität Würzburg. Dr. John Breuilly, University of Manchester, England. Dr. Franz-Josef Brüggemeier, Fern Universität Gesamthochschule, Hagen. Prof. Dr. István Diószegi, Eötvös Loránd Tudományegyetem, Universität Budapest, Ungarn. Privatdozent Dr. Christof Dipper, Universität Trier. Dr. Dieter Dowe, Institut für Sozialgeschichte, Bonn. Dr. Geoff Eley, University of Michigan, Ann Arbor, USA. Prof. Dr. Lothar Gall, Universität Frankfurt. Dr. András Gergely, Eötvös Lorónd Tudományegyetem, Universität Budipest, Ungarn. Prof. Dr. Dietrich Geyer, Universität Tübingen. Prof. Dr. Heinz-Gerhard Haupt, Universität Bremen. Dr. Vilmos Heiszier, Eötvös Loránd Tudományegyetem, Universität Budipest, Ungarn. Dr. Lothar Höbelt, Universität Wien. Prof. Dr. Rainer Hudemann, Universität des Saarlandes, Saarbrücken. Dr. Gangolf Hübinger, Universität Freiburg. Dr. Wolfgang Kaschuba, Universität Tübingen. Dr. Klaus Koch, Universität Wien. Dr. Gerd Krumeich, Universität D üsseldorf. Prof. Dr. Dieter Langewiesche, Universität Tübingen. Dr. Friedrich Lenger, Universität Tübingen. Dr. Carola Lipp, Universität Tübingen. 536

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Dr. Heinz-Dietrich Löwe, Oxford Institute of Postgraduate Hebrew Studies, Wolfson College, Oxford, England. Dr. Anna Gianna Manca, Istituto storico italo-germanico in Trento, Italien. Dr. Marco Meriggi, Universita' degli studi di Trento, Italien. Prof. Dr. Wolfgang J . Mommsen, Universität D üsseldorf. Rudolf Muhs, School of East European and Slavonic Studies, London. Prof. Dr. Thomas Nipperdey, Universität München. Prof. Dr. Herbert Obenaus, Universität Hannover. Dr. Toni Offermann, Kall-Wallenthal. Prof. Dr. Karl Rohe, Universität Essen. Prof. Dr. Pierangelo Schiera, Istituto storico italo-germanico in Trento, Italien. Prof D r. James J . Sheehan, Stanford University, USA. Prof. Dr. Jean Stengers, Universite Libre de Bruxelles, Belgien. Prof. Dr. Hartmut Ullrich, Gesamthochschule Kassel. Prof. Dr. Barbara Vogel, Universität Hamburg. Dr. Ursula Vogel, University of Manchester, England.

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Jürgen Kocka (Hg.) - Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert Fünfzehn Beiträge. 1987. 317 Seiten mit 6 Abbildungen im Text, Paperback. Sammlung Vandenhoeck

Ute Frevert (Hg.) · Bürgerinnen und Bürger Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Zwölf Beiträge. Mit einem Vorwort von Jürgen Kocka. 1988. 216 Seiten, kartoniert. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 77

Hannes Siegrist (Hg.) · Bürgerliche Berufe Zur Sozialgeschichte der freien und akademischen Berufe im internationalen Vergleich. Acht Beiträge. Mit einem Vorwort von Jürgen Kocka. 1988. 223 Seiten, kartoniert. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 80

Wolfgang Schieder (Hg.) · Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz 1983. 363 Seiten mit einem Schaubild, kartoniert. Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 9

Karl Holl / Günther List (Hg.) · Liberalismus und imperialistischer Staat Der Imperialismus als Problem liberaler Parteien in Deutschland 1890-1914. Neun Beiträge. 1975. 176 Seiten, kartoniert. Kleine Vandenhoeck-Reihe 1415

Karl Holl / Günter Traut mann/ Hans Vorländer (Hg.) · Sozialer Liberalismus Zwölf Beiträge. 1986. 234 Seiten, Paperback. Sammlung Vandenhoeck

Rudolf von Thadden (Hg.) · Die Krise des Liberalismus zwischen den Weltkriegen Vierzehn Beitrage. 1978. 277 Seiten, Paperback. Sammlung Vandenhoeck

Werner Stephan · Aufstieg und Verfall des Linksliberalismus 1918-1933 Geschichte der Deutschen D emokratischen Partei. 1973. 520 Seiten, Leinen

Lothar Albertin (Hg.) · Politischer Liberalismus in der Bundesrepublik Vierzehn Beiträge. 1980. 299 Seiten, Paperback. Sammlung Vandenhoeck

Jürgen C. Heß / E. van Steensel van der Aa Bibliographie zum deutschen Liberalismus 1981. 148 Seiten, kartoniert. Arbeitsbücher zur modernen Geschichte 10

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