Untersuchungen zur Grammatik Aristarchs: Texte und Interpretation zur Wortartenlehre 9783666252235, 3525252234, 9783525252239

126 97 44MB

German Pages [708] Year 1999

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Untersuchungen zur Grammatik Aristarchs: Texte und Interpretation zur Wortartenlehre
 9783666252235, 3525252234, 9783525252239

Citation preview

HYPOMNEMATA 126

V&R

HYPOMNEMATA UNTERSUCHUNGEN ZUR ANTIKE UND ZU IHREM NACHLEBEN

Herausgegeben von Albrecht Dihle/Siegmar Döpp/Dorothea Frede/ Hans-Joachim Gehrke/Hugh Lloyd-Jones /Günther Patzig/ Christoph Riedweg/Gisela Striker

HEFT 126

V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T IN G Ö T T I N G E N

STEPHANOS MATTHAIOS

Untersuchungen zur Grammatik Aristarchs: Texte und Interpretation zur Wortartenlehre

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Verantwortlicher Herausgeber: Albrecht Dihle

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Matthaios, Stephanos: Untersuchungen zur Grammatik Aristarchs: Texte und Interpretation zur Wortartenlehre / Stephanos Matthaios. [Verantw. Hrsg.: Albrecht Dihle]. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1999 (Hypomnemata; H. 126) Zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-525-25223-4 Gedruckt mit Mitteln der Gemeinnützigen Stiftung »Alexander S. Onassis« © 1999, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen

Στους γονείς μου μέ εύγνωμοσύνη Meinen Eltern in Dankbarkeit

Inhalt

Vorwort

11

Einleitung

13

1. 2. 3. 4.

Gegenstand und Problemstellung der Untersuchung Zum Stand der Forschung Aufgabenstellung der Untersuchung Quellen und Überlieferung der Fragmente Aristarchs 4.1 Homerscholien und »Parallelzeugnisse« 4.1.1 Iliasscholien 4.1.2 Odysseescholien 4.1.3 »Parallelzeugnisse« zu den Homerscholien 4.2 Apollonios Sophistes - Hesych 4.3 Hesiodscholien 4.4 Pindarscholien 4.5 Scholien zu Apollonios Rhodios 4.6 Apollonios Dyskolos 4.7 Herodian 4.8 Priscian - Maximos Planudes 4.9 Das Charisius-Donatian-Testimonium 4.10 Varro 4.11 Quintilian 5. Zur Anlage der Textsammlung

13 24 32 36 38 38 49 50 51 52 53 54 55 57 57 58 58 59 59

Teil I: Texte

63

1. 2. 3. 4. 5.

Aristarchs Wortartensystem Nomen Verb Partizip Artikel und Pronomen 5.1 Artikel 5.2 Pronomen 6. Adverb 7. Konjunktion 8. Präposition

65 66 97 120 121 121 126 146 162 169

8

Inhalt

Teil II: Interpretation

189

1. Aristarchs Wortartensystem 1.1 Das Quintilian-Testimonium zu den Wortarten bei Aristarch 1.2 Der Begriff »Wortart« bei Aristarch

191 191 198

2. Nomen 2.1 Definitorische Bemerkungen zum Nomen 2.2 Differenzierungen innerhalb des Nomens je nach Anwendungsart 2.2.1 Κύριον όνομα 2.2.2 Προσηγορία 2.2.3 'Επίθετον 2.2.4 Das Quintilian-Testimonium zu Aristarchs Auffassung von der προσηγορία 2.3 Semantische Arten des Nomens 2.3.1 Homonymie 2.3.2 Synonymie 2.3.3 Gattung - Art 2.3.4 Kollektivnomina 2.3.5 Komprehensiva 2.3.6 Aktiva - Passiva 2.4 Wortbildung im Bereich des Nomens 2.4.1 Komposition: einfache und zusammengesetzte Nomina 2.4.2 Derivation: primäre und abgeleitete Nomina 2.4.2.1 Patronymika 2.4.2.2 Denominativa 2.4.2.3 Steigerungsformen von Adjektiven 2.5 Genus 2.6 Numerus 2.7 Kasus Zusammenfassung

201 203 214 218 225 233

3. Verb 3.1 Zum Merkmal απτωτον beim Verb 3.2 Verbdiathesen 3.2.1 Der διάθεσις-Begriff und die ένέργεια-πάθος-Opposition 3.2.1.1 Aktiv statt Passiv 3.2.1.2 Passiv statt Aktiv 3.2.1.3 »Medium« 3.2.2. Aristarch und die spätere Lehre vom Medium 3.3 Tempora 3.3.1 Der χρόνος-Begriff bei Aristarch 3.3.2 Das Tempussystem Aristarchs 3.3.2.1 Aristarchs Erklärungen zum homerischen Tempusgebrauch Präsens-Futur-Opposition: 332 - Präsens-Präteritum-Opposition: 333 - Imperfekt-Aorist-Opposition: 335 - Zum Tempus von Partizipien und Infinitiven: 337

3.3.2.2 Die einzelnen Tempora

242 244 245 247 249 251 253 253 254 258 262 263 265 267 272 278 284 290 297 298 302 303 309 312 318 320 326 329 331 331

340

Inhalt

3.4 Modi 3.4.1 Der Terminus έγκλισις bzw. ρήμα bei Aristarch 3.4.2 Zu den einzelnen Modi 3.4.2.1 Infinitiv und Imperativ 3.4.2.2 Der Optativ und seine Gebrauchsweisen 3.4.2.3 Konjunktiv und Indikativ 3.5 Numeri des Verbs 3.5.1 Zum Gebrauch des Duals bei Homer 3.5.2 Numeruskongruenz von Subjekt und Prädikat Konstruktion eines Plural-Verbs mit Neutrum-Subjekt im Plural: 382 - Σχήμα πρός τό νοητόν: 384 - 'Αλκμανικόν und Πινδαρικόν σχήμα: 385 Übergang von einem Numerus zum anderen: 387 3.6 Personen 3.6.1 Aristarchs Ansichten über die grammatische Person 3.6.2 Zur Geschichte der Kategorie »Person« Exkurs: Die Apostrophe άπό τοϋ διηγηματικοΰ έπι τό μιμητικόν 3.7 Konjugationen Zusammenfassung

4. Partizip 4.1 Aristarchs Erklärungen zum Gebrauch von Partizipien 4.2 Zur Geschichte des Partizips Zusammenfassung

5. Artikel und Pronomen 5.1 Der Artikel bei Aristarch 5.1.1 Der Terminus άρθρον und dessen Begriffsumfang 5.1.2 Aristarchs Erklärungen zum homerischen Artikelgebrauch 5.2 Das Pronomen bei Aristarch 5.2.1 Der Terminus αντωνυμία bei Aristarch 5.2.2 Aristarchs Pronomina-»Definition« Personenkongruenz bei den Possessivpronomina: 458 - Personenkongruenz bei den Personalpronomina: 461 5.2.3 Der Begriffsumfang der Wortart des Pronomens 5.2.3.1 Personalpronomina 5.2.3.2 Das »epitagmatische« Pronomen 5.2.3.3 Personal- und Reflexivpronomina 5.2.3.4 Personal- und Possessivpronomina 5.3 Zur Geschichte des Artikels und des Pronomens Zusammenfassung

6. Adverb 6.1 Morphologie des Adverbs 6.2 Syntax des Adverbs 6.3 Semantik des Adverbs 6.3.1 Lokale Adverbien 6.3.2 Temporale Adverbien 6.3.3 Modale Adverbien 6.3.4 Adverbien des Zweifeins

9

351 356 360 360 363 373 377 378 382

387 388 392 395 400 412

420 422 425 430

432 432 432 436 443 444 447

465 466 469 473 480 491 515

520 523 528 532 533 538 541 542

10

Inhalt

6.3.5 Adverbien des Staunens 6.3.6 Adverbien der Ähnlichkeit 6.3.7 Negations- und Prohibitivadverbien 6.4 Zum Terminus μεσάτης und zur Geschichte des Adverbs Zusammenfassung

543 544 546 548 563

7. Konjunktion 7.1 Kopulative Konjunktionen 7.2 Kausale Konjunktionen 7.3 Expletive Konjunktionen Zusammenfassung

566 568 574 578 584

8. Präposition 8.1 Vertauschung von Präpositionen mit Adverbien 8.2 Vertauschung von Präpositionen untereinander 8.3 Auslassung von Präpositionen 8.3.1 Auslassung von Präpositionen ohne Kasusänderung

586 589 592 597 597

Akkusativ anstelle eines präpositionalen Ausdrucks: 597 - Genetiv anstelle eines präpositionalen Ausdrucks: 598 - Dativ anstelle eines präpositionalen Ausdrucks: 601

8.3.2 Auslassung von Präpositionen mit Kasusänderung

602

Akkusativ anstelle eines präpositionalen Ausdrucks: 602 - Genetiv anstelle eines präpositionalen Ausdrucks: 602 - Dativ anstelle eines präpositionalen Ausdrucks: 603

8.4 Redundanter Gebrauch von Präpositionen 8.5 Zur Rektion von Präpositionen 8.6 Zur Akzentuierung von Präpositionen 8.7 Zur Geschichte der Präposition Zusammenfassung

604 605 608 613 618

Schlußbetrachtung

621

Literaturverzeichnis

626

Register

644

1. Stellenregister 1.1 Stellenregister zur Textsammlung (Teil I) 1.2 Stellenregister zur Interpretation (Teil II) 2. Wortregister 2.1 Dichterische Wörter 2.2 Griechische und lateinische Begriffe 3. Namenregister

644 644 666 694 694 697 704

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 1998 von der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen angenommen wurde. Es ist mir ein aufrichtiges Anliegen, mich an erster Stelle bei meinem Doktorvater Prof. Dr. Wolfram Ax zu bedanken: Er hat mich auf die antiken Sprachtheorien aufmerksam gemacht, die Dissertation angeregt und mir bei der Entstehung der Arbeit mit fortwährendem Interesse, konstruktiven Diskussionen und wertvoller Kritik stets beigestanden. Mein ganz besonderer Dank gilt ihm gleichermaßen für die wissenschaftliche Förderung wie für die Menschlichkeit, die ich von ihm in all den Jahren erfahren habe. Prof. Dr. Klaus Nickau hat das Werden der Arbeit mit großer Anteilnahme und Aufmerksamkeit verfolgt. Er hat bereitwillig das Korreferat übernommen und zahlreiche Anregungen beigesteuert, die viele Präzisierungen veranlaßten und zur Korrektur mancher Irrtümer führten. Für all dies möchte ich ihm meinen herzlichsten Dank aussprechen. Während meines Studiums in Göttingen konnte ich stets auf den Rat und die Unterstützung von Prof. Dr. Alexandros Sideras bauen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Ebenfalls danken möchte ich Prof. Dr. Helmut van Thiel für die Möglichkeiten, die er mir im Rahmen seines Editionsprojektes in Köln geboten hat. Den Herausgebern der Hypomnemata, besonders Prof. Dr. Albrecht Dihle, danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in diese Reihe. Der Gemeinnützigen Stiftung Alexander S. Onassis bin ich für ein dreijähriges Doktorandenstipendium und die Übernahme der gesamten Druckkosten, die das Erscheinen meiner Dissertation in der vorliegenden Form ermöglicht hat, zu großem Dank verpflichtet. Meine Freundin Christiane Hauschild hat mit großer Geduld und Aufmerksamkeit die Mühe des Korrekturlesens auf sich genommen. Ihr sowie meinen Freundinnen und Freunden Sabine Brinkmann, Stefan Dörr, Iris Hinerasky, Aliki Lavranu und Roswitha Simons, die mir in schwierigen Situationen verständnisvoll zur Seite standen, danke ich sehr herzlich. Meinen Eltern verdanke ich alle meine Kraft aufgrund der Liebe und Zuwendung, mit der sie mich während meines Studiums in Athen und in Göttingen begleitet haben. Dieses Buch ist daher ihnen gewidmet. Köln, im Juni 1999

S. Matthaios

Einleitung

1. Gegenstand und Problemstellung der Untersuchung Das Studium der antiken Sprachtheorie hat in den letzten Jahrzehnten an Aktualität zugenommen und sowohl auf dem Gebiet der Klassischen Philologie als auch auf dem der Sprachphilosophie und der modernen Linguistik intensive Forschungen angeregt. Es kann insbesondere als das Verdienst der Klassischen Philologie gelten, in neuerer Zeit grundlegende, zum Teil bisher unbekannte Texte der griechischrömischen Grammatik durch neue Editionen und Fragmentsammlungen zugänglich gemacht1 und deren Verständnis durch Gesamtdarstellungen und Einzeluntersuchungen gefördert zu haben. Trotz dieser erfreulichen Wendung der Forschung können bis heute weder die antike Sprachtheorie noch ihre Entwicklung im Zeitalter der alexandrinischen Philologie der drei letzten vorchristlichen Jahrhunderte als hinreichend erforscht und ausgewertet gelten. Die vorliegende Untersuchung befaßt sich mit Aristarch von Samothrake (ca. 216 - 144 v. Chr.), einem der bedeutendsten Vertreter der alexandrinischen Philologie. 2 Ihr Ziel ist es zum einen, diejenigen Texte aus der Überlieferung Aristarchs vorzulegen, die sich auf die Wortartenlehre beziehen, zum anderen, anhand dieser Texte Aristarchs sprachtheoretische Ansichten über die Wortarten zu rekonstruieren und in den Kontext ihrer historischen Entwicklung zu stellen. Zwecks einer genaueren Eingrenzung des Themas und der Fragestellung sollen zunächst einige Besonderheiten der antiken Sprachtheorie und damit verbundene Probleme ihrer Beschreibung dargestellt sowie die theoretischen Voraussetzungen und die methodologischen Ausgangspunkte für die vorliegende Untersuchung erläutert werden. Die theoretische Auseinandersetzung mit Sprache erstreckte sich in der Antike über einen langen Zeitraum. An der Sprachreflexion waren 1 Besondere Erwähnung verdienen in diesem Zusammenhang außer der monumentalen Ausgabe der Scholien zur Ilias von H. Erbse die in der Reihe Sammlung Griechischer und Lateinischer Grammatiker (SGLG) erschienenen Editionen und Fragmentsammlungen sowie die Ausgabe der grammatischen Papyri von Wouters, Gramm. Pap. und dems., Chester Beatty Codex. Wouters bereitet ferner die Edition einer Reihe grammatischer Oxyrhynchus-Papyri vor; siehe Wouters, Papyri 96f. Eine kommentierte Ausgabe mit französischer Übersetzung der Abhandlung des Apollonios Dyskolos Über die Syntax legte jüngst Lallot, Ap. Dysc. I-II, vor. - Für abgekürzt zitierte Primär- und Sekundärliteratur siehe das Literaturverzeichnis, S. 626ff. 2 Über das Leben und Werk Aristarchs informiert Pfeiffer, Geschichte 258-285. Vgl. auch unsere Ausführungen über die Quellen zu Aristarchs Grammatik im Abschnitt 4 dieser Einleitung, S. 36ff.

14

Einleitung

verschiedene Disziplinen beteiligt, und zwar sowohl die antike Philosophie als auch die Rhetorik und die Literaturtheorie und schließlich die Philologie. Die Sprachbeschreibung wurde jedoch innerhalb dieser Disziplinen nicht zum Selbstzweck, sondern blieb immer deren allgemeinen Zielsetzungen untergeordnet. So waren es in der antiken Philosophie die Erkenntnistheorie und die Lehre von der Logik, in der Rhetorik die Argumentationslehre und die Lehre von dem der jeweiligen Sprechsituation angemessenen Einsatz von Sprache und schließlich in der antiken Philologie die Erklärung von Literatur, welche die theoretische Auseinandersetzung mit Sprache motiviert haben. Trotz der jeweils unterschiedlichen Zielsetzungen, die die Sprachreflexion bedingten, hat sich heute in der Historiographie der antiken Grammatik die Tendenz durchgesetzt, nicht von verschiedenen grammatischen Systemen zu sprechen, sondern von einer Grammatik, an deren Entstehen und Entwicklung jede der genannten Disziplinen ihren Anteil hatte. 3 Diese Betrachtungsweise setzt eine Abstraktion von der Intention voraus, die jeweils zur Sprachreflexion anregte, und ermöglicht, indem sie divergierende Ansätze als historische Ausformungen einer Grammatik interpretiert, die Beschreibung und Beurteilung der antiken Grammatik vor dem Hintergrund ihrer Evolution. In ihrem Entwicklungsprozeß erreichte die systematische Erforschung der Sprache in der Antike, insgesamt betrachtet, im Bereich der Philologie ihren Höhepunkt. Das Gebiet der antiken Philologie, genauer, der alexandrinischen Philologie, stellt den eigentlichen historischen Rahmen und den konkreten Zeitraum der vorliegenden Untersuchung dar. Ist die Grammatik in der alexandrinischen Philologie das eigentliche Gebiet unserer Untersuchung, so müssen wir uns vergegenwärtigen, daß der Begriff »Grammatik« im heutigen Sinne nur einen Teil jener Disziplin bezeichnet, welcher in der Antike der Name γραμματική τέχνη zukam. 4 Ist heute mit Grammatik die systematische Sprachbeschreibung gemeint, so fiel in der Antike unter den Begriff γραμματική das gesamte Fachgebiet, welches die Literatur zu seinem Untersuchungsgegenstand machte. Diese Disziplin grenzte sich wiederum per definitionem von einer »niederen Grammatik« (μικρά γραμματική oder γραμματιστική) ab, deren Aufgabe die Unterweisung im Lesen und Schreiben

3 Vgl. dazu D. Fehling, Rezension zu Barwick, Probleme, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 212 (1958), 161-173, bes. 173. Ähnlich äußern sich dazu Taylor, History 180 und 187, Kemp, Emergence 303, Sluiter, Ancient Grammar 39f. und Schenkeveld, Contents 44. 4 Über den antiken Grammatik-Begriff berichtet ausführlich Ax, Aristarch 96ff. und ders., Sprache 277f.; vgl. dazu auch die dort erwähnte Literatur. Auf den Ausführungen von Ax beruht unsere nachfolgende Übersicht. Bezüglich der Art und Weise, in der die Begriffe »antike Grammatik«, »grammatische Tradition der Antike« u.ä. in der vorliegenden Untersuchung verwendet werden, sei der Leser auf unsere Erläuterung unten, S. 36, verwiesen.

1. Gegenstand und Problemstellung der Untersuchung

15

war. 5 Die »höhere« (μεγάλη), die »vollkommenere Grammatik« (εντελής γραμματική) dagegen wurde seit ihrer Begründung als eigenständiges Fachgebiet durchgehend als »Kunde von der Literatur in Poesie und Prosa« definiert, 6 wenn auch zunächst nicht mit demselben Anspruch auf Wissenschaftlichkeit wie in späterer Zeit. 7 Der »eigentliche« bzw. »grammatische Teil« (μέρος ϊδιαίτερον bzw. μέρος γραμματικόν) dieser Disziplin bestand in der textbezogenen philologischen Arbeit. Außerdem schloß aber die γραμματική, die Grammatik im antiken Sinne, noch einen »historischen Teil« (μέρος ιστορικόν), eine Art Realienkunde, ein u n d schließlich einen »technischen Teil« (μέρος τεχνικόν), nämlich die systematische Sprachbeschreibung. Dieser Einteilung zufolge entspricht der Terminus »Grammatik« im heutigen Sinne dem μέρος τεχνικόν und kommt damit nur einem der γραμματική im antiken Sinne, also der Philologie, untergeordneten Teilgebiet zu. Innerhalb dieses technischen und sprachbeschreibenden Teils läßt sich wiederum im Hinblick auf die inhaltlichen Schwerpunkte und die wesentlichen Monographietypen der grammatischen Lehre eine weitere Unterteilung vornehmen, und zwar erstens in die Lehre von den Sprachkonstituenten (Laut, Silbe, Wort, Wortarten), mit dem Schwerpunkt auf der Lehre von den Wortarten (μέρη λόγου/partes orationis), und zweitens in die Lehre von der Sprachrichtigkeit (έλληνισμός/Zflfmiifls). 8 Letztere regelte die korrekte Verwendung von Einzelwörtern (hinsichtlich der Orthographie, Prosodie, Flexion und Bedeutung) und Wortfügungen mit Hilfe der Kriterien der Analogie, der Etymologie, des Dialekts, des Sprachgebrauchs und der literarischen Tradition. Die Lehre von den Sprachkonstituenten wurde in Monographien behandelt, die als τέχναι γραμματικοί bzw. artes grammaticae bezeichnet wurden. 9 Fragen des Themenkomplexes der Sprachrichtigkeit stellten den Gegenstand der sogenannten τέχναι περί ελληνισμού bzw. de latinitate dar; 10 einzelne Teilgebiete dieser Lehre,

5 Siehe Sch. D. Thr. (Σ ν ), GrGr I 3, 114, 18ff. u n d Sext. Emp. adv. math. I 44. Vgl. d a z u Lallot, La grammaire 73ff., Schenkeveld, Scholarship 263ff. u n d Blank, Sext. Emp. 113ff. 6 Vgl. Ax, Sprache 277. Zu d e n v o n Eratosthenes, Dionysios Thrax, Asklepiades v o n Myrlea, Chairis, Demetrios Chloros u n d Ptolemaios d e m Peripatetiker erhaltenen Definitionen der γραμματική τέχνη siehe Lallot, La grammaire 75ff. u n d Schenkeveld, Scholarship 263. 7 Zu d e m sogenannten τέχνη-έμπειρία Problem siehe Siebenborn, Sprachrichtigkeit 119ff. u n d Lallot, La grammaire 78ff. 8 Siehe Ax, Aristarch 97 u n d dens., Sprache 277f. 9 Einen solchen Monographietyp stellt die unter d e m N a m e n d e s Dionysios Thrax überlieferte τέχνη γραμματική dar. D e m gleichen Monographietyp lassen sich die unter Nr. 1-16 edierten grammatischen Papyri bei Wouters, Gramm. Pap. 47ff., zuordnen. 10 Zu Monographien diesen Typs siehe Siebenborn, Sprachrichtigkeit 33f. u n d Ax, Aristarch 97 mit A n m . 5. Z u m Begriff u n d T h e m e n k o m p l e x der latinitas siehe Uhl, Servius 15ff., bes. 21ff.

16

Einleitung

wie z.B. die Orthographie, die Analogie oder die Flexion, wurden auch gesondert in speziellen Monographien untersucht. 11 Die hier vorzunehmende Untersuchung zur Grammatik Aristarchs betrifft nun seine Leistung auf dem Gebiet des μέρος τεχνικόν, des sprachsystematischen Teils der philologischen Wissenschaft der Antike, und bezieht sich innerhalb desselben konkret auf dasjenige Gebiet, welches die Wortartenlehre theoretisch behandelte. Die Aufgabe, Aristarchs Stellung im Bereich der Sprachsystematik zu ermessen, bereitet jedoch besondere Schwierigkeiten. Denn in erster Linie war Aristarch Philologe und hat sich besonders im Bereich des μέρος ίδιαίτερον als Kritiker und Interpret einen Namen gemacht. So wird er bei Sextus Empiricus neben Aristophanes von Byzanz und Krates von Mallos als Exponent jener vollkommenen Grammatik (εντελής γραμματική) erwähnt, die die Literatur und ihr Verständnis pflegte. 12 Aber auch aufgrund seiner Kommentare zu besonderen sprachlichen Problemen des jeweils zu interpretierenden literarischen Textes erlangte Aristarch bereits in der Antike hohes Ansehen. Die antiken Homerphilologen folgten nicht selten seinen textkritischen Entscheidungen und Erklärungen zu grammatischen Fragen der homerischen Dichtung. 13 Die Anerkennung seiner Kompetenz in konkreten Fragen der sprachlichen Interpretation literarischer Werke erreichte im byzantinischen Mittelalter mit der ungeteilten Bewunderung seiner Autorität ihren Höhepunkt. 14 Der byzantinische Gelehrte Michael Psellos (ca. 1018 - ca. 1078) stellte Aristarch bezeichnenderweise sogar Apollonios Dyskolos gleich. 15 11 Solche Monographien werden bei Siebenborn, Sprachrichtigkeit 34, erwähnt. Zu Monographien über die Analogie siehe Ax, Arguments 116, Anm. 15. Vgl. auch die dazu gehörenden Zeugnisse aus den grammatischen Papyri bei Wouters, Gramm. Pap. 213ff., Nr. 17-25. Eine Liste derjenigen Papyri, die die Flexionslehre behandeln, bietet Wouters, Μετ' ολίγον μέλλων 112f. 12 Siehe Sext. Emp. adv. math. 144: Γραμματική τοίνυν λέγεται κατά όμωνυμίαν κοινώς τε και ιδίως, και κοινώς μέν ή τών όποιωνδηποτούν γραμμάτων εϊδησις, έάν τε 'Ελληνικών έάν τε βαρβαρικών, ήν συνήθως γραμματιστικήν καλοϋμεν, ίδιαίτερον δέ ή έντελής και τοις περί Κράτητα τόν Μαλλώτην (fr. 16 Mette) Άριστοφάνην τε και Άρίσταρχον έκπονηθεΐσα. Vgl. den Kommentar von Blank, Sext. Emp. 115f., zu dieser Stelle. 13 Siehe die bei Siebenborn, Sprachrichtigkeit 28, Anm. 4, angegebenen Stellen sowie die Ausführungen von Siebenbom, Sprachrichtigkeit 28 und 86. 14 Siehe z.B. D ad Β 316: άλλ' έπειδή οϋτως δοκεϊ στίζειν τφ Άριστάρχω, πειθόμεθα αύτω ώς πάνυ άρίστω γραμματικφ. Dieses Scholion ist in unserer Textsammlung unter fr. 19 C angeführt. Vgl. dazu Pfeiffer, Geschichte 284, Anm. 133. 15 Siehe Michael Psellus, Oratio funebris in Nicetam 454, 147: 'Ες δέ τήν Άριστάρχου και 'Απολλώνιου τέχνην έαυτόν καθιείς, και μάλλον έδείκνυε (sc. ό Νικήτας) τήν της γραμματικής τέχνην (zitiert nach A.M. Guglielmino, Un maestro di Grammatica a Bisanzio nell' XI secolo e Γ epitafio per Niceta di Michele Psello, in: Siculorum Gymnasium N.S. 27 [1974], 421-463). Es handelt sich dabei um eine Grabrede des Michael Psellos auf einen heute ansonsten kaum bekannten byzantinischen Grammatiker. Einzelheiten dazu bei A. Sideras, Die byzantinischen Grabreden. Prosopographie, Datierung, Überlieferung. 142 Epitaphien und Monodien aus dem byzantinischen Jahrtausend, Wiener By-

1. Gegenstand und Problemstellung der Untersuchung

17

Aristarchs Wirken wurde auch in der Antike bereits mit der Entwicklung der systematischen Sprachbeschreibung (μέρος τεχνικόν) in Verbindung gebracht, und zwar sowohl hinsichtlich der Lehre von den Sprachkonstituenten als auch der vom Hellenismos. So erwähnt ihn z.B. Quintilian als eine derjenigen Autoritäten, welche acht Wortarten angenommen hätten. 16 Apollonios Dyskolos zitiert sogar eine definitorische Bemerkung Aristarchs zum Pronomen. 17 Varro berichtet wiederum, Aristarch habe über das Prinzip der Analogie geschrieben, 18 und stellt ihn als Antipoden in einem zu seiner Zeit ausgetragenen theoretischen Streit über die Bedeutung der Analogie als Normprinzip der Regularität der Sprache dem Pergamener Krates von Mallos gegenüber. 1 9 Ferner soll Aristarch einem Testimonium des Charisius und Donatians zufolge den Katalog der fünf Ähnlichkeitsbedingungen, den Aristophanes von Byzanz für die korrekte Durchführung von Analogien zusammengestellt hatte, durch eine sechste Bedingung erweitert haben. Diese schrieb vor, daß einfache nicht mit zusammengesetzten Wörtern verglichen werden dürften. 20 Auf allgemeine Fragen des Hellenismos bezieht sich wiederum die von Apollonios Dyskolos unter dem Namen Aristarchs referierte Argumentation gegen die Verwendung der zusammengesetzten Formen von Reflexivpronomina in der dritten Person Plural. 21 Trotz dieser materialreichen Beleglage ist der Anteil Aristarchs an der Entwicklung der systematischen Sprachbeschreibung in der heutigen Historiographie der antiken Grammatik alles andere als geklärt. Die stark divergierenden Ansichten der heutigen Forschung über die grammatische Kompetenz Aristarchs, aber auch über die seiner Vorgänger und der zeitgenössischen Philologen beruhen im wesentlichen auf dem jeweils angenommenen Entwicklungsbild der antiken Grammatik, welches wiederum von der jeweils vertretenen Grundposition zur Echtheit und Datierung des grammatischen Lehrbuchs des Dio-

zantinische Studien 19, Wien 1994, 141-145. Prof. Dr. A. Sideras (Göttingen) danke ich für d e n H i n w e i s auf diese Stelle. 16 Siehe Quint, inst. orat. 1 , 4 , 20; dieser Beleg ist in unserer Textsammlung unter fr. 1 angeführt. 17 Vgl. Ap. Dysc. pron., GrGr II 1 . 1 , 3 , 1 2 und constr. II 15f., GrGr II 2,137, 9ff.; diese Belegstellen sind unter fr. 103 A 1 und 103 A 2 unserer Textsammlung angegeben. 18 Siehe Varro ling. lat. IX 1. Vgl. dazu Cohn, Ar. 870, Ax, Sprache 287f. u n d dens., Arguments 116f. mit Anm. 15. 19 D i e Belege für Aristarch u n d die Aristarcheer aus Varros De lingua Latina sind außer d e m in der vorstehenden Anm. 18 erwähnten folgende: ling. lat. VIII 63; VIII 68; IX 43; IX 91; X 16; X 42. Zu diesen Belegen und z u d e m sogenannten Analogie-AnomalieStreit siehe die in der nachstehenden Anm. 95 angegebene Literatur. 20 Siehe Char. inst, gramm. 117, GrLat 1117, Iff. und Donatiani Fragmentum, GrLat VI 276, 5ff. (der Wortlaut dieser Stellen ist auf S. 258, Anm. 253, abgedruckt). 21 Siehe die in unserer Textsammlung unter fr. 125 angeführten Stellen.

18

Einleitung

nysios Thrax (ca. 170 - ca. 90 v. Chr.) 22 abhängig gemacht wird. Die Grundtendenzen der Forschung bei der Bewertung der sprachtheoretischen Kompetenz Aristarchs und seiner Zeitgenossen sollen im folgenden kurz umrissen werden. In der Geschichte der alexandrinischen Philologie lassen sich gewöhnlich zwei Perioden unterscheiden, nämlich die der älteren Alexandriner, von Zenodot bis Aristarch, und die ihrer Nachfolger, von Aristarchs Schülern Dionysios Thrax und Apollodor, Demetrios Ixion und Dionysios Sidonios bis hin zu den Grammatikern der ersten nachchristlichen Jahrhunderte. Die zeitliche Grenze zwischen diesen Perioden liegt in der zweiten Hälfte des 2. Jh. v. Chr. und fällt mit den politischen Unruhen unter der Herrschaft Ptolemaios' des VIII. zusammen, welche die von Pfeiffer genannte »erste Krise in der Geschichte der Philologie« zur Folge hatten. 23 Diese Ereignisse zwangen Aristarch und seine Schüler samt vielen anderen Gelehrten, Alexandria zu verlassen. Die sogenannte secessio doctorum führte aber zugleich zu einer Ausbreitung und Neubelebung der philologischen Studien, einschließlich der grammatischen im engeren Sinne, in anderen Zentren, wie z.B. in Rhodos, Pergamon, Athen und später auch in Rom. Hinsichtlich der Entwicklung der antiken Grammatik war die Ansetzung der zeitlichen Grenzen zwischen diesen beiden Hauptperioden auf die Mitte des 2. Jh. v. Chr., wie man glaubte, vor allem aus folgendem Grund gerechtfertigt: Auf die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts wurde nämlich bis vor einiger Zeit die erste τέχνη γραμματική,24 die erste systematische Abhandlung über die Sprachkonstituenten, welche unter dem Namen des Dionysios Thrax überliefert ist, datiert. Diese Schrift spielt in der Historiographie der antiken Grammatik für die Bewertung der grammatischen Kompetenz der Hauptvertreter der ersten Periode, nämlich Aristophanes' von Byzanz und Aristarchs, eine entscheidende Rolle. Solange man von der Echtheit der Τέχνη ausging, glaubte man, Dionysios Thrax sei derjenige gewesen, der im Bereich der Wortartenlehre die wissenschaftlichen Ergebnisse der vorangegangenen Tradition im Bereich der Wortartensystematik, insbesondere aber die seines Lehrers Aristarch überliefert habe. Aufgrund des Quintilian-Testimoniums wurde nun die Einführung des achtteiligen Wortartensystems in die antike Grammatik auf die Autorität Aristarchs, die Kanonisierung dieser Lehre wiederum auf seinen Schüler Dionysios Thrax zurückge-

22 Zum Leben und zur philologischen Tätigkeit des Dionysios Thrax siehe Linke, D. Thr. 8ff. Zu der Frage nach der Authentizität der unter seinem Namen überlieferten τέχνη γραμματική (GrGr 11) siehe unten S. 19ff. 23 Siehe Pfeiffer, Geschichte 259f. und 307f. 24 Ediert von G. Uhlig in GrGr I 1. Im folgenden wird diese Schrift als Τέχνη erwähnt.

1. Gegenstand und Problemstellung der Untersuchung

19

führt. 25 Im Hinblick auf die Lehre des Hellenismos bzw. der Analogie und der Flexion sprach man den älteren Alexandrinern, Aristophanes von Byzanz und vor allem Ar ist arch, zwar umfangreiche Kenntnisse von der Regelmäßigkeit der Sprache zu, hielt aber die vollständige Ausbildung eines Regelsystems (κανόνες) der Formenlehre für eine Leistung, die erst die nachfolgende Schülergeneration erbracht hatte. 26 Fehling hat versucht, auch im Bereich der Analogie und der Flexionslehre jeden Zweifel an der grammatischen Kompetenz der frühen Alexandriner auszuräumen. Er glaubte nämlich bewiesen zu haben wenn auch ohne die Überlieferung des Aristophanes und Aristarchs unmittelbar heranzuziehen - , daß Aristophanes und Aristarch das systematische Regelwerk für die Flexion voll ausgebildet und somit diese Lehre zur Vollendung gebracht hätten. 27 In der Zeit Aristarchs habe, meint Fehling, 28 die Entwicklung der grammatischen Wissenschaft ihren Höhepunkt erreicht. Bei Aristarchs Schülern habe dann bereits die Erstarrung zu einer unselbständigen Weitertradierung des Erreichten eingesetzt. Die Τέχνη des Dionysios Thrax signalisiere demnach nicht den Anfangspunkt der Entwicklung der Grammatik, sondern stelle deren Ende dar. Unmittelbar nach Erscheinen der Arbeit von Fehling hat Di Benedetto die Frage nach der seit der Antike umstrittenen, jedoch in der Neuzeit weitestgehend angenommenen Echtheit der Τέχνη des Dionysios Thrax erneut aufgegriffen. Aufgrund einer genauen Prüfung der Beleglage gelangte Di Benedetto zu dem Ergebnis, die Τέχνη sei bis auf die ersten vier Paragraphen fälschlicherweise dem Dionysios Thrax zugeschrieben worden. 2 9 Der sprachsystematische Teil dieser Schrift, nämlich die Darstellung der Sprachkonstituenten und der Wortarten ab dem sechsten Paragraphen, 30 stamme aus viel späterer Zeit, wahr-

25 Zu den Ansichten der Forschung über das Quintilian-Testimonium siehe unten S. 192ff. 26 Vgl. den Forschungsüberblick bei Ax, Aristarch 98ff. und dems., Sprache 283. Siehe auch unsere Ausführungen über die ältere Forschung zur Grammatik Aristarchs unten S. 25ff. Zu den Ansichten der Forschung über die grammatische Kompetenz des Aristophanes von Byzanz siehe Callanan, Aristoph. Byz. 13ff. 27 Siehe Fehling, Varro I 260ff. Starke Kritik an dem methodischen Vorgehen Fehlings hat Siebenborn, Sprachrichtigkeit l l f . und 71, geübt. Vgl. dazu Callanan, Aristoph. Byz. 15 und 17 sowie Ax, Sprache 283 mit Anm. 42. 28 Siehe Fehling, Varro I 214f. und 261ff. 29 Siehe Di Benedetto, Dionisio Trace I-II. Einen Überblick zu der Diskussion über die Echtheit der Τέχνη seit der Antike bis in die Neuzeit und eine Zusammenfassung der wichtigsten Argumente Di Benedettos geben Siebenborn, Sprachrichtigkeit 69, Anm. 2, Pinborg, Classical Antiquity 103ff. und Kemp, Emergence 307ff. Z u m heutigen status quaestionis siehe Robins, Authenticity, und Lallot, Grammatici certant. 30 Zum Aufbau und zur Disposition der einzelnen Paragraphen in der Τέχνη und zur angenommenen Lücke zwischen den Paragraphen 4 und 6 siehe Ax, Studien 223ff.; vgl. auch Swiggers - Wouters, D. Thr. XXIVf.

20

Einleitung

scheinlich aus dem 3. oder 4. Jh. n. Chr. 31 Dionysios Thrax habe zwar ein Lehrbuch über die »Grammatik«, also über die philologische Wissenschaft und ihre Aufgaben verfaßt, dies sei jedoch nicht die Τέχνη (ab §6) gewesen, sondern eine Schrift mit dem Titel Παραγγέλματα, die Sextus Empiricus gekannt habe, und aus der dieser in seiner Schrift Προς μαθηματικούς Dionysios Thrax' Definition der γραμματική und die Auflistung ihrer Teilbereiche (μέρη) zitiert habe. 32 Aufgrund der Anzweifelung der Echtheit der Τέχνη hat Di Benedetto Konsequenzen auch hinsichtlich der Bewertung der grammatischen Kompetenz der frühen Alexandriner und die Entwicklung der antiken Grammatik in dieser Zeit gezogen. Die frühen Alexandriner, Aristophanes von Byzanz und Aristarch mitsamt Dionysios Thrax, haben sich nach Ansicht von Di Benedetto in erster Linie mit der Interpretation literarischer Texte beschäftigt; ihre Auseinandersetzung mit Sprache sei über eine textbezogene philologische Tätigkeit nicht hinausgegangen und habe keinen Anspruch auf eine theoretische Ausarbeitung und Systematisierung der grammatischen Doktrin erhoben. Die Anfänge der technischen Sprachsystematik seien somit nicht in die Mitte des 2., sondern in das 1. Jh. v. Chr., also in die Zeit der Schülergeneration des Dionysios Thrax, etwa von Asklepiades von Myrlea, Tyrannion und Tryphon, zu verlegen 3 3 Dieses den bislang vertretenen Ansichten diametral entgegengesetzte Bild von der Entwicklung der Sprachsystematik im Bereich der antiken Philologie schien auch die Untersuchung Siebenborns zur Hellenismos-Lehre zu bestätigen. Im Gegensatz zu Fehling hat Siebenborn aufgrund einer exemplarischen Prüfung der Homerscholien die These vertreten, daß die frühen Alexandriner, und zwar Aristophanes und Aristarch, nur über vage Vorstellungen über die Gesetzmäßigkeit der Sprache verfügten. Der Kanon der Ähnlichkeitsbedingungen sei nur auf einfache Wortvergleichungen, nicht aber auf die Flexionslehre zugeschnitten. 34 Siebenborn orientiert sich an der These Di Benedettos, im 2 Jh. v. Chr. sei der alleinige Beschäftigungsgegenstand der Grammatiker die Literaturbetrachtung gewesen, und folgert daraus, daß diese sich erst gegen Ende des zweiten Jahrhunderts bemüht hätten, die

31 Siehe Di Benedetto, Dionisio Trace I 210. Gegen die Schlußfolgerungen Di Benedettos wandte sich Pfeiffer, Geschichte 324ff., und plädierte für die Echtheit der Τέχνη. Zu den Einwänden Pfeiffers nahm Di Benedetto, Techne, Stellung. 32 Siehe Sext. Emp. adv. math. I 57 und 250. Vgl. dazu Di Benedetto, Dionisio Trace 1182 und 196ff. Zu den erwähnten Stellen aus Sextus Empiricus siehe Blank, Sext. Emp. 126ff. und 262ff. Mit dem potentiellen Inhalt dieser Schrift befaßt sich Schenkeveld, Contents. 33 Vgl. Di Benedetto, Dionisio Trace 1196ff. 34 Siehe Siebenborn, Sprachrichtigkeit 78 und 97. Zum methodischen Vorgehen und zu den einzelnen Argumenten Siebenborns siehe unten S. 28ff.

1. Gegenstand und Problemstellung der Untersuchung

21

Wissenschaftlichkeit ihrer Disziplin nachzuweisen und ferner ein Begriffs· und Regelsystem zu begründen.35 Mit dem sich aus den Arbeiten Di Benedettos und Siebenborns ergebenden Entwicklungsbild hat sich Erbse auseinandergesetzt. Gegenüber Siebenborn verteidigte er die Ansichten Fehlings über die Rolle der frühen Alexandriner in der Entwicklung der antiken Grammatik und versuchte, auf diesen aufbauend, die These Di Benedettos über die Unechtheit der Τέχνη zu widerlegen.36 Aufgrund einer stichprobenhaften Untersuchung der Überlieferung Aristarchs schloß Erbse, daß die alexandrinischen Philologen über umfassende Kenntnisse einer schon voll ausgebildeten Flexionslehre verfügt hätten. In der niveauvollen philologischen Tätigkeit der Alexandriner spiegele sich der bereits zu dieser Zeit erreichte Höhepunkt der normativen Grammatik wider. Zu dem solchermaßen ausgebildeten Kenntnisstand der frühen Alexandriner auf dem Gebiet grammatischer Systematisierung stehe das Lehrbuch des Dionysios Thrax in keiner Weise in Widerspruch. 37 Erbses Argumentation und die Ergebnisse aus der Analyse der von ihm herangezogenen Belege sind in der darauffolgenden Zeit auf Kritik gestoßen 3 8 Einige Zeit schwankte die Forschung zwischen der Annahme einer bereits hochentwickelten Grammatik zur Zeit der frühen Alexandriner und jener einer allmählichen Entwicklung der grammatischen Doktrin, die erst im 1. Jh. v. Chr. theoretisch ausgearbeitet und systematisiert zu werden begann. Heute ist man aber mit wenigen Ausnahmen 39 der Ansicht, der Wert des sprachtheoretischen Ansatzes Aristarchs und seiner Zeitgenossen sei als gering einzuschätzen und deren eventueller Anteil an der Entwicklung der Sprachsystematik zu vernachlässigen. Man begnügt sich stattdessen mit der generellen und unklaren Feststellung, die frühen Alexandriner hätten sich ausschließlich mit textbezogener philologischer Interpretation befaßt, 40 und nicht 35 Vgl. Siebenborn, Sprachrichtigkeit 70 und 84. 36 Vgl. Erbse, Grammatik. Erbse bezieht sich auf die Ansichten, die Fehling in Varro I-II vorgetragen hat. Fehling, Gnomon, hat seine These über eine vollausgebildete grammatische Wissenschaft bei den frühen Alexandrinern jedoch bereits aufgegeben. 37 Siehe Erbse, Grammatik 244. Zu den Thesen Erbses über Aristarchs grammatische Kompetenz siehe unten S. 28ff. Zu Erbses Argumenten für die Echtheit der Τέχνη nimmt Di Benedetto, Origins, Stellung. 38 Vgl. die in Arvm. 37, 40 und 88 angegebene Literatur. Für die Echtheit der Τέχνη plädieren dagegen Swiggers - Wouters, D. Thr. XVff., im Zuge einer erneuten Prüfung der pro- und contra-Argumente. Mit der Frage nach der Echtheit und möglichen Datierung dieses Lehrbuchs angesichts der Zeugnisse aus den grammatischen Papyri befassen sich P. Swiggers - A. Wouters, La Techne Grammatike de Denys le Thrace: Une perspective historiographique nouvelle, in: Orbis 37 (1994), 521-549 und dies., Techne et empeiria: La dynamique de la grammaire grecque dans l'Antiquite ä la lumiere des papyrus grammaticaux, in: Lalies. Actes des sessions de linguistique et de litterature 15 (1995), 83-100. 39 So Ax, Aristarch und ders., Sprache; zu den Ansichten von Ax vgl. unten S. 31ff. 40 Siehe z.B. Pinborg, Classical Antiquity HOff., Taylor, History 185ff„ Sluiter, Ancient Grammar 39ff., Schenkeveld, Scholarship 273ff. und dens., Contents 44.

22

Einleitung

selten betrachtet man ihre sprachlichen Erklärungen zu literarischen Texten als dilettantisch. 41 Dabei bedenkt man jedoch nicht, daß diese »praktische« Ausrichtung der alexandrinischen Philologen das Vorhandensein einer Sprachtheorie keinesfalls ausschließt. Im Gegenteil; ihre Auseinandersetzung mit sprachlichen Problemen des literarischen Textes und ihre Sprachreflexion setzt, wenn sie auch nur auf solche Problemfälle bezogen ist, die der zu interpretierende Text unmittelbar bietet, einen Sprachbeschreibungsapparat, d.h. ein System grammatischer Regeln und Begriffe voraus. 42 Das Vorhandensein eines solchen Systems hat Callanan für Aristophanes von Byzanz, wenn auch mit aller Vorsicht, angenommen. 43 Auch Ax gelang es anhand der Analyse einer Reihe von Fragmenten aus der philologischen Arbeit Aristarchs das Niveau und die Differenziertheit einer solchen »Grammatik im Kopf« nachzuweisen. 44 Zudem erscheint es als problematisch, das erste vorchristliche Jahrhundert, also die Zeit der zweiten Generation nach Aristarch, als denjenigen Zeitraum anzusehen, in welchem nach Auffassung der heutigen Historiographie die Anfänge der technischen Sprachbeschreibung zu vermuten sind. Wie Ax betonte, 45 ist es für Dionysios Thrax, selbst wenn er die unter seinem Namen überlieferten Τέχνη nicht verfaßt hat - was ja anzunehmen ist - , durchaus denkbar, daß er entweder in der Abhandlung mit dem Titel Παραγγέλματα oder auch in einer anderen grammatischen Schrift 46 die Sprachkonstituenten bzw. die Wortarten theoretisch behandelt hat. 47 Asklepiades von Myrlea, Tyrannion und Tryphon sind mit Sicherheit nicht die ersten, die sprachsystematische 41 Siehe z.B. Callanan, Aristoph. Byz. 18: »Aristarchs 'Erklärungen' scheinen mir nicht mehr zu beweisen, als daß er Griechisch sprach und naiv voraussetzte, jede Abweichung Homers [...] von den Sprachgewohnheiten der hellenistischen bzw. der 'attischen' Zeit sei [...] auf eben diese Sprachgewohnheiten zurückzuführen« und ebd. 19: »Sie sind für [Aristarch] [...] auffallende 'Abweichungen' von d e m ihm vertrauten Sprachgebrauch, deren Eigenartigkeit festzustellen wohl im Bereich der Möglichkeiten jedes kompetenten Griechisch Sprechenden der Zeit lag«. Vgl. auch Schenkeveld, Scholarship 286: »These passages only prove that Aristarchus has some interest in correct Greek, like so many other Greeks before him, but nothing more«. 42 Vgl. dazu Erbse, Grammatik 241 und Ax, Sprache 284. 43 Siehe Callanan, Aristoph. Byz. passim. 44 Siehe Ax, Aristarch 109 und dens., Sprache 287f.; vgl. dazu unten S. 31f. 45 Siehe Ax, Studien 228f. und dens., Sprache 288. 46 Dem Artikel in Su. δ 1172 (D. Thr. Τ. 1 Linke) zufolge wird mit γραμματικά (sc. συγγράμματα) die Existenz solcher grammatisch-technischer Schriften des Dionysios Thrax angedeutet. Siehe dazu Linke, D. Thr. 9f. 47 Einer solchen Schrift lassen sich die Äußerungen des Dionysios Thrax zum Nomen und Appellativ (s. Sch. D. Thr. [Σ ν ], GrGr 1 3 , 1 6 0 , 26 [D. Thr. fr. 54 Linke]), z u m Verb (s. Sch. D. Thr. [Σ ν ], GrGr 1 3 , 1 6 1 , 6 [D. Thr. fr. 55 Linke]) und schließlich zum Pronomen (s. Ap. Dysc. pron., GrGr II 1 . 1 , 5 , 1 8 f . ; vgl. Sch. D. Thr. [Σ ν ], GrGr 1 3 , 1 6 0 , 26 [D. Thr. fr. 54 Linke]) zuweisen. Schenkeveld, Contents 51f., hält es für denkbar, daß sprachtheoretische Fragen, wie die mit den Wortarten zusammenhängenden, von Dionysios Thrax in der Schrift Παραγγέλματα untersucht worden sind.

1. Gegenstand und Problemstellung der Untersuchung

23

Schriften verfaßt haben. Schon für Dionysios Thrax sind solche Abhandlungen, wie die Περί ορθογραφίας oder Περί ποσοτήτων, bezeugt. 48 Auch ein anderer Schüler Aristarchs, nämlich Demetrios Ixion, hat außer seinen textbezogenen philologischen Schriften nachweislich eine Monographie unter dem Titel Περί αντωνυμίας und eine Περί των εις μϊ ληγόντων ρημάτων verfaßt.49 Die philologischen Studien der ersten Schülergeneration Aristarchs haben also einer theoretischen Auseinandersetzung mit Fragen der Sprachsystematik keinesfalls im Wege gestanden. Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage nach der grammatischen Kompetenz Aristarchs und nach dem zu seiner Zeit erreichten Stand sprachtheoretischer Systematisierung dringender denn je. Erst nach einer gründlichen und systematischen Analyse der Fragmente Aristarchs können sichere Schlüsse über seine Stellung in der antiken Sprachtheorie und über seinen Anteil an der Entwicklung der technischen Sprachsystematik gezogen werden. Gerade eine Untersuchung der Überlieferung Aristarchs kann auch über die Leistung seiner Zeitgenossen großen Aufschluß geben: Seine Überlieferung bietet nämlich das einzige aus dieser Zeit in diesem Umfang zur Verfügung stehende Belegmaterial, welches die erhaltenen Fragmente seiner Vorgänger und der zeitgenössischen sowie der nachfolgenden Grammatiker bei weitem übertrifft. Dieses reichhaltige Material gewährt ebenfalls Einsichten in die Rezeption philosophischer und rhetorisch-literaturkritischer Sprachtheorien durch die alexandrinischen Philologen. Dementsprechend kann die Analyse der Grammatik Aristarchs Aufschluß über den konkreten theoretischen Hintergrund, ferner auch über den Prozeß der Grammatikalisierung, d.h. der Transformation sprachphilosophischer sowie rhetorisch-literaturtheoretischer Begriffe in grammatische Kategorien und nicht zuletzt über die möglichen Einflüsse der philosophischen, insbesondere der stoischen Sprachreflexion auf die alexandrinische Grammatik geben. 50 Ausgehend von einer Beschreibung des bei Aristarch dokumentierten Kenntnisstandes auf dem Felde grammatischer Reflexion und Systematisierung lassen sich auch Folgerungen für deren Weiterentwicklung in der späteren Lehre ziehen. Anhand seiner Ansichten können die Voraussetzungen geprüft werden, welche den Weg zu einer kontextunabhängigen Sprachreflexion bei seinen Schülern bereiteten. Dabei läßt sich ersehen, wie sich die oben erwähnte secessio doctorum aus Alexandria auf die Entwicklung der grammatischen Doktrin bei der antiken Philologen ausgewirkt hat. 48 Siehe Linke, D. Thr. 10. 49 Siehe Su. δ 430; vgl. dazu Staesche, Demetr. Ix. 3,13ff. und Ax, Studien 229. 50 Auf diese Lücke macht mehrmals Pinborg, Classical Antiquity, aufmerksam. Siehe z.B. Pinborg, Classical Antiquity 102: »In conclusion I should like to say that we do not know who first took the decisive step of commuting the Stoic meaning categories into strictly formal categories of expressions« und ebd. I l l : »We are not able to describe the interplay between Stoic and Alexandrinian Grammar in details«.

24

Einleitung

Die vorliegende Untersuchung sieht ihre Aufgabe sicherlich nicht darin, die Echtheitsfrage der Τέχνη zu lösen. Dennoch können die Ansichten Aristarchs auch in dieser Hinsicht aufschlußreich sein. An denjenigen Stellen, an denen die uns vorliegende Überlieferung es erlaubt, werden wir auf Parallelitäten sowie auf Divergenzen der Grammatik Aristarchs zu der in der Τέχνη vorgetragenen Lehre aufmerksam machen, mit dem Ziel, das Alter dieser Lehre genauer einzuordnen. 2. Zum Stand der Forschung Aristarch hat schon früh das Interesse der Forschung geweckt, jedoch nicht im Hinblick auf seine grammatischen Kenntnisse, sondern in erster Linie bezüglich seiner Leistung als Homerphilologe. Den Grundstein für die Aristarch-Studien legte bereits 1833 Lehrs mit seiner umfangreichen

Untersuchung

De Aristarchi

studiis

Homericis.51

Lehrs

stellte dort die auf Aristarchs Homerinterpretation bezogene Überlieferung besonders extensiv dar. Genau dieser Bereich bildet seither den Schwerpunkt einer inzwischen erheblich angewachsenen Literatur über Aristarch. 52 Auf eine vergleichbare Aufmerksamkeit ist die Untersuchung der sprachlichen Erklärungen Aristarchs und die Analyse seiner sprachtheoretischen Ansichten bisher nicht gestoßen. Das wesentliche Hindernis für eine umfassende Erforschung der Leistung Aristarchs auf diesem Gebiet besteht darin, daß bislang keine vollständige Sammlung seiner überlieferten Fragmente existiert.53 Dieses Defizit hat in Zusammenhang mit dem gewaltigen Umfang und der Komplexität der Überlieferung Aristarchs eine auf der Sichtung des gesamten Materials beruhende Darstellung seiner Sprachbeschreibung besonders erschwert bzw. nahezu unmöglich gemacht. Jede bisher unternommene Darstel51 Die zweite Auflage dieser Arbeit folgte im Jahre 1864. Die Arbeit von Lehrs, Ar., wird nach der dritten, von A. Ludwich besorgten Auflage (1882) zitiert. 52 Einen kommentierten Forschungsüberblick zu den Arbeiten über die Homerstudien Aristarchs bietet Schmidt, Weltbild 9ff. Von der seitdem zu diesem Thema erschienenen Literatur sind als wichtigste folgende Arbeiten zu nennen: Lührs, Athetesen, D.M. Schenkeveld, Aristarchus and Όμηρος φιλότεχνος, in: Mnemosyne 23 (1970), 162-178, N.J. Richardson, Aristotle and Hellenistic Scholarship, in: Montanari, Philologie 7-38, Porter, Hermeneutic Lines, J. Lundon, Όμηρος φιλότεχνος nel contesto dello scolio b ad A 8-9, in: Athenaeum 86 (1998), 209-229, und ders., Όμηρος φιλότεχνος nel contesto degli scoli bT ad A 149b e bT a Λ 102a, in: Athenaeum 87 (1999), 5-13. Mit den literaturtheoretischen Ansichten Aristarchs befaßt sich unter anderem R. Meijering, Literary and Rhetorical Theories in Greek Scholia, Groningen 1987. 53 Eine Edition mit dem Arbeitstitel Aristarchs Fragmente zur llias bereitet H. van Thiel (Köln) vor; vgl. van Thiel, Homertext 16, Anm. 8. Die Fragmente Aristarchs aus seiner philologischen Arbeit zu Hesiod hat Waeschke, Ar., und zu Pindar Horn, Ar., und Feine, Ar., gesammelt und kommentiert. Zu den bereits vorliegenden Sammlungen der Fragmente Aristarchs siehe unten S. 52 und 53f. entsprechend.

2. Zum Stand der Forschung

25

lung der Grammatik Aristarchs berücksichtigt lediglich eine selektive und stichprobenhafte Auswahl des überlieferten Materials. 54 Für die im letzten Jahrhundert geleisteten Arbeiten gilt, daß sie von einer aus heutiger Sicht zweifelhaften Textgrundlage ausgegangen sind, welche oft zu Mißverständnissen und Fehldeutungen geführt hat. 55 Zudem beschränkte man sich bei der Erforschung der Grammatik Aristarchs auf seine Arbeit am homerischen Text und ließ andere Belege, etwa aus seiner Hesiod- oder Pindarinterpetation, außer acht. Eine alle Themenbereiche der antiken Sprachtheorie umfassende Untersuchung der Grammatik Aristarchs, die etwa der Arbeit von Callanan zu Aristophanes von Byzanz 56 vergleichbar wäre, ist bislang nicht unternommen worden. Auch die Wortartenlehre Aristarchs war bis jetzt nicht Gegenstand einer eingehenden Untersuchung. Es liegen insgesamt lediglich bruchstückhafte Betrachtungen vor, welche jeweils unterschiedliche Einzelaspekte der Grammatik Aristarchs zu ihrem Untersuchungsgegenstand machen, und in denen nicht immer der Versuch unternommen wird, die Ergebnisse der Analysen historisch im Hinblick auf die Entwicklung der antiken Sprachtheorie auszuwerten. So hat sich Lehrs in der bereits erwähnten Abhandlung über die Homerstudien Aristarchs mit dessen vorwiegend durch Herodian überlieferten Erklärungen zur Prosodie des homerischen Textes beschäftigt. 57 Einige Jahre nach Erscheinen der ersten Auflage der Arbeit von Lehrs hat Friedlaender 1853 in seiner Sammlung der den Iliasscholien entstammenden Fragmente des Aristonikos 58 ein Kapitel über die sogenannte Schematologia Aristarchea vorgelegt. 59 Dabei handelt es sich um diejenigen Aufzeichnungen des Aristonikos, welche die Erklärungen Aristarchs zu den syntaktischen Besonderheiten und Eigenarten (σχήματα) der Sprache Homers enthalten. Diese umfangreiche Materialsammlung Friedlaenders stellte die wesentliche Vorarbeit für eine systematische Darstellung und Auswertung der Ansichten Aristarchs über die Wortarten und die Syntax des einfachen Satzes dar, aus der die spätere Forschung und nicht zuletzt auch die vorliegende Untersuchung Nutzen gezogen haben. 54 Siehe dazu die Ausführungen und den Forschungsüberblick zur Grammatik Aristarchs bei Ax, Sprache 282f. und dens., Aristarch 96ff. Über die Probleme, mit denen die Historiographie der antiken Grammatik bei der Erforschung der Sprachbeschreibung der frühen Alexandriner konfrontiert ist, berichtet Ax, Sprache 276f. 55 Siehe z.B. unsere Zweifel an der Zuverlässigkeit der von Steinthal, Geschichte II 107, herangezogenen Belege zu den Ansichten Aristarchs über Tempus, unten S. 341 ff.. Vgl. auch unseren Forschungsüberblick zu den Ansichten Aristarchs über die Modi, unten S. 351ff. 56 Zitiert als Callanan, Aristoph. Byz. 57 Siehe Lehrs, Ar. 247-327. Eine Untersuchung der prosodischen Studien der Alexandriner, mitunter Aristarchs, legte zuvor Lehrs, Quaest. ep. 35-166, vor. 58 Siehe dazu unten S. 39f. und 43ff. 59 Siehe Friedlaender, Ariston. 1-35.

26

Einleitung

Eine reiche Materialsammlung aristarchischer Erklärungen zu verschiedenen Fragen der Prosodie und zu bestimmten homerischen Formen hat später La Roche in seiner Arbeit Die Homerische Textkritik im Alterthum (1866) vorgelegt. 60 Dabei ging es La Roche aber keineswegs darum, eine eigenständige Untersuchung der Grammatik Aristarchs zu leisten. Die erwähnte Arbeit ist nicht ausschließlich auf Aristarch bezogen. Ebensowenig war von ihm jedoch eine systematische Darstellung der Erklärungsprinzipien und der grammatischen Argumentation der alexandrinischen Homerphilologen beabsichtigt. La Roche sah seine Aufgabe vielmehr darin, in einer alphabetisch geordneten Sammlung einzelner Wörter und bei der Besprechung einiger grammatisch-syntaktischer Phänomene die überlieferten Angaben über die textkritischen Entscheidungen der Alexandriner zu erläutern und auf dieser Grundlage deren Vorgehensweise im einzelnen zu beschreiben. Jedoch hat La Roche durch seine Untersuchung ein umfangreiches, über die Homerscholien hinausgehendes Belegmaterial späteren Forschungen zur Grammatik Aristarchs zugänglich gemacht. Den ersten Versuch einer systematischen Analyse der Grammatik Aristarchs stellt die Arbeit von Ribbach De Aristarchis Samothracis arte grammatica (1883) 61 dar. Diese Monographie erhebt zwar dem Titel nach den Anspruch einer Gesamtuntersuchung der Grammatik Aristarchs. Sie befaßt sich jedoch nur mit der Anwendung des Prinzips der Analogie bei Aristarch und berücksichtigt dabei vorwiegend die aus seinen Homerstudien stammenden Erklärungen zu Orthographie, Prosodie und Flexion. Der eigentliche Gegenstand unserer Untersuchung, nämlich die Wortartenlehre, fällt aus dem Rahmen dieser Arbeit völlig heraus. 62 Vor dem Hintergrund der bis zu diesem Zeitpunkt geleisteten Arbeiten zur Grammatik Aristarchs kann es als das Verdienst Ribbachs gelten, auf nur 48 Seiten einige der repräsentativsten Belege zu dem erwähnten Thema systematisch angeordnet und kommentiert zu haben. Darüber hinaus hat Ribbach auch die Fragmente Aristarchs aus Varros De lingua Latina sowie den von Aristophanes von Byzanz und Aristarch zusammengestellten Kanon der Ähnlichkeitsbedingungen für die korrekte Durchführung von Analogien erörtert. Ribbach hat sich dabei mit der Frage befaßt, inwieweit Aristarch im Bereich der Flexionslehre bereits über eine Kenntnis fester Regeln (κανόνες) verfügte. 63 Aufgrund einer Analyse der herangezogenen Homerscholien gelangte er zu dem Ergebnis, daß Aristarch sich zur Feststellung der Richtigkeit einer bestimmten Deklinations- oder Konjugationsform mehrfach auf das Prinzip der Analogie berufen hat. Eine bereits vollendete Flexionslehre läßt sich jedoch nach Ribbachs Ansicht

60 Siehe La Roche, H.T. 175-432. 61 Zitiert als Ribbach, Ar. 62 Zu den Ansichten Ribbachs über Aristarchs Wortartensystem siehe unten S. 192f. 63 Vgl. Ribbach, Ar. 34ff.

2. Zum Stand der Forschung

27

bei ihm nicht nachweisen. Die Ausarbeitung eines Regelwerks für die Deklination und die Konjugation ist Ribbach zufolge eine Leistung der Schüler Aristarchs gewesen.64 In Anlehnung an die Materialdarstellungen und Analysen von Lehrs, Friedlaender und Ribbach hat anschließend Steinthal in der zweiten Auflage seiner Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern (1890-91) die Grammatik Aristarchs behandelt. 65 Seine Ausführungen beziehen sich auf die Akzentuierung, die Formenlehre und die Syntax und schließlich auf die Ansichten Aristarchs über die Wortarten. Zugleich war Steinthal der erste, der versucht hat, den Anteil Aristarchs an der Entwicklung der antiken Sprachsystematik in den historischen Kontext einzuordnen. Aufgrund der Analyse des vorgelegten Materials kam Steinthal zu dem Schluß, Aristarch habe noch keineswegs über eine fertige Grammatik, über eine ausgearbeitete Übersicht der Formen und Fügungen der griechischen Sprache verfügt. 66 Hinsichtlich der Anwendung des Prinzips der Analogie zur Eruierung der Richtigkeit einer Flexionsform vertrat Steinthal die Ansicht, Aristarch habe sich noch im Bereich der einfachen Vergleichung, d.h. der zweigliedrigen Analogie bewegt. »Nirgends finde ich« - so Steinthal67 - »den Beweis, daß er [die Analogie] schon in voller Form der viergliedrigen Proportion kenne, in welcher aus drei bekannten Gliedern das vierte erschlossen wird«. Der Anteil Aristarchs an der Entwicklung der Flexionslehre besteht Steinthals Ansicht nach darin, daß er der nachfolgenden Schülergeneration das Analogie-Prinzip vermittelt habe, auf dem die Ausarbeitung des Regelsystems (κανόνες) der Deklination und Konjugation beruhe. 68 Für die Darstellung der Ansichten Aristarchs über die Wortarten berief sich Steinthal allein auf die Fragmente der aristarchischen Schematologie, welche bereits Friedlaender vorgelegt hatte. Die Annahme Steinthals, Aristarch habe die Wortarten so aufgefaßt, wie sie in der Τέχνη aufgezählt und definiert worden seien, 69 führte ihn jedoch zu übereilten Urteilen über dessen Kenntnisse im Bereich der Wortartensystematik. Schlußfolgerungen, wie »der unendlich gefeierte Aristarch weiß nichts vom Medium«, 70 beruhen auf der Überzeugung, daß die unter dem Namen des Dionysios Thrax überlieferte Τέχνη als Vergleichsmaßstab herangezogen werden kann.

64 Siehe Ribbach, Ar. 37ff. 65 Vgl. Steinthal, Geschichte II 82-111. Auf Aristarch beziehen sich zum Teil auch die Ausführungen Steinthals, Geschichte lllff., über den sogenannten Analogie-Anomalie-Streit. 66 Vgl. Steinthal, Geschichte II 100. 67 Siehe Steinthal, Geschichte II 103. 68 Vgl. Steinthal, Geschichte II 112f. 69 Siehe Steinthal, Geschichte II 211; vgl. dazu unten S. 193. 70 So Steinthal, Geschichte II 106; vgl. dazu unten S. 302f. und 321ff.

28

Einleitung

Steinthals Versuch, anhand der überlieferten Fragmente Aristarchs dessen sprachtheoretisches Bewußtsein zu ermitteln, blieb lange Zeit der letzte in dieser Richtung. Eine Wiederbelebung erfuhr das Studium der Grammatik der frühen Alexandriner erst nach den erwähnten Arbeiten von Fehling und Di Benedetto.71 Die weit auseinandergehenden Grundpositionen Fehlings und Di Benedettos zu der Entwicklung der grammatischen Wissenschaft der Antike spiegeln sich in den zwei darauffolgenden Beiträgen zur Grammatik Aristarchs wider, nämlich in der Arbeit Siebenborns Die Lehre von der Sprachrichtigkeit und ihren Kriterien (1976) 72 und in dem Aufsatz von Erbse Zur normativen Grammatik der Alexandriner (1980). 73 Beide Arbeiten beziehen sich, was Aristarch betrifft, auf Fragen des Hellenismos und in erster Linie auf die Anwendung des Prinzips der Analogie bei der Erschließung einer korrekten grammatischen Wortform. Der Bereich der Wortartenlehre wird nur von Erbse angesprochen, und zwar auf der Basis einer stichprobenhaften Darstellung der Schematologie Aristarchs. 74 Erbse machte in dieser Arbeit allerdings auf Aristarchs Kenntnis einiger grammatischer Termini aufmerksam. 75 Über die diametral entgegengesetzten Ergebnisse, zu denen Siebenborn und Erbse aufgrund der Analysen der von ihnen vorgelegten Fragmente Aristarchs zur Analogie bzw. Flexionsanalogie gelangten, wurde bereits oben (S. 20f.) berichtet. Da wir uns in der vorliegenden Untersuchung mit der Funktion der Analogie bei Aristarch nicht direkt befassen werden, sollten wir uns an dieser Stelle im Hinblick auf das methodische Vorgehen Siebenborns und Erbses näher mit deren Ergebnissen auseinandersetzen. Aufgrund der Betrachtung einer großen Anzahl von Homerscholien vertritt Siebenborn die These, Aristarch und seine Vorgänger hätten nur eine vage Vorstellung von den Gesetzmäßigkeiten der morphologischen Struktur der Sprache gehabt, jedoch keine Kenntnis eines Regelsytems der Deklination bzw. der Konjugation. 76 Einen ersten Beweis dafür sieht Siebenborn darin, daß die Analogie in den Scholien, so seine Ansicht, ausschließlich die Funktion einer heuristischen Methode hat. Aristarch, meint er, gebrauche sie nicht in erster Linie zum Auffinden der Flexionsendungen, sondern in der Mehrzahl der Fälle zur Ermittlung der korrekten Prosodie.77 Siebenborns Schlußfolgerung kann uns schon aus dem Grunde nicht verwundern, weil er ausschließlich mit Scholien operiert, die von Herodian stammen. Die be71 Siehe Fehling, Varro I und Di Benedetto, Dionisio Trace I—II; zu den Ansichten Fehlings und Di Benedettos siehe oben S. 19ff. 72 Zitiert als Siebenborn, Sprachrichtigkeit. 73 Zitiert als Erbse, Grammatik. 74 Vgl. Erbse, Grammatik 242f. 75 Siehe Erbse, Grammatik 238, über Aristarchs Gebrauch des Terminus παρατατικός und ebd. 244, über dessen Begriffsprägung έπιταγματική αντωνυμία. 76 Siehe Siebenborn, Sprachrichtigkeit 97f. 77 Vgl. Siebenbom, Sprachrichtigkeit 71.

2. Zum Stand der Forschung

29

treffenden Kommentare Herodians dienen ja gerade dazu, Aristarchs Erklärungen zur Akzentuierung des homerischen Textes darzulegen. 78 Bedenken erweckt hingegen die Allgemeingültigkeit, die Siebenborn trotz der ausschließlichen Berücksichtigung Herodians für seine Schlußfolgerung beansprucht hat. Denn eine Reihe von Belegen, die auf Aristonikos und Didymos zurückgehen, zeigt eindeutig, daß Aristarch sich auf das Prinzip der Analogie auch für die Erschließung einer korrekten Flexionsform berufen hat. Einige dieser Zeugnisse werden wir in unseren Ausführungen zu den Ansichten Aristarchs über den Kasus analysieren. 79 Als problematisch erweist sich auch Siebenborns Einteilung der Belege für Aristarchs Anwendung des Analogie-Prinzips in zwei Gruppen, je nachdem, ob sie der Ermittlung der Flexionsendung oder der Prosodie dienen. Für diese Unterscheidung gibt es an vielen Stellen keine Berechtigung, denn die Ermittlung der richtigen Prosodie dient ja gerade zur Feststellung der Richtigkeit einer Flexionsform, ja zur Feststellung des Flexionsparadigmas der zur Diskussion stehenden Wörter. Wenn Aristarch z.B. die Form ψευδέσσι, wie Herodian im sch. Δ 235A1 mitteilt, 80 analog zu der Form σαφέσσι paroxytoniert und gegenüber dem Proparoxytonon ψεύδεσσι rechtfertigt, so geht es ihm nicht nur, wie Siebenborn aus dem erwähnten Unterscheidungsprinzip schließt, 81 um die Ermittlung der richtigen Prosodie, sondern, davon ausgehend, auch um die Feststellung des Deklinationsparadigmas, dem die Form ΨΕΥΔΕΣΣΙ zuzuordnen ist. Aus der Paroxytonese folgt nämlich für Aristarch, daß die Form ψευδέσσι in der homerischen Wendung ού γαρ έπί ψευδέσσι πατήρ Ζευς έσσετ' αρωγός (Δ 235) als Dativ Plural des Adjektivs ψευδής und nicht des Substantivs ψεϋδος aufzufassen ist. Siebenborns grundlegende These, Aristarch habe nicht die viergliedrige Proportion angewendet, sondern sich - wie zuvor auch Steinthal meinte 8 2 - mit der Methode der einfachen Vergleichung, d.h. der Gegenüberstellung einer umstrittenen Form mit einem als Bildungsmuster dienenden Wort begnügt, hat bereits Erbse in dem oben erwähnten Aufsatz widerlegt. Erbse erbrachte nämlich anhand eines wörtlichen Zitats aus Aristarchs Kommentaren den zuverlässigen Beweis dafür, daß dieser die viergliedrige Proportion bereits kannte und zur Er-

78 Zu den Werken Herodians über die Ίλιακή und die Όδυσσειακή προσωδία siehe unten S. 40 mit Anm. 127. 79 Vgl. fr. 48-53. Siehe dazu unsere Ausführungen unten S. 288f. 80 Diese Stelle ist in unserer Textsammlung unter fr. 52 A 1 angeführt. Vgl. dazu auch unseren Kommentar unten S. 289. 81 Dieses Aristarch-Fragment erscheint in der Arbeit von Siebenborn, Sprachrichtigkeit 76, in der Gruppe aristarchischer Wortvergleichungen. 82 Vgl. dazu oben S. 27.

30

Einleitung

Schließung einer korrekten grammatischen Form benutzte. 8 3 Siebenborns Ansicht nach dominieren in der Überlieferung Aristarchs die sogenannten zweigliedrigen Analogien. 84 Man muß dabei aber beachten, daß die Formel »x ώς y« mehr als nur eine Bedeutung hat. Darauf hat Callanan aufmerksam gemacht: 85 Diese Formel kann »einen Vergleich zweier formal ähnlicher Wörter beinhalten«, andererseits aber auch »lediglich eine Darstellungsform sein, durch die ausgesagt werden soll, daß etwa die Betonung oder die Vokalisation von einem in dieser Hinsicht fraglichen Wort χ dieselbe sei wie beim Wort y«. In diesem Fall »[brauchen] die beiden auf diese Weise verbundenen Wörter nichts als diese Eigenschaft gemeinsam zu haben, müssen sonst also keineswegs formal ähnlich sein«. Aus dieser Sicht reduziert sich die Anzahl der tatsächlich als zweigliedrige Analogien zu betrachtenden Belege Siebenborns auf die Hälfte. 86 Die hier vorgebrachten Einwände gegen die Argumentation von Siebenborn sollen jedoch nicht als Argumente für die These Erbses angesehen werden, die Paradigmata für die Deklination und Konjugation seien zur Zeit Aristarchs bereits in allen Einzelheiten bekannt gewesen. 8 7 Für eine so weitreichende Schlußfolgerung reicht das von Erbse vorgelegte Material nicht aus. 88 Auch die Annahme Erbses, Aristarch benutze die grammatische Terminologie, die aus der Τέχνη des Dionysios Thrax bekannt sei, 89 läßt sich allein mit Aristarchs Gebrauch des Terminus παρατατικός nicht begründen. Zwar verwendet er dabei nicht 83 Siehe Erbse, Grammatik 237f. Es handelt sich um das von Herodian stammende sch. Ω 8a (in unserer Textsammlung fr. 92 A). Vgl. dazu auch unten S. 344f. und 409ff. 84 Siehe die von Siebenborn, Sprachrichtigkeit 71f. und 76f., erwähnten Beispiele solcher »zweigliedrigen Analogien«. 85 Siehe Callanan, Aristoph. Byz. 116. 86 Siebenborn, Sprachrichtigkeit 77, hat bei den »aristarchischen Wortvergleichungen« φυλακούς-φρουρούς (sch. Ω 5 6 6 ^ , d2) und φωριαμών-κιβωτών (sch. Ω 228fl) sogar »eine Lockerung der Rigorosität« konstatiert, mit der Aristarch bei der Durchführung von Analogien die Erfüllung der fünf bzw. sechs Ahnlichkeitsbedingungen (s. dazu oben S. 17) gefordert haben soll. Der Vergleich dieser Wörter verstoße nämlich gegen diejenige Bedingung, welche vorschreibt, daß die miteinander zu vergleichenden Wörter die gleiche Silbenzahl aufweisen müssen. Hier ist aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ein Vergleich im Sinne der formalen Analogie gemeint. Folgt man der Erklärung Callanans zu der Formel »x ώς y«, so besagt die Gegenüberstellung der Form φυλακούς mit φρουρούς und φωριαμών mit κιβωτών lediglich, daß die erste Form nicht analog zu der zweiten, sondern genauso wie diese mit dem Zirkumflex auf der letzten Silbe zu schreiben ist. 87 Vgl. Erbse, Grammatik 244. Beiläufig sei bemerkt, daß Fehling, Gnomon 490, sich wie Erbse, Grammatik 239, skeptisch gegenüber der Annahme einer Entwicklung der Flexionslehre in drei Stadien äußert, nämlich von den zweigliedrigen Vergleichungen über die viergliedrigen Flexionsanalogien bis hin zur Aufstellung von Flexionsregeln (κανόνες), wie Siebenborn, Sprachrichtigkeit 63ff., sie vertreten hat. 88 Mit den Thesen Erbses zu den grammatischen Kenntnissen Aristarchs im Bereich der Flexionslehre hat sich Callanan, Aristoph. Byz. 17ff. besonders kritisch auseinandergesetzt. Siehe auch Taylor, History 185f. und Schenkeveld, Studies II 349, Anm. 157. 89 Siehe Erbse, Grammatik 238.

2. Zum Stand der Forschung

31

die stoische Bezeichnung παρατατικός παρωχημένος, wie Erbse zu Recht meint; wie aber andere Zeugnisse ersehen lassen, sind Aristarch viele von den in der späteren Grammatik - und auch in der Τέχνη - verwendeten Termini für die Tempora des Verbs noch unbekannt. 90 Andererseits können auch die in das andere Extrem reichenden Urteile über die Grammatik bzw. über die Flexionslehre Aristarchs, wie das von Taylor, nämlich »we must reject everything mentioned about rules for declension, inflection, paradigmes, and so forth«, 91 wenig Anspruch auf Plausibilität erheben, solange die überlieferten Fragmente Aristarchs, vor allem diejenigen, welche die Deklination und die Konjugation direkt betreffen, noch nicht analysiert worden sind. Einen neuen Impuls hat die Erforschung der Grammatik Aristarchs durch die Beiträge von Ax Aristarch und die »Grammatik« (1982) und Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie (1991) 92 erhalten. Ax versucht, zwischen den in der heutigen Historiographie vertretenen gegensätzlichen Positionen zur Grammatik Aristarchs zu vermitteln, indem er die Beleglage erneut grundlegend prüft und Aristarchs Leistung innerhalb ihres historischen Zusammenhangs neu bewertet. Außerdem hat Ax die bisherige Materialbasis durch Berücksichtigung der bislang in Vergessenheit geratenen Fragmente Aristarchs erweitert, welche im Werk des Apollonios Dyskolos überliefert sind. 93 Diese Zeugnisse haben sich oft als kostbare Belege für eine theoretische Reflexion Aristarchs zu Fragen der systematischen Sprachbeschreibung erwiesen, welche die Grenze der textbezogenen philologischen Interpretation überschreitet. 94 In seinem zweiten Beitrag bilanziert Ax das bis dahin aus den Untersuchungen zur Grammatik Aristarchs sowohl im Bereich der Sprachkonstituenten als auch im Themenkomplex des Hellenismos bekannte Material und versucht schließlich, Aristarchs Stellung im sogenannten AnalogieAnomalie-Streit zu erfassen. 95 Die Analyse der von Ax herangezo-

90 Vgl. dazu unten S. 327 und 340ff. 91 Siehe Taylor, History 186. 92 Diese Arbeiten von A x werden entsprechend als Ax, Aristarch und Ax, Sprache zitiert. 93 Siehe Ax, Aristarch 101-109. 94 Siehe die Ausführungen von Ax, Aristarch 105ff., zur Pronomina-»Definition« Aristarchs, zu dessen Begriffsprägung »epitagmatisches Pronomen« und schließlich zu dessen Ansichten über die Richtigkeit der zusammengesetzten Formen der Reflexivpronomina in der dritten Person Plural. Siehe unseren Kommentar zu diesen Zeugnissen in den Abschnitten 5.2.2 (S. 447ff.), 5.2.3.2 (S. 469ff.) und 5.2.3.3 (S. 479f.) entsprechend. 95 Siehe Ax, Sprache 282-288 und ebd. 289-295. Zu den Ansichten der älteren Forschung über Varro als Quelle des Analogie-Anomalie-Streits siehe Siebenborn, Sprachrichtigkeit 2ff. Mit der Frage nach der historischen Dimension des Analogie-Anomalie-Streits befaßte sich erneut Ax, Arguments 115ff. Aufschlußreich über den AnalogieAnomalie-Streit unter dem Aspekt seiner Stellung in Varros Werk sind die Ausführungen von W. Ax, Disputare in utramque partem. Zum literarischen Plan und zur dialektischen Methode Varros in de lingua Latina 8-10, in: Rheinisches Museum für Philologie

32

Einleitung

genen Fragmente Aristarchs hat für den Bereich der Sprachkonstituenten ergeben, daß Aristarch »über einen hochentwickelten grammatischen, insbesondere morphologischen Beschreibungsapparat [verfügte]. Das alexandrinische System der acht Wortarten und ihrer Akzidenzien ist von ihm in allen wesentlichen Punkten vorgeprägt, wenn es auch späteren Grammatikern aufgrund terminologischer Eigenarten und begrifflicher Lücken noch ausbaufähig schien«. 96 Im Hinblick auf die Flexionslehre gelangte Ax zu dem Ergebnis, daß Aristarch zwar über eine ausgedehnte empirische Kenntnis von Flexionsformen und über eine Vorstellung von Regelmäßigkeit in der Flexion verfügte, ein System voll ausgebildeter Flexionsschemata (κανόνες) aber noch nicht kannte. 97 Was den Themenkomplex der Sprachrichtigkeit betrifft, so hat Ax gezeigt, daß Aristarch »bei seiner Sprachbetrachtung nicht nur deskriptive, sondern auch normative Ziele verfolgte [...]. Er war sicher Analogist, wenn auch mit Maß und linguistischer Einsicht [...]«. 98 Die Fülle dieser hochinteressanten Ergebnisse zeigt, wie fruchtbar und aufschlußreich für die Entwicklung der antiken Sprachtheorie die Erforschung der Sprachbeschreibung der frühen Alexandriner ist. Der Ansatz von Ax hat aber auch die Notwendigkeit einer systematischen Untersuchung und einer Neubewertung des Anteils Aristarchs an dieser Entwicklung deutlich zum Ausdruck kommen lassen.

3. Aufgabenstellung der Untersuchung Die vorliegende Arbeit hat, wie schon erwähnt, einen Teilbereich der Grammatik Aristarchs zu ihrem Untersuchungsgegenstand gewählt, und zwar die Wortartenlehre. Anders als in den bisherigen Arbeiten wird hier der Versuch unternommen, die grammatischen Kenntnisse Aristarchs auf dem Gebiet der antiken Wortartensystematik auf der Basis des gesamten überlieferten Materials zu erschließen. Da bislang keine vollständige Sammlung der Fragmente Aristarchs existiert, ergab sich für unser Vorhaben die Notwendigkeit, aus der Überlieferung Aristarchs diejenigen Texte auszuwählen, die Fragen der Wortartensystematik berühren, und so zunächst eine Grundlage zu schaffen, auf

138 (1995), 146-177. Eine neue Diskussion über Varros Quellen und eine Neubewertung der Bedeutung des Analogie-Anomalie-Streits in Varros Werk gibt Blank, Sext. Emp. XXXIVff. 96 Siehe Ax, Sprache 287 und dens., Aristarch 108f. 97 Vgl. Ax, Sprache 286 und 287f. 98 Siehe Ax, Sprache 287f.

3. Aufgabenstellung der Untersuchung

33

der unsere Analysen beruhen konnten. Da eine vollständige Sammlung der Fragmente Aristarchs noch immer ein Desiderat der Forschung i s t , " versteht sich unsere Textsammlung als ein erster Schritt in diese Richtung: Zwar kommen hier nur diejenigen Fragmente in Betracht, die für die Ermittlung der Ansichten Aristarchs über die Wortarten relevant sind; dennoch sind für unsere Untersuchung sowohl alle Quellenbereiche berücksichtigt 100 als auch die betreffenden Zeugnisse - soweit dies anhand der vorhandenen Editionen möglich war - in ihrem gesamten Umfang erfaßt worden. Von den ca. 5.000 Stellen, die sich für die Erschließung der Sprachbeschreibung Aristarchs im Bereich der Sprachkonstituenten sowie in dem des Hellenismos als relevant erwiesen, wurde für die Untersuchung der Wortartenlehre etwa die Hälfte berücksichtigt. Ungefähr ein Drittel davon wird im theoretischen Teil im einzelnen analysiert. Aus Platzgründen können jedoch nicht all diese Stellen mit ihrem vollständigen Text in unserer Fragmentsammlung wiedergegeben werden. Da uns grundsätzlich die gfammatischen Erklärungen und diejenigen Prinzipien interessieren, die Aristarch seiner sprachlichen Interpretation literarischer Texte zugrunde gelegt hat, und weil sich, aus dieser Perspektive betrachtet, die meisten Belegstellen thematisch überschneiden, werden wir uns auf das Wesentliche beschränken und im begleitenden Testimonienapparat auf die betreffenden Parallelstellen verweisen. 101 Die zwingende Notwendigkeit, unserer Untersuchung eine so umfangreiche Materialsammlung zugrunde zu legen, ergab sich aus der Forschungslage. Die oben (S. 24ff.) gegebene Forschungsübersicht hat zur Genüge gezeigt, daß ein sicheres Urteil über die sprachtheoretischen Kenntnisse Aristarchs nur aufgrund einer Prüfung des gesamten überlieferten Materials gegeben werden kann. Diese Vorgehensweise erweist sich zwar als die langwierigste; da aber gerade bei einer fragmentarischen und lückenhaften Überlieferung der Raum für subjektive Urteile erheblich groß ist, soll dadurch die Gefahr verringert werden, bei der Erschließung der grammatischen Kompetenz Aristarchs in Paradoxien und Fehldeutungen zu verfallen. Die vollständige Dokumentation der für unsere Interpretation aus der Überlieferung Aristarchs herangezogenen Belegstellen bietet dem Leser außerdem die Möglichkeit, die Argumentation und die jeweils gezogenen Schlußfolgerungen durch unmittelbare Einsicht in unsere Textsammlung auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen. 99 Vgl. A.R. Dyck, Rezension zu Lührs, Athetesen, in: American Journal of Philology 1995 (116), 495-497, dort bes. 497. Zu den bisher vorhandenen und geplanten Sammlungen der Fragmente Aristarchs siehe die vorstehende Anm. 53. 100 Zu den für die Erstellung der vorliegenden Textsammlung benutzten Quellen vgl. unten S. 38ff. 101 Nähere Informationen über die Anlage der Textsammlung und die Darstellungsweise der einzelnen Zeugnisse werden unten, S. 59ff., gegeben.

34

Einleitung

Die Textsammlung stellt also den ersten Teil der vorliegenden Arbeit dar. Der zweite, theoretische Teil befaßt sich mit der Analyse und Interpretation der vorgelegten Fragmente. Für unser methodisches Vorgehen erweisen sich dabei folgende Ausgangspunkte als bestimmend: Unsere Kenntnisse über die Grammatik Aristarchs lassen sich bekanntlich nicht auf der Grundlage einer sprachsystematischen, wenn auch heute in fragmentarischer Form überlieferten Abhandlung erschließen, wie dies z.B. bei Philoxenos und Tryphon der Fall ist. 102 Sie können grundsätzlich nur aus Aristarchs Anwendung grammatischer Kategorien bei der sprachlichen Erklärung literarischer Texte und seiner textkritischen Arbeit abgeleitet werden. Wir können den Sprachbeschreibungsapparat Aristarchs daher heute lediglich in seinen Inhalten, nicht aber in der Form wiedergewinnen, wie sie seine Grammatik besäße, hätte er seine sprachtheoretischen Ansichten in einer speziellen Schrift niedergelegt. Wenn wir das theoretische Potential der Grammatik Aristarchs zu erschließen versuchen, so muß also unbedingt folgender Aspekt berücksichtigt werden: Die aus dem Kontext der textbezogenen philologischen Arbeit Aristarchs stammenden Zeugnisse, die uns ohnehin nur in einer durch Zufall bedingten Auswahl der Überlieferung vorliegen, brauchen seinen tatsächlichen Kenntnisstand bzw. den Stand der bei ihm erreichten Systematisierung grammatischer Reflexion nicht in jedem Fall vollständig zu repräsentieren. Denn sie enthalten grundsätzlich nur solche Kommentare und nehmen lediglich auf solche Fragen Bezug, die sich aus dem jeweils zu interpretierenden Text unmittelbar ergeben. Die theoretischen Postulate der Grammatik Aristarchs sind daher heute nicht mehr vollständig zu erfassen, gerade weil Aristarch im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit den sprachlichen Problemen literarischer Texte möglicherweise keinen Grund sah, bestimmte grammatische Kategorien, die ihm zwar schon zu Gebot standen, auch praktisch anzuwenden. 103 Um dennoch einen möglichst hohen Vollständigkeitsgrad bei der Erschließung der grammatischen Kenntnisse Aristarchs zu erreichen, werden wir, wenngleich das Thema unserer Untersuchung ausschließlich die Wortartenlehre ist, in Einzelfällen auch Belege zu weiteren Themenbereichen berücksichtigen, die Aufschluß über Fragen der Begrifflichkeit und über den Stand der theoretischen Systematisierung grammatischer Kategorien geben können. So sind z.B. aus dem Kontext der aristarchischen Erklärungen homerischer Wörter einige Zeugnisse heranzuziehen, aufgrund derer die Untergliederung z.B. der Kategorie des Nomens und des Adverbs in weitere semantische Klassen rekonstruiert werden kann. Aristarchs etymologische Erklärungen sol102 Zu den Fragmenten der Grammatiker Philoxenos und Tryphon siehe die entsprechenden Editionen von Theodoridis, Philox. und de Velsen, Tryph. 103 Vgl. dazu z.B. unsere Überlegungen im Abschnitt 3.3 über die Tempora des Verbs (S. 326ff.), dort bes. S. 327i.

3. Aufgabenstellung der Untersuchung

35

len ferner Einblick in die Unterteilung von Nomina nach der Art der Wortbildung (Komposition und Derivation) und der Ableitung gewähren. Ebenfalls werden einige Erklärungen Aristarchs zur Prosodie und zu bestimmten Flexionsformen - wenn auch nur in exemplarischer Form - sowie Beobachtungen zur Syntax berücksichtigt, soweit sie Teilgebiete seiner Wortartenlehre erhellen können. Unser Ziel ist es, eine möglichst große Anzahl von Belegstellen zum jeweils zur Diskussion stehenden Problem im einzelnen zu analysieren. Durch diese Vorgehensweise können wir vor allem Aufschluß darüber gewinnen, ob und bis zu welchem Grad Aristarch von der empirischen Konstatierung sprachlicher Probleme des literarischen Textes hinaus zu einer normativen Beschreibung grammatischer Phänomene gelangte. Ein weiterer methodologischer Grundsatz unserer Arbeit besteht darin, die aristarchischen Kommentare grundsätzlich an den Prinzipien der antiken Grammatik zu messen und dementsprechend hinsichtlich ihrer Plausibilität zu beurteilen. Es geht uns nicht darum, die Argumentation Aristarchs vor dem Hintergrund der modernen Grammatik oder der heutigen Homerphilologie zu prüfen, sondern möglichst exakt die Beweggründe zu ermitteln, die Aristarch aus der Denkweise der antiken Sprachtheorie heraus zu seinen sprachlichen Erklärungen und textkritischen Entscheidungen geführt haben. Was die in unserer Textsammlung vorgenommene Anordnung und Untergliederung des Belegmaterials sowie dessen Erörterung im theoretischen Teil der Untersuchung betrifft, so richten wir uns, soweit die verfügbaren Fragmente Aristarchs es erlauben, 104 nach dem Aufbauschema einer τέχνη γραμματική. Als Hauptvertreter dieses Monographietyps haben wir hierfür die unter dem Namen des Dionysios Thrax überlieferte Τέχνη herangezogen. Die strukturellen Besonderheiten dieser Schriftgattung wurden aber auch aufgrund der in grammatischen Papyri erhaltenen Zeugnisse105 berücksichtigt. Die Anordnung des überlieferten Materials nach dem Schema einer antiken τέχνη γραμματική ermöglicht den Vergleich der Inhalte aristarchischer Sprachbeschreibung mit der in späterer Zeit theoretisch ausgearbeiteten grammatischen Doktrin. Da wir nun auch daran interessiert sind, die grammatische Leistung Aristarchs innerhalb des historischen Kontextes zu beurteilen, sollen die rekonstruierten grammatischen Positionen Aristarchs nach der Analyse der betreffenden Fragmente auf diesen Aspekt hin analysiert werden. Dabei werden wir versuchen, die Rolle Aristarchs für die Entwicklung der antiken Wortartenlehre zu ermessen, indem wir seine Kenntnisse dem jeweils erreichten sprachtheoretischen Ansatz der 104 Zur Anordnung der einzelnen Kapitel im theoretischen Teil der vorliegenden Arbeit siehe unsere Vorbemerkungen unten S. 197f. 105 Auszüge aus solchen grammatischen Lehrschriften sind in den in der vorstehenden Anm. 9 angegebenen Papyri erhalten.

36

Einleitung

philosophischen und rhetorisch-literaturtheoretischen Tradition zum einen und der - im antiken Sinne - »grammatischen« Tradition zum anderen gegenüberstellen. Die Begriffe »antike Grammatik«, »grammatische Tradition der Antike« u.ä. werden dabei durchgängig im umfassenden Sinne als Bezeichnung für die philologische Disziplin entsprechend der antiken Auffassung zu der Zeit verwendet, in der Aristarch als γραμματικός, d.h. als Philologe, gewirkt hat.

4. Quellen und Überlieferung der Fragmente Aristarchs Der Angabe bei Suidas zufolge soll das Werk Aristarchs, wenn man allein seine Kommentare (υπομνήματα) zu den verschiedenen Autoren zusammenrechnet, über 800 Bücher betragen haben. 106 In den Homerscholien sind zudem Titel einiger Monographien (συγγράμματα) Aristarchs bezeugt, in denen er sich mit Ansichten sowohl älterer als auch zeitgenössischer Homerinterpreten auseinandergesetzt sowie mit speziellen Problemen der homerischen Dichtung befaßt hat, wie es in den Schriften Προς Φιλίταν, Πρός Κομανόν und Προς τό Ξένωνος παράδοξον sowie Περί Ίλιάδος και 'Οδύσσειας und Περί τοΰ ναυστάθμου der Fall ist. 107 Dennoch ist von allen diesen Werken keines vollständig oder auch nur in Auszügen direkt überliefert. 108 Die Auffassungen Aristarchs lassen sich indirekt aus einer oft verschiedene Quellen miteinander verflechtenden Überlieferung gewinnen, die uns heute, nachdem sie mehrere Traditionsstufen durchlaufen hat, hauptsächlich in verschiedenen Scholiencorpora aus byzantinischer Zeit, aber auch in Lexika und Werken späterer Grammatiker und sonstiger Autoren vorliegt. In einigen Homerscholien sind allerdings einige wörtliche Zitate aus den textbezogenen philologischen Arbeiten Aristarchs erhalten, ihre Anzahl beträgt jedoch nicht mehr als ein Dutzend. 109 Die Tatsache, daß einige von diesen Zitaten sprachbezogen sind, also das Thema der vorliegenden Untersuchung direkt betreffen, kann als ein Glücks106 Siehe Su. α 3892: Άρίσταρχος (...). λέγεται δέ γράψαι ϋπέρ ω' βιβλία υπομνημάτων μόνων. Vgl. dazu Lehrs, Ar. 21f., Cohn, Ar. 863 und Pfeiffer, Geschichte 261f 107 Siehe Lehrs, Ar. 21f„ Cohn, Ar. 863 und Pfeiffer, Geschichte 261f., wo auch die entsprechenden Belegstellen für jeden einzelnen Titel der Monographien Aristarchs angegeben sind. Zum Charakter derjenigen Abhandlungen, in denen sich Aristarch mit Ansichten anderer Homerphilologen befaßt haben soll, siehe Dyck, Coman. 224, Anm. 13. 108 Die Ansicht van Thiels, Zenodot 25ff., die sogenannten Textscholien in den beiden Hauptzeugen für die Iliasscholien, nämlich im Codex Venetus Α und im Townleyanus - in der Ausgabe von Erbse sind diese Scholien mit A™ bzw. A'1 und P 1 entsprechend gekennzeichnet - , stellten nicht Exzerpte bzw. Kurzfassungen der Randscholien dar, sondern gingen im wesentlichen direkt auf Aristarchs Ausgaben zurück (vgl. van Thiel, Homertext 17ff., dens., Horn. Od. Xff. und dens., Horn. II. VI), ist m.E. von Schmidt, ZPE 10ff-, plausibel in Zweifel gezogen worden; siehe auch Montanari, Ekdosis 6, Anm. 12. 109 Die in den Homerscholien erhaltenen wörtlichen Zitate Aristarchs sind bei Cobet, Miscell. crit. 390 und Erbse, Sch. Horn. 1,119, test, ad sch. A 423-4, angegeben.

4. Quellen und Überlieferung der Fragmente Aristarchs

37

fall gelten, vor allem deswegen, weil in diesen Belegen Aristarchs Kenntnis einiger grammatischer Termini unmittelbar bezeugt ist. 110 Abgesehen von diesen Ausnahmefällen, bei denen man von »echten« Fragmenten sprechen kann, ist man für die Ermittlung der Erklärungsprinzipien Aristarchs grundsätzlich auf Referate von dessen Ansichten durch verschiedene Berichterstatter angewiesen. Unter ihnen sind diejenigen besonders wertvoll, in denen Aristarch ausdrücklich eine bestimmte Auffassung zugeschrieben wird. In der Berichterstattung kommen aber auch Fälle vor, in denen der Name Aristarchs in den überlieferten Erklärungen nicht angegeben ist. Dies gilt für diejenigen Fragmente, die aus den Schriften des Aristonikos über Aristarchs kritische Zeichen an dem Ilias- und Odysseetext stammen. Bei diesen Zeugnissen nimmt man jedoch zu Recht an, daß sie jeweils Aristarchs Ansichten entsprechen. Speziell zu den Schriften des Aristonikos und zum quellenkritischen Wert, den seine Referate für die Rekonstruktion der Grammatik Aristarchs und insbesondere für die Ermittlung von dessen Terminologie haben, wird an anderer Stelle (S. 39f. und 43ff.) Stellung bezogen. Die für die Erschließung der Grammatik Aristarchs relevanten Quellen lassen sich grob in drei Gruppen einteilen. 111 Die erste umfaßt die verschiedenen Scholiencorpora zu den antiken Autoren. Den vorherrschenden Typ in dieser Gruppe bilden die Homerscholien. Aus Gründen der Überlieferung sind zu dieser Gruppe die mit den Homerscholien bzw. mit deren (Mittel-)Quellen eng verwobenen und verketteten antiken und byzantinischen Lexika, einschließlich der homerischen Epimerismen, sowie Eustathios' Παρεκβολαί, jenes umfangreiche Kommentarwerk zur Ilias und Odyssee, und nicht zuletzt Porphyrios' 'Ομηρικά ζητήματα zu rechnen. Der zweiten Gruppe sind die Schriften der griechischen und römischen Grammatiker zuzuordnen. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Gruppen wird im wesentlichen nach gattungstypologischen Kriterien vorgenommen. Beide Gruppen sind insofern inhaltlich miteinander verbunden, als sie in erster Linie und bis auf wenige Ausnahmen 1 1 2 Zeugnisse enthalten, die unmittel110 So sind im sch. Β 1116 (fr. 12 B) der Terminus έπίθετον, i m sch. Β 397b (fr. 81 A 1 ) die Ausdrücke ούδέτερον und πληθυντικόν, im sch. Ω 8« (fr. 92 Α) μετοχή u n d παρατατικός und i m sch. Π 636c 1 (fr. 169 A 1 ) schließlich der Terminus σύνδεσμος durch Aristarchs verba ipsissima belegt. Diese Zeugnisse w e r d e n im theoretischen Teil unserer Untersuchung in d e n entsprechenden Kapiteln im einzelnen analysiert. 111 A u c h Ax, Sprache 283, geht v o n einer Dreiteilung der Quellen zur Grammatik Aristarchs aus. 112 Solche A u s n a h m e n bilden z.B. die bei Apollonios Dyskolos überlieferte definitorische Bemerkung Aristarchs z u m Pronomen (fr. 103 A) und seine Einwände g e g e n die Richtigkeit der zusammengesetzten Formen der Reflexivpronomina in der dritten Person Plural (fr. 125). Der genaue Kontext, in d e m diese Reflexion Aristarchs ursprünglich stand, bleibt im Dunkel; vgl. d a z u S. 57. Ähnlich verhält e s sich auch mit d e m bei Charisius u n d Donatian überlieferten Kanon der fünf b z w . sechs Ähnlichkeitsbedingungen des Aristophanes v o n Byzanz und Aristarchs; siehe d a z u S. 58.

38

Einleitung

bar aus dem Kontext der textphilologischen Arbeit Aristarchs stammen. Die dritte Gruppe umfaßt Varros Schrift De lingua Latina und Quintilians Institutio oratoria. Diese Werke lassen sich deswegen von den beiden anderen Gruppen unterscheiden, weil bei ihnen im Unklaren bleibt, welchen Quellen sie gefolgt sind, und in welchem Verhältnis ihre potentiellen Quellen zu den Schriften Aristarchs stehen. Dies gilt insbesondere für Varro, dessen Zuverlässigkeit als Quelle für die theoretische Sprachreflexion der Alexandriner in der heutigen Forschung zum Teil in Zweifel gezogen wird. 113 Im folgenden werden diejenigen Quellen vorgestellt, welche für unsere Textsammlung und die Rekonstruktion der Wortartenlehre Aristarchs in Frage kommen. Es soll dabei skizziert werden, auf welchen Wegen Aristarchs Kommentare möglicherweise in denjenigen Werken vermittelt wurden, die wir für die vorliegende Untersuchung herangezogen haben. 114 Unsere Ausführungen konzentrieren sich also auf die Frage, aus welchen Quellen ein Aristarch-Fragment bzw. ein Referat aristarchischer Ansichten erschlossen werden kann. 115 4.1 Homerscholien und »Parallelzeugnisse« 4.1.1 Iliasscholien Die Homerscholien stellen den Quellenbereich dar, dem die Mehrzahl der für die vorliegende Untersuchung berücksichtigten Fragmente Aristarchs entstammt. Und das ist nicht verwunderlich, denn über die Arbeit Aristarchs an Homer sind wir heute im Vergleich zu den anderen Gebieten seiner philologischen Tätigkeit weitaus am besten informiert. Die Überlieferung der Homer- bzw. der Iliasscholien ist in neuerer Zeit Gegenstand intensiver Erforschung geworden. 116 Die Iliasscholien (Scholia Vetera) liegen bereits in der bewundernswerten Edition von H. Erbse vor. Im folgenden sollen in aller Kürze die wichtigsten Scholien113 Zu den Ansichten der Forschung über Varro als Quelle für den Analogie-Anomalie-Streit siehe die in der vorstehende A r m . 95 angegebene Literatur. 114 Das Verhältnis der bei der Erstellung der einzelnen Fragmente Aristarchs jeweils herangezogenen Quellen zueinander wird, soweit dies erforderlich ist, bei der Analyse der betreffenden Texte im theoretischen Teil erläutert. 115 Die Schwierigkeiten, die sich mit der Erschließung eines Aristarch-Fragments zusammenhängen, hat jüngst Montanari, Fragments, ausführlich erörtert. An dieser Stelle sei der Leser darauf hingewiesen, daß der Ausdruck »Fragment«, ungeachtet der durch die Überlieferung bedingten Einteilung der uns heute vorliegenden Zeugnisse für Aristarchs Auffassungen in Fragmente und Referate (vgl. oben S. 36f.), in unserer Untersuchung oft auch in einem weiteren Sinne, und zwar in der Bedeutung »Zeugnis« bzw. »Zeugnisgruppe« verwendet wird. 116 Von grundlegender Bedeutung hinsichtlich der Überlieferung der Iliasscholien sind die Untersuchungen von Erbse, Beiträge, und von van der Valk, Researches. Eine aufschlußreiche Übersicht über Quellen und Textgeschichte der Iliasscholien gibt Erbse in der Praefatio seiner Ausgabe der Iliasscholien, Sch. Horn. 1, Xlff. Über die Entstehungs- und Textgeschichte der Homerscholien allgemein berichtet G. Nagy, Homeric Scholia, in: New Companion 101-122.

4. Quellen und Überlieferung der Fragmente Aristarchs

39

corpora, nämlich die A-, die bT- und die D-Scholien,117 im Hinblick auf ihre mögliche Beziehung zum Werk Aristarchs besprochen werden. 118 Aristarch verfaßte Kommentare und Monographien zu Homer und besorgte eine Rezension des homerischen Textes119 wohl in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung. Die frühesten Zeugnisse für die Arbeit Aristarchs an Homer sind im ältesten Fragment eines Hypomnema zum Buch Β 751-827 der Ilias im P.Oxy. VIII 1086 (Pap. II Erbse, Sch. Horn. 1, 164ff.) erhalten, der aus der Mitte des 1. Jh. vor Chr. stammt und offenbar vor Aristonikos und Didymos geschrieben wurde. 120 Darin sind sowohl die kritischen Zeichen Aristarchs (s. unsere Erläuterungen weiter unten) als auch eine Reihe seiner Erklärungen berücksichtigt und eingearbeitet. Die Anzahl der erhaltenen Scholien-Papyri zur Ilias ist jedoch nicht so hoch; 121 der größte Teil der Arbeit Aristarchs an Homer wurde auf anderem Wege überliefert. Mehr als 100 Jahre nach Aristarch hat nämlich Didymos die Aufgabe übernommen, in einem besonderen Werk einen ausführlichen Rechenschaftsbericht über dessen textkritische Arbeit an Homers Ilias und Odyssee abzulegen. Der Titel seines Werks lautete Περί της Άρισταρχείου διορθώσεως. Ziel dieser Arbeit war die Sammlung und Feststellung der aristarchischen Lesarten unter sorgsamer Berücksichtigung der älteren und neueren Literatur zu Homer, die zur Zeit des Didymos erreichbar war. 122 Ungefähr um dieselbe Zeit entstand ein anderes Buch über die Homerstudien Aristarchs, und zwar die Schrift 117 Die Bezeichnung Α-Scholien geht auf den Codex Venetus A (Venetus Graecus 822) aus dem 10. Jh. zurück; b ist der von Erbse, Sch. Horn. 1, XLVIIIf., erschlossene Archetypus der Gruppe der Handschriften BCE3E4, mit Τ wird der Codex Townleyanus (Brit. Mus. Burney 86) aus dem Jahre 1014 oder 1059 gekennzeichnet; zu den einzelnen Handschriften vgl. die Beschreibung von Erbse, Sch. Horn. 1, XHIff. Als D-Scholien werden schließlich diejenigen Scholien bezeichnet, die in der Renaissancezeit fälschlich dem Didymos Chalkenteros zugeschrieben wurden. Zu den D-Scholien siehe die in der nachstehenden Anm. 131 zitierte Literatur. 118 Zu dieser Übersicht vgl. außer der in der vorstehenden Anm. 116 angegebenen Literatur auch Nickau, Untersuchungen Iff., Schmidt, Weltbild Iff. und Lührs, Athetesen 4ff. 119 Zu Anzahl und Form der Iliasausgabe(n) Aristarchs siehe Erbse, Iliasausgaben mit Erwähnung älterer Literatur; vgl. die Stellungnahme Pfeiffers, Geschichte 263ff., zu Erbses Interpretation. Zu dieser Frage siehe zuletzt Lührs, Athetesen 4ff., bes. 6ff., dessen Ansichten über Aristarchs Iliasausgabe und deren Zusammenhang zu seinem Homerkommentar ich mich anschließe. Diese besagen (siehe Lührs, Athetesen 9), daß es sich bei Aristarchs Iliastext »um eben jene durch Recensio ermittelte Vulgata handeln [dürfte], die erst im Zusammenhang mit dem Kommentar die emendierte Aristarchausgabe bildet«. Zum alexandrinischen Homertext siehe den kommentierten Forschungsüberblick bei Rengakos, Homertext 12ff. sowie die Ausführungen van Thiels, Homertext, und dess., Horn. Od. Xff.; vgl. auch M. Haslam, Homeric Papyri and the Transmission of the Text, in: New Companion 55-100, bes. 69ff., und Montanari, Ekdosis. 120 Zur Anlage dieses Hypomnema siehe Pfeiffer, Geschichte 268f. 121 Zu den erhaltenen Scholien-Papyri zur Ilias siehe Erbse, Sch. Horn. 1, XXXIVff. 122 Ausführliche Informationen über das Werk des Didymos und zu dessen Quellen gibt Ludwich, A.H.T. I 41ff.

40

Einleitung

des Aristonikos Περί σημείων Ίλιάδος καί 'Οδύσσειας.123 Absicht des Aristonikos war es, die sachliche Interpretation sowie die sprachlichen Erklärungen, die Aristarch zu den von ihm mit kritischen Zeichen versehenen Ilias- und Odysseeversen gegeben hatte, auszuführen. 124 Aristarch benutzte folgende Randzeichen: Mit der einfachen Diple (διπλή:>)kennzeichnete er eigene Beobachtungen zum homerischen Text, mit der Diple periestigmene (διπλή περιεστιγμένη: >) wies er auf von denen des Zenodot abweichende Ansichten hin, mit dem Obelos (όβελός: - ) notierte er Verse, die ihm zweifelhaft erschienen, mit dem Asteriskos (αστερίσκος: wiederholende Verse und schließlich mit der Stigme (στιγμή: ) Verse, deren Anordnung durcheinandergeraten war. 1 2 5 Die aristarchischen Zeichnen sind in der Mehrzahl der Fälle im Codex Ven(etus) Α erhalten. Im Gegensatz zu Didymos hatte sich Aristonikos für die Erläuterungen der Zeichen Aristarchs in erster Linie auf dessen Kommentare und Monographien beschränkt und außerdem nur eine begrenzte Anzahl von Werken der Schüler Aristarchs, und zwar die des Apollodor von Athen, des Dionysios Thrax und des Dionysios Sidonios, zu Rate gezogen. 126 Im zweiten nachchristlichen Jahrhundert hat sich dann Herodian in seinen Werken mit dem Titel Ίλιακή προσφδία und Όδυσσειακή προσωδία mit Aristarchs Akzentuierung befaßt, 127 während Nikanor in seiner Abhandlung namens Περί (Ίλιακής και Όδυσσειακής) στιγμής die Interpunktion Aristarchs berücksichtigte. 1 2 8 Exzerpte dieser vier Werke beinhaltete der einige Jahrhunderte später entstandene »Viermännerkommentar« (VMK), welcher aus den Subskriptionen zu den einzelnen Iliasbüchern im Ven. A zu erschließen ist. So lautet z.B. die Subskription zum Buch Β der Ilias wie folgt: Παράκειται τά Άριστονίκου σημεία καί τά Διδύμου Περί τής Άρισταρχείου διορθώσεως, τινά δέ καί έκ τής Ίλιακής προσωδίας Ήρωδιανοϋ καί έκ τοΰ Νικάνορος Περί στιγμής.129 Der VMK stellte eine wichtige Quelle sowohl für das im Ven. A überlieferte Scholiencorpus (Α-Scholien) als auch für die bT-Scholien und nicht zuletzt für das Corpus der D-Scholien dar. Fragmente des 123 Siehe Su α 3924 s.v. Άριστόνικος (der Wortlaut dieser Stelle ist in Anm. 197 abgedruckt). Zum Titel dieses Werks des Aristonikos siehe Lehrs, Ar. 2. Über das zeitliche Verhältnis der Werke des Didymos und des Aristonikos zueinander siehe Ludwich, A.H.T. I 51f. 124 Daß es sich in diesem Werk um die aristarchischen Zeichen gehandelt hat, hat bereits Lehrs, Ar. 6ff., erkannt. Zum Werk und zur Zuverlässigkeit des Aristonikos vgl. siehe unten S. 43f. 125 Zu den Zeichen Aristarchs vgl. Pfeiffer, Geschichte 267, Montanari, Fragments 275ff. mit Anm. 4, und van Thiel, Homertext 17. Zu der στιγμή siehe Nickau, Untersuchungen 261. 126 Zu den Quellen des Aristonikos siehe im einzelnen Nickau, Untersuchungen 2ff. 127 Zu diesen Werken Herodians siehe Dyck, Hrd. 783ff. 128 Die Fragmente dieser Schrift des Nikanor wurden von Friedlaender, Nie., gesammelt und kommentiert. 129 Gedruckt bei Erbse, Sch. Horn. 1,352, Z. 18ff.

4. Quellen und Überlieferung der Fragmente Aristarchs

41

VMKs, also der wesentlichen Quellen zu Aristarchs Homerstudien, finden sich in allen diesen drei Scholiencorpora wieder, wenn auch der weit überwiegende Teil im Ven. Α vorliegt. Als ausschlaggebend für diese inhaltliche Verflechtung der Scholiencorpora miteinander erweist sich die Vorstufe der Α-Scholien, nämlich diejenige Quelle, die Eustathios als »Apion und Herodor« (ApH) zitiert. ApH lag nämlich der Archetypus c der bT-Scholien vor; der Kompilator des Archetypus c hat wiederum unter anderem auch die Vorlage des ApH benutzt. Die Vorlage des ApH geht wiederum auf den VMK zurück. 130 Aufgrund dessen lassen sich Fragmente des VMKs, also der Gewährsmänner für Aristarchs Arbeit, sowohl in den Α-Scholien als auch in den bT-Scholien ermitteln. Aber auch in den D-Scholien finden sie sich wieder. 131 Jedes von diesen Scholiencorpora enthält auch Erklärungen, die nicht auf den VMK, sondern auf andere antike Homerkommentare exegetischer Tendenz und Herkunft zurückgehen. Auf solchen Hypomnemata beruhen die sogenannten »exegetischen« Scholien, 132 welche wiederum den überwiegenden Teil des Corpus der bT-Scholien ausmachen, während die Fragmente des VMKs den Hauptbestandteil des Corpus der Α-Scholien bilden. Die »exegetischen« Scholien erweisen sich oft als die Quelle einer aristarchischen Erklärung, die unabhängig vom VMK überliefert ist. Es empfiehlt sich daher, mit Schmidt 1 3 3 nicht alle bT-Scholien als »exegetisch« zu bezeichnen, sondern nur diejenigen, die exegetischen Ursprungs sind, also unabhängig vom VMK überliefert wurden. In den D-Scholien sind wiederum Worterklärungen und Interpretationen zu Homer (ίστορίαι und ζητήματα) enthalten, die unabhängig vom VMK überliefert sind und oft geringe Quellengemeinschaft mit den exegetischen Hypomnemata der bT-Scholien aufweisen. 130 Vgl. das Stemma der Überlieferung der Iliasscholien bei Erbse, Sch. Horn. 1, LVIII. 131 Über die Beziehung der D-Scholien zum VMK berichtet van der Valk, Researches I 208ff. und 243ff. Van der Valks' Ausführungen (ebd.) stellen bisher die einzige umfassende Untersuchung zum Inhalt der D-Scholien dar. Die handschriftliche Überlieferung der D-Scholien untersuchte A. Schimberg, Die handschriftliche Überlieferung der Scholia vulgata genannt Didymi, Göttingen 1892. Siehe auch V. De Marco, Sulla tradizione manoscritta degli »Scholia Minora« all' Iliade, in: Atti della Reale Accademia Nazionale dei Lincei, Ser. VI, vol. IV, Roma 1932, fasc. 4, 373-410 und dens., Da un manoscritto degli Scholia Minora all' Iliade, in: Atti della Reale Accademia d' Italia, Rendiconti della classe di Scienze morali e storiche, Ser. VII, Suppl. al vol. II, Roma 1941, 125-145. Zur Editionsgeschichte siehe F. Montanari, Studi di filologia omerica I-II, Pisa 1979-95. Zur Textgeschichte und den Bestandteilen des Corpus der DScholien siehe Henrichs, Scholia minora; vgl. auch Schmidt, Weltbild 2ff. Eine aktuelle alphabetische Liste der Lexeis aus den in den bisher bekannten Papyri erhaltenen Scholia minora legte jüngst Lundon, Lexeis, vor; vgl. dazu Anm. 246 (S. 61). 132 Zur Textgeschichte der bT-Scholien siehe van der Valk, Researches I 133ff., 414ff., Schmidt, Weltbild 9-74, und Erbse, Beiträge 169ff. 133 Siehe Schmidt, Weltbild 2, Anm. 8.

42

Einleitung

Außer diesen Scholiencorpora zur Ilias, nämlich den A-, bT- und DScholien, kommt auch die Gruppe der sogenannten h-Scholien 134 als mögliche Quelle für die Überlieferung Aristarchs in Frage. Bei diesen Scholien handelt es sich um eine aus dem 12. Jh. stammende Kompilation, die neben zahlreichen »jungen« Scholien 135 eine stattliche Anzahl von Fragmenten des VMKs und Scholien der bT- und D-Klasse in sich vereinigt. Die Bestandteile der alten Scholiencorpora sind aus dem Kommentar ApH abgeleitet. Für die Erschließung eines AristarchFragments sind diese Scholien deswegen von Bedeutung, weil sie an einigen Stellen einen umfangreicheren und vollständigeren Text als die Α-Scholien enthalten, und sie sind besonders dort unentbehrlich, wo im Ven. Α ein entsprechendes Scholion ausgefallen ist. 136 In den bisher verfügbaren Sammlungen der Fragmente des VMKs zur Ilias 137 und den darauf beruhenden Arbeiten über Aristarchs Homerstudien wurden jedoch zumeist nur die Α-Scholien berücksichtigt. 138 Maßgeblich für diese Haltung der Forschung war das Urteil von Lehrs über den angeblichen Qualitätsanspruch der A- gegenüber den bT-Scholien. Sein Urteil lautete wie folgt: »Nullum unum verbum iis [d.h. den Hss. V, B, L] credendum esse«. 139 Ein repräsentatives Beispiel für die Konsequenzen, die diese Haltung für die Beurteilung der grammatischen Kenntnisse Aristarchs hatte, stellen, wie im theoretischen Teil dieser Arbeit noch zu zeigen sein wird, die Ansichten der Forschung über die Beschreibung der Modi des Verbs bei Aristarch dar. 140 Die Ergebnisse der neueren Forschung bezüglich der Überlieferung der Homerscholien lassen es jedoch als Grundvoraussetzung einer angemessenen Darstellung der Homerstudien Aristarchs notwendig erscheinen, die in allen wichtigen Scholiencorpora erhaltenen Erklärungen Aristarchs zu berücksichtigen. Diesen Ansatz verfolgten bereits Schmidt und Lührs in ihren Arbeiten. 141 Das gleiche gilt auch für 134 Zur Textgeschichte der h-Scholien siehe Erbse, Beiträge 184ff. und dens., Sch. Horn. 1, LVIff. 135 Siehe Erbse, Beiträge 198: »Es handelt sich hierbei um Auszüge aus scholienfremden Schriften oder um eigene Bemerkungen des Verfassers h, welche die Beachtung des Byzantinisten wohl verdienen, aber meist nicht recht zur Sache gehören, jedenfalls unsere Kenntnis der guten alten Homerinterpretation nicht vertiefen«. 136 Vgl. dazu die Vergleiche von A- und h-Scholien bei Erbse, Beiträge 201. 137 Siehe zu Didymos Ludwich, A.H.T. I 175ff.; zu Aristonikos Friedlaender, Ariston.; zu Herodian Hrd. II. Pros.; zu Nikanor Friedlaender, Nie. 138 Vgl. dazu die Kritik an dieser Grundtendenz der bisherigen Arbeiten zu Aristarch und den ausführlichen Forschungsüberblick bei Schmidt, Weltbild 9ff. 139 Siehe Lehrs, Ar. 32; vgl. dazu die stichprobenhaften Vergleiche von A- mit den damals bekannten Scholien der Handschriften der bT-Gruppe bei Lehrs, Ar. 32ff. Der Townleyanus (T) ist zwar erst von E. Maass, Scholia Graeca in Homeri Iliadem Townleyana, 2 Bde, Oxford 1887-8, ediert, dennoch waren die bT-Scholien durch den Venetus Β und den Victorinus, eine Abschrift des Townleyanus, seit Villoison und Bekker bekannt (diese Informationen stammen von Schmidt, Weltbild 4f.). 140 Siehe dazu unten S. 351ff. 141 Gemeint sind die Arbeiten von Schmidt, Weltbild, und von Lührs, Athetesen.

4. Quellen und Überlieferung der Fragmente Aristarchs

43

die von uns unternommene Textsammlung und Untersuchung der Wortartenlehre Aristarchs. Unsere Ausführungen zur Überlieferung und Textgeschichte der Iliasscholien ergeben für die Erschließung und Aufstellung der Fragmente Aristarchs folgende Möglichkeiten: In einigen Glücksfällen ist ein Aristarch-Fragment in den Papyri erhalten. 142 Der häufigste Fall ist jedoch, daß ein Aristarch-Fragment aus einem Exzerpt des VMKs stammt, das entweder in A- und in bT- oder auch D-Scholien erhalten ist, oder selbständig nur in einem von diesen drei Scholiencorpora vorliegt. Ein Aristarch-Fragment kann aber auch durch ein exegetisches Hypomnema - also unabhängig vom VMK - überliefert sein, das dann entweder in bT- und in A- sowie in D-Scholien oder nur in einem von diesen Scholiencorpora bezeugt ist. Es besteht ferner die Möglichkeit, daß ein Fragment Aristarchs durch Scholien der Klasse h vervollständigt und bereichert wird. 143 Bevor wir zu den Odysseescholien übergehen, müssen noch zwei für die vorliegende Untersuchung relevante Punkte erläutert werden: erstens die Bedeutung des Aristonikos als Quelle für Aristarchs Homerinterpretation und nicht zuletzt für dessen Grammatik und zweitens van Thiels These über den Charakter der von den Alexandrinern stammenden Homerlesarten. Die Zuverlässigkeit des Aristonikos ist in der Aristarch-Forschung besonders von Roemer, 144 ferner auch von van der Valk 1 4 5 in Frage gestellt worden. Dennoch hat Roemer bekanntlich die Berichte des Aristonikos über Aristarchs Homerinterpretation willkürlich beurteilt. Er hat nämlich alle Quellen, mitunter auch Aristonikos, diskreditiert, sofern sie seinem Bild von der Kompetenz Aristarchs widersprochen haben. 146 Auch van der Valks These, Aristonikos gebe Aristarchs Meinung falsch wieder oder habe manche Erklärungen selbst erfunden, läßt sich nicht beweisen. 147 Andererseits wurden die bei Aristonikos überlieferten Erklärungen stets als einzige Quelle für die Erforschung verschiedener Bereiche der Homerstudien Aristarchs herangezogen, z.B. für seine Worterklärungen, Athetesen und seine mythologische und ästhetische Interpretation Homers. Das ist sicherlich nicht ungerechtfertigt. Denn, wie schon Lehrs und gelegentlich andere Forscher anhand von Vergleichen der von Aristonikos stammenden Erklärun142 Siehe z.B. fr. 198. 143 Vgl. z.B. fr. 99 D. 144 Als Beispiele für die methodische Vorgehensweise Roemers im Hinblick auf die Aristonikosscholien seien seine Erklärungen in der Arbeit über die Athetesen Aristarchs (s. Roemer, Athetesen) und über dessen Homerexegese (s. Roemer, Ar.) genannt. 145 Siehe den Abschnitt über Aristonikos bei van der Valk, Researches 1553ff. 146 Zur Methode Roemers siehe Schmidt, Weltbild 13ff. 147 Vgl. die Kritik Erbses, Gnomon 555, an van der Valks Interpretation einiger Aristonikosscholien.

44

Einleitung

gen Aristarchs mit den durch andere Quellen überlieferten gezeigt haben, ist ja davon auszugehen, daß »alles, was unter Aristonikos' Namen überliefert ist, auf Aristarch zurückgeht]«. 148 Selbst antike Autoren, wie Apollonios Sophistes, Hesych und Apollonios Dyskolos, die Aristarchs Kommentare aus dem Werk des Aristonikos exzerpierten, überliefern diese unter dem Namen Aristarchs, 149 wenngleich Aristonikos ihn namentlich kaum erwähnt zu haben scheint. Aristonikos verzichtete auf Aristarchs Nennung offenbar deswegen, weil er in seinen Aufzeichungen ausschließlich Aristarchs textkritische Zeichen und dessen Ansichten zu erläutern beabsichtigte, so daß seine Zeitgenossen nicht auf Aristarchs Kommentare und Einzelschriften zurückzugreifen brauchten. Folglich gilt Aristonikos für die vorliegende Untersuchung, wie auch Didymos, als einer derjenigen Gewährsmänner, die zum Teil das Werk Aristarchs selbst heranziehen konnten und deswegen für die Erschließung von dessen grammatischer Kompetenz als unentbehrlich anzusehen sind. Wenn sich also ein Ilias- oder Odysseescholion mit Sicherheit Aristonikos zuweisen läßt, 1 5 0 so muß es in unserer Textsammlung als Zeugnis für Aristarchs Ansichten angeführt werden. Das Werk des Aristonikos wurde aber auch von späteren Autoren entweder selbständig - z.B. bei Apollonios Sophistes und Apollonios Dyskolos 151 oder im Rahmen VMKs - so bei Eustathios oder im Suidas-Lexikon 152 - als Quelle für aristarchische Erklärungen herangezogen. Wenn die bei Aristonikos überlieferte Argumentation Aristarchs mit der in den weiteren Quellen dokumentierten übereinstimmt, werden die entsprechenden Parallelzeugnisse in unserer Textsammlung neben dem betreffenden Aristonikosadnotat angegeben. 153

148 So Lührs, Athetesen 5. 149 Siehe dazu unten S. 51f. und 56. 150 Die Aristonikosadnotate, die im Corpus der Iliasscholien, insbesondere im Ven. Α überliefert sind, lassen sich leicht aussondern. Sie beginnen bezeichnenderweise mit dem kausalen δτι, welches die Erläuterung eines kritischen Zeichens Aristarchs signalisiert. 151 Vgl. dazu unten S. 51 und 55f. 152 Siehe unten S. 50. 153 Unsere Vorgehensweise läßt sich anhand der unter fr. 8 angeführten Belegstellen erläutern: Aristonikos überliefert im sch. Ξ 214« (fr. 8 A) die Erklärung zu der Diple Aristarchs am Vers Ξ 214 (das kritische Zeichen ist an dieser Stelle im Ven. Α überliefert; siehe unsere Angabe im textkritischen Apparat des fr. 8). Diese Erklärung betrifft die Auffassung Aristarchs von der Bedeutung und Verwendung des Wortes κεστός bei Homer. Die Ansichten Aristarchs dazu sind, wahrscheinlich unabhängig von Aristonikos, auch im Corpus der exegetischen Scholien überliefert, und zwar im sch. (bT) Ξ 214b (fr. 8 B). Daß es sich auch in diesem Zeugnis um Aristarchs Auffassung handelt, ergibt sich aus der Ähnlichkeit der darin enthaltenen Erklärung mit der im Aristonikos-Scholion Ξ 214« (fr. 8 A) überlieferten. Die bei Apollonios Sophistes (s. fr. 8 D) und Eustathios (s. fr. 8 E) überlieferten Erklärungen zum Wort κεστός stimmen inhaltlich mit der bei Aristonikos und im exegetischen Scholion dokumentierten überein; auch diese Zeugnisse,

4. Quellen und Überlieferung der Fragmente Aristarchs

45

Aristonikos ist für die vorliegende Untersuchung deswegen als Quelle von besonderer Bedeutung, weil viele seiner Aufzeichnungen zu einzelnen Homerstellen den Sachverhalt der Wortartensystematik betreffen. Darin sind auch zahlreiche grammatische Termini bezeugt. Es erhebt sich jedoch dabei die Frage, inwieweit man die bei Aristonikos überlieferte Terminologie auf Aristarch zurückführen kann. Denn selbst wenn alles darauf hindeutet, daß Aristonikos die Ansichten und Argumente Aristarchs zu einzelnen Homerstellen getreu wiedergibt, kann man nicht davon ausgehen, daß er die Fachausdrücke, die er verwendet, in jedem Fall den Schriften Aristarchs entnommen hat. 154 Es ist zudem prinzipiell denkbar, daß Aristonikos seinen Lesern das Verständnis der aristarchischen Argumente erleichtern wollte, indem er sich einer modernen Terminologie bediente, die Aristarch noch nicht verwendet hatte. 155 Bevor wir unsere Vorgehensweise hinsichtlich der Frage erläutern, ob ein bestimmter Terminus, der bei Aristonikos vorkommt, auf Aristarch zurückzuführen ist oder nicht, ist auf zwei grundlegende Beobachtungen hinzuweisen: 1. Aristarch war in der Lage, Eigenheiten der homerischen Sprache und andere sprachliche Probleme, mit denen er sich im Verlauf seiner textphilologischen Arbeit auseinandersetzte, mit Hilfe grammatischer Termini zu beschreiben. Das beweisen die wörtlichen Zitate aus seinen Kommentaren, die im überlieferten Material erhalten sind. 156 2. Die in den wörtlichen Fragmenten Aristarchs dokumentierte Terminologie ist, gemessen an dem zur damaligen Zeit in der grammatischen Wissenschaft erreichten Entwicklungsstand, geradezu modern. So verwendet Aristarch den Terminus ό παρατατικός χρόνος für das Imperfekt und kennt bereits den Ausdruck μετοχή als Bezeichnung für das Partizip. 157 Was nun die Terminologie in den Aufzeichnungen des Aristonikos betrifft, so bieten sich folgende Möglichkeiten für die Beantwortung der oben gestellten Frage: Im besten Fall ist ein Terminus, der bei Aristonikos vorkommt, zugleich auf Aristarch zurückzuführen, wenn dieser Terminus in wörtlichen Zitaten Aristarchs oder in ihm namentlich zugewiesenen Fragmenten belegt ist. Wenn diese Möglichkeit nicht gegeben ist, so ist zu prüfen, ob sich die Verwendung eines bestimmten

nämlich die des Apollonios Sophistes und des Eustathios, sind als Quellen aristarchischer Ansichten anzusehen. 154 Zweifel an der Zuverlässigkeit des Aristonikos hinsichtlich der bei ihm überlieferten Terminologie hat Schenkeveld, Scholarship 276f., erhoben. 155 Hinweis von K. Nickau. 156 Von den in der vorstehenden Anm. 110 angegebenen Belegstellen siehe besonders die wörtlich überlieferten Erklärungen Aristarchs im sch. Β 397b (fr. 81 A 1 ) und im sch. Ω 8α (fr. 92 Α). Vgl. unseren Kommentar zu diesen Scholien auf S. 382f. und 409f. entsprechend. 157 Siehe das wörtliche Zitat Aristarchs im sch. Ω 8α (fr. 92 A).

46

Einleitung

Ausdrucks im gesamten von Aristonikos stammenden Material als konsistent erweist. Ist der Begriffsumfang eines Terminus an einigen Stellen bei Aristonikos ein anderer als der zu seiner Zeit geläufige, so können wir davon ausgehen, daß er den aristarchischen Gebrauch dieses Terminus beibehalten hat. Dies läßt sich an der Verwendung der Ausdrücke κύριον όνομα und προσηγορία in den Aufzeichnungen des Aristonikos gut beobachten. 158 Kommen ferner bei Aristonikos für die Bezeichnung ein und derselben grammatischen Kategorie zwei verschiedene Ausdrücke vor, so ist grundsätzlich zu überlegen, ob einer von ihnen aufgrund seiner Altertümlichkeit auf Aristarch zurückgeht. Dies gilt für die Termini μεσότης und έπίρρημα, die in den Aristonikosadnotaten als Bezeichnungen für das Adverb bezeugt sind. 159 Wenn sich auf der Grundlage der Gesamtüberlieferung Aristarchs keine weitere Möglichkeit zur Kontrolle der bei Aristonikos vorkommenden Termini bietet, sollen diese jeweils im Hinblick darauf geprüft werden, ob sie in der voraristarchischen und in der Zeit unmittelbar nach Aristarch bezeugt sind, und ferner, inwieweit sie dem damaligen Kenntnisstand grammatischer Systematisierung entsprechen. H . v a n T h i e l h a t 1992 in s e i n e m A u f s a t z Zenodot,

Aristarch

und

ande-

re160 eine grundlegend neue These zu den alexandrinischen Homerlesarten entwickelt: Die in den Homerscholien als Lesarten Zenodots, des Aristophanes von Byzanz oder Aristarchs überlieferten Varianten seien sehr oft keine Lesarten, sondern lediglich Verweise auf Parallelstellen meist innerhalb des homerischen Textes oder Kommentare, welche die alexandrinischen Philologen am Rand des ihnen vorliegenden Homertextes notiert hätten. Van Thiels Ansicht nach wurde der Sinn der von Zenodot und seinen Nachfolgern notierten Parallelen in der Zeit nach Aristarch nicht mehr erkannt. Mittelsmänner wie Dionysios Thrax und später Aristonikos und Didymos hätten sie als Textvarianten mißverstanden; dadurch sei vor allem Zenodot Spott und Verurteilung über fehlerhafte Lesarten zum Opfer gefallen. 161 Diese These ist hinsichtlich ihrer Plausibilität sowohl in der Grundaussage als auch in den einzelnen Argumenten auf Kritik gestoßen. 162 Abgesehen von den allgemeinen Einwänden, die in den kritischen 158 Siehe unsere Ausführungen dazu unten S. 218ff. und 225ff. 159 Vgl. dazu unten S. 520ff. 160 Zitiert als van Thiel, Zenodot. 161 Siehe van Thiel, Zenodot 3 mit Anm. 4,6f. und dens., Homertext 34 (zu Punkt 4). Vgl. auch die Erläuterungen van Thiels, Zenodot 7ff., zu den einzelnen antiken Nachrichten über angeblich als Textvarianten mißdeutete Verweise auf Parallelstellen oder Kommentare des Zenodot. Zu den Ansichten van Thiels in seinem Aufsatz Der Homertext in Alexandria (zitiert als van Thiel, Homertext) wird unten, S. 48f., Stellung bezogen. 162 Siehe Rengakos, Homertext 18ff. und besonders ausführlich dazu Schmidt, ZPE; vgl. auch Montanari, Ekdosis 4ff. und H. Erbse, Rezension zu van Thiel, Horn. II., in: Gnomon 71 (1999), 385-388, bes. 387.

4. Quellen und Überlieferung der Fragmente Aristarchs

47

Auseinandersetzungen mit den Ansichten van Thiels vorgebracht wurden, 1 6 3 ist weiterhin zu beachten: Gegen die Annahme van Thiels, erst die Schüler Aristarchs hätten die zenodoteischen Parallelen oder Kommentare als Textvarianten mißdeutet und davon verleitet ihm die Schuld für grobe Fehler zugewiesen, spricht das bislang in der Forschungsdebatte nicht berücksichtigte Aristonikos-Scholion Ξ 162b. 164 Aristonikos begründet an dieser Stelle die Diple periestigmene Aristarchs am Vers Ξ 162 (έλθεΐν είς "Ιδην εΰ έντύνασαν έ αύτήν) folgendermaßen: »[Das kritische Zeichen steht hier,] weil Zenodot έωυτήν schreibt. Es ist aber nicht angemessen, das Pronomen im Akkusativ auf diese Weise zu kontrahieren; denn es wird aufgelöst in die Kompositionsglieder έ und αύτήν verwendet. Aristarch sagt aber, Zenodot habe diesen Unterschied nicht gekannt.« Aus Parallelzeugnissen zum vorliegenden grammatischen Phänomen geht deutlich hervor, worauf genau sich die Kritik Aristarchs an Zenodot bezieht. Hiernach hat Aristarch postuliert, daß Homer die sogenannten »vollen« Formen der Reflexivpronomina verwendet hat, die aus der parathetischen Verbindung des Personalpronomens mit αύτός bestehen, und nicht die zusammengesetzten, welche Zenodot auch an anderen Stellen gebilligt haben soll. 165 Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang jedoch die Tatsache, daß Aristonikos, entgegen seiner Gepflogenheit, in seinen Referaten über die aristarchischen Erklärungen dessen Namen nicht zu erwähnen, an dieser Stelle die Kritik an Zenodot ausdrücklich Aristarch zuschreibt. 166 Diesem Beleg kann man in bezug auf van Thiels These folgendes entnehmen: 1. Zenodots έωυτήν stellt keine Parallele oder Kommentar dar, sondern ist doch wohl als Lesart zu verstehen. So wurde es bereits von Aristarch aufgefaßt und in seinem Unterricht gedeutet. 2. Es ist nicht erst Aristonikos, sondern nachweislich Aristarch, der Zenodot wegen Mißachtung einer Besonderheit der homerischen Sprache kritisiert. Die Formulierung, in der der Einwand Aristarchs an Zenodots Lesart in dem vorgelegten Scholion überliefert ist, entspricht der auch in anderen von Aristonikos stammenden Scho163 Siehe Rengakos, Homertext 19f. und Schmidt, ZPE 2-8. Man beachte die Einwände gegen die mit van Thiels These zusammenhängende neue Deutung der Diple periestigmene, also jenes kritischen Zeichens, das Aristarch gegen Zenodot einsetzte (vgl. dazu v a n Thiel, Horn. II. XVII). Schwierigkeiten bereitet auch die A n n a h m e van Thiels über die Art und Weise, in der die »Verweise Zenodots auf Parallelen« bzw. seine »Kommentare« überliefert sind, nämlich daß Zenodot sie »in ein 'homerisches Gewand' kleidete« (s. van Thiel, Zenodot 5), oder daß sie »sekundär angepaßt wurden« (siehe van Thiel, Zenodot 7 und passim), je nach der Form, in der das zu erklärende Wort an der betreffenden Homerstelle vorkam. 164 Dieses Scholion ist in unserer Textsammlung im Testimonienapparat des fr. 120 angeführt. 165 Siehe die im Testimonienapparat des fr. 120 angegebenen Aristonikos-Scholien. Vgl. unsere Erläuterungen zu diesen Belegen unten S. 470f. und 474ff. 166 Vermutlich deswegen hat Ludwich, A.H.T. I 3 7 1 , 1 6 , den Teil des sch. Ξ 1626 ούχ αρμόζει bis Άρίσταρχος Didymos zugewiesen.

48

Einleitung

lien geäußerten Kritik an den textkritischen Entscheidungen Zenodots. 167 Selbst wenn die an diesen Stellen durch Aristonikos vorgetragene Kritik ohne ausdrückliche Erwähnung Aristarchs überliefert ist, hindert uns doch nichts anzunehmen, daß sie zumindest in ihrer Substanz auf Aristarch zurückgeht. In vergleichbarer Weise wie Zenodot ist später auch Aristarch von seinen Schülern kritisiert worden. 168 Van Thiel hat 1997 in einem zweiten Aufsatz Der Homertext in Alexandria seine These erneut verteidigt, sie aber dahingehend modifiziert, daß die Deutung einer Variante als »Parallele« oder auch als »Kommentar in konkreter Formulierung« (d.h. in Form eines »EinWort-Kommentars«) als eine unter mehreren Möglichkeiten erscheint. 169 Solch eine Deutung einer überlieferten Variante wäre im Einzelfall zwar theoretisch denkbar, dennoch lassen sich in der Praxis keine kohärenten Kriterien für deren Klassifizierung als Parallele oder Kommentar ermitteln. Die Prüfung der Argumentation van Thiels zu einzelnen Stellen hat gezeigt, 170 daß es oft nicht einfach ist, die Annahme einer Parallele oder eines Kommentars plausibel zu machen, ohne daß zugleich die Gegenthese, nämlich die Annahme einer Lesartvariante glaubhaft erscheint. Als charakteristisches Beispiel sind hierfür die sechs »groben metrischen Fehler« zu nennen, die Aristonikos nach Ansicht van Thiels dem Zenodot zugetraut hat.171 Zu diesen Belegen läßt sich sagen, daß an mindestens drei von sechs Stellen die metrischen Einwände sehr schwach sind, wie van Thiel zu Τ 484 und Ζ 34 selbst einräumt;172 für Σ 222 sind sie sogar offensichtlich un-

167 Vgl. den Wortlaut des sch. Ξ 162b (fr. 120 test.) mit dem von Aristonikos im sch. Β 634 (fr. 34), sch. Ξ 274α (fr. 53 test.), sch. Π 697a1 (fr. 87 test.), sch. Α 198b2 (fr. 91 A 2 ) und im sch. Α 56c (fr. 91 test.) überlieferten. In allen Fällen, sowohl in der ausdrücklich auf Aristarch zurückgehenden Kritik an Zenodot im sch. Ξ 162b (fr. 120 test.) als auch in den weiteren hier angegebenen Aristonikosadnotaten wird der Einwand gegen Zenodots Lesart mit dem Ausdruck αγνοεί ν eingeleitet. Zu van Thiels Interpretation des Aristonikos-Scholions Β 634 (fr. 34) siehe unten S. 274, Aran. 340. Die Deutung van Thiels, Zenodot 5, des sch. Α 198b2 (fr. 91 A2) und des sch. Α 56c (fr. 91 test.) ist von Rengakos, Homertext 20, Anm. 5, mit plausiblen Argumenten in Zweifel gezogen worden. 168 Von der Kritik des Sidoniers Dionysios an Aristarchs Orthotonese des Pronomens έθεν in der Wendung πρόσθεν εθεν φεύγοντα (Ε 56; 80. Τ 402) berichtet Herodian im sch. Γ 128« (fr. 122 test.); vgl. dazu unten S. 478f. Dem Bericht des Herodian im sch. Β 262b zufolge ist es wiederum Dionysios Thrax (fr. 4 Linke), der Aristarch kritisierte, weil dieser αιδώ und ήώ als Perispomena, Πυθώ und Λητώ dagegen als Oxytona las; vgl. dazu den Kommentar von Linke, D. Thr. 35f. 169 Vgl. van Thiel, Homertext, dort bes. 15ff. 170 Siehe die Erläuterungen von Schmidt, ZPE 8ff., zu einzelnen Homerscholien; vgl. auch die in der vorstehenden Anm. 167 angegebenen Verweise. 171 Siehe van Thiel, Zenodot 4. Es handelt sich dabei um die Berichte des Aristonikos im sch. Β 520 (Zenodot las καΐ Πανοπτέων, Aristarch και Πανοπήα), sch. Β 634 (Zenodot schrieb Σάμην statt Σάμον), sch. Β 658 (Zenodot las Ήρακλεΐη statt Ήρακληείη), sch. Ζ 34 (Zenodot las δς ναΐε statt ναΐε δέ), sch. Σ 222b1 (Zenodot las όπα χαλκέην statt οπα χάλκεον) und im sch. Τ 484α1 (Zenodot schrieb Πείρεως υίόν statt Πείρεω υίόν). 172 Siehe van Thiel, Zenodot 8f. und 13; vgl. dazu Schmidt, ZPE 9.

4. Quellen und Überlieferung der Fragmente Aristarchs

49

gerechtfertigt. 173 An den drei weiteren Stellen erscheint die Kommentar- bzw. Parallelenthese kaum glaubhaft oder nicht glaubhafter als andere in diesem Zusammenhang in der bisherigen Forschung vertretene Ansichten. 174 In der weiteren Perspektive würde van Thiels Kommentar-These große Bedenken hinsichtlich der grammatischen Kompetenz der Alexandriner hervorrufen. So beruft man sich denn auch in der Historiographie der antiken Grammatik auf diese These, um darauf hinzuweisen, daß vor allem in Fragen der in den Homerscholien überlieferten Terminologie prinzipiell keine Sicherheit bestehen kann. Denn die Erklärungen z.B. Aristarchs bestünden jeweils nur aus einem Wort, das dazu gedacht sei, die im Homertext vorkommende Lesart zu kommentieren. 175 Im Gegensatz zu dieser Betrachtungsweise werden wir in der vorliegenden Untersuchung von Zenodots, Aristophanes' und Aristarchs Lesarten sprechen und meinen damit Zeugnisse ihrer homerischen Rezension, für die jeweils zu prüfen ist, nach welchen grammatischen Prinzipien sie von den alexandrinischen Philologen als sprachlich korrekt oder falsch beurteilt wurden. 4.1.2 Odysseescholien Die Textgeschichte der Odysseescholien ist bisher wenig bekannt, und es fehlt für diese Texte eine Edition, die der Erbses für die Iliasscholien entsprechen würde. Man darf jedoch vermuten, daß für die Überlieferung der Interpretation und der textkritischen Arbeit Aristarchs an der Odyssee ähnliche Bedingungen gegolten haben wie für jene zur Ilias. 176 Es liegen auch hier drei wesentliche Scholiencorpora vor: Fragmente der »Vier Männer« Aristonikos, Didymos, Herodian und Nikanor lassen sich auch im Text der Odysseescholien aussondern. Für die einzelnen Gewährsmänner Aristarchs liegen bereits Fragmentsammlungen vor. 177 Als eine weitere Gruppe kann man ferner Kommentare »exegetischer« Herkunft aussondern; und schließlich gibt es auch zur Odyssee eine Sammlung von D-Scholien. Die Odysseescholien, die für unsere Untersuchung in Betracht kommen, sind fast nur solche, die aus den Arbeiten der »Vier Männer« stammen. Wir haben darüber hinaus einige Scholien berücksich173 Vgl. dazu unten S. 276(., Anm. 350. 174 Zum Aristonikos-Scholion Β 634 (Zenodot schrieb Σάμην statt Σάμον) vgl. unten S. 274f., Anm. 340. Zum Bericht des Aristonikos im sch. Β 520 (Zenodot las και Πανοπτέων, Aristarch και Πανοπήα) und im sch. Β 658 (Zenodot las Ήρακλεΐη statt Ήρακληείη) liefert van Thiel keinen eingehenden Kommentar; siehe dazu die Erläuterungen von Duentzer, Zen. 21f. und von Schmidt, ZPE 9. 175 Siehe Schenkeveld, Contents 44 und dens., Scholarship 286, Anm. 53. 176 Vgl. dazu Nickau, Untersuchungen 2. 177 Siehe Ludwich, A.H.T. 1507ff., zu Didymos, Carnuth, Ariston., zu den Fragmenten des Aristonikos, zu Herodian die Sammlung von Lentz in Hrd. Od. Pros., und von Carnuth, Nie., zu Nikanor.

50

Einleitung

tigt, die unserer Ansicht nach auf Aristonikos zurückzuführen, jedoch in die maßgebliche Fragmentsammlung Carnuths nicht aufgenommen worden sind. 178

4.1.3 »Parallelzeugnisse« zu den Homerscholien Unter dem Begriff »Parallelzeugnisse« fassen wir diejenigen Werke zusammen, deren Textgeschichte mit der der Homerscholien eng verflochten ist. Von den für unsere Untersuchung in Frage kommenden Quellen fallen darunter der Homerkommentar des Eustathios, das Etymologicum Genuinum und das Suidas-Lexikon. All diese Werke sind für die Überlieferung der Fragmente Aristarchs deswegen von Bedeutung, weil ihnen der Kommentar »Apion und Herodor« (ApH) vorgelegen hat, also jene Kompilation, welche unter anderem Fragmente des VMKs, exegetische Scholien und D-Scholien beinhaltete und die Vorlage für das Scholiencorpus im Ven. Α bildete. 179 Unter Heranziehung der betreffenden, in diesen Werken enthaltenden Zeugnisse und durch deren Gegenüberstellung mit den in A- und eventuell in bT- und D-Scholien überlieferten Fragmenten Aristarchs lassen sich seine Erklärungen vielfach präzisieren und nicht selten vervollständigen. Auch die homerischen Epimerismen, vorwiegend die alphabetische Sammlung, ferner auch die sogenannten Scholien-Epimerismen, 180 haben wir bei der Untersuchung der Grammatik Aristarchs an einigen Stellen als Quelle herangezogen. 181 Die an diesen Stellen überlieferten Kommentare Aristarchs wurden durch Herodian vermittelt. 182 Porphyrios' 'Ομηρικά ζητήματα183 kommen als Quelle für die Wortartenlehre Aristarchs nur einmal in Betracht, und zwar in Zusammenhang mit dessen Ansichten über den homerischen Gebrauch der Epitheta. 184 Darüber hinaus liegen Überlieferungen zu Aristarchs Erklä-

178 Siehe z.B. sch. ο 24 (fr. 73); vgl. dazu unsere Erläuterungen unten S. 366. 179 Zum Verhältnis des Venetus Α zu Eustathios und zum Etymologicum Genuinum vgl. Erbse, Beiträge 123ff. Zu den Fragmenten des VMKs im Suidas-Lexikon siehe dens., ebd. 174ff. 180 Ausführliche Informationen über den Verfasser, die Datierung und die Text- und Überlieferungsgeschichte der Sammlungen der homerischen Epimerismen gibt Dyck, Ep. Horn. 13ff. und ders., Ep. Horn. II 23ff. 181 Vgl. Ep. Horn, ο 4 (fr. 96 C), Ep. Horn, κ 149 (fr. 119 B) und Ep. Horn, ο 81 (fr. 167B). 182 Zur Übereinstimmung der homerischen Epimerismen mit Herodian-Scholien zur Ilias siehe Erbse, Beiträge 236ff. Über Herodian als Quelle der Epimerismen vgl. Dyck, Ep. Horn. 129 und dens., Ep. Horn. II 37ff. 183 Zum Verhältnis des Porphyrios zu den b-Scholien siehe Erbse, Beiträge 17ff., und Schmidt, Weltbild 65f. 184 Die betreffende Porphyrios-Stelle ist in unserer Textsammlung unter fr. 14 G angeführt.

4. Quellen und Überlieferung der Fragmente Aristarchs

51

rung dazu bei Aristonikos, Apollonios Sophistes und schließlich bei Eustathios vor. 185 4.2 Apollonios Sophistes - Hesych Das Homerlexikon des Apollonios Sophistes stellt abgesehen von dem oben erwähnten Scholien-Papyrus zu Ilias Β 751-827 (P.Oxy. VIII 1086 [Pap. II Erbse]) das früheste Zeugnis für die aristarchische Homerinterpretation dar. Die Annahme Forsmans, Apollonios Sophistes habe Aristarch direkt bzw. mittels eines Glossarium Aristarcheum berücksichtigt, 186 erweist sich aufgrund neuer Quellenanalysen des apollonianischen Lexikons als unbegründet. 187 Die aristarchischen Erklärungen sind nämlich auf indirektem Wege auch zu Apollonios gelangt. Als wichtigste Mittlerquellen erweisen sich dabei die D-Scholien, das Werk des Aristonikos über die Zeichen Aristarchs, Didymos' Abhandlung über dessen Diorthose und nicht zuletzt die antike Homerexegese, die sich vorwiegend im Corpus der bT-Scholien wiederfindet. 188 Die für unsere Untersuchung in Frage kommenden AristarchFragmente aus dem Homerlexikon des Apollonios weisen meist Entsprechungen zu den Exzerpten des VMKs auf, die dem Werk des Aristonikos entstammen. Von besonderer Bedeutung ist dabei jedoch die Tatsache, daß in einigen Fällen eine bei Apollonios vorliegende Erklärung Aristarchs anders als bei Aristonikos unter dessen Namen überliefert ist. 189 An einer der hier ausgewerteten Stellen, und zwar beim Artikel άπριάτην,190 muß der Lexikograph die Berichte sowohl des Aristonikos als auch des Didymos zu A 99 herangezogen haben; er hat dabei aber auch die Erklärung Aristarchs zu der Odyssee-Stelle ξ 317 berücksichtigt, welche jedoch in den Homerscholien nicht mehr erhalten ist. 191 Vor ein besonders kompliziertes Quellenproblem stellt uns der Artikel des Apollonios Sophistes zum Wort άνέσαιμι.192 Dieses Zeugnis ist für die Grammatik Aristarchs von außerordentlicher Bedeutung, weil es wichtige Informationen über seine Kenntnisse von der Konjugationslehre enthält. Die Quellenfrage dieses Aristarch-Fragments wird im Abschnitt 3.7 (S. 404ff.) des theoretischen Teils dieser Arbeit ausführlich besprochen.

185 Vgl. die unter fr. 14 Α und fr. 14 C (Ariston.), fr. 14 D (Ap. Soph.) sowie fr. 14 Ε und 14 F (Eust.) angeführten Stellen. 186 Diese Ansicht stellt die Grundlage der Quellenuntersuchung Forsmans, De Aristarcho ... fonte, dar. 187 Siehe Gattiker, Das Verhältnis des Homerlexikons des Apollonios Sophistes zu den Homerscholien, Diss. Zürich 1945, Erbse, Beiträge 407ff., Steinicke, Ap. Soph. XrVff. und Schenck, Quellen 39ff. und 127ff. 188 Vgl. dazu Schenck, Quellen 39ff. 189 Siehe z.B. Ap. Soph. 170, 21 s.v. ώδε (fr. 157 B). 190 Siehe Ap. Soph. 39, 25 = gl. 551 Steinicke (fr. 10 C). 191 Vgl. dazu unten S. 525ff. 192 Siehe Ap. Soph. 32,13 = gl. 419 Steinicke (fr. 90 A).

52

Einleitung

In Zusammenhang mit dem Homerlexikon des Apollonios Sophistes kommt auch das Hesych-Lexikon für unsere Untersuchung in Frage, und zwar meist in den Fällen, in denen Aristarchs Erklärungen durch Apollonios vermittelt wurden. Von besonderer Bedeutung sind diejenigen Stellen, an denen Hesych einen umfangreicheren Text des apollonianischen Lexikons überliefert als der Codex Coislinianus 345 (C). 193 So verhält es sich mit Hesychs Artikel zum Wort πάλιν. 194 Die Erklärung Aristarchs im Hesych-Lexikon ist gegenüber der bei Apollonios Sophistes überlieferten umfangreicher und nicht zuletzt deswegen bedeutsam, weil sie explizit unter Aristarchs Namen erscheint. 4.3 Hesiodscholien Außer Homer hat Aristarch auch Hesiod zum Gegenstand seiner philologischen Studien gemacht. 195 Reste seiner textkritischen Arbeit und Interpretation des hesiodeischen Werks sind in den Scholien zu der Theogonie und zu den Erga überliefert. Wie auch bei den homerischen Arbeiten, sind Aristarchs Erklärungen zu Hesiod der Vorlage der heutigen Scholiencorpora durch Didymos 196 und Aristonikos vermittelt worden. Aristonikos hat nachweislich in einer besonderen Schrift auch diejenigen Randzeichen erläutert, die Aristarch an den Text der Theogonie gesetzt hat. 197 Flach hat sich bemüht, aus den Theogonie-Scholien diejenigen Kommentare auszusondern, die auf die Werke des Didymos und des Aristonikos zurückgehen. 198 Die Fragmente Aristarchs aus den Scholien zu Hesiods Theogonie und Erga - insgesamt fünfzehn Stellen - hat Waeschke in seiner Dissertation De Aristarchi studiis Hesiodiis gesammelt und kommentiert. 199 Waeschke hat jedoch die von Aristonikos stammenden Erklärungen Aristarchs nicht berücksichtigt. Aus diesen Überresten der Arbeit Aristarchs an Hesiod haben wir für die Untersuchung seiner Wortartensystematik fünf Stellen ausgewertet. Alle stammen aus den Theogonie-Scholien. 200 Dazu zählen wir 193 Siehe dazu Steinicke, Ap. Soph. XXVff. 194 Siehe He. π 190 Schmidt (fr. 149 C) und den Artikel über das Wort πάλιν bei Ap. Soph. 126, 26 (fr. 149 test.). 195 Über Aristarchs Arbeit an Hesiod informieren Waeschke, Ar. und Flach, Glossen und Scholien 118ff.; siehe auch Cohn, Ar. 872 und Pfeiffer, Geschichte 269f. 196 Zu Didymos' Hesiodkommentar siehe Cohn, Did. 450; vgl. auch die nachstehende Anm. 203. 197 Siehe Su. α 3924: Άριστόνικος Άλεξανδρεύς, γραμματικός, έγραψε Περί των σημείων των έν τη Θεογονίςι 'Ησιόδου και των της Ίλιάδος και 'Οδύσσειας- Άσυντάκτων ονομάτων βιβλία την τετρημένην κεραμίδα . Μ Β. Sch. Horn. (EHQR) ad α 320 (Hrd. Od. Pros. [GrGr III 2.1,133,1]).