Unsinn zur Unzeit: Ein Dialog mit Gilles Deleuze über "Ereignis" im homiletischen und liturgischen Horizont [1 ed.] 9783788734619, 9783788734596

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Unsinn zur Unzeit: Ein Dialog mit Gilles Deleuze über "Ereignis" im homiletischen und liturgischen Horizont [1 ed.]
 9783788734619, 9783788734596

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Evangelisch-Katholische Studien zu Gottesdienst und Predigt

Ferenc Herzig

Unsinn zur Unzeit Ein Dialog mit Gilles Deleuze über „Ereignis“ im homiletischen und liturgischen Horizont

Evangelisch-Katholische Studien zu Gottesdienst und Predigt

Herausgegeben von Alexander Deeg, Erich Garhammer, Benedikt Kranemann und Michael Meyer-Blanck Band 6

Ferenc Herzig

Unsinn zur Unzeit Ein Dialog mit Gilles Deleuze über „Ereignis“ im homiletischen und liturgischen Horizont

Vandenhoeck & Ruprecht / Echter Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.de abrufbar.  2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschþtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: 3w+p, Rimpar Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9260 ISBN 978-3-7887-3461-9

Es gibt viele Sprachen in der Welt, und nichts ist ohne Sprache. 1Kor 14,10

Inhalt Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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0. Was ist ein Ereignis? Vorsätzliches zu dieser Studie . . . 0.1 Deleuze und die Theologie? Zur Forschungslage . . . 0.2 Vom Ereignis schreiben. Zur Methodik dieser Arbeit 0.3 Strukturelles zur Architektur dieser Arbeit . . . . . .

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1. Deleuze und das postbinäre Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Deleuze denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Rhizomische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Ereignis und die Zeiten: Äon, Chronos und das Werden 2.1 Un peu de temps l’ tat pur . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zeit phantastisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die labyrinthische Linie . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die totale Bibliothek . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Verzweigte Pfade . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Zwei Lesarten der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Insistenz in Jetzt und Augenblick . . . . . . . 2.3.2 Vom Nutzen und Nachteil eines Paradoxons . 2.3.2.1 Achilles – endlos . . . . . . . . . . 2.3.2.2 Henri Bergson – zeitlos . . . . . . . 2.3.2.3 Immanuel Kant – raumlos . . . . . 2.3.3 Das Spiel der Ewigen Wiederkunft . . . . . . 2.3.3.1 Alicens Aufstieg aus der Tiefe . . . 2.3.3.2 Nietzsches Schwergewicht . . . . . 2.3.3.3 Deleuzes regelloses Spiel . . . . . .

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A: Ereignis philosophisch, oder: Logik und Phantastik

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3. Ereignis in der Sprache: Logik, Sinn und Unsinn . . . . . . . . . . . 90 3.1 Sprach-Welten: literarische Prolegomena . . . . . . . . . . . . . 91 3.2 Satz-Logiken: erkenntnistheoretische Exkurse . . . . . . . . . . 93 3.2.1 Gottlob Frege und die ,Bedeutung‘ des Sinns . . . . . . . 94 3.2.2 Bertrand Russell und die Wahrheit des Seins . . . . . . . 97 3.2.3 Edmund Husserl und die Intention des Sinns . . . . . . . 101 3.2.4 Alexius Meinong und das Sein nicht-existierender ,Dinge‘ 105

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Inhalt

3.3 Ereignis-Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Die Dimension(en) des Ereignisses als Sinn . . . 3.3.2 Die Struktur des Ereignisses in Sinn und Unsinn 3.4 Unsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Unsinn paradoxal . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Unsinn dimensional . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Unsinn kategorial . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Deleuze zur Wiederholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 B: Ereignis Gottesdienst, oder: Paradoxale Horizonte 1. Ereignis theologisch: Skizzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2. Liturgie in der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 repetitio aeterna oder: Peter Brunner und die ewige Wiederholung des Gottesdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Das eschatologische Gottesdienstereignis von A[dam] bis Z[ukunft] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Christus, der heilshistorische Angelpunkt oder: Gottesdienst und Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . 2.2 repetitio lusa vel lasciva oder: Karl-Heinrich Bieritz und die spielerische Wiederholung des Gottesdienstes . . . . . . . . . . 2.2.1 Das zyklische Gottesdienstereignis im kulturwissenschaftlichen Spiegel . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Spielregeln brechen oder: Gottesdienst und Imitat . . . . 2.3 Liturgie ,zwischen den Zeiten‘: Horizont I . . . . . . . . . . . .

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3. Sinn in der Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Wilhelm Gräb und das Sinnprinzip von Nachfrage und Angebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Sinn als homiletische Fehlkategorie . . . . . . . . . . . . 3.1.1.1 Zur Grundbestimmung des Sinn-Begriffs bei Wilhelm Gräb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.2 Zum Predigtverständnis bei Wilhelm Gräb . . . 3.1.1.2.1 Wilhelm Gräbs Homiletisches Dreieck, Punkt A: Die Hörer:innen . . . . . . . . . . . . 3.1.1.2.2 Wilhelm Gräbs Homiletisches Dreieck, Punkt B: Die Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.2.3 Wilhelm Gräbs Homiletisches Dreieck, Punkt C: Die Prediger:innen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Sinn als plausible Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.1 ,Sinn‘ als Plausibilität und Sinn als Ereignis der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3.1.2.2

Predigt jenseits plausibler Meinungsvermittlungen . . . . . . . . . . . . 3.2 Martin Nicol und die ars homiletica fiendi . . . . . . . . . . . 3.2.1 Ereignis zwischen Kunstwerk und Geisteskunst: Dramaturgische Homiletik . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Ereignis zwischen Predigt und Person: Hermeneutische Stolperstricke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Sprachdimensionen und der homiletische Ereignis-Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Rhizom als texthermeneutisches Paradigma . 3.3 Unsinnige Homiletik: Horizont II . . . . . . . . . . . . . . . .

9 . 224 . 227 . 228 . 237 . 237 . 239 . 242

4. Dialektik und Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Siglen der Bücher von Gilles Deleuze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252

Dank Von diesem Vergänglichen, das stets nur Gleichnis ist, und dabei Unzulänglichen, das hier oder dort Ereignis werden möge, wollte ich schreiben, seit ich kurz nach meinem Ersten Theologischen Examen in eine Quasi-Sog-Bewegung gezogen wurde, die bis in die Gegenwart anhält. Nach einigen Monaten eher unerquicklicher Lehrbuchstudien in Vorbereitung auf die Examensprüfungen geprägt und so einigermaßen desillusioniert von den denkerischen Möglichkeiten innerhalb der Theologie als Wissenschaft, begrüßte mich Dietrich Sagert am „Zentrum für evangelische [damals noch lediglich] Predigtkultur“ im September 2013 in Wittenberg mit den augenzwinkernd formulierten, sinngemäßen Worten, jetzt sei die Zeit des Wiederkäuens vorbei, jetzt beginne die Zeit des Denkens. Dazu gab er mir die „Dekonstruktion des Christentums“ von Jean-Luc Nancy zu lesen, ,falls Du Interesse hast an dem, was mich so interessiert …‘. Interesse hatte ich, allein ich verstand kein Wort. Die Verheißung, das habe nun allerdings etwas mit Denken zu tun, machte mich gleichwohl neugierig, einzusteigen in eine Welt, die von der akademischen Theologie, wie ich sie kannte, nicht erschlossen wurde und ihr auch anscheinend nahezu völlig unbekannt war. Über die Präzision von Begriffen wollte ich auch vor dieser Begegnung einmal länger tiefer nachdenken, weil mich gerade bei der ExamenszeitLektüre theologischer Standard- und Lehrbuchliteratur diesbezüglich oft ein Unbehagen befiel. Den Zugang dazu schenkte mir Dietrich Sagert während meiner Zeit als theologischer Assistent in Wittenberg zusammen mit dem Schlüssel in die Welt des französischen Poststrukturalismus, in die ich fortan immer weiter vordringen wollte. Als ich dann die Möglichkeit bekam, in Leipzig als wissenschaftlicher Assistent bei Alexander Deeg zu arbeiten, wurde aus dieser virtuellen Passion eine aktuale Möglichkeit und über die folgenden fünf Jahre eine Expedition in teilweise atemberaubende Landstriche des Denkens. Und so liegt nun mit diesem Buch meine persönliche, kleine und unvollständige Kartographie dieses Denkens in der Praktischen Theologie vor als inhaltlich identische Fassung des Exemplars, das nach der Verteidigung im Oktober 2019 von der Theologischen Fakultät Leipzig als Dissertation angenommen wurde. Und so bin ich dankbar: An erster Stelle Prof. Dr. Alexander Deeg, den ich vielleicht damals, im April 2014, mit meinem etwas tollkühnen Vorschlag, eine Arbeit über Gilles Deleuze und seinen Ereignisbegriff zu schreiben, überrumpelt haben mag. Dankbar, weil er mich neben und mit meinen Exkursionsüberlegungen tiefer einführte in die an Schätzen überreiche Welt der Praktischen Theologie, wie ich das auch während meines Studiums eher hoffte

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Dank

als ahnte. Dankbar dafür, dass ich bei und mit Alexander Deeg neu und eigentlich lernen konnte, was im strengen Sinne theologisch zu denken bedeutet: zwischen Karl Barth und den Kulturwissenschaften, mit den anregendsten Homiletiker:innen aus den USA und den neugierigsten Student:innen Leipzigs (auch denen mein ausdrücklich großer Dank für alle Gespräche in den Seminarräumen und darüber hinaus gilt, auch wenn ich sie hier aus Raumgründen nicht alle namentlich auflisten kann). Von den vielen, vielen Dingen, für die ich Alexander Deeg in diesen Zeiten der Entstehung meiner Dissertation dankbar bin, will ich hier nur erwähnen, wie unermüdlich positiv er meinem Vorhaben gegenüber eingestellt war – auch während einer etwas dunkleren Phase, in der ich lieber das Projekt abgebrochen und auf ein ,machbareres‘ Thema umgeschwenkt hätte. Die Ermutigungen zu meiner Arbeit und den Zuspruch für mein Arbeiten und Denken, die ich von ihm stets erhielt, sind – auch wenn er selbst vielleicht nicht immer ahnen konnte, ob das am Ende gut ausgehen würde – neben den intensiven Gesprächen bei fast jeder Gelegenheit darüber und davon ausgehend über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Theologie in spätmodernen Zeiten der Hauptgrund dafür, dass dieses Buch entstehen konnte und nun vorliegt. Von Herzen dankbar bin ich auch meiner Zweitgutachterin Prof.in Dr. Magdalene L. Frettlöh, die ich durch glückliche Fügung als Redaktionsassistent der Göttinger Predigtmeditationen als eine derer Mitherausgeber:innen persönlich kennenlernen konnte. Ihr theologischer Scharfsinn, ihre denkerische Präzision und ihre grundsätzliche Sensibilität für Zwischentöne beeindruckten mich schon bei jeder Lektüre der Texte, die ich von ihr kannte, und dass gerade sie sich bereiterklärte, meine Dissertation zu begutachten und dass sie mir in der Endphase meiner Promotion mit fachlichem und auch seelsorglichem Rat vor Abgabe und Verteidigung zur Seite stand, ist mir akademisch und persönlich bleibend unschätzbarer Gewinn. Ich bin, neben Prof. Dr. Alexander Deeg, Prof. Dr. Erich Garhammer, Prof. Dr. Benedikt Kranemann und Prof. Dr. Michael Meyer-Blanck dankbar, dass sie als Herausgeber meine Studie in diese Reihe aufgenommen haben, und dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die unkomplizierte und zuvorkommende Betreuung und Bereitung meines Manuskripts – allen voran und ganz besonders Frau Miriam Espenhain. Ganz weltlich bin ich einer Reihe von Menschen dankbar, die in zahlreichen Gesprächen und profan-poimenischen Zusprüchen mehr zum Zustandekommen dieses Buches beigetragen haben, als ihnen vielleicht bewusst ist. Ich nenne ihre Vornamen und danke von Herzen Arite, Asia, Geraldine, Julian, Karsten, Klara, Konni, Lars, Manfred, Manuel, Marla und Saskia. Herzlich danke ich auch Hanna, Holger, Karsten, Leonie und Sina für manche wichtigen Hinweise kurz vor der Drucklegung. Für die nicht unerheblichen Zuschüsse zu den Druckkosten dieses Buches sehr dankbar bin ich Herrn Kirchenrat Jens Walker stellvertretend für die

Dank

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EKM und Herrn Oberkirchenrat Dr. Andreas Ohlemacher stellvertretend für die VELKD. Mein letzter Dank in dieser Reihung gilt noch einmal Dietrich Sagert, meinem Wittenberger Mentor, ohne den ich die phantastische Welt der Philosophie Deleuzes nie entdeckt hätte und dem ich auch darüber hinaus manche Anregung, manche Spur, manches Lachen und manches Staunen verdanke. Denn der herzlichste und innigste Dank gebührt meiner Frau Anne, die nicht nur in den letzten Wochen vor der Verteidigung einen ziemlich verrückten Ehemann ertragen hat, sondern in allen entscheidenden Phasen der Entstehung meiner Dissertation mit unendlicher Geduld, mir unerklärlicher Selbstlosigkeit und dabei beispielloser Brillanz meine Gedanken zu mir allein unmöglichen Höhen trieb und gleichzeitig meinen Puls niedrig hielt. Ihr widme ich dieses Buch. Leipzig im März 2020

0. Was ist ein Ereignis? Vorsätzliches zu dieser Studie Sagen wir: Es war einmal. Sagen wir: Es war einmal, was einmal war. Sagen wir: Einmal zu einer Zeit. Sagen wir: Sie lebte, sie war. Sagen wir: Es war einmal, es war kein Mal. Enis Maci1

Roland Barthes schreibt in „Mythen des Alltags“ seiner grundsätzlich semiologisch-mythologischen Abhandlung „Der Mythos heute“ eine Anmerkung vor, die sich mutatis mutandis als Einstieg in diese Studie anbietet: „Man wird mir tausend andere Bedeutungen des Wortes Mythos entgegenhalten. Doch ich habe versucht, Dinge zu definieren, nicht Wörter.“2 Nicht um „Mythos“, sondern um „Ereignis“ geht es in dieser Studie, mithin um ein „Ding“, das zurecht den Ruf eines ,container‘-Begriffs genießt. Das gilt vor allem für die Bereiche der Theologie, die „Ereignis“ gern für das „Unfassbare“, „Unerwartete“ und dergleichen mehr substituieren – wobei es dann des Wortes als Ding eigentlich nicht mehr bedürfte. Um eine Begriffsklärung soll es also in dieser Studie gehen, die den Weg des Dialoges von Philosophie und Theologie wählt und sich dabei mit dem Poststrukturalismus bei Gilles Deleuze (1925–1995) von linearem Denken verabschiedet, um so vielleicht am liturgisch-homiletischen Wagnis teilzuhaben, um das es in der Praktischen Theologie immer wieder geht: von dem zu sprechen, von dem nicht gesprochen werden kann – jedenfalls nach Karl Barth.3 -–-–Doch zunächst einige grundsätzliche Vorbemerkungen zur Definition von Ereignis (engl. event; frz. v nement), das doch eigentlich ,unmögliches Ding‘ ist: mehr als ein Wort und jeder Definition naturgemäß entzogen. Definierte man „Ereignis“, d. h.: ,zäunte man es ein‘, verlöre man es in dem Moment, in dem man es begrifflich ergriffen hätte. Was ist ein Ereignis? Streiflichter: Der Duden definiert „Ereignis“ mit „besonderer, nicht alltäglicher Vorgang, Vorfall; Geschehnis“ und den Beispielen – „ein trauriges, bedeutendes, historisches Ereignis 1 Enis Maci, Eiscaf Europa, Berlin 2018, 165. 2 Roland Barthes, Mythen des Alltags (Vollständige Ausgabe), Berlin 42016, 252, *-Anm. 3 Vgl. paradigmatisch etwa Karl Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie (1922), in: Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, GA III/19, hg. v. Holger Finze, Zürich 1990, 148–175.

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Was ist ein Ereignis? Vorsätzliches zu dieser Studie

– die Duplizität der Ereignisse – das Konzert war ein Ereignis (etwas ganz Besonderes) für unsere Stadt“ bzw. den „Wendungen, Redensarten, Sprichwörter[n]“: – „ein freudiges Ereignis (verhüllend: die Geburt eines Kindes) – große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus (es gibt erste Anzeichen für das Bevorstehen einer besonderen Veranstaltung, eines großen Festes, einer bedeutenden Veränderung o. Ä.; nach dem von Lord Byron als Motto gewählten Vers des schottischen Schriftstellers Thomas Campbell [1777–1844]: coming events cast their shadows before)“4 Das Grimmsche Wörterbuch listet das Verb „ereignen“ unter „eräugnen, ereugnen, ereignen, contingere, accidere, steht nur reflexiv und bedeutet eigentlich erscheinen, sich offenbaren“ und führt als Beispiele u. a. auf: „damit die hauptwache bei der hand wäre, die allem unheil, so sich etwa ereignen möchte, vorkäme. Simpl. K. 286; eine ohngefähr einer halben elen lang sich ereignende hosenwunde, die der schneider am besten zu heilen verstand haben möchte. 1013; es würde sich unverlängt ereignen, wen ihr das verhängnis bestimmet hätte. Lohenstein Arm. 2, 217; hette ich mich ganz keiner wankelmütigkeit, welche sich bei jungen cavalliern gemeiniglich zu ereignen pflegt, zu befahren. Schoch stud. leben H 2 b; im fall das gegentheil sich ereigne. pol. stockf. 283; aus vilen sich ereigneten geschichten. Butschky Patm. 721; eräugnet so ein fall sich wieder. Lessing 2, 225; keiner der unglücksfälle, die sich dabei eräugnen könnten. 2, 160; […] wo beidemal besser ereugnen: leugnen stände; du siehst dasz ich nicht nöthig habe mich mit den tagesblättern abzugeben, da die vollkommensten symbole vor meinen eignen augen sich eräugnen. an Zelter 313.“5

Das „Lexikon der Bibelhermeneutik“ schließlich, als das einzige der theologisch-lexikalischen Nachschlagewerke mit einem Eintrag zum „Ereignis“ (weder TRE noch RGG noch EKL führen einen entsprechenden Artikel), blickt auf diesen Begriff mit enzyklopädischer Weite trotz insgesamt bemerkenswerter Kürze: Alttestamentlich wird der fehlende Ereignisbegriff an die Lexeme L57 und den Plural von NFú rückgebunden, um die Worthaftigkeit und den zeittranszendierenden Charakter von Ereignis zu verdeutlichen; verdichtet findet sich das unter genuin theologischen Gesichtspunkten besonders in der „im prophetischen Sprachgebrauch beheimateten Wort-Ereignis-Formel wajehi devar [J]HWH […], die das Wort [JHWHs] als eine in die Wirklichkeit hereinbrechende Größe versteht“.6 Neutestamentlich wird im LBH der 4 Duden, Ereignis. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Ereignis (Stand: 18. 12. 2018). 5 Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. URL: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/ WBNetz/genFOplus.tcl?sigle=DWB&lemid=GE06027 (Stand: 18. 12. 2018), Hervorhebungen im Original. 6 Markus Saur, Art. Ereignis. I. Alttestamentlich, in: Emil Angehrn u. a. (Hrsg.), Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte, Berlin/Boston 2009, 141f., 142.

Was ist ein Ereignis? Vorsätzliches zu dieser Studie

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Begriff unmittelbar mit dem Theologumenon „Christus-Ereignis“ bzw. „Heilsereignis“ verbunden und lehnt sich allgemein an einen historischen Ereignisbegriff an, der mit Anklang an den Alltagssprachgebrauch i. S. von „Geschehen“ oder „Vorkommnis“ von Historiker:innen „gern auch dazu benutzt wird, die prinzipielle Offenheit der Geschichte und das starke Eigengewicht von Kontingenz zu betonen.“7 Systematisch-theologisch ist die Zuordnung des Begriffs „als unerwartetes, unvorhersehbares Geschehen“ eindeutig: „In seinem Offenbarungscharakter gehört E. zum Begriffsrepertoire einer dialektischen und hermeneutischen Theologie. Dialektische Theologie spricht vom E. des ! Wortes Gottes, das entscheidend als Gottes eigene Rede zu verstehen ist, die in der Verkündigung zum sich selbst ereignenden E. der Heilsbotschaft wird. Ihr korrespondiert der Glaube als E. der freien Gnade Gottes. Im E. ist die Unverfügbarkeit des Handelns Gottes begründet.“8 Interessant erscheint mir dabei zweierlei: Zum einen zeigt ein skizzierter enzyklopädischer Durchgang durch das Bedeutungsspektrum des Begriffs „Ereignis“ mehr denn seine Konturen noch seine Uneindeutigkeit, die sich vor allem in den Adjektiven „unerwartet“ und „unvorhersehbar“ niederschlägt und die höchstens über den Umweg von Synonymen oder Begriffskomposita geringfügig an Deutlichkeit gewinnt. M. E. allerdings noch bemerkenswerter: Das LBH bricht an dieser Stelle den theologischen Durchgang ab – eine Rubrik „Art. Ereignis: V. Praktisch-theologisch“, so konzeptionell-naheliegend sie wäre, findet sich dort nicht, stattdessen folgt auf „IV. Systematisch-theologisch“ „V. Literaturwissenschaftlich“ und „VI. Philosophisch“. Was ist ein Ereignis? Die Mondlandung oder die Freilassung Nelson Mandelas und das folgende ,Ende‘ der Apartheid? Das Erdbeben von Sumatra oder die Vernichtung Pompejis durch den Ausbruch des Vesuv? Martin Luther Kings „I have a dream“-Rede oder die Friedliche Revolution in Deutschland? Der Kniefall Willy Brandts oder der Wider-Stand des ,Tank man‘ auf dem Tian’anmen-Platz? Was ist ein Ereignis? Philosophisch nicht eindeutig zu fassen zeigt dieses Begriffswort9 seinen eigenen „noch schwankenden Wortgebrauch, der stets

7 Friedrich Wilhelm Graf, Art. Ereignis. III. Kirchengeschichtlich, in: Emil Angehrn u. a. (Hrsg.), Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte, Berlin/ Boston 2009, 143. 8 Doris Hiller, Art. Ereignis. IV. Systematisch-theologisch, in: Emil Angehrn u. a. (Hrsg.), Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte, Berlin/Boston 2009, 143f., 144. 9 Wenn Bernhard Waldenfels „Ereignis“ als „Begriffswort“ bezeichnet, glückt ihm damit m. E. eine geniale Kategorisierung jenseits der Polarität von Begriff und Wort, d. h. jenseits von Objektivierung einerseits und Bedeutungslosigkeit andererseits; vgl. Bernhard Waldenfels, Die Macht der Ereignisse, in: Marc Rçlli (Hrsg.), Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, München 2004, 447–458, 447.

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Was ist ein Ereignis? Vorsätzliches zu dieser Studie

einen Spielraum der Übergänge behalten muß“, an, wie Martin Heidegger (1889–1987) bemerkt.10 Jacques Derrida (1930–2004) – schon deutlicher auf dem Weg zu dem, was für Deleuze und poststrukturalistische Philosophie bedeutend am und mit Ereignis ist – hat im Rahmen eines Seminars am 01. 04. 1997 einen berühmten Vortrag über „Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen“ gehalten, in der er der Aporie dieser Frage – was ist ein Ereignis? – nachgeht. Er beginnt mit der Bemerkung des Naheliegenden: „Es ist vielleicht nicht überflüssig, daran zu erinnern, dass ein Ereignis Überraschung, Unvorhersehbarkeit und Exponiertheit bedeutet“11, und entwickelt seinen Vortrag dann in Richtung des Sprechens in Bezug auf Ereignis. Derrida unterscheidet zwischen konstativem und performativem Sprechen: „[W]ie Sie wissen (ich will Ihnen hier keine j Vorlesung über konstativ und performativ halten), gibt es ein Sprechen, das man konstativ nennt – es ist theoretisch und besteht darin, zu sagen, zu beschreiben oder zu konstatieren, was ist –, und es gibt ein Sprechen, das man performativ nennt und das etwas tut, indem es spricht. Wenn ich 10 Heideggers Begriff dieses Wortes, der sich aus einer eigen-tümlichen Etymologie zwischen „Ereignen“, „Ver-eignung“, „Übereignung“, „Zu-eignung“, „An-eignung“, „Eigentlichkeit“, „Eignung“, „Geeignetheit“, „Ent-eignung“ und somit vor allem „Eigentum“ ergibt, kann hier nicht nachgezeichnet werden; vgl. zu diesen Begriffen Martin Heidegger, Das Ereignis, Frankfurt am Main 2009, 147–170 (Zitat 147). Heideggers Sprache vom Ereignis ist für eine Analyse im Rahmen dieser Studie zu opak und zu voraussettzungsreich, um sie im Fließtext ,nebenbei‘ zu behandeln, was nur zwei Zitate verdeutlichen sollen: Im gleichen Kontext seiner unveröffentlichten Abhandlungen finden sich unter der Ziffer „186. Das Ereignis. Aufriß“ diese Notate: „Das Ereignis und das anfängliche ,Daß‘ der Anfängnis. ,Daß das Sein ist‘ und mit ihm das Nichts – Was heißt ,daß‘? Das ,Daß‘ des Schreckens, der Wonne, des Schmerzes; das Daß des Schieds des Unterschieds. Das Ereignis und die Einzigkeit (die Wahrheit des 6m). Das Ereignis und die Seinlosigkeit. Das Ereignis und die Enteignung. Das Ereignis und das Eigentum. Das Ereignis und die Anmut des Anspruchs, die Gunst der Anmut.“ Unter der Ziffer „187. Das Er-eignis“ liest man unmittelbar darauffolgend: „ist Er-Eignung, Er-sagen des Eigensten. Das Eigenste ist das Anfängliche in seiner Anfängnis: die Stille der hütenden Anmut, ist als Er-eignung die Über-eignung des Ereigneten in das so erst er-sagte Eigentum (Da-sein). Die Übereignung in das so Er-eignete ist stets Zu-eignung des Eigentums. Die Er-eignung enteignet das Seiende des Anspruchs, allein und zuerst das Seyn zu seyn. Das Eigentliche ist all das Wesende, das zum Er-eignis gehört.“ Vgl. aaO., 181. Jüngst ist eine Dissertation erschienen, die sich diesem und anderer – allerdings nicht dem von Gilles Deleuze – Ereignisbegriffen vertieft widmet, vgl. Lasma Pirktina, Das Ereignis. Martin Heidegger, Emmanuel Levinas, Jean-Luc Marion, Freiburg im Breisgau 2019. 11 Jacques Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. Vortrag am 1. April 1997, Berlin 2003, 7.

Was ist ein Ereignis? Vorsätzliches zu dieser Studie

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zum Beispiel etwas verspreche, spreche ich nicht über ein Ereignis, sondern mein Sprechakt ist das Ereignis, ich verspreche, indem ich spreche.“12

Im Folgenden expliziert Derrida, dass ereignisgemäßes Sprechen grundsätzlich nicht der Mitteilung von Informationen, dem informierenden oder konstativen Sprechen entsprechen kann – dafür stehen Beispiele wie das (etwa Gott gegenüber) bloßes Wissen um die Tat überschreitende „Geständnis“ und die dem Kreislauf des Tauschgeschäfts entzogene und deswegen notwendig überraschende „Gabe“ (noch deutlicher zeigt Derrida die unmögliche Möglichkeit des Ereignisses im Sprechen am der Gabe verwandten Phänomen der Vergebung: „Wenn Vergebung möglich ist, kann sie nur als unmögliche stattfinden.“13), „Erfindung“ ist notwendig Ereignis oder nicht („Es handelt sich darum, zu finden, eintreten und sich ereignen zu lassen, was noch nicht da war. Wenn die Erfindung möglich ist, ist sie keine Erfindung.“14) und – als letztes und für das Begriffswort „Ereignis“ paradigmatisches Beispiel Derridas in dieser Reihe – nicht zuletzt die „Gastlichkeit“: „Wenn es wirkliche Gastlichkeit geben soll, darf ich auf die Ankunft des Ankömmlings nicht vorbereitet sein, ja ich darf noch nicht einmal in der j Lage sein, ihn kommen zu sehen oder im voraus zu identifizieren […]. Der absolute Gast, das ist dieser Ankömmling, für den es noch nicht einmal einen Horizont der Erwartung gibt, der, wie man sagt, den Horizont der Erwartung sprengt, während ich noch nicht einmal darauf vorbereitet bin, den zu empfangen, den ich empfangen werde.“15

Derrida verknüpft diese Alltagsphänomene und das Sprechen als Ereignis mit der Beobachtung, dass gerade in der Einmaligkeit jedes Ereignisses sich jedenfalls potenziell dessen Wiederkehr, dessen Wiederholung ausdrückt: „Wenn ich einen Besucher willkommen heiße, einen unerwarteten Besucher zumal, muss das jedes Mal eine einzigartige Erfahrung sein, sonst ist es kein unvorhersehbares, singuläres und unersetzliches Ereignis. Gleichzeitig muss aber noch auf der Schwelle des Hauses und schon bei der Ankunft des Unersetzlichen die Wiederholung vorausgesetzt sein: ,Ich heiße dich willkommen‘ bedeutet: ,Ich werde dich wieder willkommen heißen.‘ Wenn ich jemanden willkommen heiße, indem ich sage ,Nunja, für diesmal kannst du bleiben, aber …‘, dann passt das nicht. Das Versprechen der Wiederholung muss schon in den ersten Worten enthalten sein.“16

Noch deutlicher wird die Verbindung von Singularität und Wiederholung im Ereignis am Beispiel des performativen Sprechakts par excellence: „Wenn ich heirate, sage ich ,ja‘ […], aber in diesem singulären, ersten und einzigartigen ,Ja‘ muss unmittelbar die j Bereitschaft enthalten sein, das ,Ja‘ zu bestätigen, 12 13 14 15 16

AaO., 19 f. AaO., 30. AaO., 31. AaO., 33 f. AaO., 39.

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nicht nur in der nächsten Sekunde, sondern auch morgen, übermorgen und bis zum Ende des Lebens. Die Wiederholung des ,Ja‘ muss im ersten ,Ja‘ bereits enthalten sein.“17

Ein letztes Mal: Was ist ein Ereignis?, und wir nähern uns Gilles Deleuze. Der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl (*1957) stellt in einem Aufsatz zu genau dieser Frage mit Blick auf die „Ereignisphilosophie“18 von Gilles Deleuze deutlich fest, man müsse gerade in der je gründlicheren Beschäftigung mit Deleuze je deutlicher merken, „dass ebendiese Frage – die Frage ,Was ist ein Ereignis?‘ – als eine falsch oder missverständlich gestellte Frage erscheint, als eine Frage jedenfalls, die dem Ereignis selbst nicht auf die Spur zu kommen vermag. Mehr als andere Fragen […] zeichnet sich die Frage nach dem Ereignis gerade dadurch aus, dass sie in dieser syntaktischen Form weder gestellt noch beantwortet werden kann. Es regt sich der Verdacht, dass die Frage ,Was ist ein Ereignis?‘ nur dann eine Antwort erhält, wenn diese Frage selbst kapituliert, wenn ihr Charakter und ihre Form durchgestrichen, ab-j oder zurückgewiesen werden.“19

Ereignis entzieht sich der ontischen Bindung durch die Was-ist-Frage gerade deswegen, weil durch Was-ist-Fragen nur ,Wesen‘ ermittelt werden können, nicht jedoch das Ephemere, (vermeintlich) Randständige oder gar Unerwartete. Gegen diese Einlinigkeit des Fragens, die die Antwort schon wenigstens kategoriell mitdenkt, zwingt das Ereignis andere Fragerichtungen auf: Wie und wie viele, wo, wann, wo nicht und warum? „Die Frage nach dem Ereignis zielt also nicht auf Antwort und Lösung, sondern auf ihr Problematisches selbst.“20 Mit diesen Streiflichtern ist die Genese der Gedanken zu dieser Studie abgesteckt: Es geht um die Klärung eines zumal in der Theologiegeschichte seit der Moderne – genauer: seit Karl Barth – prominenten Begriffs, und es geht um eine solche Art der Begriffsklärung, wie sie zeitlebens für Deleuze Antrieb war. In seinem letzten, gemeinsam mit F lix Guattari verfassten Buch – ebenfalls mit einer „Was-ist“-Frage im Titel – ist die Richtung seiner ganzen Philosophie rückblickend angegeben: „Die Begriffe warten auf uns nicht als schon bestehende, wie etwa Himmelskörper. Es gibt keinen Himmel für die Begriffe.“ [WPh 10]21 Es geht darum, einen Begriff zu erfinden oder ihm 17 AaO., 39 f. 18 So im Untertitel des ersten Teils der Dissertation von Mirjam Schaub, Gilles Deleuze im Wunderland. Zeit- als Ereignisphilosophie, München 2003. 19 Joseph Vogl, Was ist ein Ereignis?, in: Peter Gente/Peter Weibel (Hrsg.), Deleuze und die Künste, Frankfurt am Main 2007, 67–83, 67 f. 20 AaO., 68. 21 Wenn ich wie hier im Folgenden Deleuze zitiere, verwende ich für seine Bücher Siglen wie WPh (= „Was ist Philosophie?“) oder DW (= „Differenz und Wiederholung“) mit konkreten Seitenangaben, deren Aufschlüsselung sich am Ende dieser Arbeit vor dem Literaturverzeichnis findet.

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wenigstens nachzuspüren und seinen Spuren zu folgen dort, wo die Rede von ihm ist: in der Sprache selbst und in der Zeit, die sie bedingt. Die Gefahr dabei ist, einem Wort nachzugehen, das sich selbst erfinden muss und jede Frage nach ihm als eine problematische entlarvt – Skylla. Das ist zugleich der Reiz der Beschäftigung mit „Ereignis“, dass dieses Begriffswort andererseits die Gefahr einer starren Ontik jedes Begriffs selbst problematisiert – Charybdis. Dazwischen die Erkenntnis: Ein Ereignis, das es „gibt“, gibt es nicht. Das erfordert ein anderes Denken. „Am Anfang des Denkens steht der Einbruch, die Gewalt, der Feind, und nichts setzt die Philosophie voraus, alles beginnt mit einer Misosophie“ [DW 181] – schreibt Deleuze in seinem akademischen Haupttext „Differenz und Wiederholung“. Theologie als Misosophie? Es mag so scheinen, als wäre es seit ein paar Jahren still geworden im Publikationsraum derer, die genuine Philosophie der Gegenwart mit Praktischer Theologie zusammendenken. Dabei ist das Anliegen, das ich hier verfolge – Philosophie und Praktische Theologie zusammenzudenken – nicht neu, auch wenn gegenwärtig ein erneutes Aufleben des ,empirischen Paradigmas‘ zu beobachten ist. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834), der ,Vater‘ der Praktischen Theologie, hat es ihr ins Stammbuch geschrieben in den §§ 26–31 seiner „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums“, wenn er der historischen die philosophische Theologie vorordnet und sie beide von der praktischen Theologie ,gekrönt‘ sein lässt – und war klug genug, in der zweiten Auflage auf die Baum- und Kronenmetapher zu verzichten. Philosophie und Theologie zusammenzudenken, ist theologiegeschichtlich eine Selbstverständlichkeit – unabhängig von der müßigen und auch etwas albernen Frage, wer nun wem Magd sein muss oder den Weg mit der vorangetragenen Fackel erleuchtet. Die Verbindung von Philosophie und Theologie ist vor allem der Praktischen Theologie selbstverständlich, was ich nur durch Stichpunkte in Erinnerung rufen will: Nicht zuletzt in der Praktischen Theologie wären homiletische Umbrüche wie die mit dem Jahr 1984 und Gerhard Marcel Martins Entdeckung des „Offenen Kunstwerks“ in der Semiotik22 und in der Folge mittlerweile so selbstverständlich gewordene homiletische Einsichten in Sprachpragmatik durch Studien wie die von Wilfried Engemann23 oder Frank M. Lütze24 so wenig denkbar gewesen wie die mystagogische Theologie von Manfred Josuttis seit den frühen 1990er Jahren durch ihren Einfluss der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz. Die Verbindung von Psychoanalyse und Theologie,

22 Gerhard Marcel Martin, Predigt als „Offenes Kunstwerk“? Zum Dialog zwischen Homiletik und Rezeptionsästhetik, in: EvTh 44 (1984), 46–58. 23 Vgl. vor allem Wilfried Engemann, Personen, Zeichen und das Evangelium. Personen, Zeichen und das Evangelium. Argumentationsmuster der Praktischen Theologie, Leipzig 2003. 24 Frank Michael L tze, Absicht und Wirkung der Predigt. Eine Untersuchung zur homiletischen Pragmatik, Leipzig 2006.

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wie sie etwa Anne Steinmeier in Forschung25 und Lehre betreibt, ist ohne Philosophie ebenso wenig zu denken wie die ebenfalls hauptsächlich poimenisch orientierte Phänomenologie von Andrea Bieler ohne gegenwärtige Philosoph:innen.26 Überdies: Theologie, die sich seit hundert Jahren mit Nietzsche oder seit jeher mit Aristoteles beschäftigt, muss sich auch heute nicht zieren, den Blick auf die Entwicklungen der gegenwärtigen Philosophie etwa Frankreichs zu werfen. Mir erscheint Deleuze grundsätzlich wie kein anderer27 als Dialogpartner geeignet für ein wissenschaftliches Fach und seine Subdisziplin, die sich seit etwa 100 Jahren in den Fluchtlinien des Begriffswortes „Ereignis“ bewegt,28 weil er gerade als Poststrukturalist die Transluzidität dessen, was mit ihm ausgedrückt wird, auf einen Begriff höherer Ordnung jenseits der simplen Entsprechung mit einem Synonym zu bringen vermag. Geeignet erscheint mir Deleuze überdies grundsätzlich aus zwei Gründen: Zum einen bestand seine Motivation für jedes seiner zahlreichen Bücher darin, jeweils einen Begriff zu schaffen, den es in dieser Form und mit diesem Inhalt zuvor nicht gab. So gibt sich Deleuze in einem Brief an Arnaud Villani vom 29. 12. 1986 rückblickend auf sein Werk Rechenschaft über seinen jeweiligen Antrieb zum Verfassen eines jeden seiner Bücher: „Ich glaube, dass ein Buch, sofern es verdient, zu existieren, in dreifacher Hinsicht charakterisiert werden kann. Man schreibt echte Bücher nur, 1) wenn man denkt, dass die Bücher über dasselbe oder ein benachbartes Thema einer Art umfassenjdem Irrtum unterliegen (polemische Funktion des Buchs); 2) wenn man denkt, dass etwas Wesentliches zu diesem Thema vergessen wurde (erfinderische Funktion); 3) wenn man sich in der Lage wähnt, einen neuen Begriff zu erschaffen (schöpferische Funktion). […] Unter diesen Gesichtspunkten nehme ich jedes meiner Bücher wieder hervor, lasse alle falsche Bescheidenheit hinter mir und frage mich: 1) welchen Irrtum wollte es bekämpfen?; 2) welches Vergessen wollte es wiedergutmachen; 3) welchen neuen Begriff hat es erschaffen […]?“29

Kreisen alle Bücher Deleuzes um diese drei Fragen, finden sie in all ihrer thematischen Diversität ihren ,kleinsten, gemeinsamen Nenner‘ in der Schaffung des Begriffs „Ereignis“. Darin drückt sich zum Zweiten das Ver25 Vgl. etwa Anne M. Steinmeier, Kunst der Seelsorge. Religion, Kunst und Psychoanalyse im Diskurs, Göttingen 2011. 26 Vgl. etwa Andrea Bieler, Verletzliches Leben. Horizonte einer Theologie der Seelsorge, Göttingen 2017. 27 Die einzige Ausnahme zu dieser sehr generell formulierten These bildet indes der Zeitgenosse und Weggefährte Deleuzes, Alain Badiou, mit seinen opera magna: Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis, Zürich/Berlin 2016 und ders., Logiken der Welten, Zürich 2010. 28 Vgl. dazu unten das Einleitungskapitel zu Teil B dieser Studie und zum Begriff „Fluchtlinien“ in seiner Bedeutung für Deleuze insgesamt den Sammelband mit gleichnamigem Untertitel von Friedrich Balke/Joseph Vogl (Hrsg.), Gilles Deleuze, München 1996. 29 Zitiert bei Dosse, Gilles Deleuze, F lix Guattari, 183 f.

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bindende seines in sich hochkomplexen und sich in nahezu alle denkbaren Richtungen der Kultur-, Psychologie- und Philosophieerscheinungen ausstreckenden Gesamtwerks aus: „In allen meinen Büchern habe ich die Natur des Ereignisses gesucht, es ist ein philosophischer Begriff“ [U 206], sagt Deleuze im Gespräch mit Raymond Bellour und FranÅois Ewald im September 1988. Mehr noch: „Es stimmt, ich habe meine Zeit damit zugebracht, über diesen Begriff des Ereignisses zu schreiben“ [U 232; im gleichen Monat im Gespräch mit Robert Maggiori]. Eine theologische Auseinandersetzung damit kann also aufbauen auf dieser bonhoefferschen Erkenntnisprämisse von Theo-logie im Wortsinne auf dem Pol des ersten Begriffs dieses Kompositums: „Einen Gott, den ,es gibt‘, gibt es nicht“30. Und weiß sich zugleich im Horizont der Wirkung der Heiligen Schrift, die das Wort wie keine andere Erkenntnisquelle der Offenbarung wertschätzt (vgl. Gen 1 und Joh 1). -–-–[Und doch: Ob Theologie das dürfe, höre ich schon jetzt fragen – sich auseinandersetzen mit einem Philosophen, der vielleicht nicht anti-, aber doch areligiös war und nichts mehr gemieden hat als theologisches Denken (seiner Zeit und der französischen Kultur)?31 Diese Frage lässt sich jedenfalls poststrukturalistisch sehr einfach beantworten: Sie muss es sogar, wenn sie das Anliegen teilt, vermeintlich abgeschlossene Denktraditionen nicht nur lediglich zu kopieren, sondern aufzubrechen und mitzudenken, was passiert, wenn sich Kontexte verschieben und Texte von Autor:innen emanzipieren, neue Wege beschreiten und andere Spuren ziehen, als es das Subjekt des mit Weg-Gabe des Textes augenblicklich ,toten Autors‘ jemals verordnet hätte 30 So der berühmte Satz, den Bonhoeffer vor „Widerstand und Ergebung“ (Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung [DBW 8], Gütersloh 1998, 514) schon 1929 in seiner Habilitationsschrift grundlegend bedenkt. Der Kontext dort: „,Es gibt‘ nur Seiendes, Gegebenes. Es ist ein Widerspruch in sich, jenseits des Seienden ein ,es gibt‘ auffinden zu wollen. Im sozialen Bezug der Person kommt der statische Seinsbegriff des ,es gibt‘ in Bewegung. Einen Gott, den ,es gibt‘, gibt es nicht; Gott ,ist‘ im Personbezug, und das Sein ist sein Personsein.“ (Dietrich Bonhoeffer, Akt und Sein. Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie [DBW 2], Berlin 1990, 95). 31 Es gibt m.W. nur einen Text von Deleuze, der sich explizit mit dem Christentum auseinandersetzt – und den Deleuze selbst in seinen erst ab seiner Hume-Studie ansetzenden Publikationslisten immer verschwieg. In einem kleinen Aufsatz, den Deleuze in einer von Freunden herausgegebenen Zeitschrift mit nur einer Auflage im Jahr 1946 unter dem Titel „Von Christus zum Bürgertum“ veröffentlichte, geht er dem Problem einer Entwicklung nach, die ursprünglich nach außen gerichtet und durch das Bürgertum vor allem des 19. Jahrhunderts sich immer stärker in die Innerlichkeit zurückzog und so die Grundbewegung des Christentums nach Deleuze in ihr Gegenteil verkehrt: „Indem sie privates Leben wird, hat sich die Natur in der Form der Familie und der guten Natur vergeistigt; der Geist hat sich, indem er Staat wurde, in der Form des Vaterlandes vernatürlicht“; Gilles Deleuze, Du Christ la bourgeoisie, zitiert bei Dosse, Gilles Deleuze, F lix Guattari, 155.

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haben können. So beschreibt Dietrich Sagert (*1963) in seinem Vorwort zu seinem Buch über „Homiletische Miniaturen“ diese notwendige Entwicklung von Gedanken und Texten in zweiter Hand als Spiel programmatisch nicht zuletzt für Praktische Theologie: „Gedanken und Themen wandern. Sie wandern aus, je mehr ihre angestammten Gehäuse verknöchern. Sie verstecken sich oder kehren in anderen Zusammenhängen, an anderen Orten, in anderer Form wieder. So wandern auch theologische Gedanken und nehmen Zuflucht bei Philosophie, Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaft. Theologische Gedanken wandern aus und nehmen Zuflucht in anderen Zusammenhängen. Sie verstecken sich dort, verändern sich und können gefunden werden, aufgestöbert. Auf diese Weise locken sie in Grenzbereiche herkömmlicher Theologie und Predigt. Sie spielen Versteck und nehmen dabei in Kauf, dass Grenzsteine und Zäune umgerissen werden. Werden diese Gedanken gefunden in ihren Verstecken, können sie ihrerseits inspirierend und neuschöpfend auf kirchliche und theologische Diskurse zurückwirken. Sie können ihr Spiel weitertreiben.“32

Die Binarität des Entweder-Oder aufzulösen in ein Spiel des flottierenden Sinns ohne apriori festzulegende Bedeutung birgt schließlich auch innertheologisch die Chance, auszubrechen aus eingefahrenen Gegenüberstellungen der Gedankensysteme – etwa die Unterscheidung in ,liberale‘ oder ,dialektische‘ Theologie, die seit Beginn des 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein dominant ist, könnte so überwunden werden zugunsten einer Analyse der Komplexität und systeminternen Differenz dieser theologischen ,Schulen‘, aus der schließlich tatsächlich Neues hervorbrechen könnte.] -–-–Ereignis ist der poststrukturalistische Begriff par excellence – und aus diesem Grund allein ist es lohnenswert, sich bei Gilles Deleuze als einem der bedeutendsten Philosophen des Poststrukturalismus umzusehen nach Konturen dieses Begriffswortes. Dabei ist diese Studie keine „über“ Gilles Deleuze i. S. einer einleitenden oder ausführenden Einführung in sein Verständnis von Ereignis. Diese Studie ist vielmehr eine über Gilles Deleuze und im Dialog mit ihm – u. U. auch so, dass er selbst dabei unverhofft ,Vater‘ von ,Begriffen‘ wird, die er so nicht gedacht haben wollte. Ich will auf den folgenden Seiten mit Deleuze über Deleuze hinausdenken, um einem Begriff nachzugehen, der theologisch breit rezipiert und nie bestimmt wurde. Ich tue das auf dem Feld der Praktischen Theologie, das als Rubrik als einziges im LBH vernachlässigt und übersprungen wurde, und werde mich dabei sowohl bei Deleuze selbst als auch einer Auswahl der Traditionen bedienen, die Deleuzes Philosophie formten. Das weiterzudenken in liturgische und homiletische Sphären ist das deleuzianische, poststrukturalistische Vorhaben dieser Studie: einen Begriff 32 Dietrich Sagert, Versteckt. Homiletische Miniaturen, Leipzig 2016, 11.

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zu entwurzeln, ihn sich ,deterritorialisieren‘ und wieder ,reterritorialsieren‘ lassen, ihn erfinden.

0.1 Deleuze und die Theologie? Zur Forschungslage „Eines Tages wird das Jahrhundert vielleicht deleuzianisch sein“33, vermutete Michel Foucault (1926–1984). Er meinte weder das 21. Jahrhundert und schon gar nicht die Theologie, und allein für diese Kombination kann man gegenwärtig nur feststellen: Deleuze fehlt. Jedenfalls in der (deutschsprachigen) Theologie. Sind die Schriften von Deleuze in den Kultur-, Theater- und Literaturwissenschaften mittlerweile Standardgegenstand von Forschung und Lehre, verwundert es sehr, dass vor allem, aber nicht nur die Theologie hierzulande nahezu gar keine Kenntnisse von Deleuze zu haben scheint.34 Mit Ausnahme des Theologen und Kulturwissenschaftlers Dietrich Sagert, der Deleuze auf explizit spielerische Weise auf das Potenzial seiner Philosophie für Liturgie und Predigt hin liest, kann man nüchtern betrachtet ein komplettes Fehlen von Deleuze innerhalb der deutschsprachigen Theologie konstatieren. Sagert, der in nichtuniversitärer Gebundenheit Theologie und Philosophie verbindet, schreibt nicht systematisch über Gilles Deleuze, sondern findet Anregendes in seinen Schriften, platziert diese Fundstücke in seinen Büchern teilweise ganz unvermittelt und ohne Ein- oder Ausleitung35 und denkt diese Gedanken in die Kontexte theologischer Schrift- und Sprachhermeneutik hinein. In „Vom Hörensagen“, wofür die letzten beiden Worte eines längeren Deleuze/Guattari-Zitates titelgebend wurden,36 dominiert das ,Thema‘ der ,kleinen Sprache‘, der langue mineur: „Wenn ich rhetorische Figuren hier ,kleine rhetorische Figuren‘ nenne, beziehe ich mich auf den französischen Philosophen Gilles Deleuze. Im Anschluss an seinen Ausführungen zu einer ,kleinen Literatur‘ nach Franz Kafka, einem ,kleinen Theater‘ nach dem italienischen Regisseur Carmelo Bene und an eine ,kleine Philosophie‘ möchte ich das ,klein‘ bei ,kleine rhetorische Figur‘ folgendermaßen charakterisie33 Michel Foucault, Theatrum Philosophicum, in: Gilles Deleuze/Michel Foucault (Hrsg.), Der Faden ist gerissen, Berlin 1977, 21–58, 21. 34 Ein Überblickswerk über das Wechselverhältnis von Poststrukturalismus und Religionstheorie mit einem 23-seitigen Kapitel zu „Deleuze and Nomadology“ ist – wenn auch aus religionswissenschaftlicher und nicht theologischer Perspektive – immerhin ein Anzeichen dafür, dass sich in naher Zukunft etwas an diesem Missverhältnis ändern könnte: Vgl. Carl A. Raschke, Postmodernism and the Revolution in Religious Theory. Toward a Semiotics of the Event, Charlottesville 2012. 35 So sehr unterhaltsam mit Deleuzes Ab c daire und WPh zum Begriff Ritornell einerseits und über den Scenopoeietes dentirostris – „ein vollkommener Künstler“ – andererseits in Dietrich Sagert, Vom Hörensagen. Eine kleine Rhetorik, Leipzig 22014, 33.123 f. 36 AaO., 97 f. mit Bezug auf TP 107.

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ren: Im Unterschied zu majeur bezeichnet mineur bei Deleuze in den genannten Zusammenhängen die Dinge jenseits der Norm, des status quo und des Repräsentativen. Mineur meint die Dinge an den Rändern, dort, wo sie im Werden begriffen sind. Mineur meint Sprache dort, wo sie zu stottern beginnt und erfinderisch wird, wo sie den Bereich der repräsentativen Hochsprache verlässt und neue Worte hervorbringt, wo sie die Grenze des Schweigens berührt. Mineur meint Theater dort, wo dramatische Konflikte ihres Herrschaftsapsektes beraubt sind, wo nicht Macht der Antrieb ist, j sondern die Kraft aus der Ohnmacht hervorbricht. Mineur meint Philosophie, wo sie zu denken beginnt, was bis dahin undenkbar erschien und das Geländer von Systemen verlässt. Mineur hat hier nichts mit quantitativer Minderheit oder Mehrheit zu tun. Es stellt vielmehr den Aspekt des Werdens in den Mittelpunkt.“37

In „Versteckt“, dem Nachfolgebuch in der EKD-Reihe „Kirche im Aufbruch“, wird Deleuzes Begriff der Wiederholung zentraler Ausgangspunkt für Sagerts Plädoyer für neue Entdeckungen in der Liturgie, angefangen bei den Lesungen über Kernbestandteile des Gottesdienstes wie Hallelujah und Credo.38 Und seit diesen beiden Büchern begegnet Deleuze immer wieder häufiger und verstreut auf dem Blog „Unterwanderungen“39. Aus der regelmäßg erweiterten Fülle der dort versammelten Texte (die sämtlich lesenswert sind) empfehle ich die Einträge vom 17. 12. 2018 – „Im Laufe der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts arbeitete der kanadische Philosoph Constantin Boundas aus Ontario an seiner Doktorarbeit über Paul Ricœur. Bei einem Aufenthalt in Paris fielen ihm in einer Buchhandlung Schriften von Gilles Deleuze in die Hände. Er wechselte das Thema seiner Doktorarbeit. […]“ –, die „minderheitlich werden“-Beiträge I und II vom 21. 02. 2017 und 21. 10. 2018 mit ihrem gesellschaftspolitischen Gewicht, und den mit „Wer da?“ überschriebenen Eintrag über Hamlet und die fides ex auditu vom 20. 11. 2017. International bemühen sich hingegen in jüngerer Zeit zwar immer noch nicht viele, allerdings in den vergangenen Jahren zunehmend mehr Theolog:innen um die Entdeckung dieses Philosophen, der sicherlich Ungewohntes zu sagen hat, und sie betreiben diese Entdeckungsreisen auf den breiten 37 AaO., 71 f. Vgl. auch etwas systematischer die drei Merkmale einer langue mineur nach Sagert mit konkretem Bezug auf gesprochene Sprache (in der Homiletik) aaO., 115–117. 38 Ders., Versteckt. Homiletische Miniaturen, Leipzig 2016, 20–38. 39 Schon das Vorwort dieses Blogs ist unausgesprochen deutlich deleuzianisch: „Denken gehört zu Predigt und Liturgie wie die Arbeit an Sprache und Manuskript und das Üben an Sprechen und Auftritt. Lesend macht sich das Denken auf den Weg. Es gewährt damit zugleich einem Begriff Einlass in seinen denkerischen Vollzug, der einer schlichten aber auch einer komplex lehrhaften Wiederholung meist entgeht: die Differenz. Jene kleinen Verschiebungen, Abweichungen, Unterwanderungen von dem, was man gewohnt ist – also immer nur erkennt, weil man es schon kennt – bilden den entscheidenden Unterschied zwischen Selbstreferenz und einer denkerischen Praxis, zwischen Selbstbespiegelung und einer spirituellen Praxis, zwischen Selbstdarstellung und einer homiletisch-liturgischen Praxis.“ ders., URL: https://www.predigtzentrum.de/Seiten/Blog%20von%20Dietrich%20Sagert.html (Stand: 25. 03. 2019).

Deleuze und die Theologie? Zur Forschungslage

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Wegen der theologischen Disziplinen.40 Unter ihnen stechen besonders die belgische Systematische Theologin Kristien Justaert sowie die US-Amerikaner Christopher Ben Simpson und Daniel Barber heraus mit ihren Monografien zu „Theology after Deleuze“, „Theology and Deleuze“ bzw., „Deleuze and the Naming of God“. Gehen alle diese drei Publikationen hauptsächlich der Bedeutung von „Immanenz“ als Begriff und Konzeption für Deleuze und so für die Theologie nach, ist Justaerts Ansatz41 insofern bemerkenswert, als sie ihn zum Ausgangspunkt für eine positive und affirmative Richtungsentscheidung macht in „a crisis of transcendence“ nach dem Ende eines „transcendent paradigm“42. Mit der entsprechenden positiven Wiedergewinnung eines theologischen Immanenzbegriffs verbindet Justaert in vier Kapiteln, die allesamt vom Kernbegriff „Leben“ handeln, Deleuzes Lesart der Tradition der sog. Lebensphilosophie (hier vor allem Nietzsche), Spinozas und der Philosophen der Stoa. Justaert versucht zu zeigen, wie Deleuzes Abneigung gegen metaphysisch-theologische Gottessprache affirmativ der Theologie von Nutzen sein kann, wo der Transformationsweg von „God“ weg hin zu „being“ in einem allgemeinen und umfassenen Sinn verstanden wird.43 Insgesamt ist diese „Lebenstheologie“, die Justaert ,nach‘ Deleuze zeichnet, eine ethisch orientierte (so die Überschrift des vierten und letzten Kapitels und damit Zielpunkt nach ,Immanent Life‘, ,Spiritual Life‘ und ,Creative Life‘: „Ethical Life“), die anhand der ,minority‘-Figur – ähnlich wie bei Sagert – das Werden als

40 Alttestamentlich etwa wird Deleuze gelesen von Roland Boer, Between the Goat’s Arse and the Face of God. Deleuze and Guattari and Marx and the Bible, in: Journal for the Study of the Old Testament 37 (2013) 3, 295–318. Neutestamentlich bemerkenswert sind die Beiträge von Bradley H. McLean: Bradley H. McLean, Re-imagining New Testament interpretation in terms of Deleuzian geophilosophy, in: Neotestamentica 42 (2008) 1, 52–72 und ders., The exteriority of biblical meaning and the plentitude of desire. An exploration of Deleuze’s non-metaphysical hermeneutics of Kafka, in: Neotestamentica 43 (2009) 1, 93–122. Vgl. auch, mit Blick auf Bergson und Deleuze, Claudia Setzer, “This Voice Has Come for Your Sake”. Seeing and Hearing in John’s Gospel, in: JRFM 2 (2016) 1, 35–47. Aus der überschaubaren ,Fülle‘ der theologischen Publikationen herausgegriffene andere, fundamentaler angelegte Aufsätze, die mir bemerkenswert erscheinen: Philip Goodchild, A Theological Passion for Deleuze, in: Theology 99 (1996) 791, 357–365; Clayton Crockett, Post-Secularism, Secular Theology, and the Names of the Real, in: Dialog 54 (2015) 4, 317–326 und Jacob Holsinger Sherman, No werewolves in theology? Transcendence, immanence, and becoming-divine in Gilles Deleuze, in: Modern theology 25 (2009) 1, 1–20. 41 Vgl. auch ihre Aufsätze, v. a. Kristien Justaert, „Ereignis“ (Heidegger) or „la clameur de l’Þtre“ (Deleuze): topologies for a theology beyond representation?, in: Philosophy & theology 19 (2007) 1/2, 241–256; dies., Gilles Deleuze: valuation th ologique, in: Laval th ologique et philosophique 65 (2009) 3, 531–544; dies., Gilles Deleuze’s „theology“: a liberation theology or an ontology for the Western Buddhist?, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 57 (2010) 1, 96–110. 42 Kristien Justaert, Theology After Deleuze, London 2012, 8. 43 Vgl. aaO., 29.

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Was ist ein Ereignis? Vorsätzliches zu dieser Studie

,becoming‘ betont und in die mit befreiungstheologischen Grundmotiven verknüpfte Vision einer „immanentisation of theology“44 mündet: „Inspired by Deleuze, the churches that liberation theologies could envision are radically different than the church as we know it. A church assemblage is a nonhierarchical, temporary encounter of minorities […] that function together in their resistance against the captivation of desire and the consequential forms of oppression and exploitation endemic to capitalism. From the margins, a liberating church creates an immanent plane of resistance that can question and challenge established institutions and logics. Could it be that this kind of church is more akin to the testimony of Jesus Christ, that it is a more worthy ,repetition‘ of the Christ-event, than the church we know today?“45

Grundsätzlich große Bedeutung räumt zwar auch Christopher Ben Simpson der Philosophie Deleuzes für die Theologie ein, bleibt aber angesichts der werk- und textinhärenten Immanenzfokussierung bei Deleuze letztlich skeptisch. Simpson bietet eine leicht verständliche und kurze Deleuze-Darstellung, die auf 110 Seiten (plus Endnoten) neben einer systematisierenden Einführung insgesamt einen Überblick gibt über zentrale Motive der Philosophie Deleuzes, die theologisch fruchtbar gemacht werden können. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass, „[w]hen Deleuze does, on occasion, have something to say about God or religion or theology, he is usually quite negative“46 – meist allerdings äußert sich Deleuze gar nicht zu theologischen Fragen. Diese Monografie ist entsprechend der Versuch, mit seinen nichttheologischen Begriffen theologisch umzugehen – ein ambitioniertes Vorhaben, das seinen Ankerpunkt genau wie bei Justaert im Immanenzbegriff findet (vgl. die Überschrift zu Kapitel „5.1: Deleuze being done with the judgement of God: Immancence over transcendence“47) und in der Erkenntnis der Radikalität des Begriffs bei Deleuze eine unentschiedene Position einnimmt, die der Aporie der Unvermittelbarkeit – auch dies ähnlich wie bei Justaert, allerdings weniger entschieden – durch die ethisch-ekklesiatische Fluchtlinie der ,Universalität‘ der Philosophie Deleuzes entgeht: „Becoming the church as body of Christ, as a living, fluid community of the world, is an extension between the becoming of the self and the divine milieu of the world in communion with, sur-animated by, the Triune God. Ecclesia in this frame is a coming or bringing together, an arrangement, an assemblage – a sympathetic symbiosis, a life together, a multiplicity ‘made up of many heterogeneous terms and which establishes liaisons, relations between them, across ages, sexes and reigns – different natures’. The church is (or can, should be) the Christ-assemblage – as something that happens and continues to happen ‘which brings into play within us and outside us popula44 45 46 47

AaO., 132 (Hervorhebung im Original). AaO., 130. Christopher Ben Simpson, Deleuze and Theology, London 2012, 49. AaO., 74.

Vom Ereignis schreiben. Zur Methodik dieser Arbeit

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tions, multiplicities, territories, becomings, affects, events’ – bringing together in the evolving body of Christ, knitting together, a series of binding and unbinding knots and nodes and packs and constellations […] throughout the world and throughout history.“48

Daniel Colucciello Barber schließlich schreibt im Ausgang von Deleuzes Immanenzbegriff eine politische Theologie, die in die gleiche Richtung weist und zugleich am radikalsten verfährt: Barber entwirft eine radikale Transzendenzkritik ausgehend von Deleuzes Nietzsche-49 und Spinozalektüren50 und zeichnet die Konturen einer Theologie, deren Betonung von Immanenz und Minorität den majoritären, hierarchischen und autoritären Tendenzen – und damit dem Transzendenzdenken – innerhalb der Theologie entgegenwirkt. Zielpunkt dieser anspruchsvollen Studie ist der Begriff „fabulation“, den Barber einführt, um sein im Anschluss an Deleuze entwickeltes Immanenzkonzept narratologisch zu fixieren und ein Gegennarrativ zur autoritären Binarität von ,wahr‘ und ,falsch‘ zu entwickeln: „Fabulation names the capacity to tell a story that outstrips the criteria that would decide on its truth or falsity. […] j The opposition between the true and the false is thus crossed by the necessity of telling a story, and excessively so.“51 Dieser Immanenznarrativ funktioniert für Barber allerdings nur nach Absage an jede Form von Transzendenz: „theological transcendence is dead“52.

0.2 Vom Ereignis schreiben. Zur Methodik dieser Arbeit Die radikale Infragestellung eines als Hierarchiekonzeption verstandenen Transzendenzbegriffs, die affirmative Neuentdeckung der Immanenz oder die Unentschiedenheit dazwischen: Diese drei beschriebenen Ansätze halte ich nicht für zielführend, weil sie sich auf deduktivem Weg zu Begriffen verhalten, die sich so oder so ähnlich bei Deleuze sicherlich finden und skizzieren lassen, deren Übertrag in die Theologie allerdings notwendig entweder in Aporien 48 AaO., 109, mit Bezug u. a. auf „Tausend Plateaus“. 49 So die ersten Sätze aus Daniel Barber, Deleuze and the naming of God. Post-secularism and the future of immanence, Edinburgh 2015: „It’s been awhile since Nietzsche’s madman passed through the marketplace, proclaiming ‘God is dead!’ Should we imagine, that we have, by now, taken his proclamation to heart?” 50 „Deleuze’s account of immanence begins with his interpretation of Spinoza […]. Specifically, it arises from his discussion of the Spinozian triad, which includes: substance, or God, the oneness of being; attributes, or forms; and modes, or individuals. These terms, which provide the architecture of reality, are immanently related insofar as they can be thought neither separately nor hierarchically. On the contrary, they are mutually constitutive, and so one cannot speak of substance, attributes or modes except by speaking of the relations between substance and attributes, substance and modes, and attributes and modes.“ AaO., 41. 51 AaO., 200 f. 52 AaO., 212.

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Was ist ein Ereignis? Vorsätzliches zu dieser Studie

führen muss oder arbiträre Konstruktionen hervorbringt. Arbeiten sich alle mir bekannten Monografien an der Bedeutung der Immanenz für Deleuze und daran angelehnt für die Theologie ab, geht diese Studie bewusst einen anderen Weg, gerade weil die deduktive Suche nach Hilfestellung von und bei Deleuze m. E. entweder zum Scheitern oder zum Zirkel verflucht ist. Meine Überzeugung ist: Theologisch kann man Deleuze nur dann fruchtbar machen, wenn man ihn selbst entdeckt und nicht in ein Zwiegespräch verwickelt, an dem er kein Interesse haben konnte. Ist der Begriffskomplex um „Immanenz“ ein m. E. denkbar schlechter Ausgangspunkt für eine Deleuzelektüre, die mehr und anderes als Affirmation oder Abgrenzung zum in der Theologiegeschichte so oder so ähnlich schon Gedachten finden will, bietet sich „Ereignis“ umso mehr an, jenseits von Grabenkämpfen und Positionierungszwängen in aller Offenheit mit Deleuze zu denken statt gegen ihn oder an ihm vorbei. Das bedeutet allerdings methodisch, dass diese Studie den deduktiven Weg nicht gehen kann. Die Abkehr von diesem Weg erscheint einerseits nötig, weil Deleuze der (deutschsprachigen) Theologie ein Unbekannter ist. Wichtiger und zwingender allerdings ist der Umstand, dass hier der Gegenstand selbst – „Ereignis“ – die Methode der Arbeit vorgibt. Ist der Weg dieser Studie zu einem theologisch nicht eindeutig bestimmten oder vereinnahmbaren Begriff ein Weg mit Deleuze, ist das dafür m. E. notwendige Vorgehen allerdings auch nicht ohne Weiteres induktiv – die folgenden Seiten führen zwar auch in Deleuze ein und holen sich so unvoreingenommen wie möglich Hinweise von ihm, bestimmen aber nicht ausgehend von Deleuzes Überlegungen und können so nicht bestimmen, was Ereignis ist. Man könnte das Verfahren dieser Studie aus dieser Verlegenheit heraus conduktiv nennen: Mit Deleuze werden hier teils verschlungene Pfade betreten und die Facetten von „Ereignis“ beleuchtet, ohne es als Begriff ergreifen zu wollen. Es werden so quasi-detektivische Streifzüge mit Deleuze unternommen in die reiche Welt u. a. der phantastischen Literatur und der logischen, der phänomenologischen und der kritischen Philosophie, um Entdeckungen zu machen und der Frage nachzugehen – nicht: was Ereignis ,ist‘, sondern wo und wie und in welchen Konturen Ereignis ist. Und das schließlich praktischtheologisch.

0.3 Strukturelles zur Architektur dieser Arbeit So gestaltet sich der Aufbau dieser Studie teilparallel: In zwei Teilen skizziere ich A: Philosophie und B: Praktische Theologie des Ereignisses zunächst mit und dann nach Deleuze jeweils nach einer ersten Hinführung zu Deleuze selbst und zum Ereignis in der Theologie. Der Leitgedanke: Wo Sprache in ihrer zeitgebundenen Vorfindlichkeit Ereignis ausdrückt, wird dem auch in

Strukturelles zur Architektur dieser Arbeit

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jeweils einem der Zeit und einem der Sprache, näherhin Sinn und Unsinn in der Sprache gewidmetem Kapitel nachgegangen. Dem entspricht ein vom Ereignis ausgelöstes Denken, das sich von der Doxa, dem Gemeinsinn und der Rekognition losgesagt hat. Es ist ein Denken in Paradoxa, wie Deleuze es in seiner nur kurze Zeit nach „Differenz und Wiederholung“ veröffentlichten Folgestudie „Logik des Sinns“ in 34 ,Serien von Paradoxa‘ entfaltet. Dieses Werk in seiner rhizomischen Vielschichtigkeit und seinen Streifzügen durch die Philosophiegeschichte und Gegenwartsliteratur soll – zusammen mit „Differenz und Wiederholung“ – im Folgenden der Ausgangspunkt für die Überlegungen zu ,Ereignis-Zeit‘ resp. ,-Sprache‘ sein mit der vorweggenommenen Erkenntnis: Ereignis konstituiert Zeit auf differente und wiederholende Weise und drückt sich in einer dynamischen Sprache aus, die selbst nie un-zeitlich gedacht werden kann, sich immer in Zeit vorfindet und durch Zeit gestaltet ist. Die theologische Transversion erfolgt dadurch, dass einem Kapitel zum so philosophisch ausgeführten Ereignis in Verbindung von linearer und zyklischer Zeit ein liturgisches Kapitel zur Zeit entsprechen wird und einem Kapitel zum philosophischen Ereignis sowohl hinsichtlich des Sinns als auch des Unsinns ein homiletisches Kapitel. Gehe ich im Teil A dieser Studie der philosophischen Tradition entlang, die für Deleuzes Begriffsgenese entscheidend waren, entfalte ich in Teil B anhand von jeweils zwei konzeptionell unterschiedlichen Ansätzen der Liturgik (Peter Brunner und Karl-Heinrich Bieritz) und Homiletik (Wilhelm Gräb und Martin Nicol) Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, einen an Deleuze geschärften Ereignis-Begriff theologisch zu denken. Beide Hauptkapitel aus Teil B schließe ich jeweils mit einem „Horizont“-Kapitel ab, das Perspektiven und Anstöße für möglicherweise naheliegende liturgische und homiletische Konzeptionen formuliert, ohne selbst einen Abschluss darzustellen. Daran mag sich in homiletisch-liturgischer Explikation zeigen: Auch theologisch ist Ereignis nie, sondern wird, ek-sistiert nicht, sondern sub-sistiert jeder Existenz und in-sistiert in allem Gegebenen. M.a.W.: Wenn Ereignis überhaupt und vulgo ,existierte‘, wenn Ereignis wäre, dann stets in der Verbindung von entgegengesetzten Polen, hier: von Sinn und Unsinn, von Linie und Zyklus.

A: Ereignis philosophisch, oder: Logik und Phantastik

1. Deleuze und das postbinäre Denken A conference on language: colloquial, baroquial, poetic, pathetic. Yehuda Amichai1

Nicht nur in der Theologie kaum bedacht, wird Deleuze auch innerhalb der gegenwärtig gängigen Lehrmeinung an philosophischen Fakultäten (im Unterschied zu Kunsthochschulen) weithin als Enfant terrible behandelt und fällt entsprechend vor allem durch Nichtbeachtung auf.2 Das hat sicherlich zu tun mit seinem unkonventionell-provokanten Ansatz, den von ihm behandelten Autoren ,ein Kind in den Rücken zu machen‘, aber auch mit seiner starken Illusivität sowohl inhaltlicher als auch sprachlicher Art: Weil sich die Grenzen der Schulphilosophie bei und durch Deleuze ineinander verschieben, ist es nicht ohne weiteres möglich, die Philosophie Deleuzes selbst ,auf einen Begriff‘ zu bringen – weswegen von seiner Philosophie in präziser Originalität neuerdings gern als „transzendentalem Empirismus“ gesprochen wird.3 Es dürfte aber auch an der Sprache selbst liegen, in der Deleuze als Poststrukturalist schreibt und so gerade am Zwang der binären Struktur wissenschaftlicher Sprache vorbei, um jeglicher Festlegung zu entgehen und im teilweise essayistischen, teilweise phantastischen, dabei immer philosophischen Schreiben Freiräume unabhängig von klaren Zuordnungen vermeintlicher Gegensatzpaare (Körper oder Geist; Essenz oder Existenz; Sinn oder Präsenz etc. …) zu ermöglichen. Als Philosoph, der sich in seinen Texten der Präzision als Neuerfindung von Begriffen verschrieben hat und insbesondere das Begriffswort „Ereignis“ immer wieder neu akzentuierte und ,schuf‘, gilt Deleuze als einer der Hauptvertreter der philosophischen Richtung des Poststrukturalismus, die sich im Frankreich der späten 1960er Jahre entwickelte. Kann man der für weite Teile des 20. Jahrhunderts dominanten Theorie des Strukturalismus den 1 Yehuda Amichai, Open Closed Open. Poems, New York 2006, 148. 2 Die Zeit, in der sich im deutschsprachigen Raum philosophisch überhaupt mit Deleuze beschäftigt wurde, hebt erst allmählich zum Ende der 1990er Jahre an und führt kaum mehr bis in die Gegenwart. Zur grundlegenden Beschäftigung mit Deleuze kann ich neben Standardliteratur der Einleitungsbücher (Christian J ger, Gilles Deleuze. Eine Einführung, München 1997; Friedrich Balke, Gilles Deleuze, Frankfurt am Main/New York 1998; Michaela Ott, Gilles Deleuze zur Einführung, Hamburg 32014) vor allem die Sammelbände Marc Rçlli (Hrsg.), Ereignis auf Französisch, München 2004 und Friedrich Balke/Marc Rçlli (Hrsg.), Philosophie und Nicht-Philosophie, Bielefeld 2011 empfehlen. Für in jeder Hinsicht unübertroffen halte ich allerdings FranÅois Dosse, Gilles Deleuze, F lix Guattari. Biographien, Wien/Berlin 2017. 3 Vgl. die Dissertation von Marc Rçlli, Gilles Deleuze. Philosophie des transzendentalen Empirismus, Wien/Berlin 2012.

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Poststrukturalismus nicht streng antithetisch entgegensetzen – Poststrukturalismus als Methode mehr denn als Theorie ist gerade kein Anti-Strukturalismus, sondern teilt dessen Prämissen und denkt sie radikal weiter – ist es dabei hilfreich, sich zunächst an die Grundsätze des Strukturalismus zu erinnern, um die spezifische Form seiner Weiterentwicklung allgemein im Poststrukturalismus und speziell bei Deleuze nicht misszuverstehen. Der (französische) Strukturalismus fußt auf der Entdeckung einer allgemeinen Struktur von Sprache, die auf Ferdinand de Saussure (1857–1913) zurückgeht: In seinem auf Grundlage gehaltener Vorlesungen aus den Jahren 1906 und 1911 im Jahr 1916 postum veröffentlichten „Cours de linguistique g n rale“ führt Saussure die Unterscheidung des kleinsten Elements eines Zeichensystems, des Zeichens, so ein: „Wir regen folgende Benennung an: das Ganze soll weiterhin ,Zeichen‘ [signe] heißen, ,Vorstellung‘ und ,Lautbild‘ jedoch werden ersetzt durch ,Signifikat‘ und ,Signifikant‘ [signifi und signifiant], ,Bezeichnetes‘ und ,Bezeichnendes‘]. Die beiden letzteren Termini haben den Vorzug, sowohl zu markieren, was sie voneinander trennt, als auch, was sie von dem Ganzen unterscheidet, dessen Teile sie sind“4.

Saussure entwickelt ein System im binären Gegensatzpaar von Signifikant (signifiant) und Signifikat (signifi ), von Ausdruck und Inhalt bzw. Form und Bedeutung von Zeichen, das seinerseits auf der inhärenten Differenzbeziehung von Signifikant und Signifikat beruht (wobei zu beachten ist, dass das „Lautbild“ selbst idealer Natur, d. h. nicht identisch mit dem ausgesprochenen [oder geschriebenen] Wort oder Zeichen ist). Aus dieser Grundidee, die im Verband mit der Analytischen Philosophie seit und mit Richard Rorty rückblickend als ,linguistic turn‘ bezeichnet wird,5 erwächst eine philosophische Strömung, die sich bald auf alle relevanten Geisteswissenschaften – exemplarisch die Psychologie/Psychoanalyse mit Jacques Lacans strukturalistischer Relektüre Freuds einerseits6 und die Geschichtswissenschaften mit Michel Foucault andererseits7 – erstrecken wird und wie Saussure das bereits vordachte: „Die Sprache [langue] ist ein System von Zeichen, die Ideen ausdrücken; insofern kann man sie vergleichen mit der Schrift, dem Taubstummenalphabet, symbolischen Riten, Höflichkeitsformen, militärischen Signalen etc. etc. Sie ist nur eben das wichtigste unter diesen Systemen. Vorstellbar wäre demnach eine Wissenschaft, die das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht; […] wir nennen sie fortan Semiologie“8. 4 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Stuttgart 2016, 29. 5 Vgl. Richard Rorty, The Linguistic Turn, Chicago/London 1967. 6 Vgl. Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (Seminar von Jacques Lacan. Buch 11), Weinheim/Berlin 1978, und Jacques Lacan, Schriften II, Wien/Berlin 2015. 7 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 172015. 8 Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 20.

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Mit dieser Form von Sprachanalyse ist positiv (auch im Dialog mit den ,sciences‘, den nach ihrem Selbstverständnis eigentlichen [Natur-]Wissenschaften) ein möglichst objektives System geschaffen, das jegliche Erkenntnis an eine Struktur rückbindet, die es erlaubt, in ihre Teile zerlegt und wieder zusammengefügt zu werden, um das Verstehen der jeweils einzelnen Teile zu ermöglichen. Sinn – so die Grundthese des Strukturalismus – ist ein Produkt bzw. ein Resultat bzw. Effekt der binären Struktur von Signifikant und Signifikat, ergibt sich aus der arbiträren (dabei allerdings gerade nicht willkürlichen) Natur dieser beiden Seiten eines Zeichens und lässt sich innerhalb des Systems von Sprache als Erkenntnisquelle schlechthin ausmachen: Im Ausschlussverfahren dessen, was ein Zeichen gerade nicht bedeutet, ergibt sich die (sozial konstituierte) Grundlage seiner positiven Bestimmung. So entsteht ein Netzwerk von Signifikanten, die jeweils aufeinander und auf ihre entsprechenden Signifikate verweisen und in der Differenz zueinander – sei sie auf die Mehrdeutigkeit jedes Signifikanten innerhalb einer gesprochenen Sprache (grob vereinfacht: „Bank“ bezeichnet einen Sitzgegenstand und ein Kreditinstitut) oder auf das gleiche Wort in der Verschiedenheit unterschiedlicher Sprachen zurückzuführen – eine eindeutig herauszustellende Bedeutung ergeben. Sprache wird so zur Struktur allen Denkens und Handelns, in der sich Menschen vorfinden und von den Menschen geprägt sind. Ist Sprache allerdings so auch die Struktur aller Erkenntnis, bedeutet das negativ verstanden einerseits, Abschied zu nehmen von der Dominanz des hermeneutischen Subjekts, das erst Sinn herstellen muss und so jeweils und notwendig nur den eigenen Sinn zutage fördert – so verstanden ist vor allem der Poststrukturalismus eine hermeneutisch durchdachte, radikal-entwurzelnde Anti-Hermeneutik: „Man frage nie, was ein Buch sagen will, ob es nun Signifikat oder Signifikant ist; man soll in einem Buch nicht etwas verstehen, sondern sich vielmehr fragen, womit es funktioniert, in Verbindung mit was es Intensitäten eindringen läßt oder nicht, in welche Mannigfaltigkeiten es seine eigene einführt und verwandelt“ [TP 13]. Zum Zweiten, komplementär zu dieser Konsequenz, büßt ebenso der außersprachliche Referent (das ,wirkliche‘, bezeichnete Ding) seine Qualität als Erkenntnisquelle ein. Sprache als Struktur eliminiert das ,Außen‘ (die ,Wirklichkeit‘, wie sie in nur jeweils Gegebenem besteht) wie das ,Innen‘ (die psychische, mentale Voraussetzung des in Sprache denkenden [nicht: sprechenden] Subjekts), indem sie sich als Struktur selbst absolut setzt und das Subjekt wie den Referenten dezentriert. Poststrukturalistische Philosophie baut auf diesen Vorannahmen auf, denkt sie allerdings radikal weiter, indem sie die Zentralität der Sprache selbst infrage stellt: Wenn alle Erkenntnis unabhängig von sprachexternen oder mentalen Voraussetzungen besteht, muss in letzter Konsequenz gerade die Totalität der Sprache infrage gestellt und ihr vermeintlich eindeutig analysierbares System aufgebrochen werden, um wirklich Sinn zu gewährleisten: Jacques Derrida, dessen 1976 erstveröffentlichtes Buch „Die Schrift und die Differenz“ als Geburtstext des Poststrukturalismus gelten kann, schreibt im

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inhaltlich letzten Kapitel „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel“ vor seinem Nachwort zu dieser Schrift: „Der verlorenen oder unmöglichen Präsenz des abwesenden Ursprungs zugewandt, ist diese strukturalistische Thematik der zerbrochenen Unmittelbarkeit also die traurige, negative, nostalgische, schuldige und rousseauistische Kehrseite jenes Denkens des Spiels, dessen andere Seite Nietzsches Bejahung darstellt, die fröhliche Bejahung einer Welt aus Zeichen ohne Fehl, ohne Wahrheit, ohne Ursprung“9.

Suchte man nach dem einen poststrukturalistischen Paradigma in strictu sensu, fände man es gerade nicht oder doch nur in der Abweisung gerade von Binaritäten, wie sie sich in den Begriffen Phonozentrismus und Logozentrismus10 spiegeln. Sie geht einher mit einer Abkehr von Konzepten der Teleologie und Metaphysik, die ein totalitäres Ganzes setzen, das doch nur subjektiv vorausgesetzte Prämissen verabsolutiert. Poststrukturalismus ist, so verstanden, die radikale Absage an alles Denken des „es gibt“ – und das Begriffswort „Ereignis“ das Paradigma dafür. Poststrukturalistische Philosophie wehrt sich gegen das Denken jeder Synthese ebenso wie gegen das Denken in entweder-oder-Dualismen, und setzt einer hermeneutischen Vereinheitlichung eine einheitliche Vielheit entgegen, die Widersprüche nicht synthetisch auflöst, sondern zusammendenkt. Poststrukturalismus teilt mit dem Strukturalismus die Erkenntnis, dass kein Subjekt Sinn generieren kann. Der Strukturalismus indes erkennt die Differenzen der Signifikanten als Erkenntnisprinzip an, nicht aber die Differenzen dieser Differenzen selbst: Das Zentrum und der Fixpunkt jeder sprachlich geborgenen Erkenntnis bleibt im Strukturalismus die Sprache selbst – und gerade diese Totalität, diesen Zentralismus verwirft der (strukturalistische!) Poststrukturalismus. Denn machte man Ernst mit der Einsicht, dass gerade die Differenzen Sinn hervorbringen, folgte daraus poststrukturalistisch, dass ausschließlich Sprache selbst – gleich in welcher Form – Sinn stiften kann und d. h. deren Analyse zu diesem Zweck notwendig scheitern muss. Die auf den ersten Blick logische und suggestiv einleuchtende Unterund Aufteilung jeglicher Zeichen in Signifkant und Signifikat überzeugt Poststrukturalist:innen vor allem aufgrund ihrer inhärenten Binarität nicht: Sinn ergibt sich aus Sprache, aber es „gibt“ keinen Sinn so, dass man ihn analytisch in der Zange von säuberlich getrennten Signifikanten und Signifikaten analysieren, zersetzen und habhaftbar wieder zusammenbauen könne.11 Sinn flotiert, flieht in Fluchtlinien, mäandert und zelebriert ein no9 Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 122016, 441. 10 Vgl. zu diesen beiden Begriffen und ihrer Kritik neben anderen wie Jean-FranÅois Lyotard v. a. Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt am Main 122013. Kurzgefasst: Weder auf den Primat der mündlichen vor der geschriebenen Sprache noch auf eine Hierarchie von sinnlichen oder präsentischen Erfahrungen noch gar auf einen Primat des Intellekts lassen sich Erkenntnisprozesse poststrukturalistisch reduzieren. 11 Für diese Einsicht wie überhaupt für die permeable ,Linie‘ zwischen Strukturalismus und

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madenhaftes Sein, lässt sich weder nieder noch fangen im Doppelsinne von ,begreifen‘. Sinn ist, mit Deleuze: Ereignis.

1.1 Deleuze denken Deleuze zu denken bedeutet deswegen grundsätzlich, Abschied zu nehmen vom Paradigma der Binarität. Vielmehr steht Deleuze für eine Philosophie des ,mannigfaltigen Monismus‘12 statt binärer Gegenüberstellungen, wie sie sich vor allem in der Dialektik und deren Überführung der Widersprüche in eine Synthese finden: Mannigfaltiger Monismus wäre demgegenüber ein Ansatz, der Widersprüche aushält und nebeneinanderstellt, ohne sie aufzulösen oder anzugleichen (mannigfaltig), eine Philosophie, die das Viele nicht auf eine Synthese reduziert, indem sie sich dem „und“ verschreibt (daher die Kopula in Deleuzes opus magnum). Monistisch ist diese Philosophie, indem sie das Viele und das Eine ebenfalls nicht einander wie These und Antithese gegenüberstellt, sondern eine Univozität des Verschiedenen denkt – sodass Deleuze von der Differenz und Mannigfaltigkeit als dem einen Grundprinzip des Seins geradezu ontologisch schreiben kann: „Ein und dieselbe Stimme für all das Viele, das tausend Wege kennt, ein und derselbe Ozean für alle Tropfen, ein einziges Gebrüll des Seins für alle Seienden.“ [DW 377] Das gesetzt, bedeutet Deleuze zu denken dann im nächsten, methodischen Schritt jedenfalls für eine Dissertation, einen archimedischen Anfangspunkt zu wählen, von dem aus man sich einen Zugang zu seinem Denken verschaffen kann. Das ist bei einem Denker, der sein eigenes philosophisches Schaffen sowohl in bewusster Inkonformität zum griechisch-heteronorm negativen als auch zu einem neuzeitlich positiven Denken demgegenüber als „rhizomorph“13 bezeichnet, einerseits ein Vorhaben, das als systematisches nur scheitern kann, andererseits aber in dieser Unmöglichkeit denkbar wird, folgt man seinem rhizomischen „Prinzip des asignifikanten Bruchs: […] Ein RhiPoststrukturalismus vgl. grundlegend die gerade diese Problematik umkreisende Autobiografie von Roland Barthes, Über mich selbst, München 1978. 12 Vgl. dazu Dosse, Gilles Deleuze, F lix Guattari, 267 f. 13 „Als unterirdischer Sproß unterscheidet sich ein Rhizom grundsätzlich von großen und kleinen Wurzeln. Knollen und Knötchen sind Rhizome. Pflanzen mit großen oder kleinen Wurzeln können rhizomorph sein: Man muß sich wirklich fragen, ob nicht das Rhizomorphe gerade das Spezifische an der Botanik ausmacht. Auch die Tiere sind es, wenn sie Meuten bilden, z. B. die Ratten. Ein Bau ist in allen seinen Funktionen rhizomorph: als Wohnung, Vorratslager, Rangiergelände, Versteck und Ruine. Das Rhizom selbst kann die verschiedensten Formen annehmen, von der Verästelung und Ausbreitung nach allen Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Knollen und Knötchen. Wenn die Ratten übereinandergleiten. Im Rhizom gibt es das Beste und das Schlimmste: die Kartoffeln, die Quecke, das Unkraut“ [Rh 11].

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zom kann an jeder beliebigen Stelle gebrochen […] werden; es wuchert entlang seinen eigenen oder anderen Linien weiter“ [Rh 16].14 Im Grunde sind drei Wege in das Rhizom des Deleuze’schen Gedankenbaus möglich: Ein genetischer, der die Entwicklung seines Denkens chronologisch anhand seiner Schriften darstellt, angefangen bei seiner Diplomschrift „Empirisme et subjectivit “ über David Hume aus dem Jahr 1953 und entlang seiner vielen Philosophen-Monografien über Nietzsche, Kant, Proust und Bergson zum Wendepunkt seines Denkens, das seine Qualifikationsschrift „Differenz und Wiederholung“ aus dem Jahr 1968 markiert, und von dort im Nachvollzug seines immer eigenständiger werdenden Denkens über das Kino, über Schizophrenie, über Leibniz, Spinoza und Foucault bis hin zum vorläufigen Schlussstein, den er 1991 zusammen mit F lix Guattari mit „Was ist Philosophie“ setzte. Man kann den umgekehrten Weg gehen und vor allem über Gespräche und Interviews, die in „Unterhandlungen 1972–1990“ und „Die einsame Insel. Texte und Gespräche von 1935 bis 1974“ abgedruckt oder filmisch und als DVD-Sammlung erhältlich unter dem Titel „Ab c daire“15 festgehalten sind, rückwirkend versuchen, ein Bild des Deleuze’schen Denkens zu gewinnen. Oder, und dieser Weg wird hier gewählt, man setzt an dem Punkt seines Schaffens an, an dem sich die Philosophie Deleuzes deutlich von einer darstellenden Funktion mit eigenen Akzenten selbst zu einer genetischen und schöpferischen wandelt, und trägt somit dem Umstand am deutlichsten Rechnung, dass sich mit Deleuze zu beschäftigen immer bedeutet, die gesamte Philosophiegeschichte von ihren (vor-)platonischen Anfängen an aufzugraben und mitzubedenken, um sie umdenken und so ,denken‘ zu können. Das Deleuze’sche Programm, in jedem Buch neu Begriffe zu erfinden, das sich an diesem Punkt ausprägt, lässt sich mithin nicht anders verstehen als im Rückblick auf seine intensive Beschäftigung mit den ,klassischen‘ Vertretern der Philosophiegeschichte und der Suche nach einem Weg, deren Denken nachzuvollziehen, um aus dieser Bahn auszubrechen. Einerseits war Deleuze sowohl als Lehrer an der Universität versiert in wie auch als Leidender in der Lehre gemartert von der Darstellung der Philosophiegeschichte seiner Zeit: „Ich gehöre zu einer Generation, einer der letzten Generationen, die man mehr oder weniger mit der Philosophiegeschichte umgebracht hat. Die Philosophiegeschichte übt in der Philosophie eine ganz offenkundig repressive Funktion aus“ [U 14], schreibt Deleuze in einem „Brief an einen strengen Kritiker“. Deleuze litt ungemein an diesem starren System, das sich selbst im Nachdenken der Vordenker reproduzierte, statt tatsächlich einen Neuanfang zu wagen oder auch nur zuzulassen. Deleuze verlangte nach einem Vorgehen, Begriffe der ,klassischen‘ Philosophie zu entdecken, zu entfalten und dann neu

14 Vgl. dazu auch 1.2. 15 Pierre-Andr Boutang u. a., Ab c daire. Gilles Deleuze von A bis Z, Berlin 2009.

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zu denken, und beschreibt das in heftigen und ungeschönten Worten so unmissverständlich wie provokant: „Ich selbst habe lange Philosophiegeschichte ,gemacht‘, habe Bücher über diesen oder jenen Autor gelesen. Aber ich habe mich auf verschiedene Art entschädigt: zunächst, indem ich Autoren liebte, die sich der rationalistischen Tradition dieser Geschichte widersetzten (und zwischen Lukrez, Hume, Spinoza, Nietzsche gibt es für mich eine geheime Verbindung, gebildet durch die Kritik am Negativen, die Kultur der Freude, das Hassen der Innerlichkeit, die Äußerlichkeit der Kräfte und Relationen, die Anprangerung der Macht…etc.) […] Aber vor allem bestand meine Art, heil da rauszukommen, glaube ich, darin, die Philosophiegeschichte als eine Art Arschfickerei zu betrachten oder, was auf dasselbe hinausläuft, unbefleckte Empfängnis. Ich stellte mir vor, einen Autor von hinten zu nehmen und ihm ein Kind zu machen, das seines, aber trotzdem monströs wäre.“ [U 15]

Weniger drastisch und positiv formuliert bedeutete das für Deleuze bis zur Arbeit an „Differenz und Wiederholung“, dem Denken jedes einzelnen Philosophen, über die er Monografien schrieb, so genau wie möglich nachzugehen und die inhärenten Widersprüche und Inkonsequenzen darin aufzudecken, um die Sprengkraft dieser Ansätze noch einmal neu zu entfalten. Erst ab diesem Punkt, seinem ersten eigenständigen Text als Philosoph, bricht sich sein Drang nach Neuschöpfung, Erfindung und Durchführung einer problematisierenden Philosophie der unzeitgemäßen Unterscheidung Bahn – nicht jedoch, ohne zu großen Teilen zu zehren von dem Wissen, das er sich in den zwei Jahrzehnten zuvor durch Lehre und Eigenstudien angeeignet hatte. Entsprechend soll das Denken von Gilles Deleuze einleitend anhand seines „Kriminalromans“ mit Elementen von „science fiction“,16 mit dem er noch im Jahr der Veröffentlichung einen Ruf zum Professor an die Universität Paris VIII erhielt, skizziert werden. Den Einstieg bei „Differenz und Wiederholung“ zu wählen, hat den Vorteil, dass sich mit diesem voraussetzungsreichen Werk einerseits die Fäden der philosophiemonographischen Beschäftigung, die Deleuze bis dahin umtrieb, hier erstmals verbinden, andererseits sich aber auch die Grundthemen seiner eigenen Weise, Philosophie zu denken, hier schon sämtlich abzeichnen. Um Deleuze denken zu können, liegt es dann entsprechend nahe, sich zunächst seinem Begriff des Denkens anhand genau dieser Schrift anzunähern.

16 „Ein philosophisches Buch muß einesteils eine ganz besondere Sorte von Kriminalroman sein, andernteils eine Art science fiction“ [DW 13].

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1.2 Rhizomische Philosophie Geprägt von der postmodernen17 Revolution des Denkens seit den späten 1960er Jahren hat auch für Deleuze die alte Frage nach dem Wesen ausgedient. Das platonisch formatierte, bis in die Gegenwart wenigstens mitbestimmende griechische Fragen nach dem Sein, nach Definitionen, nach einem ,was ist‘ – t_ 1sti; – tritt für Deleuze in den Schatten der Kreation von Fragen, die sich und als sie selbst Antwort sind. Die ernsthafte Frage nach der Frage selbst wird zur einzig wirklich philosophischen Frage, d. h. jene, die eine zweite, eine dritte, eine n-te Frage ihrer Art impliziert, aus sich heraussetzt und potenziert. Sie geht in der Antwort nicht auf und provoziert die subversive und subsistente Offenheit des Problems, das die Frage stellt, hervorruft und insistieren lässt: „In Wirklichkeit ist eine philosophische Theorie eine entfaltete Frage und nichts anderes: Ihr Wesen besteht nicht darin, ein Problem zu lösen, sondern darin, die notwendigen Implikationen einer ausformulierten Frage so weit wie möglich zu entfalten.“ [H 132] Mit Deleuze wäre so eine Philosophie der persistenten Frage zu denken, die die Antwort offenhält und nicht durch sie erstickt wird, eine Frage, die selbst die Macht hätte, das Hypothetische auszuhalten, statt es ins Apodiktische aufzulösen, eine Frage der Wiederholung. Mit Gilles Deleuze wäre dies die „Macht des Absurden“18 einer Philosophie der Frage, die nur vorläufige Antworten erhält, bis sie erkennt, dass gerade ihre Unbeantwortbarkeit ihre Antwort und ihre eigentliche Macht ist – „so Hiob in seinem Beharren auf eine Antwort aus erster Hand, die mit der Frage selbst verschmilzt“ [DW 248]. Das wäre die „Macht des Rätsels“ einer Philosophie der Frage, den Fragesteller existenziell in seine Frage zu involvieren, so dass er selbst zur Frage wird – „so Ödipus und seine Art, nicht von der Sphinx loszukommen“ [DW 248]. Und es wäre schließlich die „Macht der philosophischen Odyssee“ einer Philosophie der Frage, die ihr eigenes Sein aus der Differenz denkt als „Nicht-Seiendes oder Sein j der Frage [ – ] so Odysseus und die Antwort ,Niemand‘19“ [DW 248 f.].20 Das Denken neu denken hieße mit Deleuze zuerst, den linearen Weg einer hierarchischen Begriffsstruktur zu verlassen und mit ihr das Strukturdenken 17 Den Begriff „Postmoderne“ selbst – seinerseits wie so oft eine begriffliche Re-Kreation im Rückblick auf das ihm vorausgehende und prägende Denken – und seine anhebende Wirkungsgeschichte kann man gut datieren auf das Jahr 1982, dem Erscheinungsjahr von Lyotards „Bericht“ zum ,Postmodernen Wissen‘ (vgl. Jean-FranÅois Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 82015). 18 Wo bei Deleuze vom „Absurden“ die Rede ist, richtet sich der Blick stets in Abgrenzung auf die sog. „absurde Philosophie“ vor allem bei Albert Camus (vgl. etwa Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, Reinbek bei Hamburg 212016). 19 Ein Wortspiel mit der französischen Doppelbedeutung von „personne“. 20 Heidegger hatte jedenfalls in seinem Spätwerk-Diktum schon Recht, wenn er bemerkt: „Das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens.“ Vgl. Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 41978, 44.

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in Signifikant–Signifikat, Objekt–Subjekt etc. Es hieße, sich vom Bild des Denkens als eines Baumes oder einer Wurzel zu verabschieden, wie Deleuze (mit F lix Guattari) dies insbesondere dem Abendland diagnostiziert: „Es ist merkwürdig, wie der Baum die Wirklichkeit und das gesamte j Denken des Abendlandes beherrscht hat, von der Botanik bis zur Biologie und Anatomie, aber auch die Erkenntnistheorie, die Theologie, die Ontologie, die gesamte Philosophie… der Wurzelgrund, Grund, roots und foundations.“ [TP 32] Dem Baum und der Wurzel stellt Deleuze das Bild des „Rhizoms“ gegenüber und damit eine neue Art zu denken: „Das Denken ist nicht baumförmig“ [TP 28], sondern Ereignis und damit Rhizom: „Ein Rhizom hat weder Anfang noch Ende, es ist immer in der Mitte, zwischen den Dingen, ein Zwischenstück, Intermezzo. […] Der Baum braucht das Verb ,sein‘, doch das Rhizom findet seinen Zusammenhalt in der Konjunktion ,und… und… und…‘. In dieser Konjunktion liegt genug Kraft, um das Verb ,sein‘ zu erschüttern und zu entwurzeln.“ [TP 41] Das bedeutet die Absage an das Konzept von Anfang und Ende zugunsten der stets wuchernden und begrifflich-unbegreiflichen Mitte, illustriert anhand eines Tagebucheintrags von Frank Kafka (1883–1924): „Alle Dinge nämlich, die mir einfallen, fallen mir nicht von der Wurzel aus ein, sondern erst irgendwo gegen ihre Mitte. Versuche sie darin jemand zu halten, versuche jemand ein Gras und sich an ihm zu halten, das erst in der Mitte des Stengels zu wachsen anfängt.“ [Zit. TP 38] Problematisch demgegenüber am Denkbild von Baum oder Wurzel: Sie setzen grundlos Denk-Hierarchien voraus und pflanzen sie fort. „Der Baum ist bereits das Bild der Welt, oder vielmehr, die Wurzel ist das Bild des Welt-Baums […]. Aus eins wird zwei: jedesmal wenn wir dieser Formel begegnen […] haben wir es mit dem reflektiertesten und klassischsten, mit dem ältesten und am meisten ausgelaugten Denken zu tun. Die Natur verhält sich nicht so: die Wurzeln sind dort Pfahlwurzeln mit zahlreichen seitlichen und kreisförmigen, aber keinesfalls dichotomischen Verzweigungen.“ [TP 14]

Gegenüber dem Baum oder der Wurzel und ihrem Prinzip der notwendigen Entfaltung des Zweiten aus dem Ersten und ihrem Organisationsprinzip der strukturellen Unterscheidung und vor allem Zuordnung von oben und unten, links und rechts steht das Rhizom und der asignifikante Bruch „gegen die übersignifikanten Einschnitte, die die Strukturen voneinander trennen oder durchziehen. Ein Rhizom kann an jeder Stelle unterbrochen oder zerrissen werden, es setzt sich an seinen eigenen oder an anderen Linien fort. […] Deshalb kann man niemals einen Dualismus j oder eine Dichotomie konstruieren, auch nicht in der rudimentären Form von Gut und Böse. Man vollzieht einen Bruch, man folgt einer Fluchtlinie, aber es besteht immer die Gefahr, daß man auf ihr Organisationen begegnet, die das Ganze neu schichten, also Gebilde, die einem Signifikanten die Macht zurückgeben und Zuordnungen, die ein Subjekt wiederherstellen. […] Gut

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und Böse sind nur das Ergebnis einer aktiven und vorläufigen Selektion, die immer wieder vorgenommen werden muß.“ [TP 20]

Jenseits der binären Struktur zu denken – „es gibt keinen Dualismus, keinen ontologischen Dualismus von hier und dort, keinen axiologischen Dualismus von Gut und Böse“ [TP 35] – ist schwierig, räumt Deleuze ein, aber notwendig, um Denken nicht als System, sondern als Prozess zu verstehen und so im Denken Neues entstehen lassen zu können. „Warum ist das so schwierig? Das ist bereits eine Frage nach der Semiotik der Wahrnehmung. Es ist nicht einfach, die Dinge von der Mitte her zu sehen, statt von oben auf sie herabzusehen oder von unten zu ihnen herauf, oder von links nach rechts oder umgekehrt.“ [TP 39]

Das Denken neu denken hieße mit Deleuze ferner, die Differenz in die Wiederholung einzuführen und so einen Begriff des Begriffs zu entwerfen, der selbst Ereignis ist [vgl. WPh 43]. Auf dem Weg zu einem solchen philosophischen Denken, das das Denken selbst neu denken will, muss es zunächst von seinen Vorurteilen und Bequemlichkeiten befreit werden, müssen seine subjektiven und moralischen Voraussetzungen vermeintlich objektiver Setzungen in der Philosophiegeschichte entlarvt und schließlich umgekehrt werden. Zum präziseren Verständnis davon ist es nötig, einen Blick auf Deleuzes Programm der „Umkehrung des Platonismus“ [DW 166] zu werfen, die den Primat eines Urbildes vor dem Abbild bestreitet und stattdessen das ,Simulakrum‘ setzt, um die Differenz an sich selbst denken zu können. Denn genauer betrachtet, so Deleuze, dient Platons in seinen sämtlichen Werken verstreute Unterscheidung zwischen dem ,Urbild‘ und dem ,Abbild‘ der Einführung einer dritten, weit weniger prominenten und umso subversiveren Kategorie, der des ,Trugbildes‘: Recht eigentlich verhalten sich Abbild und Urbild bei Platon zueinander so, dass sie in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen unter Inanspruchnahme einer Gegenteilkategorie des ,Trugbildes‘ oder ,Phantasiegebildes‘, das ohne direkten Bezug zum Urbild resp. zur ,Idee‘, d. h. autonom und frei existiert: Diese philosophische Monostringenz beschreibt Deleuze entsprechend so: „Der Wille zur Aussonderung der Trugbilder oder Phantasiegebilde ist einzig moralisch motiviert. Was im Trugbild verworfen wird, ist der Zustand ozeani-jscher freier Differenzen, nomadischer Verteilungen, gekrönter Anarchien, all jene Bösartigkeiten, die die Begriffe von Urbild wie Abbild anficht. Später wird die Welt der Repräsentation ihren moralischen Ursprung, ihre moralischen Voraussetzungen mehr oder weniger vergessen können. Gleichwohl werden diese in der Unterscheidung von Ursprünglichem und Abgeleitetem, Anfang und Folge, Grund und Begründetem fortwirken, in einer Unterscheidung, die durch eine Fortsetzung der Komplementarität von Urbild und Abbild die Hierarchien einer repräsentativen Theologie ins Leben ruft.“ [DW 332 f.]

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Der graduelle Abfall der Wertigkeit von Urbild, Abbild und Trugbild bemisst sich dabei anhand eines Identitätsbegriffs, der in der ,Idee‘ die reine Entsprechung mit sich selbst setzt (nur ,das Gute‘ ist eigentlich ,gut‘, nur ,das Schöne‘ ist eigentlich ,schön‘ etc.), und das Abbild in Ableitung davon begreift – so dass das Trugbild, das die ungebrochene Differenz in diese Trias einzieht, den wahren Gegenpol der platonischen Dialektik bildet: „Gerade in dieser Hinsicht kommt die Differenz erst an dritter Stelle, nach Identität und Ähnlichkeit, und kann nur durch sie gedacht werden“ [DW 166]. Diese platonische Unterordnung der Differenz ist vor allem dem moralischen Anliegen Platons geschuldet, „die Phantasiegebilde oder Trugbilder auszutreiben, die mit dem Sophisten selbst gleichgesetzt werden, jenem Teufel, jenem Einbläser oder Heuchler, jenem falschen, stets verkleideten und verschobenen Bewerber“ [DW 166] – denn gerade im Dialog „Sophistes“, insbesondere an dessen Schluss, zeigt sich dieses Missverhältnis besonders explizit ausgesprochen: Nachdem Theaitetos dem Fremden in zwiefacher Dialektik den Unterschied zwischen menschlicher und göttlicher Schöpfung und in einem nächsten Schritt den Unterschied zwischen der Erschaffung der ,Sachen selbst‘ einerseits und von ihr Ähnlichem andererseits vermittelt, geht er recht unvermittelt über in eine Unterscheidung zwischen zwei Graden der Hervorbringung der den Sachen selbst Ähnlichen: Einerseits die aus Kenntnis von den Sachen, andererseits die aus Unkenntnis und bloßer ,Meinung‘ entstehenden Nachahmungen, und wird sehr deutlich: „[So] wollen wir der Unterscheidung wegen jene von einer bloßen Meinung ausgehende Nachahmung die Dünkelnachahmung nennen, die aber von der Erkenntnis, die kundige Nachahmung“21, um den Sophisten genau des Ersteren zu bezichtigen. Das Problem, das Deleuze dabei sieht, ist freilich, dass dem eigenständigen und vom Idealbild unabhängigen Anderen keinerlei Positivität zugestanden werden kann und d. h., dass der Differenz selbst jede affirmative Kraft abgesprochen wird. Dabei ist es genau die Differenz, die im Gegenüber zum Original und dessen Kopie diese beiden in ihrer Normativität infrage stellt. Die Infragestellung ist die Infragestellung der Hierarchien und der Ableitungen, und die Umkehrung des Platonismus ist folglich die Entlarvung der falschen Setzung des Ideals der Idee, die Errichtung einer „Welt der nomadischen Verteilungen und vollendeten Anarchien“ [LS/A1 321]. Ist aber die Idee selbst als Trugbild entlarvt, kann an zweiter Stelle die Frage nach dem Anfang der Philosophie selbst gestellt werden, gleichzusetzen mit einer Umwerfung des Cartesianismus. Bekanntlich war es Descartes, der ,Vater der Neuzeit‘, der mit der Entdeckung des zweifelnden Ich einen neuen, dies21 Platon, Sophistes, in: Walter F. Otto/Ernesto Grassi/Gert Plambçck (Hrsg.), Platon. Sämtliche Werke Band 3. Nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, Leck/Schleswig 1964, 183–244. Analog führt Platon dies auch im „Phaidros“ sowie im „Politikos“ aus, vgl. Platon, Politikos, aaO., 7–72. Vgl. auch Platon, Phaidros, aaO., 7–60. Vgl. auch insgesamt dazu die Ausführungen von Deleuze in dem kleinen Aufsatz „Platon und das Trugbild“, der sich im Anhang zur „Logik des Sinns“ findet, dort 311–324.

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mal nicht metaphysischen, sondern empirischen [sic!] Anfang des Denkens, d. h. der Philosophie, behauptete und mit dem nun als ,cogito ergo sum‘ definierten Denken einen objektiven, d. h. voraussetzungslosen Begriff erschaffen wollte. Deleuze bemerkt nun, es sei „dennoch offenkundig, daß er Voraussetzungen anderer Art, nämlich subjektiven und impliziten, nicht entkommt, d. h. Voraussetzungen, die in einem Gefühl und nicht in einem Begriff verpuppt sind: Es wird vorausgesetzt, daß jedermann weiß, was Ich, Denken, Sein bedeute“ [DW 169].22 Diese Art der Philosophie ist mit Deleuze eine Philosophie des Zirkels: Sie kreist um ihre eigenen Voraussetzungen und ist entsprechend unfähig, tatsächlich neue Begriffe zu erschaffen. Es ist eine ,Jedermanns-Philosophie‘, wie sie auch in Descartes’ Dialogfragment „Recherche de la v rit par la lumi re naturelle“23 begegnet: „Ein Mann von durchschnittlichen Geistesgaben, dessen Urteilsfähigkeit nicht durch falsche Ansichten verdorben ist und der, dank unverfälschter Natürlichkeit, im Vollbesitz seiner Vernunft ist, wird in seinem Landhaus aufgesucht von zwei der erlesensten und wißbegierigsten Männer des Jahrhunderts. Der eine hat nie eine Universität besucht, während der andere eine genaue Kenntnis der Schulweisheit besitzt.“24 Die Beweisführung, mit der Eudoxus, der ,Idiot‘, im Wettstreit mit dem Universitätsgelehrten Epistemon dem Jedermannsmensch Poliander den Weg zur Erkenntnis der wesentlichen Vernunftwahrheiten ohne den Umweg über wissenschaftliche Lektüre lehren will, erinnert mit Deleuze noch an Platons „Menon“, wenn der methodische Zweifel (ganz wie in der zweiten „Meditation“) zum Prinzip des Anfangs der Philosophie und archimedischen Punkt der Erkenntnis der Wahrheit erhoben wird. Aber selbst noch den Zweifel anzuzweifeln, vermag diese Art der Philosophie nicht; sie begnügt sich mit dem Gedankenzirkel der Repräsentation, statt tatsächlich die Differenz in das Denken selbst einzuführen und damit zu – wiederholen. Denn „in Wahrheit […] trifft Eudoxus nicht weniger Voraussetzungen als Epistemon, nur trifft er sie in einer anderen, impliziten oder subjektiven, ,privaten‘ und nicht ,öffentlichen‘ Form, in Form eines naturwüchsigen Denkvermögens, die es der Philosophie erlaubt, sich den Anschein des Anfangens, eines voraussetzungslosen Anfangs zu geben“ [DW 170] – unter der Voraussetzung, dass schon ,jedermann‘ wisse, was Zweifel und mithin, was ,Denken‘ sei:

22 Der gleiche Vorwurf trifft, um diese philosophiehistorische Skizze einigermaßen zu komplettieren, auch Hegel und Heidegger: „Das reine Sein [bei Hegel] ist seinerseits ein Anfang nur, indem es alle seine Voraussetzungen ins empirische, sinnliche und konkrete Sein verlegt. Eine derartige Haltung, die in der Zurückweisung der objektiven Voraussetzungen besteht, vorausgesetzt allerdings, daß entsprechend viele subjektive Voraussetzungen vorgegeben werden […] – eine derartige Haltung nimmt noch Heidegger ein, wenn er sich auf ein vorontologisches Verständnis des Seins beruft“ [DW 169]. 23 Ren Descartes, La recherche de la v rit par la lumi re naturelle, Würzburg 1989. 24 AaO., 31.

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„Das Bild des Kreises würde für die Philosophie eher eine Unfähigkeit zum wirklichen Anfang, aber auch zur echten Wiederholung bezeugen. Ermitteln wir besser, was eine subjektive oder implizite Voraussetzung ist: Sie hat die Form des ,Jedermann weiß, daß …‘. Jedermann weiß, noch ohne Begriff und auf vorphilosophische Weise …, jedermann weiß, was Denken und Sein bedeutet …, so daß der Philosoph – wenn er sagt: Ich denke, also bin ich – das Universale seiner Prämissen, was Sein und Denken meint …, als implizit begriffen voraussetzen kann und niemand abzustreiten vermag, daß Zweifeln Denken sei und Denken Sein … Jedermann weiß, niemand vermag abzustreiten – dies ist die Form der Repräsentation und der Diskurs des Repräsentanten. Wenn die Philosophie ihren Anfang durch implizite oder subjektive Voraussetzungen absichert, so kann sie also Unschuld heucheln, da sie nichts beibehalten hat, außer freilich das Wesentliche, d. h. die Form dieses Diskurses“ [DW 170].

Eine Philosophie der Repräsentation, die ein universales Wissen um die Dinge und die Wahrheit voraussetzt, verliert notwendig das Singuläre aus dem Blick, auf das allein sich die Differenz und die Wiederholung beziehen: „Der Repräsentant sagt: ,Alle Welt anerkennt, daß …‘, aber es gibt stets eine nichtrepräsentierte Singularität, die nicht anerkennt, eben weil sie nicht alle Welt oder das Universale ist. ,Alle Welt‘ anerkennt das Universale, da sie ja selbst das Universale ist, das Singuläre aber erkennt es nicht an“ [DW 78]. Philosophie im Sinne Deleuzes müsste demgegenüber gewissermaßen ein ,Gespräch unter Freunden‘ und damit uneigennützig sein, d. h. demjenigen gegenüber Rechenschaft ablegen, der keinen Begriff davon hat, was jedermann weiß, und der nicht imstande ist, zu denken: „ein Mann aus dem Kellerloch, der sich in den subjektiven Voraussetzungen eines naturwüchsigen Denkvermögens ebensowenig wiedererkennt wie in den objektiven Voraussetzungen einer Kultur seiner Zeit und nicht über den Kompaß verfügt, um einen Kreis zu beschreiben“ [DW 171]. Eine Philosophie, die den guten Willen und die natürliche Fähigkeit zum Denken implizit voraussetzt, hat das Denken selbst nicht gedacht und verliert sich in den Zirkelstrukturen der Repräsentation eines vorausgesetzten Gemeinsinns – es ist, so Deleuze, ein „dogmatisches oder orthodoxes Bild, moralisches Bild“ [DW 172] des Denkens, ein immer noch platonisches Abbild, das zerschlagen werden müsste, um mit dem Anfang selbst anfangen zu können, d. h., zu wiederholen: „und sei es um den Preis größter Zerstörungen, größter Demoralisierungen und einer Hartnäckigkeit der Philosophie, die nur das Paradox als Verbündeten hätte und auf die Form der Repräsentation wie auf das Element des Gemeinsinns verzichten müßte“ [DW 173]. Schon Descartes selbst weist im Grunde darauf hin, wenn er sich gleich zu Beginn, als den allerersten Satz seines „Discours de la m thode“, den Scherz erlaubt, darauf hinzuweisen, „[d]er gesunde Menschenverstand [sei] die am besten verteilte Sache auf der Welt“25 – denn über einen Mangel an Intelligenz 25 Ren Descartes, Discours de la m thode. Französisch/Deutsch, Hamburg 2011.

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pflegt ,jedermann‘ sich bekanntlich persönlich eher seltener zu beklagen als über Mangel an Gesundheit, Gedächtnis etc. Das cartesische, orthodoxe Bild des Denkens repräsentiert mithin ein Denken, wie es de iure und mitnichten de facto ist, und postuliert: „Die gute Natur und die Neigung zum Wahren würden dem Denken von Rechts wegen zukommen, wie groß die Schwierigkeit auch sein mag, den Rechtsanspruch in die Tatsachen zu übersetzen“ [DW 173]. Diese Philosophie, die ihre eigenen Voraussetzungen setzt, anstatt sie wirklich zu denken, folgt dem Modell der Rekognition und der Form der Repräsentation, ohne freilich inhaltlich konkret zu werden.26 Denn nur eine solcherart bestimmte Philosophie ermöglicht den gedanklichen Bezug auf ein Objekt unter der Bedingung, dass es dieses als dasselbe voraussetzt, so dass neben der platonisch fragwürdig gewordenen Identität das zweite wesentliche Merkmal dieser Philosophie die Setzung eines „Ich“ als Garant für diese Identität ist. Sie geht davon aus, dass das Denken ein qualitativ anderes Vermögen des Ich sei als etwa der Tastsinn oder das Vermögen zu sehen – es sei, im Modell der Rekognition, das Vermögen schlechthin, das alle anderen miteinander verbindet und transzendiert. Deleuze kategorisiert diese „Welt der Repräsentation“ in vierfacher Weise – „die Identität im Begriff, de[r] Gegensatz in der Bestimmung des Begriffs, die Analogie im Urteil, die Ähnlichkeit im Objekt“ [DW 179] – und konzediert diesem Modell verhängnisvolle Voreiligkeit: „Eine derartige Ausrichtung ist für die Philosophie fatal. Denn die Annahme einer dreifachen Ebene eines von Natur aus richtigen Denkens, eines von Rechts wegen natürlichen Gemeinsinns, einer Rekognition als transzendentales Modell kann nur ein Orthodoxieideal ergeben“ [DW 175]. Die Voreiligkeit dieser Art von Philosophie besteht in ihrem regressiven Moment, das alle vier Elemente auf ein unhintergehbares ,Ich denke‘ zurückführt: „Ich begreife, ich urteile, ich stelle mir vor und erinnere mich, ich nehme wahr – als die vier Äste des Cogito. Und eben an diesen Ästen wird die Differenz gekreuzigt. Eine vierfache Zwangsjacke, in der einzig das als unterschieden gedacht werden kann, was identisch, ähnlich, analog und entgegengesetzt ist; die Differenz wird zum Gegenstand der Repräsentation immer nur im Verhältnis zu einer begriffenen [sic!] Iden26 Deleuze: „Freilich geht der Philosoph [der Rekognition und Repräsentation; FH] unparteiischer vor: Was er als allgemein anerkannt setzt, ist nur die Bedeutung von Denken, Sein, ich, d. h. nicht ein Dies, sondern die Form der Repräsentation oder der Rekognition überhaupt. Doch enthält diese Form Materie, allerdings reine Materie, ein Element. Dieses Element besteht nur in der Setzung des Denkens als natürliche Ausübung eines Vermögens unter Voraussetzung eines naturwüchsigen Denkens, das zum Wahren fähig und geneigt ist, und zwar unter dem doppelten Aspekt eines guten Willens des Denkenden und einer rechten Natur des Denkens. Denn jedermann denkt von Natur aus, und jedermann sollte doch implizit wissen, was Denken bedeutet. Die allgemeinste Form der Repräsentation liegt also im Element eines Gemeinsinns als rechter Natur und guten Willens (Eudoxus und Orthodoxie). Die implizite Voraussetzung der Philosophie findet sich im Gemeinsinn als cogitatio natura universalis, von der aus die Philosophie ihren Ausgang nehmen kann“ [DW 171].

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tität, einer beurteilten Analogie, eines vorgestellten Gegensatzes, einer wahrgenommenen Ähnlichkeit“ [DW 180]. Doch damit ist noch nicht das erfasst, was Deleuze unter „Differenz“ versteht; im Gegenteil, in diesem System ordnet sich die Differenz so weit den genannten vier Elementen der Repräsentation unter, dass sie sich als Reflexionsbegriff selbst aufhebt: „Die Frage lautet, ob die Differenz unter all diesen reflexiven Aspekten nicht ihren eigenen Begriff und ihre eigene Realität zugleich verliert. Denn die Differenz bleibt weiterhin ein reflexiver Begriff und gewinnt einen wahrhaft realen Begriff nur in dem Maße zurück, wie sie Katastrophen bezeichnet: seien es Kontinuitätsbrüche in der Reihe der Ähnlichkeiten, seien es unüberschreitbare Verwerfungen zwischen den analogen Strukturen. Sie bleibt reflexiv nur, um katastrophisch zu werden. Und sicher kann sie das eine nicht ohne das andere sein. Zeugt aber nicht gerade die Differenz als Katastrophe von einem irreduziblen aufrührerischen Untergrund, der unter dem scheinbaren Gleichgewicht der organischen Repräsentation fortwirkt?“ [DW 57 f.]

Die Fatalität gründet darin, dass eine solche Philosophie unfähig dazu ist, Para-Doxa zu denken und sich mit der Doxa, der überkommenen Meinung, begnügt – wenn schon nicht im konkreten Inhalt, so doch gemäß einer repräsentierenden Form. Denn die Identifikation eines Identischen ist sicherlich dem Alltagsgebrauch der Wahrnehmung hilfreich, aber was Denken heißt, wirklich Denken, ist damit noch nicht im Ansatz begriffen. Denn führte man mit Deleuze das Denken auf die subjektiven Voraussetzungen und eine apodiktisch gesetzte Naturgabe zurück, würde man „keinen Schritt vorankommen, Gefangener derselben Höhle oder der Ideen der Zeit, mit deren ,Wiederfinden‘ man bloß kokettiert, indem man sie mit dem Zeichen des Philosophischen segnet. Niemals hat die Rekognition anderes als das Wiedererkennbare und Wiedererkannte geheiligt, niemals hat die Form anderes als Konformitäten eingegeben. Und wenn die Philosophie auf einen Gemeinsinn als ihre implizite Voraussetzung zurückgeht, wozu braucht der Gemeinsinn dann die Philosophie, er, der – leider! – tagtäglich beweist, daß er sie nach seiner Fasson zurichten kann?“ [DW 176]

Denken müsste mit Deleuze also als creatio [secunda?] gedacht werden, das sich nicht mit der Trivialität dieser Welt begnügt, „als ob das Denken seine Modelle nicht in ferneren und riskanteren Abenteuern suchen dürfte“ [DW 176]. Und genauso wenig kann sich das Denken als reines, wirkliches Denken mit einer Repräsentation von Moral, mit einer ethischen Stabilisierung von Werten oder einer Wiederentdeckung des ,Guten‘ zufriedengeben; es muss für Deleuze (im Gefolge Nietzsches) schmerzhaft und radikal noch mit den an es gerichteten Erwartungen brechen: „Was ist das für ein Denken, das niemandem Böses tut, weder dem Denkenden noch den anderen? Das Zeichen der Rekognition feiert ein schauerliches Verlöbnis, in dem das Denken zum

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Deleuze und das postbinäre Denken

Staat ,zurückfindet‘, zur Kirche ,zurückfindet‘, zu allen Werten der Zeit zurückfindet, die es scharfsinnig in die reine Form eines ewigen, auf ewig abgesegneten Objekts überhaupt eingehen ließ“ [DW 177]. Denn das wäre ein Denken, das sich vielleicht im Neuen einrichtet und sich jedenfalls als Neues verkleidet, aber selbst nicht neu, keine Differenz zu sich selbst ist: „Denn das Eigentliche des Neuen, d. h. die Differenz, liegt darin, Kräfte im Denken zu wecken, die weder heute noch morgen der Rekognition zugehören, Mächte eines ganz anderen Modells, in einer niemals wiedererkannten oder wiedererkennbaren terra incognita“ [DW 177]. Es geht Deleuze so schlicht darum, „den Akt des Denkens im Denken entstehen zu lassen“ [DW 181], ohne das zu Bedenkende schon vorauszusetzen. Vorausgesetzt werden muss vielmehr eine „Nötigung“ zum Denken. Denn für gewöhnlich denkt ,jedermann‘ eher selten und begnügt sich mit Rekognitionsakten der Gegenstände und Objekte seines Alltags. Erst die Begegnung mit Gegenständen, die zum Denken nötigen, erhebt die hypothetischen Begriffe von Gegenständen aus dem Bereich des Möglichen in den Bereich des Ereignisses, setzt das Denken selbst in Bewegung und geht es an: Das wirkliche Denken bedarf der Auslösung durch eine „Kralle, die die der absoluten Notwendigkeit wäre, d. h. einer ursprünglichen Gewalt, die dem Denken zugefügt würde, einer Fremdheit, einer Feindschaft, die allein es aus seinem naturwüchsigen Stupor oder seiner ewigen Möglichkeit heraustreiben könnte: so sehr gibt es Denken nur als unwillkürliches, als im Denken hervorgerufenen Zwang, der umso mehr absolute Notwendigkeit besitzt, als er einbruchartig aus dem Zufälligen der Welt entsteht.“ [DW 181]

,Dem Denken (auch dem theologischen) Gewalt zuzufügen‘ – so weit muss eine Beschäftigung mit Deleuze vielleicht gar nicht erst gehen. Profitieren allerdings kann Theologie zweifelsohne von einem Denker, der sich nicht im Gegebenen einrichten und überkommene Begriffe stets schärfen, neu erfinden wollte. Begibt man sich in das Rhizom des deleuzianischen Denkens, ergibt sich dabei bestenfalls ein zweifaches Umdenken: Tradition in Form von Begriffsgehäusen ehrwürdiger Vordenker kann zugleich gewürdigt und dekonstruiert, weiter- und damit neugedacht werden: mit Kant und Frege und Husserl und gegen diese über sie hinaus. Zugleich bedeutete das u. U. eine Auflockerung versteinerter Sprechsysteme unhinterfragter Theologumenoi: Ereignis statt Erklärung, post statt ante quem, und eher Quecke denn Zement.

2. Ereignis und die Zeiten: Äon, Chronos und das Werden The time is out of joint. Hamlet

Nach seiner ersten Autorenstudie zu Hume im Jahr 1953 waren es vor allem seine Beschäftigungen mit den Philosophen Friedrich Nietzsche (1962), Immanuel Kant (1963) und Henri Bergson (1966) einerseits und mit Marcel Proust (1964) andererseits, die Gilles Deleuze zu einer reformulierten, dekonstruierten Zeitphilosophie jenseits der modal-linearen Ordnung der Abfolge von Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft nötigten und die sich auf den Grund-Satz bringen lässt, Zeit anders zu denken denn in diffundierenden Gegenwartsmodi und in bloßer Abhängigkeit der Wahrnehmung. Deleuze geht es grundsätzlich um „Zeit als Gegenwart, allerdings als Gegenwart, die vorübergeht. Die Zeit bleibt der Gegenwart verhaftet, die Gegenwart aber bewegt sich unaufhörlich in Sprüngen, die ineinander übergehen. Dies ist das Paradox der Gegenwart: Sie konstituiert die Zeit, geht aber in dieser konsti-jtuierten Zeit vorüber. Wir dürfen der notwendigen Konsequenz nicht ausweichen: Es ist eine andere Zeit […] gefordert“ [DW 110 f.]

– eine Zeit, in der sich Ereignis ausdrückt, die sich in einer Dimension der Zukunftvergangenheit auf einen winzigen Punkt zusammenzieht und in diesem die Totalität des Ereignisses verwirklicht: Zeit im Paradigma der Wiederholung, die dem linearen Paradigma des Historismus zuwiderläuft und in der Vergangenheit die Gegenwart vorwegnimmt, wiederholt, so wie ein ,historisches‘ Ereignis die Feier seiner Jahrestage im kontrahierten Moment vorwegnimmt:1 „Der Historiker mag wohl empirische Korrespondenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit suchen; wie ergiebig es auch immer sein mag, bildet dieses Netz aus historischen Korrespondenzen Wiederholungen doch nur durch Gleichartigkeit und Analogie. In Wirklichkeit ist die Vergangenheit – wie die Gegenwart – an sich selbst Wiederholung, auf zwei verschiedene Weisen, die sich ineinander wiederholen. Es 1 „In der Gedenkfeier liegt gerade dieses Paradox offen zutage: ein ,Unwiderbringliches‘ wiederholen. Nicht ein zweites oder drittes Mal dem ersten hinzufügen, sondern das erste Mal zur ,n-ten‘ Potenz erheben. Mit diesem Bezug zur Potenz verkehrt sich die Wiederholung, indem sie sich nach innen stülpt; es ist, wie P guy sagt, nicht die Feier des 14. Juli, die den Sturm auf die Bastille erinnert oder repräsentiert, vielmehr ist es der Sturm auf die Bastille, der im voraus alle Jahrestage feiert und wiederholt; oder es ist die erste Seerose Monets, die alle weiteren wiederholt“ [DW 16].

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Ereignis und die Zeiten: Äon, Chronos und das Werden

gibt in der Geschichte keine Wiederholungstatsachen, die Wiederholung ist vielmehr die historische Bedingung, unter der etwas Neues wirklich entsteht.“ [DW 123]

Wiederholung der Differenz und Differenz der Wiederholung als Ereignis des wirklich entstehenden Neuen: Wie das jenseits der historischen Linearität und wie das Ereignis in der Zeit geschieht und welcherart eine so gedachte Ereigniszeit ist, wird nun im Folgenden untersucht. Zunächst wird anhand von Marcel Proust narratologisch gezeigt, wie sich das Ereignis in der Zeit ,zeitigt‘ (1). In einem zweiten Schritt werden die gedanklichen Grundlagen für die deleuzianischen Begriffe von „Chronos“ und „Äon“ anhand der Erzählungen von Jorge Luis Borges gelegt (2), um schließlich anhand von Deleuzes philosophischen Einflüssen und Arbeiten seinen Begriff des ,reinen Ereignisses‘ in der Zeit herauszuarbeiten.2

2.1 Un peu de temps l’ tat pur Da sich hinsichtlich der Zeit in besonders dichter Weise die Ergebnisse aller anderen Autorenstudien von Deleuze in dem die Zeit betreffenden Kapitel seiner kurz nach seiner Kant-Studie verfassten Arbeit über „Proust und die Zeichen“ (orig. „Proust et les signes“, 1964) finden, bietet sich der Einstieg bei Marcel Proust (1871–1922) selbst als Hinführung zu Deleuzes Zeitverständnis an. So kann anhand von Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ deutlich werden, dass ,Zeit‘ im allgemeinen und seit Augustinus (tempus im Gegensatz zu aeternitas) als philosophisch-kategorial entwickelter Begriff keiner ist, der in dieser Form in der deleuzianischen Philosophie häufig begegnet oder als klassischer ,Begriff‘ für Deleuze überhaupt eine ,Bedeutung‘ hätte. Deleuze pflegt vielmehr ein literarisch-philosophisches Verständnis der Zeit als immanente Ewigkeit im Sinne seiner „Sehnsuchtsformel“3, die die meisten seiner im weiteren Sinne philosophischen Schriften explizit oder implizit durchwirkt. Diese Formel bringt in konziser Form zum Ausdruck, dass von der Zeit, die das Ereignis zeitigt, nur über-, un- und gleichzeitig 2 Das Verständnis seiner beiden Hauptwerke „Differenz und Wiederholung“ sowie „Logik des Sinns“ setzt die Lektüre der frühen Autorenstudien voraus, da Deleuze die in ihnen entfalteten Gedanken später nicht noch einmal erneut explizit nachzeichnet. Bevor auf die Aufnahme der Zeitkonzeptionen von Bergson, Kant und Nietzsche eingegangen werden soll, bietet sich zunächst ein Zugang über den literarischen Weg an. So eminent wichtig die Lektüre der nachaufklärerischen, ,klassischen‘ Zeitphilosophen für Deleuze war, so sehr ist sein Werk doch geprägt von mindestens den beiden Schriftstellern Jorge Luis Borges und Lewis Carroll, die aufgrund ihrer je eigenen Verhältnisbestimmung von Realität und Wahrnehmung die Sprache und das Denken Deleuzes formten. Der Zugang über die für Deleuze bedeutende Literatur erleichtert mithin den Nachvollzug der selbst sehr eigenen, philosophisch-phantastischen Diktion, derer sich Deleuze vor allem in „Logik des Sinns“ bedient. 3 Mirjam Schaub, Gilles Deleuze im Kino. Das Sichtbare und das Sagbare, München 22006, 221.

Un peu de temps l’ tat pur

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gedacht werden kann und dass sie sich selbst nur in der Wiederholung einstellt: Un peu de temps l’ tat pur – ,ein kleines Quantum reiner Zeit‘, das im Ganzen Ewigkeit ist und nicht Zeitlichkeit. Proust benutzt den literarischen Kunstgriff der ,unwillkürlichen Erinnerung‘ (m moire involontaire), um dem Protagonisten „Marcel“ die Vergangenheit als den Schock eines unendlichen Glücksgefühls in die Gegenwart zu holen und diese in jene zurückzuversetzen. Das grundlegend-regressive Motiv des Romans ist das der Erinnerung des Protagonisten, die ihn am Ende der im gesamten Roman geschilderten Handlungsstränge dazu bringt, seine Zeit ,nicht weiter zu verlieren‘ und alle seine Erinnerungen in Form eben dieses Romans aufzuschreiben. Entsprechend begegnet dieses Motiv vor allem in der Rahmenhandlung der sieben (oder je nach Ausgabe mehr) Bücher. Von den zahlreichen und scheinbar zufälligen Sinneseindrücken, die Marcel in „Die wiedergefundene Zeit“ in euphorische Ekstase versetzen (ein unebener Pflasterstein und die Erinnerung an Venedig; der Klang eines Löffels auf einem Teller und die Erinnerung an Bäume im Sonnenlicht auf dem Weg nach Paris; eine steife Serviette und die Erinnerung an Balbec; etc.), ist dabei vor allem die „Madeleine-Episode“ nachhaltig prominent geworden: Marcel erinnert sich bewusst an einen Moment seiner Jugend, in dem er im Zustand tiefster Trübsal von seiner mit zärtlichster Liebe verehrten Mutter „eines jener dicklichen, ovalen Sandtörtchen“ in Form einer Jakobsmuschel gereicht bekam, es in einer Tasse Tee auflöste und gedankenverloren daraus trank: „In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Es hatte mir mit einem Schlag, wie die Liebe, die Wechselfälle des Lebens gleichgültig werden lassen, seine Katastrophen ungefährlich, seine Kürze imaginär, und es erfüllte mich mit einer köstlichen Essenz; oder vielmehr: diese Essenz war nicht in mir, ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen.“4

Im Ereignis-Subjekt ist das Ereignis ,ungewöhnlich‘ und ,vollzieht‘ sich; es bewirkt singuläre, ,unerhörte‘ Gefühle und ist kausal irreduzibel. Es ,erfüllt‘ und enthebt ,schlagartig‘ den Kontingenzen des Alltags. Später, erwachsen und in einem Gartenpavillon über der Idee seines Romans versunken, wünscht sich Marcel dieses Gefühl zurück und will es durch Gedankenanstrengung, durch bewusste Erinnerung (m moire volontaire) wiedervergegenwärtigen, allein es gelingt ihm nicht. Und erst im Moment der Vergessenheit darüber, als er erneut eine Tasse Tee trinkt, eruptiert dieses Gefühl: 4 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 1: Unterwegs zu Swann, Frankfurt am Main 22015, 67.

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Ereignis und die Zeiten: Äon, Chronos und das Werden

„Und mit einem Mal war die Erinnerung da. […]j Und so ist denn, sobald ich den Geschmack jenes Madeleine-Stücks wiedererkannt hatte […], das graue Haus mit seiner Straßenfront […] hinzugetreten, […] und mit dem Haus die Stadt, vom Morgen bis zum Abend und bei jeder Witterung, der Platz, auf den man mich vor dem Mittagessen schickte, die Straßen, in denen ich Einkäufe machte, die Wege, die wir gingen, wenn schönes Wetter war. Und […] ebenso stiegen jetzt alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Swann und die Seerosen auf der Vivonne und all die Leute aus dem Dorf und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, all das, was nun Form und Festigkeit annahm, Stadt und Gärten, stieg auf aus meiner Tasse Tee.“5

Das Ereignis vergegenwärtigt die Vergangenheit in (quasi-)materieller Form. In diesem logisch nicht einholbaren Vollzug der virtuellen Reiteration der Erinnerung in ,Form und Festigkeit‘ fällt die Zeit insgesamt aus den Fugen, wo sich dem Protagonisten bei Proust ein ,wirklicher‘ Augenblick der Vergangenheit ereignet: „Nur ein Augenblick der Vergangenheit? Vielleicht weit mehr als das; etwas, was – zugleich der Vergangenheit und der Gegenwart zugehörig – weit wesentlicher als beide ist. Wie viele Male hatte doch im Lauf meines Lebens die Wirklichkeit mich enttäuscht, weil in dem Augenblick, da ich sie wahrnahm, meine Imagination, die mein einziges Organ für die Wahrnehmung von Schönheit war, sich auf sie nicht anwenden ließ, aufgrund des unumgänglichen Gesetzes, daß man nur imaginieren kann, was abwesend ist. Hier nun hatte sich plötzlich die Wirkung dieses harten Gesetzes als neutralisiert und aufgehoben erwiesen durch einen wundervollen Kunstgriff der Natur, die eine Empfindung […] einmal in der Vergangenheit hatte aufschillern lassen, was meiner Imagination sie wahrzunehmen gestattete, zugleich aber auch in der Gegenwart, in der nun die wirkliche Aktivierung meiner Sinne […] zu den Träumen der Imagination das hinzugegeben hatte, was ihnen gewöhnlich fehlte, das heißt die Idee der Existenz; dank diesem Trick aber j hatte sie meinem Wesen für die Dauer eines Blitzes erlaubt, etwas zu erlangen, zu sondern und festzuhalten, was es niemals erahnt hatte: ein kleines Quantum reiner Zeit.“6

Das Ereignis durchbricht die Wirkung eines „harten Gesetzes“, nach dem die ,Wirklichkeit‘ der Intensität ermangelt, als die ihre aus der Vergangenheit gespeiste Erwartung sie ausweist. Vielmehr verwirklicht sie die Vergangenheit als Gegenwart dergestalt, dass jene in dieser ,für die Dauer eines Blitzes‘ existenzielle Bedeutung gewinnt. Und in explizit religiöser Terminologie schreibt Proust von der Bedeutung der m moire involontaire für alle drei herkömmlich unterschiedenen Zeit-

5 AaO., 70 f. 6 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 7: Die wiedergefundene Zeit, Frankfurt am Main 22015, 266 (Hervorhebung FH).

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ebenen, insbesondere für das Verständnis der Zukunft: Dieses ,Wesen‘ der Dinge7 „kümmert traurig dahin bei der Beobachtung der Gegenwart, in der die Sinne sie ihm nicht zuführen, bei der Betrachtung einer Vergangenheit, die der Verstand ihm ausgedörrt verabfolgt, bei der Erwartung einer Zukunft, die der Wille aus Bruchstücken der Gegenwart und der Vergangenheit zusammensetzt, deren Wirklichkeitsgehalt er auch dadurch vermindert […]. Sobald aber ein bereits gehörtes Geräusch, ein schon vormals eingeatmeter Duft von neuem wahrgenommen wird, und zwar als ein gleichzeitig Gegenwärtiges und Vergangenes, ein Wirkliches, das gleichwohl nicht dem Augenblick angehört, ein Ideelles, das deswegen dennoch nichts Abstraktes bleibt, wird auf der Stelle die ständig vorhandene, aber gewöhnlich verborgene Wesenssubstanz der Dinge frei, und unser wahres Ich, das manchmal seit langem tot schien, aber es doch nicht völlig war, erwacht und gewinnt neues Leben aus der göttlichen Speise, die ihm zugeführt wird. Eine aus der Ordnung der Zeit herausgehobene Minute hat in uns, damit er sie erlebe, den von der Ordnung der Zeit befreiten Menschen erschaffen. Und dieser Mensch – wie gut kann man verstehen, daß er Vertrauen zu seiner j Freude faßt, selbst wenn der einfache Geschmack einer Madeleine nicht logischerweise die Gründe für diese Freude zu enthalten scheint, verstehe auch, daß das Wort Tod keinen Sinn für ihn hat; was könnte er, der Zeit enthoben, von der Zukunft fürchten?“8

Damit sind die Koordinaten für das Proust’sche Ereignis der Zeit gegeben: Es enthebt aus der Ordnung der Zeit und übersteigt menschliche Existenz; es ist selbst nicht der Sachverhalt, den es ereignet, sondern „die unendliche Bewegung gewonnen und bewahrt, der es Konsistenz verschafft. Es ist das Virtuelle, das sich vom Aktuellen unterscheidet, ein Virtuelles aber, das nicht mehr chaotisch ist […]. Real, ohne aktuell zu sein, ideal, ohne abstrakt zu sein“ (WPh 182).9 Indem die Vergangenheit im Ereignis des Geschmacks ,der göttlichen Speise‘ (sic!) zur Gegenwart wird, stellt sie nicht mehr etwas Vergangenes dar, sondern wird selbst gegenwärtig und koexistiert mit der Gegenwart dessen, dem sie sich ereignet. Dabei sind die Dimensionen im Ereignis der m moire involontaire nicht ähnlich, sondern nur in ihrer Differenz streng identisch; auch die Erinnerungen an die Stadt Combray selbst sind im Geschmack der Madeleine bloß konserviert, aber in ihrer Kontiguität, d. h. temporalen und 7 Das französische Þtre: „Sein“ ist hier nicht in einem ontischen Sinn von „Existenz“ (existence) oder „Wesen“ (essence) misszuverstehen. 8 Proust, Die wiedergefundene Zeit, 267 f. 9 Mit den Worten von Aleida Assmann: „In Augenblicken, in denen sich durch eine plötzliche Entdeckung von Symmetrie im Chaos des Erfahrungsschatzes solche Synchronie herstellt, wird der Mangel an Existenz überwunden, der aus einer Zerstreuung […] des Menschen in die Dimensionen der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft resultiert“; Aleida Assmann, Obsession der Zeit in der englischen Moderne, in: Tilo Schabert/Matthias Riedl (Hrsg.), Das Ordnen der Zeit, Würzburg 2003, 175–194.

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semantischen unmittelbaren Nachbarschaft, nicht als Gegenwart verwirklicht, sondern als Vergangenheit gegenwärtig. So ist die Vergangenheit selbst Gegenwart und wird nicht erst zu einer Vergangenheit, wenn sie nicht mehr gegenwärtig ist, sondern jeder Punkt der reinen Zeit ist immer zugleich vergangen-gegenwärtig. Die Differenz der unwillkürlichen Erinnerung besteht darin, dass sie die alte Vergangenheit bruchlos in die Gegenwart versetzt, ohne dass die Gegenwart selbst in die Vergangenheit zurück(ge)langen könnte. So verstanden scheiterte die Einteilung der herkömmlichen modi der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft angesichts des Ereignisses daran, dass sie das Idion der Ereignis-Zeit verkennt: Sie „tut so, als ob die Vergangenheit sich als solche konstituiere, nachdem sie gegenwärtig gewesen war. Es müßte also eine neue Gegenwart erwartet werden, damit die vorhergehende vergehe oder vergangen würde. Doch auf diese Art entgeht uns das Wesen der Zeit. Denn wenn die Gegenwart nicht zugleich vergangen und anwesend wäre, wenn der gleiche Augenblick nicht mit sich als gegenwärtigem und vergangenem koexistieren würde, würde er nie vergehen, niemals würde eine neue Gegenwart ihn ersetzen können“ [PZ 49].

So kann die Vergangenheit allerdings nicht in ihrer Wirklichkeit erfasst, sondern stets nur aus der Summe kleinster Gegenwarten zusammengesetzt werden. Konkret am Beispiel der Madeleine-Begebenheit bei Proust bedeutete das: Die unwillkürlich erinnerte Vergangenheit ist im Gegensatz dazu „nicht bezogen auf eine Gegenwart, die gewesen ist, sie ist nicht bezogen auf die Gegenwart, im Verhältnis zu der sie jetzt vergangen ist. Es ist nicht mehr das Combray der Wahrnehmung, nicht das des willkürlichen Gedächtnisses. Combray erscheint, wie es niemals erlebt werden konnte: nicht in seiner Realität, sondern in seiner Wahrheit, nicht in seinen Beziehungen zur Äußerlichkeit und Kontiguität, sondern in sei-jner verinnerlichten Differenz, in seiner Essenz [d. h. in seiner Bedeutung für die unwillkürliche Erinnerung jenseits der faktischen, seinerzeit existenten Realität; FH]. Combray steigt auf in einer reinen Vergangenheit, mit den beiden Gegenwarten koexistierend, aber außerhalb ihres Zugriffs, unerreichbar für das gegenwärtige willkürliche Gedächtnis und für die frühere bewußte Wahrnehmung. ,Un peu de temps l’ tat pur.‘“ [PZ 51 f.]

Die erinnerte Vergangenheit ist gewissermaßen „zwischen zwei Gegenwarten eingekeilt: derjengen, die sie gewesen ist, und derjenigen, bezüglich welcher sie vergangen ist.“ [DW 111] Das Ereignis legt die virtuelle Wirklichkeit jenseits jeder faktischen und (vermeintlich?) so erlebten Realität frei und lässt sie als vergangene Gegenwart aus der Tiefe der Erinnerung auftauchen in das nun gegenwärtige Bewusstsein. In seiner Virtualität zeitigt das Ereignis dabei „eine ganz andere Realität, in der wir nicht mehr suchen müssen, was von einem Punkt zum anderen, von einem Augenblick zum anderen geschieht, weil sie jede mögliche Funktion übersteigt“ [WPh 184]. Die unwillkürliche Erinnerung schaut das Ereignis als einen Moment der alle Zeitmodi umspannenden

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Ewigkeit, jedoch nur „in einer Weise, daß wir nicht die Kraft haben, sie länger als einen Augenblick zu ertragen, noch die Mittel, ihr Wesen zu entdecken“ [PZ 53]: Das Ereignis selbst ist so extraordinär, dass es auch in einem psychologischen Sinne ,unfassbar‘ und dabei zugleich sowohl unerträglich als auch herrlich ist: „Das Wesen der Zeit entgeht uns.“ [PZ 49]

2.2 Zeit phantastisch Von hier aus ein weiterer literarischer Sprung zu Jorge Luis Borges (1899–1986), dessen magischer Realismus auch als wissenschaftliche Inspirationsquelle nicht zu unterschätzen ist:10 Die Dimensionen des deleuzianischen Zeitbegriffs lassen sich als die zwei Lesarten Äon – „unbegrenzt wie die Zukunft und die Vergangenheit, jedoch endlich wie der Augenblick“ [LS 207] – und Chronos – „begrenzt und unendlich“ [LS 207] bestimmen. Wie sie sich im einzelnen (1 und 2) und zueinander (3) verhalten, lässt sich vor einer detaillierteren Betrachtung der Verwendung ihrer Bedeutung v. a. in der „Logik des Sinns“ gut mit einem grundlegenderen Blick in drei bzw. vier Kurzgeschichten von Borges zeigen, die diese Dimensionen entsprechend gut zu veranschaulichen vermögen: (1) „Der Tod und der Kompaß“11 und „Die Lotterie in Babylon“12; (2) „Die Bibliothek von Babel“13; und schließlich (3) „Der Garten der Pfade, die sich verzweigen“14.

10 Vgl. etwa Elmar Schenkel, Die elektrische Himmelsleiter. Visionäre und Exzentriker in den Wissenschaften, München 2005, 9: „Wenn Jorge Luis Borges, dessen ,magischer Realismus‘ zu einer poetischen Gattung in der Moderne wurde, einmal gesagt hat, die Theologie sei ein Zweig der phantastischen Literatur, so möchte man hinzufügen: Die Wissenschaften sind insgesamt ein Zweig der Phantastik“. 11 Jorge Luis Borges, Der Tod und der Kompaß, in: Gisbert Haefs/Fritz Arnold (Hrsg.), Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil. Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph, München 2000, 201–214. 12 Jorge Luis Borges, Die Lotterie in Babylon, in: Gisbert Haefs/Fritz Arnold (Hrsg.), Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil. Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph, München 2000, 137–144. 13 Jorge Luis Borges, Die Bibliothek von Babel, in: Gisbert Haefs/Fritz Arnold (Hrsg.), Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil. Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph, München 2000, 151–160. 14 Jorge Luis Borges, Der Garten der Pfade, die sich verzweigen, in: Gisbert Haefs/Fritz Arnold (Hrsg.), Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil. Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph, München 2000, 161–173.

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2.2.1 Die labyrinthische Linie Wohl niemand hat bessere, poetische Worte gefunden, um das deleuzianische Labyrinth in der Wiederholung seines ,klassischen Begriffs‘ neu zu erzählen, als Michel Foucault, der dafür eigens eine Fabel wiedererfindet: „Ariadne war es müde, auf Theseus’ Wiederkehr aus dem Labyrinth zu warten, auf seinen monotonen Schritt zu lauern und sein Gesicht unter all den flüchtigen Schatten wiederzuerkennen. Ariadne hat sich erhängt. An der aus Identität, Erinnerung und Wiedererkennung verliebt geflochtenen Schnur dreht sich ihr Körper nachdenklich um sich selbst. Der Faden ist gerissen und Theseus kommt nicht wieder. Er rennt und rast, taumelt und tanzt durch Gänge, Tunnels, Keller, Höhlen, Kreuzwege, Abgründe, Blitze und Donner. Er bewegt sich nicht in der gelehrten Geometrie des wohlzentrierten Labyrinths – sondern treibt einen abschüssigen Steilhang entlang. Er geht nicht der Stätte seiner Erprobung entgegen, wo der Sieg ihm Rückkehr verspricht – sondern fröhlich nähert er sich dem Monster ohne Identität, dem Ungeheuer, das keiner Art angehört, das Mensch u n d Tier in einem ist, das die leer ablaufende Zeit des unterweltlichen Richters und die geschlechtlich jähe Gewalt des Stieres in sich vereinigt. Und er nähert sich ihm nicht, um diese Unform von der Erde zu tilgen[,] sondern um sich in ihrem Chaos zu verlieren. Hier (und nicht in Naxos) liegt vielleicht der bacchische Gott auf der Lauer: Dionysos der Maskierte, der Verkleidete, der endlos Wiederholte. Der berühmte und so fest gedachte Faden ist zerrissen; j Ariadne ist verlassen worden, ehe man es glauben mochte. Und die ganze Geschichte des abendländischen Denkens ist neu zu schreiben.“15

Doch zunächst einen Schritt zurück in diesem Labyrinth: ,Äon‘ als labyrinthische, unbegrenzt-unaufhörliche Linie begegnet bei Borges in einer als Detektivgeschichte verfassten Erzählung aus dem Zyklus „Kunststücke“, die er 1944 veröffentlichte. Lönnrot, der Protagonist, verfolgt eine mysteriöse Mordserie, die mit der Leiche eines Rabbiners einsetzt, bei der eine Notiz gefunden wird. Sie liest: „Der erste Buchstabe des NAMENS ist artikuliert worden“ und verweist auf das Tetragrammaton. Zwei weitere Morde geschehen, zwei entsprechende weitere Notizen werden gefunden, und Lönnrot präkonstruiert nach intensivem Studium chassidischer Lektüre und mithilfe einer Karte sowie der geometrischen Figur des Dreiecks den Punkt des Rhombus, an dem der vierte Mord geschehen soll. Dort erwartet ihn sein eigener Tod, und in einem fulminanten Schlussdiskurs mit Lönnrots Mörder entwickelt Borges das Linienlabyrinth: 15 Michel Foucault, Der Ariadnefaden ist gerissen, in: Gilles Deleuze/Michel Foucault (Hrsg.), Der Faden ist gerissen, Berlin 1977, 7–12, 7 f.

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„Lönnrot überdachte zum letzten Mal das Problem der symmetrischen und periodischen Morde. ,In Ihrem Labyrinth sind drei Linien zuviel‘, sagte er j schließlich. ,Ich weiß von einem griechischen Labyrinth, das aus einer einzigen geraden Linie besteht. Auf dieser Linie haben sich schon so viele Philosophen verirrt, daß ein bloßer detective sich wohl verirren darf. Scharlach, wenn Sie in einer anderen Wiedergeburt wieder Jagd auf mich machen, dann fingieren – oder begehen – Sie bitte ein Verbrechen in A, dann ein zweites in B, acht Kilometer von A entfernt; daraufhin ein drittes in C, vier Kilometer von A und B entfernt, auf halbem Weg zwischen beiden. Erwarten Sie mich in D, zwei Kilometer von A und C entfernt, wiederum auf halbem Weg. Und töten Sie mich in D, so wie Sie mich jetzt in Triste-le-Roy töten werden.‘ ,Für das nächste Mal, daß ich Sie töte‘, antwortete Scharlach, ,verspreche ich Ihnen dieses Labyrinth, das aus einer einzigen geraden Linie besteht, und das unsichtbar, unaufhörlich ist.‘ Er trat einige Schritte zurück. Dann, sehr sorgfältig, feuerte er.“16

In Borges’ in dem Zyklus der „Fiktionen“ im Jahr 1941 erschienenen Erzählung „Die Lotterie in Babylon“ ist der Gedanke einer unendlich teilbaren Zeit dystopisch präfiguriert. Sie beschreibt ein mythisch-fiktives Babylon, in dem alle Aktivitäten von einer absolutistischen Lotterie als einer Metapher für die Rolle des Zufalls im menschlichen Leben diktiert werden. Diese SchicksalsLotterie entwickelte sich in einer spiralenartigen Steigerung von alltäglicher Banalität zu demiurgenhafter Tyrannei. In ihrem vormythischen Ursprungszustand verlief sie zunächst wie eine gewöhnliche Lotterie. Man erwarb naturalistisch gestaltete Lose, ein Gewinner erhielt eine finanzielle Belohnung. Späterhin wurden zur Spannungssteigerung erst maßvoll, dann unmäßig Strafen sowie größere finanzielle Belohnungen eingeführt. Wieder etwas später wurde die Teilnahme für alle Bewohner Babylons verpflichtend. Über das Losschicksal bestimmt eine aristokratische, so genannte „Gesellschaft“, die im Geheimen tagt und mittels dieses Instruments ein Regiment absoluter und allumfassender Willkürherrschaft erschaffen hatte. Infolge der Automatisierung dieser Lotterie verschwand das Bewusstsein davon, dass die Lose manuell gezogen wurden: „Dieses stillschweigende Funktionieren, dem Gottes vergleichbar, verlockt zu den verschiedensten Mutmaßungen. Eine gibt auf abscheuliche Art zu verstehen, daß es schon seit Jahrhunderten keine Gesellschaft mehr gebe, und daß die heilige Unordnung unserer Leben rein erblich, bloß überkommen sei. […] Eine andere entwickelt den nicht minder abgefeimten Gedanken, daß es gleichgültig ist, ob man die Realität der schattenhaften Körper bejaht oder verneint, weil Babylon nichts anderes ist als ein unendliches Spiel von Zufällen.“17

In diesen Kontext fällt die Rede Borges’ von der ,unendlich teilbaren Zeit‘: Die babylonische Lotterie verstrickt sich in ihren Ziehungen in unendliche Reihen, die jeweils unterschiedliche Parameter der Vollstreckung eines Urteils 16 Borges, Der Tod und der Kompaß, 213 f. 17 Ders., Die Lotterie in Babylon, 143 f.

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betreffen (Ziehung des Urteils, Ziehung möglicher Ausführender; Ziehung alternativer Urteile; Ziehung ergänzender Urteilsumstände etc.) und sich untereinander beeinflussen: „In Wirklichkeit ist die Zahl der Ziehungen unendlich. Kein Entscheid ist endgültig, alle verzweigen sich in andere. Die Unwissenden sind der Meinung, daß unendliche Ziehungen eine unendliche Zeit erfordern; in Wahrheit braucht die Zeit nur unendlich teilbar zu sein“18.

Die labyrinthische Linie Äons ist in diesem Sinne unendlich teilbar. Der Punkt ihres Endes ist für die Betrachtung des Ereignisses, das sich als Punkt auf dieser Zeit-Linie ereignet, nicht maßgeblich, sondern allein der zwei Kilometer von A entfernte Punkt D, zwischen denen sich nach einem Kilometer der Punkt E, nach 500 Metern der Punkt F etc. einschalten ließe. Und auch das stets von jedem Zufall neu determinierte Ausgangsszenario des von ihm bestimmten weiteren Zufalls, der wiederum Auswirkungen auf jeden weiteren Zufall zeitigt, bedarf nicht der Sukzession bis in die unendliche Zukunft hinein. Jedes zufällige Ereignis auf der Linie von Äon bestimmt die parallel im gleichen Punkt sich ereignenden Ereignisse mit, und dort, wo ein chronologisch nachfolgender Zufall die Wirkung des ihm vorangehenden aufhebt, wird er selbst in seiner Existenz verändert. Das Labyrinth Äons ist die ideale Linie, die nicht aus einem langen Strich besteht, sondern aus unendlich vielen Punkten. (Vielleicht nur an einem einzigen Punkt.)

2.2.2 Die totale Bibliothek Im gleichen Erzählzyklus beschreibt Borges ein anders gestaltetes, zyklisches Labyrinth: „Das Universum (das andere die Bibliothek nennen)“. Es „setzt sich aus einer unbestimmten, vielleicht unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen, mit weiten Luftschächten in der Mitte, eingefaßt von sehr niedrigen Geländern. Von jedem Sechseck kann man die unteren und oberen Stockwerke sehen: ohne Ende. […] j Auf jede Wand jeden Sechsecks kommen fünf Regale; jedes Regal faßt zweiunddreißig Bücher gleichen Formats; jedes Buch hat vierhundertzehn Seiten; jede Seite vierzehn Zeilen; jede Zeile etwa achtzig Zeichen von schwarzer Farbe.“19

Diese Geschichte ist zunächst eine Metapher auf die vermeintliche Unübersichtlichkeit der Welt, der ein inneres Strukturprinzip der Wohlordnung zugrunde liegt, unabhängig davon, ob sie perzipiert wird. Das Strukturprinzip ist abhängig von zwei Axiomen („Die Bibliothek existiert ab aeterno“20 und 18 AaO., 142. 19 Ders., Die Bibliothek von Babel, 151 f. 20 AaO., 152.

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„Die Anzahl der orthographischen Symbole ist fünfundzwanzig“21) und ist in der Totalität der Bibliothek abgebildet: „In der ungeheuren Bibliothek gibt es nicht zwei identische Bücher.“22 Jede denkbare Zeichenkombination ist in ihr in irgendeinem Buch enthalten, jedes Buch und jedes Faksimile jedes Buches, das je geschrieben wurde, findet sich in ihren Regalen. Ex hypothesi kann man alles in ihr finden: „die minutiöse Geschichte der Zukunft, die Autobiographien der Erzengel, den getreuen Katalog der Bibliothek, Tausende und Abertausende falscher Kataloge, den Nachweis ihrer Falschheit, den Nachweis der Falschheit des echten Katalogs, das gnostische Evangelium des Basilides, den Kommentar zu diesem Evangelium, den Kommentar zum Kommentar dieses Evangeliums, die wahrheitsgetreue Darstellung deines Todes, die Übertragung jeden Buches in sämtliche Sprachen, die Interpolation jeden Buches in allen Büchern, den Traktat, den Beda hätte schreiben können (und nicht schrieb), über die Mythologie der Angelsachsen, die verlorenen Bücher des Tacitus.“23

Diese Feststellung hat unmittelbare Konsequenzen für die augurenhafte Suche der Menschen nach der individuellen Rechtfertigung ihres Schicksals. Da die Bibliothek alles fasst, was je geschrieben worden sein könnte, findet sich in ihr auch die Darstellung des Geschicks eines jeden Menschen und ist so Grund für die Verzweiflung derer, die nach ihrem eigenen Kapitel im ,Buch des Lebens‘ suchen. Die Wahrscheinlichkeit, es irgendwo in den unendlichen Tiefen der Bibliotheksgalerien zu finden, gleicht Null. Je größer die Gesamtheit aller Darstellungsmöglichkeiten gedacht wird, desto unwahrscheinlicher wird ihre Komprehension. Die Metapher der unendlichen und zyklischen Bibliothek in ihrer ,chronischen‘ Totalität verdeutlicht dabei noch einmal die Schwierigkeit, die die Vorstellung eines endlichen Raumes birgt: Denn es ist nicht vorstellbar, dass er aufhörte, wo man zugleich sein Jenseits denkt. Zugleich zeigt die Borges’sche Kombinatorik durch ihre mathematisch bestimmbare Maßzahl n, dass Deleuze mit Borges Chronos als Lesart der Zeit wiewohl unendlich, so doch abgeschlossen denkt: „Ich schrieb: unendlich. Ich habe dieses Adjektiv nicht aus einer rhetorischen Gepflogenheit eingeschoben; ich sage, es ist nicht unlogisch zu denken, daß die Welt unendlich ist. […] Ich bin so kühn, die folgende Lösung des alten Problems vorzuschlagen: Die Bibliothek ist unbegrenzt und zyklisch. Wenn ein ewiger Wanderer sie in einer beliebigen Richtung durchmäße, so würde er nach Jahrhunderten feststellen, daß dieselben Bände in derselben Unordnung wiederkehren (die, wiederholt, eine Ordnung wäre: Die Ordnung).“24 21 22 23 24

AaO., 153. AaO., 155. Ebd. AaO., 160.

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Zwar ist also die Unendlichkeit der zyklisch durchschrittenen Bibliothek per humanitatem nicht perzipierbar. Allein das ist kein hinreichender Grund für die Setzung ihrer Endlichkeit, denn der Umstand ihrer empirisch ausgeschlossenen Verifizierbarkeit schließt ihre Denkmöglichkeit nicht aus. Im Gegenteil: Der Totalität der Anzahl möglicher Kombinationsmöglichkeiten der gesetzten 25 Zeichen in Borges’ Bibliothek korrespondiert die ewig-repetierbare Linienzeichnung der zyklischen Lesart von Chronos – gemäß einem Kreis, der als fixe geometrische Figur durch seine Außengrenzen zwar peripher abgeschlossen ist, dessen inhärente Linienzeichnung allerdings stets neu die 3608 vollenden wird und repetiert, d. h. systemimmanent unendlich ist. 2.2.3 Verzweigte Pfade In der letzten hier zu erwähnenden Kurzgeschichte findet sich schließlich die Folie für das Verhältnis dieser zwei ,Lesarten‘ zueinander. Borges beschreibt in „Der Garten der Pfade, die sich verzweigen“ (eingebettet in eine fiktive Erzählung um einen Sabotageplan eines chinesisch-stämmigen deutschen Spions auf britischem Boden im Jahr 1916), wie der Urenkel des fiktiven, genialen chinesischen Gouverneurs Ts’ui PÞn durch eine unwillkürliche Erinnerung auf die Spur des Vermächtnisses seines Ahnen geleitet wird. Nachdem dieser sich in völlige Askese zurückzog, arbeitete er dreizehn Jahre lang an zwei extravaganten Vorhaben: der Erschaffung eines Labyrinthes, das an Verworrenheit keinem anderen gliche, und der Niederschrift eines Romans, der an Epik ohnegleichen sein sollte. Nur das Buch wurde gefunden und als logisch inkomprehensibel befunden: „Das Buch ist ein wirrer Haufen widersprüchlicher Entwürfe. Ich habe es einmal durchgesehen: Im dritten Kapitel stirbt der Held, im vierten ist er am Leben“25; das Labyrinth blieb verschollen. In Wahrheit handelte es sich bei beiden Konzeptionen um eine identische. Das Buch selbst ist das Labyrinth, wie dem Protagonisten von einem Fremden bedeutet wird, der im Zuge eigener Recherchen auf ein Bruchstück eines Briefes des Urahnen gestoßen war: „,Ich hinterlasse den verschiedenen Zukünften (nicht allen) meinen Garten der Pfade, die sich verzweigen.‘“ – „Die Wendung: ,verschiedenen Zukünften (nicht allen)‘ brachte mich auf das Bild der Verzweigung in der Zeit, nicht im Raum. Die j abermalige Gesamtlektüre des Werks hat diese Theorie bestätigt. In allen Fiktionen entscheidet sich ein Mensch angesichts verschiedener Möglichkeiten für eine und eliminiert die anderen; im Werk des schier unentwirrbaren Ts’ui PÞn entscheidet er sich – gleichzeitig – für alle. Er erschafft so verschiedene Zukünfte, verschiedene Zeiten, die ebenfalls auswuchern und sich verzweigen.“26 25 Ders., Der Garten der Pfade, die sich verzweigen, 168. 26 AaO., 169 f.

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Dabei besteht die Besonderheit des Romans darin, dass kein einziges Mal die Thematik oder allein das Wort „Zeit“ selbst vorkommen: „,Der Garten der Pfade, die sich verzweigen, ist ein ungeheures Ratespiel oder eine Parabel, deren Thema die Zeit ist; dieser tiefverborgene Grund verbietet ihm die Erwähnung ihres Namens. Ein Wort immer auszulassen, sich mit untauglichen Metaphern und offenkundigen Umschreibungen zu helfen, ist vielleicht die betonteste Art, darauf hinzudeuten. [… Es] ist ein zwar unvollständiges, aber kein falsches Bild des Universums, so wie es Ts’ui PÞn auffaßte. Im Unterschied zu Newton und Schopenhauer hat [er] nicht an eine gleichförmige, absolute Zeit geglaubt. Er glaubte an unendliche Zeitreihen, an ein wachsendes, schwindelerregendes Netz auseinander- und zueinanderstrebender und paralleler Zeiten. Dieses Webmuster aus Zeiten, die sich einander nähern, sich verzweigen, sich scheiden oder einander jahrhundertelang ignorieren, umfaßt alle Möglichkeiten.“27

Oder, in der präziseren Formel: „Die Zeit verzweigt j sich beständig zahllosen Zukünften entgegen“28, wuchert rhizomisch aus in alle Dimensionen von Zeitlichkeit und aktualisiert die Zukunft vermittels der Vergangenheit, sodass die Vergangenheit selbst mitunter zur Zukunft einer beliebigen Zukunft wird und die Gegenwart aufhört, absolut gerichtet zu sein.

2.3 Zwei Lesarten der Zeit Auf dieser literarischen Grundlage bestimmt Deleuze in „Logik des Sinns“ die Zeit entsprechend so, dass sie „zweimal, auf zwei sich ergänzende, einander ausschließende Weisen erfaßt werden muß […]: vollständig als lebendige Gegenwart […], aber ebenfalls vollständig als endlos in Vergangenheit-Zukunft teilbare Instanz […]. Einzig die Gegenwart existiert in der Zeit, führt die Vergangenheit und die Zukunft zusammen und nimmt sie in sich auf; doch allein die Vergangenheit und die Zukunft insistieren in der Zeit und zerteilen jede Gegenwart bis ins Unendliche. Nicht drei aufeinanderfolgende Dimensionen, sondern zwei gleichzeitige Lesarten der Zeit“ [LS 20] – denn lässt sich das „Ereignis“ als Ereignis ohnehin nicht ,fassen‘, so lässt sich noch viel weniger die Ereignis-Zeit weder unter dem Begriff der widerfahrenen Vergangenheit, noch der aus ihr kausallogisch resultierenden Gegenwart, noch deren antizipierter Zukunft fassen. Vergangenheit und Zukunft ,stellen sich‘ nicht in die eine oder andere ,Richtung‘, ,vorwärts‘ oder ,rückwärts‘, aus der Gegenwart ,heraus‘ (ek-sistere), sie ergeben sich nicht aus der Zukunft, sondern es sind vielmehr die Vergangenheit und die Zukunft zugleich, die sich ,in‘ die Gegenwart ,hineinstellen‘ (in-sistere), die sie ,unterstellen‘ (sub-sistere) und 27 AaO., 172. 28 AaO., 172 f.

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damit begründen, in die Existenz bringen. Im Ereignis gibt es keine Gegenwart, die nicht schon von der Zukunft unterwandert und von der Vergangenheit geprägt ist, und so ist jedes Ereignis auf der äonischen Linie und im chronischen Zyklus der Punkt, an dem die Gegenwart ganz bestimmt wird von dem, was Deleuze „Vergangenheits-Zukunft“ nennt: Das Ereignis kennt „keine andere Gegenwart als die des beweglichen Augenblicks […], der es repräsentiert und der stets in Vergangenheit-Zukunft verdoppelt ist und dem Gestalt verleiht, was Gegen-Verwirklichung genannt werden muß“ [LS 189] – ,Gegen-Verwirklichung‘ (contre-effectuation) als das Dekonstruktionsinstrument des Ereignisses, in der Zeit die verschiedenen Dimensionen eines Gegebenen so aufeinander zu beziehen, dass aus der Eindimensionalität der Realität die virtuelle Wirklichkeit eines Phänomens zum Vorschein kommt: „Resonanz des Verschiedenartigen, des Standpunktes auf den Standpunkt, durch Verschiebung der Perspektive, Differenzieren der Differenz – und nicht durch Identität des Widerspruchs“ [LS 218]. M.a.W.: Ein Sachverhalt ist nie so einfach, wie er scheint, sondern immer vielfach retro- und perspektiv auf das bezogen und von dem bestimmt, was ihm zukünftig widerfahren mag und ihn vergangenheitlich zu dem prägte, was er ist, und vice versa. Im Punkte des niemals punktuellen Ereignisses zeigt und zeitigt sich, dass selbst die sprichwörtlichen ,zwei Seiten der Medaille‘ eine unzureichende Metapher sind; vielmehr würde sich noch Rubiks Würfel als Analogie für die Polydimensionalität des Ereignisses anbieten, vorausgesetzt, er gelte als unlösbar. Diese ,zwei Lesarten‘ der Zeit sind zugleich zwei Widerfahrnisweisen und zwei Wirklichkeiten von Zeit, die Deleuze angelehnt an den antik-hellenistischen Gedankenraum mit den als Prinzipien vorstellbaren Antipoden „Chronos“ und „Äon“ benennt, i. S. einer weiterführenden Interpretation vorplatonischer und platonisch/aristotelischer29 Vorstellungen. Chronos misst als Gegenwart sowohl Vergangenheit und Zukunft; Äon korreliert damit entsprechend different als „Vergangenheits-Zukunft“: „Chronos ist die einzig existierende Gegenwart, der aus Vergangenheit und Zukunft ihre j beiden derart ausgerichteten Dimensionen macht, daß man immer von der Vergangenheit zur Zukunft übergeht, unter der Maßgabe jedoch, daß die Gegenwarten in den Einzelwelten oder den Partialsystemen aufeinander folgen. Äon ist die Vergangenheit-Zukunft in einer unendlichen Unterteilung des abstrakten Augen29 Vgl. grundlegend für Deleuze und die dialektische Wechselbedingungen von Zeit (als Chronos) und Bewegung (Kinesis), von Zeit und Jetzt (Nun) Aristoteles, Phys D 10–14, sowie Phys Q, in: Aristoteles, Physik. Vorlesungen über die Natur. Erster Halbband: Bücher I–IV; Griechisch/ Deutsch, Hamburg 1987, 203–237 und Aristoteles, Physik. Vorlesungen über die Natur. Zweiter Halbband: Bücher V–VIII; Griechisch/Deutsch, Hamburg 1988, 142–241. Vgl. genauerhin zu Aristoteles’ Äon-Begriff De coel. I 9 279a 25, in: Aristoteles, Über den Himmel. Vom Werden und Vergehen. Die Lehrschriften herausgegeben/übertragen und in ihrer Entstehung erläutert von Dr. Paul Gohlke, Paderborn 1958: „[I]m gleichen Sinne ist das Ziel […], das alle Zeit und Unendlichkeit umfaßt, […] so genannt nach dem ewigen Sein, unsterblich und göttlich [scil: Äon].“

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blicks, der sich unablässig in beide Richtungen zugleich zerlegt und dabei auf immer jeder Gegenwart ausweicht“ [LS 104 f.].

Die Zeit des „Chronos“ hingegen ist die begrenzte, zyklische Zeit der Gegenwart. „Chronos“ und „Gegenwart“ sind dergestalt miteinander identisch, dass der Begriff von Gegenwart so sehr gedehnt gedacht werden muss, dass Vergangenheit und Zukunft in ihm aufgehen: „Das heißt, daß das, was in bezug auf eine bestimmte Gegenwart (mit bestimmter Ausdehnung oder Dauer) künftig oder vergangen ist, Teil einer umfassenderen Gegenwart, einer größeren Ausdehnung oder Dauer ist. Es gibt immer eine weitere Gegenwart, die die Vergangenheit und die Zukunft in sich aufsaugt. Die Relativität von Vergangenheit und Zukunft in bezug auf die Gegenwart zieht also eine Relativität der Gegenwarten selbst untereinander nach sich“ [LS 203], so dass sub specie aeternitatis dieser Begriff von Gegenwart die Gesamtheit von Zeit umgreift. Diese Gegenwart teilt sich unter Wahrung des „gesunden Menschenverstandes“, d. h. der Vulgär-Epistemologie, in sukzessive Momente von Gegenwarten auf, jene chronische Gegenwart hingegen lässt sie zusammenfließen. Problematisch ist insofern ein Zeitbegriff, der die Abfolge der Gegenwarten sukzessiv begreift und nicht vermag, ihren zyklischen und konzentrischen Charakter wahrzunehmen: „Eine Einschachtelung, ein Einrollen relativer Gegenwarten mit Gott als äußerstem Kreis oder äußerer Umhüllung: Das ist Chronos“ [LS 203]30. Mit Blick auf das Verhältnis der Zeit zum Raum 30 Freilich versteht Deleuze den Begriff „Gott“ in keiner Weise religiös oder gar theologisch. „Gott“ dient ihm vielmehr als Chiffre für die Autonomie des Überzeitlichen, Unbeeinflussbaren, in ironischer Brechung des antik-helleni(sti)schen Verständnisses von „Chronos“ und „Äon“ als Gottheiten, deren Einfluss auf menschliche Sphären nicht manipulierbar ist. Zum Göttlichen als Prinzip, das alle Prinzipien durchdringt, vgl. die naturphilosophischen Lehren Zenons nach der Darstellung bei Diogenes Laertes, Leben und Meinungen berühmter Philosophen (Philosophische Bibliothek Bd. 53/54), Hamburg 31990, 2. Band, Buch VII, 147 f., 75 f.: Gott/Chronos „ist der Schöpfer der Welt und gleichsam der Vater von allem, was, wie überhaupt so im besonderen von dem Teil von ihm gilt, welcher alles durchdringt und der je nach seinen Wirkungsweisen mit vielen Namen benannt wird. […] j Als Substanz Gottes bezeichnet Zenon die ganze Welt“ – denn „Zeus ist eben auch Dia, das Durch-dringende oder das, was sich mischt, der Verkörpe-jrer“ [LS 203 f.]. Deleuzes Zeitbegriff ist überdies inspiriert von stoizistischen und abstrakt-mythologischen Überlegungen, die sein Werk insgesamt durchziehen. Das zeigt sich u. a. am Beispiel von Boethius, den Deleuze ausdrücklich [LS 203] referiert: „Denn alles, was in der Zeit lebt, das geht als ein Gegenwärtiges vom Vergangenen weiter in die Zukunft, und es gibt nichts, was in der Zeit besteht, das seinen ganzen Lebensraum gleichzeitig umfassen könnte [quod totum vitae suae spatium pariter possit amplecti]. Das Morgige umfaßt es noch nicht, daß Gestrige aber hat es schon verloren, und auch im heutigen Leben lebt ihr nicht weiter als in diesem einen bewegten und vorübergehenden Augenblick. [… Das Ewige] erfaßt und umfaßt nicht gleichzeitig den ganzen Umkreis des wenn auch unbegrenzten Lebens, sondern es besitzt die Zukunft noch nicht und die Vergangenheit nicht mehr. Was jedoch die ganze Fülle des unbegrenzbaren Lebens gleichzeitig umgreift und besitzt, dem weder etwas am Zukünftigen abgeht noch vom Vergangenen verflossen ist, das wird mit Recht j als ewig aufgefaßt, und das muß notwendigerweise, seiner selbst mächtig, immer als ein Gegenwärtiges in sich verweilen und die Unendlichkeit der bewegten Zeit als eine Gegenwart vor sich haben.“; vgl. Boethius, Trost der Philosophie.

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bedeutet das, dass die ,chronische‘, absolute oder weiteste aller weitgedachten Gegenwarten zugleich das Maß des Aktionspotenzials dessen ist, was in ihr geschieht, insofern alles, was geschieht, nur in Chronos geschieht und alle Geschehnisse in den relativen Gegenwarten aufeinander wechselseitigen, dynamischen Einfluss üben und sich stets je und je neu hervorbringen und bedingen:31 „Die Gegenwart ist die Zeit der Gemische oder Verkörperungen, ist der Prozeß der Verkörperung selbst. Temperieren und temporalisieren heißt mischen. Die Gegenwart verleiht der Aktion der Körper oder der Ursachen Maß. Die Zukunft und die Vergangenheit sind eher das, was im Körper an Passion zurückbleibt. Doch die Passion eines Körpers verweist gerade auf die Aktion eines potenteren Körpers. Daher ist die umfassendste Gegenwart, die göttliche Gegenwart die große Mischung, die Einheit der körperlichen Ursachen untereinander. Sie gibt der Aktivität der kosmischen Zeitspanne Maß, in der alles simultan ist“ [LS 203]:

Jede Aktion findet allein in der Gegenwart statt; Zukunft und Vergangenheit wirken sich auf die Subjekte und Objekte der Gegenwart stets als Passion in deren Passivität aus – m.a.W.: Gegenwart ist die Zeit der Gestaltung, Vergangenheit und Zukunft sind die Zeiten der Bestimmung. In der Gegenwart ereignet sich die virtuelle Wirklichkeit der vergangenen und zukünftigen, der stets zukünftig-vergangenen und vergangen-zukünftigen Realität. In Chronos ereignet sich all dies ,zugleich‘ – vereinfacht mit Leibniz: „[…] le present est gros de l’avenir et charg du pass .“32 Chronos ist Ermöglichungsgrund dafür, dass sich die Vergangenheits-Zukunft in der Mischung ihrer Dimensionen gegenwärtig ,verkörpert‘, d. h. sich zeitigen kann: „Zeus ist eben auch Dia, das Durch-dringende oder das, was sich mischt, der Verkörpe-jrer. Die größte Gegenwart ist also keineswegs unbegrenzt: Es gehört zur Gegenwart, abzugrenzen oder das Maß an Aktion der Körper zu sein, und sei es auch der größte der Körper oder die Einheit aller Ursachen (Kosmos). Doch sie kann unendlich sein, ohne unbegrenzt zu sein: zirkulär in dem Sinne, daß sie alles Gegenwärtige umfaßt, beginnt sie neu und mißt nach der vorhergehenden und identisch mit dieser vorhergehenden eine neue kosmische Zeitspanne aus. Mit der relativen Bewegung, durch die jede Gegenwart auf eine relativ weitere Gegenwart verweist, bleibt eine der weitesten Gegenwart eigene absolute Bewegung zu verbinden, die sich in der Tiefe zusammenzieht und ausweitet, um die relativen Gegen-

Lateinisch und deutsch (Sammlung Tusculum), München/Zürich 1990, Fünftes Buch, 6. Prosa, 263 ff. 31 Vgl. auch LS 204. 32 „Die Gegenwart ist mit der Zukunft schwanger und mit der Vergangenheit erfüllt“, aus: Gottfried Wilhelm Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Hamburg 1971, 11.

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warten, die sie einfaßt (umarmen-versengen), im Spiel kosmischer Zeitspannen zu absorbieren oder wiederherzustellen“ [LS 203 f.]33

Die Dekonstruktion des dreigliedrigen Zeit-Denkens gestaltet Deleuze mithilfe des zweiten Pols, Äon. Auf dessen ,Linie‘ ist „jedes Ereignis schon vergangen und noch zukünftig, gleichzeitig mehr und weniger in der Unterteilung, die sie kommunizieren läßt, ein Ereignis immer schon vergangenen Tags und immer schon morgigen Tags“ [LS 105]. Äon gleicht dabei gemäß der Logoslehre Heraklits einem spielenden Kind, das die Zeitebenen durcheinander würfelt und die auf ihnen geschehenden Ereignisse kindlich, d. h. regelunbewusst, wie Figuren auf einem Spielbrett setzt;34 Äon ist nicht platonisch/neuplatonisch das als ,Ewigkeit‘ gedachte Urbild der ,Zeit‘, verstanden als Chronos,35 welche aus diesem gleichsam emaniert36. Vielmehr ist Äon nach Deleuze nicht selbst eigentlich ,Zeit‘, nicht lediglich im platonischen Sinne ,Ewigkeit‘, deren Abbild resp. Trugbild die mit Chronos identifizierte unendlich-zyklische ,Zeit‘ wäre, sondern dieser regelmäßigen Zeit als eine unbegrenzt-lineare vielmehr exklusiv-paralogisch zugeordnet. Es wäre dabei auch hier unsachgemäß, im strengeren Sinne davon zu sprechen, daß auf der ,Linie‘ des Äon Zukunft und Vergangenheit ,existierten‘; vielmehr „insistieren oder subsistieren in der Zeit [in der Lesart des Äon; FH] ausschließlich die Vergangenheit und die Zukunft. Anstelle einer Gegenwart, die die Vergangenheit und die Zukunft in sich aufsaugt, eine Zukunft und eine Vergangenheit, die in jedem Augenblick die Gegenwart teilen, sie bis ins Unendliche in Vergangenheit und Zu33 Vgl. auch Diogenes Laertes, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, 2. Band, Buch VII, 147, 63. 34 Vgl. Jaap Mansfeld (Hrsg.), Die Vorsokratiker I, Stuttgart (Nr. 7965) 1983, 281: aQ½m pa?r 5sti pa_fym, pesse}ym· paid¹r B basik-g (nach Hippolytos, Haer. IX 9,4 [DK 22 B 52]. 35 Vgl. Platon, Tim 37 d.e.; daraus: „So sann er [scil. ,der Schöpfer‘] darauf, ein bewegliches Abbild der Ewigkeit [= Äon] zu gestalten, und macht, indem er dabei zugleich den Himmel ordnet, von der in dem Einen verharrenden Ewigkeit ein in Zahlen fortschreitendes Abbild, und zwar dasjenige, dem wir den Namen Zeit [= Chronos] beigelegt haben“; vgl. griech.: eQj½ d’ 1pem|ei jimgt|m tima aQ_mor po?gsai, ja· diajosl_m ûla oqqam¹m poie? l]momtor aQ_mor 1m 2m· jat’ !qihl¹m QoOsam aQ~miom eQj|ma, toOtom dm dµ wq|mom ¡mol\jalem; Platon, Werke. Band 7: Timaios, Stuttgart 22003 (1990), 54 f. 36 Vgl. Plotin, Über Ewigkeit und Zeit. Enneade III, 7, Frankfurt am Main 52010, bes. die wohl für Deleuze grundlegende Stelle nach 42 (im Original mit Verweisen auf Plotin): Ewigkeit i. S.v. Äon ist „,das aus dem Zugrundeliegenden gleichsam Hervorleuchtende (1jk\lpom) gemäß der Selbigkeit, die es verheißt für sein nicht erst künftiges, sondern schon seiendes Sein: daß es so und nicht anders ist‘. In der Ewigkeit kommt also die unwandelbar-bewegte Ständigkeit des Geistes zum Scheinen. Ewigkeit ist daher das zeitlose ,Ereignis‘ des sich selbst denkenden Seins. Das ,Ereignis‘ ist sein Leben. Das Wirken der aus dem Denken des Seins erscheinenden Selbigkeit, welche der Grund dieses ,Ereignisses‘ ist, verursacht, daß in ihm ,nichts ist, was nicht schon ist‘, sodaß die Abmessungen der Zeit in das zeitlose JETZT eingefaltet sind.“ Vgl. auch aaO., FN 29 als grundlegend für das deleuzianischen Verständnis: ,Ereignis‘ ist hier nicht zeithaft-geschichtlich, sondern ontologisch-zeitlos zu verstehen. Ereignis meint als ein Vermittlungsbegriff wie k|cor das zeitlose, in der Sprache jedoch punkthaft festgestellte Erscheinen oder Hervorgehen eines hypostatisch oder in einer Hypostasis Seienden aus einem Höheren.“

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kunft und in beide Richtungen zugleich unterteilen. Oder es ist eher der ganz flache Augenblick ohne jede Ausdehnung, der jede Gegenwart in Vergangenheit und Zukunft unterteilt, statt in weite und breite Gegenwarten, die in wechselseitigem Bezug die Zukunft und die Vergangenheit umfassen“ [LS 206].

Dabei ist Äon selbst nicht eigentlich ,unendlich‘ – dieser Begriff engte diese ,Lesart‘ der Zeit wiederum ein in ein Sukzessionskorsett –, sondern zunächst und vor allem ,unendlich teilbar‘: „Was ist das für eine Zeit, die nicht unendlich zu sein braucht, sondern nur ,unendlich teilbar‘? Diese Zeit ist die Zeit des Äon“ [LS 86].

2.3.1 Insistenz in Jetzt und Augenblick Deleuze vergleicht die Spannung zwischen Äon und Chronos mit der Hermeneutik, die Platon im zweiten Teil seines „Parmenides“-Dialogs vorstellt.37 Der platonische Parmenides entwickelt hier in meisterhaft-verschlungener Dialektik vor den Ohren des jungen Sokrates die Methodik, eine philosophische Frage angemessen zu stellen und zu bedenken, die sich um die zwei Hypothesen dreht: Dass das Eine sei – oder dass es nicht sei. Es ist für diese Untersuchung dabei unerheblich (und bis in die Gegenwart auch höchst umstritten), was Platon mit dem „Einen“ gemeint haben könnte. Mit Deleuze ist es naheliegend, es mit „Ereignis“ wiederzugeben und dessen zeitliche Dialektik der Differenz zwischen den zwei verschiedenen ,Lesarten der Zeit‘ mit Platon zu betrachten: „Es ist in etwa die Differenz zwischen der zweiten und der dritten Hypothese des Parmenides, der des ,Jetzt‘ und der des ,Augenblicks‘. Nicht mehr die Zukunft und die Vergangenheit unterwandern die existierende Gegenwart, sondern der Augenblick, der die Gegenwart in insistierende Zukunft und Vergangenheit pervertiert“ [LS 206].

Zwar bezieht sich Deleuze hier recht eigentlich nur auf die zweite Hypothese des „Parmenides“38, in der es um die Wandelbarkeit des Einen in der Zeitlichkeit geht, aber die platonische Differenz zwischen ,Jetzt‘ (t¹ mOm) und ,Augenblick‘ (t¹ 1na_vmgr) ist entscheidend für das Verständnis der Temporaldifferenz zwischen Chronos und Äon, die das Ereignis markiert: einerseits der Übergang zwischen den temporalen Seinsweisen des Einen, die im ewigen ,Jetzt‘ der Gegenwart aufgehoben sind, und andererseits der Wechsel auch aller kinetischen modi, wie im Dialog anhand der Beispiele ,Ruhe‘ und ,Bewegung‘ im flüchtigen ,Augenblick‘ gezeigt. Parmenides argumentiert, dass 37 Vgl. als grundlegenden Kommentar zum besseren Verständnis dieses eigensinnigen und dunklen Dialogs unbedingt Franz von Kutschera, Platons „Parmenides“, Berlin/New York 1995. 38 142b1–157b5, bes. 151e3–157b4; vgl. Platon, Parmenides, in: Gunther Eigler (Hrsg.), Platon. Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch, Darmstadt 2001, 274–291.

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das Eine, hat es Anteil am Sein, sowohl älter als auch jünger als es selbst wird – und zugleich nicht älter noch jünger ist noch werden kann. Das Problematische am Werden ist die Nichtlokalisierbarkeit des Punktes, an dem es nicht mehr und noch nicht ist, was es geworden seiend wäre: „Denn es kann doch nicht aus dem Vorher in das Nachher fortschreiten und das Jetzt überspringen? – Freilich nicht [, antwortet Parmenides’ Gesprächspartner Aristoteles, der nicht identisch ist mit dem gleichnamigen Platonschüler; FH]. – Hält es aber dann nicht inne mit dem älter Werden, wenn es auf das Jetzt trifft, und wird dann nicht, sondern ist schon älter? Denn fortschreitend würde es niemals vom Jetzt ergriffen werden. […] Das Jetzt aber wohnt dem Einen bei, sein ganzes Sein hindurch. Denn es ist immer jetzt, wenn es ist. – Wie sollte es nicht? – Immer also ist und wird das Eine älter und jünger als es selbst. – So scheint es.“39

All dies geschieht in der stets ewig-fixierten Zeit des ,Jetzt‘, in der das Werden lediglich statisches Sein ist. Andererseits gibt es ein Moment, das jenseits der messbaren Zeit die Veränderung der Zustände des Einen hervorruft: „Der Augenblick. Denn das Augenblickliche scheint dergleichen etwas anzudeuten, daß von ihm aus etwas übergeht in eins von beiden. Denn aus der Ruhe geht nichts noch während des Ruhens über, noch aus der Bewegung während des Bewegt-Seins; sondern dieses wunderbare Wesen, der Augenblick, liegt zwischen der Bewegung und der Ruhe als außer aller Zeit seiend, und in ihm und aus ihm geht das Bewegte über zur Ruhe und das Ruhende zur Bewegung. – So mag es wohl sein. – Auch das Eine also, wenn es ruht und aus sich bewegt, muß aus einem zum anderen übergehen; denn nur so kann es beides tun. Geht es aber über, so geht es im Augenblick über, so daß, indem es übergeht, es in gar keiner Zeit ist und sich dann weder bewegt noch ruht.“40

Es ist exakt diese platonische Augenblicklichkeit, die Deleuzes Ereignis bestimmt. Es ist der Punkt zwischen ,Bewegung‘ und ,Ruhe‘, der sich nicht ermitteln lässt: ,dieses wunderbare Wesen‘, das dynamischen Aufbruch und Veränderungen im statischen Jetzt zeitigt und selbst damit außerhalb der Zeit – Äon wie Chronos – liegt.

2.3.2 Vom Nutzen und Nachteil eines Paradoxons Platons Parmenides reagiert mit diesen Argumenten auf die Paradoxa seines Schülers Zenon, deren berühmtestes hier noch einmal zur Illustration in der verkürzten Wiedergabe bei Aristoteles (mangels eines Originals) vorgestellt sei, stellt es doch ein tragendes Element der Zeitkonstitution bei Deleuze dar: 39 AaO., 152b5–152e2. 40 AaO., 156d2–156e7.

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„Es lautet: Das Langsamste [,die Schildkröte‘] wird in seinem Lauf nie vom Schnellsten eingeholt werden. Denn es ist notwendig, daß das Verfolgende vorher dort ankommt, wo das Fliehende eben weggegangen ist, so daß notwendig das Langsamste immer wieder einen gewissen Vorsprung hat.“41

Deleuze erkannte die Bedeutung dieses Paradoxons sicherlich auch durch seine extensive Lektüre des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges wieder, auch für dessen Zeitkonzeption sie wesentlich war. In seinen beiden Essays „Der ewige Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte“42 und „Inkarnationen der Schildkröte“43 stellt Borges es ausführlich dar und die berühmtesten Widerlegungsversuche dieses Paradoxons vor; er destruiert deren Logiken, insofern sie das Paradox schließlich eher bestätigten denn entkräfteten. Borges gibt zunächst „das Paradox des Achilles, so gleichgültig gegenüber den schneidenden Widerlegungen, die es seit dreiundzwanzig Jahrhunderten aufheben, daß wir es längst als unsterblich begrüßen dürfen“44, wie folgt wieder: „Achilles, Symbol der Schnelligkeit, soll die Schildkröte, Symbol der Trägheit, einholen. Achilles läuft zehnmal schneller als die j Schildkröte und gibt ihr zehn Meter Vorsprung. Achilles läuft die zehn Meter, die Schildkröte einen Meter; Achilles läuft diesen Meter, die Schildkröte läuft einen Dezimeter; Achilles läuft diesen Dezimeter, die Schildkröte läuft einen Zentimeter; Achilles läuft diesen Zentimeter, die Schildkröte einen Milimeter; Achilles den Milimeter, die Schildkröte einen Zehntel Millimeter und so ins Unendliche, so daß Achilles ewig laufen kann, ohne sie einzuholen. So das unsterbliche Paradox.“45

Das gilt auch grundlegend für Deleuze: „Die Zeit wird in Bezug auf die Bewegung ausgesagt“ [LS/A2 336]. In diesem sich konstruktiv kritisch an von Epikur bzw. dessen Relektüre durch Lukrez46 ausrichtenden, quasi-natura41 Jaap Mansfeld (Hrsg.), Die Vorsokratiker II, Stuttgart 1986, 45 (nach: Aristoteles, Phys Z 9, 239b 14 ff. [vgl. DK 29 A 26]). 42 Jorge Luis Borges, Der ewige Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte, in: Gisbert Haefs/Fritz Arnold (Hrsg.), Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke. Der Essays erster Teil. Evaristo Carriego. Diskussionen (Gesammelte Werke Essays Teil 1), München/Wien 1999, 222–228. 43 Jorge Luis Borges, Inkarnationen der Schildkröte, in: Gisbert Haefs/Fritz Arnold (Hrsg.), Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke. Der Essays erster Teil. Evaristo Carriego. Diskussionen (Gesammelte Werke Essays Teil 1), München/Wien 1999, 237–244. 44 AaO., 222. 45 Ders., Der ewige Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte, 222 f. 46 Vgl. in seinem Brief an Herodot bes. die §§ 54–59, in: Epikur, Briefe, Sprüche, Werkfragmente, Stuttgart 1986, 4–41. Vgl. grundlegend zu Epikur: Walter Ameling u. Heinz-G nther Nesselrath, Einleitung in die griechische Philologie, Stuttgart/Leipzig 1997, 542–545; Franz Schupp, Geschichte der Philosophie im Überblick. Band 1: Antike, Hamburg 2007, 359–371; vgl. näherhin zu Epikurs Lehre von wahrnehmbaren und atomaren Minima etwa auch Hans Joachim Kr mer, Platonismus und hellenistische Philosophie, Berlin/New York 1971, 231–257 sowie Hans Joachim Kr mer, Die platonisch-akademische Prinzipienlehre in der hellenisti-

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listischen Grundverständnis der Ordnung der Dinge stehen ,Bewegung‘ und ,Zeit‘ in einem ungleichen reziproken Verhältnis. Ein Ereignis gestaltet sich allein in der Dynamik bzw. ,Bewegung‘, diese wiederum aber wird als Teil der ,Zeit‘ von dieser konstituiert, „so daß die Zeit das Ereignis der Ereignisse […] genannt werden muß, j das aus den Bewegungen folgt“ [LS/A2 337]. Nicht zuletzt das Paradoxon Zenons zeigt, dass sich dieses ,Ereignis der Ereignisse‘ selbst der sukzessiven Struktur dessen, was gemeinhin als die drei Dimensionen von Zeit verstanden wird, enthebt. Borges zollt vor allem dem Versuch Bertrand Russells47 Hochachtung, wo dieser erkennt, dass es sich im Fall der jeweils halbierten Strecke sowohl des Achill als auch der Schildkröte, die bis zum nächsten Punkt auf deren Linie zurückgelegt werden müsse, um zwei kongruente Serien handelt, „und die minutiöse Entsprechung dieser beiden symmetrischen Reihen in jedem einzelnen Punkt reicht hin, um sie als einander gleich auszugeben. Von dem Vorsprung, der zu Anfang der Schildkröte gegönnt wurde, bleibt kein periodisches Überbleibsel zurück: der Punkt, an dem ihre Bahn endet, der Punkt, an dem die Bahn des Achilles endet, sowie der Punkt, an dem ihr Lauf in der Zeit endet, sind mathematisch zusammenfallende Begriffe.“48 Das Kernproblem dieser und analoger Überlegungen ist allerdings ein grundlegend epistemologisches (mithin das Grundproblem eines rationalen Empirismus), bei dem es im Grunde drei Möglichkeiten gibt, dieses Paradoxon aufzulösen: indem man (1) die Beweisführung des regressus ad infinitum versucht; indem man (2) unter gänzlichem Ausschluss der Zeit die Bewegung und den Raum selbst voneinander in Quantität und Qualität strikt unterscheidet; oder indem man (3) Raum und Zeit durch das Maß der Bewegung voneinander dividiert. Sie seien im Folgenden nur exemplarisch anhand dreier grundlegender Positionen skizziert, die für Deleuze ausweislich seiner Schriften selbst mindestens indirekt bedeutsam waren:

schen Philosophie, in: Hans Joachim Kr mer/Dagmar Mirbach (Hrsg.), Gesammelte Aufsätze zu Platon, Berlin/New York 2014, 359–382. 47 Vgl. Bertrand Russell, Einführung in die mathematische Philosophie, Hamburg 2002, bes. das Kapitel über die ,Unendlichen Ordinalzahlen‘ 103–110, sowie ders., Unser Wissen von der Außenwelt, Hamburg 2004, bes. die siebente Vorlesung über das Zählen und den Unterschied zwischen einem mathematischen und einem philosophischen Begriff von ,Zahl‘, 209–234; vgl. aber auch in der vierten Vorlesung die Konstitution der Zeit durch Ereignisse nach Russell: „Von Bedeutung ist ferner die Tatsache, daß wir keine absoluten Zeitangaben machen können, sondern die Zeit nur durch Ereignisse bestimmen können. Wir können nicht auf eine Zeit selbst hindeuten, sondern nur auf ein Ereignis, das in dieser Zeit stattfindet. Unsere Erfahrung liefert uns also keinerlei Grund für die Annahme, es gebe eine den Ereignissen gegenüberstehende reine Zeit; vielmehr sind die Ereignisse, geordnet durch die Beziehungen der Gleichzeitigkeit und der Folge, alles, was wirklich durch Erfahrung gegeben ist“ (131). 48 Borges, Der ewige Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte, 113.

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2.3.2.1 Achilles – endlos Die erste Möglichkeit, des Paradoxons Herr zu werden, ist die Vorstellung des infiniten Regresses; und da sie spätestens mit Thomas von Aquin weitverbreitet ist, sei sie nur in Kürze dargestellt. In einer für Deleuze prägenden und selbst ihrer eigenen Ironie durchlässigen Form liegt diese Variante bei Lewis Carroll vor, der in seinem kleinen Text „What the Tortoise said to Achilles“49 allerdings eine interessante Umkehrung des geläufigen Arguments vornimmt. Nachdem der Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte beendet ist und ersterer in dieser Fiktion tatsächlich gewonnen hat,50 dreht Carroll die Prämissen um und begibt die beiden Kontrahenten in einen Wettlauf der pythagoreisch-euklidischen Mathematik und Logik. Achilles mag gewonnen haben, weil sich die Distanzen stets verringerten – was aber, wenn sie sich stets und bis ins Unendliche vergrößert hätten? In einem unendlichen Dialog diskutieren die beiden die Form eines klassischen Syllogismus, unter welchen Bedingungen man von zwei Prämissen A und B zu einem logischen Schluss Z kommen könne: Gesetzt (A), zwei Dinge gleichen einem dritten, so sind sie auch einander gleich. Gesetzt auch (B), zwei Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks gleichen einem Dritten. Folgt (Z): Die zwei Seiten dieses Dreiecks gleichen einander. Die Schildkröte wendet ein, man müsse (Z) nicht zwangsläufig zustimmen, obwohl man dessen ungeachtet (A) und (B) für wahr halten kann. Es bedürfte einer dritten Prämisse (C): Wenn (A) und (B) wahr sind, muss (Z) wahr sein. Folglich muss man (A), (B) und (C) für wahr halten, um (Z) zu akzeptieren – was die Prämisse (D) wäre. Und auch (D) muss man mit (A), (B) und (C) für wahr halten – als Prämisse (E) –, um bald (Z) zustimmen zu können. Und so fort. Nachdem der auktoriale Erzähler die beiden verlässt und ein paar Monate später erneut aufsucht, sind sie so mittlerweile zu 1001 Zwischenschritten gelangt, und, wie die Schildkröte Achilles informiert: „There are several millions more to come.“51

49 Lewis Carroll, What the Tortoise said to Achilles, in: Mind (Vol 104.416) 1995, 691–693. 50 „Achilles had overtaken the Tortoise, and had seated himself comfortably on its back. ,So you’ve got to the end of our race-course?’ said the Tortoise. ,Even though it does consist of an infinite series of distances? I thought some wiseacre or other had proved that the thing couldn’t be done?‘ ,It can be done,‘ said Achilles. ,It has been done! Solvitur ambulando‘“; aaO., 691. 51 AaO., 693.

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2.3.2.2 Henri Bergson – zeitlos Der zweite Komprehensionsversuch dieses Paradoxons folgt der Philosophie Kants und begegnet prominent in der Dissertationsthesis von Henri Bergson aus dem Jahr 1889; „Zeit und Freiheit“ (orig. „Essai sur les donn es imm diates de la conscience“) – sie wäre sogar explizit mit Verweis auf Kant52 nicht anders denkbar, auch wenn sie das Kant’sche Problem zumindest auf indirektem Weg umgeht [dazu unter 2.3.2.3]. Bergsons psychologischer Begriff von Bewusstsein eliminiert den Zeit-Begriff gänzlich (insofern ist der deutsche Titel zumindest missverständlich), um ihn auf sehr eigene Weise mit dem von ihm neu gedachten Begriff der „Dauer“ (dur e) zu ersetzen und dem Raum gegenüberzustellen. Ihm schwebt gar die Frage vor, „ob die Zeit, als homogenes Medium, nicht am Ende ein Bastardbegriff ist, der seinem Ursprung dem Eindringen der Raumvorstellung ins Gebiet des reinen Bewußtseins verdankt. Jedenfalls darf man nicht endgültig zwei Formen des Homogenen, Zeit und Raum, zulassen […]“53. Was Bergson im Gegensatz zu Kant erkennt, ist, dass es nicht zwei gleichwertige Homogenitäten als modi der Perzeption geben kann. Entsprechend ist ,Zeit‘ nach Bergson nicht mehr als die Synthese im Bewusstsein, die sich ergibt, wenn „Dauer“ – als Kontinuität und Heterogenität – und „Raum“ – als Diskontinuität und Homogenität – ineinandergesehen werden; oder, in den Worten von Gilles Deleuze: „Dauer ist […] nicht nur gelebte Erfahrung, sie ist bereits erweiterte, sogar überschrittene Erfahrung, Bedingung von Erfahrung. […] Die reine Dauer erweist sich als rein innerliches Nacheinander [succession] ohne Äußerlichkeit; der Raum hingegen ist Äußerlichkeit ohne Nacheinander […]. Zwischen den beiden bildet sich ein Mixtum heraus, in das der Raum die Form seiner äußerlichen Distinktionen oder seiner homogenen und diskontinuierlichen ,Schnitte‘ einführt, während die Dauer ihre interne, heterogene und kontinuierliche Abfolge einbringt. Dadurch sind wir in der Lage, die momentanen Raumzustände ,festzuhalten‘ und sie in einer Art ,BehelfsRaum‘ nebeneinanderzustellen“ [BE 53]

– der ,Zeit‘. „Dauer“ kann man sich im Gegensatz dazu analog vorstellen zu einer Sukzession von verschiedenen Tönen in verschiedenen Tempi, die sich tatsächlich nicht zählen lassen, sondern im Ineinander ihres Klangs als Melodie oder Harmonie wahrgenommen werden – im Gegensatz zu einer Zeit, die vergeht. Am Beispiel des sukzessive voranschreitenden Sekundenzeigers einer Uhr verdeutlicht Bergson den Unterschied zwischen „Dauer“ und „Zeit“ vielleicht am präzisesten, indem er die psychologische Tatsache des perzipierenden Ich als Faktor für die Wahrnehmung von Zeit miteinbezieht, weil es 52 Vgl. Henri Bergson, Zeit und Freiheit, Frankfurt am Main 1989. 53 AaO., 76.

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das stets selbst dauernde Ich ist, das Messungen als Dauer und nicht als abstrakte Einheiten wahrnimmt: „[D]ie Zeit, die unsre Uhr in gleiche Parzellen teilt, diese Zeit, wird man sagen, ist etwas anderes; sie ist eine meßbare Größe und folglich homogen. – Dem ist aber nicht so. […] Verfolge ich auf dem Ziffernblatt einer Uhr mit den Augen die Bewegung des Zeigers, die den Schwingungen des Pendels entspricht, so messe ich keine Dauer, wie man zu glau-jben scheint; ich beschränke mich vielmehr darauf, Simultaneitäten zu zählen, was etwas ganz anderes ist. Außerhalb meiner, im Raume, gibt es immer nur eine Lage des Zeigers und des Pendels; von den vergangenen Lagen bleibt ja nichts erhalten. In meinem Innern vollzieht sich dagegen ein Organisations- oder gegenseitiger Durchdringungsprozeß der Bewußtseinsvorgänge, der die wahre Dauer ausmacht.“54

Mit diesen einleitenden Vorbemerkungen erklärt sich der Widerstand Bergsons gegen die Einsichtigkeit des Zenon’schen Paradoxons: Bergson versteht den Bewegungsbegriff als „das lebende Symbol einer anscheinend homogenen Dauer“55 (Dauer impliziert Heterogenität!) und ihm missbehagt entsprechend, dass Zenon zwei verschiedene Kategorien miteinander vermischt, indem er die Bewegung der Läufer als einen nicht teilbaren „Akt“ und damit Qualität gleichsetzt mit dem ihr zugrundeliegenden Raum, der eine teilbare „Sache“ ist, d. h. Quantität und damit Ausdehnung: „Aus diesem Zusammenwerfen der Bewegung mit dem vom Bewegten Raume sind unsers Erachtens die Sophismen der Eleatischen Schule entstanden; denn das Intervall, das zwei Punkte auseinanderhält, ist unbegrenzt teilbar, und wenn die Bewegung aus Teilen bestünde, wie das Intervall selbst, so würde das Intervall nie überschritten werden. Die Wahrheit ist aber die, daß jeder Schritt Achills ein einfacher, unteilbarer Akt ist, und daß nach einer gegebenen Zahl dieser Akte Achill die Schildkröte überholt haben wird. Die Illusion der Eleaten rührt daher, daß sie diese Reihe von unteilbaren Akten sui generis mit dem homogenen Raum identifizieren, der ihnen unterlegt wird.“56

An dieser Stelle bedient sich Bergson eines etwas misslichen Kniffs, der die Pointe des Paradoxons gänzlich verdeckt: Er schaltet gewissermaßen statt Achilles und der Schildkröte zwei Schildkröten ein, die in Wahrheit gegeneinander liefen, weswegen der Lauf auch nicht beendet werden könne: Die Eleaten hielten „sich für berechtigt, die ganze Bewegung Achills nicht mehr aus Schritten Achills, sondern aus Schildkrötenschritten wieder zusammenzusetzen; dem Achill, der die Schildkröte verfolgt, substituieren sie in Wirklichkeit zwei Schildkröten, die mathematisch aufeinander bezogen sind, zwei Schildkröten, die dazu verurteilt sind, 54 AaO., 82 f. 55 AaO., 84. 56 AaO., 86.

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dieselbe Art von Schritten oder simultanen Akten zu vollführen, so daß sie einander nie erreichen können. Weshalb überholt Achill die Schildkröte? Weil jeder einzelne seiner Schritte und jeder einzelne Schritt der Schildkröte als Bewegung ein Unteilbares, und als Räumliches verschiedene Größen sind: so daß die Addition für den von Achill durchlaufenen Raum alsbald eine Länge ergeben muß, die die Summe des von der Schildkröte durchlaufenen Raumes und ihres Vorsprungs vor ihm übertrifft.“57

Neben der Ablenkung durch zwei eingewechselte Schildkröten ist an dieser Gedankenführung allerdings vor allem bedauerlich, dass Bergson selbst in Form einer petitio principii argumentiert, indem er eine selbst nicht kontinuierliche Zeit – die Bewegung – mit einem unendlichen Raum zusammendenkt und aufeinander bezieht.58 Der Gedankensprung findet dort statt, wo Bergson nachzuweisen versucht, dass wohl der Ablauf der Zeit sich in Einheiten unterteilen lasse, Handlungsakte hingegen unteilbar und immer aktual seien (man kann Zeit messen, aber man kann nur instantan handeln): „Das Argument ist konzessiv. Bergson gibt zu, daß der Raum unendlich teilbar ist, leugnet aber, daß die Zeit teilbar sei. […] Er verkoppelt eine Zeit und einen Raum, die unvereinbar miteinander sind“59. Aber nicht in der Gleichordnung von Raum und Zeit wäre die Lösung zu suchen, vielmehr in deren Zuordnung: „Der Raum ist ein Ereignis in der Zeit, nicht aber eine universale Anschauungsform“60. Nur will Bergson unter den Bedingungen des reinen Ereignisses als Zeitpunkt (nun muss man allerdings sagen: als Zeitpunkte) auch nicht anders denken, wenn anders „die Lokalisierung eines Fortschritts im Raume nicht auf die Behauptung hinausliefe, daß sogar außerhalb des Bewußtseins das Vergangene mit dem Gegenwärtigen koexistiert!“61 Aber genau das tut es, folgt man Deleuze. 2.3.2.3 Immanuel Kant – raumlos Der letzte Einwand ist der diesem und letztlich aller ,modernen‘ Philosophie zugrundeliegende und eine Folge der Annahme von Raum und Zeit als zwei „Anschauungsformen“, die Immanuel Kant zu Beginn der „Kritik der reinen Vernunft“ entwickelt und auf die Deleuze schon 1963 grundlegend in seinem Kommentar „Kants kritische Philosophie. Die Lehre von den Vermögen“ eingeht. Zwar begründet Kant unhintergehbar die transzendentale Idealität von Raum und Zeit,62 allerdings revolutioniert er das Zeit-Denken aufgrund 57 58 59 60

Ebd. Vgl. auch Borges, Der ewige Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte, 226. Ebd. Jorge Luis Borges, Die vorletzte Fassung der Wirklichkeit, in: Gisbert Haefs/Fritz Arnold (Hrsg.), Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke. Der Essays erster Teil. Evaristo Carriego. Diskussionen (Gesammelte Werke Essays Teil 1), München/Wien 1999, 156–161, 160. 61 Bergson, Zeit und Freiheit, 95. 62 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt am Main 142014, Der transzendentalen Ästhetik erster Abschnitt. B 37 bis B 58 (§§ 2–7).

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Ereignis und die Zeiten: Äon, Chronos und das Werden

der epistemologisch vorausgesetzten Synthesis der Verstandesbegriffe a priori,63 d. h. der Kategorien, immer noch vergleichbar der Anamnesislehre Platons: „Der Raum ist eine notwendige Vorstellung, a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt“, ist selbst „eine reine Anschauung“ (und damit selbst kein Begriff, wiewohl es einen ,Raumbegriff‘ gibt) und „wird als eine unendlich gegebene Größe vorgestellt“64. Analoges gilt für die Zeit,65 und wo der Raum „nur die Erscheinung aller Erscheinungen äußerer Sinne, d.i. die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit“ ist, da ist die Zeit „die Form des inneren Sinnes, d.i. des Anschauens unserer selbst und unsers innern Zustands“66. Als Anschauungsform liegt sie also stets aller Erkenntnis zugrunde, und zwar in strikter Abhängigkeit vom Subjekt. Ihre Wirklichkeit ist nur so wirklich, wie sie subjektiv ist; sie hat eine „subjektive Realität“67: „Wenn man von ihr die besondere Bedingung unserer Sinnlichkeit wegnimmt, so verschwindet auch der Begriff der Zeit, und sie hängt nicht an den Gegenständen selbst, sondern bloß am Subjekte, welches sie anschaut.“68 Ausgangspunkt für die Segmentierbarkeit des Raums und der Zeit ist die gesetzgebende Vorstellung von Bewegung, denn es ist allererst der Begriff der Vernunft von Bewegung, der die Synthese von Raum und Zeit herzustellen, d.i. zu synthetisieren vermag:69 Da die Bewegung resp. ihr Begriff selbst nicht wie Raum und Zeit als Anschauungsformen apriorisch, sondern ihrerseits auf die Synthese des Verstandes angewiesen ist, sind der Bewegung gemäße Zustandsveränderungen eines Objektes stets relativ zu den anderen Objekten in Raum und Zeit. Da aber dort, wo schon der Raum transzendental-ideal verstanden wird, allein die Erfahrung Bewegung wahrnimmt, verändert sich die Zeit selbst nicht, sondern es können nur die Veränderung der Dinge in ihr wahrgenommen werden.70 Das aber heißt, dass folglich auch Zeit und Raum nicht mehr einander gleichgeordnet werden können. Es handelt sich hierbei in der Tat um eine gewisse Sonderbarkeit des Kant’schen Denkens, wie sie etwa Georg Mohr präzise fasst: Dass Kant zwei gleichrangige Anschauungsformen benötigte und nicht die eine der anderen unterzuordnen bereit war, ist selbst kategorialen Ursprungs: „Nur dann ist die Annahme zweier Anschauungsformen begründet, wenn zwischen beiden eine irreduzible Strukturdifferenz aufweisbar ist. Zwar ist es zweifellos richtig, daß wir eine Zeitfolge durch die Analogie mit einer ,ins Unendliche fortgehende[n] Linie vor[stellen], in welcher das Mannigfaltige eine Reihe ausmacht, die nur von einer Dimension ist‘ (ebd. [B 50]; vgl. auch B 154–156). Wir können aus den Eigenschaften 63 64 65 66 67 68 69

Vgl. KPh 37–66. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 38–40. Vgl. aaO., B 46–48. AaO., B 42.B 49. AaO., B 54. Ebd. Vgl. dazu Rudolf Eisler, Kant-Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und handschriftlichem Nachlaß, Hildesheim 1984, 63–65. 70 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 58.

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der Linie aber eben nicht auf alle Eigenschaften der Zeit schließen. Wie Kant selbst feststellt, entzieht sich eine Eigenschaft der Zeit einer analogischen Darstellung: Während die Teile der Linie zugleich sind, sind die der Zeit nacheinander. Das Nacheinander bleibt räumlich undarstellbar. Daher sind gerade nicht alle Verhältnisse der Zeit an einer äußeren Anschauung darstellbar. Und nur deshalb ist die Zeit auch eine eigene, genuine Anschauungsform und nicht auf den Raum reduzierbar.“71

Das ist umso erstaunlicher, als Kant selbst in § 6 der Transzendentalen Ästhetik den Raum der Zeit unterordnet: „Die Zeit ist die formale Bedingung aller Erscheinungen überhaupt. Der Raum, als die reine Form aller äußeren Erscheinung ist als Bedingung a priori bloß auf äußere Erscheinungen eingeschränkt […]“.72 Die Schwierigkeit ist der Bestimmung der Zeit als subjektive Form der inneren sinnlichen Anschauung a priori inhärent, wo sie der Vorstellung des Cogito unterworfen ist, so „daß wir die Zeit, die doch gar kein Gegenstand äußerer Anschauung ist, uns nicht anders vorstellig machen können, als unter dem Bilde einer Linie, so fern wir sie ziehen, ohne welche Darstellungsart wir die Einheit ihrer Abmessung gar nicht erkennen könnten, imgleichen daß wir die Bestimmung der Zeitlänge, oder auch der Zeitstellen für alle innere Wahrnehmungen, immer von dem hernehmen müssen, was uns äußere Dinge Veränderliches darstellen, folglich die Bestimmungen des inneren Sinnes gerade auf dieselbe Art als Erscheinungen in der Zeit ordnen müssen, wie wir die der äußeren Sinne im Raume ordnen […].“73 Deleuzes Begriff der „Lesarten“ hat demgegenüber den Vorteil, dass er die Schwierigkeit auf die Zeit selbst verschiebt, ohne sie zwischen Zeit und Raum aufzuteilen. Die Implikation, dass sich folglich auch das hierarchische Verhältnis von Bewegung und Zeit – als ,Äon‘ – grundlegend verändert, stellt Deleuze entsprechend zu Beginn seiner Kant-Studie heraus: „Solange die Zeit in ihren Angeln bleibt, ist sie der Bewegung untergeordnet; sie ist das Maß der Bewegung, Intervall oder Zahl. So war es für die antike Philosophie. Aber die aus den Angeln geratene Zeit bedeutet die Umkehrung der Beziehung von Zeit und Bewegung. Jetzt ist es die Bewegung, die sich der Zeit unterordnet. Alles verändert sich, auch in der Bewegung. Man wechselt das Labyrinth. Das Labyrinth ist nicht mehr Kreis oder eine Spirale, und aus deren Verwicklung herrührend, sondern ein Faden, eine gerade Linie, ebenso geheimnisvoll wie einfach, unerbittlich: j wie Borges sagt: ,das Labyrinth, das sich aus einer einzigen Linie zusammensetzt und das unteilbar, unaufhörlich ist‘. Die Zeit bezieht sich nicht mehr auf die Bewegung, die sie mißt, sondern die Bewegung bezieht sich auf die Zeit, die sie bedingt“ [KPh 7 f.].

-–-–71 Georg Mohr, Transzendentale Ästhetik. §§ 4–8, in: Georg Mohr (Hrsg.), Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (Klassiker Auslegen Bd. 17/18), Berlin 1998, 107–130, 115. 72 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 50. 73 AaO., B 156.

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Ereignis und die Zeiten: Äon, Chronos und das Werden

Das epistemologische Grundproblem aller drei Versuche besteht darin, dass der Analyse des Zenon’schen Paradoxons ein idealistisches Denken von „Raum“ und „Zeit“ zugrunde liegt, das die Perspektive eines archimedischen Punktes einnimmt. Betrachtet man es hingegen ex instantia, ist seine Auflösung unmöglich, weil sein Verlauf nicht a priori erhoben werden kann. Es führte überhaupt in die Irre, wollte man dieses Paradox widerlegen und nicht vielmehr den dahinterstehenden Gedanken begreifen: Die Illusion einer statischen Ontologie des Seins selbst ist paradox und zwingt (etwa gegen Leibniz und Schelling) zur Annahme, dass es vielmehr nichts gebe als dass es etwas gäbe, weil das Sein selbst entweder dynamisch oder gar nicht sein kann. Oder: „Zenon ist unwiderlegbar, es sei denn wir bekennen uns zur Idealität des Raums und der Zeit. Sagen wir Ja zum Idealismus, sagen wir Ja zum Wirklichkeitszuwachs durch Wahrnehmung, so werden wir dem abgründigen Gewucher des Paradoxons entkommen. Unseren Begriff vom Universum antasten wegen dieses Fetzchens griechischen Nebels?“74

2.3.3 Das Spiel der Ewigen Wiederkunft Bisher galt, dass Chronos kreisförmig zu denken ist, „von der Zirkularität und den Unfällen dieser Zirkularität als Stockungen oder Überstürzungen, Zerspringen, Entschachtelungen, Verhärtungen nicht zu trennen“, Äon hingegen als eine gerade Linie, „die in beide Richtungen grenzenlos ist. Stets bereits vergangen und ewig noch bevorstehend ist Äon die ewige Wahrheit der Zeit: reine leere Zeitform, die sich von ihrem gegenwärtigen körperlichen Inhalt freigemacht und dadurch ihren Kreis entfaltet hat, die sich in einer vielleicht um so gefährlicheren, labyrinthischeren und deshalb gewundeneren Geraden in die Länge zieht“ [LS 207]. Nicht näher bestimmt wurde allerdings bislang, wie die Wirkung des Ereignisses in diesen zwei ,Lesarten‘ gedacht werden kann: „Man könnte den Eindruck haben, als verfüge Äon über keinerlei Gegenwart, da der Augenblick sich in ihm unentwegt in Zukunft und Vergangenheit teilt. Was im Ereignis überschüssig ist, das muß ausgeführt werden, auch wenn es nicht verlustlos j vollzogen oder verwirklicht werden kann“ [LS 209 f.]. Überhaupt muss Ereignis, soll es sein, werden, und auch dies denkt Deleuze in der absoluten Form des reinen Werdens. In den geometrischen Figuren von Kreis und Linie gedacht, ist Ereignis bei Deleuze genau der Schneide- und Scheidepunkt von Chronos und Äon und das, was deren Grenze markiert.75 Dafür muss noch ein weiterer Gegensatz von Chronos und Äon gedacht werden, der zwischen der Tiefe und der Oberfläche: 74 Borges, Der ewige Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte, 228. 75 In den Worten Mirjam Schaubs: „Das Ereignis hat an beiden Zeitformen teil: Sein Eintritt in die Wirklichkeit verursacht die Zeitspaltung und liegt damit präzise ,zwischen‘ Chronos und Äon“; vgl. Schaub, Gilles Deleuze im Wunderland, 140.

Zwei Lesarten der Zeit

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„einerseits die stets begrenzte Gegenwart, die die Aktion der Körper als Ursachen bemißt, sowie der Zustand ihrer Mischungen in der Tiefe (Chronos); andererseits die im wesentlichen unbegrenzte Vergangenheit und Zukunft, die die unkörperlichen Ereignisse als Wirkungen auf der j Oberfläche sammeln (Äon)“ [LS 87 f.]. Chronos ist als Jetzt das nunc stans, die Maßgabe der Bewegung, überhaupt der Aktionen alles Körperlichen einer weitestgedachten Gegenwart, die durch eine Tiefenstruktur ausgezeichnet ist. Äon hingegen ist die reine Oberfläche, die Linie, die von den Augenblicken als unendlich aneinandergereihten Zufallspunkten getrennt und gestaltet wird. Ereignis ist das Dazwischen: „Zwischen zwei Augenblicken befindet sich nicht mehr die Zeit, vielmehr ist das Ereignis selbst eine Zwischen-Zeit: Die Zwischen-Zeit ist nicht Ewigkeit, aber auch nicht Zeit überhaupt, sie ist Werden. Die Zwischen-Zeit, das Ereignis, ist stets eine tote Zeit, dort, wo nichts geschieht, ein unendliches Warten, das bereits unendlich vergangen ist, Warten und Reserve. Diese tote Zeit folgt nicht auf das, was geschieht, sie koexistiert mit dem Augenblick oder der Zeit des Zufalls, allerdings als die Unermeßlickeit der leeren Zeit, in der man j sie noch als künftige und schon als geschehene sieht, in der seltsamen Indifferenz einer intellektuellen Anschauung“ [WPh 185].

Seltsam indifferent ist diese distanzierte Anschauung dort, wo sie die Zusammenkunft der Zeiten epistemisch voneinander scheidet in ihre Aufeinanderfolge, ihre Ununterscheidbarkeiten bestimmen will und keinen Sinn für die „Variationen, Modulationen, Intermezzi, Singularitäten einer neuen unendlichen Ordnung“ aufzubringen vermag: „Jede Ereigniskomponente aktualisiert oder verwirklicht sich in einem Augenblick, und das Ereignis entsprechend in der Zeit, die zwischen diesen Augenblicken vergeht; nichts aber geschieht in der Virtualität, deren Komponenten nur ZwischenZeiten sind und deren zusammengesetztes Werden ein Ereignis ist. Hier geschieht nichts, alles aber wird, so daß das Ereignis das Privileg besitzt, wieder zu beginnen, wenn die Zeit vergangen ist. Nichts geschieht, und doch ändert sich alles, weil das Werden fortwährend seine Komponenten durchläuft und das Ereignis zurückholt, das sich anderswo, zu einem anderen Augenblick, aktualisiert. Wenn die Zeit vorübergeht und den Augenblick mit sich nimmt, gibt es stets eine Zwischen-Zeit, die das Ereignis zurückholt“ [WPh 184].

Es wurde schon festgestellt, inwiefern die Kategorie des „Spiels“ wesentlich für die heraklitische scil. deleuzianische Philosophie ist. Diesem Aufweis in seinen drei ,Spielarten‘ – der Phantastik Lewis Carrolls (1), der umwertenden Philosophie Nietzsches (2) und schließlich der Spielregeln des Ereignisses nach Deleuze (3) gelten die folgenden Unterkapitel.

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Ereignis und die Zeiten: Äon, Chronos und das Werden

2.3.3.1 Alicens Aufstieg aus der Tiefe Das Ereignis als Schnitt- und Intermediärpunkt verursacht das Werden und erhöht und erhebt die Tiefe zur Oberfläche – ein Werden, dessen Inspiration Deleuze literarisch Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“, philosophisch der Lektüre Nietzsches und der Gedankenwelt der Stoiker76 verdankt. Die gesamte Entwicklung der Ereignisse, die Alice in ihrem Wunderland erlebt, ist ein Werden von den Tiefen hin zur Oberfläche: Der Sturz in den Kaninchenbau und der unendliche, jäh beendete Fall durch die Erde; das dortige zugleichjünger-und-älter-, größer-und-kleiner-Werden; die wunderliche Konversation mit den dortigen Tiefenbewohnern; ihr langsamer Aufstieg an die Oberfläche: „[D]er Anfang von Alice (die ganze erste Hälfte) sucht noch nach dem Geheimnis der Ereignisse und des Unbegrenzt-Werdens, das sie beinhalten, in der Tiefe der Erde, in Brunnen und Tierbauten, die tief unten vergraben laufen. […] Je weiter man jedoch in der Erzählung vorankommt, machen die Bewegungen des Versenkens und Vergrabens seitlichen Gleitbewegungen von links nach rechts und von rechts nach links Platz. Die Tiere der Tiefen werden nebensächlich und machen den außerordentlich schmalen Kartenfiguren Platz. Man könnte sagen, daß die alte Tiefe sich in Breite gestreckt hat, zur Weite wurde. Das Unbegrenzt-Werden erstreckt sich nun vollständig in diese wiedergekehrte Breite“ [LS 25].

Und Deleuze wertet die Tiefe im Gegensatz zur Oberfläche deutlich ab: „Tiefe hat aufgehört, ein Kompliment zu sein. Nur die Tiere sind tief, aber gewiß nicht die edelsten, die flache Tiere bleiben. Die Ereignisse sind wie die Kristalle, sie werden und wachsen nur durch die Ränder und an den Rändern. Das ist also das erste Geheimnis des Stotterers und des Linkshänders [scil: Lewis Carolls; FH]: sich nicht versenken, sondern in der Weise entlanggleiten, daß die alte Tiefe nichts mehr ist und auf die Kehrseite der Oberfläche reduziert wird. Durch bloßes Gleiten erreicht man die andere Seite, da die andere Seite nur die umgekehrte Richtung ist. Und wenn es hinter dem Vorhang nichts zu sehen gibt, dann deshalb, weil das Sichtbare oder eher das ganze mögliche Wissen eben die Fläche des Vorhangs ist und es ausreicht, ihr weit genug und eng genug, oberflächlich genug zu folgen, um seine Rückseite hervorzukehren, um aus der rechten die linke zu machen und umgekehrt. Alice durchlebt also nicht mehrere Abenteuer, sondern ein einziges: ihren Aufstieg an die Oberfläche, ihre Mißbilligung der falschen Tiefe, ihre Entdeckung, daß sich alles an der Grenze ereignet. Deshalb verzichtet j Carroll auf den zunächst vorgesehenen Titel ,Alice und ihre unterirdischen Abenteuer‘“ [LS 25].

76 Zur Vertiefung diesbezüglich empfehlenswert ist Sean Bowden, Priority of events. Deleuze’s Logic of sense, Edinburgh 2011.

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Dieser modus: das Zugleich-Werden in alle Richtungen, ist ganz gemäß dem platonischen ,Parmenides‘ der Grundmodus des reinen Ereignisses, wie ihn Deleuze bei Carroll findet: „In Alice im Wunderland und in Alice hinter den Spiegeln geht es um eine Kategorie von Dingen [cat gorie de choses] ganz besonderer Art: um die Ereignisse, die reinen Ereignisse. Wenn ich sage ,Alice wächst‘, will ich sagen, daß sie größer wird, als sie war. Doch eben dadurch wird sie auch kleiner, als sie jetzt ist. Sicherlich ist sie nicht zur gleichen Zeit größer und kleiner. Es ist aber die gleiche Zeit, in der sie es wird. Sie ist jetzt größer, und sie war zuvor kleiner. Man wird jedoch zur gleichen Zeit mit einem Schlag größer, als man war, und macht sich kleiner, als man wird. Darin besteht die Gleichzeitigkeit eines Werdens, dessen Eigenheit es ist, sich dem Gegenwärtigen zu entziehen. Insofern es sich dem Gegenwärtigen entzieht, verträgt dieses Werden weder die Trennung noch die Unterscheidung von Vorher und Nachher, von Vergangenem und Künftigen. Es gehört vielmehr zum Wesen des Werdens, in beide Richtungen gleichzeitig zu verlaufen, zu streben: Alice wächst nicht, ohne zu schrumpfen, und umgekehrt.“ [LS 15]

Der Gegensatz zwischen Tiefe und Oberfläche, wie ihn Deleuze versteht, ist dabei am vielleicht anschaulichsten versinnbildlicht in dem von Paul Val ry (1871–1945) stammenden Bonmot: „Was am Tiefsten im Menschen liegt, das ist die Haut“77: „Alles ereignet sich auf der Oberfläche in einem Kristall, das sich nur an den Rändern entwickelt. Zweifellos verhält es sich hier ganz anders als bei einem Organismus; dieser nämlich sam-jmelt sich unablässig in einem inneren Raum, um sich gleichsam in den äußeren Raum auszubreiten, zu assimilieren und zu veräußerlichen. Seine Membrane aber sind nicht weniger wichtig: Sie tragen die Potentiale und erneuern die Polaritäten, sie bringen den Innenraum und den Außenraum unabhängig von der Distanz in Kontakt. Das Innere und das Äußere, das Tiefe und das Hohe haben nur dank dieser topologischen Kontaktoberfläche biologische Bedeutung. ,Das Tiefste, das ist die Haut‘ ist also durchaus biologisch zu verstehen. Die Haut verfügt über eine genuin oberflächliche, potentielle vitale Energie. Und wie die Ereignisse die Oberfläche nicht besetzen, sondern auf ihr herumspuken, ist die Oberflächenenergie nicht auf der Oberfläche lokalisiert, sondern mit ihrer Bildung und Neubildung eng verbunden“ [LS 136].

2.3.3.2 Nietzsches Schwergewicht Ist damit die Wirkung des Werdens bestimmt, so noch nicht seine Bedeutung. (Tiefen?-)Prägender für Deleuze noch als die phantastische Literatur Lewis Carrolls war zweifelsohne Friedrich Nietzsches ,Pathosformel‘ von der „Ewi77 Paul Val ry, Oeuvres. La Pl iade, Paris 1960, 215.

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gen Wiederkehr“78. Sie ist in der Form ihrer deleuzianischen Relektüre vor allem in „Nietzsche und die Philosophie“ (orig. „Nietzsche et la philosophie“, 1962) grundlegend für Deleuzes Begriffsentfaltung in seinem Hauptwerk „Differenz und Wiederholung“. Dieser Gedanke Nietzsches ist sicherlich der parallel zur ,Lehre vom Übermenschen‘ wirksamste des die Frühphase seiner Philosophie versiegelnden „Also sprach Zarathustra“ aus den Jahren 1883–1885. Er umkreist in nicht-analytischer, poetisch-aphoristischer Sprache eine Philosophie des aus der vorsokratischen, griechischen Philosophie entwickelten Zeit-Ereignisses, ohne die die deleuzianische nicht selbst im Werden begriffen sein konnte. Wie Deleuzes Denken ist auch Nietzsches Begriff der wiederkehrenden Zeit ein Wiederdenken pythagoreischer und herakliteischer Philosophie, selbst wenn das Denken einer zyklischen Ewigkeitsauffassung zuzeiten etwa der „Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung“79 bei Nietzsche noch ganz in Keimform subsidiert und sich erst allmählich entwickelt. Und ebenso ist er ein Kind der Zeit des 19. Jahrhunderts und diverser Spielarten einer entsprechenden (auch pseudo-)naturwissenschaftlicher Hypothese:80 „Kurzum, die paradoxeste Theorie Nietzsches basierte also […] auf einer zur damaligen Zeit ganz aktuellen wissenschaftlichen Hypothese.“81 Die nicht-ethische Pointe vor allem des aus dem Gesamtwerk Nietzsches formal besonders herausfallenden „Zarathustra“ besteht in der poetischen Dichte seiner sich bis dahin entwickelnden Selbstwerdung, in der allein es Nietzsche möglich war, das deleuzianische ,Ereignis‘ vorzudenken, d. h. zu wiederholen, wie es Giorgi Colli treffend fasst: „Als Wurzel der Vision von der ewigen Wiederkunft suche man weniger das Nachklingen doxographischer Berichte über eine alte pythagoreische Lehre oder wissenschaftliche Hypothesen des 19. Jahrhunderts als vielmehr das Wiederauftauchen 78 So in der entsprechend vorliegenden Deleuze-Übersetzung entgegen dem üblichen und bei Nietzsche selbst mehrheitlich verwendeten Begriff der „Ewigen Wiederkunft“. 79 Vgl. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Kritische Studienausgabe Band 1, Berlin/New York 1999, 243–334, 261: „Im Grunde ja könnte das, was einmal möglich war, sich nur dann zum zweiten Male als möglich einstellen, wenn die Pythagoreer Recht hätten zu glauben, daß bei gleicher Constellation der himmlischen Körper auch auf Erden das Gleiche, und zwar bis auf ’s Einzelne und Kleine sich wiederholen müsse: so dass immer wieder, wenn die Sterne eine gewisse Stellung zu einander haben, ein Stoiker sich mit einem Epikureer verbinden und Cäsar ermorden und immer wieder bei einem anderen Stande Columbus Amerika entdecken wird. Nur wenn die Erde ihr Theaterstück nach dem fünften Akt von Neuem anfienge, wenn es feststünde, dass dieselbe Verknotung von Motiven, derselbe deus ex machina, dieselbe Katastrophe in bestimmten Zwischenräumen wiederkehrten, dürfte der Mächtige die monumentale Historie in voller ikonischer Wahrhaftigkeit, das heisst jedes Factum in seiner genau gebildeten Eigenthümlichkeit und Einzigkeit begehren: wahrscheinlich also nicht eher, als bis die Astronomen wieder zu Astrologen geworden sind.“ 80 Vgl. Mazzino Montinari, Friedrich Nietzsche. Eine Einführung, Berlin/New York 1991, 86–88. 81 AaO., 88.

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kulminierender Momente der vorsokratischen Spekulation, die auf eine Unmittelbarkeit hingewiesen haben, die in der Zeit wieder auffindbar ist, jedoch aus ihr hinausführt und so ihre nicht umkehrbare Eingleisigkeit aufhebt. Wenn man zurückgeht bis zu diesem nicht mehr Darstellbaren, so läßt sich nur sagen, daß das Unmittelbare außerhalb der Zeit – die ,Gegenwart‘ des Parmenides und das ,Aion‘ des Heraklit – in das Gewebe der Zeit eingeflochten ist, so daß in dem, was vorher oder nachher wirklich erscheint, jedes Vorher ein Nachher und jedes Nachher ein Vorher ist und jeder Augenblick ein Anfang.“82

Diesseits des schon mit ethischen Spitzen durchtränkten und eng an die ,Lehre vom Übermenschen‘ angebundenen Wiederkunft-Konzepts des ,Zarathustra‘ („Alles ,Es war‘ ist ein Bruchstück, ein Räthsel, ein grauser Zufall – bis der schaffende Wille dazu sagt: ,aber so wollte ich es!‘ – Bis der schaffende Wille dazu sagt: ,Aber so will ich es! So werde ich’s wollen!‘“83) findet das Paradox der ,Ewigen Wiederkunft‘ seinen ersten schriftlichen Niederschlag im entsprechenden Buchkonzept im fünf Kapitel betreffenden Fragment „Anfang August 1881 in Sils-Maria, 6000 Fuss über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen“84. Einen der präzisesten Definitionsversuche (und es musste sachnotwendig bei ,Versuchen‘ bleiben!) im gleichen Zusammenhang verfasste Nietzsche wenige Notizen später: „Die Welt der Kräfte erleidet keinen Stillstand: denn sonst wäre er erreicht worden, und die Uhr des Daseins stünde still. Die Welt der Kräfte kommt also nie in ein Gleichgewicht, sie hat nie einen Augenblick der Ruhe, ihre Kraft und ihre Bewegung sind gleich groß für jede Zeit. Welchen Zustand diese Welt auch nur erreichen k a n n , sie muß ihn erreicht haben und nicht einmal, sondern unzählige Male. So diesen Augenblick: er war schon einmal da und viele Male und wird ebenso wiederkehren, alle Kräfte genau so vertheilt, wie jetzt: und ebenso steht es mit dem Augenblick, der diesen gebar und mit dem, welcher das Kind des jetzigen ist“85. Es ist, wie Nietzsche es als veröffentlichten Gedanken im vorletzten Aphorismus (der letzte Aphorismus „I n c i p i t t r a g o e d i a “ stellt die Figur und das Grundkonzept ,Zarathustra‘ selbst erstmals vor) des Vierten Buches der zweiten Auflage in „Die fröhliche Wissenschaft“ 1882 der breiten Öffentlichkeit zu Verfügung stellte, „D a s g r ö s s t e S c h w e r g e w i c h t “: „Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: ,Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues 82 Giorgio Colli, Distanz und Pathos. Einleitung zu Nietzsches Werken, Hamburg 1993, 90. 83 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Kritische Studienausgabe Band 4, Berlin/New York 1999, 9–404, 181. 84 Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1880–1882. Frühjahr–Herbst 1881, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Kritische Studienausgabe Band 9, Berlin/New York 1999, 441–575, 11 [141], 494. 85 AaO., 11 [148], 498; vgl. dazu auch 11 [150], 499 sowie 11 [157], 502.

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daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!‘ […]“86

Dieser Blick auf diese bekanntesten Stellen der Rezeption der Ewigen Wiederkunft ebnet zwar ihren grundlegenden Nachvollzug, wie Nietzsche sie in der mittleren Phase seiner Philosophie der 1880er Jahre selbst für sich durchdacht hatte. Die Grundlage allerdings findet Nietzsche – und findet über Nietzsche schließlich Deleuze – in der Frühzeit der Basler Jahre 1870–1873, die neben der „Geburt der Tragödie“ vor allem durch seine Studie über „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“ sein philologisch-philosophisches Denken prägen. In dieser grundlegenden Untersuchung der vorplatonischen Philosophie als der – gemäß Nietzsche – bis zu Platon einzig selbstständigen nimmt Heraklit unter den sechs dargestellten Denkern schon räumlich mit etwa einem Drittel der Seiten eine Vorrangstellung ein, insofern er als naturphilosophischer Empirist das absolute Werden im Gegensatz zum Sein dachte: „[E]r leugnete überhaupt das j Sein. Denn diese Welt […] zeigt nirgends ein Verharren, eine Unzerstörbarkeit, ein Bollwerk im Strome. […] ,Ich sehe nichts als Werden. Laßt euch nicht täuschen! In eurem kurzen Blick liegt es, nicht im Wesen der Dinge, wenn ihr irgendwo festes Land im Meere des Werdens und Vergehens zu sehen glaubt. Ihr gebraucht Namen der Dinge als ob sie eine starre Dauer hätten: aber selbst der Strom, in den ihr zum zweiten Male steigt, ist nicht derselbe als bei dem ersten Male.‘“87

Es ist die erste Philosophie des Augenblicks um Augenblicks, nach der „Vergangenheit und Zukunft so nichtig als irgend ein Traum sind, Gegenwart aber nur die ausdehnungs- und bestandlose Grenze zwischen beiden sei, daß aber, wie die Zeit, so der Raum und wie dieser, so auch alles, was in ihm und der Zeit zugleich ist, nur ein relatives Dasein hat, nur durch und für ein Anderes, ihm Gleichartiges“88. Es gibt hier keine innere Gesetzmäßigkeit, der gemäß der herakliteische Äon das Werden zum Sein erhebt, keine von außen an das Werden herangeführte Richtung. Insofern entsprechen das Werden und die Ewige Wiederkunft einander, wie unter den Vorsokratikern allein Heraklit 86 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. Zweite Ausgabe, in: Giorgio Colli/ Mazzino Montinari (Hrsg.), Kritische Studienausgabe Band 3, Berlin/New York 1999, 343–651, 570. 87 Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Kritische Studienausgabe Band 1, Berlin/New York 1999, 803–873, 822 f. 88 AaO., 824.

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ahnte. Und Deleuze bedauert mit Nietzsche die Unterwerfung des Werdens vor allem in der Folge der von Platon geprägten Philosophie unter finale und kausale Ausrichtungen: „Man hat oft das Chaos und den Kreislauf, das Werden und die ewige Wiederkehr zusammengebracht, aber so, als ob damit zwei gegensätzliche Termini ins Spiel gebracht wären. […] Selbst unter den Vorsokratikern wußte vielleicht nur Heraklit als einziger, daß das Werden nicht ,gerichtet‘ ist, daß es dies nicht sein kann und nicht zu sein hat, daß es sein Gesetz nicht von anderswo her verordnet bekommt, da es ,gerecht‘ ist und sein Gesetz in sich selbst findet. Nur Heraklit war die Ahnung gegeben, daß Chaos und Kreislauf in Nichts Gegensätze sind. In Wahrheit vielmehr genügt es, das Chaos (Zufall und nicht Kausalität) zu bejahen, um j darin zugleich die Zahl oder die Notwendigkeit, die es wiederbringt, zu bejahen (unvernünftige Notwendigkeit und nicht Kausalität). […] Verständlich, daß Nietzsche seine Idee der ewigen Wiederkehr keineswegs bei seinen antiken Vorgängern wiederentdeckt. Diese sahen darin nicht das Sein des Werdens als solches, nicht das Eine des Vielen, d. h. die notwendige, die notwendig aus dem Zufall als Ganzem hervorgehende Zahl. Sie sahen in der ewigen Wiederkehr geradewegs das Gegenteil: nämlich eine Unterwerfung des Werdens“ [NP 34 f.].

Allein Herkalit nun war es, der „ d i e L e h r e v o m G e s e t z i m We r d e n u n d v o m S p i e l i n d e r N o t h w e n d i g k e i t “ 89 erkannte. Lässt man einmal die für Nietzsche durchaus dominante ethische Implikation für die ,Lehre vom Übermenschen‘ und den ,Willen zur Macht‘ außer Acht, ist der wesentliche Aspekt der Ewigen Wiederkunft im Verhältnis zum Sein des Werdens der, den Deleuze als „kosmologische und physikalische Doktrin“ bezeichnet. Hier findet sich auch die Lösung des phänomenologischen Problems der vermeintlichen Aufeinanderfolge der drei herkömmlichen Zeitmodi: „Wie kann sich das Vergangene, die Vergangenheit in der Zeit bilden? Wie kann das Gegenwärtige, die Gegenwart vergehen? Niemals vermöchte der vorübergehende Augenblick vorübergehen, wäre er nicht schon vergangen und zugleich noch gegenwärtig. Wenn die Gegenwart nicht durch sich selbst verginge, wenn auf eine neue Gegenwart gewartet werden müßte, damit jene zur Vergangenheit wird, so würde sich die Vergangenheit allgemein niemals in der Zeit bilden, wie auch jene Gegenwart nie vergehen: wir können nicht erwarten, der Augenblick muß in einem gegenwärtig und vergangen, gegenwärtig und zukünftig sein, damit er vergehen kann (und zugunsten anderer Augenblicke auch vergeht). Das Gegenwärtige muß mit sich als Vergangenes und Zukünftiges koexistieren. Dieses synthetische Verhältnis des Augenblicks zu sich als Gegenwärtiges, Vergangenes und Zukünftiges begründet gerade sein Verhältnis zu den anderen Augenblicken. Demzufolge erweist sich die ewige Wiederkehr als Antwort auf das Problem des Vorübergehens“ [NP 54]. 89 AaO., 835.

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Ereignis und die Zeiten: Äon, Chronos und das Werden

Oder, in anderen Worten: Vergangenheit mag zwar von zwei Gegenwarten ,eingekeilt‘ sein, aber sie wird nicht von diesen konstituiert: „Wir können nämlich nicht glauben, daß sich die Vergangenheit erst dann konstituiert, nachdem sie Gegenwart gewesen ist, oder weil eine neue Gegenwart erscheint. Wenn die Vergangenheit eine neue Gegenwart abwarten würde, um sich als Vergangenheit zu bilden, so würde weder die frühere Gegenwart noch die neue geschehen. Niemals würde eine Gegenwart vergehen, wenn sie nicht ,zur gleichen Zeit‘ vergangen wie gegenwärtig wäre; niemals würde sich eine Vergangenheit bilden, wenn sie sich nicht zunächst ,zur gleichen Zeit‘, als sie Gegenwart gewesen ist, gebildet hätte.“ [DW 113]

Die ,Wiederkehr des Gleichen‘ ist dabei keineswegs misszuverstehen als Wiederkehr immer Desselben; das wäre widersinnig: „Nicht das Sein kehrt wieder, sondern die Wiederkehr selbst macht das Sein aus, insoweit dieses im Werden und im Vergehenden sich bejaht. Nicht das Eine kehrt wieder, sondern das Wiederkehren selbst ist das Eine, das sich im Verschiedenen oder Vielen bejaht. Anders gesagt: Die Identität in der ewigen Wiederkehr bezeichnet nicht die Natur des Wiederkehrenden, sondern im Gegenteil die Tatsache des Wiederkehrens für das Unterschiedene. Darum muß die ewige Wiederkehr als Synthesis gedacht werden: Synthesis der Zeit und ihrer Dimensionen, Synthesis des Verschiedenen und seiner Reproduktion, Synthesis des Werdens und des sich im Werden bejahenden Seins, Synthesis der zwiefachen Bejahung. So ist die ewige Wiederkehr selbst von einem Prinzip abhängig, das nicht die Identität ist, aber das doch in allen diesen Hinsichten den Erfordernissen eines wirklich hinreichenden Grundes gerecht werden muß“ [NP 55].

Bei diesem ,hinreichenden Grund‘ handelt es sich nicht um Leibnizens Lehre vom principium rationis sufficientis,90 insofern es der Vernunft überhaupt keinen Zugang gewährt und allein in der Affirmation Geltung gewinnt: der Affirmation des Zufalls, den der herakliteische Äon mit Würfeln ausspielt. Das dunkle Bild vom würfelspielenden Äon-Kind wird etwas heller, wenn man die ,zweifache Bejahung‘ als die Bejahung des Würfelwurfes und seines unbeeinflussbaren Ergebnisses denkt als die Notwendigkeit, die sich aus dem Zufall ergibt, und das Spiel, von dem Deleuzes Nietzsche spricht, als die wesentliche Seinsform der Ewigen Wiederkunft: „Das Werden bejahen, das Sein des Werdens bejahen sind die beiden Momente dieses Spiels, die sich mit einem dritten Moment verbinden, dem Spieler, dem Künstler oder dem Kind. […] Dieses Spiel des Werdens ist ebenso das Sein des Werdens, das jenes Spiel mit sich selbst spielt: Äon, sagt Heraklit, ist ein spielendes Kind, ein Kind, das mit Wurfscheiben spielt. Das Sein des Werdens, die ewige Wiederkehr ist das zweite 90 Vgl. etwa Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels. Vorwort, Abhandlung, erster und zweiter Teil, Frankfurt am Main 21986, § 44, 272 f.

Zwei Lesarten der Zeit

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Moment des Spiels, aber auch das dritte, das mit den zwei Momenten identisch ist und für das Ganze steht. Denn die ewige Wiederkehr ist die vom Fortgang unterschiedene Wiederkehr, ist die von der Aktion unterschiedene Kontemplation, aber ebenso die Wiederkehr des Fortgangs selbst und die Wiederkehr der Aktion: Moment und Zyklus der Zeit in einem“ [NP 30].

Das Werden eher denn das Sein zu denken ist dabei philosophiehistorisch in der Tat von Heraklit bis Nietzsche/Deleuze eine Seltenheit geblieben; das Sein des Werdens wirklich zu denken und damit die Notwendigkeit des Zufalls und die nur als zufällige Notwendigkeit antizipierbare, als kontingente, indeterminierbare Grundierung des Seins, das besingt Zarathustra in einem Liebeslied an die Ewigkeit („Dritter Theil: Die sieben Siegel“) so, dass er den Grundvollzug dieses Spiels, das Würfeln, neu im beginnenden nach-metaphysischen Zeitalter den himmlischen und irdischen Ebenen zuordnet und die Hierarchien auf den Kopf stellt: Die Würfel werden auf der Erde geworfen und sie fallen im Himmel. „Wenn ich je am Göttertisch der Erde mit Göttern Würfel spielte, dass die Erde bebte und brach und Feuerflüsse heraufschnob: – – denn ein Göttertisch ist die Erde, und zitternd vor schöpferischen neuen Worten und Götter-Würfen“91; der Himmel ist „ein Tanzboden […] für göttliche Zufälle“, „ein Göttertisch […] für göttliche Würfel und Würfelspieler!“92 Nun sind diese beiden Spielsphären nicht voneinander unterschieden, sondern strikt aufeinander bezogen. „[D]iese beiden Tische sind nicht zwei Welten. Es sind die zwei Tageszeiten ein und derselben Welt, Mittag und Mitternacht: die Stunde, da die Würfel geworfen werden und die Stunde, da die Würfel fallen. […] Der Würfelwurf affirmiert das Werden, und er affirmiert das Sein des Werdens“ [NP 31]. Diese Affirmation ist die Strategie des zoroastrischen Spielers, der nicht den Würfelwurf reproduzieren oder repräsentieren will, sondern sein Fallen antizipiert, in jedem Wurf das Schicksal mit seiner Notwendigkeit begrüßt, statt es bis zum Wunschergebnis neu herauszufordern und an der Gesetzmäßigkeit der eigenen Erwartungen zu messen. Wer das wollte, der kann nicht spielen wollen, oder: „Den Zufall bejahen können heißt spielen können. Wir aber können nicht spielen“ [NP 32]93. Im Gegenteil: „Der schlechte Spieler setzt auf mehrfache Würfe, auf deren große Zahl: so hantiert er mit Kausalität und Wahrscheinlichkeit, um eine Zahlenkombination herbeizuführen, die er zur wünschenswerten erklärt; diese Kombination legt er als ein zu erreichendes, hinter der Kausalität verborgenes Ziel fest. […] Den Zufall aufzuheben, indem er in die Zange von Kausalität und j Finalität genommen wird; statt den Zufall zu bejahen, auf die Wiederholung der Würfe; statt die Notwendigkeit zu bejahen, auf

91 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 288 f. 92 AaO., 209 f. [Dritter Theil, Vor Sonnen-Aufgang]. 93 Vgl. aaO., 363 f. [Vierter und letzter Theil, Vom höheren Menschen].

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Ereignis und die Zeiten: Äon, Chronos und das Werden

ein Ziel, einen Zweck, zu hoffen: sie alle geben Strategien des schlechten Spielers wieder“ [NP 32 f.].94

2.3.3.3 Deleuzes regelloses Spiel Das nietzscheanisch-zoroastrische Spiel ist ein deleuzianisches Spiel, ein Carroll’sches mithin. Ihm widmet Deleuze in der Logik des Sinns eine eigene „Serie von Paradoxa“ mit dem Titel „Vom idealen Spiel“ [vgl. LS 83–91]. Das Paradigma ist der „Proporzwettlauf“95 oder die „Croquetpartie“96 in „Alice im Wunderland“ als Spiele, deren Regeln, wenn überhaupt, intuitiv gegebene sind. Ihre Anlage widerspricht der Art von Spielen, die Menschen zu spielen gewohnt sind und die aus einem festen, vorab bekannten Regelkanon bestehen, der die Zufallsverteilung innerhalb der Spielzüge reguliert und an deren Ende es Gewinner und Verlierer gibt. Diese Spiele sind Typologien, die den Zufall begrenzen und durch Kausalität einzäunen; sie stehen Modell für das nachaufklärerische Weltbild der Rückführbarkeit aller Effekte auf Gründe und verweisen so im übertragenen Sinne „zwangsläufig auf einen anderen Typ von Tätigkeit, auf die Arbeit oder die Moral, deren Karikatur oder Gegenstück sie darstellen, deren Bestandteile sie aber auch zu einer neuen Anordnung zusammenfügen. Ob es nun der Mensch der Pascalschen Wette oder der schachspielende Gott Leibnizens ist: Das Spiel dient ausdrücklich nur als Modell, weil es sich selbst an impliziten Modellen orientiert, die keinen Spielcharakter besitzen: das moralische Modell des Guten oder Besseren, das ökonomische Modell der Ursachen und Wirkungen, der Mittel und Zwecke“ [LS 84].

Dieser rationalisierenden Finalisierung entzieht sich das ideale Spiel, das Deleuze vorschwebt. Vier „scheinbar unanwendbare Prinzipien“ legt Deleuze ihnen zugrunde: (i) Die Spielzüge basieren nicht auf vorgängigen Regeln; sie ergeben sich in actu / in ludi. (ii) Dadurch verzweigen sie den Zufall Zug um Zug, statt ihn linear auf ein Ziel zu lenken. (iii) In der dadurch hervorgerufenen Serie von Singularitäten gibt es keine feststehenden, sondern nur variable Ergebnisse, die selbst zufällig hervorgerufen werden und wechselseitig in je noch gesteigerter Zufälligkeit einander stets beeinflussen: „Jeder Zug ist seinerseits eine Serie, allerdings in einer kleineren Zeit als dem Minimum der 94 Vgl. auch NPh 33: „Wenn die geworfenen Würfel in einem Wurf den Zufall bejahen, so bejahen und bestätigen die Würfel, die gefallen sind, notwendig die Zahl oder das Schicksal, das den Würfelwurf wiederholen läßt. In diesem Sinne ist das zweite Stadium des Spiels gleichermaßen auch das Gesamt der beiden Stadien oder der Spieler, der für das Ganze steht. Die ewige Wiederkehr stellt das zweite Stadium dar, das Ergebnis des Wurfs der Würfel, die Bejahung der Notwendigkeit, die Zahl, die alle Glieder des Zufalls vereinigt, aber auch die Wiederkehr des ersten Stadiums, die Wiederholung des Wurfes, die Reproduktion und Re-affirmation des Zufalls selbst. Das Schicksal in der ewigen Wiederkehr ist auch das ,Willkommen-heißen‘ des Zufalls“. 95 Lewis Carroll, Alice im Wunderland, Berlin 272013, 28–32. 96 AaO., 80–90.

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denkbaren kontinuierlichen Zeit; […] Der Zufallspunkt aber umfaßt die Gesamtheit aller Würfe, das einzige Werfen, das sich durch alle Serien hindurch in einer größeren Zeit als dem Maximum der denkbaren fortlaufenden Zeit unaufhörlich verschiebt“ [LS 84], d. h. dass alle Spielzüge für sich ,chronologisch‘ vorgenommen werden, dabei auf einer äonischen Ebene gleichzeitig ablaufen. Schließlich (iv) ist dieses Spiel ohne Gewinner und Verlierer imaginativer und ästhetischer Art, es ist unspielbar und ein „dem Denken und der Kunst vorbehaltenes Spiel, in dem es nur noch zu Siegen für diejenigen kommt, die zu spielen, das heißt den Zufall zu bejahen und zu verzweigen wußten, anstatt ihn zu teilen, um ihn zu beherrschen, zu wetten, zu gewinnen“ [LS 85]. Dieses Spiel ist die Absage an das Um-Zu schlechthin, der Katalysator der Zweck-Ökonomie. Es ist das Spiel des Ereignisses, das die beiden Zeitebenen in seinem Nicht-Ort verbindet: „Jedes Ereignis ist die kleinste Zeit, kleiner als das Minimum der denkbaren kontinuierlichen Zeit, da es sich in nahe Vergangenheit und kurz bevorstehende Zukunft teilt. Doch es ist auch die längste Zeit, länger als das Maximum der denkbaren kontinuierlichen Zeit, da es unaufhörlich von Äon unterteilt wird, der j es seiner unbegrenzten Linie gleichmacht. Wohlverstanden: Jedes Ereignis im Äon ist kleiner als die kleinste Einteilung im Chronos; doch es ist auch größer als der größte Teiler des Chronos, d. h. der gesamte Zyklus. Durch seine unbegrenzte Unterteilung in beide Richtungen zugleich erstreckt sich jedes Ereignis über den gesamten Äon und wird seiner in beiden Richtungen laufenden geraden Linie koextensiv“ [LS 89 f.].

Auf dieser vom Zufallspunkt gezogenen Linie verteilen sich die Ereigniszüge wie nomadische, nicht-seßhafte Punkte, die miteinander kommunizieren und in je noch größerer Kontingenz einander korrelieren: Labyrinthische Linie, auf der Theseus den Ariadnefaden verliert, Ewige Wiederkunft des NichtIdentischen: Das „Paradox des reinen Werdens mit seiner Fähigkeit, dem Gegenwärtigen auszuweichen, besteht in der unendlichen Identität: unendliche Identität beider Sinn-Richtungen zugleich, des Künftigen und des Vergangenen, des vorigen und des morgigen Tages, des Mehr und des Weniger, des Zuviel und des Nicht-Genug, des Aktiven und des Passiven, der Ursache und der Wirkung“ [LS 17]. So ist das reine Ereignis im Werden die Schnittund Scheide-, die Intermediärsingularität aller Ereignisse als synthetische Konjunktion der Zeitmodi der Gegenwart im Chronos, und verläuft auf Äon als der leeren Form der Zeit, ohne darin aufzugehen: „Jedes Ereignis ist dem vollständigen Äon adäquat, jedes Ereignis kommuniziert mit allen anderen, alle bilden ein einziges und selbes Ereignis, Ereignis des Äon, in dem sie eine ewige Wahrheit haben. Dies ist also das Geheimnis des Ereignisses: daß es auf dem Äon stattfindet und dennoch nicht ausfüllt“ [LS 90] und zugleich die Verbindung der verschiedenen Chronoi markiert, indem es diese aufeinander bezieht und unterbricht.

3. Ereignis in der Sprache: Logik, Sinn und Unsinn Alles in schlichter Einfachheit. Gehen ist gehen. Ein Buch nehmen ist einfach ein Buch nehmen. Etwas zeigen ist etwas zeigen. Nichts vorführen, nichts besonders langsam. In jeder Geste und Bewegung ihre einfache alltägliche Entsprechung finden. Alles in der schlichten Einfachheit der Schöpfung. Dietrich Sagert1

Kategorial tritt neben die Zeit als Verwirklichungsdimension des Ereignisses die Sprache als Ausdrucksform des Ereignisses, durch die das Ereignis sich zeitigt und durch welche die Richtungen und Möglichkeiten des Ereignisses in der Zeit sich bestimmen: „Es ist die Sprache, die die Grenzen festlegt (beispielsweise den Moment, in dem das Zuviel beginnt); sie überschreitet aber auch die Grenzen und stellt sie in der unendlichen Äquivalenz eines grenzenlosen Werdens wieder her“ [LS 17]. Mit anderen Worten: Sprache vergegenwärtigt Ereignis in den Zeiten, resp.: Gegenwart kann sich „gerade im Vollzug ihrer sprachlichen Gegen-Verwirklichung so verdichten, dass sie sich unabhängig von den Akten der Vergegenwärtigung ereignet“2. Ereignis ist dabei für Deleuze analog dem Sinn, der sich aus dem Unsinn ergibt. Sinn selbst ist Ereignis, und zwar „unter der Bedingung, das Ereignis nicht mit seiner raum-zeitlichen Verwirklichung in einem Dingzustand zu vermengen. Man soll also nicht fragen, was der Sinn eines Ereignisses sei: Das Ereignis nämlich, das ist der Sinn selbst“ [LS 41]. Ereignis, das zugleich Sinn ist, drückt sich ausschließlich in Sprache aus, weil es die Sprache ist, die je dynamischer sie sich ausdrückt, je mehr vermag, „Grenzen zu ziehen und die gezogenen Grenzen zu überschreiten: So verfügt sie über die Termini, die ihre Ausdehnung ständig verändern und eine Umkehrung der Verbindung in einer gegebenen Serie ermöglichen (so etwa zuviel und nicht genug, viel und wenig). Das Ereignis ist dem Werden und das Werden seinerseits der Sprache koextensiv; das Paradox ist also im Wesentlichen ein ,Kettenschluß‘, das heißt eine Serie von Fragesätzen, die dem Werden entsprechend mittels sukzessiver Hinzufügungen und Abzüge verfahren. Alles ereignet sich an der Grenze zwischen den Dingen und den Sätzen“ [LS 24],

1 Dietrich Sagert, Vom Hörensagen. Eine kleine Rhetorik, Leipzig 22014, 41. 2 So Rçlli, Ereignis auf Französisch, im Vorwort, 38.

Sprach-Welten: literarische Prolegomena

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zwischen den Dingen und ihren Zuschreibungen. Eine Ereignis ermöglichende Sprache muss entsprechend eine andere sein als eine Sprache mit „hypostasierten Bedeutungen.“ Denn „jedesmal, wenn man uns über folgende Signifikate befragt – ,Was ist das Schöne, das Gerechte usw., was ist der Mensch?‘ –, antworten wir mit der Bezeichnung eines Körpers, mit dem Hinweis auf ein nachahmbares oder sogar verzehrbares Objekt, nötigenfalls mit Stockschlägen, mit dem als Instrument jeder möglichen Bezeichnung begriffenen Stock. Dem ,federlosen Zweifüßler‘ als Signifikat des Menschen bei Platon antwortet der Zyniker Diogenes, indem er einen gerupften Hahn hinwirft. Und demjenigen, der fragt ,Was ist Philosophie?‘, antwortet Diogenes, indem er einen Hering am Schnurende spazierenführt […]. Platon belachte jene, die sich damit j begnügten, Beispiele anzuführen, zu zeigen, zu bezeichnen, anstatt zu den Wesen vorzustoßen: Ich frage dich nicht (sagte er), wer gerecht ist, sondern was das Gerechte ist usw. So ist es leicht, Platon jenen Weg wieder hinabsteigen zu lassen, den er uns erklimmen lassen wollte. Jedesmal, wenn man uns nach einer Bedeutung fragt, antworten wir mit einer bloßen Bezeichnung, einem bloßen Zeigen“ [LS 170 f.].

Das Zeigen oder Bezeichnen von infragestehenden Dingen, womit ihnen Sinn vermittelt wird, geschieht also gewöhnlich über den Hinweis auf Adjektive – „etwas, das schön ist“ oder Substantive – ein Sonnenuntergang etwa. Doch in dieser Weise der Bezeichnung ereignet sich nichts, sondern es findet bloß eine im Grunde tautologische Repräsentation statt. Es ginge in einer dem Ereignis gemäßen Sprache allerdings darum, die Adjektive und Substantive zu „verflüssigen“ [LS 18], d. h. das Ereignis in Verben auszudrücken, um so „den gesunden Menschenverstand als einzige Richtung, als Einbahnstraße, oder einzigen Sinn, dann aber auch den Gemeinsinn als Zuweisung festgelegter Identitäten zu zerstören“ [LS 18] und das Werden statt dem Sein zu setzen.3

3.1 Sprach-Welten: literarische Prolegomena Zunächst allerdings wieder eine Erzählung von Jorge Luis Borges, die grundsätzlich illustriert, was Sprache im deleuzianischen Horizont von Er3 „Selbst Platon fragt sich zuweilen, ob dieses reine Werden nicht in einer ganz besonderen Beziehung zur Sprache stehe: Darin zeigt sich uns eine der Hauptbedeutungen des Kratylos. Vielleicht könnte diese Beziehung sogar eine wesentliche Eigenschaft der Sprache sein, wie in einem ,Fluß‘ von Worten, ein kopfloser Diskurs, der unaufhörlich und ohne jemals anzuhalten über das hinwegglitte, auf das er verweist? Oder könnte es nicht auch zwei Sprachen und zwei Arten von ,Namen‘ geben, wobei die einen die Stillstände und die Ruhepunkte bezeichnen, in denen die Aktion der Idee sich entfalten kann, die anderen jedoch die rebellischen Bewegungen und Werden ausdrücken? Oder könnte es nicht sogar zwei unterschiedliche, der Sprache überhaupt innerliche Dimensionen geben, wobei die eine stets von der anderen verdeckt j wird, sich aber durchgängig ,erhält‘ und unter der anderen fortbesteht?“ [LS 16 f.]

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Ereignis in der Sprache: Logik, Sinn und Unsinn

eignis bewegt. In „Tlön, Uqbar, Orbis Tertium“ beschreibt Borges 1940 (1947) ein imaginäres Land und einen Planeten mit Namen „Uqbar“ bzw. „Tlön“ (und schließlich „Orbis Tertium“; die Begriffe vermischen sich), dessen Wiederentdeckung sich mysteriöser Umstände verdankt (der Protagonist wird darauf aufmerksam über einen Eintrag in einem Exemplar des XXVI. Bandes einer Enzyklopädie, der allein in diesem Druck-Exemplar enthalten ist) und sich herausstellt, dass die Mechanismen dieses Planeten gänzlich anders funktionieren als die hiesigen. Neben der phantastischen, materialistisch-idealistisch geprägten Wissenschaft dieses Planeten sind besonders die Sprachen interessant, die auf jenem gänzlich zeitlich, d. h. ,raumlos‘ gedachten Planeten gepflegt werden: „Die Welt ist [für die Völker dieses Planeten; FH] nicht ein Zusammentreffen von Gegenständen im Raum, sondern eine heterogene Reihenfolge unabhängiger Handlungen. Sie ist sukzessiv, zeitlich, nicht räumlich. In der mutmaßlichen Ursprache Tlöns, von der die ,heutigen‘ Sprachen und Dialekte herstammen, gibt es keine Substantive: Es gibt unpersönliche Verben, die durch einsilbige Suffixe (oder Präfixe) adverbialer Art näher bestimmt werden. Zum Beispiel gibt es kein Wort, das dem Wort ,Mond‘ entspräche, aber es gibt ein Verbum, das ,monden‘ j oder ,mondieren‘ lauten würde. ,Der Mond ging über dem Fluß auf‘ lautet: hlör u fang axaxaxas mlö oder in genauer Wortfolge: ,Empor […] hinter dauerfließen mondet es.‘“4

– jedenfalls auf der südlichen Hemisphäre dieses fiktiven Planeten. Auf seiner nördlichen ersetzen Adjektive die Substantive. Das Beispiel für Mond lautete hier: „,luftighell auf dunkelrund‘ oder ,orange-zart-himmlisch‘ oder irgendeine andere Wortfügung.“5 Was hier phantastisch klingt, reformuliert Michel Foucault in seiner Doppelrezension zu „Logik des Sinns“ und „Differenz und Wiederholung“ in direkter Abhängigkeit vom deleuzianischen Zeit-Verständnis als Forderung einer neuen, dem Ereignis gemäßen Grammatik: „Schließlich bedarf es für dieses Sinn-Ereignis auch einer anders gebauten Grammatik: Es läßt sich nämlich im Satz nicht am Prädikatsnomen (t o t sein, l e b e n d sein, r o t sein)[,] sondern nur am Verb festmachen (sterben, leben, erröten). Das so verstandene Verb kommt vor allem in zwei Formen zur Geltung: im Präsens, welches das Ereignis sagt, und im Infinitiv, der in die Sprache den Sinn einführt und ihn als das Unbestimmte zirkulieren läßt, von dem im Diskurs die Rede ist. Die Grammatik des Ereignisses ist bei den Zeitstufen ebensowenig zu finden wie die Grammatik des Sinns in fiktiven Analysen, die ,leben‘ in ,lebend sein‘ auflösen. Die Grammatik des Ereignis-Seins kreist um zwei asymmetrische und leicht hinkende Pole: Infinitiv und Präsens. Der Ereignis-Sinn ist die verschobene Spitze des Präsens und die ewige 4 Jorge Luis Borges, Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, in: Gisbert Haefs/Fritz Arnold (Hrsg.), Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil. Universalgeschichte der Niedertracht. Fiktionen. Das Aleph, München 2000, 99–118, 105 f. 5 AaO., 106.

Satz-Logiken: erkenntnistheoretische Exkurse

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Wiederholung des Infinitivs in einem. Sterben ruht niemals in einem Augenblick[,] sondern zerschneidet mit seiner beweglichen Spitze auch noch das winzigste Nu; Sterben ist noch kleiner als der Augenblick seines Denkens; und auf beiden Rändern dieser Ritze wiederholt sich Sterben endlos. Ewige Gegenwart? Ja, wenn das Gegenwärtige ohne Fülle und das Ewige ohne Einheit gedacht wird: (vielfältige) Ewigkeit der (verschobenen) Gegenwart.“6

Diesen Aspekten wird im Folgenden nachgegangen: Was kennzeichnet einen Satz, der Ereignis so ausdrückt, dass in ihm die Zeit in alle Richtungen verrückt wird? Da diese Frage eng gekoppelt ist an Sinn (und Unsinn) von Sprache, werden dieser Erörterung kurze Exkurse in die Denkwelten der Logiker vorangeschaltet, ohne die der Begriff „Sinn“ konturlos bliebe.

3.2 Satz-Logiken: erkenntnistheoretische Exkurse Mit Deleuze kann man sagen: Ereignisse existieren allein in Sätzen, denn „das Ereignis nämlich, das ist der Sinn selbst“ [LS 41], oder: „Es gehört zu den Ereignissen, durch zumindest mögliche Sätze ausgedrückt zu werden oder ausdrückbar zu sein, ausgesagt zu werden oder aussagbar zu sein“ [LS 29] In (meist impliziter) oppositioneller Weiterführung der grundlegenden Untersuchungen zum Sinn durch Gottlob Frege (1848–1925), Bertrand Russell (1872–1970) und Alexius Meinong (1853–1920) um die Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts rekapituliert Deleuze zunächst herkömmlich-lokutionäre Dimensionen eines Satzes, welche sind: Indikation, Manifestation und Bedeutung, um über die vierte Dimension – den Sinn – Ereignis in der Sprache zu verorten. Da Deleuze die Worte „Sinn“ und „Ereignis“ im Grunde synonym verwendet, bietet es sich an, zunächst den Begriffen, die der „Logik des Sinns“ sowohl im Titel als auch in der Durchführung der Serien von Paradoxa zugrunde liegen, auf den Grund zu gehen. Mit Gottlob Frege soll zuerst ein Licht auf den sprachphilosophischen Begriff „Sinn“ geworfen und der Frage nachgegangen werden, welche zentrale Bedeutung die Struktur eines Satzes für den Ausdruck von Sinn hat. In einem zweiten Schritt sollen mit Bertrand Russell neben der Bedeutung von Universalien für den Sinn die Bedeutung von Relationen beleuchtet werden, die Sinn ausdrücken und dabei anhand der Kriterien von Wahrheit und Falschheit gezeigt werden, wie Sinn erkannt werden kann. Nachdem vermittels grundlegender Begriffe der Phänomenologie Edmund Husserls die Intentionalität des Sinns beleuchtet wird, soll schließlich mit Alexius Meinong gezeigt werden, welche Art von Ontologie den Ereignissen im ausgedrückten Sinn zugrunde liegt.7 6 Michel Foucault, Theatrum Philosophicum, in: Gilles Deleuze/Michel Foucault (Hrsg.), Der Faden ist gerissen, Berlin 1977, 21–58. 7 Da Meinong weniger bekannt sein dürfte und seine gegenstandstheoretische Ontologie für das

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Ereignis in der Sprache: Logik, Sinn und Unsinn

Diese Vertreter einer strukturalen Sprachphilosophie zunächst näher zu beleuchten, ist dabei der nötige Vorschritt, um nachvollziehen zu können, welche Bedeutung dann und auf dieser Grundlage die Entdeckung des Unsinns als die eigentliche Sinnquelle für Deleuze einnimmt.

3.2.1 Gottlob Frege und die ,Bedeutung‘ des Sinns Wer von „Sinn“ in akademischen Kontexten redet oder schreibt, beruft sich auf einen Begriff, der mehr als ein vulgärästhetisches Synonym von „Bedeutung“ ist. Der Begriff ist weithin geprägt in einer Form, die ihr Gottlob Frege, der Begründer oder ,Großvater‘ der Analytischen Philosophie, gab. Frege läutete 1884 mit seinen „Grundlagen der Arithmetik“ die Wende der Philosophie hin zur Beschäftigung mit der Sprache ein, d. h. der bis in die Gegenwart anhaltenden philosophischen Epoche, die Gedanken nicht unabhängig von ihrem Ausdruck begreift und dem Primat des Denkens die Korrelation von Sprache und Bewusstsein entgegensetzt. Er geht dort der Frage nach: „Wie soll uns denn eine Zahl gegeben sein, wenn wir keine Vorstellung oder Anschauung von ihr haben?“8 Seine Antwort auf diese Frage an Immanuel Kant – dass sie als Gedanke gegeben ist, der einen Sinn hat und sich in der Sprache ausdrückt – führt in die Richtung, die er etwas konziser im Jahr 1892 in seiner logischen Studie dem Begriffspaar „Sinn und Bedeutung“9 in ihrem Verhältnis zueinander widmet. Er wählt zur Illustration des Problems ihrer Gleichheit bzw. Verschiedenheit eingangs das präzise geometrische Beispiel eines gleichseitigen Dreiecks: „Es seien a, b, c die Geraden, welche die Ecken eines Dreiecks mit den Mitten der Gegenseiten verbinden. Der Schnittpunkt von a und b ist dann derselbe wie der Schnittpunkt von b und c. Wir haben also verschiedene Bezeichnungen für denselben Punkt […]“10, woran sich die erste Definition von „Sinn und Bedeutung“ anschließt: „Es liegt nun nahe, mit einem Zeichen (Namen, Wortverbindung, Schriftzeichen) Ereignis elementar ist, sollen seine Gedanken etwas ausführlicher referiert werden, um zusammenfassend diese Fäden mit Deleuzes zu verweben. Vgl. dazu grundlegend: Michael Dummett, Ursprünge der analytischen Philosophie, Frankfurt am Main 1988. 8 Gottlob Frege, Grundlagen der Arithmetik, Stuttgart 1987, 94. 9 Vgl. Gottlob Frege, Über Sinn und Bedeutung, in: G nther Patzig (Hrsg.), Gottlob Frege: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, Göttingen 2008, 23–46, ursprünglich abgedruckt in der Zeitschrift für Philosophie und Kritik, Neue Folge 100, 1892, 25–50, auch online zu finden im Deutschen Textarchiv unter http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/ frege_sinn_1892, im Folgenden zitiert nach der neu herausgegebenen Fassung von G nther Patzig (Hrsg.), Gottlob Frege: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, Göttingen 2008; vgl. auch im gleichen Band Gottlob Frege, Über Begriff und Gegenstand, in: G nther Patzig (Hrsg.), Gottlob Frege: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, Göttingen 2008, 47–60. 10 Frege, Sinn und Bedeutung, 24.

Satz-Logiken: erkenntnistheoretische Exkurse

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außer dem Bezeichneten, was die Bedeutung des Zeichens heißen möge, noch das verbunden zu denken, was ich den Sinn des Zeichens nennen möchte, worin die Art des Gegebenseins enthalten ist. Es würde danach in unserem Beispiele zwar die Bedeutung der Ausdrücke ,der Schnittpunkt von a und b‘ und ,der Schnittpunkt von b und c‘ dieselbe sein, aber nicht ihr Sinn.“11

Die Bedeutung des ,Begriffs‘ („Zeichens“) dieses Schnittpunktes ist in diesem Fall der immer gleich bleibende Punkt S, dessen Sinn aber über eine jeweils unterschiedliche Perspektive ermittelt wird, je nachdem, welche beiden Geraden man nachverfolgt (dieses Beispiel birgt genauer genommen drei Sinnebenen, bezöge man noch den Schnittpunkt von a und c ein). Man kann hier vom Sinn als dem modus sprechen, innerhalb dessen sich Bedeutung ereignet. Dabei sind Sinn und Bedeutung nicht zwangsläufig kongruent, wenn auch die Syntax korrekt wäre, was Frege an einem anderen geometrischen Beispiel verdeutlicht: „Der Ausdruck ,die am wenigsten konvergente Reihe‘ hat einen Sinn; aber man beweist, daß er keine Bedeutung hat, da man zu jeder konvergenten Reihe eine weniger konvergente, aber immer noch konvergente finden kann. Dadurch also, daß man einen Sinn auffaßt, hat man noch nicht mit Sicherheit eine Bedeutung.“12

Neben den beiden Grundbegriffen „Sinn“ und „Bedeutung“ führt Frege die „Vorstellung“ als Medium ein. Sie versetzt das durch die Bezeichnung gegebene Objekt in einen durch dessen Wahrnehmung und Erinnerungen konstituierten mentalen Abdruck, der mit subjektiven Gefühlen angereichert ist und damit dem Sinn als nahezu archetypischen Gemein-Sinn eines Bezeichneten entgegensteht: „Ein Maler, ein Reiter, ein Zoologe werden wahrscheinlich sehr verschiedene Vorstellungen mit dem Namen ,Bucephalus‘13 verbinden. Die Vorstellung unterscheidet sich dadurch wesentlich von dem Sinn des Zeichens, welcher gemeinsames Eigentum von vielen sein kann und also nicht Teil oder Modus der Einzelseele ist“14. Zwei verschiedene Menschen werden bei einem gegebenen Zeichen (etwa einem Wort) stets den Sinn des Wortes erfassen, „aber dieselbe Vorstellung können sie nicht haben. Si duo idem faciunt, non est idem.“15 Der Sinn befindet sich bei Frege also zwischen den Polen der objektiven, neutralen Bezeichnung, die der Gegenstand/das Wort ist, und der subjektiven, privaten Vorstellung, die das ,innere Bild‘ ist. Frege illustriert das anhand eines etwas komplexeren Beispiels: „Folgendes Gleichnis ist vielleicht geeignet, diese Verhältnisse zu verdeutlichen. Jemand betrachtet den Mond durch ein Fernrohr. Ich vergleiche den Mond selbst mit der Bedeutung; er ist der Gegenstand der Beobachtung, die vermittelt wird durch das 11 12 13 14 15

Ebd. AaO., 25. Scil. das Pferd Alexanders des Großen. Frege, Sinn und Bedeutung, 26. AaO., 27.

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Ereignis in der Sprache: Logik, Sinn und Unsinn

reelle Bild, welches vom Objektivglase im Innern des Fernrohrs entworfen wird, und durch das Netzhautbild des Betrachtenden. Jenes [das Fernrohr; FH] vergleiche ich mit dem Sinne, dieses [das Netzhautbild; FH] mit der Vorstellung oder Anschauung. Das Bild im Fernrohre ist zwar nur einseitig; es ist abhängig vom Standorte; aber es ist doch objektiv, insofern es mehreren Beobachtern dienen kann. Es ließe sich allenfalls einrichten, daß mehrere Beobachter es benutzen. Von den Netzhautbildern würde jeder doch sein eigenes haben. Selbst eine geometrische Kongruenz würde wegen der verschiedenen Bildung der Augen kaum zu erreichen sein, ein wirkliches Zusammenfallen aber wäre ausgeschlossen.“16

Nun ist der Sinn des Mondes freilich nicht das Fernrohr – aber dass der Sinn das Medium der Vermittlung zwischen Objekt und Subjekt ist, vermag dieses Gleichnis gut zu illustrieren und dem Trugschluss zu wehren, der Sinn sei die subjektive Vorstellung eines Bezeichneten. „Um einen kurzen und genauen Ausdruck möglich zu machen, mögen folgende Redewendungen festgesetzt werden: Ein Eigenname (Wort, Zeichen, Zeichenverbindung, Ausdruck) drückt aus seinen Sinn, bedeutet oder bezeichnet seine Bedeutung. Wir drücken mit einem Zeichen dessen Sinn aus und bezeichnen mit ihm dessen Bedeutung.“17 Auf einer höheren Ebene dieser Semiotik, die nicht mehr die des einzelnen Wortes, sondern des (Haupt-)Satzes betrifft, trägt Frege den Begriff des „Gedanken“ als Synonym für den Sinn ein, der sich von der „Vorstellung“ darin unterscheidet, dass er nicht den subjektiven Vorstellungsakt, sondern dessen objektiven und damit intersubjektiv vergleich- und teilbaren Gehalt meint.18 Deutlich wird dies an den beiden geläufigen unterschiedlichen Bezeichnungen für den Planeten Venus: Ersetzte man in einem Satz, der etwas bedeutet, ein Wort mit der gleichen Bedeutung, d. h. objektiven Gegebenheit, aber anderem Sinn, ändert sich der Gedanke des Satzes, „denn es ist z. B. der Gedanke des Satzes ,der Morgenstern ist ein von der Sonne beleuchteter Körper‘ verschieden von dem des Satzes ,der Abendstern ist ein von der Sonne beschienener Körper‘. Jemand, der nicht wüßte, daß der Abendstern der Morgenstern ist, könnte den einen Gedanken für wahr, den anderen für falsch halten. Der Gedanke kann also nicht die Bedeutung des Satzes sein, vielmehr werden wir ihn als den Sinn aufzufassen haben.“19 Das hier aufgeworfene Problem ist das der Kriteriologie von ,Wahrheit‘ und ,Falschheit‘, die über Sinn und Bedeutung eines Satzes entscheidet, denn es gibt entsprechend Sätze, die im Frege’schen Sinne überhaupt keine Bedeutung, dafür wohl einen Sinn haben. Dabei handelt es sich vor allem um „Sätze, welche Eigennamen ohne Bedeutung enthalten“, wie sie etwa in antiken Epen begegnen: 16 17 18 19

Ebd. AaO., 28. Vgl. aaO., 29, Anm. 5. AaO., 29.

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„Der Satz ,Odysseus wurde tief schlafend in Ithaka ans Land gesetzt‘ hat offenbar einen Sinn. Da es aber zweifelhaft ist, ob der darin vorkommende Name ,Odysseus‘ eine Bedeutung habe, so ist es damit auch zweifelhaft, ob der ganze Satz eine habe. Aber sicher ist doch, daß jemand, der im Ernste den Satz für wahr oder für falsch hält, auch dem Namen ,Odysseus‘ eine Bedeutung zuerkennt, nicht nur einen Sinn; denn der Bedeutung dieses Namens wird ja das Prädikat zu- oder abgesprochen. Wer eine Bedeutung nicht anerkennt, der kann ihr ein Prädikat weder zu- noch absprechen.“20

Wo sich die Betrachtung eines Satzes über die ästhetische Rezeption nichtwissenschaftlicher Lektüre hinaus seiner Wahrheitsfrage widmet – ob’s denn stimmt? –, wird die Bedeutung für Frege allerdings relevant, und zwar in einem hierarchischen Gefälle von der Bedeutung zum Sinn: „Mit der Frage nach der Wahrheit würden wir den Kunstgenuß verlassen und uns einer wissenschaftlichen Betrachtung zuwenden. Daher ist es uns auch gleichgültig, ob der Name ,Odysseus‘ z. B. eine Bedeutung habe, solange wir das Gedicht als Kunstwerk aufnehmen. Das Streben nach Wahrheit also ist es, was uns überall vom Sinn zur Bedeutung vorzudringen treibt“21. Analog zum vorher als „Gedanke“ gefassten Sinn hieße das, dass die Bedeutung der Wahrheit korrespondiert: „So werden wir dahin gedrängt, den Wahrheitswert eine Satzes als seine Bedeutung anzuerkennen“22 – also die Frage, ob er wahr oder falsch sei, die jedem Urteil über einen Satz notwendig zugrunde liegen muss. Dass dabei die Bedeutung eines Satzes nicht Bestandteil seines Sinns sein kann, ist eine epistemologische Notwendigkeit, ebenso wie der Wahrheitswert nicht Teil des Sinns ist, weil beide auf voneinander strikt verschiedenen Erkenntnisebenen verhandelt werden müssen23 – oder, in Freges eigener Analogie: „Man gelangt durch die Zusammenfügung von Subjekt und Prädikat immer nur zu einem Gedanken, nie von einem Sinne zu dessen Bedeutung, nie von einem Gedanken zu dessen Wahrheitswerte. Man bewegt sich auf derselben Stufe, aber man schreitet nicht von einer Stufe zur nächsten vor. Ein Wahrheitswert kann nicht Teil eines Gedankens sein, sowenig wie etwa die Sonne, weil er kein Sinn ist, sondern ein Gegenstand“24, Objekt, Gegenüber.

3.2.2 Bertrand Russell und die Wahrheit des Seins Auf dieser Grundlage verfasst wenig später Bertrand Russell einen grundlegenden erkenntnistheoretischen Aufsatz – „Über die Natur von Wahrheit und Falschheit“ (1910) – sowie kurz darauf eine umfassende, dabei bewusst für 20 21 22 23

Ebd. AaO., 30. Ebd. Zum Fortschreiten von der einen Ebene auf die nächste bedarf es eines Urteilsaktes; vgl. aaO., 31. 24 Ebd.

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Fachfremde verfasste, allgemeinverständliche Epistemologie („Probleme der Philosophie“ [1912]), die zugleich als Summe der (frühen) Philosophie Russells konzipiert ist und sich entsprechend als Ausgangspunkt für seine Darstellung anbietet – denn wo in der Philosophie um die Jahrhundertwende der Begriff „Sinn“ verwendet wird, geht es um nicht weniger als „Wahrheit“. In 15 Kapiteln widmet sich Russell dem epistemologischen Problem des Seins der Dinge bzw. dem logischen Problem ihrer Erkenntnis. Er unterscheidet dabei zwischen unmittelbarer und abgeleiteter Erkenntnis einerseits von materiellen Gegenständen und andererseits von Wahrheiten. Unmittelbare Erkenntnis bezeichnet er als „Bekanntschaft“, sie ergibt sich durch Eindrücke von Sinnesdaten wie Farben, Geräusche etc. Abgeleitete Erkenntnis bezeichnet er als Erkenntnis durch „Beschreibung“, d. h. vermittels ihr zugrundeliegender Bekanntschaft und logischer Prinzipien. Ferner unterscheidet Russell zwischen partikularen Dingen und Universalien, deren Erkenntnis wiederum die Kenntnis von Wahrheiten voraussetzt. Für die weitere Diskussion relevant sind vor allem seine epistemologischen Überlegungen zur Erkenntnis von Wahrheit sowie seine sprachphilosophischen Überlegungen zur Natur der Universalien. Grundsätzlich hält Russell fest, dass jedes Wissen von Gegenständen durch Beschreibung zusätzlich zu der Möglichkeit ihrer unmittelbaren Bekanntschaft25 von der Bedeutung der Worte, die zur Beschreibung verwendet werden, abhängig ist: „Die Wörter, die wir gebrauchen, müssen irgendeine Bedeutung haben, wenn wir sinnvoll reden und nicht bloß Geräusche machen wollen; und die Bedeutung, die wir unseren Wörtern beilegen, muß etwas sein, das uns bekannt ist. Wenn wir z. B. eine Aussage über Julius Cäsar machen, ist es klar, daß wir nicht an Julius Cäsar selber denken, denn wir kennen ihn nicht. Wir denken an eine Beschreibung von Julius Cäsar: ,der Mann, der an den Iden des März ermordet wurde‘, ,der Begründer des Römischen Reiches‘ […]. Unser Satz bedeutet also nicht ganz das, was er zu bedeuten scheint, denn an die Stelle von Julius Cäsar tritt eine Beschreibung, die sich ausschließlich auf uns bekannte Einzeldinge und Universalien bezieht.“26

In zweiter Linie, die auf die Erkenntnis von Wahrheit zielt, bedarf es apriorischer Erkenntnis allgemeiner Prinzipien, von denen auf konkrete Gegenstände durch Beschreibung geschlossen werden kann, wenn diese der Erfahrung weder unmittelbar durch Bekanntschaft zugänglich sind noch von der Erfahrung abhängig sind. Diese apriorische, bei Russell mathematische und logische Erkenntnis ermöglicht Aussagen über alle wirklichen und möglichen Gegenstände unabhängig davon, ob sie gedanklicher oder realer Natur sind, so 25 Vgl. Bertrand Russell, Probleme der Philosophie, Frankfurt am Main 252014, 53: „Das Grundprinzip für die Analyse von Sätzen, in denen Beschreibungen vorkommen, lautet also: Jeder Satz, den wir verstehen können, muß vollständig aus Bestandteilen zusammengesetzt sein, die uns bekannt sind.“ 26 Ebd.

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dass etwa die abstrakte Erkenntnis „2 + 2 = 4“ durch Deduktion übertragen werden kann auf zwei konkrete Äpfel und zwei andere konkrete Äpfel.27 Auch hier berühren sich Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie, denn die apriorische Erkenntnis bezieht sich auf Dinge, die nicht in einem strengen ontologischen Sinne existieren und durch Worte bezeichnet werden, die keine Substantive sind, sondern Beziehungen ausdrücken. Am Beispiel: „Angenommen z. B. ich befinde mich in meinem Zimmer. Ich existiere; mein Zimmer existiert auch; aber existiert ,in‘? Und doch hat das Wort ,in‘ offenbar eine Bedeutung; es bezeichnet eine Beziehung, die zwischen mir und meinem Zimmer besteht. Diese Beziehung ist etwas, obwohl wir nicht sagen können, daß sie in demselben Sinne existiert wie ich und mein Zimmer. Die Beziehung ,in‘ ist etwas, über das wir denken und das wir verstehen können; denn wenn wir sie nicht verstehen könnten, würden wir auch den Satz ,Ich befinde mich in meinem Zim-jmer‘ nicht verstehen können.“28

Russell spricht in expliziter Weiterführung Platons (nicht von „Ideen“, sondern) von „Universalien“, die wie „Schwärze“ oder „Gerechtigkeit“ Eigenschaften haben, an denen jedes (schwarze, gerechte etc.) Partikulare Anteil hat. Diese Eigenschaften sind sprachlicher Natur: „Wenn wir die Wörter der Umgangssprache betrachten, finden wir – grob gesprochen –, daß Eigennamen für Partikulares, j für Einzeldinge stehen, während die übrigen Substantive, die Adjektive, die Präpositionen und Verben für Universalien stehen. Pronomen stehen für Einzeldinge, sind aber mehrdeutig: nur durch den Kontext oder die Umstände der Äußerung wissen wir, welches Einzelding gemeint ist. Das Wort ,jetzt‘ steht für etwas Partikulares, nämlich den gegenwärtigen Augenblick, ist aber auch mehrdeutig wie die Pronomen, weil die Gegenwart nicht stillhält.“29

Entscheidend für die Erkenntnis von Wahrheiten ist, dass kein Satz denkbar ist, der ohne Universalien gebildet werden könnte, und die einen Bereich markieren, an denen ihre Bedeutung Anteil hat, mit dieser aber nicht identisch sind. „Also enthalten alle Wahrheiten Universalien, und jede Erkenntnis von Wahrheiten setzt die Bekanntschaft mit Universalien voraus.“30 Russell diagnostiziert ein Ungleichgewicht der philosophischen Betrachtung und Anerkennung von Universalien, die durch Substantive oder Adjektive ausgedrückt werden auf der einen, und solchen, die durch Verben und Präpositionen ausgedrückt werden auf der anderen Seite. Dadurch, dass vor allem letzteren in der Philosophie kaum Beachtung geschenkt worden sei, seien die Bedeutungen von Beziehungsgeschehen schlechthin – etwa im Monismus Spinozistischer oder im Monadismus Leibniz’scher Färbung –31 vernachlässigt oder 27 28 29 30 31

Vgl. aaO., 63–80. AaO., 79 f. AaO., 82 f. AaO., 83. Vgl. aaO., 84.

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zuweilen ganz geleugnet worden. Universalien, die Relationen im Gegensatz zu Qualitäten ausdrücken, verdeutlichen dabei besonders das Problem der Seinsart aller Universalien: Man kann nicht von ihnen sagen, sie existierten, aber gleichzeitig trifft auch die Vermutung nicht zu, sie seien bloße Konstruktionen des Denkens und würden gleichsam ,im Denken‘ existieren. Zwar könnte es naheliegen, den Universalien eine gewisse geistige ,Existenz‘, die von einer realen verschieden wäre, zuzusprechen und sie im Denken selbst zu ,verorten‘.32 Allein, dadurch würde der universale Charakter der Universalien aufgehoben, da jeder Denkakt eng mit dem Individuum verknüpft und selbst individuell ist. Sie sind selbst keine Gedanken, sondern Gegenstand des Denkens. Russell verdeutlicht dies am Beispiel des Satzes „Edinburgh liegt nördlich von London“. Dass dies eine Tatsache ist, gilt unabhängig davon, ob sie erkannt resp. gedacht wird; ihr Bewusstsein fügt der Tatsache nichts hinzu. Sowohl die konkreten Städte als auch das Universale „nördlich von“ sind Bestandteile einer „Welt“, „die das Denken zwar erfaßt, aber nicht erschafft. Dieser Folgerung steht jedoch der Umstand im Wege, daß die Beziehung ,nördlich von‘ nicht in demselben Sinne zu existieren scheint wie die Städte Edinburgh und London. Wenn wir fragen ,Wann und wo existiert diese Beziehung?‘, dann müssen wir antworten ,Niemals und nirgendwo!‘ Es gibt keinen Zeitpunkt und keinen Ort, wo wir die Beziehung ,nördlich von‘ finden könnten. […] Nun existiert aber alles, was uns durch die Sinne oder durch Introspektion zugänglich ist, während eines ganz bestimmten, angebbaren Zeitabschnitts. Und deshalb ist die Beziehung ,nördlich von‘ von solchen Dingen radikal unterschieden. Sie ist weder in Raum und Zeit, noch ist sie materiell oder bewußtseinshaft, und doch ist sie etwas.“33

Es ist auch hier die Zeitlichkeit – d. h. bei Russell die Möglichkeit der Bestimmung eines Zeitpunktes, an dem etwas existiert –, die die Existenz von realen Gegenständen, von Gedanken, auch von Gefühlen begründet. Entscheidender noch ist, dass Universalien unabhängig von Zeitlichkeit sind: „Universalien existieren nicht in diesem Sinne; wir werden stattdessen besser sagen, daß sie subsistieren oder Sein haben, wobei ,Sein‘ im Gegensatz zu ,Existenz‘ zeitlos gemeint ist.“34 ,Tatsachen‘ wie Beziehungsverhältnisse sind es auch, die für Russell jeder Erkenntnis von Wahrheit zugrunde liegen. Für seine Theorie der Wahrheit35 müssen drei Prämissen gelten: Sie muss das Gegenteil der Wahrheit – die Falschheit – berücksichtigen und Wahrheit und Falschheit als Eigenschaften von Meinungen [beliefs] ausweisen. Wahrheit oder Falschheit beziehen sich in diesem Sinne sowohl originär auf das Bewusstsein [mind], das diese hat, weil 32 33 34 35

Vgl. etwa die Kritik daran bei Russell aaO., 35–42. AaO., 87. AaO., 88. Vgl. aaO., 107 f. und 110.

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es in einer reinen Welt der Dinge kein ,wahr‘ oder ,falsch‘ gibt. Gleichzeitig aber beziehen sie sich prospektiv auf die Dinge bzw. Gegenstände, die sie betreffen. Russells präzise Definition: „Also ist das Urteil [belief], daß zwei Terme eine gewisse Beziehung R zueinander haben, eine Beziehung des Geistes [mind; FH] zu den zwei Termen, die durch die Beziehung R mit demselben Sinn verbunden sind.“36 Um zu gewährleisten, dass es zwar nur im Bewusstsein eines Subjektes Urteile gibt, dieses zugleich aber nicht Garant für die Natur oder die Kriterien von Wahrheit und Falschheit sein kann, faltet Russell die klassische wahrheitstheoretische Korrespondenztheorie (veritas est adaequatio rei et intellectus) in eine Kette mehrerer Objekte und ihre Beziehung zueinander auf, wobei letztere als Universalie entscheidend ist: „Ein Bewußtsein, das etwas glaubt, hat recht, wenn es einen korrespondierenden Komplex gibt, der das Bewußtsein selbst nicht einschließt, sondern nur seine Gegenstände. Diese Korrespondenz, dieses Entsprechen, garantiert die Wahrheit, und wenn es fehlt, folgt daraus die Falschheit unserer Meinung.“37 Russells Wahrheitstheorie bezieht also neben der Korrespondenz der einzelnen Gegenstände mit ihrer gedanklichen Erfassung noch die Relation der einzelnen Gegenstände miteinander und die Art und Weise der Relation mit ein. An einem einfachen Beispiel logischer Natur verdeutlicht:38 Wenn Person A urteilt, dass Person B und Person C einander lieben, soll ,lieben‘ als Objekt D (der Einfachheit halber überspringe ich in diesem Beispielsatz Objekt E: ,einander‘) in dieser Kette gelten, das gleichzeitig den Garant für die Wahrheit des Urteils bildet. Es genügt dabei nicht, dass A und B; A und C; A und D (oder irgendeine andere denkbare duale Kombination) eine Beziehung zueinander haben (es genügt also nicht, dass A B und C bekannt sind oder A selbst ,liebt‘ o. ä.), damit das Urteil A’s wahr wird, sondern es kommt auf die Entsprechung aller Beziehungen zueinander und auf die Beziehung in der Universale des Verbs an: Ist es tatsächlich so, dass (A B und C kennt und selbst liebt und schließlich und vor allem) B und C einander lieben, ist das Urteil wahr, im anderen Falle falsch.39 3.2.3 Edmund Husserl und die Intention des Sinns Edmund Husserl und die von ihm begründete Phänomenologie hat großen Anteil an den Entstehungsprozessen der strukturalen Sprachphilosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wenn er sich auch in wesentlichen Punkten begrifflich für einen anderen Weg entscheidet. Neben den Relationen der 36 Bertrand Russell, Über die Natur von Wahrheit und Falschheit (1910), in: Bertrand Russell (Hrsg.), Philosophische und politische Aufsätze, Stuttgart 2009 [1971], 99–113, 112. 37 Ders., Probleme der Philosophie, 114. 38 Vgl. auch ders., Über die Natur von Wahrheit und Falschheit (1910), 106. 39 Russell bemüht in „Probleme der Philosophie“ passim das komplexere Beispiel der Liebe Desdemonas zu Cassio in Othellos Urteil; vgl. auch aaO., 109.

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Sinnglieder entscheidend an der phänomenologischen Weichenstellung ist die (epistemo)logische Frage nach der Richtung der Erkenntnis von Sinn – nach der „Intention“, die hier noch angedeutet mitbedacht werden soll. Deleuze bemerkt in seiner ihm eigenen Lektüre der zentralen Begriffe der (frühen) Phänomenologie Edmund Husserls in der „Logik des Sinns“, dass Husserl grundsätzlich die Begriffe „Ausdruck“ und „Noema“ ganz ähnlich seinem „Sinn“-Begriff verwende. Auch für Husserl (wie auch für Frege und Russell) war im Zuge der um die 19. Jahrhundertwende aufkommenden logischen Kritik am sog. „Psychologismus“ deutlich, dass zwischen dem Erkenntnisakt und dem Erkenntnisobjekt unterschieden werden müsse und die Welt des Erkennbaren unabhängig von subjektivem Bewusstsein existiert: „Wenn er beispielsweise das ,Wahrnehmungsnoema‘ oder den ,Wahrnehmungssinn‘ untersucht, unterscheidet er sie zugleich vom physischen Objekt, vom psychologisch Erlebten, von den mentalen Vorstellungen und von den logischen Begriffen. […] Der wirkliche Baum (der bezeichnete) kann verbrennen, Subjekt oder Objekt von Aktion sein, in Mischungen eintreten; nicht aber das Baum-Noema. Es gibt viele Noema oder Sinnbedeutungen für ein und dasselbe Bezeichnete: Abendstern und Morgenstern sind zwei Noema, d. h. zwei Arten und Weisen, wie ein und dasselbe Bezeichnete in den Ausdrücken erscheint“ [LS 39].

Aber auch Husserl leugnet nicht, dass zwischen Erkenntnisakt und Erkenntnisgegenstand eine Verbindung besteht, auch wenn beide voneinander logisch strikt getrennt sein sollten. Um diese Verbindung nachzuvollziehen, führt Husserl im zweiten Teil seiner „Logischen Untersuchungen“ den Begriff der „Intentionalität“ und in den „Ideen I“ die Begriffe „Noesis“ und „Noema“ ein, die im Folgenden aufgrund der gedanklichen Parallelität zum schon Gesagten nur noch kurz umrissen werden sollen.40 Jeder Bewusstseins- oder Erkenntnisakt (Husserl spricht von „Erlebnissen“) richtet sich auf etwas, kann nicht ziellos oder abstrakt sein, und ist damit intentional (man liebt oder hasst jemanden; man sieht oder schmeckt etwas usw.). Die Intentionalität richtet sich auf intentionale Gegenstände, d. h. nicht auf psychische als Gedankenkonstrukte, sondern auf wirkliche Gegenstände der kognitiven Zielrichtung. Dabei ist Intentionalität nicht einseitig ,objektivistisch‘ misszuverstehen: Ob der Gegenstand, auf den sich der kognitive Akt bezieht, existiert oder nicht („Tische“ und „Stühle“, „runde Vierecke“ und „Einhörner“, bei Husserl der Gott ,Jupiter‘41), ob er zukünftig oder vergangen 40 Etwa auf die für die Husserlforschung wichtige Frage wiederum der Interpretation des Noemas als das eigentlich Gemeinte im Bewusstseinsakt oder zwischen dem eigentlich Gemeinten vermittelnd Dazwischentretende, also zwischen einer Interpretation eng an Gottlob Frege und einer von diesem losgelösten, kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. zu dieser sog. „NoemaDiskussion“ grundlegend Dan Zahavi, Husserls Phänomenologie, Tübingen 2009, 60–64. Da Deleuze offensichtlich der Fregeschen Interpretation zuneigt, soll es genügen, im Folgenden nur diese zu umreißen. 41 Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Dordrecht 1984, 386.

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ist („die bevorstehende Hochzeit“ und „die Geburt des ersten Sohns“), ist für Husserl unerheblich, weil das Denken selbst nicht von seinem Gegenstand geprägt oder hervorgerufen wird, zumal auch das Bewusstsein von etwas Nicht-existentem oder Zukünftigem ein Bewusstsein von „etwas“ ist. Gleichzeitig gilt es, das einseitig-,subjektivistische‘ Missverständnis zu vermeiden, als sei die Erkenntnis etwa eines nicht-existenten Gegenstandes nur Teil der Psyche und als bestünde also kein Unterschied zwischen Bewusstsein und Gegenstand: „Aber leben wir sozusagen im betreffenden Akte, gehen wir z. B. in einem wahrnehmenden Betrachten eines erscheinenden Vorganges auf oder im Spiele der Phantasie, in der Lektüre eines Märchens, im Vollzuge eines mathematischen Beweises u. dgl., so ist von dem Ich als Beziehungspunkt der vollzogenen Akte nichts zu merken. Die Ichvorstellung mag ,in Bereitschafft‘ sein, sich mit besonderer Leichtigkeit hervordrängen oder vielmehr sich neu vollziehen; aber nur wenn sie sich wirklich vollzieht und sich in eins mit dem betreffenden Akte setzt, beziehen ,wir‘ ,uns‘ so auf den Gegenstand, daß diesem sich Beziehen des Ich etwas deskriptiv Aufzeigbares entspricht. Was dann deskriptiv im wirklichen Erleben vorliegt, ist ein entsprechend zusammengesetzter Akt, der die Ichvorstellung als einen und das jeweilige Vorstellen, Urteilen, Wünschen usw. der betreffenden Sache als zweiten Teil in sich enthält.“42

Unterschieden werden muss fernerhin zwischen dem „reellen“ (resp. „immanenten“) Inhalt des Denkaktes und dem intentionalen („transzendenten“) Gegenstand, aus zwei Gründen: Einerseits zeigt sich jeder Gegenstand dem Bewusstsein immer nur aus einer bestimmten Perspektive und nie in Gänze; andererseits gibt es nahezu unendlich viele verschiedene Intentionen (Urteilen, Lieben, Fühlen, Wünschen etc.), die sich auf Gegenstände des Bewusstseins beziehen können:43 „In Beziehung auf den als Gegenstand des Aktes verstandenen intentionalen Inhalt ist folgendes zu unterscheiden: d e r G e g e n s t a n d , s o w i e e r i n t e n d i e r t ist, und schlechthin der G e g e n s t a n d , w e l c h e r intendiert ist.“44 In den „Ideen I“ erweitert Husserl diese Terminologie, um dieser Doppeltheit der Erkenntnis hinsichtlich ihrer Form und ihres Inhalts Rechenschaft zu tragen, und spricht nun einerseits von sinnlichen Erlebnissen „wie Farbendaten, Tastdaten, Tondaten u. dgl.“ und andererseits von Erlebnissen, die „das Spezifische der Intentionalität in sich tragen“, d. h. jener Art und Weise, „durch die aus dem S e n s u e l l e n , d a s i n s i c h n i c h t s v o n I n t e n t i o n a l i t ä t h a t , eben das konkrete intentionale Erlebnis zustande 42 AaO., 390. 43 Etwa: ,Der reale Baum, den ich sehe, ist nicht der ideale Baum oder der Baum selbst: Schon im Winter nehme ich ihn anders wahr als im Sommer‘ / ,A liebte B noch vor einem halben Jahr, heute hasst A B‘ etc. 44 Husserl, Hua 19, 414.

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kommt“45 – bzw. von „ s e n s u e l l e r v k g u n d i n t e n t i o n a l e r l o q v ^ “46. Die Vermittlungsinstanz des Übergangs der sinnlichen Wahrnehmung hin zur Wahrnehmung des intentionalen Gegenstandes ist bei Husserl der „Sinn“ oder genauer: die „Noesis“: „Was die Stoffe zu intentionalen Erlebnissen formt und das Spezifische der Intentionalität hereinbringt, ist eben dasselbe wie das, was der Rede vom Bewußtsein seinen spezifischen Sinn gibt: wonach das Bewußtsein eo ipso auf etwas hindeutet, wovon es Bewußtsein ist. Da nun die Rede von Bewußtseinsmomenten, Bewußtheiten und allen ähnlichen Bildungen, und desgleichen die Rede von intentionalen Momenten durch vielfältige und im weiteren deutlich hervortretende Äquivokationen ganz unbrauchbar ist, führen wir den Terminus n o e t i s c h e s M o m e n t oder, kürzer gefaßt, N o e s e ein. Diese Noesen machen das Spezifische des N u s i m w e i t e s t e n S i n n e des Wortes aus […]. Zugleich ist es nicht unwillkommen, daß das Wort Nus an eine seiner ausgezeichneten Bedeutungen, nämlich eben an ,S i n n ‘ erinnert“47.

Die vermittels der Noesis hervorgebrachte Erfahrung ist das Noema, d. h. der Gegenstand, so wie er intendiert ist (nicht: der intendierte Gegenstand). In Husserls „Unterscheidung zwischen r e e l l e n K o m p o n e n t e n der intentionalen Erlebnisse und ihren i n t e n t i o n a l e n K o r r e l a t e n “48 eignet nur den letzteren als noetischen Momenten49 recht eigentlich „Sinn“ als ihrem „ , n o e m a t i s c h e n G e h a l t ‘ , oder kurzweg , N o e m a ‘ […]: „Die Wahrnehmung z. B. hat ihr Noema, zu unterst ihren Wahrnehmungssinn, d. h. das Wa h r g e n o m m e n e a l s s o l c h e s . Ebenso hat die jeweilige Erinnerung ihr E r i n n e r t e s a l s s o l c h e s eben als das ihre, genau wie es in ihr ,Gemeintes‘, ,Bewußtes‘ ist; wieder das Urteilen das G e u r t e i l t e [ a l s ] s o l c h e s , das Gefallen das Gefallende als solches usw. Überall ist das noematische Korrelat, das hier (in sehr erweiterter Bedeutung) ,Sinn‘ heißt, g e n a u s o zu nehmen, wie es im Erlebnis der Wahrnehmung des Urteils, des Gefallens usw. ,immanent‘ liegt, d. h. wie es, w e n n w i r r e i n d i e s e s E r l e b n i s s e l b s t b e f r a g e n , uns von ihm dargeboten wird.“50

Es ist für das „als solches“ dabei unerheblich, ob es existiert oder es sich dabei um eine Illusion handelt: Husserl klammert vermittels seines phänomenologischen Verfahrens der 1pow¶ „die“ Wirklichkeit aus, zu der es ohne ihre 45 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und Phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch, Tübingen 1950, 208. 46 AaO., 209. 47 AaO., 210. 48 AaO., 218. 49 Vgl. aaO.: „Solche noetischen Momente sind z. B. […] Leistungen des Explizierens, des Beziehens, des Zusammengreifens, der mannigfachen Stellungnahmen des Glaubens, Vermutens, des Wertens usw.“. 50 AaO., 220.

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Wahrnehmung auch keinen Zugang gibt: „Auch das phänomenologisch reduzierte Wahrnehmungserlebnis ist Wahrnehmung“51: „In unserer phänomenologischen Einstellung können und müssen wir die Wesensfrage stellen: w a s d a s , Wa h r g e n o m m e n e a l s s o l c h e s ‘ s e i , w e l c h e We s e n s m o m e n t e e s i n s i c h s e l b s t , a l s d i e s e s Wa h r n e h m u n g s N o e m a , b e r g e . Wir erhalten die Antwort in reiner Hingabe an das wesensmäßig G e g e b e n e , wir können das ,Erscheinende als solches‘ getreu, in vollkommener Evidenz beschreiben.“52

3.2.4 Alexius Meinong und das Sein nicht-existierender ,Dinge‘ Die Erkenntnis von Sinn als eine diffizile Unterscheidung von Wahrheit und Falschheit, wie sie vor allem Russell vorgenommen hat, steht vor einem gewichtigen Problem, dem sich Russell selbst in seinem Aufsatz „Über die Natur von Wahrheit und Falschheit“ widmet: der Existenz. Geht Russell davon aus, dass es eine Welt der Tatsachen (hier: „Entitäten“) gibt, die nicht von subjektiven Meinungen oder Urteilen abhängig sind, beziehen sich diese Urteile grundsätzlich auf Objekte (mathematisch und logisch präziser hier: „Terme“53), die wiederum unabhängig davon existieren, ob diese Urteile selbst ,wahr‘ oder ,falsch‘ sind: „Wir haben die Empfindung, daß bei einem wahren Urteil eine diesem irgendwie ,entsprechende‘ Entität j außerhalb des Urteils zu finden ist, daß es dagegen bei einem falschen Urteil keine solche ,entsprechende‘ Entität gibt.“54 Russell greift (wenn auch kritisch), um das Gegenteil dieser Empfindung zu beweisen, auf den Begriff „Objektive“ von Alexius Meinong zurück –55 dem ein abschließender Exkurs gewidmet sein soll, um die Frage der Existenz als Nicht-Existenz, genauer: der Subsistenz des Sinns als Ereignis bei Deleuze näherzukommen. Wo „Sinn“ und „Wahrheit“ als semantische Relativa miteinander korrespondieren, droht die Frage nach dem Sein des im Sinn Bezeichneten randständig zu werden. Demgegenüber hebt Meinong, der Begründer der „Gegenstandstheorie“, auf die Bedeutung einer diffizilen ontologischen Unterscheidung ab, die es ermöglicht, über „Existenz“ als das Solitär-Attribut herkömmlich-ontologischer Zugangsversuche zu abstrakten Gegenständen hinaus eine Ordnung zu denken, die sich nicht im Gegenteil von „Nicht51 AaO., 221. 52 Ebd. 53 Vgl. Russell, Über die Natur von Wahrheit und Falschheit (1910), 106: „Nach dieser Auffassung ist das Urteil [belief; FH] also eine Beziehung des Geistes [mind; FH] zu mehreren anderen Termen: wenn diese Terme untereinander eine ,korrespondierende‘ Beziehung haben, ist das Urteil wahr, wenn nicht, ist es falsch.“ 54 AaO., 104 f. 55 Vgl. ders., Probleme der Philosophie, 103: „In der Annahme, es gebe solche Gegenstände, wollen wir sie nach Meinong ,Objektive‘ nennen.“

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Existenz“ erschöpft, sondern über den Begriff der „Subsistenz“ logisch herleitet, warum es etwas, das es „nicht gibt“, gleichwohl ,gibt‘. Meinong unterscheidet in Russell vergleichbarer Weise zwischen einfachen „Vorstellungen“ und komplexeren „Urteilen“, näherhin „Vorstellungsgegenstände“ von „Denkgegenständen“, um dem Umstand gerecht zu werden, dass es so etwas wie negative Gegenstände bzw. genauer: „heimatlose“ resp. „unmögliche Gegenstände“56 gibt und welcher Art ihr ,Sein‘ ist. Im Falle der Vorstellung handelt es sich bei Meinong um einen psychischen Vorgang, der ein Objekt im wörtlichen Sinne ,vor-stellt‘ und damit zum Objekt macht. Damit allerdings über die Beschaffenheit dieses Objektes Aussagen gemacht werden können, bedarf es eines komplexeren Gedankenganges, des „Urteils“ oder der „Meinung“ – und erst hier betritt man den Bereich der Erkenntnistheorie, deren Gegenstand die Erkenntnis (nicht des Erkennens) ist – „denn ,bloßes Vorstellen‘, wie immer zu Stande gekommen, ist eben noch keine Erkenntnis- oder auch nur Urtheilsleistung.“57 Meinongs Grundthese – „es gibt Gegenstände, von denen gilt, daß es dergleichen Gegenstände nicht gibt; und die aller Welt so geläufige Tatsache, die damit gemeint ist, wirft ein so helles Licht auf das Verhältnis der Gegenstände zur Wirklichkeit resp. zum Sein überhaupt, daß ein etwas näheres Eingehen auf die auch an sich fundamental wichtige Sache ganz und gar in den gegenwärtigen Zusammenhang gehört“58 – ist dabei auf den ersten Blick herausfordernd. Unmittelbar einleuchtend ist eine gewisse Existenz nicht-existierender ,Gegenstände‘ zunächst in der Mathematik, etwa bei der Zahl Null (bzw. dem von ihr bezeichneten Gegenstand): Ihr Sein ist zugleich ihr Nichtsein.59 Komplexer gestaltet sich der Sachverhalt bei paradoxen objektiven Gegenständen der subjektiven Erkenntnis wie dem ,perpetuum mobile‘ oder einem ,runden Viereck‘. Zu diesem Zweck führt Meinong die terminologische Unterscheidung zwischen dem Objekt und dem Objektiv innerhalb eines Urteilsaktes – besser: jedes Denk- und Erkenntnisaktes – ein, die er grundlegend im siebten Kapitel seiner frühen analytischen Arbeit „Über Annahmen“ (1902) definiert: Jedes Urteil hat neben dem konkreten Gegenstand des Urteils einen weiteren Gegenstand, der es als Urteil begründet – das „Objektiv“ – , weil er über die Qualität der Wahrheit oder Falschheit des Urteils Auskunft gibt (was bei der simplen Vorstellung im engeren Sinne unnötig ist: Vorgestellte Gegenstände „sind“ entweder oder nicht, aber sie sind nicht „wahr“ oder „falsch“). Sprachlich drückt sich dieses Objektiv in einem Satz meist mit einem durch die Konjunktion „dass“ eingeleiteten Nebensatz aus, und dieser Erkenntnis entspricht eine einfache Formel: Die Erkenntnis: „A ist“ 56 Vgl. Alexius Meinong, Über die Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften, Leipzig 1907, 8–27 resp. 14–27. 57 Alexius Meinong, Über Annahmen, Leipzig 1902, 162. 58 Alexius Meinong, Über Gegenstandstheorie; Selbstdarstellung, Hamburg 1988, 9. 59 Vgl. ders., Über die Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften, 19.

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hat „A“ zum Objekt und „dass A ist“ zum Objektiv. Das ist im Falle von affirmativer Erkenntnis ohne weiteres nachvollziehbar: „Schaue ich auf die beschneite Straße und urteile daraufhin: ,es giebt Schnee draußen‘, so ist ,Schnee‘ der Gegenstand dieser Erkenntnis, daneben aber ,daß es Schnee giebt‘ deren Objectiv“60. Komplizierter, allerdings auch gewinnbringender, wird dieses Schema im Falle negativer Erkenntnis der Form „A ist nicht“ und deren Objektiv „dass A nicht ist“, denn allein dieses Nichtsein ist ja doch „etwas“. Wiederum am Beispiel: „Sagt man z. B. in Bezug auf eine Parlamentswahl, der eine heftige Agitation vorangegangen ist, es sei keine Ruhestörung vorgefallen, so wird fürs Erste sicher j niemand in Abrede stellen, daß, falls es mit dem vorliegenden Urtheile seine Richtigkeit hat, durch dasselbe ,etwas‘ erkannt ist. Aber immerhin könnte man zunächst meinen, dieses ,etwas‘ werde nichts Anderes sein als der Urtheilsgegenstand ,Ruhestörung‘ […]. Wird aber ein natürlich Redender sagen, eine Ruhestörung sei erkannt worden, wenn es sich gerade um die Erkenntnis der Thatsache handelt, daß eben n i c h t s Derartiges geschehen ist? […] [N]icht ein B e urtheiltes hat er dabei im Auge, sondern, wenn man so sagen darf, etwas E r urtheiltes, das in seiner Weise positiven Charakter hat trotz der negativen Qualität des in Frage kommenden Urtheils.“61

Zeigt sich die eigentümliche Positivität negativer Urteile besonders in solcherart meta-affirmativer Erkenntnis (,es ist eine Tatsache, dass keine Ruhestörung stattfand‘), liegt es Meinong also daran, „im Interesse der Deutlichkeit, ja, wie sich zeigen wird, geradezu im Interesse unentbehrlichster Correctheit“, diese terminologische Unterscheidung einzuführen, um der Gegenständlichkeit dieses „etwas“ gerecht zu werden. Das bedeutet weiterführend, dass im engeren Sinne die Eigenschaft der Objektivität nur den Objektiven („dass Schnee liegt“) eignet, wohingegen für Objekte („Schnee“) der etwas sperrige Begriff „Objektität“ eingeführt werden sollte: „das negative Urtheil hat nicht nur sein Object, sondern auch sein Objectiv, und insofern kommt einem solchen Urtheil nicht nur Gegenständlichkeit der Objectität, sondern auch Objectivität zu.“62 In diesem Sinne erfasst jede Erkenntnis etwas, das nicht der Gegenstand (das Objekt [der Vorstellung]) selbst ist, „wohl aber dem betreffenden Urtheile so gegenübersteht wie der Gegenstand seiner Vorstellung“63. Die affirmative Natur der Objektive negativer Erkenntnis in Rechnung gestellt, ergibt sich eine Folge der Verkettung von Objekten und Objektiven, die jedes Objektiv zum Gegenstand, d. h. Objekt eines ihm entsprechenden Objektivs machen: „Man kann nun an unserem Formelbeispiele leicht erkennen, wie in den hierhergehörigen Fällen das Objectiv, indem es zugleich 60 61 62 63

Vgl. ders., Über Annahmen, 153. AaO., 150 f. AaO., 153. AaO., 162.

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Denkgegenstand ist [d. h. Ergebnis einer intellektuellen, kognitiven Betrachtung von Relationen; FH], in eigenthümlicher Weise gleichsam j zwischen zwei Urtheile gestellt erscheint, indes gleichzeitig, ja in gewissem Sinne bereits früher, nämlich schon ehe das Objectiv selbst wieder beurtheilt wird, das Urtheil zwischen zwei gegenständliche Thatbestände, ein Object und ein Objectiv, bei Beurtheilung des Objectivs selbst aber zwischen zwei Objective zu stehen kommt.“64 Zur Veranschaulichung eignen sich erneut Formeln:65 Jede Erkenntnis eines Objekts kann negativer oder affirmativer Art sein, wofür „O“ als Objekt und + die positive, – die negative Erkenntnis bezeichnen sollen: O . Darüber kann wiederum affirmativ oder negativ geurteilt werden: (O ) . Dass darüber geurteilt wird, d. h. dass etwas erkannt wird (sei die Erkenntnis wahr oder falsch), sei mit E(1) für Erkenntnis ausgedrückt und ist seinerseits ein Objektiv des erkannten Objekts, formelhaft O‘. Auch dieses Objektiv vermag erkannt zu werden und sei mit E2 bezeichnet. Das ergibt als Formel (O ) E1 (O‘ ) E2. Trägt man dem Umstand noch genauer Rechnung, dass die auf die erste folgende Erkenntnis das erste Objektiv wiederum zum Objekt des nächsten Objektivs macht, gestaltet sich die Formel wie folgt: (O

) 1 E1 (O’ ) E2 fl (O ) 2 E2 [usw. …]

Diese Eigenschaft der Erkenntnis berührt wiederum den schon bei Russell augenfälligen Stellenwert der Relationen, die sich allein in einem vollständigen Satz ausdrücken. Dass Objektive sich bestenfalls in „dass“-Sätzen (aber auch in Infinitiven oder Verben im Konjunktiv) ausdrücken, ist dem Umstand geschuldet, dass eine sprachlich äquivalente Transformationsleistung in EinWort-Konstruktionen nicht in jedem Fall streng denkbar ist: Zwar kann man Urteilssätze der Form „Ich vermute, dass es ein Unglück gibt“ derart umstellen, dass sie schlicht „Ich vermute ein Unglück“ bedeuteten. Allerdings lässt sich auf diese Weise kein Unterschied der affirmativen oder negativen Qualität des Urteils ausmachen, da hier doch nur der Gegenstand des Urteils affirmiert werden soll und u. U. eben gerade nicht wird. Zudem erschöpft sich die Darstellbarkeit von Objektiven nicht in „dass-Sätzen“, sondern sie drücken sich ebenso in Abstrakta und in Relationen aus, wofür Meinongs Unterscheidung zwischen „Vorstellungsgegenständen“ und „Denkgegenständen“ hier erneut zum Tragen kommt, d. h. der Unterscheidung zwischen einfachen (Tisch/Rechteck/Buch etc.) und komplexen (dieser Tisch ist rechteckig/auf diesem Tisch liegt ein Buch etc.) Erkenntnisakten: 64 AaO., 164 f. 65 Es folgt eine Präzisierung und Vereinfachung der Darstellung aaO., 164–168.

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„Sieht man von den wenigen Fällen ab, wo wirklich Einfaches vorliegt, so wird man nur in Fällen voller Anschaulichkeit mit bloßem Vorstellen sein Auslangen finden können, und zwar streng genommen bereits nicht ohne eine gewisse Ungenauigkeit. Denn […] durch die anschauliche Vorstellung [wird] die betreffende gegenständliche Complexion eigentlich noch nicht erfaßt, sie ist aber der eindeutige VorstellungsRepräsentant dieser Complexion, der sonach die unter Zusammenwirken von Vorstellen und Denken zu Stande kommende Conception normalerweise wohl ohne jeden Schaden ersetzen kann. Das ändert aber natürlich nichts daran, daß der betreffende Gegenstand seiner Natur nach ein Denkgegenstand, also ein Objectiv ist, oder mindestens einem wesentlichen Theile nach durch ein solches mitausgemacht wird.“66

Diese Komplexität zeigt sich deutlich in Formelfällen, die eine Relation R zwischen zwei Gegenständen A und B ausdrücken: Zwar ließe sich auch der Satz „Ich bestreite nicht, dass Gelb von Grün verschieden ist“ (analog: „… dass die Tafel schwarz ist“ etc.) umformulieren in „Ich bestreite nicht die Verschiedenheit zwischen Gelb und Grün“ (analog: „das Schwarz-Sein der Tafel“ etc.). Allerdings vermischt man hier Objektive mit Objekten, mithin Denkgegenstände und Vorstellungsgegenstände, weil die Relation selbst als Objektiv und damit Denkgegenstand berücksichtigt werden muss. Verdeutlicht am Beispiel der Verschiedenheit zweier Farben, „allgemein der Relation R zwischen A und B: Daß hier R so gut Gegenstand ist wie etwa A oder B, wird nicht wohl einem Zweifel unterliegen; aber es handelt sich nicht um R allein, sondern um R bezogen auf seine Glieder A und B, und es ist in früherem Zusammenhange j bereits festgestellt worden, daß diese Verbindung durch das Vorstellen allein nicht zu stiften ist, daß dazu vielmehr die Mithülfe des Urtheils oder der Annahme in Anspruch genommen werden muß. Daraus folgt aber dann unmittelbar, daß ,R zwischen A und B‘ gar kein Vorstellungsgegenstand, daher, wenn es doch ein Gegenstand ist, nur ein Denkgegenstand sein kann.“67

In der Konsequenz drücken somit alle sprachlichen Äußerungen in Satzform Objektive aus, da sich jeder vermeintlich einfache Vorstellungsgegenstand in einer Relation zu einem anderen befindet: „[W]er etwa von Schwärze der Tafel redet, meint jenen Gegenstand wieder nicht in seiner Isolirtheit sondern in einer, hier in der Regel nicht nahmhaft gemachten Relation, etwa Identität mit dem Gegenstande Tafel. Das ist also wieder eine jener gegenständlichen Verbindungen, wie sie durch bloßes Vorstellen ohne Unterstützung durch das Denken nicht zu Stande zu bringen sind. Darum ist auch ,Schwärze der Tafel‘ im Ganzen nicht Vorstellungs- sondern Denkgegenstand, indeß das Wort ,schwarz‘, j zunächst solange es einer Declination nicht unterworfen wird, für den 66 AaO., 180. 67 AaO., 178 f.

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vorgegebenen Vorstellungsgegenstand ganz wohl anzuwenden sein mag. Declinirt bedeutet ,das Schwarze‘ oder dgl. natürlich wieder so viel wie ,das Schwarz-seiende‘, womit man dann neuerlich in das Gebiet der Objective übergegangen ist.“68

Dieses Gebiet der Objektive stellt eine Seins-Ebene dar, die nicht im allgemeinen Begriff der Existenz dergestalt aufgeht, wie das für Objekte gesagt werden kann: Ein „Tisch“ existiert, aber welcher Art ist das Sein von „Der Tisch ist rechteckig“? Für diese Komplexität spricht Meinong von Objektiven als „Gegenstände höherer Ordnung“, denen eine „Pseudoexistenz“ innerhalb der beiden Polen „Dasein“ und „Bestand“ zukommt. Wenn gilt, dass jede Vorstellung einen Gegenstand hat, auf den sie sich richtet, stellt sich bei immanenten Objekten, die im Gegensatz zu transzendenten Objekten kein reales Sein in der vom Bewusstsein verschiedenen Außenwelt haben, die Schwierigkeit, wie deren Existenz zu bestimmen ist, denn dass vorgestellte irreale Gegenstände in der Vorstellung existieren, bedeutet noch nicht ihre reale Existenz: „Das ,in der Vorstellung Existiren‘ ist eben genau genommen gar kein Existiren […]. [S]o wird es zur Vermeidung vieler Mißverständnisse dienlich sein, festzuhalten, daß diese angebliche Existenz höchstens als eine P s e u d o - E x i s t e n z bezeichnet zu j werden verdient.“69 Bedeutet dies nun, dass Gegenstand und Inhalt der Vorstellung hinsichtlich ihrer Existenz nicht identisch sind, gilt dennoch, dass Vorstellungen einen Inhalt haben, der sich vom Gegenstand unterscheidet, und zwar vermöge einer Eigenschaft, die sie alle als Vorstellungen charakterisiert, so verschieden sie auch voneinander sein mögen: „[W]ie immer die Relation der Vorstellung zu ihrem Gegenstande aufzufassen sein mag, die Verschiedenheit der Gegenstände muß irgendwie auf Verschiedenheit der betreffenden Vorstellung zurückgehen. Das nun, worin Vorstellungen verschiedener Gegenstände unbeschadet ihrer Uebereinstimmung im Acte von einander verschieden sind, das ist dasjenige, was auf die Bezeichnung ,Inhalt der Vorstellung‘ Anspruch hat: dieser existiert, ist also real und gegenwärtig, natürlich auch psychisch, mag der sozusagen mit seiner Hülfe vorgestellte Gegenstand auch nichtexistierend, nicht-real, nicht-gegenwärtig, nicht-psychisch sein.“70

Gegenstände dieser Art, wie das Wort „Verschiedenheit“ sie bezeichnet, sind als „Gegenstände höherer Ordnung“ dadurch gekennzeichnet, dass sie als sog. „Superiora“ aufbauen auf den „Inferiora“, auf die sich beziehen (etwa der Superius „Verschiedenheit“ auf die Inferiora Grün und Gelb), wobei Meinong in einem strengeren Sinne genau zwei Klassen dieser Gegenstände höherer Ordnung unterscheidet: Relation und Complexion. Mit ersterer ist an Begriffe 68 AaO., 179 f. 69 Alexius Meinong, Ueber Gegenstände höherer Ordnung und deren Verhältnis zur inneren Wahrnehmung, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 182–272, 186 f. 70 AaO., 188.

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wie „Verschiedenheit“ und „Gleichheit“ gedacht, letztere meint komplexe kognitive Erfassungsakte wie die Wahrnehmung mehrerer Gegenstände und die Bestimmung ihrer konkreten Zahl.71 Am konkreten Beispiel der Existenz und der Erkenntnis von Existenz verdeutlicht Meinong dies formelhaft: „Mir ist in dieser Hinsicht vorerst nur zweierlei deutlich: Vor Allem die Thatsache, daß die Objective durchaus den Charakter von Gegenständen höherer Ordnung an sich tragen, die sich normalerweise auf Vorstellungsgegenständen als Inferioren aufbauen […]. Das Zweite […] ist die Stellung, die den Denkgegenständen in der alles Seiende umfassenden Gegensätzlichkeit von Dasein und Bestand zukommt. ,Daß A existirt‘ oder auch ,daß es nicht existirt‘, das ,besteht‘, falls das vorgegebene Urtheil mit Recht gefällt werden durfte, aber es existirt nicht sozusagen noch einmal.“72

Hier tritt eine Überschneidung mit der Frage nach der Zeitlichkeit der Art des Seins von Objektiven zutage. Objektive können sowohl notwendig als auch zufällig sein, genau so, wie die Verschiedenheit zweier Farben notwendig, ein Urteil über das Wetter („… daß es jetzt schneit“) nicht notwendig, sondern möglich ist. Entsprechend sind Objektive ,ewig‘, oder besser: zeitlos: „Mein Schreibtisch ist ein zu bestimmter Zeit existirendes Ding: daß er aber jetzt existirt, das besteht jetzt wie in alle Zukunft und Vergangenheit, obgleich es dem Wissen der vergangenen Zeiten unzugänglich war und dem der künftigen entschwunden sein wird. Es ist nicht weniger zeitlos, als daß etwa der rechte Winkel größer ist als der spitze.“73

Kann man nun von affirmativen Objektiven feststellen, dass sie Tatsachen sind vielmehr als die Objekte, die sie beinhalten („mein Schreibtisch existiert“ ist so verstanden eine Tatsache, der Schreibtisch selbst nicht), so lässt sich dies nicht ohne weiteres auf negative Objektive übertragen, „da ja die in Rede stehende Thatsächlichkeit wenigstens denjenigen Objectiven nicht mehr zugeschrieben werden kann, die den Gegenstand einer berechtigten Seinsnegation abgeben können. Das Objectiv, ,daß es ein Perpetuum mobile giebt‘, ist eben keine Thatsache.“74 Dieser Umstand betrifft die speziellen Eigenschaften (neben der allgemeinen von „Bestand“ im Gegensatz zum „Dasein“) von Objektiven: „An Objectiven giebt es, so viel ich sehe, im Grunde nur zweierlei […], nämlich die beiden Fälle: ,daß A ist‘ und ,daß A B ist‘ oder, wie man dafür kürzer und wohl auch 71 Vgl. aaO., 191 f.: „Gilt es z. B. den Gegenstand ,vier Nüsse‘ vorzustellen, so ist das sicher nicht schon dadurch geleistet, daß in meiner Wahrnehmung oder Einbildung an den Orten a, b, c, d meines Gesichtsfeldes je eine Nuß erscheint, es ist […] j kein objectives Collectiv aus vorgestellten Nüssen, sondern noch etwas dazu, das Ergebnis einer Zählung oder sonst einer ,colligierenden‘ Thätigkeit, und zwar ein gegenständliches Ergebnis, das sich auf den Nußvorstellungs-Gegenständen als Gegenstand höherer Ordnung aufbaut.“ 72 Ders., Über Annahmen, 187. 73 AaO., 189. 74 AaO., 190.

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immer noch verständlich sagen könnte: Sein und Sosein, – die contradictorischen Gegentheile, Nicht-Sein und Nicht-Sosein natürlich mitgerechnet. Beim Sein ist dann […] Dasein und Existenz dem Bestande gegenüberzustellen, so daß man im Ganzen auch dreierlei Objective: Dasein, Bestand und Sosein unterscheiden könnte. Überall steht dem Affirmationsobjectiv das entsprechende Negationsobjectiv zur Seite.“75

In Fällen logischer Erkenntnis, in denen Eigenschaften eines Gegenstandes einander gemäß der Regel tertium non datur ausschließen, entfaltet sich die Theorie des Seins von nicht-existierenden Objektiven dabei exemplarisch anhand des berühmten „runden Vierecks“: „Rund und Viereckig nennt man freilich unverträglich, wird jedoch kaum Bedenken tragen, darin einen abgekürzten Ausdruck etwa dafür anzuerkennen, es sei unverträglich, daß etwas rund und daß dasselbe auch viereckig sei“76. Es findet hier also wieder eine sprachliche Transformationsleistung der abstrakten Adjektive in „dass-Sätze“ statt, die das runde Viereck als einen Relations- und Denkgegenstand ausweisen. Das Sosein und das nicht-existierende Sein eines Gegenstandes und der existente Inhalt dieser Vorstellung sind voneinander verschieden, obwohl sie im Denkakt synthetisch zusammengeführt werden (so wie man sich einen braunen Tisch vorstellen kann, neben dem „Tisch“ aber auch isoliert die Farbe „Braun“). M.a.W.: Es gibt für Meinong einen erkenntnistheoretischen Primat des Soseins vor dem Sein (bzw. ein ,Vorurteil zugunsten des Wirklichen‘): Die Vermutung, „die Existenz könne nicht nur durch den Bestand ersetzt werden, sondern müsse es auch, wo keine Existenz vorliegt“, ist für Meinong unhaltbar: „die Figuren, von denen die Geometrie handelt, existieren nicht, wie wir wissen; dennoch sind ihre Eigenschaften, also wohl ihr Sosein, festzustellen. Ohne Zweifel wird auf dem Gebiete des bloß a posterio-jrie Erkennbaren eine Soseinsbehauptung sich gar nicht legitimieren können, wenn sie nicht auf Wissen von einem Sein gegründet ist. […] Das alles ändert nichts an der Tatsache, daß das Sosein eines Gegenstandes durch dessen Nichtsein sozusagen nicht mitbetroffen ist.“77 In ontologischer Konsequenz bedeutet das: „[D]aß ich an das A denken kann, ohne dessen Sein resp. Nicht-Sein in das Denken einzubeziehen, obwohl das, was mein Erkennen erfaßt, doch gerade das Sein resp. Nicht-Sein des A ist, das geht […] zunächst auf die Thatsache zurück, daß ein integrirender Theil jenes das Sein oder Nicht-Sein des A erfassenden Vorganges auch für sich auftreten kann“78, insofern das vorgestellte Objekt ein Teil des es umfassenden Objektivs ist. Oder, am Beispiel des „runden Vierecks“: „[D]as runde Viereck ist so gewiß rund als es viereckig ist.

75 76 77 78

AaO., 191. AaO., 194. Ders., Über Gegenstandstheorie, 7 f. Ders., Über Annahmen, 199.

Ereignis-Sinn

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[…] Um zu erkennen, daß es kein rundes Viereck gibt, muß ich eben über das runde Viereck urteilen.“79 Abschließend sei nur darauf hingewiesen, was Meinong selbst als eine Erwiderung auf Kritiken seiner Konzeption für nötig hielt: Beide, Objekt und Objektiv, sind nicht so zu denken, dass sie voneinander getrennt ,existierten‘ und der Erkenntnisakt sich auf einen doppelten Gegenstand bezöge, so dass einmal der Gegenstand und daneben noch einmal die Erkenntnis des Gegenstandes erkannt würden: „Wer urtheilt, erfaßt nicht den Gegenstand und a u ß e r d e m noch das Objectiv, sondern er erfaßt einfach das Objectiv und i n diesem den Gegenstand. Ihrer zwei sind darum Object und Objectiv gleichwohl, insofern das, dem in irgendeinem Sinne Verschiedenheit nachgesagt werden kann, eben auch eine Zweiheit ausmachen muß.“80 Streng genommen sollte also von beiden ob ihrer Verschiedenheit am besten als „den g e g e n s t ä n d l i c h e n M o m e n t e n […] die Rede sein.“81

3.3 Ereignis-Sinn Bei Frege begegnet der Sinn als das nicht-subjektive Gegebensein von etwas Bezeichnetem und bei Russell als Konstitution in Relationen, was Meinong weiterdenkt und dabei anhand nicht-existierender Gegenstände die Unabhängigkeit des Sinns von der individuellen Vorstellung aufzeigt; das wurde kurz anhand von Husserls „Intention“ vertieft. Bei Deleuze entfalten sich die Bedingungen des Sinn-Ausdrucks eines Satzes (post-)strukturalistisch in ein vierdimensionales Verweisgefüge, das auf den genannten Konzeptionen aufbaut und sie entscheidend erweitert, um zu zeigen, wie sich so in der Sprache das Ereignis entfaltet: „Es sind die Ereignisse, die die Sprache möglich machen. Doch ermöglichen bedeutet nicht beginnen lassen. Man beginnt stets in der Ordnung des Sprechens, doch nicht in der der Sprache, in der alles gleichzeitig gegeben sein muß, auf einen einzigen Schlag. Es gibt immer jemanden, der zu sprechen beginnt; derjenige, der spricht, ist der Manifestierende; worüber man spricht, ist das Bezeichnete; was man sagt, das sind die Bedeutungen. Das Ereignis ist nichts von all dem: Es spricht ebensowenig wie man darüber spricht oder es sagt. Und doch gehört es ganz und gar zur Sprache, sucht sie heim, so daß es nicht außerhalb der es ausdrückenden Sätze existiert. Aber es deckt sich nicht mit ihnen, das Ausgedrückte deckt sich nicht mit dem Ausdruck. Das Ereignis existiert nicht vor ihr, insistiert aber vorgängig in ihr und verschafft ihr so Grundlage und Bedingung“ [LS 226]. 79 Ders., Über Gegenstandstheorie, 8. 80 Ders., Über Annahmen, 200. 81 AaO., 201.

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3.3.1 Die Dimension(en) des Ereignisses als Sinn Zunächst betrachtet Deleuze die einzelnen Dimensionen eines Satzes analytisch unabhängig voneinander und in der Funktion ihrer Beziehung auf die epistemologischen Grundlagen des Satzes. Losgelöst voneinander ist ihr modus der des Verweises auf das Ich der Sprechenden, auf die Generierung der Bedeutung und auf das vor-gestellte Bezeichnete selbst: „Das ist ein Tisch, das ist ein Apfel, das ist ein Wachsstück, guten Tag, Theaitetos“ [DW 176]. Diese erste Beziehung des Satzes, die Bezeichnung/Indikation, „ist die Beziehung des Satzes zu einem äußeren Dingzustand (datum). […] Die Bezeichnung verfährt mittels der Assoziation eben der Wörter mit besonderen Bildern, die den Zustand von Dingen ,repräsentieren‘ sollen: Unter all jenen, die mit dem Wort, mit diesem oder jenem Wort des Satzes assoziiert werden, sind diejenigen auszuwählen, die dem gegebenen Komplex entsprechen. Die bezeichnende Intuition drückt sich also in der Form aus: ,Das ist es‘, ,Das ist es nicht‘“ [LS 29].

Wenn aber ,das‘ ein ,Tisch‘ ist, ,jenes‘ aber ein ,Stuhl‘ – was hindert den Verdacht der gedanklichen Deduktion als bloßer Behauptung, wenn es sich bei den Worten um bloße Assoziationen handelt, und die Dinge anders liegen, als vor-gestellt? Die formalen Indikatoren eines Satzes – Demonstrativpronomina und Temporalbestimmung wie dieses oder jenes, er, sie, es; heute und gestern; jetzt, aber vor allem (Eigen-)Namen82 – stehen dabei wie alle Funktionen eines Satzes in einem Verhältnis zur grammatischen Wahrheitsfrage mit den logischen Kriterien „wahr“ und „falsch“, wenn gilt: „Wahr bedeutet, daß eine Bezeichnung tatsächlich j von einem Dingzustand erfüllt wird, daß die Indikatoren verwirklicht sind oder das richtige Bild ausgewählt wurde. ,Auf alle Fälle wahr‘ bedeutet, daß die Erfüllung für die Unmenge aller mit den Wörtern assoziierbaren partikulären Bilder erfolgt, ohne daß es noch einer Auswahl bedürfe. Falsch bedeutet, daß die Bezeichnung, sei es in Ermangelung ausgewählter Bilder oder infolge der grundsätzlichen Unmöglichkeit, ein mit den Worten assoziierbares Bild zu entwerfen, nicht erfüllt ist“ [LS 29 f.].

Die zweite Satzbeziehung, die Manifestation, ist „die Beziehung des Satzes zum sprechenden und sich ausdrückenden Subjekt“ [LS 30]. Die Manifestoren sind „ich; du; morgen, immer; anderswo; überall usw. Und wie der Eigenname ein bevorzugter Indikator ist, so ist ,Ich‘ ein Grundmanifestor“ [LS 30]. Da Wünsche und Meinungen kausaler Natur sind, d. h. aufgrund jeweils schon vorgegebener Sachverhalte sich auf das je aktuell Bezeichnete beziehen und also jede Manifestation eines Urteils erkenntnistheoretisch einer genauen Bezeichnung vorausgeht, formulieren sich Wünsche oder Meinungen derje82 „Auch die Eigennamen sind Indikatoren oder Designatoren, weisen jedoch eine spezielle Bedeutung auf, da sie als einzige im eigentlichen Sinn materielle Singularitäten bilden“; LS 29.

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nigen, die einen Satz formulieren, dieses Mal innerhalb der Wertigkeiten von „Wahrhaftigkeit“ und „Täuschung“ [LS 31]. Als eigentliche Spitzenerkenntnis und als Grundlage des formelhaften cartesianischen Cogito83 exemplarisch steht dafür bekanntlich der methodische Zweifel von Ren Descartes an allem Denkbaren. Er leistet dadurch für den frühen philosophischen Rationalismus sowohl im „Discours de la M thode“, in den „Meditationes“ und den „Prinzipien der Philosophie“ die einzig notwendige Erkenntnisbegründung des „Ich“: „[Ein möglicher, allmächtiger und höchst verschlagener Betrüger] täusche mich, so viel er kann, niemals wird er doch fertigbringen, daß ich nichts bin, solange ich denke, daß ich etwas sei. j Und so komme ich, nachdem ich nun alles mehr als genug hin und her erwogen habe, schließlich zu der Feststellung, daß dieser Satz: ,Ich bin, ich existiere‘ [ego sum, ego existo], sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist.“84

Beachtenswert daran ist, dass schon Descartes die Wahrhaftigkeit der Existenz an den Ausdruck in der Sprache rückbindet. Dass schließlich der Manifestor „Ich“ als Grundmanifestor jeder Erkenntnis gilt, veranschaulicht Deleuze mit dem Rückverweis auf Descartes’ berühmtes Wachs-Beispiel: Descartes stellt sich ein konkretes Stück Wachs mit allen Eigenschaften dieses konkreten Gegenstandes (Farbe, Geruch, Härte etc.) vor, das, je näher es an Feuer gerät, all seine vormaligen Eigenschaften verändert oder gar verliert – und dennoch Wachs bleibt. Daraus ergibt sich für ihn die Frage, was das Wachshafte des Wachstückes gewesen sei, und er kommt zu dem Schluss, dass allein das denkende Ich resp. das Bewusstsein / der Verstand [lat. mens] dafür garantiert: „Was aber ist dieses Wachs, das sich nur denkend begreifen lässt? Nun, dasselbe, das ich sehe, das ich betaste, das ich mir bildlich vorstelle, kurz, dasselbe was ich von Anfang an gemeint habe; aber – wohlgemerkt – seine Erkenntnis ist nicht Sehen, nicht Berühren, nicht Einbilden und ist es auch nie gewesen, wenngleich es früher so schien, sondern sie ist eine Einsicht einzig und allein des Verstandes [sed solius mentis inspectio]“85.

Deleuze wendet dies so: „In der berühmten Analyse des Wachststückchens sucht Descartes keineswegs das Bleibende im Wachs, ein Problem, das er in diesem Text nicht aufwirft, sondern zeigt, 83 Descartes’ berühmtes „cogito, ergo sum“ findet sich in dieser aphoristischen Form nicht in seinen Schriften, sondern ist stets rückgebunden an die je konkrete Beweisführung und in dieser Form eine Zusammenschau aus dem französischen „je pense, donc je suis“ (vgl. Ren Descartes, Discours de la m thode, vierter Abschnitt, 56–59) und der lateinischen Conclusio seiner eigenen Philosophie „ego cogito, ergo sum“ (vgl. Ren Descartes, Die Prinzipien der Philosophie. Lateinisch/Deutsch, Hamburg 2005, Erster Teil Abschnitt 7, 14 f.). 84 Ren Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Meditationes de prima philosophia, Hamburg 21977, Meditatio II Absatz 3, 42–45. 85 AaO., Meditatio II Absatz 12, 54 f.

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wie das im Cogito manifestierte ,Ich‘ das Bezeichnungsurteil begründet, dem zufolge das Wachs identifiziert wird“ [LS 31].

Schließlich zählt Deleuze die „Bedeutung“ [signification] als die dritte Beziehung des Satzes zu sich selbst: „eine Beziehung des Wortes zu universellen oder allgemeinen Begriffen und syntaktischer Verbindungen zu Begriffsimplikationen“ [LS 31]. Bedeutungen sind entweder Implikationen, d. h. sie verbinden Prämissen und Schlussfolgerungen, oder Assertionen, die die Schussfolgerungen ihrerseits bekräftigen. Ihre logische Wertigkeit „ist nicht mehr die der Wahrheit, sondern der Wahrheitsbedingung, die Gesamtheit der Bedingungen, unter denen ein Satz wahr ,wäre‘“ [LS 32]. Im Sinne Freges, Russells und Meinongs resümiert Deleuze: „Die Bedeutung begründet die Wahrheit nicht, ohne nicht auch den Irrtum zu ermöglichen. Aus diesem Grund steht die Wahrheitsbedingung nicht im Gegensatz zum Unwahren, sondern zum Absurden: zu dem, was ohne Bedeutung ist, was weder wahr noch falsch sein kann“ [LS 32]. Das Verhältnis dieser drei Beziehungen zueinander ist das eines intrikaten, autopoietischen Verweissystems zirkulärer Natur. Was ein Satz bezeichnet, steht in unlöslicher Verbindung zu der Person, die ihn setzt sowohl als zu den Implikationen der Bezeichnungen: „Von der Bezeichnung zur Manifestation und dann zur Bedeutung, aber auch von der Bedeutung zur Manifestation und zur Bezeichnung werden wir in Kreis hineingezogen: den Kreis des Satzes“ [LS 34]. Eine Bezeichnung kann nicht für sich bestehen, wenn sie auch falsch sein kann, d. h. wenn die Bedingung ihrer Wahrheit (das Entsprechende zu bezeichnen) – ihre Bedeutung – nicht mitgedacht wird. Andernfalls wären Bezeichnungen unsinnig, und der Gruß an Theaitetos, der eigentlich Timaios ist und verwechselt wurde, würde ihm u. U. jeglicher Identität berauben, da er andernfalls niemand [personne] oder nicht wäre. Gleichzeitig ist jede Manifestation an Bedeutungen gebunden, von denen ausgehend sie selbst ihre Grundgewissheit entwickeln kann – auch bei Descartes hängt das die „Wahrhaftigkeit“ garantierende „Ich“ nicht im bedeutungslosen Cogito (denn auch das Denken ist notwendig zielgerichtet, hat eine ,Intention‘), sondern gründet auf wenigstens für es selbst feststehenden Signifikate, etwa der Begriffe „Gott“ und „Welt“. Hier wird der Sinn als Ereignis entscheidend: Wenn es keine Bezeichnungen ohne Bedeutungen gibt, weil sie sonst gar nichts bezeichnen würden, wenn Bedeutungen gleichzeitig Bezeichnungen indizieren und jedes „Ich“ seinerseits auf geprägte Bezeichnungen zurückgreift, wenn anders nicht jegliche Bezeichnung arbiträr und damit ,sinnlos‘ wäre – wenn also Sätze indizieren/ assertieren, manifestieren und bedeuten, muss es daneben noch etwas anderes geben, das den Sinn eines Satzes garantiert: „etwas, aliquid, das sich weder mit dem Satz oder mit den Satzgliedern, weder mit dem Objekt oder dem Zustand der Dinge, den er bezeichnet, weder mit dem Erlebten, der Vorstellung oder der geistigen Tätigkeit dessen, der sich im Satz ausdrückt, noch mit den Be-

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griffen oder selbst den bedeuteten Wesen vermengt“ [LS 38]. Das ist das Ereignis bzw. der Sinn als vierte Dimension des Satzes: „Der Sinn, das ist das Ausgedrückte des Satzes, […] irreduktibel komplexes Gebilde, reines Ereignis, das im Satz insistiert oder subsistiert“ [LS 37]. Besteht das Problem, das sich im Kreis von Bedeutung und Bezeichnung spiegelt, darin, dass beide (zusammen mit der Manifestation) einander je voraussetzen, weil sie „im Aufstieg vom Bedingten zur Bedingung besteht, um die Bedingung als einfache Möglichkeit des Bedingten zu begreifen […], [s]o daß man unentwegt vom Bedingten auf die Bedingung verwiesen wird, aber auch von der Bedingung auf das Bedingte“, bedarf es einer Form der Wahrheitsbedingung, die der Bedeutung zwar verwandt ist, diese allerdings selbst begründet und „nicht mehr als begriffliche Möglichkeitsform definiert, sondern als ideelle ,Schicht‘ oder ,Materie‘, das heißt nicht mehr als Bedeutung, sondern als Sinn“ [LS 37]. Zweierlei ist entscheidend, um die poststrukturalistische Weichenstellung Deleuzes nachvollziehen zu können: Sinn ist nun nicht mehr Mittler von Sprache und Sprach-Gegenstand, sondern deren Mitte als Dazwischen, „gleichsam die Artikulation ihrer Differenz“ [LS 44]. Zugleich ist Sinn mehr als Wahrheit, wahr oder wahrhaftig, indem er eine Tatsächlichkeit ausdrückt, die über bloßes Existieren, über assertorisches „Sein“ und konstatiertes „ist“ hinausreicht. Deleuze zieht dafür neben dem schon oben diskutierten Beispiels der ewigen Verweiskette des Achilles-Schildkröten-Paradoxons [vgl. LS 33] ein Bonmot des Stoikers Chrysipp von Soloi heran, der hinsichtlich der ,Wirklichkeit‘ von Worten ironisch bemerkt: „,Wenn du etwas sagst, dann kommt es aus deinem Mund; wenn du also sagst ein Karren, dann kommt der Karren auch aus deinem Mund‘“ [LS 24]. Auch dieses drückt weder einen ,existierenden‘ Karren noch einen existenten Mund aus, sondern die Existenzbedingung, besser: Subsistenz des Gedankens des Karrens in dem Sinn, in dem er sich ereignet und unabhängig von der möglichen Infragestellung der einzelnen Konstituenten des Satzes wahr wird, denn „vom Sinn läßt sich nicht einmal sagen, daß er existiert: weder in den Dingen noch im Geist, weder als physische Existenz noch als geistige Existenz“ [LS 38] – es verhält sich hier wie bei Meinongs ,rundem Viereck‘ und dem Primat des Soseins vor dem Sein: Der Karren ist ,da‘, ohne zu ,existieren‘. Dass der Sinn und damit das Ereignis eine Tatsache ist bzw. was bei Deleuze mit Subsistenz und Insistenz des Sinns und damit des Ereignisses im Kreis der drei Grunddimensionen des Satzes gemeint ist, versinnbildlicht dabei das Möbiusband: Man kann „auf ihn als Tatsache nur indirekt, ausgehend von jenem Kreis schließen […], in den uns die gewöhnlichen Dimensionen des Satzes hineinziehen. Nur wenn man den Satz so auflöst, wie man es mit dem Möbiusschen Band macht, indem man ihn seiner Länge nach auseinanderfaltet, indem man ihn aufdreht, kommt die Dimension des Sinns j für sich in ihrer Irreduktibilität [sic], aber auch ihrer Macht zur Genese zum Vorschein, indem sie nun ein inneres Modell a priori des Satzes anregt“ [LS 38 f.].

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Möbiusband wikicommons. URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:M%C3%B6biusband.png (Stand: 26.09.2016).

Das Möbiusband hat so verstanden nur eine Seite, die sowohl seiner Innen- als auch seiner Außenseite zugewandt ist und damit seine Exteriotität und Interiorität aufeinander bezieht, ohne auf sein Außen oder Innen festgelegt werden zu können. Sprachphilosophisch analog vermittelt der Sinn zwischen dem Satz und den Dingen, die der Satz ausdrückt: „Der Sinn ist das Ausdrückbare oder das Ausgedrückte des Satzes und untrennbar damit das Attribut des Dingzustandes. Eine Seite wendet er den Dingen zu, eine andere den Sätzen. Doch vermischt er sich ebensowenig mit dem Satz, der ihn ausdrückt, wie mit dem Dingzustand oder der Qualität, die der Satz bezeichnet. Er ist genau die Grenze zwischen den Sätzen und den Dingen. Er ist dieses aliquid, zugleich Außersein und Insistenz, dieses Seinsminimum, das den Insistenzen zukommt“ [LS 41].

Aus diesem Grund ist die bedachte Verwendung bestimmter, d. h. ihrem Wesen nach dynamischer Wortarten – es sind bei Deleuze Verb und Infinitiv – konstitutiv für die Ermöglichung von Sinn als Ereignis. Dazu noch einmal Husserl, weitergedacht von Deleuze: Husserls Sinn oder Noema habe nach Deleuze einen „Status, der darin besteht, nicht außerhalb des Satzes zu existieren, der es ausdrückt, des perzeptiven, imaginativen, des Erinnerungs- oder Vorstellungssatzes. Vom Grün als sinnlich wahrnehmbarer Farbe oder als Qualität unterscheiden wir das ,grünen‘ als noematische Farbe oder als Attribut. Der Baum beginnt zu grünen, ist das nicht schließlich der Farbsinn des Baumes, und der Baum beginnt, Baum zu werden sein umfassender Sinn? Ist das Noema etwas anderes als ein reines Ereignis, das Baumereignis […]?“ [LS 40]

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Der Unterschied zwischen dem Attribut eines Satzes und dem eines durch ihn beschriebenen Gegenstandes gleicht dem Unterschied der beiden borges’schen Hemisphären: Am Beispiel des Baumes ist im ersten Fall das Attribut das Prädikat bzw. das Adjektiv „grün“, das vom Subjekt „Baum“ ausgesagt wird; dessen Attribut wiederum wird durch das Verb „grünen“ bezeichnet – „oder vielmehr das durch das Verb ausgedrückte Ereignis“ [LS 40]. Die Feststellung „Der Baum ist grün“ ist unproblematisch, weil sich das Prädikat auf bereits Erkanntes bezieht; es ist nicht mehr denn eine Repräsentation des Bekannten; „grün“ ist das Attribut des Satzes bzw. seines Subjektes als sein Prädikat, nicht das des bezeichneten Gegenstandes. „Das Attribut des Dings jedoch ist das Verb, grünen etwa, oder vielmehr das durch das Verb ausgedrückte Ereignis. […] Das Attribut ist kein Sein und es qualifiziert kein Sein; es ist ein Außersein.“ [LS 40] Dieser Sinn, das Ereignis „grünen“ oder „zu grünen beginnen“, drückt sich allein im Satz aus, zwischen „grün“ und dem, was im Baum geschehen (sein) wird – ,ist‘ der Baum grün, hat sich das Ereignis seines Grün-Werdens verflüchtigt. Das noematische Attribut ist per se unkörperlich, ungegenständlich, dabei aber weder abstrakt noch unwirklich. So spiegelt sich in der Ereignissprache die Ereigniszeit wieder: Nomina und Attribute bezeichnen Dinge und Dingzustände, Verben und Infinitive hingegen markieren die Dynamik des Ereignisses: „Einerseits die singulären Eigennamen, die allgemeinen Substantive und Adjektive, die Maße, Stillstände und Ruhepunkte, Präsenzen markieren; andererseits die Verben, die das Werden und sein Gefolge […] mit sich reißen, ein Werden, dessen Gegenwart sich endlos in Vergangenheit und Zukunft teilt“ [LS 44]. Der Sinn spielt in beide Ebenen hinein, indem er vom Satz ausgedrückt wird und sich dem Ding attribuiert, dabei allerdings in keinem von beiden aufgeht, weil keinem Attribut und keinem Ausdruck Existenz zu (oder ab-)gesprochen werden kann; der Ereignis-Sinn hat kein Sein, sondern im (Russellschen und vielmehr noch) Meinongschen Sinne ein ,Meta-Sein‘. Zugleich existiert der sich im Attribut ausdrückende Sinn auch nicht außerhalb des Satzes, der es ausdrückt und auf den Gegenstand bezieht, sondern kehrt jeweils eine seiner Seiten dem Gegenstand und dem Satz zu, indem er sie aufeinander bezieht und doch von ihnen geschieden bleibt: „Genau in diesem Sinne ist er ,Ereignis‘: unter der Bedingung, das Ereignis nicht mit seiner raum-zeitlichen Verwirklichung in einem Dingzustand zu vermengen. Man soll also nicht fragen, was der Sinn eines Ereignisses sei: Das Ereignis nämlich, das ist der Sinn selbst. Das Ereignis gehört wesentlich zur Sprache, es steht in einer wesentlichen Beziehung zur Sprache“ [LS 41]. Es subsistiert in der Sprache, zeitigt sich in den Dingen und spiegelt sich in diesen beiden Elementen wider, indem es sich im Verb ausdrückt: „Die Frage, was in der Sprache an erster Stelle steht, die Namen oder die Verben, kann nicht nach der allgemeinen Maxime ,Am Anfang steht die Aktion‘ und demnach nicht dadurch beantwortet werden, daß man aus dem Verb den Repräsentanten der An-

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fangs-jaktion und aus dem Stammwort den Anfangszustand des Verbs macht. Denn es stimmt nicht, daß das Verb eine Aktion repräsentiert; es drückt ein Ereignis aus, und das ist etwas ganz anderes“ [LS 228 f.].86

Es ist deswegen „etwas ganz anderes“, weil es die Subsistenz des Infinitivs im Gegenstand verwirklicht. Der Infinitiv markiert die Bedingung der Möglichkeit jeder Bewegung, die im Verb ausgedrückt wird, und ist gleichzeitig ungebeugt und d. h. indeterminiert, sodass das Ereignis tatsächlich werden kann [vgl. LS 265]. Ereignis-Sprache als ,verbale‘ Sprache wäre so verstanden die der Poesie, „die Poesie selbst. Indem es [das Verb] in der Sprache alle Ereignisse in einem ausdrückt, drückt das infinite Verb das Ereignis der Sprache, die Sprache selbst als ein einziges Ereignis aus, das sich nun mit dem vermischt, was es ermöglicht“ [LS 230]. Die Differenz des Ereignis-Sinns besteht also nicht zwischen verschiedenen Begriffen, sondern zwischen verschiedenen Kategorien, der der Sprache (oder des Satzes), die im Verb und seinen beiden Polen: Gegenwart und Infinitiv, abgebildet ist, und der der Gegenstände. Ereignis-Sinn bezieht diese aufeinander, ohne in einer von beiden aufzugehen, sodass er selbst die Grenze dazwischen bildet, die Scheidelinie oder die Differenz markiert. Um zu gewährleisten, dass der Ereignis-Sinn in dieser Nicht-Existenz und zugleich Subsistenz doch gewissermaßen so ,ist‘, dass „etwas“ Sinn „haben“ oder sinnvoll sein kann, ist er selbst einer Reihe von ihm immanenter Dualitäten unterworfen, die sich paradoxal gestalten und die Deleuze in vier Paradoxa klassifiziert [vgl. LS 48–56]. 1) Das Paradox des infiniten Regresses zeigt an, dass nichts gesagt werden kann, ohne dass schon Sinn vorausgesetzt wäre. Jeder Satz, der Sinn ausdrückt, verweist zurück auf einen anderen Satz, der ihm seinen Sinn verliehen hat, und dieser wieder auf einen ihm zugrundeliegenden u.s.f.:87 „Der Sinn ist gleichsam die Sphäre, in die ich bereits eingeführt bin, um die 86 Dabei berücksichtigt Deleuze die Multidimensionalität des Verbs, das die Gegenwart, in der das Ereignis sich verwirklicht, und den Infinitiv, der zeitneutral alle Verwirklichungen des Ereignisses beinhaltet, zugleich ausdrückt; vgl. LS 229 f.: „Das Verb hat zwei Pole: die Gegenwart, die seine Beziehung zu j einem in Funktion einer aufeinanderfolgenden physischen Zeit bezeichenbaren Dingzustand kennzeichnet; den Infinitiv, der seine Beziehung zum Sinn oder zum Ereignis in Funktion der inneren Zeit, die es einhüllt, kennzeichnet. Das Verb als ganzes pendelt zwischen dem infinitiven ,Modus‘, der den einmal entfalteten Kreis des ganzen Satzes repräsentiert, und der Gegenwarts-,Zeit‘, die im Gegenteil den Kreis über einem Bezeichneten des Satzes schließt. Zwischen den beiden spannt das Verb seine ganze Konjugation in Übereinstimmung mit den Beziehungen der Bezeichnung, der Manifestation und der Bedeutung aus – die Gesamtheit der Zeiten, der Personen und der Modi. Der reine Infinitiv ist Äon, die gerade Linie, die Form oder die Distanz; er beinhaltet keine Unterscheidung von Momenten, sondern teilt sich ständig auf formale Weise in die gleichzeitige Doppelrichtung der Vergangenheit und der Zukunft. Der Infinitiv impliziert keine der Sprache innere Zeit, ohne den Sinn oder das Ereignis auszudrücken, das heißt die Gesamtheit der Probleme, die die Sprache sich stellt. Er bringt die Innerlichkeit der Sprache mit der Äußerlichkeit des Seins in Kontakt.“ 87 Vgl. die epistemologische Verweiskette der Objektive und Objekte bei Meinong.

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möglichen Bezeichnungen vorzunehmen und selbst noch die entsprechenden Bedingungen zu denken. Der Sinn ist immer vorausgesetzt, sobald ich zu reden beginne; ohne diese Voraussetzung könnte ich gar nicht beginnen. Mit anderen Worten: Ich sage nie den Sinn dessen, was ich sage. Dagegen kann ich aber immer den Sinn dessen, was ich sage, zum Gegenstand eines anderen Satzes machen, dessen Sinn ich dann wiederum nicht sage. Ich trete folglich in eine endlose Regression des Vorausgesetzten ein. Diese Regression zeugt zugleich von der völligen Machtlosigkeit des Sprechenden und der vollkommenen Macht der Sprache“ [LS 48]. 2) Das Paradox der sterilen Verdopplung zeigt die Kehrseite des ersten Paradoxes an: Die einzige Möglichkeit, dem infiniten Regress zu entgehen, ist die begriffliche Interpretation und Fixation des Sinns, womit das Verb, das normalerweise den Sinn eines Satzes ausdrückt, durch eine Partizipialwendung oder einen Infinitiv ersetzt wird: nicht mehr ,Der Baum grünt‘, sondern ,das Grün-Sein des Baumes‘; oder, abstrakter: ,Gott-sein‘. Wird der Sinn allerdings auf diese Weise aus dem Satz extrahiert, wird er zugleich verdoppelt, indem zur eigentlichen Bezeichnung nun die Bedeutung tritt. Dabei eignet dem Sinn eine gewisse Sterilität, weil er sich der Affirmation oder Negation entzieht. Partizipialkonstruktionen der Interpretation können nicht bejaht oder verneint werden, weil dieser Art des SinnEreignisses selbst keine Existenz eignet: „Als Attribut der Dingzustände ist der Sinn Außersein, er gehört nicht zum Sein, sondern ist ein aliquid, das dem Nichtsein entspricht. […] Dem Satz entzogen, ist der Sinn unabhängig von diesem, weil er dessen Bejahung und dessen Verneinung suspendiert, und ist dennoch nur sein entschwindendes Double“ [LS 52]. Und als Gegensatz zum Paradox des infiniten Regresses ist das Problem, vor das dieses Paradox stellt, einerseits die Sterilität des Sinns für sich und andererseits seine „Macht zur Genese hinsichtlich der Dimensionen des Satzes“ [LS 52]. 3) Das Paradox der Neutralität folgt unmittelbar aus dem zweiten. Wenn der Sinn selbst weder verneint noch bejaht werden kann, so lässt er sich selbst auch nicht in den einzelnen modi des Satzes fassen (Quantität, Qualität, Beziehung und Modalität), weil diese sich nur auf die Dingzustände beziehen, nicht aber auf ihren Sinn: „Zunächst die Qualität […]: ,Gott ist‘ und ,Gott ist nicht‘ müssen aufgrund der Unabhängigkeit des Sinns gegenüber der Existenz des bezeichneten den gleichen Sinn haben. So ist im 14. Jahrhundert das phantastische Paradox des Nicolas d’Autrecourt Objekt der Mißbilligung: contradictoria ad invicem idem significat“ [LS 53]. Das gilt analog für Quantitäten („Alle Menschen sind weiß, kein Mensch ist weiß, mancher Mensch ist nicht weiß …“ [LS 53]) wie für Beziehungen, insofern der Sinn in jeder Richtung der Beziehungsaussage der gleiche bleibt. In Bezug auf die Modalitäten der Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit wurde schon deutlich, dass das zeitlos-überzeitliche Ereignis seine eigene Modalität hat. Der Sinn oder das Ereignis ist

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„[g]leichgültig gegenüber dem Universellen wie dem Singulären, dem Allgemeinen wie dem Besonderen, dem Persönlichen wie dem Kollektiven, aber auch gegenüber der Bejahung wie der Verneinung usw. Kurz: gleichgültig gegenüber allen Gegensätzen. […] j Besteht der Status des reinen Ereignisses […] darin, derart alle Oppositionen zu überbieten: weder privat noch öffentlich, weder kollektiv noch individuell … und um so schrecklicher und mächtiger in dieser Neutralität, da es alles gleichzeitig ist?“ [LS 55 f.] 4) Das Paradox der unmöglichen Objekte folgt wiederum aus diesem: „Die Sätze, die widersprüchliche Objekte bezeichnen, haben ihrerseits einen Sinn. Ihre Bezeichnung jedoch bleibt in jedem Fall unverwirklichbar; und sie verfügen über keine Bedeutung, die die Möglichkeitsart einer solchen Verwirklichung bestimmen würde. Sie bleiben ohne Bedeutung, das heißt absurd. […] Das heißt, daß die unmöglichen Objekte – rundes Viereck, unausgedehnte Materie, perpetuum mobile, tälerloses Gebirge – ,heimatlose‘ Objekte sind, sich im Äußeren des Seins befinden, jedoch im Äußeren eine genaue und klare Stellung innehaben; sie gehören zum ,Außensein‘, sind reine, ideale und nicht in einen Dingzustand umsetzbare Ereignisse“ [LS 56]. 3.3.2 Die Struktur des Ereignisses in Sinn und Unsinn Die Struktur des Ereignisses als Irrealität ist entsprechend bestimmt vom grundlegenden Paradox des Sinns, der „unbegrenzten Regression“ [vgl. LS 57]. Die rhizomische Wucherung des Sinns, der jedem Satz vorherläuft – „Ich sage nie den Sinn dessen, was ich sage“ – und ihm gleichzeitig nachgeht – „Dagegen kann ich aber immer den Sinn dessen, was ich sage, zum Gegenstand eines anderen Satzes machen, dessen Sinn ich dann wiederum nicht sage“ – stellt Deleuze vor als Differenz von Serien, der des Satzes und der des Dinges: Jeder Satz, der ein Ding oder einen Dingzustand bezeichnet, drückt damit einerseits selbst Sinn aus und wird gleichzeitig zum Sinn des auf ihn folgenden, ohne damit selbst sich auf ein Ding oder Dingzustand zu beziehen. Ist diesen beiden Serien von Satz und Ding gemein, „daß sie niemals gleich sind“ [LS 58], ist Deleuzes Version der strukturalistischen Unterscheidung von Signifikant und Signifikat zu beachten: „Wir nennen ,signifikant‘ jedes Zeichen, insofern es in sich selbst irgendeinen Aspekt des Sinns aufweist; ,Signifikat‘ hingegen das, was diesem Aspekt des Sinns als Korrelat dient, also das, was in relativer Dualität mit diesem Aspekt bestimmt wird.“ [LS 58] D. h., der Siginifikant ist sowohl der gesamte Satz, der Sinn ausdrückt, in allen seinen drei oben beschriebenen Dimensionen, als auch der ausgedrückte Dingzustand, während das Signifikat die Manifestation, das Bezeichnete oder die Bedeutung ist: ,Der Baum grünt‘ als ganzer sowohl als ,grün‘ der Signifikant; der ,Baum‘ und sein ,Grün-Sein‘ entsprechend das korrelierende Signifikat.

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„So ist der Signifikant zunächst das Ereignis als ideales logisches Attribut eines Dingzustands und das Signifikat der Dingzustand mit seinen wirklich vorhandenen Qualitäten und Beziehungen. Sodann ist j der Signifikant der Satz in seiner Gesamtheit, insofern er die Bezeichnungs-, Manifestations- und Bedeutungsdimension im engeren Sinne umfaßt; und das Signifikat ist das unabhängige Glied, das diesen Dimensionen entspricht, das heißt der Begriff, aber auch die bezeichnete Sache oder das manifestierte Subjekt. Schließlich ist der Signifikant die einzige Ausdrucksdimension, die tatsächlich den Vorzug hat, nicht relativ zu einem unabhängigen Glied zu sein, da der Sinn als ausgedrückter nicht außerhalb des Ausdrucks existiert; und folglich ist das Signifikat nun die Bezeichnung, die Manifestation oder eben die Bedeutung im engeren Sinn, das heißt der Satz, insofern sich der Sinn oder das Ausgedrückte von ihm unterscheiden. So ist, sobald man die serielle Methode erweitert, indem man zwei Ereignisserien oder aber zwei Dingserien oder zwei Satzserien oder aber zwei Ausdrucksserien betrachtet, die Homogenität ganz offensichtlich: Stets übernimmt die eine die Rolle des Signifikanten, die andere die des Signifikats, selbst wenn diese Rollen miteinander vertauscht werden, sobald wir die Perspektive wechseln“ [LS 58 f.]

Innerhalb dieser beiden Serien – von Satz und Ding, von Signifikant und Signifikat – ist der Sinn eine nicht-begriffliche Instanz, die beide Serien erst miteinander in Beziehung setzt, die „paradoxale Instanz, die sich auf kein Glied der Serien, auf kein Verhältnis zwischen den Gliedern zurückführen läßt“ [LS 61]. Unter der Annahme einer Totalität von Sprache als creatrix von Welt einerseits und einem hierarchischen Gefälle der Signifikaten und Signifikanten innerhalb der Sprache andererseits bedeutet dies eine Umkehrung des herkömmlichen strukturalistischen Modells, nachdem einem Signifikant – zum Beispiel „Buch“ – unzählige Signifikate gegenüberstehen – die Bibel, Goethes „Faust“, mein Tagebuch, das Religionslehrbuch der Tochter etc. Unter poststrukturalistischen Vorzeichen korrespondiert jedes Ereignis mit seinen zwei Serien von Signifikant und Signifikat mit einer Struktur, d. h. mit ihrer unmittelbare Gegebenheit. Dieser strukturalistische Gedanke, dass Welt wesentlich Sprache ist und der im Wesentlichen auf Claude L vi-Strauss88 zurückgeht, führt poststrukturalistisch expliziert zu der Erkenntnis, dass Sprache Welt hervorbringt. Nur insofern ist dieser Gedanke strukturaler Natur, denn: „In Wirklichkeit gibt es keine Struktur außerhalb dessen, was Sprache ist“ [WSt 8]. Das unterstreicht zugleich die unbedingte Vor-handenheit von Sprache als Totalität, wie sie Claude L vi-Strauss beschreibt und woran Deleuze anknüpft:

88 Vgl. dazu auch grundlegend Stephan Moebius, Strukturalismus/Poststrukturalismus, in: Georg Kneer/Markus Schroer (Hrsg.), Soziologische Theorie. Ein Handbuch, Wiesbaden 2009, 419–443.

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„[D]ie Sprache hat nur auf einen Schlag entstehen können. Die Dinge haben nicht allmählich beginnen können, etwas zu bedeuten. Im Gefolge einer Transformation […] hat sich ein Übergang von einem Stadium, in welchem nichts eine Bedeutung hatte, zu einem anderen vollzogen, in welchem alles Bedeutungen trug. So banal diese Bemerkung scheinen mag, ist sie insofern wichtig, als dieser radikale Wandel im Gebiet der sich langsam und schrittweise ausbildenden Erkenntnis keine Entsprechung hat. […] [Da]s bedeutet, daß die beiden Kategorien von Signifikant und Signifikat gleichzeitig und ineinander verschränkt als zwei komplementäre Blöcke konstituiert werden […]. Das Universum hat schon bezeichnet, lange bevor man zu wissen begann, was es bezeichnete“89.

Erkenntnistheoretisch bedeutet diese Feststellung, dass alles, was jemals entdeckt oder erkannt werden kann, sich bezeichnen lässt durch die Sprache, die Menschen sprechen. D. h., strukturalistisch verstanden eignet dem Signifikanten der Primat gegenüber dem Signifikat; oder, anders formuliert: Sinn ist nur dort, wo ein Überschuss an Signifikanten gegenüber ihren Korrelaten besteht. Die beiden Serien von Signifikant und Signifikat befinden sich „in fortwährendem und wechselseitigem Ungleichgewicht“ [LS 62]. Es verhält sich wie bei einem Kind, das sich in Sprache vorfindet, ohne die Sprache selbst schon zu begreifen: „Für das Kind besteht die erste Annäherung an die Sprache darin, diese als das Modell dessen zu erfassen, was sich als präexistent, als auf den ganzen Bereich des-jsen verweisend setzt, was schon vorhanden ist, familiale Stimme, die die Tradition mit sich führt, in der bereits vom Kind in Form seines Namens die Rede ist und in die es sich noch vor jedem Verstehen einordnen muß.“ [LS 239 f.] Dem Strukturalismus zwar verbunden, drückt sich Deleuze (mit Guattari) gerade in dieser Zu- und Unterordnung des Signifikats unter den Signifikanten eine despotische Tendenz aus: „Saussure […] insistiert darauf, dass die Arbitrarität der Sprache ihre Herrschaft begründe, gleich einer Knechtschaft oder allgemeinen Sklaverei“ [AÖ 266], liest man keine fünf Jahre nach der „Logik des Sinns“, wo sich diese Tendenz schon abbildet. Ereignis als Grundwort des Poststrukturalismus bricht diese imperialistische Struktur der Sprache auf und verweist demgegenüber auf un-sinnige Bezeichnungen, denen vermeintlich keine Signifikate korrelieren, d. h. Begriffe, die etwas der Erkenntnis zuvor Unbekanntes bezeichnen, Worte vom Typ „dingsda“, „irgend etwas“, „aliquid“ oder „es“ (oder bei L vi-Strauss „mana“): „Immer und überall jedoch treten Begriffe dieses Typs ein, um nahezu wie algebraische Symbole […] einen seiner Bedeutung nach unbestimmten Wert zu repräsentieren, der in sich selber sinnleer und deswegen geeignet ist, jeden beliebigen Sinn anzunehmen – mit der einzigen Funktion, eine Kluft zwischen 89 Claude L vi-Strauss, Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, in: Marcel Mauss (Hrsg.), Soziologie und Anthropologie. Bd. 1: Theorie der Magie/Soziale Morphologie, Wiesbaden 2010, 8–41, 38.

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Signifikant und Signifikat zu schließen“90. Diese Kluft resultiert, wie beschrieben, aus der virtuellen Totalität der Sprache, in der die Signifikanten immer schon den Signifikaten vorausgehen, weil letztere in der Ordnung des Bekannten nur partiell entdeckt werden können und sich asymptotisch zu den Signifikanten verhalten, die ihre Aktualität vorwegnehmen.91 Sie wird hier geschlossen durch etwas Drittes – Ereignis –, das am Überschuss der Signifikanten und am Mangel der Signifikate zugleich teilhat und beide zueinander in eine kommunizierende, korrelierende, koexistierende und einander reflektierende Beziehung setzt – Unsinn: „In den Serien hat jedes Glied Sinn nur dank seiner relativen Stellung gegenüber allen anderen Gliedern; diese relative Stellung hängt ihrerseits von der absoluten Stellung in Funktion der Instanz = X ab, die als Unsinn bestimmt ist und unabhängig durch die Serien hindurch zirkuliert. Der Sinn wird tatsächlich durch diese Zirkulation hergestellt, als Sinn, der dem j Signifikanten, aber auch als Sinn, der dem Signifikat zukommt. Kurz, der Sinn ist stets eine Wirkung, ein Effekt. Nicht nur eine Wirkung im kausalen Sinne; sondern eine Wirkung im Sinne einer ,optischen Wirkung‘, einer ,Klangwirkung‘“ [LS 96 f.].

1967, im gleichen Jahr von „Differenz und Wiederholung“ und „Logik des Sinns“, verfasst Deleuze eine kleine Studie mit dem Titel „Woran erkennt man den Strukturalismus“, die anhand einer klaren Kriteriologie Auskunft sowohl über den Strukturalismus verschiedenster Vertreter als auch über die Methode des deleuzianischen Denkens selbst gibt. Das Buch selbst ist poststrukturalistischer Art, verabschiedet sich zugleich von der Sinnermittlung des Strukturalismus einerseits und greift andererseits darauf zurück, um die Grundlagen für den Begriff des Unsinns zu schaffen, wenn gilt: „Für den Strukturalismus gibt es immer zu viel Sinn“ [WSt 18]. Die (entsprechend von mir angepassten) sechs Kriterien bauen ähnlich der oben erwähnten Viererserie der Sinnparadoxa aufeinander auf und beleuchten das Verhältnis der Serien von Signifikanten und Signifikat als Ungleichgewicht in Abhängigkeit vom Sinn noch einmal ausführlicher: 1) Das strukturale Ereignis und das Kriterium des Symbolischen: Der Strukturalismus erweitert die Komplementarität von Realem und Imaginärem um eine dritte Dimension: das Symbolische. Das Symbol steht außerhalb der Realität etwa eines Wortes oder der Imagination etwa eines Bildes, es ist eine tiefere, diesen beiden zugrundeliegende Dimension, die die Beziehungen dieser beiden aufeinander erfasst und vermittelt. Das 90 AaO., 35. 91 Vgl. LS 71: „Dieses Paradox könnte das Robinsonsche Paradox genannt werden. Denn offensichtlich kann Robinson auf seiner verlassenen Insel etwas einer Gesellschaft entsprechendes nur wiederaufbauen, indem er sich alle Regeln und Gesetze, die sich wechselseitig implizieren, auf einen Schlag vorgibt, auch wenn sie noch gar keinen Gegenstand haben. Die Eroberung der Natur hingegen verläuft fortschreitend, partiell, von Teil zu Teil.“

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Symbolische ist dabei nicht nur das Dritte neben Realem und Imaginärem, sondern in sich selbst triadischer Natur, um die Zirkulation zwischen Realem und Imaginärem zu gewährleisten.92 Die symbolische Struktur hat dabei weder eine bestimmte (reale) Form, noch ist sie ein (imaginäre) Figur, noch ein ,Wesen‘ welcherart auch immer: Keine reale Form, weil das Symbolische nicht den Primat des Ganzen vor seinen Teilen antizipiert, sondern im Gegenteil quasi-atomisch aus den kleinsten nur denkbaren Teilen besteht und so dem Realen zugrunde liegt; keine imaginäre Figur, weil jede Figur selbst Anteil hat an dem Realen, das sie repräsentieren; und schließlich überhaupt kein ,Wesen‘, da die irrealen und atomischen Teile der Struktur eine Kombinatorik bilden, die selbst „weder Form noch Bedeutung, noch Repräsentation, noch Inhalt, noch gegebene empirische Realität, noch hypothetisches funktionales Modell, noch Intelligibilität hinter den Erscheinungen haben“ [WSt 14]. 2) Das strukturale Ereignis und das Kriterium der Lokalität und Stellung: Da die atomischen Elemente einer Struktur über keine dieser Eigenschaften verfügen, muss ihre Genese andernorts gesucht werden. Ihnen eignet Sinn mit der ihm entsprechenden eigenen Lokalität. Freilich ist dieser strukturale Ort des Sinns seinerseits weder ein realer noch ein imaginärer, sondern ein symbolischer oder topologischer Ort: „Was struktural ist, ist der Raum, aber ein unausgedehnter, prä-extensiver Raum, reines spatium, das allmählich als Nachbarschaftsordnung herausgebildet wurde, in der der Begriff der Nachbarschaft zunächst genau einen ordinalen Sinn hat und nicht eine Bedeutung in der Ausdehnung“ [WSt 15]. Damit haben strukturale Orte einen genetischen Primat vor den Gegenständen/Dingen sowohl als auch zu den Ideen, die sich in ihm vorfinden insofern, als diese sich erst auf und in einer Grundlage bilden.93 An dieser Stelle zeigt sich die Konsequenz des notwendigen Überschusses an Signifikanten gegenüber den Signifikaten: „Wenn zunächst die symbolischen Elemente weder äußerliche Bezeichnung noch innere Bedeutung haben, sondern einen Sinn, der aus der Stellung hervorgeht, so muß man als Prinzip setzen, daß der Sinn immer aus der Kombination von Elementen resultiert, die selbst nicht bezeichnend sind“ [WSt 19], oder, was das gleiche 92 Vgl. WSt 11: „Wir hatten schon viele Väter in der Psychoanalyse: zunächst einen realen Vater, aber auch Vaterbilder. Und all unsere Dramen vollzogen sich in den Beziehungen, die zwischen dem Realen und dem Imaginären ausgespannt sind. Jacques Lacan entdeckt einen dritten, wesentlicheren Vater, den symbolischen Vater oder Namen-des-Vaters. Nicht allein das Reale und das Imaginäre, sondern auch ihre Beziehungen und Störungen dieser Beziehungen müssen als die Grenze eines Prozesses gedacht werden, in dem sie sich, ausgehend vom Symbolischen, konstituieren.“ 93 Vgl. WSt 17: „Der Strukturalismus ist nicht von einer neuen Transzendentalphilosophie zu trennen, in der die Orte wichtiger sind, als das, was sie ausfüllt. Vater, Mutter etc. sind zunächst Orte in einer Struktur, und wenn wir sterblich sind, so weil wir uns in der Reihe anstellen, weil wir zu jenem Ort kommen, der in der Struktur jener topologischen Ordnung der Nachbarschaft gemäß gekennzeichnet ist (selbst wenn wir auf unserem Weg voraneilen).“

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meint: dass es immer zu viel Sinn gibt, weil die Kombinatorik von Strukturelementen in topologischen Orten infinit ist.94 3) Das strukturale Ereignis und das Kriterium des Differentiellen und Besonderen: Um überhaupt Unterscheidungen zwischen Gegenständen/Dingen zu ermöglichen, unterscheidet der Strukturalismus als Kind der Linguistik Gegebenes in Relationen zueinander an einem topologischen Ort, an dem beide Relata Anteil haben.95 Dies gilt für alle Begriffe und das Verhältnis ihrer Bedeutungen, sofern sie Klassen, Gattungen oder Arten bezeichnen: So ist etwa das Beziehungsgefüge jeder verwandtschaftlichen Konstellation einer Familie durch die jeweiligen Besonderheiten und Unterschiede der einzelnen Familienmitglieder im Verhältnis zueinander geprägt; jeder Mythos hat Anteil an struktural vergleichbaren Konstellationen von Verwandtschaft, Herkunft, Fatum, …; noch jedes Modell von Marktwirtschaft basiert auf einem intrikaten Verhältnis von Produkt und Produzent und ihren jeweiligen Relationen. Daraus folgt eine Grundeinsicht des Strukturalismus: Nicht eigentlich die Akteure, die ihre Verhältnisse in einem topologischen Raum symbolisieren, sind die Subjekte: „Das wahre Subjekt ist die Struktur selbst: das Differentielle und das Besondere, die differentiellen Verhältnisse und die besonderen Punkte, die gegenseitige Bestimmung und die vollständige Bestimmung“ [WSt 26]. Vorläufig kann festgehalten werden: In Ereignis-Raum und -Zeit ist das Ereignis selbst das grundsätzliche Subjekt. 4) Das strukturale Ereignis und das Kriterium des Differenzierenden/der Differenzierung: Liegt die Struktur allem, was sich in ihr zeitigt, zugrunde, ist es naheliegend, von ihr als Mikro- oder, besser noch: Infrastruktur zu sprechen. Da die Kategorien von Realität und Imagination hier genau so wenig greifen wie die der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, muss man sagen, dass die Struktur entsprechend nicht aktuell ist, ohne aber zugleich abstrakt zu sein. Sie ist der virtuelle Raum der Nachbarschaftsverhältnisse, die alles, was sich in ihr gegenwärtigt, hierarchielos nebeneinander versammelt. „Die Struktur eines Bereiches freizulegen, heißt, eine ganze Virtualität der Koexistenz zu bestimmen, die vor den Wesen, den Gegenständen und den Werken dieses Gebietes existiert. Jede Struktur ist eine Vielzahl von virtueller Koexistenz“ [WSt 28]. Dabei aktualisiert sich nicht das Ganze oder 94 Vgl. WSt 19: „Die nobelsten Spiele wie Schach bilden eine Kombinatorik von Orten in einem reinen Spatium, das unendlich viel tiefer ist als das reale Ausmaß und die imaginäre Ausdehnung jeder Figur.“ 95 Das mikroskopische Beispiel des Phonems, der kleinsten linguistischen Einheit, veranschaulicht das nachvollziehbar, etwa dort, wo sich durch eine marginale Verschiebung der Unterschied zwischen Bein und Pein ergibt. Da jeder Sprache jeweils besondere phonematische Verhältnisse zugrunde liegen, gestalten sich auch die Relationen ihrer Phoneme je unterschiedlich und bewirken erst die Besonderheit einer bestimmten Sprache.

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die Totalität, die von der Struktur bestimmt werden, sondern lediglich die Verhältnisbestimmungen dieser virtuellen Totalität, was eine doppelte Differenzierung impliziert: „Wir müssen also die totale Struktur eines Bereiches als Gesamtheit virtueller Koexistenz und die Unterstrukturen, die den verschiedenen Aktualisierungen auf dem Bereich entsprechen, voneinander unterscheiden“ [WSt 29]. Die Struktur selbst ist undifferenziert, aber sie differenziert, genauer: differentsiert (franz.: diff renti e), wobei im phonematischen Verhältnis ts / z (t / c) den Vorgang der Differenzierung das Undifferenzierte ausdrückt: Keine aktualisierte totale Sprache, aber eine virtuelle totale, differentsierte Sprache, die sich in differenzierten Sprachen aktualisiert; keine aktualisierte totale Gesellschaft, aber eine virtuelle totale, differentsierte Gesellschaft, die sich in verschiedenen differenzierten Gesellschaften aktualisiert usw. Der Weg verläuft immer von der Virtualität zur Aktualität, und die Grenze zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen verläuft dort, wo nur im Symbolischen das Ganze der differenzierten Teile nebeneinander bestehen, wohingegen das Imaginäre zur vereinheitlichenden aktualisierten Totalität tendiert [vgl. auch DW 348]. 5) Das strukturale Ereignis und das Kriterium des Seriellen: Die hierarchielose Nachbarschaft der strukturellen Teile bedeutet notwendig, dass sich die virtuelle Struktur in einer Serie aktualisiert, bzw. genauer in immer zwei differente Serien, die sich aufeinander beziehen, indem die eine Serie die Elemente der anderen mit einer Verschiebung nicht lediglich reproduziert, sondern in der Wiederholung variiert: Kein Ereignis der Virtualität, dessen Aktualisierung nicht mehrere Auswirkungen hat und sich in einer Spiegelung wiederfindet; keine serielle Spiegelung ohne Differenzen, die sich anhand eines gleichbleibenden Pols beider Serien unterscheiden: „Die Bestimmung einer Struktur geschieht nicht allein durch eine Auswahl der symbolischen Grundelemente und der differentiellen Verhältnisse, in die sie eintreten; auch nicht allein durch Verteilung der besonderen Punkte, die ihnen entsprechen; sondern überdies j durch die Konstituierung zumindest einer zweiten Serie, die komplexe Beziehungen zur ersten unterhält“ [WSt 38 f.].96 Die sprachliche Konsequenz daraus ist, dass der Strukturalismus eine besondere Vorliebe für Metonymie und Metapher hegt, gerade weil diese beiden keine ima96 Vgl. WSt 37 f.: „Einer der berühmtesten Texte Lacans kommentiert The purloined Letter von Edgar A. Poe, indem er zeigt, wie die ,Struktur‘ zwei Serien in Szene setzt, deren Plätze von wechselnden Personen besetzt sind: dem König, der den Brief nicht sieht – der Königin, j die sich darüber freut, ihn umso besser verborgen zu haben, als sie ihn auffällig hat liegenlassen – dem Minister, der alles sieht und den Brief nimmt (erste Serie); der Polizei, die bei dem Minister nichts findet; dem Minister, der sich freut, den Brief um so besser verborgen zu haben, als er ihn auffällig hat liegen lassen – Dupin, der alles sieht und den Brief zurücknimmt (zweite Serie).“ Vgl. dazu Jacques Lacan, Das Seminar über E. A. Poes „Der entwendete Brief“, in: Jacques Lacan, Schriften, Weinheim/Berlin 31991, 7–60; vgl. auch LS 57–62.

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ginären Stilmittel, sondern Symbole sind: Metapher und Metonymie „sind sogar die beiden strukturalen Faktoren, insofern sie als die beiden Freiheitsgrade der Verschiebung von einer Serie zur anderen und im Inneren ein und derselben Serie ausdrücken“ [WSt 40], denn es sind die Metaphern und Metonymien, die gleichzeitig am Virtuellen wie am Aktuellen Anteil haben. 6) Das strukturale Ereignis und das Kriterium des leeren Feldes: Der gleichbleibende symbolische Pol und Konvergenzpunkt der strukturalen Serien ist dabei in sich und auf sich selbst different, die Metapher ist immer auch ihre eigene Metapher und die Verschiebung der seriellen Elemente immer auch eine Verschiebung in der Verschiebung selbst. Das symbolische Element der Struktur – bei Deleuze „Objekt = x“ – „hat die Eigenschaft, nicht dort zu sein, wo man es sucht, aber dafür auch gefunden zu werden, wo es nicht ist. Man kann sagen, daß es ,an seinem Platz fehlt‘ (und von daher nichts Reales ist). Ebensogut, daß es sich seiner eigenen Ähnlichkeit entzieht (und von daher kein Bild ist) – daß es sich seiner eigenen Identität entzieht (und von daher kein Begriff ist)“ [WSt 44]97. M.a.W.: Das Ereignis ist also in gewisser Hinsicht selbst nicht, es ist strukturaler Nullpunkt oder Nullwert, der die Verschiebungen, Differenzen und Wiederholungen der Serien veranlasst und sich selbst auf ihnen verschiebt. Es ist „das fortwährende Objekt eines Rätsels, das perpetuum mobile“ [WSt 48], das mit seinem topologischen Ort identisch ist: Das leere Feld, oder Spielfeld, auf dem die Figuren verschoben werden und das sich selbst verschiebt.98 Das heißt: Das Ereignis ist Singularität im Netz von Singularitäten, das diese Nachbarschaftsverhältnisse der Struktur bestimmt. Es ist eine Vielzahl präindividueller und unbegrifflicher Punkte innerhalb der Struktur, an deren beiden Serien der Signifikate und Signifikanten es zugleich Anteil hat, ohne in einer von ihr aufzugehen: „Es besteht aus Punkten der Wiederkehr, der Inflexion usw., aus Verengungen, Knoten, Mittelpunkten, Zentren; aus Verschmelzungs-, Verdichtungs-, Siedepunkten usw.; Punkten der Tränen und der Freude, der Krankheit und der Gesundheit, Hoffnung und Angst, sinnlich genannten Punkten“ [LS 71]. Die Punkte sind nicht identisch weder mit den Personen dieser Gefühle noch mit den Gefühlen selbst, sondern als Ereignis 97 Hier zitiert Deleuze noch einmal Lacan (aaO., 24): „[W]as versteckt ist, [ist] immer nur das […], was an seinem Platz fehlt, wie sich der Auftragszettel ausdrückt, wenn ein Band in der Bibliothek verlorengegangen ist. Und stünde dieser Band auch auf dem Regal oder im Fach nebenan, er wäre verborgen, wie sichtbar er auch scheinen mag. Das kommt daher, daß man nur von dem, was seinen Ort wechseln kann, das heißt vom Symbolischen buchstäblich [ la lettre] sagen kann, daß es an seinem Platz fehle. Denn für das Reale, in welche Unordnung man es auch bringt, befindet es sich immer und in jedem Fall an seinem Platz, es trägt ihn an seiner Sohle mit sich fort, ohne daß es etwas gibt, das es aus ihm verbannen könnte.“ 98 Man denke hier wieder an Schach oder vergleichbare Spiele.

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liegen sie ihnen zugrunde und fördern diese als ihre „Oberflächenwirkung“ hervor.

3.4 Unsinn Gilt für den Strukturalismus immer ein ,Zuviel‘ an Sinn insofern, als die Struktur der Sprache, die Sinn erzeugt, selbst schon Sinn voraussetzt, ist die poststrukturalistische Antwort auf dieses Problem von Deleuze im Unsinn zu finden: „Es gibt zuinnerst einen Unsinn des Sinnes, aus dem der Sinn selbst resultiert.“ [WSt 18] An diesem Punkt wird klarer, was Deleuze über seine Komposition der „Logik des Sinns“ im Vorwort schreibt: „Wir stellen Serien von Paradoxa vor, die die Theorie des Sinns bilden. Daß diese Theorie sich nicht von Paradoxa trennen läßt, ist ganz einfach zu erklären: Der Sinn ist eine nicht-existierende Entität und unterhält sogar ganz besondere Beziehungen zum Unsinn. Die Sonderstellung Lewis Carrolls beruht darauf, daß er die erste große Untersuchung, die erste große Inszenierung der Sinnparadigma vornimmt“ [LS 13].

Die Sonderstellung Lewis Carroll im Werk von Deleuze basiert darüber hinaus vor allem darauf, dass Carroll seine Erzählungen vermittels von Ereignissen seriell strukturiert, dergestalt, dass zwischen zwei einander korrelierenden Serien ein drittes Moment eingefügt sein soll, das die Serien in der punktuellen Verschiebung aufeinander bezieht und miteinander koordiniert. Das jeweils paradoxale dritte Element, das für die Wechselbeziehung und Dyssymmetrie der Serien verantwortlich ist, für den Überschuss auf der einen und den Mangel auf der anderen Seite, dieses leere Feld oder dieser „flottierende Signifikant“ bzw. das entsprechende Parallelum, das überzählige Objekt und das zum ,Flottieren‘ gebrachte Signifikat, muss also seinerseits von der nominalen Verweis- und Bezeichnungsbeziehung dessen, was gewöhnlich ,Sinn‘ genannt wird, unterschieden werden. Weil sich der Sinn nur so ermitteln lässt, das eine Bezeichnung oder ein Name „N“ auf etwas verweist, das selbst nicht dieses „N“ ist, bzw. weil der Sinn jedes „N“ auf ein anderes „N“ verweist (N1 ! N2 ! N3 usw.), muss das dritte und paradoxale Element, das das Ereignis bewirkt, etwas sein, das seinen Sinn selbst bezeichnet: „Der Name, der seinen eigenen Sinn aussagt, kann nur Unsinn sein (Nn)“ [LS 93], sowohl die bezeichnete Sache und ihr Name ineins. So sind Unsinn und das Wort „Unsinn“ miteinander und auf sich selbst differenzierende Weise identisch (so wie die Existenz der mathematischen Null mit ihrer eigenen Nichtexistenz identisch ist). Sinn und Unsinn entsprechen dabei nicht einfach dem Verhältnis von „wahr“ und „falsch“, sondern haben Teil an einem „intrinsischen Verhältnis […], eine[r] Art Kopräsenz“ [LS 94] insofern, dass die Zirkulation des seinen eigenen Sinn ausdrückenden dritten Elementes durch die Serien erst den Sinn bzw. das Ereignis bewirkt: „Nicht nur eine Wirkung im kausalen Sinne; sondern eine Wirkung im Sinne einer ,optischen Wirkung‘, einer ,Klangwirkung‘ oder

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besser eines Oberflächeneffekts, Stellungseffekts, Spracheffekts“ [LS 97]. Das heißt, Unsinn ist, poststrukturalistisch verstanden, nicht das Gegenteil von Sinn, nicht Widersinn: „Der Unsinn ist zugleich das, was keinen Sinn hat, sich aber als solcher der Abwesenheit des Sinns entgegensetzt, indem er die Sinnstiftung vornimmt. Und genau das hat man unter nonsense zu verstehen“ [LS 98] – Sinn-Effekt und Grund dafür, dass Sinn entsteht. Wie kein anderer steht dabei Lewis Carroll als Begründer der literarischen Gattung der Nonsense-Literatur dafür ein, wie der Sinn durch einen durch verschiedene Serien zirkulierenden Moment des Unsinns bewirkt wird. 3.4.1 Unsinn paradoxal Zur Grundlegung des Unsinns führt Deleuze eine spezielle nonsense-Kategorie von ,Wort‘ ein: Das „esoterische Wort“ (i. S.v. ,innerlich‘, sowohl dem Satz als auch seinem Sinn). Dieses durch Serien zirkulierende, esoterische Wort verhält sich als Sinn-Ereignis gemäß den vier Paradoxa der „Logik des Sinns“. Es kann etwa einen infiniten Regress ausdrücken, wie Lewis Carrolls komplexe Namengebung des Gedichtes, das der Ritter Alice in „Alice hinter den Spiegeln“ vorsingt, illustriert: „,Der Name des Liedes heißt ,Heringsköpfe‘[, sagte der Ritter]. / ,Ach! Das ist wirklich sein Name?‘ fragte Alice, damit es nicht so aussähe, als wäre ihr das gleichgültig. / ,Nein, du hast mich falsch verstanden‘, sagte der Ritter etwas unmutig. ,So heißt sein Name nur. Der Name selbst ist ,Der uralte Mann‘.‘ / ,Dann hätte ich also sagen sollen: ,So heißt das Lied also?‘‘ verbesserte sich Alice. / ,Aber nein doch, das ist wieder etwas anderes. Das Lied heißt ,Trachten und Sterben‘; aber freilich heißt es nur so.‘ / ,Ja, aber welches Lied ist es denn dann?‘ fragte Alice, die sich nun gar nicht mehr auskannte. / ,Das wollte ich dir eben sagen‘, erwiderte der Ritter. ,Es ist das Lied ,Hoch droben auf der Pforten‘“99.

Diese Regression, die sich aus rein praktischen Gründen auf vier Glieder beschränkt, geht dabei ein intrikates Wechselspiel der Bezeichnung und des Sinns des Namens des Liedes ein: Auf der noetisch ersten (und chronologisch letzten) Ebene ist das Lied der Name, der auf der zweiten Ebene seine Wirklichkeit oder das Lied selbst bezeichnet. Diese Wirklichkeit des Liedes oder es selbst wiederum hat einen Sinn mit einem neuen Namen, der schließlich von einem weiteren Namen bezeichnet wird und den Ausgangspunkt der Signifikanten- und Signifikatenserien bildet. Die Kette besteht also aus Paaren, deren einer Teil ein Name ist, der etwas bezeichnet, und deren zweiter Teil den Sinn dieses Bezeichneten bezeichnet – was wiederum ein Name ist, der etwas bezeichnet und so fort. In diesem Fall sind die Glieder N1 bis N4 durch die Begriffe „Name/Lied“ und „ist/heißt“ aufeinander bezogen, wobei der Name 99 Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln, Berlin 202012, 118.

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die Bedeutung des Liedes und selbst etwas anderes ist, und zugleich das Lied eine Bedeutung hat, aber etwas anderes ist, und der Sinn des Liedes sich nur in der extrikaten Verbindung der Dimensionen ergibt (oder im Singen des Liedes selbst …): N4: Der Name des Liedes heißt „Heringsköpfe“; N3: Der Name der Liedes ist „Der uralte Mann“; N2: Das Lied heißt „Trachten und Streben“; N1: Das Lied ist „Hoch droben auf der Pforten“.100 Oder, bei Deleuze: „Ein Name, der etwas bezeichnet, verweist auf einen anderen Namen, der dessen Sinn bezeichnet und so endlos weiter. In der Klassifikation Carrolls wird dieses präzise Verhältnis ausschließlich durch N2 und N4 repräsentiert: N4 ist der Name, der den Sinn von N2 bezeichnet. Doch Lewis Carroll fügt noch zwei weitere Namen hinzu: Einen ersten, denn er behandelt das ursprünglich bezeichnete Ding gerade wie einen Namen (das Lied); einen dritten, weil er den Sinn des Bezeichnungsnamens ebenfalls wie einen Namen behandelt, und zwar unabhängig vom Namen, der ihn seinerseits bezeichnen wird“ [LS 50].

Der Sinn ist zudem, entsprechend dem Paradox der sterilen Verdopplung, das sich dem Satz stets entziehende Double, ohne das der Satz sinnlos wäre, oder das Ereignis, das sich der Sprache entzieht, aber nur in ihr ausgedrückt werden kann. Sprache und Sinn verhalten sich entsprechend wie die Cheshire-Katze zu ihrem Grinsen. Der Sinn ,ist‘ gewissermaßen das Grinsen ohne Katze, unabhängig von ihr präsent, aber nicht ohne sie zu denken (denn es ist die Katze, die grinst, auch wenn ihr Grinsen sie überdauert; genau so, wie es die Sprache ist, die den Sinn ausdrückt, aber der Sinn nicht in ihr aufgeht): „,Wie du willst‘, sagte die Katze und verschwand diesmal ganz allmählich, von der Schwanzspitze angefangen bis hinauf zu j dem Grinsen, das noch einige Zeit zurückblieb, nachdem alles andere schon verschwunden war. / ,So etwas!‘ dachte Alice; ,ich habe zwar schon oft eine Katze ohne Grinsen gesehen, aber ein Grinsen ohne Katze! Das ist doch das Allerseltsamste, was ich je erlebt habe!‘“101

Gemäß dem Paradox der Neutralität wird das Ereignis zweimal repräsentiert, einmal im Satz selbst und in den Dingzuständen, in denen es sich ereignet, es also einen dritten Zustand neben diesen beiden Dimensionen darstellt. So verhält es sich mit Alicens Frage während des Falls durch den Kaninchenbau, 100 Vgl. auch das ähnlich angelegte Beispiel des Gesprächs zwischen Alice und der Königin in ders., Alice im Wunderland, 91–93, in dem die Königin in jedem Satz, den Alice spricht, eine „Moral“ findet, die auf den ersten Blick wie eine freie Satzassoziation wirkt, tatsächlich aber den Sinn des vorhergehenden Satzes bezeichnet. 101 AaO., 68 f.

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währenddessen als zu Beginn ihrer Reise in das Ereignis es gleich-gültig ist, dass Katzen Fledermäuse essen und diese jene und schließlich sogar „[d]aß Flederkatzen Mäuse atzen […]; denn weil sie die Antwort ja in keinem Fall wußte, müßt ihr verstehen, war es auch ganz gleich, wie herum sie fragte“102 – weil alle diese Varianten der gleiche Sinn eint.103 Carroll illustriert dieses Paradoxon der neutralen Gleich-Zeitig- und Gültigkeit des Sinns häufig – es ist im Grunde auf jeder Seite seines Werkes verzeichnet, so etwa in der Übergabe zweier Medaillons an Sylvie, eines leuchtend blau, auf dem „Jedermann – liebt – Sylvie“, und eines purpurrot, auf dem „Sylvie – liebt – jedermann“ steht und das sich am Ende des zweiten Romans als ein und das selbe Medaillon herausstellt und seine Bedeutung abhängig von der Betrachtung (sieht man es an, ist es rot, sieht man durch es hindurch, blau) ist, wobei der Sinn durch das ganze Medaillon selbst ausgedrückt wird. 3.4.2 Unsinn dimensional Auch in den vier Dimensionen des Satzes begegnet der Unsinn des EreignisWortes dort, wo der Sinn oder das Ereignis die Serien der Signifikate und Signifikanten aufeinander bezieht und Sprache dynamisch bzw. sinnvoll, selbst zum Ereignis wird; andernfalls verlieren Bezeichnung, Manifestor und Bedeutung selbst jeden Eigen-Sinn. Das ist das Problem des Verweises bzw. seiner Kehrseite, der Referenzlosigkeit, d. h. Sinnlosigkeit (das einzige „logische“ Gegenteil zu Sinn). Am Beispiel der oben erstgenannten Dimension der Bezeichnung „fragt Lewis Carroll: Wie könnten die Namen einen ,Bürgen‘ haben? Und was bedeutet es für etwas, mit seinem Namen übereinzustimmen? Und was, wenn die Dinge nicht ihrem Namen entsprechen, hindert sie daran, ihren Namen zu verlieren?“ [LS 35]. So geschieht es Alice, als sie in „Alice hinter den Spiegeln“ nach dem Gespräch mit einer Schnake über die Namen von Insekten in den Wald ohne Namen eintritt: „,Wozu brauchen sie denn Namen?‘, bemerkte die Schnake, ,wenn sie nicht darauf hören?“ / ,Sie selbst brauchen sie auch nicht‘, sagte Alice, ,sondern wahrscheinlich nur die Leute, die sie bezeichnen wollen. Wozu sollte denn sonst überhaupt etwas einen Namen haben?‘ / ,Da bin ich überfragt‘, sagte die Schnake. ,In dem Wald dort j drüben hat nichts einen Namen‘“104 –

denn im Sog dieses Waldes verliert alles seinen Namen, d. h. wird der Manifestor als Satzdimension obsolet und der Satz selbst ganz auf den Sinn verwiesen, den er ausdrückt: 102 AaO., 14. 103 Vgl. Lewis Carroll, Sylvie und Bruno. Eine Geschichte, München 2006, 69 resp. 539–541. 104 Ders., Alice hinter den Spiegeln, 46 f.

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„,Nun, einen Vorteil hat es wenigstens‘, sagte sie, während sie zwischen die ersten Bäume trat, ,man kommt dabei von der Hitze in den – in den – in den Was?‘, fragte sie, ganz überrascht, daß ihr das Wort nicht einfallen wollte. ,Ich meine, zwischen die – die – nun, das da eben!‘ und faßte dabei einen Baumstamm an.“105

Deleuze fragt nach dem konstatierten Verlust der Beziehung von Bezeichnung und Sein auf dieser Grundlage: „Was bliebe also, außer das Willkürliche der Bezeichnungen, denen nichts entspricht, und die Leere der Indikatoren und der formalen Designatoren vom Typus ,das da‘ – die einen wie die anderen des Sinns beraubt?“ [LS 35]. Auch Alice verliert ihren Namen, bis ein Reh sie bezeichnet: „,[D]u – du meine Güte! – du bist ja ein Menschenkind!‘“ – und sie sich ihres Namens wieder erinnert.106 Schließlich wird sie im Gespräch mit Goggelmoggel (engl.: Humpty Dumpty) wenig später auf den Zusammenhang von Bezeichnung im Namen und Bedeutung als Identität verwiesen: „,Ich heiße Alice, aber –‘ / ,Albern genug für einen Namen!‘, unterbrach sie Goggelmoggel unwirsch. ,Was soll der denn bedeuten?‘ / ,Muß denn ein Name etwas bedeuten?‘, fragte Alice zweifelnd. ,Das ist doch klar‘, sagte Goggelmoggel, kurz auflachend; ,mein Name zum Beispiel bedeutet meine Leibesform – eine sehr ansehnliche Form übrigens. Mit einem Namen, wie du ihn hast, könntest du jede xbeliebige Form haben, beinahe.‘“107

Das unsinnige Ereignis-Wort (wie „Humpty Dumpty“), das durch zwei heterogene Serien zirkuliert, begegnet Deleuze bei Carroll etwa auch in der ,allertrockensten‘ Geschichte, die die Maus Alice und den Tieren erzählt, nachdem sie im Wunderland im Tränenbad durchnässt wurden: „,[…] Aber Kurfürst Max Joseph von Bayern lenkte voller Mißtrauen gegen die österreichischen Absichten auf die Seite Napoleons. Er fand es klüger –‘ / ,Was fand er?‘ fragte die Ente. / ,Es‘, antwortete die Maus etwas spitz. ,Was ›es‹ ist, wirst du ja wohl noch wissen.‘ / ,Wenn ich etwas finde, weiß ich ganz genau, was ›es‹ ist‘, sagte die Ente, ,nämlich im allgemeinen ein Frosch oder ein Wurm. Aber hier geht es ja darum, was der Kurfürst von Bayern fand.‘ / Die Maus überging diesen Einwand und sprach rasch weiter: ,Er fand es klüger, die bayerischen Regimenter rechtzeitig dem österreichischen Angriff zu entziehen. […]‘“108

Maus und Ente verstehen „es“ offensichtlich völlig unterschiedlich: Die Ente versteht darunter und damit etwas Bezeichenbares (und wie so oft bei Carroll: etwas Essbares), es dient als Indikator. Hingegen bezeichnet „es“ für die Maus den Sinn des vorhergehenden Satzes, das durch das vorhergehend Gesagte Ereignis: „Die Zweideutigkeit des es teilt sich also der Dualität der Bezeich105 106 107 108

AaO., 50. AaO., 52. AaO., 82 f. Ders., Alice im Wunderland, 29.

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nung und Ausdruck entsprechend auf. Die beiden Dimensionen des Satzes organisieren sich in zwei Serien, die nur im Unendlichen, in einem so doppelsinnigen Term wie es konvergieren, da sie sich nur an der Grenze begegnen, an der sie unablässig entlanglaufen“ [LS 46]. Die Bezeichnung und ihre Bedeutung hängen ihrerseits vom Manifestor ab, dessen Implikationen sich im Satz niederschlagen und so „die Designatoren selbst Sinn nur abhängig von einem ,Ich‘ haben, das sich im Satz manifestiert [… und] der Sinn in den Meinungen (oder Wünschen) desjenigen enthalten ist, der sich ausdrückt“ [LS 35]: „,Wenn das keine Glocke ist!‘ / ,Ich verstehe nicht, was Sie mit ›Glocke‹ meinen‘, sagte Alice. / Goggelmoggel lächelte verächtlich. ,Wie solltest du auch – ich muß es dir doch zuerst sagen. Ich meinte: ›Wenn das kein einmalig schlagender Beweis ist!‹ j ,Aber ›Glocke‹ heißt doch gar nicht ›einmalig schlagender Beweis‹‘, wandte Alice ein.“109

Wenn Goggelmoggel sich die Freiheit nimmt, jedes Wort das bezeichnen zu lassen, was er will – „,Wenn ich ein Wort gebrauche‘, sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, ,dann heißt es genau, was ich für richtig halte – nicht mehr und nicht weniger‘“110, bemerkt Carroll damit ein Grundproblem nicht nur paradoxaler, sondern logischer Natur, weil „die Identität des Ich, das spricht und ,Ich‘ sagt, nur durch die Beständigkeit bestimmter Signifikate (Begriff Gottes, der Welt) geleistet [wird]. Das ,Ich‘ ist in der Ordnung des Sprechens nur erstes und ausreichend, sofern es Bedeutungen umhüllt, die in der Ordnung der Sprache für sich selbst entwickelt werden müssen. Wenn diese Bedeutungen zusammenbrechen oder nicht an und für sich begründet sind, verliert sich die persönliche Identität […] unter Bedingungen, in denen Gott, die Welt und das Ich zu uneindeutigen Gestalten des Traums irgendeines nur unzureichend Bestimmten werden“ [LS 36].

3.4.3 Unsinn kategorial Vor allem macht Deleuze bei Carroll vier kategorial unterschiedliche, literarische Verfahrensweisen aus, Unsinn zu schreiben, d. h. konkret: wie ein einzelnes Wort einen Gegenstand bezeichnen kann, der innerhalb einer oder mehrerer Serien die Funktion der Koordination erfüllt und dabei über den gewöhnlichen Sprachgebrauch hinausweist – „esoterische“ Wörter und ihnen entsprechende „exoterische“ Objekte: „Erstens, zwei Ereignisserien mit minimalen inneren Differenzen, die durch ein sonderbares Objekt geregelt werden“ [LS 64]: Dieses Objekt ist in Lewis 109 Ders., Alice hinter den Spiegeln, 87 f. 110 AaO., 88.

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Carrolls großem Nachfolgeroman der Aliceerzählungen, der allerdings nie an deren Popularität anschließen konnte, „Sylvie und Bruno“, etwa eine „quadratische, goldene Uhr mit sechs oder acht Zeigern […], welche die spezielle Eigenschaft besitzt, daß nicht sie mit der Zeit, sondern die Zeit mit ihr geht.“111 Mit ihrer Hilfe dreht der Erzähler später das Gespräch zweier Fischersfrauen kurz nach deren Verabschiedung voneinander wieder auf dessen Mittelteil zurück und wiederholt den Unfall eines Fahrradfahrers mit einem einspännigen Karren, und obwohl er bester Absicht war und das Ereignis durch Zurückdrehen des Zeigers verhindern wollte, es doch nur in eine zweite Serie verlagert.112 Die magische Uhr „lässt die Ereignisse auf zwei Arten wiederkehren, sei es verkehrt herum in einem Verrückt-Werden, sei es mit kleinen Abwandlungen in einem stoizistischen Fatum“ [LS 64]. Entscheidend an der Verlagerung des Ereignisses des Fahrradunfalls von der einen in die andere Serie ist, dass die Uhr wohl das Eintreten des Ereignisses in der Zeit, nicht aber das Ereignis selbst aufzuhalten vermochte. „Zweitens, zwei Ereignisserien mit großen und beschleunigten inneren Differenzen“ [LS 64]: Nach dieser literarischen Vorgabe ist das die Gesamtanlage bestimmende Präludium des zweiten der Aliceromane, „Alice hinter den Spiegeln“, mehr aber noch „Sylvie und Bruno“ bis in die Details hinein komponiert. Im Vorwort zum Zweiten Band von „Sylvie und Bruno“, in dem sich Lewis Carroll über Entstehung und Absicht dieses Romans Rechenschaft gibt, beschreibt er sein Vorgehen als das auf der Suche nach drei verschiedenen Zuständen,113 von denen der erste einem „normalen“ entspricht, der zweite einem „irrlichen“ Zustand zwischen einer phantastischen und einer normalen Sphäre und schließlich der dritte einer Art „Trance“ oder Traumzustand, in der man sich ganz in der phantastischen Welt befindet. Diese Ereigniszustände korrespondieren dabei miteinander derart, dass jede der Personen in den Traumserien sowohl in der realen als auch in der phantastischen Welt auftaucht und durch die gleiche Motivik in teils absurder oder auch nur verkehrter Umkehr die Serien einander entsprechen lässt.114 Es ist dies ein Grundmotiv auch der folgenden Serien, weswegen ich es hier nur anreiße. „Drittens, zwei Satzserien […] mit starker Ungleichheit, die von einem esoterischen Wort geregelt werden“ [LS 65]: Mit der Kategorie der „esoterischen“ Wörter nähert sich Deleuze dem Unsinn noch deutlicher, indem er ganz auf der Ebene der Sprache zwei verschiedene Typen von Wortkonstruktionen und -„konsumtionen“ unterscheidet. Beiden Typen gemein ist, dass sie durch die Serie(n) zirkulieren und den Sinn der Serie(n) konstituieren, indem sie ihn 111 112 113 114

Ders., Sylvie und Bruno, 216. Vgl. aaO., 235–237. Vgl. aaO., 276 f. Lewis Carroll listet im Vorwort zum zweiten Band der Geschichte selbst auf, welche Serien welcherart und mit welchen Personen einander korrespondieren, vgl. aaO., 278.

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ungreifbar machen: Zunächst und nur auf eine Serie bezogen die Konnexion eines ganzen Satzelementes in der Synthese eines Wortes, wenn etwa der kleine Junge Bruno zu Beginn von „Sylvie und Bruno“ vom Kanzler mit „Ihro Hochwohlgeborene Exzellenz“ verwechselt und entsprechend mit „Knoit“ angesprochen wird (ein Titel, „der, wie ihr natürlich auch ohne meine Erklärung wißt, nichts anderes bedeutet als ,Königliche Hoheit‘ in eine Silbe gepreßt“115), oder auch „die Silbenverlängerung durch Vermehrung der Konsonanten oder der einfache Verzicht auf die Vokalbildung, wobei nur die Konsonanten beibehalten werden (als ob gerade sie in der Lage wären, den Sinn auszudrücken, und die Vokale nur Bezeichnungselemente seien) usw.“ [LS 65]. Weit verbreiteter bei Lewis Carroll, zumal in den mannigfaltigen Gedichten in all seinen Werken, sind allerdings die esoterischen Wörter eines zweiten Typs, der Synthese verschiedener, koexistierender Sinnebenen: Diese Wörter drücken entweder un-sinnige Onomatopöien aus, entziehen sich der Bestimmung und einer konkreten Bezeichnung (,aliquid‘; ,Dingsda‘), lassen sich selbst nicht eindeutig bezeichnen oder stehen jeweils für ein anderes Wort in unendlicher Wiederholung. So ist etwa der „Phlizz“116 ein Wort, das eine nichtexistente Existenz bezeichnet, eine traumartige Illusion, wobei es streng genommen nicht einmal etwas bezeichnet, sondern dafür einsteht, etwas zu bezeichnen, das es gerade nicht bezeichnet, genau wie alle anderen Wortkreationen Carrolls oder jedes ,esoterische‘ Wort: „Im Prinzip ist es das leere Feld, das leere Fach, das ausgelassene Wort […]. [D]er Phlizz ist fast eine Onomatopöie dessen, was entschwindet“ [LS 66]. Immer zirkulieren esoterische Worte synthetischer Koexistenz dabei durch die Serien, die sie miteinander verbinden, wie im Falle des Phlizz durch die Wach-Traum-Serien des Erzählers, der etwa zwei unbekannte Kinder trotz ihrer Ähnlichkeit zu Sylvie und Bruno erst erkennt, als das sie begleitende Kindermädchen – durch Brunos „Phlizz“ – verschwindet, aber ohnehin nie wirklich dagewesen ist. Noch konsequenter ist diese Nichthabbarkeit des Ereignisses in der Nichtund-Zugleich-Identität des Wortes mit seinem Sinn im berühmten NonsenseGedicht „The Hunting of the Snark“117 dargestellt. Obwohl der Schnark an115 AaO., 25. 116 Vgl. etwa Kapitel XIX aaO., 189–199: „Wie man einen Phlizz macht“, wobei dieses Kapitel nur auf der letzten Seite tatsächlich vom Phlizz handelt (und davor eine überaus kritische und zugleich wohlwollende Kirchen- und Predigtkritik bietet), allerdings so, dass es gerade nicht aufgelöst wird: „,Und wie macht man einen Phlizz, Bruno?‘ / ,Hat mir der Professor gelernt. Erst mal brauchs’de jede Menge Luft –‘ / ,Aber Bruno!‘ unterbrach Sylvie. ,Der Professor hat doch extra gesagt, du sollst es nicht weitererzählen!‘“. en.oxforddictionaries.com definiert das Wort so: „Something apparently existing, or existing in name, but having no real substance; anything without meaning or value; a chimera.“ 117 Lewis Carroll, The Hunting of the Snark. An Agony in Eight Fits, 2009. Da es sich um ein Gedicht und zumal um eine muttersprachliche Wortkreation handelt, die ihren Sinn vor allem im Englischen entfaltet, wird im Folgenden auf das Original zurückgegriffen.

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hand von fünf Erkennungszeichen vermeintlich eindeutig identifizierbar ist118 und obwohl auch die zielsichere Methodik, ihn zu fangen, zu Beginn eines jeden der sieben Anläufe befolgt wird,119 begegnen seine Jäger ihm nie: Lediglich der Anwalt wird sein Zeuge in einem Traum,120 und in seiner Parallelgestalt (die nicht, wie es nahelegen mag, eine Untergattung des Schnark ist, denn das „Verhältnis von Gattung und Art greift hier nicht, es geht nur um die beiden dyssymetrischen Hälften einer letzten Instanz“ [LS 92]) „Buhdscham“, ist er der Grund für das Verschwinden des Bäckers, dem einzigen Crew-Mitglied, das seiner ansichtig wurde.121 Darüber hinaus ist der Schnark vor allem ein Musterbeispiel für die Zirkulation eines Wortes durch mehrere durch diesen Begriff ausgedrückte Serien, in diesem Fall durch die bezeichnete und die expressive, bzw. durch die semeiologische und konsumptive. Das wird angedeutet durch die Methodik des Fangs: „They sought it with thimbles, they sought it with care; / They pursued it with forks and hope“122, zieht sich aber als Grunddualität durch das gesamte Gedicht. ,Thimbles‘ und ,forks‘ beziehen sich auf die verwendeten Instrumente, ,care‘ und ,hope‘ „indes auf Sinn- und Ereignisüberlegungen […]. Das eigenartige Wort Schnark ist die beständig verlängerte und zur gleichen Zeit von zwei Serien gezogene Grenze“ [LS 46] – und in diesem Sinne ist der Sinn des Schnark die Jagd selbst. „Viertens, die Serien mit starker Verzweigung, durch Schachtelwörter geregelt und nötigenfalls durch esoterische Wörter eines vorhergehenden Typs gebildet“ [LS 66]: Neben diesen drei Kategorien esoterischer Wörter – einfache Kontraktion (,Knoit‘) einer Serie, onomatopoetische Synthese paralleler Serien (,Phlizz‘) und konnektive Synthese der seriellen Sukzession (,Schnark‘) – stellt die vierte Kategorie der esoterischen Schachtelwörter noch einmal einen Sonderbereich dar, der im Gegensatz zu den vorigen die Semantik des Wortes und seine Funktion genau so wie der Begriff „Unsinn“ selbst gleichermaßen miteinander verbindet (zwar ist auch „Snark“ im englischen Original insofern ein Schachtelwort, als es aus „snake“ und „shark“ zusammengesetzt ist, aber dieser Aspekt ist für seine [sprachliche] Funktion unerheblich). Hierfür finden sich im Vorwort zu „The Hunting of the Snark“ zwei Beispiele, die Carroll selbst zur Illustration seiner Vorgehensweise beschreibt und erklärt: „Supposing that, when Pistol uttered the well-known words— ,Under which king, Bezonian? Speak or die!‘ 118 Vgl. aaO., 14 f. 119 „They sought it with thimbles, they sought it with care / They pursued it with forks and hope / They threatened its life with a railway-share / They charmed it with smiles and soap.“ 120 Carroll, The Hunting of the Snark, 30–33. 121 Vgl. aaO., 38: „They hunted till darkness came on, but they found / Not a button, or feather, or mark, / By which the could tell that they stood on the ground / Where the Baker had met with the Snark. / In the midst of the word he was trying to say, / In the midst of his laughter and glee, / He had softly and suddenly vanished away— For the Snark was a Boojum, you see.“ 122 Zu Beginn eines jeden „Krampfes“.

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Justice Shallow had felt certain that it was either William or Richard, but had not been able to settle which, so that he could not possibly say either name before the other, can it be doubted that, rather than die, he would have gasped out ,Rilchiam!‘“123

Oder, mit expliziter Erklärung: „For instance, take the two words ,fuming‘ and ,furious.‘ Make up your mind that you will say both words, but leave it unsettled which you will say first. Now open your mouth and speak. If your thoughts incline ever so little towards ,fuming,‘ you will say ,fuming-furious;‘ if they turn, by even a hair’s breadth, towards ,furious,‘ you will say ,furious-fuming; ‘ but if you have the rarest of gifts, a perfectly balanced mind, you will say ,frumious.‘ “124

Hier ist die Gleichzeitigkeit des Wortausdrucks genau so entscheidend wie der Unterschied zwischen erster und zweiter Äußerungsmöglichkeit, denn es ist durchaus möglich, sowohl „grimmig“ als auch „grollend“ zu sein bzw. „grollend“ als auch „grimmig“ [dt. Übersetzung] – ,but if you have […] a perfectly balanced mind‘, wird das Wort beides zugleich und sowohl von der Sukzession als auch von der Kontraktion unterscheidbar: Es ist dann eine Disjunktion nicht zwischen den einzelnen Wörtern, sondern der synthetischen Abfolge der Worte selbst: „Wenn das esoterische Wort nicht allein die Funktion hat, zwei heterogene Serien zu konnotieren oder zu koordinieren, sondern Disjunktionen in sie einzuführen, dann ist das Schachtelwort notwendig oder notwendigerweise begründet“ [LS 69].

123 AaO., 6. 124 Ebd.

4. Deleuze zur Wiederholung 3G7,)-L! D% .N4û Mxú´5(=! A=8%¦* @4"8)9! 8=)¡ 8) L5)²?,! N9=*¦8!@ LMû´14#9( 4l8¤ L5)²?,! 8©=) 8)Mû-, 1.8B( * Koh 3,15

Abschließend zum ersten Teil dieser Studie bietet es sich an, als Scharnier noch einmal explizit Deleuzes Begriff der ,Wiederholung‘ zu bedenken und zu zeigen, wie das dahinterstehende Konzept in seiner Qualifikationsschrift „Differenz und Wiederholung“ bereits vorgedacht ist. Wo sich das Ereignis als ,Wiederholung‘ ausdrückt, denkt Deleuze dies stets nietzscheanisch1 und meint damit weder Kopie des Selben oder des Identischen noch die Entstehung des Ähnlichen. ,Wiederholung‘ ist gänzlich unabhängig zu verstehen von einer isoliert verwirklichten und mit sich selbst identischen Entität. Sie ist die Differenz schlechthin und das ,Ansich‘ des Differenten, so wie reziprok die Differenz das ,Fürsich‘ der Wiederholung ist – nur so lässt sich Wiederholung als etwas Anderes als das Identische identifizieren: Die Wiederholung differenziert die Differenz und die Differenz wiederholt die Wiederholung. Es handelt sich im Grunde um ein erkenntnistheoretisches Problem, wenn Deleuze feststellt, dass erst die Wiederholung in der Gegenwart die Vergangenheit konstituiert, so wie das Gedächtnis des Jahrestages des Sturms auf die Bastille erst dieses Ereignis und die zweite Rose Monets die das Ereignis der ersten konstituiert: „Die Wiederholung ist Beharrlichkeit des Selben ebensowenig wie Ähnlichkeit des Vielen. Das Subjekt der ewigen Wiederkehr ist nicht das Selbe, sondern das Differente, nicht das Ähnliche, sondern das Unähnliche, nicht das Eine, sondern das Viele, nicht die Notwendigkeit, sondern der Zufall. Viel eher impliziert die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft die Zerstörung aller Formen, die deren Funktionieren behindern, die Kategorien der Repräsentation, die in der Vorbedingung des Selben, des Einen, des Identischen und des Gleichen verkörpert sind. […] Die ewige Wiederkehr ist das Selbe des Differenten, das Eine des Vielen, das Ähnliche des Unähnlichen.“ [DW 165]

1 Neben Einflüssen von Charles P guy und Søren Kierkegaard; vgl. dazu und zu Deleuzes Begriff von Wiederholung seine ungleich bedeutendere Nietzsche-Rezeption DW 128–130 et passim.

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Das ist der Unterschied der beiden ,gemeinen‘ Aspekte der Wiederholung,2 der ,Gewohnheit‘ als der „Gründung der Zeit“ und dem ,Gedächtnis‘ als dem „Grund der Zeit“: „Die Gründung betrifft den Boden und zeigt, wie sich etwas auf diesem Boden einrichtet, ihn besetzt und ihn in Besitz nimmt; der Grund aber kommt eher vom Himmel herab, reicht vom First bis zu den Fundamenten, schätzt Boden und Besitzer einem Besitztitel gemäß gegeneinander ab. Die Gewohnheit ist die Gründung der Zeit, der schwankende Boden, der von der vorübergehenden Gegenwart besetzt wird. Gerade im Vorübergehen liegt der Anspruch der Gegenwart. Was aber die Gegenwart vorübergehen läßt und Gegenwart und Gewohnheit aufeinander abstimmt, muß als Grund der Zeit bestimmt werden. Der Grund der Zeit ist das Gedächtnis“ [DW 111].

Für Deleuze stellt ,Gewohnheit‘ als erster modus der Wiederholung das Grundgerüst der vorübergehenden Gegenwart dar, während im Gedächtnis grundlegend die Vergangenheit aufgehoben ist – und zwar als „ein Sein dessen, was die Gegenwart vorübergehen läßt“ [DW 111]. Mit dieser Unterscheidung lassen sich nun zweitens auch Gegenwart und Vergangenheit hinsichtlich ihrer erkenntnistheoretischen Qualitäten unterscheiden: Im Gedächtnis ist die Vergangenheit sowohl allgemeiner und die Gegenwart besonderer Natur als auch vice versa; beide sind einander – mit Husserl – sowohl v k g als auch l o q v g´ (vgl. oben) und stets wechselseitig ,intendiert‘. Die Perspektive markiert hier den Unterschied: Vom Standpunkt der Gewohnheit betrachtet besteht die Gegenwart aus aktuell vorübergehenden Vergangenheiten und ist selbst besonderer Natur, während diese allgemein sind; umgekehrt und vom Standpunkt des Gedächtnisses betrachtet, wird die aus der Gegenwart intendierte Vergangenheit zum Besonderen, während diese allgemeiner Natur ist. Eine wie im Proustschen Combray-Ereignis zwischen zwei Gegenwarten eingekeilte Vergangenheit (vgl. oben) lässt sich ihrerseits nur in drei parallelen Paradoxa – der Kopräsenz, der Koexistenz und der Präexistenz – denken: Sie ist einerseits gleichzeitig mit der Gegenwart, die sie selbst einmal war, damit diese vorübergehen konnte: „Niemals würde eine Gegenwart vergehen, wenn sie nicht ,zur gleichen Zeit‘ vergangen wie gegenwärtig wäre; niemals würde sich eine Vergangenheit bilden, wenn sie sich nicht zunächst ,zur gleichen Zeit‘, als sie Gegenwart gewesen ist, gebildet hätte“ [DW 113]. Mit Henri Bergson ist dann jede Gegenwart nichts anderes „als die Vergangenheit insgesamt im Zustand größter Kontraktion. Die Vergangenheit läßt keine der Gegenwarten vergehen, ohne die andere geschehen zu lassen, sie selbst aber vergeht weder, noch geschieht sie. […]j Man kann nicht sagen: Sie war. Sie existiert nicht mehr, sie existiert nicht, sondern sie insistiert, sie besteht [consiste], sie 2 So sei der Einfachheit halber das etwas komplexere, aber für die hiesigen Zwecke nicht weiter entscheidende System der drei „passiven Synthesen der Zeit“ im modus der Wiederholung hier und im Folgenden wiedergegeben; vgl. dazu genauer das zweite Kapitel „Die Wiederholung für sich selbst“ in DW 99–168.

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ist. Sie insistiert mit der früheren Gegenwart, sie besteht als letzter Grund des Übergangs, sie besteht [consiste] zusammen mit der aktuellen oder neuen. Sie ist das Ansich der Zeit als letzter Grund des Übergangs“ [DW 113 f.].

Die Vergangenheit ist hier das Apriori der Zeit schlechthin als eine Vergangenheit, die mit der Gegenwart, die vergangen ist, nicht gleichzeitig ist; als eine Vergangenheit, die selbst nie war und sich nicht im Nachhinein zur gewesenen Gegenwart bildet, und die sich allein über die Erinnerung stets neu aktualisiert, wie sie nie anders gewesen ist als ,heute‘. Vielmehr ist die Vergangenheit hier gleichzeitig mit der Gegenwart so, dass die Gegenwart sie voraussetzt und dass sie sich selbst voraussetzt: Sie ist gleichzeitig zur Gegenwart, die sie selbst gewesen ist, und gleich-seiend mit der Gegenwart, auf die sie sich im Voraus bezieht und sie so ermöglicht, dass sie nie vergangen war. In diesem zweiten modus der Wiederholung ist die Gegenwart nicht, sondern sie geschieht stets aus der Vergangenheit; und nicht die Vergangenheit war, sondern sie allein ist. Ist in dieser zweiten Weise der Wiederholung die Vergangenheit aber zugleich präexistent zur Gegenwart und besteht für sich als ,Ansich der Zeit‘, dann besteht die Möglichkeit ihrer Bewahrung ohne Reduktion auf die Gegenwart, die sie gewesen ist (denn dann wäre sie nicht mehr Vergangenheit) allein in der Wiedererinnerung.3 Sie drückt ihrerseits keine aktive Erinnerungsleistung aus, sondern stellt eine Synthese von Gegenwart und Vergangenheit dar, die diese beide Dimensionen im Gedächtnis transzendiert und transformiert: Die tatsächliche Entsprechung der Wiederholung muss nach Deleuze in einer Form jenseits von Gewohnheit und Gedächtnis gesucht werden, in einer Wiederholung nach vorn, in der die Vergangenheit die Zukunft antizipiert und so die Gegenwart als vergangensheitsvollzogene Zukunft ausdrückt. Sind Vergangenheit und Zukunft befreit von ihrer Abhängigkeit zur Gegenwart im modus der Gewohnheit einerseits und ist die Vergangenheit nun zweitens als das ,Ansich‘ der Gegenwart als deren Grund überwunden, so zeigt sich als die dritte Form der Wiederholung – als „königliche Wiederholung“ – die Zukunft. In ihr „ist die Gegenwart nurmehr ein Akteur, ein Autor, ein zur Selbstauslöschung bestimmtes Handelndes; und die Vergangenheit ist nur mehr eine Bedingung, die aus Mangel wirkt. Die Synthese der Zeit bildet hier eine Zukunft, die zugleich den unbedingten Charakter des Hervorgebrachten im Verhältnis zu seiner Bedingung und 3 Deleuze zu Proust (vgl. oben Kapitel 2.1): „Combray taucht nicht in der Art wieder auf, wie es gegenwärtig war oder sein könnte, sondern in einem Glanz, der nie erlebt wurde, als eine reine Vergangenheit, die schließlich ihre doppelte Unreduzierbarkeit offenbart: auf die Gegenwart, die sie gewesen ist, aber auch auf die aktuelle Gegenwart, die sie sein könnte – dank einer Verkeilung beider“ [DW 117]. In diesem Sinne der zeitlichen Wiederholung scheint das ,Ansich‘ Combrays, das ,Ansich‘ der Vergangenheit im Moment des Erinnerns auf in einer Weise, die die gewesene Gegenwart in die aktuelle Gegenwart transzendiert und beiden nicht identisch, sondern nur repräsentativ entspricht.

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die Unabhängigkeit des Werks im Verhältnis zu seinem Autor oder Akteur affirmiert“ [DW 127].

In ereignisphilosophischer Perspektive kehren sich entsprechend die Vorzeichen des ,gesunden Menschenverstandes‘ um: Die Gegenwart wiederholt in der und als Gewohnheit; die Vergangenheit ist selbst Wiederholung im und als Gedächtnis, und allein die Zukunft ist das Objekt der Wiederholung, das, was sich wiederholt und das Wiederholte selbst. Nicht: Die Summe der in unendlich vielen Gegenwarten wiederholten Vergangenheit ist die Zukunft, sondern die Zukunft selbst wird wiederholt. Alle drei Stadien der Wiederholung wiederholen sich selbst, aber die Wiederholung der Zukunft lässt als reine Wiederholung die beiden Vor-Stadien hinter sich. Sub specie futurae wird die Gegenwart zum Inhalt und wird die Vergangenheit zur Form der Zeit, wird es mit Deleuze möglich, „mit einer Hand gegen Habitus, mit der anderen gegen Mnemosyne“ zu „kämpfen“ [DW 127] und so ,Differenz und Wiederholung‘ wirklich zusammenzudenken. Als reine Wiederholung vereint die Zukunft so die Differenz mit sich selbst, indem sie sie nicht nur inhaltlich aus sich heraussetzt oder schlicht als ihr Selbes oder Ähnliches repräsentiert. Sie sprengt allzu simple Zyklen der Identität: „[D]en Zyklus, dem eine gewohnheitsmäßige Gegenwart unterliegt (Zyklus der Gewohnheit), ebenso wie den Zyklus, der eine reine Vergangenheit erstellt (Zyklus des Gedächtnisses […])“ [DW 128]. Indem sich die Zukunft den Bedingungen von provozierendem Handeln und repräsentierendem Denken entzieht, wiederholt sie wahrhaft und wiederholt sie das „absolut Verschiedene“ und wird „die Wiederholung an sich selbst die Differenz an sich selbst“ [DW 128]. Wenn mit Kierkegaard die Wiederholung die präzise Gegenbewegung zur Erinnerung ist – „[d]enn was da erinnert wird, ist gewesen, wird nach rückwärts wiederholt, wohingegen die eigentliche Wiederholung nach vorwärts erinnert“4 [i] – wird die Wiederholung der Zukunft werdend Ereignis,5 indem gerade nicht das Selbe, 4 Søren Kierkegaard, Die Wiederholung. Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie, Frankfurt 1991, 7. 5 Vgl. dazu auch neuerdings aus bibelhermeneutischer Perspektive mit Verweisen auf Kierkegaard Andreas Schüle in Alexander Deeg u. Andreas Sch le, Die neuen alttestamentlichen Perikopentexte. Exegetische und homiletisch-liturgische Zugänge, Leipzig 2018, 25: „Wenn Kierkegaard von Wiederholung spricht, meint er damit nicht ein landläufiges NochmalTun – ein Gedicht, das man so lange übt, bis man es auswendig kann. Er meint damit auch nicht ein routiniertes, aber weitgehend unreflektiertes Wieder-Tun wie das morgendliche Zähneputzen oder der Gang zum Bäcker. Kierkegaard erläutert sein Verständnis von Wiederholung an einem Beispiel aus seiner psychiatrischen Praxis: Er erzählt von einem jungen Mann, einem seiner Patienten, der über beide Ohren verliebt ist, die Geliebte verehrt und geradezu vergöttlicht. Allerdings kann er diese Liebe nur im modus der Hoffnung einerseits und der Erinnerung andererseits einordnen. Natürlich hofft er darauf, dass sich diese Liebe erfüllen wird. Andererseits kann er von dieser Liebe nicht anders reden als in der Erinnerung an die erste Begegnung mit der jungen Frau. Er erinnert sich daran, wie sie damals aussah und wie es sich anfühlte, in ihrer Gegenwart zu sein. Was er allerdings nicht kann, ist diese Liebeserinnerung in seine Gegenwart hineinzunehmen, sie also in seine Existenz hinein ›wieder-zu-holen‹. Wiederholung ist

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sondern die Differenz wiederholt wird. Die Differenz ist Gegenstand der Wiederholung und zeitigt nur so Ereignis.

etwas Altes und etwas Neues zugleich, es ist etwas Dagewesenes und etwas Gegenwärtiges. Alles Gegenwärtige holt etwas wieder, braucht einen Referenzpunkt, ohne den es richtungslos in der Zeit treiben würde. Kierkegaard kann das Eigentümliche der Wiederholung im Unterschied zur reinen Erinnerung oder Hoffnung bildlich anhand eines Kleidungsstücks ausdrücken: »Die Hoffnung ist ein neues Kleid, steif und straff und glänzend, doch hat man es nie getragen und weiß deshalb nicht, wie einem stehen wird, oder wie es sitzt. Die Erinnerung ist ein abgelegtes Kleidungsstück, das, so schön es auch ist, doch nicht passt, weil man aus ihm herausgewachsen ist. Die Wiederholung ist ein unverwüstliches Kleid, das fest und schmiegsam anliegt, weder drückt noch lose hängt.«“

B: Ereignis Gottesdienst, oder: Paradoxale Horizonte

1. Ereignis theologisch: Skizzen „Das Ereignis hat Vorrang.“ Edmond Jab s1

Bevor das Wort „Ereignis“ als Begriffswort in und seit den 1990er Jahren in Deutschland genuin praktisch-theologische Relevanz erlangte, verzeichnete es einen interkontinentalen Weg, der vor allem mit Stolpersteinen analytischer Art gepflastert ist. „Ereignis“ wird und wurde auf diesem Weg seit gut 100 Jahren theologisch breit verwendet, wurde und wird inhaltlich allerdings mit unzähligen Synonymen bis zur nahezu beliebigen Bedeutungslosigkeit (bzw. besser: Sinnlosigkeit) gefüllt – und das ist vielleicht unvermeidbar. Ereignis – dieses Hybrid von Sprache und Dingen, das eine Unzeit beschreibt und das ist, obwohl es nicht existiert, Kreis und Linie aufeinander different bezieht und dem Unsinn mehr zuneigt als dem Sinn: Ereignis ist Paradox par excellence, indem es – paq± d|nam – stets das Gegenstück zur Doxa als Meinung, zu jeder Vermutung oder Erwartung markiert bzw., mit dem Praktischen Theologen Henning Schröer (1931–2002) gesprochen, „gegen das Vorverständnis“2 steht. „Ereignis“ als paradoxer Begriff ist geeignet wie kaum ein anderer, theologische Suchbewegungen nach dem Unsagbaren zu orientieren und ist entsprechend in der jüngeren Theologiegeschichte kein seltenes, sondern im Gegenteil ein sehr beliebtes, jedenfalls häufig und in nahezu beliebigen Kontexten verwendetes Wort, das sich naturgemäß jeder begrifflichen Definition entzieht und dabei stets Gefahr lief (und läuft), sinn,los‘ zu werden in der Dialektik der Binaritäten, die es paradoxerweise aufeinander bezieht, ohne sie in eine Synthese aufzulösen. Ein kurzer Blick auf das Vorkommen des Begriffs seit Karl Barth zeigt schon seine inhärente Differenz als innerdialektische Paradoxalität an: Stets präsent im Diskurs und doch jedem Zugriff, jedem katalogisierend-einordnenden Begriff entzogen spielt das Ereignis mit seiner definitorischen Flüchtigkeit und tritt ein als Platzhalter für andere, für abgegriffene Begriffe, die von der Paradoxalität längst in die Allgemeinverständlichkeit der Theologensprache eingegangen sind und den Zauber ihrer Unbegreiflichkeit längst verloren haben, wo sie die Doxa stützende Argumente präsentieren: „Offenbarung“, „Menschwerdung“, „Auferstehung“ – geprägte Ereignissubstitute, theologische Argumentationsfiguren. Allein der Anspruch hält und transformiert sich: Gemeinhin bezeichnet das Wort „Ereignis“ in der Theologie, wenn es mehr als ein bloßes datum oder ein beliebig qualifizierbares „Geschehen“ ausdrücken soll, die Beson1 Edmond Jab s, Das kleine Buch der Subversion, München 1985, 71. 2 Henning Schrçer, Die Denkform der Paradoxalität als theologisches Problem, Göttingen 1960, 29.

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derheit eines unverfügbaren Handelns, das Gott im Gegensatz zum Menschen zugeschrieben wird – ein „Wunder“3 gar. Darüber hinaus ist das Wort selbst zum Synonym für zahlreiche große theologumena geworden und schlug einen Entwicklungsweg ein, der systematisch-theologisch am deutlichsten wahrnehmbar im 20. Jahrhundert mit Karl Barth (1886–1868) beginnt; von dort führt er bis in die Schriften gegenwärtiger Vertreter der sog. „Wort-Gottes-Theologie“ (allen voran Eberhard Jüngel4 und Ingolf U. Dalferth5), die alle ein bemerkenswert unsystematischer Gebrauch des Wortes eint. Schon ein oberflächlicher Blick auf den Gebrauch des Wortes allein bei Karl Barth zeigt dabei die begriffsimmanente Schwierigkeit, „Ereignis“ zu bestimmen. Von systematischer Einheitlichkeit kann diesbezüglich auch grundsätzlich innerhalb der Systematischen Theologie nicht die Rede sein. Ein Versuch, das sachnotwendig Unsystematische zu systematisieren, soll also hier auch nicht unternommen werden. Auffällig ist jedenfalls, dass „Ereignis“ schon bei Karl Barth in seinen berühmten frühen Vorträgen der Jahre 1922 und 19246 nur im jüngsten der drei erscheint und hier eine an Bultmanns frühe Entscheidungs-Theologie erinnernde Konsequenz im Verhältnis von Gott und Mensch bezeichnet: Gottes Wort „ist nicht ein allgemeines wahrzunehmendes oder auch nicht wahrzunehmendes göttliches Tönen und Klingen, Leben, Weben und Sein [vgl. Act. 17,28], von dem der Mensch als solcher umgeben wäre, sondern ein bestimmtes Wort, so einig und bestimmt, wie seine eigene Existenz, durch das er – es handelt sich um ein Ereignis – zur Rede gestellt ist.“7 3 Diese Gleichsetzung nimmt etwa Ingo Reuter, Predigt verstehen. Grundlagen einer homiletischen Hermeneutik, Leipzig 2000, 186 vor. 4 Vgl. v. a. Eberhard J ngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 82010. „Ereignis“ ist hier – im Gegensatz zur Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth – im Stichwortverzeichnis auf S. 551 aufgelistet, was den Nachvollzug der letztlich nicht gar so diversen Diversität des Gebrauchs dieses Wortes erleichtert. 5 Vgl. exemplarisch Ingolf U. Dalferth, Radikale Theologie, Leipzig 2010. Bemerkenswert ist allerdings der Versuch eines Ereignis-Systems, den Dalferth in seinem Aufsatz Ereignis und Transzendenz, in: ZThK 110 (2013), 475–500, unternimmt, auch wenn ich diese Einteilung und die Entscheidung für die Kategorie des „Existenz“-Ereignisses gegen das von ihm so genannte „Sinn“-Ereignis nicht teilen kann. 6 Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie (1922); Karl Barth, Not und Verheißung der christlichen Verkündigung (1922), in: Karl Barth (Hrsg.), Gesamtausgabe. Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, GA III/19, hg. v. Holger Finze, Zürich 1990, 65–97, und Karl Barth, Menschenwort und Gotteswort in der christlichen Predigt (1924), in: Karl Barth (Hrsg.), Gesamtausgabe. Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, GA III/19, hg. v. Holger Finze, Zürich 1990, 426–457. 7 Barth, Menschenwort und Gotteswort in der christlichen Predigt (1924), 436; Hervorhebungen im Original. Vgl. dazu Rudolf Bultmann, Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testaments, in: Zwischen den Zeiten 3 (1925), 334–357, 344: „Durch das Wort, das als Anrede neu in die Situation des Menschen hineintritt, wird er vor die Entscheidung gestellt, und dadurch wird das Wort für ihn Ereignis.“

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Mit Beginn der Kirchlichen Dogmatik allerdings setzt ein regelrecht inflationärer Gebrauch des Wortes (nicht nur bei Karl Barth, sondern auch bei allen, die sich diesbezüglich auf ihn beziehen) ein. In welchem BedeutungsPrisma „Ereignis“ systematisch-theologisch schillert, zeigt sich exemplarisch dabei schon allein anhand von KD I/18: Meint Barth damit nicht profan sowohl menschliche als auch Gott zugesprochene, mitunter schlicht historische Geschehnisse (vgl. u. a. KD I/1, 48 f., 448 und 502) oder etwas hinsichtlich dogmatischer Prolegomena programmatisch Unbeeinflussbares (vgl. KD I/1, 29), kann er grundsätzlich theologisch die Begriffe Verkündigung und Offenbarung mit dem Wort Gottes (vgl. KD I/1, 116) gleichsetzen und alle drei Begriffe als „Ereignis“ bezeichnen: „Das Wort Gottes ist endlich – und damit erst sagen wir das Entscheidende – das Ereignis selbst, in dem die Verkündigung zur wirklichen Verkündigung wird“ (KD I/1, 95; vgl. auch 277, 308, 321). Grundlegend ist Offenbarung als das Unerhörte (KD I/1, 432) für ihn „Ereignis“ (vgl. KD I/1, 324, 333 f., 343 f., 383, 403 f., 435, 460, 472, 475, 489) – auch als „geschichtliches“ (vgl. KD I/1, 343 f., 348, 353). Das imponere in se der Schrift als Kanon ist für Barth genauso „Ereignis“ (vgl. KD I/1, 112) wie die „direkte Identifikation zwischen Offenbarung und Bibel“ (vgl. KD I/1, 116). Das „Gesprochenwerden“ (KD I/1, 262, 275 f.) oder die Rede Gottes (vgl. KD I/ 1, 442), das Hören (vgl. KD I/1, 148, 254, 276) bzw. Vernehmen (vgl. KD I/ 1, 251) oder auch Zeugnis (vgl. KD I/1, 322) des Wortes Gottes ist „Ereignis“ ebenso wie seine Erfahrung (vgl. KD I/1, 226), seine Erkenntnis (vgl. KD I/ 1, 199.201, 208, 403) bzw. Erkenntnismöglichkeit (vgl. KD I/1, 204, 236, 239 f., 254), daraus folgende „Gottesgewißheit“ (KD I/1, 205) und der („wirkliche“) Glaube selbst (vgl. KD I/1, 237, 239, 241, 249, 255 f., 262, 275–279, 460). Daneben kann „Ereignis“ bei Barth in einem engeren, theologischen Sinne die Bedeutung von Gnade (vgl. KD I/1, 60 f., 237), Kraft (vgl. KD I/1, 61) und Güte (vgl. KD I/1, 467) bezeichnen oder gänzlich Verschiedenes meinen: Auch „das Mitunssein Gottes“ (KD I/1, 234), Daseinsverwirklichung (vgl. KD I/1, 90), göttliches „Gebieten[ ] und Gehorchen[ ]“ (KD I/1, 290), Herrschaft (vgl. KD I/ 1, 413, 427), Fleischwerdung (vgl. KD I/1, 459) und selbst ein „Wissen um das wirkliche Dogma“ (KD I/1, 289) bzw. „Dogmatik als Wissenschaft“ (KD I/1, 292) kann „Ereignis“ sein. Ferner bezeichnet „Ereignis“ bei Barth alles, was theologisch auch Dynamik (vgl. KD I/1, 120 f.) genannt zu werden verdient, meint Wirklichkeit genauso wie Tat (vgl. KD I/1, 148). Barth kann „Ereignis“ christologisch (vgl. KD I/1, 96 f.) und pneumatologisch (vgl. KD I/1, 117 f.) formatieren. Barth kann mit diesem Wort das Gegenteil dessen bezeichnen, was es bei ihm grundsätzlich meint (vgl. KD I/1, 363). Positiv abgegrenzt – das ist im Vergleich zu Deleuzes Repräsentationsbegriff interessant! – kann Barth schreiben: „Was hier wie dort mehr ist als Repräsentation, Dienst und Symbol, das ist das Ereignis, dessen Subjekt nicht die Kirche, sondern Gott selber ist“ 8 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik. Erster Band: Die Lehre vom Wort Gottes. Erster Halbband: Prolegomena zur kirchlichen Dogmatik, Zürich 51947.

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(vgl. KD I/1, 62). Ebenso ist für Barth „Ereignis“ gleichbedeutend mit Wiederholung (sic!; vgl. KD I/1, 68 f. mit 71; dagegen aber 343, wo es um ein „nicht wiederholbares Ereignis“ geht). Dieser glossarische Überblick zu allen Belegstellen in KD I/1 – im Begriffsregister wird „Ereignis“ interessanterweise nicht aufgelistet – ist pars pro toto innerhalb der gesamten Kirchlichen Dogmatik zu verstehen: Noch und schon auf der ersten Seite von KD IV/4 begegnet „Ereignis“ als „echte menschliche Treue im Verhältnis zur Treue Gottes selbst“9; danach folgen zahlreiche weitere, insgesamt beliebige Verbindungen zu Ersatzbegriffen dieser Art auch in diesem letzten Fragmentband der „Kirchlichen Dogmatik“. Wozu das Wort „Ereignis“ als Nicht-Begriff der Hermeneutischen Theologie bei und seit Karl Barth dient, schimmert allerdings bei aller systematischen Unschärfe doch durch: Es geht in der Wort-Gottes-Theologie mit und seit Karl Barth um die Frage, wie Theologie sich Mensch und Gott gleichermaßen gegenüber verhalten kann und dabei darum, zu begründen, dass Gott und Mensch miteinander in Beziehung stehen – einerseits. Es geht der WortGottes-Theologie mit und seit Karl Barth zugleich darum, die supplementa der Heuristik und v. a. Epistemologie mit dem Wort „Ereignis“ gegenständlich von diesen zu unterscheiden und der Beziehung zunächst Gottes zu Menschen einer erkenntnistheoretischen Menschenmöglichkeit der Gottesbegegnung nachzuordnen, damit verschiedene Bereiche von Gott-Mensch-Beziehung zu markieren, voneinander abzusetzen und also Theologie genuin an Gott zu orientieren. Praktisch-theologisch relevant wird „Ereignis“ dann späterhin vor allem durch Ernst Fuchs’ (1903–1983) Rede vom „Sprachereignis“. Bei Fuchs’ „Sprachereignis“ geht es im Kern um eine im engeren Sinne neutestamentliche, im weiteren Sinne existential-theologische Frage, die Fuchs zeitlebens in würdigender Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Rudolf Bultmann (1884–1976) entwickelt. Fuchs’ Frage ist, inwiefern (nicht: ob) stimmt und welche Auswirkungen es hat, dass Gottes Wort – und hier ist insbesondere der Blick auf Jesus und die Darstellung seiner Worte in den Evangelien, vor allem in den Gleichnissen geworfen – Menschen in die ,Entscheidung‘ ruft. Dabei liegt der Schwerpunkt dieser Begriffskomposition eigentlich gar nicht und nur insofern auf „Ereignis“ (das bei Fuchs sonst ebenso mannigfaltige Bedeutungen wie bei allen anderen Wort-Gottes-Theologen annehmen kann und nicht mehr denn ein Synonym für „Geschehen“ ist), als dadurch angezeigt werden soll, dass Sprache oder ,das Wort‘ selbst Wirkung zeitigt. Der Schwerpunkt liegt also vor allem im ersten der beiden Worte dieser Begriffskomposition, da Fuchs zeigen will, dass diese Wirkung von Worten Gottes als Sprache im Evangelium den Menschen die Entscheidung nicht le9 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik. Vierter Band: Die Lehre von der Versöhnung. Vierter Teil: Das Christliche Leben (Fragment). Die Taufe als Begründung des christlichen Lebens, Zürich 1967.

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diglich vermittelt – in diesem Fall müsste man nach Fuchs richtigerweise vom „Sprechereignis“ reden – sondern die Entscheidung des Menschen als eine sprachlich ausgedrückte ihrerseits Bezug hat zur Aufforderung, d. h. sich ein Beziehungsgefüge entwickelt, das immer schon sprachlich determiniert ist. Das „Sprachereignis“ ist insofern dasjenige Wort Gottes, das den Menschen zur Entscheidung für oder wider Gott so herausfordert, dass er sich ihr nicht – wie anders bei einer bloßen Mitteilung – entziehen kann. Einfach gesagt: Fuchs’ „Sprachereignis“ ist ein Antwortversuch auf die Frage, woher Glaube kommt. Die Antwort ist dabei lediglich „Sprache“, und ohne dass auch Fuchs das Nominalsuffix „Ereignis“ eigentlich gebraucht hätte, ist für ihn Sprache das Geschehen, das Glauben wirkt.10 Vor allem Gerhard Ebelings (1912–2001) Zwillingsbegriff „Wortgeschehen“11 und die damit verbundenen hermeneutischen und implizit homiletischen Formatierungen des Fuchs’schen Begriffs12 markieren den transatlan10 Vgl. dazu in erster Begegnung Ernst Fuchs, Zur Frage nach dem historischen Jesus. Ein Nachwort, in: Ernst Fuchs (Hrsg.), Glaube und Erfahrung. Zum christologischen Problem im Neuen Testament, Tübingen 1965, 1–31, 4 f. Anm. 5. Vgl. auch ders., Die Sprache im Neuen Testament (1959), in: Ernst Fuchs (Hrsg.), Zur Frage nach dem historischen Jesus, Tübingen 1965, 258–279; ders., Was wird in der Exegese des Neuen Testaments interpretiert? Rudolf Bultmann zum 75. Geburtstag (1959), in: ders. (Hrsg.), Zur Frage nach dem historischen Jesus, Tübingen 1965, 280–303; ders., Was ist ein Sprachereignis? Ein Brief (1960), in: ders. (Hrsg.), Zur Frage nach dem historischen Jesus, Tübingen 1965, 424–430; ders., Das Neue Testament und das hermeneutische Problem, in: ders. (Hrsg.), Glaube und Erfahrung. Zum christologischen Problem im Neuen Testament, Tübingen 1965, 136–173; ders., Alte und neue Hermeneutik, in: ders. (Hrsg.), Glaube und Erfahrung. Zum christologischen Problem im Neuen Testament, Tübingen 1965, 193–230; ders., Das Wesen des Sprachgeschehens und die Christologie. Warum hat die Predigt des Glaubens einen Text?, in: ders. (Hrsg.), Glaube und Erfahrung. Zum christologischen Problem im Neuen Testament, Tübingen 1965, 231–248. 11 Vgl. dazu grundsätzlich Gerhard Ebeling, Theologie und Verkündigung. Ein Gespräch mit Rudolf Bultmann, Tübingen 21963, bes. 15, 39 f., 74, 123; sowie genauerhin ders., Die Evidenz des Ethischen und die Theologie, in: ders. (Hrsg.), Wort und Glaube. Band 2: Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Lehre von Gott, Tübingen 1969, 1–41; ders., Hermeneutische Theologie?, in: ders. (Hrsg.), Wort und Glaube. Band 2: Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Lehre von Gott, Tübingen 1969, 99–120, bes. 107 f.; ders., Kerygma, in: ders. (Hrsg.), Wort und Glaube. Band 3: Beiträge zur Fundamentaltheologie, Soteriologie und Ekklesiologie, Tübingen 1975, 515–521, bes. 519 f.; sowie ders., Zu meiner „Dogmatik des Glaubens“, in: ders. (Hrsg.), Wort und Glaube. Band 4: Theologie in den Gegensätzen des Lebens, Tübingen 1995, 476–491. 12 Vgl. ders., Wort Gottes und Hermeneutik, in: ZThK 56 (1959), 224–251. Daraus etwa: „Wie immer man den Begriff des Wortes Gottes theologisch präzisieren mag – er weist uns auf jeden Fall an ein Geschehen, nämlich an die Bewegung, die vom Text der Heiligen Schrift zur Predigt führt („Predigt“ allerdings im prägnanten Sinne von Verkündigung überhaupt genommen). Für eine erste Fixierung des Begriffs des Wortes Gottes mag der Hinweis auf diese Bewegung vom Text zur Verkündigung genügen. Denn hier hat nun einmal nach christlicher Tradition der Begriff des Wortes Gottes seinen vornehmlichen Ort“ (230); „Man kann also den Vorgang vom Text zur Predigt so kennzeichnen: Aus geschehener Verkündigung soll geschehende Verkündigung werden. Diese Wendung vom Text zur Predigt ist eine Wendung von der Schrift zum mündlichen Wort. Die Aufgabe, die hier gestellt ist, besteht also darin, aus Geschriebenem

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tischen Umweg zunächst Anfang der 1960er Jahre in die US-amerikanische Hermeneutik – in die sog. „New Hermeneutics“13. Homiletisch bedeutsam wurden die Diskurse um die Konvergenz von ,event‘ und ,Ereignis‘ folglich auch in der US-amerikanischen Homiletik, wo sich die Entwicklung einer neuen Predigttheorie in den USA der 70er Jahre als aptum perfectum für einen transatlantischen Umweg des „Ereignisses“ erwies: Die sog. „New Homiletic“ um Namen wie Fred Craddock und David Buttrick wird geboren.14 Martin Nicol ist es schließlich zu verdanken, nach eigener Kenntnis und Studien dieses Diskurses um „The Preaching Event“15 „Ereignis“ in die deutschsprachige Praktische Theologie zunächst ganz grundsätzlich zurückübersetzt und verankert zu haben. In seinen beiden Aufsätzen „Zwischen Ereignis und Wissenschaft“16 und „Ereignis und Kritik“17 bietet Nicol erste definitorische Umrisse des Begriffs selbst, um damit „Praktische Theologie ausdrücklich in einer Zeit der ,Postmoderne‘“18 zu konzipieren. Zunächst beobachtet Nicol hinsichtlich der Aufbrüche der deutschen Praktischen Theologie seit der sog. ,Ästhetischen Wende‘19 Mitte/Ende der 1980er Jahre: „Praktische Theologie ist deshalb so schwer, weil sie es mit ,Ereignissen‘ zu tun hat. Dabei meine ich mit ,Ereignissen‘ einzelne, lebendige Vollzüge, die sich mit stets neuen Überraschungen und allen Handlungsanweisungen und Abstrahierungen

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mündliches Wort zu machen oder, wie wir nun auch sagen können: den Text wieder Gottes Wort werden zu lassen“ (248) et passim. Der Aufbruch ist in deutscher Übersetzung dokumentiert in James M. Robinson/John B. Cobb Jr. (Hrsg.), Neuland in der Theologie, Zürich/Stuttgart 1965. Ein guter Überblick über diese Entwicklung findet sich in manchen Aufsätzen vor allem von Martin Nicol; vgl. Martin Nicol, Preaching from Within. Homiletische Positionslichter aus Nordamerika, in: Pastoraltheologie 86 (1997), 295–309; ders., Homiletik. Positionsbestimmung in den Neunziger Jahren, in: ThLZ (Theologische Literaturzeitung) 123 (1998), 1049–1065; bzw. ders., To make things happen. Homiletische Praxisimpulse aus den USA, in: Uta Pohl-Patalong/Frank Muchlinsky (Hrsg.), Predigen im Plural. Homiletische Perspektiven, Hamburg 2001, 46–54; ders., PredigtKunst. Ästhetische Überlegungen zur homiletischen Praxis, in: Praktische Theologie 25 (2000), 19–24; ders., Predigtkunst vs. Lehre von Gott? Zur Rolle von Dogmatik in der homiletischen Arbeit, in: Michael Krug/Ruth Lçdel/ Johannes Rehm (Hrsg.), Beim Wort nehmen – die Schrift als Zentrum für kirchliches Reden und Gestalten. Friedrich Mildenberger zum 75. Geburtstag, Stuttgart 2004, 330–340. So der bezeichnende und für den Diskussionsschwerpunkt der US-amerikanischen Homiletik in den 1970er und 1980er Jahren exemplarische Titel von John R. Claypool, The preaching event, New Orleans (LA) 2000. Martin Nicol, Zwischen Ereignis und Wissenschaft. Über Schwierigkeit und Faszination der Praktischen Theologie, in: Pastoraltheologie 83 (1994), 68–81. Ders., Ereignis und Kritik. Praktische Theologie als hohe Schule der Gotteskunst, in: ZThK 99 (2002), 226–238. Ders., Zwischen Ereignis und Wissenschaft, 77. Ausgelöst durch Martin, Predigt als „Offenes Kunstwerk“? und dann bis in die Gegenwart weitergedacht vor allem von Albrecht Grözinger (vgl. nur Albrecht Grçzinger, Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, Gütersloh 1995), Martin Nicol, Alexander Deeg u. a.

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entziehen; die von einzelnen Menschen und deren Lebensgeschichten bestimmt werden; die sich in der Sicht des Glaubens dadurch auszeichnen, daß sich von der Wirklichkeit Gottes her etwas ereignet mit denen, die in diese Vorgänge hineingezogen werden; die, theologisch gesprochen, unverfügbar sind; die gleichwohl nicht nur dogmatisch benennbar, sondern auch und vor allem erlebbar und erfahrbar sind.“20

Das hat vor allem für die praktische Sprache Praktischer Theologie und Theolog:innen Konsequenzen, die weniger selbstverständlich sind, als es zunächst – auch aufgrund der Tatsache, dass sich dieses Denken mittlerweile nahezu fraglos etabliert hat – den Anschein haben mag: „Im Ereignis selbst ist ein anderes Sprechen vonnöten als im Nachdenken über das Ereignis. Das Sprechen etwa in einer Predigt unterscheidet sich wesentlich vom Sprechen über die Predigt.“21 Analog gilt das (neben Religionspädagogik und Poimenik) insbesondere für Liturgik, die sich spätestens seit Werner Jetters (1913–2004) „Symbol und Ritual“22 von einer auf das Rationale reduzierten Darstellung verabschiedet und sich mehr auf „das Erleben mit seiner Einbeziehung des Affekts“23 ausgerichtet habe – also an dem, was Nicol unter Ereignis versteht. Darin begründet ist zugleich – neben der ,Schwierigkeit‘ – die ,Faszination‘ Praktischer Theologie für Nicol: „Was fasziniert mich an der Praktischen Theologie so […]? […] ,Ereignisse‘, wie ich sie als Gegenstand der Praktischen Theologie beschrieben habe, sind für mich in aller Regel keine Erkenntnisse geglückter Theoriebildung, sondern Ereignisse, die der ganzheitlichen Wahrnehmung bedürfen. […] j Was mich fasziniert, ist gerade dies, daß ich selbst in Ereignisse verwickelt, in Geschichten verstrickt bin.“24

Die Theoriebildung einer Praktischen Theologie im Horizont von „Ereignis“ hat Martin Nicol nicht abgeschlossen (und wollte dies wohl auch nie tun)25. Er hat die entscheidenden Anstöße dazu gegeben, Praktische Theologie „als Denkbemühung im Spannungsfeld zwischen Ereignis und Kritik“ zu verstehen und erste Konturen eines solchen Begriffs konturiert, die den tieferen Blick lohnen. Nicol verbindet sein Verständnis von Ereignis m. E. allerdings jedenfalls noch bis in die frühen 2000er Jahre zu schnell mit dem Begriff „Erlebnis“, vor 20 Nicol, Zwischen Ereignis und Wissenschaft, 68. 21 AaO., 69 (Hervorhebungen im Original). 22 Werner Jetter, Symbol und Ritual. Anthropologische Elemente im Gottesdienst, Göttingen 1978. 23 Nicol, Zwischen Ereignis und Wissenschaft, 74. 24 AaO., 79 f. 25 Es ist gleichwohl bemerkenswert, dass das Begriffswort „Ereignis“ in Nicols jüngsten und jüngeren Publikationen seit diesem Aufsatz und damit seit den Aufsätzen im Umkreis der Entstehung der Dramaturgischen Homiletik kaum mehr zu finden ist; vgl. allein den Titel seines Beethoven-Buches: Martin Nicol, Gottesklang und Fingersatz. Beethovens Klaviersonaten als religiöses Erlebnis, Bonn 2015.

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allem in seinem „Ereignis und Kritik“-Aufsatz: Von den drei ,Stichworten‘, mit denen Nicol hier die „aktuelle Neuorientierung der Praktischen Theologie“ markiert – „Subjekt, Kunst und Religion“26 – ist das Stichwort „Kunst“ das selbstverständlich unproblematischste, und verbindet die beiden Rahmenstichworte das erkenntnistheoretische Grundproblem, Gefahr zu laufen, zu stark auf das Subjekt zu fokussieren und das, worum es theologisch im Ereignis gehen könnte, darin untergehen zu lassen. Es ist richtig, wenn Nicol mit Henning Luther darauf hinweist, dass „[g]egenüber einer pastoraltheologischen Verengung auf den Amtsträger und einer ekklesiologischen Verengung auf die Kirche […] de[r] einzelne[ ] Mensch[ ] als Gegenstand der Praktischen Theologie ins Spiel gebracht“27 werden müsse, auch weiterhin. Fraglich – nicht nur nach dem Vorzeichen „Ereignis“ – ist allerdings, ob auch die auf diesen berechtigten Hinweis folgende These tragfähig ist: „Wie der einzelne Mensch seine Welt erlebt und konstituiert – das wird die leitende Fragestellung“28. Wichtig ist das ohne Frage, aber ob es „leitend“ sein soll oder kann, muss gefragt werden. Denn ähnlich verhält es sich mit dem Stichwort „Religion“ nach dem Vorzeichen „Erlebnis“: Zwar ist es wichtig, dass Nicol mit Wilhelm Gräb (sic!) hervorhebt: „Ein neues ,Religionsdenken‘ sei an der Zeit. Dieses neue Denken setzt Unkirchlichkeit nicht mit Religionslosigkeit gleich. Einem individuellen Glauben ohne Kirche, wie er die aktuelle Religionskultur kennzeichne, habe sich die Praktische Theologie zuzuwenden. Praktische Theologie stellt sich dar als Hermeneutik gelebter Religion“29 – gewiss. Aber auch hier kann die „gelebte Religiosität“ nicht das Zentrum der Bemühungen einer Theologie als Theologie darstellen. Es ist also richtig, dass Theologie insgesamt und Praktische Theologie umso mehr in einer Verhältnisbestimmung ihres Gegenstands zwischen Gott und Mensch immer oszilliert und oszillieren muss, d. h. Praktische Theolog:innen beide Pole gleichberechtigt wahrnehmen sollten. „Ereignis“ und „Erlebnis“ lassen sich indes nicht so einfach gleichsetzen, dass es mit dem Hinweis darauf getan wäre, bei irgendwer oder -wem müsse sich schließlich etwas [vgl. das „es“ der Maus bei Carrolls Alice oben] ereignen, als könne man Rezipient (Mensch) und Akteur (Gott) gleichsetzen – denn die Begriffe dienen idealiter gerade dazu, das Eine vom Anderen zu unterscheiden. Ich schließe mich Karl Barth an, der in bemerkenswert umsichtiger Weise im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus seiner Zeit erinnert und schreibt:30 26 27 28 29 30

Ders., Ereignis und Kritik, 229. Ebd. Ebd. AaO., 230. In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch ein Tagungsband mit dem Titel „Erlebnis Predigt“, der als „Veröffentlichung des Ateliers Sprache e.V., Braunschweig“ herausgegeben wurde. Allerdings zeigt sich hier auch, auf wie uneindeutige Weise die Begriffe „Ereignis“ und „Erlebnis“ einander gleichgesetzt werden können. So heißt es etwa im Vorwort auf der zweiten Seite nach

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„Es wäre grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, daß dieses Ereignis [scil: daß das Wort Gottes zu verstehen ist als Ereignis in und an der Wirklichkeit des Menschen] als ,Erlebnis‘, und sei es denn als ,religiöses Erlebnis‘ bezeichnet wird. Der Streit geht nicht gegen diesen Terminus und noch weniger gegen das Richtige und Wichtige, das dieser Terminus schließlich bezeichnen könnte: das höchst reale und bestimmende Eintreten des Wortes Gottes in die Wirklichkeit des Menschen. Der Terminus ist aber belastet (und darum vermeiden wir ihn) durch die hinter ihm stehende Anschauung von der allgemein religiösen Erlebnisf ä h i g k e i t des Menschen bzw. von der kritisch-normativen Bedeutung dieser Fähigkeit. […] Sogar der Begriff des religiösen ,Apriori‘, der in der Religionsphilosophie um 1910 [sic!] eine so große Rolle gespielt hat, wäre nicht schlechterdings und an sich zu verwerfen, wenn nicht leider allgemein im Anschluß an den richtig oder unrichtig verstandenen K a n t eben ein Vermögen, eine im Menschen als solchem begründete Eignung und die entsprechende Verfügungsfreiheit darunter verstanden worden wäre.“31

Martin Nicols Ansatz zeichnet aus, dass er als erster deutschsprachiger Theologe grundsätzlich mit dem Begriffswort „Ereignis“ das Bemühen verbindet, über die bloße Größe eines ansonsten bedenklich inhaltsarmen Begriffs hinaus konkrete Erkenntnisse von Paralleldisziplinen wie den Theaterwissenschaften und den Kulturwissenschaften mit genuin theologischer Gedankenarbeit zu verknüpfen. Daraus ergibt sich für ihn und ergibt sich zwangsläufig, den Blick von Sprache als hierarchisch strukturierte Abfolge von Worten und Zeichen abzuwenden und so zu weiten, dass jegliche Form von „Performativität“32 relevant wird. Das schließt ein, beschränkt sich aber nicht auf die natürliche Verbindung von Homiletik und Liturgik, wie sie Michael Meyer-Blanck nachdrücklich begründet hat33 und die der Einführung in die Relevanz einer praktisch-theologischen Tagung mit dem Thema „Erlebnis“: „So war es an der Zeit, in einem Braunschweiger ,Bugenhagen-Symposium‘ dem ,Erlebnis Predigt‘ nachzugehen und zu fragen, wie die Predigt zum Ereignis wird, um welches Ereignis es dann eigentlich geht und welche Rolle Kognitives und Emotionales dabei spielen. Kommunikations- und Literaturwissenschaftler stellten ihre Perspektiven zum Thema vor, Gäste aus Dänemark und Südafrika beleuchteten, wie in ihren Kontexten die Predigt zum ,Erlebnis‘ und ,Ereignis‘ wurde und wird, und j Theologinnen und Theologen aus dem deutschsprachigen Kontext verbanden empirische, kulturwissenschaftliche, hermeneutische und theologische Überlegungen“; Alexander Deeg (Hrsg.), Erlebnis Predigt, Leipzig 2014, 8 f. 31 KD I/1, 201 (dort petit). 32 Zum Begriff des ,Performativen‘, der als Neologismus von John L. Austin (1911–1960) geprägt wurde, vgl. neben seiner berühmten Harvard-Vorlesung aus dem Jahr 1955 – John Langshaw Austin, Zur Theorie der Sprechakte (=How to do things with words), Stuttgart 1979 – vor allem Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2014. 33 Dieses Vorhaben, die Verbindung von Homiletik und Liturgik zu begründen, ist bekanntlich der programmatische Anlass und Gegenstand für Michael Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, Tübingen 2011. Vgl. nur den Klappentext: „Michael Meyer-Blanck behandelt in dieser Gottesdienstlehre sowohl die Theorie des Gottesdienstes (Liturgik) als auch die Theorie der Predigt (Homiletik). Er stellt die beiden auf den Gottesdienst bezogenen Disziplinen erstmals zusammen dar und verschränkt sie dazu auf dem Stand der aktuellen Fachdiskussion so weit wie möglich miteinander. […]“ Vgl. auch Michael Meyer-Blanck, Agenda. Zur Theorie liturgischen Handelns, Tübingen 2013.

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seitdem immer größere Selbstverständlichkeit mindestens in gegenwärtiger Liturgiewissenschaft, aber auch Homiletik erlangt.34 Schon aus diesem Grund kann eine philosophisch-theologische Beschäftigung mit „Ereignis“ in praktischtheologischer Perspektive nicht umhin, beide Disziplinen gerade in aller Differenz gleichberechtigt wahrzunehmen.35 Das soll im Folgenden so geschehen, dass jeweils zwei Konzepte der Liturgik und der Homiletik zuerst mit Blick auf Ereignis nach ihrem je eigenen Gehalt dargestellt und anschließend mit dem in Teil A dieser Studie Gedachten in einen Dialog gebracht und weitergedacht werden. Auf jedes dieser beiden Kapitel folgt mit einem „Horizont“36 schließlich die Skizze dessen, was weiter-gedacht werden könnte und sich m. E. homiletisch und liturgisch als fruchtbar erweist.

34 Alexander Deeg hat mit seinem gleichermaßen liturgischen wie homiletischen Neologismus „WortKult“ in seiner theologisch, kulturwissenschaftlich und historisch angelegten Habilitationsschrift u. a. zu dieser Frage: „Was ist Gottesdienst?“ das Phänomen Gottesdienst in dieser Perspektive präzise auf einen Begriff gebracht; vgl. Alexander Deeg, Das äußere Wort und seine liturgische Gestalt. Überlegungen zu einer evangelischen Fundamentalliturgik, Göttingen 2012 und daraus etwa das Schlusskapitel auf den Seiten 455–549 bzw. mit genuin ästhetischem Fokus auf „Ereignis“ nach Dieter Mersch (Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2002, 360–366). 35 Deckungsgleich damit ist etwa auch schon der erste, weit mehr als pädagogischer Satz und in ihm die grundsätzliche und -legende Evidenz-Feststellung im Aufsatz von Martin Nicol, Gestaltete Bewegung. Zur Dramaturgie von Gottesdienst und Predigt, in: Jçrg Neijenhuis (Hrsg.), Liturgie lernen und lehren. Aufsätze zur Liturgiedidaktik, Leipzig 2001, 151–163, 151: „Gottesdienstliche Predigt kann nur im Kontext von Liturgik sachgemäß gelehrt und gelernt werden.“ 36 Ich leihe mir diese Metapher von Hans Blumenberg und zitiere zur Begründung hier ansonsten nur unkommentiert die ersten drei Abschnitte aus Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt am Main 82011, 7: „Es gibt, das sei vorausgeschickt, so etwas nicht: ,Horizontabschreitung‘ ist ein Paradox, ein metaphorisches Ansinnen des Unvollziehbaren. Wer sich seinem Horizont zu nähern versuchte, um ihn schließlich abzuschreiten, würde nur die enttäuschende Erfahrung des Kindes machen, daß sich ihm mit jeder Anstrengung ein neuer, nicht minder unerreichbarer Gesichtskreis aufspannte. Nur mit dem Auge kann man den Horizont ,abgehen‘, ihm in einer von zwei möglichen Richtungen folgend. Der paradoxe Wunsch, den Horizont abzuschreiten, entspringt dessen optischer Doppeldeutigkeit: er öffnet das Feld, das er umschließt, als die ,Nähe‘ des für uns Deutlichen und Erreichbaren, der Orientierung in Richtungen und Distanzen; aber er beschränkt uns auch auf die ,Enge‘ des Nahen, enthält uns vor, was auf jedem seiner Punkte durch einen neuen Horizont umschrieben wäre, mit dem Und-so-weiter dieser Vervielfältigungen in eine zugleich lockende und verwirrende ,Ferne‘, die mit dem Pathoswort vom ,Unendlichen‘ bezeichnet wird. Man vermeidet es, indem man im ,Horizont aller Horizonte‘ eine Welt definiert findet. Erst die Beziehung des Horizontbegriffs auf die Zeit – die Übernahme metaphorischer Nähe und Ferne in beiden Richtungen, Vergangenheit und Zukunft, von einer Gegenwart her – hat die Leistungsfähigkeit des räumlich-optischen Schemas für die Erfassung der in Erfahrung und Erlebnis gegebenen ,Wirklichkeit‘ vollendet. Wer sich also zumutet oder zumuten läßt, den Horizont ,abzuschreiten‘, will und muß dabei alles ,umgehen‘, was innerhalb des Umkreises der Position liegt, die er faktisch innehat oder auf die er sich verstehend ,versetzen‘ will. Der Horizont wird zum Hintergrund, vor dem sich alles ,Vordergründige‘ abhebt und ,abspielt‘.“

2. Liturgie in der Zeit Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit. BWV 106

Zeitphilosophisch wurde in Teil A dieser Studie mit den Begriffen ,Chronos‘ und ,Äon‘ dargestellt, wie die Zeit des Ereignisses sich innerhalb dieser Pole als deren Konjunktion ausdrückt. Entsprechend vermittelt eine zeitphilosophisch koordinierte Theologie des Ereignisses die beiden Pole ,Chronos‘ und ,Äon‘, befragt die Zeit mit Blick auf Ereignis auf ihre Modalitäten und macht so Ereignis zu und also in jeder Zeit aus. Im Folgenden wird in zwei exemplarischen Streiflichtern jenen Konzeptionen liturgischer Zeit nachgegangen, die exemplarisch die prägenden Spielarten liturgiewissenschaftlicher Entwürfe des 20. Jahrhunderts im Kontext einerseits der Agendenreform nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und nach Inkrafttreten des Evangelischen Gottesdienstbuches andererseits markieren. So soll aufgezeigt werden, in welcher Weise sie Äquivalenz- bzw. vor allem Differenzbereiche zu den Ereignispolen der linearen („Äon“) und zyklischen („Chronos“) Zeitkonzeptionen und schließlich zu einer auch diese verbindenden Ereignis-Zeit aufweisen.1

1 Alexander Deeg präfiguriert den Gedanken, dass zumindest die ,chronische‘ Zeitdimension kairotisch durchbrochen wird, wo er mit Blick auf das Triduum sacrum bedenkt: „In einen verwirrenden, verstörenden und gerade so heilsamen Strom der Zeiten geraten Feiernde im Gottesdienst und auf herausgehobene Weise in den Gottesdiensten im Triduum sacrum, in den drei heiligen Tagen zwischen Gründonnerstag und Ostersonntag. Die Vergangenheit wird zur Gegenwart, die Zukunft ist da, und das ,Heute‘, in dem die Gemeinde feiert, findet sich eingezeichnet zwischen Schöpfung und Erlösung, Auszug aus Ägypten, letztem Mahl, Garten Gethsemane, Golgatha, leerem Grab und Vollendung. Der historische Zeitstrahl, der das Denken üblicherweise ebenso bestimmt wie der Terminkalender, bekommt Risse. Weil die Zeit Gottes in die Zeit der Menschen, der Kairos in den Chronos ,fällt‘, verliert letzterer seine Macht“; Alexander Deeg, Zwischen Anamnese, Historie und Event. Das Triduum sacrum als Brennpunkt liturgischer Fragestellungen der Gegenwart, in: Benjamin Leven/Martin Stuflesser (Hrsg.), Ostern feiern. Zwischen normativem Anspruch und lokaler Praxis, Regensburg 2013, 56–77, 56. Deeg trifft damit den Kern dessen, was ein zeittheologisches Verständnis von Ereignis zu leisten imstande ist, ohne dass er die deleuzianischen Operatoren „Äon“ und „Chronos“ im Gegenüber zu „Kairos“ verwendet. Weil die Dichotomie von „Chronos“ und „Kairos“ als Gegenpole von fortdauernder und einmaliger Zeit einem Ereigniskonzept der Zeit zwischen „Äon“ und „Chronos“ und damit dem deleuzianischen Ereignis als stets einmalig-fortdauerndem allerdings nicht exakt entspricht, verzichte ich in dieser Arbeit auf den „Kairos“-Begriff – nicht zuletzt, um das Missverständnis zu vermeiden, „Ereignis“ und „Kairos“ seien identische Begriffe (wie auch schon der biblische Sprachgebrauch, etwa nach Kol 4,5 oder Eph 5,16, bedeutet, dass „jaiq|r“ auch ganz universal bzw. schlicht „Zeit“ bedeuten kann …).

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2.1 repetitio aeterna oder: Peter Brunner und die ewige Wiederholung des Gottesdienstes Die erste der beiden hier darzustellenden liturgiewissenschaftlichen Entwürfe ist die dogmatische Liturgik „Zur Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde“ von Peter Brunner (1900–1981).2 Sie ist nicht nur die verbunden mit den Daten 1954 resp. 1955 wohl bis zur „Erneuerten Agende“ das 20. Jahrhundert wo schon nicht liturgiewissenschaftlich, so doch liturgisch am nachhaltigsten prägende, sondern weist bei aller auch überraschend-unvordenklichen Nähe zu Deleuze auch repräsentativ die größte Nähe zum ,äonischen‘, d. h. in der Konsequenz doch linearisierenden Zeitdenken auf.3 Das zeigt schon Brunners Darstellung des Gottesdienstortes „innerhalb der Heilsökonomie Gottes“, aber auch seine Formatierung der Begriffe anamnesis resp. repraesentatio im Kontext seiner Darstellung des „Heilsgeschehens im Gottesdienst“. Wo diese m. E. ergänzungsbedürftig ist, soll in einem zweiten Schritt nach der würdigenden Darstellung entsprechend nicht verschwiegen werden.4

2.1.1 Das eschatologische Gottesdienstereignis von A[dam] bis Z[ukunft] Schon die Anlage der universalen Ortsbestimmung des Gottesdienstes innerhalb der einen göttlichen Heilsökonomie5 zeigt dies an: Gottesdienst ist bei und seit Adam, dem ,Ersterschaffenen‘ und ist bei, bis und seit der gekommenen Kirche entsprechend der Genitiv-Doppelung des Begriffs; Gott dient 2 Dazu hat breit gearbeitet: Jochen Arnold, Theologie des Gottesdienstes. Eine Verhältnisbestimmung von Liturgie und Dogmatik, Hannover 22008, 318–381. 3 Insgesamt wird man sagen können, dass Brunners dreigliedriges Zeit-Denken in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik vorgebildet ist; vgl. nur KD I/1 §5.3: Die Rede Gottes als Tat Gottes (KD I/ 1, 148–168). 4 Vgl. Peter Brunner, Zur Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde. Neudruck mit einem Vorwort von Joachim Stalmann (Leiturgia n. F., Bd. 2), Hannover 1993, bes. 119–179 resp. 207–253. Im Folgenden werden die Zitate aus diesem Buch im Fließtext in Klammern angegeben. 5 Weil Brunner den „Ort des Gottesdienstes“ selbst innerhalb der „universalen Heilsökonomie Gottes“ hervorhebt und die sich daran anschließende anthropologische und kosmologische Ortbestimmung nicht nur in nuce vorwegnimmt, sondern diese auch etwas redundant nachklappen lässt, kann an dieser Stelle der Fokus allein auf die Seiten 119–161 fallen. Es ist überdies fraglich, ob infolge von Brunners Konzeption wirklich von drei und nicht vielmehr doch nur von einem ,universalen‘ Gottesdienst-Ort auszugehen ist (und zudem, was sein Ort-Begriff meint oder austrägt), der zwei Subkategorien – eine anthropologische und eine kosmologische – impliziert. Brunner selbst gliedert seine Liturgiedogmatik allerdings so und wird entsprechend selbstverständlich bis zu Joachim Stalmanns Vorwort der Neuausgabe und darüber hinaus auch entsprechend rezipiert. Ob das seiner Sache wirklich entspricht, kann man ihn und seine Rezipient:innen allerdings doch jedenfalls fragen.

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eschatisch dem Menschen in der Instandsetzung seines urzeitlich intendierten und schon uranfänglich gesetzten Vollkommenheitsstatus, der wiederum wesentlich Gott in responsaler Entsprechung dient. Dass für Brunner Gottesdienst zum Grundmoment geschaffener Geschichte gehört, hat seinen doppelten Grund in der Gottesebenbildlichkeit des Ersterschaffenen einerseits und andererseits in der zeitlichen Extasis des Siebten Tages: Im Wort-Wechsel der „mit der Ebenbildlichkeit gesetzten personalen Gemeinschaft zwischen Gott und dem Menschen“ antwortet der Mensch Gott affirmativ „mit einer fraglosen Selbstverständlichkeit als Ausfluß und Verwirklichung dieser Gemeinschaft“. Dieser Gottesdienst der Antwort des Menschen verdichtet sich „zeichenhaft und geheimnisvoll“ im „gesegneten und geheiligten siebenten Tag“, an dem der Schöpfer selbst ruht und in, mit und durch diese Ruhe die Schöpfung vollendet: „Indem diese Ruhe über die Schöpfung als ihre Vollendung gebreitet wird, bewirkt Gott, daß alle Werke der Schöpfung hingeordnet werden auf ein letztes Heilsgut, das in der Teilhabe des Geschöpfes an der für das Geschöpf erschlossenen und dem Geschöpf zugesellten Wesenheit Gottes beruht“. Davon kann „der Mensch nicht ausgeschlossen sein“ (alle 121). Diese Unterbrechung (je)des konkreten Gottesdiensttages am siebten Schöpfungstag beschränkt sich dabei nicht auf diese bestimmte Zeit, sondern erstreckt sich über das Schöpfungswerk in Einbeziehung des Menschen als Charakteristikum seines Wesens: Jeder Akt des Menschseins ist bezogen auf diese Heiligung und schon Teil dieser nun nur in verdichteter Weise stattfindenden „Anerkenntnis Gottes in Dank, Anbetung und Lobpreis“. Das urgeschöpflich intendierte und so anthropologisch gesetzte Wesen des Menschen im bzw. als Gottesdienst strahlt seinerseits – hier überschneidet mit Blick auf Gen 2,16 f. Brunner erstmals die Zeitebenen – auf Gegenwart und Zukunft aus. Der Gottesdienst des ,Ersterschaffenen‘ „ist ein schlechthin eschatologisches Zeichen, aber ein Zeichen, das an der bezeichneten Sache schon Anteil gewährt“, weil er die ursprüngliche Stiftung „vor allen anderen Stiftungen Gottes“ ist, „Stiftung der ekklesia und ihres cultus“ (alle 123). Für den Gottesdienst der gegenwärtigen Kirche gegenwärtiger Menschen bedeutet das nicht weniger als seine heilsökonomische Stiftung in der durch die Inkarnation erneuerten Gottesebenbildlichkeit. In Brunners Worten: Weil „die Glieder der Kirche in das Bild des Sohnes hineingestaltet werden, leuchtet an der Ebenbildlichkeit Jesu Christi wieder die Gottesebenbildlichkeit des Ersterschaffenen auf (Kol. 3, 10; Eph. 4,24). Darum wird auch der Gottesdienst des Ersterschaffenen in der Kirche Jesu Christi in neuer Gestalt wieder lebendig werden“ (124).

,Wird werden‘ – wohlgemerkt. Nicht ,kann‘ oder ,müsste‘, sondern „wird“. Christlicher Gottesdienst in der Welt ist trotz menschlich-postlapsarischer Verhaftung in Sünde – in Brunners Diktion – immer durchwirkt vom Grundcharakter seiner paradiesischen Ursprünglichkeit in unmittelbarer

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Anbetung und Verherrlichung Gottes und so teilhaftig an der ursprünglich ,gestifteten‘ „eschatologischen Ausrichtung, durch die er sich selbst gleichsam hinter sich läßt und sich ausstreckt nach einer Vollendung, die nicht mehr in dieser Zeit liegt“ (125). Zwar wird diese spontane Unmittelbarkeit des Gottesdienstes als Wesensausdruck menschlicher Gottesebenbildlichkeit durch den sog. Sündenfall gestört, aber nicht aufgelöst. Der Mensch bleibt auf Gott bezogen. Und auch der „Gott wohlgefällige Gottesdienst“, den idealiter zu feiern er nicht mehr imstande ist, ist „aufgehoben im Himmel bei dem, der im Begriff ist, in unser Fleisch zu kommen“ (127). Auch der postlapsarisch unvollkommene Gottesdienst verweist für Brunner durch die zeitenübergreifende „Stiftung“ des ,Gnadenaktes‘ Gottes in Christus schon seit und in Adams Fall auf seine eschatische Vollendung analog dazu, dass auch Gnade und Gericht Gottes durch Kreuz und Auferstehung schon im sog. Sündenfall vollzogen und vorweggenommen sind. Brunner in seiner (durchaus eigentümlichen) opfertheologischen Sprache: „Mit dem Sündenfall des Menschen steht der Opfergang des Menschensohnes vor Gottes Thron fest, er steht dort nicht fest wie ein Gedanke, wie eine Absicht, wie eine Idee, sondern wie eine vollzogene Tat. Diese geheimnisvolle Präsenz des in der Zeit zukünftigen blutigen Kreuzestodes Jesu vor Gott und in Gott ist die Quelle der Langmut und j Geduld Gottes“ (126 f.).

Ab diesem Punkt im Text, dem Überschlag der Darstellung von paradiesischem zu geschichtlichem Gottesdienst, kann Brunner die Worte „Gottesdienst“ und „Wortgeschehen“ bzw. alles, was Gott durch sein Wort wirkt, synonym verstehen und verwenden. Mit Beginn seiner Geschichte mit seinem Volk wirkt Gott geheimnisvoll-präsent in, durch und seit Abraham in der Gegenwart seines Wortes, das „[i]n immer neuen Stößen“ hervorbricht: „Es ist an keine feste Institution gebunden. Es sucht sich in Freiheit seine charismatischen Träger. Diese alttestamentliche Wortgegenwart Gottes kann zu bestimmten Zeiten in Fülle dasein, sie kann spärlich dasein, sie kann aufhören, wieder aufhören und endgültig erlöschen. Sie wird dort Ereignis, wo dieses Wort von Gott durch einen Menschen aktuell gesprochen wird“ (134).

Zu seinem Höhepunkt kommt Brunners heilsökonomischer Weg des Gottesdienstes durch die Geschichte schließlich in Christus als dem Wort Gottes in persona zwischen dem alttestamentlich und dem kirchengeschichtlich formatierten Gottesdienst.6 In Christus wird der prozessuale Gottesdienstweg der Heilsökonomie selbst Ereignis, und für Brunner hat „[i]n jenem Menschen Jesus […] Gott jenen Weg, auf dem er uns Adamssöhne aus unserer Verlo6 „Wort Gottes“ wird von Brunner hier und passim wohl, jedenfalls implizit, verstanden entsprechend der dreifachen Bestimmung Karl Barths nach KD I/1 §4. Brunner selbst verzichtet auf eine Näherbestimmung seines Wort-Begriffs, meint damit aber jedenfalls auch den ganz ,wörtlichen‘ Aspekt, dass Gott ,wirklich‘ ,Wort‘ ,spricht‘.

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renheit ein für allemal herausreißen will, konkretes geschichtliches Ereignis werden lassen“ (142).7 Für Brunner geschieht (für Augen und Ohren, die im jüdisch-christlichen Dialog sensibilisiert wurden, in fast unerträglicher Diktion) durch die Inkarnation Gottes Dienst in Christus in zweifacher, göttlicher und menschlicher Weise für den Menschen, indem „die Heilsvermittlung nicht mehr an die kultischen Institutionen des Alten Bundes gebunden“ (144) und als zeitenübergreifender eschatischer Akt „die kultisch-rituelle Gesetzlichkeit schon aufgehoben ist“ (145). Die eschatische Dimension dieses Weg-Geschehens besteht in der Verquickung des Genitiv-Gottesdienstes der ein-fürallemal absolvierten kultischen Sühneleistungen durch Mensch und Gott darin, dass Christus als Mensch Adam ist und wie Adam Mensch als „das bestimmende Haupt einer Gott wohlgefälligen Menschheit“ (148). War der Gottesdienst des Ersterschaffenen vor allem dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch Gott antwortet in seinem Lebensdienst, so antwortet nun Gott durch Christus in seinem Dienst des Lebens und Sterbens. Dieser Dienst Gottes in Geburt und Leben Jesu markiert das Ende des historischen Gottesdienstes der Menschen. Sein Sterben besiegelt es: „Der Auferstandene, also das eschatologisch verwandelte Menschsein Jesu, sein gekreuzigter verklärter Leib und das in ihm beschlossene eschatologische Erlösungsgeschehen, erfüllt jetzt Himmel und Erde und faßt schon alles in sich zusammen“ (150). Für die erlöst-unerlöste Struktur des diesseitlich-zeitlichen Erden- und Menschengottesdienstes bedeutet die schon geschehene eschatologische Vollendung des Gottesdienstes die schiefe Kongruenz eines noch-nicht und schon-jetzt verwirklichten Ereignisses: „Die Kirche Gottes […] hat selbst […] noch eine Zukunft vor sich, die erfüllt wird durch das, was auf der Erde in der irdischen Kirche und durch sie in der Welt geschieht. Vor Gottes Thron ist diese Zukunft schon offenbar, d. h. die Kirche ist vor Gottes Thron im Blick auf ihre Zukunft schon offenbar. Aber auch vor Gottes Thron erfüllt sich diese Zukunft zur Gegenwart nur im Zusammenhang mit dem, was durch die Kirche und in der Kirche auf der Erde j geschieht“ (152 f.).

Es ist ein eschatologisches ,Stück-für Stück‘ im Himmel wie auf Erden, das den diesseitigen und den jenseitigen Gottesdienst bestimmt, aufeinander bezieht und konkrete Auswirkungen für und auf den Gottesdienst der Kirche hat. Einerseits gilt die neue menschliche Wirklichkeit durch das Sterben und Auferstehen des Gott-Menschen Jesus Christus nun für jeden Menschen; andererseits ist der Mensch verfangen in seiner Geschichtlichkeit, deren transitus in das ontisch neue „In-Sein“ im Leib Christi als Kirche sich erst noch erweisen muss. Brunners kompatibilistische Diktion zwischen menschlicher 7 Es dürfte kein Zufall sein, dass sich zeitgleich Hans Conzelmann (1915–1989) mit seiner Habilitationsschrift im Veröffentlichungsjahr 1954 mit genau dieser Fokussierung einen für Generationen theologieprägenden Namen erworben hat; vgl. Hans Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, Tübingen 51964, bes. 158 f.

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Freiheit und göttlichem Wirken ist modalistisch, aber nicht misszuverstehen als Grundlegung einer Auflösung der deterministischen zugunsten einer absolut-liberalistischen Alternative: Gott „will“ [sic!] nach Brunner den „definitiven eschatologischen transitus“ des Menschen, und „[d]as virtuelle InSein aller menschlichen Existenzen in dem Kreuzesleib Jesu soll [sic!] in der konkreten geschichtlichen Existenz jedes einzelnen Menschen zu einem ontisch-realen und personhaft ergriffenen In-Sein umgesetzt, aktualisiert und seiner definitiven Gestalt zugeführt werden“ (153). Sowohl der voluntative als auch der oportative Aspekt dieses Geschehens markieren dabei ausschließlich die theologische und nicht die anthropologische Dimension göttlichen Wirkens. Es ist Gottes Wirken, das der menschlichen Korrespondenz ein Apriori setzt und so Gottes Dienst ist: „Gott handelt mit jedem Menschen persönlich und personhaft mit dem Ziel, [diesen transitus; FH] zu aktualisieren“ (153). Ein drittes und entscheidendes Element auf dem Punkt dieses Weges: Gottes Handeln am Menschen – Gottes Dienst – verwirklicht sich in seiner Menschwerdung, vollendet sich in Sterben und Auferstehung und drückt sich schließlich greifbar in der pfingstlichen Geistausgießung aus: „Was an Pfingsten geschieht, ist ein Neues. Diese pfingstliche Ausgießung des Geistes gab es nicht im Alten Bunde, auch nicht im irdischen Wirken Jesu, das gab es auch noch nicht in den Epiphanien des j Auferstandenen während der 40 Tage. […] Hier vollzieht sich jetzt die konkrete ontisch-reale Einleibung der einzelnen Menschen in den das All erfüllenden und vor Gott in Glorie gegenwärtigen Kreuzesleib Jesu“ (156).

Entscheidend ist das Pfingstgeschehen für Brunner, weil es in der Taufe aktualisiert wird und weil die Taufe die „Fortpflanzung“ des Pfingstgeschehens in die reale Kirche realer Menschen ist. Taufe wiederholt Pfingsten und Pfingsten ,wiederholt‘ jede Taufe jedes Menschen: „Das Taufgeschehen ist jeweils erneutes Pfingstgeschehen“ (156). Der Gottesdienst der Kirche steht auf der Schwelle des vorzeitlich bestimmten Dienstes des Menschen in Antwort zu Gott, der sein letztgültiges Erlösungswort in Christus spricht und diese Erlösung pfingstlich je und je in jedem Menschen durch die Taufe aktualisiert. Die vergängliche Welt feiert im und als Gottesdienst den Anbruch der Welt, wie sie Gott geschaffen hat, hat vorauslaufend und vorausfeiernd Anteil an der Verheißung der eschatologischen Vollendung und ist „[d]urch die Bezogenheit auf die Vergangenheit und die Zukunft der Heilsökonomie Gottes“ schon gegenwärtig heilsökonomisch „konstituiert“ (160). Seine Verdichtung im jeweils gegenwärtigen Gottesdienstgeschehen erfährt der universale Gottesdienst zwischen den Zeiten für Brunner im ,Heute‘8 jedes 8 Bedenkenswert ist auch dieser Begriff nicht zuletzt auf dem Hintergrund des jüdisch-christlichen Dialogs. Etwa Alexander Deeg trägt die messianische Dimension in den Begriff des ,Heute‘ ein und bemerkt in seinem Nachwort zum PLUS der „Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext“ unter dem Titel „Gottes Gesalbte: Priester – Könige – Propheten. Solus Christus neu

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Gottesdienstes, den er grundsätzlich als anamnetische Wortverkündigung versteht. Anamnese meint bei Brunner dabei nicht die Dimension vulgärer Erinnerung oder schlichten Gedächtnisses; eher ist hier noch an die Proustsche Ereignis-Erinnerung zu denken denn an ein rekapitulierendes Gedenken. Gottesdienstliche Anamnese, die die Zeiten verschränkt, ist kein psychologisch zu verortender Vorgang, sondern ein radikaltransformierender Prozess, der Menschen ihrer gottesdienstlichen Wesensbestimmung nach orientiert: „An das Evangelium und an die Taufe erinnert man sich nicht wie an eine biographische Begebenheit oder an eine Geschichtszahl, die man vergessen hat und die man sich ins Gedächtnis zurückruft. Das Gedenken der Gemeinde an Evangelium und Sakrament ist kein neutraler Vorgang, der sich im psychologischen Bereich dessen abspielt, was wir heute ,Erinnerung‘ nennen. Dieses Gedenken schließt vielmehr ein, gelesen“ anhand eines im Talmud als vergangenem geschilderten Gesprächs zwischen Rabbi Jehoshua und Elia/dem Messias (vgl. Sanhedrin 98a) die eigentümliche Gegenwärtigkeit messianischer Eschatologie: Der Messias sitzt verwundet vor den Toren Roms und antwortet Rav Jehoshua auf seine Frage nach dem Zeitpunkt des Kommens des Messias mit einem schlichten: „Heute.“ Nach vorläufiger Enttäuschung – „er hat mich belogen, denn er sagte mir, er werde heute kommen, und er kam nicht“ – erläutert Elia: „Er hat es wie folgt gemeint: ,Wenn ihr heute auf seine Stimme hören werdet …‘ (Ps 95,7).“ Deeg konkludiert: „Die Struktur der Zeit bricht zusammen und gerät durcheinander, auch die religiöse Zeitstruktur. In dieser gibt es ein Denken, das apokalyptisch, aber nicht messianisch ausgerichtet ist. Auf diese Zeit folgt an deren Ende eine andere Zeit, die klar von der vergehenden Zeit unterschieden ist. Nicht so, wenn der Messias sagt, er komme heute! Die neue Zeit, Gottes Zeit, ist da und bereit. Sie liegt gleichsam unter oder über oder neben der Zeit, in der Menschen leben und die sie als ihre Zeit begreifen. Aber heute geschieht es, dass diese Zeit, deren Kontinuum Menschen erleben, einen Riss erhält und die andere Zeit Gottes zur Wirklichkeit wird“; Alexander Deeg, Messianisch predigen. Ein Nachwort, in: Studium in Israel e.V. (Hrsg.), Plus-Punkte. Neues Denken mit der Schrift, 463–472, 464–466, Zitat 466. Deeg beobachtet scharfsinnig, dass die messianische Zeit, im Gegensatz zur apokalyptischen, kein Nacheinander, sondern ein striktes Ineinander kennzeichnet – und so bleibt der Hinweis, Gottes Zeit liege „gleichsam unter oder über oder neben der Zeit“, die Menschen als „Kontinuum“ erleben, etwas dunkel und auf dem Hintergrund des zu Bergsons/Deleuzes „Dauer“-Begriff Gesagten zwar etwas unpräzise. Die Pointe, die Deeg in dieser Gegenüberstellung erkennt, ist demgegenüber sehr eindrucksvoll: Der Riss in der wahrgenommenen Zeit ist selbst das Werden der Gotteszeit! Ebenfalls mit Bezug auf Ps 95,7b sei nur kurz eine Beobachtung aus römisch-katholischer Perspektive referiert, die gänzlich anders formatiert ist. Albert Gerhards fasst die Bedeutung des ,Heute‘ im liturgischen Ritus des Stundengebets so: „Wer heute auf Gottes Stimme hört, wird in das Gelobte Land gelangen. Dieses Heute ist der Kairos, den Gott täglich anbietet. Jeder Tag wird so zum Tag des Heils. Wenn am Abend bei der Komplet Gewissensforschung gehalten wird, erweist sich, ob die Chance des Heute genutzt worden ist“; Albert Gerhards, Mimesis – Anamnesis – Poiesis. Überlegungen zur Ästhetik christlicher Liturgie als Vergegenwärtigung, in: Walter F rst (Hrsg.), Pastoralästhetik. Die Kunst der Wahrnehmung und Gestaltung in Glaube und Kirche, Freiburg im Breisgau/Wien u. a. 2002, 169–186, 176. Es dürfte deutlich sein, dass diese Perspektive wenig evangelisch und in keiner Weise messianisch ist, die die Regelwerke des Gewohnten durchbricht und einen Riss durch die Selbstaffirmierungstendenzen nicht zuletzt neuzeitlicher Optimierungszwänge zieht.

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daß dadurch das Verstehen und das Denken und das Wollen und das Tun des Menschen nach Wesen, Art und Inhalt geformt und geprägt wird. Dieses Gedenken ist also eine die Existenz entscheidend bestimmende Macht.“ (209)

Seinen Kardinalpunkt findet dieses Machtgeschehen der gottesdienstlichen Anamnese für Brunner in Christus, der sich so in der Gemeinde vergegenwärtigt „mit allem, was damals dort bei ihm und durch ihn geschah“ (210), und entsprechend auch den Gottesdienst Israels nun eschatisch transformiert. Im Gottesdienst als Anamnese verdichtet und aktualisiert sich der Gottesdienst Israels je neu und erneuert sich und vergegenwärtigt sich das im Alten Testament berichtete Sein Gottes mit Israel, so dass die „Heilsgeschichte Gottes, die Ursprung, Fundament und Lebenswirklichkeit Israels in einem ist, durch dieses das ,Gedächtnis‘ im Kultus vollziehende heilige Wort in einer eigentümlichen, uns schwer faßbaren Weise für die Kultgemeinde eine gegenwärtige Realität, ein ,Heute‘ wird.“ (210) Brunner kann hier mit Gerhard von Rad (1901–1971) und einem Blick auf Dtn 5,2–4 den grundsätzlich hodiellen Charakter jeder gottesdienstlichen Kultanamnese unterstreichen, wenn er darauf verweist, dass schon die ,Predigt‘ Moses das Heilsgeschehen des Bundesschlusses Gottes mit den Erzeltern Israels in das ,Heute‘ seiner Worte bindet: ,Heute‘ schließt Gott seinen Bund mit seinem Volk am Horeb (V. 2); er hat ihn nicht mit schon gestorbenen Generationen geschlossen, sondern schließt ihn ,heute‘ mit gegenwärtigen und lebendigen Menschen (V. 3); und er spricht selbst „von Angesicht zu Angesicht“ mit diesen seinen Menschen (V. 4). Das Sprechen Gottes, sein Wort transformiert vergangene Geschehnisse in gegenwärtige und zukünftige Ereignisse, indem es Gott selbst ist, der in der Wortverkündigung handelt (spricht!) und so in der Anamnese die eschatologische Dimension des einst Geschehenen, Verheißenen und Bestimmten offenbart. Wort9 und Geschehen10 gemeinsam erst ergeben das anamnetische Ereignis der Offenbarung Gottes im ,Heute‘ (vgl. 211). Erst durch das Wort verbindet sich das Geschehene mit der Gegenwart als Ereignis, „bleibt das Ereignis selbst auf jede Gegenwart bezogen und ragt in jede Gegenwart hinein, in der diese Wortwirklichkeit selbst ausgesprochen wird“ (212) und sprengt die Grenzen der raum-zeitlichen Verhaftung im Einst. Ereignis als die anamnetische Verbindung von Geschehenem und Wort ist so creatio continua, die jedes Geschehene in die Geschichte Gottes mit seiner Welt einbindet und so aus geschichtlichen Fakten eschatologische Heilsereignisse werden lässt. Abendmahl ist Ereignis, ohne ein historisches Geschehen zum Ereignis zu deklarieren. Das Bindeglied zwischen einst und

9 Besser nach Karl Barth: Gottes Wort, gesprochen von ihm selbst unter Inanspruchnahme von Diener:innen. 10 Ich schreibe von „Geschehen“ statt von „Ereignis“, um die Unterscheidung dieser beiden Begriffe deutlich zu machen. Brunner selbst spricht durchgängig von gegenwärtigen und von historischen Ereignissen.

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heute ist auch für Brunner ebensowenig wie über den Weg der Psychologie auf dem Weg der Historie zu ermitteln: „Unser Abendmahl kommt von jenem Stiftungsmahl her, aber nicht so, wie sonst ein Brauch oder ein Ritus aus einem bestimmten historischen Anlaß entsteht und weiter tradiert wird. Unser Abendmahl steht mit dem Stiftungsmahl in einem viel engeren Zusammenhang, für den es sonst in Brauchtum und Ritus keine Entsprechung gibt. Denn unser Abendmahl hat das stiftende Mahl bei sich und in sich. Gewiß, es ist keine Kopie des stiftenden Mahles“ (238).

Für Brunner essentiell deutlich wird dies in Gottes faktischem Handeln an, in und durch Jesus Christus: Die Geschichte Gottes, die ihren Mittelpunkt in Christus hat, inkludiert die gesamte Menschheit gleichsam wie Mose Israel in das eschatische Vollendungsgeschehen, so dass die „in dem Jesusgeschehen beschlossene Geschichte […] wirksam wird und alle, die durch den Glauben an ihr Anteil gewinnen, in den eschatologischen transitus versetzt“ (213). Aus diesem Grund feiern christliche Gemeinden Abendmahl, das „nur deswegen Ab e n d m a h l “ ist, „weil es von dem Mahl herkommt, das der Herr in der Nacht seiner Dahingabe mit den Jüngern gehalten hat. Dieses Mahl hat die Kette aller Abendmahlsfeiern der Kirche aus sich entlassen. Dieses Mahl ist stiftender Akt. Dieses Mahl setzt daher für alle aus ihm hervorgehenden Mahlfeiern einen Stiftungszusammenhang“.

Dieses eine Abendmahl, das der Herr seinerzeit mit seinen Jüngern feierte, kann dann kein Punkt auf einer Linie sein (und sei sie auch ,äonisch‘ gedacht). Als wirkliches Abendmahl ist es „nicht in punktueller Isolierung“ zu begreifen, sondern markiert eher den zeitlosen Punkt, an dem das Reich Gottes in die Welt bricht und sich verwirklicht in der Dialektik des ,schon jetzt und noch nicht‘ – „verborgen, aber bereits wirklich“ (alle 224). Es fand im Wortsinne ein für alle Mal statt und findet ,heute‘ je und je statt, es ist abgeschlossene Gotteshandlung zu jedem Zeitpunkt, indem geschieht, was in den verba testamenti durch ihre ,Wiederholung‘ verheißen wird: „Der Abschluß des Geschehens, das die Realpräsenz von Leib und Blut schenkt und das zugleich die Realpräsenz als eingetretenes, abgeschlossenes Ereignis kundmacht, ist das Sprechen jener Worte Christi, die sagen, was dieses Brot und dieser Kelch jetzt sind“ (240). Abendmahl ist in diesem Sinne Ausdruck wirklicher göttlicher sowohl als auch deleuzianischer ,Wiederholung‘. Es ist keine gemeine Wiederholung, die jedem Ritual allein aus formellen Gründen eignete und so das Vergangene in die Gegenwart wieder-holte, sondern es setzt aus sich seine Wiederholung und wiederholt als Ritual göttlicher Stiftung seine immerwährenden Wiederholungen.11 Der Ritus kirchlicher Abendmahlsfeiern wird nicht zum Ritus, weil 11 Daraus ergibt sich eine Randnotiz, die für die vorliegende Darstellung nicht entscheidend ist, mir aber doch, nicht zuletzt mit Blick auf jüdisch-christlichen Dialog, zu erwähnen wichtig

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er nach dem Ursprungsgeschehen in hinlänglicher formaler Ähnlichkeit über eine kritische Mindestanzahl hinaus immer wieder so oder so ähnlich gefeiert wurde – das wäre keine Wiederholung, das wäre in Deleuzes Terminologie bloße „Repräsentation“ und theologisch gesprochen zumal eine ganz und gar menschliche. Weil Christus mit den Seinen das eine Abendmahl feiert, feiert er alle weiteren Abendmahle im Voraus (wie könnte auch die bloße Repetition bewirken, was die einmalige göttliche Handlung setzt?). Noch Paulus verankerte gemäß 1Kor 11,24 f. „den eine gottesdienstliche Wiederholung einschließenden Anamnesebefehl in dem stiftenden Mahl selbst“ (227). Brunner schreibt in erstaunlicher Nähe zu Deleuze:

erscheint hinsichtlich der Praxis mancher christlicher Kreise, Pessach-Sederabende in der vermeintlichen ,Wiederholung‘ eines ,authentischen‘ Letzen Mahles Christi und damit bestmöglichen Annäherung an das damalige Geschehen zu feiern. Etwa auf der Internetseite http:// www.judentum.net/dialog/seder.htm findet sich die Darstellung einer hier anonymisierten, aber m. E. grundsätzlich glaubwürdigen Einladung zu einem Sedermahl mit den Worten: „Die Jubilatekirche (Name x) lädt ein zum Pessach-Seder. Wir erinnern [sic!] uns dabei an das Opfer, das Christus für die Welt gebracht hat – an seinen Tod und seine Auferstehung“. Die damit verbundenen Implikationen kaum weniger als die Explikationen werfen im Kontext dieser Studie nicht nur ein (vielleicht weniger gravierendes) ereignistheologisches Licht auf die damit verbundene und theologisch irreführende, ja absurde Abendmahlshermeneutik – denn gerade Deleuze lag an der Historie so gut wie nichts, und sein Begriff der Wiederholung, wiewohl der Differenz, meint gerade eine „Wiederholung auf einer bis dahin unbekannten Stufe, in einer gewandelten Gestalt und mit anderen Mitteln“ [WPh 112]. Gravierender noch ist das hier begegnende ethisch-imperialistische Grundproblem der Begegnung von Judentum und Christentum gerade nicht in gleicher geschwisterlicher Augenhöhe. Alexander Deeg meint zu Recht, dass hier große Sensibilität geboten ist: „Es tut weder dem Dialog noch der eigenen Identität gut, wenn die Sprache des anderen einfach übernommen wird. Zu Recht blicken viele Jüdinnen und Juden kritisch auf christliche Übernahmen jüdischer Gebetstexte (oder gar auf christliche Feiern in Anlehnung an jüdische Feste – wie dies besonders intensiv am Gründonnerstag in Imitation des jüdischen Pessach-Sederabends geschieht).“; Alexander Deeg, Neue Worte in einer alten Beziehung. Liturgische Sprachfindung im Kontext des christlich-jüdischen Dialogs, in: Alexander Deeg/Irene Mildenberger (Hrsg.), „… dass er euch auch erwählet hat“. Liturgie feiern im Kontext des Judentums, Leipzig 2006, 33–62, 49. In einem zwei Jahre zuvor veröffentlichten Beitrag zur Intertextualität christlicher Liturgie im Dialog mit dem Judentum beschreibt Deeg dies präzise mit dem Begriff der Gefahr der „synthetisch-philosemitischen Reduktion“: Was in der christlich ,getauften‘ Pessach-Tradition als inszenierter Identifikationsprozess gedacht sein mag, kann zwar als eine „herzlich gemeinte Umarmung“ der Tradition des Judentums verstanden werden, droht aber zugleich deutlich, „die herausfordernde, gegenwärtige Stimme des Judentums zu ersticken“. Mehr noch: In historisierendem Bemühen um die vermeintlich ,wahren‘ Ursprünge des Abendmahls wird der jüdische Ritus „zum Schritt auf dem Weg der Entwicklung des Christlichen“ degradiert, und zusätzlich nehmen christliche Imitate „der jüdischen Feier einerseits ihre Eigenart und Würde. Andererseits könnte die Idee aufkommen, dass man die Stimme des gegenwärtigen Judentums nicht brauche und das ,Jüdische‘ selbst darzustellen in der Lage sei“; Alexander Deeg, Gottesdienst in Israels Gegenwart. Liturgie als intertextuelles Phänomen, in: Liturgisches Jahrbuch 54 (2004), 34–52, 44 f.49. Vgl. dazu auch Alexander Deeg, Liturgik und christlich-jüdischer Dialog. Ziele, Wege und Perspektiven, in: Praktische Theologie 38 (2004), 246–252, 249.

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„So gewiß der Rahmen des Mahles, in dem die neue Stiftung erfolgt, als Ritus nach Wiederholung verlangt, so gewiß ist die neue Stiftung schon in dem Augenblick ihrer Stiftung Ritus, u n g e s t i f t e t e r Ritus, aber R i t u s , der als solcher, obwohl am angebrochenen Todestag gestiftet, dennoch – rätselhaft genug – schon in dem Augenblick seines ersten Vollzugs auf eine geheimnisvolle Zukunft hinweist, eben auf jene Zukunft, die der Auferstandene mit seinen Erscheinungen und seiner neuen Mahlgemeinschaft eröffnen wird.“ (227)

Wo Brunner nicht von ,Wiederholung‘ schreibt – das tut er eher en passant –, ist in seiner Liturgik der Begriff anamnesis zentral, meint aber (und überraschenderweise!) jedenfalls struktural das, was Deleuze mit ,Wiederholung‘ bezeichnet. Schon Brunners Abendmahls-anamnesis ist sowohl futurischeschatologisch als auch perfektisch-eschatologisch im alttestamentlichen Gottes- als Prophetenwort präfiguriert – oder, mit Deleuze, ,wiederholt‘. Die prophetische „oth“ ,wiederholt‘ das ,nach‘ ihr Geschehende im Vollzug ihrer Handlung als das gegenwärtig-eschatologische Ereignis, und entsprechend ist auch die „Erinnerung an die oth des Alten Bundes […] beim Abendmahl um so mehr am Platz, als eine oth nicht nur das Zukünftige im gegenwärtigen Zeichen vollkräftig repräsentiert, sondern auch ,Gedächtnis‘-Zeichen ist, das das Vergangene im Zeichen gegenwärtig erhält“ (230).12 Die Wort- als Zeichenund damit Sinn-Struktur des Abendmahls entspricht der Struktur der Propheten-Zeichenworte, so dass das letzte Mahl Jesu in und durch stiftendes Jesus-Wort und Handlung genuin anamnetisch ist und für Brunner den telos alttestamentlicher Prophetie markiert: „Der anamnesis-Charakter des Abendjmahls bringt das anamnesis-Geschehen des alttestamentlichen Kultus und insbesondere den anamnetischen Charakter des Passamahls zu der in der neuen Stiftung des Neuen Bundes gesetzten Vollendung“ (227 f.). Dabei übersteigt die Vergegenwärtigung der Ritologie Israels im Abendmahl als anamnesis auch den Charakter prophetischer Wort-Zeichenhandlungen und weist bis auf die Grundpfeiler israelitischer Geschichte zurück. Wie der Auszug aus Ägypten als Exodus und der Einzug in das Gelobte Land als Eisodus im Passahmahl Israels verschmelzen, d. h. „in der kultischen Anamnese zum eschatologischen transitus“ (247) werden, ist das Mahl Jesu und ist jedes Abendmahl der transitus zwischen den Welten Israels und der Kirche: „[N]icht nur prophetische oth erfüllt sich hier; hier erfüllt sich vor allem eine in älteste Zeiten zurückgehende und das ganze kultische Leben Israels und das Judentum durchdringende Funktion des alttestamentlichen Gottesdienstes, durch die er zumal in den mit ihm verbundenen Mahlen das große Freudenmahl der Endzeit und sein Heil jetzt schon ein ,Heute‘ werden läßt. Das gilt vor allem von den Jah12 Vgl. zu den prophetischen Wort-Zeichenhandlungen, in denen sich Gottes Wort ausdrückt, auch Brunners Heidelberger Kollegen Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments. Band II: Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels, München 31962, 108–111.

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resfesten Israels, die im Grunde Bundeserneuerungsfeste sind und denen der antezipierende Ausblick auf die Erfüllung dieses Bundes in der Endzeit eigentümlich ist“ (246).

Wie Israel seine Heilsgeschichte rituell je und je vergegenwärtigt („Wenn dich dein Sohn morgen fragt …“), tut dies Kirche (u. a.) im Abendmahl: Gedenkend vergegenwärtigt sie Jesu transitus von Exodus in den Tod und Eisodus in das Leben, nun aber nicht so, dass sie selbst das Ereignis vergegenwärtigt, sondern vielmehr so, dass Gott im Vordenken der Kirche selbst ,heute‘ seiner Kirche gedenkt und sie in den transitus Christi von Tod zu Leben versetzt. Christi Gegenwart im Abendmahl ist nicht das (mithin leicht funktionalistisch misszuverstehende) Ergebnis einer aktuellen Mahlfeier, sondern der Grund seines aktualisierenden Charakters: „Daß Jesus Christus selbst mit seiner das Mahl stiftenden vollmächtigen Handlung und mit seinem die Gabe des Mahles schaffenden Wort in unserem Abendmahl gegenwärtig ist, ist die Voraussetzung dafür, daß auch in unserem Abendmahl das Brot sein Leib und der Wein sein Blut ist. Die mahlstiftende Gegenwart des Herrn ist die Voraussetzung dafür, daß die realpräsentische Gegenwart seines Leibes und Blutes Ereignis wird“ (238).

Das ist Ereignis, wie Brunner Otto Michel zitiert: ,Gottes Gedenken ist ein wirksames und schaffendes Ereignis“13. Abendmahl als Kulminationspunkt des Gottesdienstes (noch einmal: der für Brunner als ganzer Anamnese ist) ist Ereignis in der Umkehrung der Denkrichtung: Nicht Menschen feiern anamnetisch das Gedächtnis der Heilshandlung Gottes, sondern Gott handelt anamnetisch, indem er selbst seiner Taten im Akt des jeweiligen Abendmahlsereignisses gedenkt und sie so aktualisiert: „Die Tatsache, daß die Kirche das Gedächtnis Christi betend, verkündigend und handelnd begeht, wird so zu einer Tat, die das Gedenken des Herrn selbst erweckt. Indem aber Gott gedenkt, geschieht etwas. Gottes Gedenken läßt seine Verheißung, seine Bundestreue wirksam werden und schafft ein Neues (Gen. 9, 15 f.; Ex. 32, 13; Dt. 9, 27; Ps. 105, 8)“ (250).

Als Ereignis in der ,Wiederholung‘ ist die sonntägliche Mahlfeier weder identisch noch ähnlich dem Gründonnerstagsmahl Jesu, es ist ihm partizipativ gleich: „Wir feiern das Abendmahl mit, das den Jüngern in dieser Nacht geschenkt wird. Unser Abendmahl, das uns der Herr durch seine Gegenwart bereitet, ist in seiner Substanz kein anderes, als er damals dort seinen Jüngern bereitet hat“ (244). Es ist bei Brunner wesentlich „repraesentatio“ und „antecipatio“. Als Erinnerung streckt sich die Abendmahlsfeier in die Zukunft Gottes, der sich in ihr ereignet und die Verheißung des Abendmahls erfüllt. Wie die prophetischen „othiot“ selbst das zu Bezeichnende verwirklichen, so 13 Otto Michel, in: ThWNT IV, 678, 26 f. (Hervorhebung im Original).

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bewirkt Gott seine noch ausstehende Gegenwart im ,Heute‘ jeder Abendmahlsfeier, sodass Christi Handlung zu seiner Zeit mit der allsonntäglichen Abendmahlshandlung von Kirche ineins fällt. „Das Gedächtnis als repraesentatio geht hier über in das Gedächtnis als antecipatio. In der Antezipation des noch ausstehenden Heilsgeschehens wird die gottesdienstliche Anamnesis nach der anderen Seite hin, nach der Zukunft hin wirksam. Beide Seiten der anamnesis: repraesentatio und antecipatio, gehören zusammen. So zeigt sich hier j noch einmal der e r f ü l l t e oth-Charakter des Abendmahls“ (231 f.).

Schließlich: Wo das eine Abendmahl immer Abendmahl ist und wo die Zeiten überspannt werden, gilt entsprechend ein grundsätzlich universaler Referenzrahmen nicht nur für alle Zeiten, sondern auch für alle Menschen. Das eine Abendmahl Christi im Jahr 30/33 ist ein für alle Mal und in jedem Mahl Abendmahl nicht nur in punktueller Universalität. Es ist gemäß der heilsökonomischen Gesamtanlage in Brunners Liturgik universal auch und zumal in anthropologischer Hinsicht und gilt für Adam, den Ersterschaffenen, wie für den alleinerziehenden Vater im beliebigen Sonntagmorgengottesdienst im 21. Jahrhundert; es ist universal mit Mk 14,24; Mt 26,28 und Jes 52,14 f.; 53,10 ff. et passim für ,viele‘ so gestiftet, dass es für jede und jeden gestiftet ist. Christus spricht (exemplarisch) „Das ist mein Blut, das für viele vergossen ist“, und Brunner erkennt: „Damit sind ,alle‘ gemeint; es ist die Völkerwelt gemeint“ (226). 2.1.2 Christus, der heilshistorische Angelpunkt oder: Gottesdienst und Repräsentation Man kommt, zumal nach dem Gespräch mit Deleuze, nicht umhin, besonders eine heftige theologische Schwierigkeit und eine aus Brunners Heilsökonomie resultierende zweite, wenngleich weniger schwerwiegende Problematik in dieser durchaus brillanten Konzeption anzusprechen. Sie wurden en passant schon markiert und werden nun expliziert. Schon in der Darstellung der Chronologie seiner universalliturgischen Heilsökonomie vom Ersterschaffenen bis zu Christus als dem telos ist angelegt, was sich als das grundlegende theo-logische Problem seiner Hermeneutik herausstellt. Dabei gibt Brunners Entscheidung für eine lineare Darstellung (denkbar und Brunners Anliegen der Verschränkung entsprechend ist es ja, eine eschatologische Liturgik gerade nicht beim „Ersterschaffenen“ beginnen, sondern enden zu lassen …) nur einen oberflächlichen Hinweis darauf, dass er sich einer konsequenten Durchführung seines eschatologisch-hodiellen Unternehmens dann doch nicht stellte. Gewichtiger sind die expliziten Einordnungen der alttestamentlich-israelitischen und der Christus-Heilsgeschichte und die damit letztlich verbundene Zuordnung einer inferioren zu einer superioren Gestalt des ,einen‘ Gottesdienstes. Wo Brunner schreibt, die „Mitte“

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des heilsökonomischen Gottesdienstweges sei „die Menschwerdung“ (119) Gottes in Christus, unterläuft er seine zu Beginn der Skizze dieses Weges markierte direkte Wesensbeziehung von Gott und Mensch als Gottesdienst und setzt – und das ist ereignistheologisch schwerwiegender – ein arbiträres Zentrum der Mensch-Gott-Begegnung, das alle anderen Gottesdienste damit nun nicht mehr diesem zu-, sondern unterordnet. Arbiträr ist dieses Zentrum, wo es die bundestheologische Pointe der Brunnerschen Liturgik selbst unterläuft, die ja gerade mit Dtn 5,2–4 und Lk 4,21 in ihrer hodiellen Zeitstruktur der historischen Isolierung wehren wollte: Eine solche Bestimmung isoliert das Ereignis Gottesdienst entgegen der expliziten Intention Brunners nun doch in einem historischen (!) Punkt, der sich in der Kontingenz der Profangeschichte verliert, statt in der gegenwärtig-eschatologischen Heilsgeschichte seine in allen Zeiten aktualisierte Wiederholung auszudrücken. Man denke zurück an Foucaults Deleuze-Labyrinth (vgl. oben Kapitel 2.2.1), an Borges’ Erzählungen „Der Tod und der Kompaß“ bzw. „Die Lotterie in Babylon“ (vgl. oben Kapitel 2.2.2) oder an Carrolls Dialog zwischen Achilles und der Schildkröte (vgl. oben Kapitel 2.3.2.1): Um der Konsequenz einer teleologisch-linearisierten Heilsgeschichte zu entgehen, muss eine Linie gedacht werden, die zwar endlich ist, dabei aber nicht nur keinen Mittelpunkt aufweist, sondern derer unendlich viele: Sei (Z) der Mittelpunkt der Brunnerschen Heilsgeschichte in der Inkarnation um das historische Jahr 0 und seien die beiden Prämissen (A) = Menschen können, postlapsarisch, den idealen Gottesdienst nicht (mehr) feiern; sowie (B) = Menschen feiern in, mit und durch die Anwesenheit des menschgewordenen Gottes den idealen Gottesdienst, behält Carrolls Schildkröte recht: (Z) muss so lange nicht gelten, wie zunächst affirmiert werden kann, dass (C) = (A) und (B), woraus (D) folgt etc. Ebenso ,Scharlach‘ und sein Versprechen eines Labyrinthes, „das aus einer einzigen geraden Linie besteht, und das unsichtbar, unaufhörlich ist“; genau so die ,babylonische Lotterie‘, deren Ziehungen unendlich sind und deren Auswirkungen auf durch andere Ziehungen gewirkte Ereignisse sie wiederum selbst bedingen. Kurz: Eine Heilsgeschichte, die ein telos hat, verliert die gelebte Geschichte an den Rändern dieses Grates und verdammt deren Wirklichkeit in die Abgründe nicht einmal mehr möglicher Unmöglichkeiten. Aus diesem Grund kann auch nicht sekundiert werden, dass Brunners Abendmahlsanamnese in Christi Handeln essentiell den transitus ,aller‘ bewirkt: exemplarisch und in deutlichster Ausdrücklichkeit – ja; aber als ,Wiederholung‘ gerade nicht „essentiell“14. Erst recht problematisch erscheint in 14 Jean-Paul Sartre hat ja nicht Unrecht, wenn er „erklärt, dass, wenn Gott nicht existiert, es mindestens ein Wesen gibt, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, und dass dieses Wesen der Mensch oder, wie Heidegger sagt, die menschliche Wirklichkeit ist. Was bedeutet hier, dass die Existenz der Essenz vorausgeht? Es bedeutet, dass der Mensch zuerst existiert, sich begegnet, in der Welt auftaucht und sich danach definiert“; Jean-Paul Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus? Drei Essays, Frankfurt am Main 1989, 11.

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diesem Licht Brunners Feststellung, „[d]er anamnesis-Charakter des Abendjmahls“ bringe „das anamnesis-Geschehen des alttestamentlichen Kultus“ zur „Vollendung“ (227 f.; vgl. oben). Weder wird das gegenwärtigen Ergebnissen des jüdisch-christlichen Dialogs gerecht, noch kann ein Ende i. S. einer „Vollendung“ gedacht werden, wo schon bedacht ist, dass der Anfang selbst vollendet und jedes Ende der Beginn seiner eigenen Wiederholung ist. Nicht nur werden anders Anfang und Ende einer Entwicklung im Dekadenzmodell der Inferiorisierung des jeweils Früheren verstanden. Entscheidender ist die Einsicht darin, dass allein die Annahme absoluter Anfänge oder Enden einem (theo-)logischen Fehlschluss folgt. Schon Descartes gelang es nicht wirklich, einen Anfang zu denken (vgl. nur oben), und noch die cartesisch-neuzeitlich geschulte Selbst-Verständlichkeit origo-originalen Denkens basiert auf ihren eigenen Voraus-Setzungen. Umso mehr gilt für das Denken des Endes, dass es erst um seiner eigenen Konsequenzen willen als endlich gedacht werden kann. Pointiert: Brunner selbst zielt, konsequent verstanden, mit dem Ziel der Heilsgeschichte in Christi Gründonnerstagsmahl auf das Ende der Möglichkeit jeder Geschichte, nicht zuletzt Gottes und der Menschen, und setzt ein Ende, ohne den daraus folgenden Anfang zu würdigen, auf der Grundlage eines (paradiesischen?!) Anfangs, den er nicht konsequent als schon verwirklichtes Eschaton darstellt. Man entgeht diesem Fehlschluss leicht, auch ohne doketistisch missverstanden zu werden, wenn der Plural der einen exemplarischen und ausdrücklichen „Mitte“ mit Deleuzes Konzept des „Rhizoms“ ubiquitär verbunden wird: Statt des einen Zentrums (ein Plural von „Zentrum“ ist genauso widersinnig wie der von „Mitte“) hätte das eine Ereignis des Genitiv-Gottesdienstes dann unzählige „Knotenpunkte“, die von Adam über Abraham und natürlich Christus bis in die zukünftige Gegenwart allesamt nicht-hierarchisch und dynamisch gleichberechtigt wären und als Rhizom so miteinander verbunden, dass eine Zuordnung von früheren und späteren Zeitigungen des Ereignisses unmöglich ist. Dass im deleuzianischen Zeitereigniskonzept mit Hamlet die Zeit zwar gleichwohl aus den Angeln geraten ist (vgl. das Motto zum Zeit-Kapitel in Teil A dieser Studie), ist ein weiterer Hinweis auf die letztliche Insuffizienz des Brunnerschen Gottesdienstweges. Noch einmal Deleuze: „Der Angelpunkt, cardo, ist dasjenige, was die Unterordnung der Zeit unter eben die Kardinalpunkte gewährleistet, über die die periodischen Bewegungen verlaufen, die er mißt (Zahl und Zahl der Bewegung, hinsichtlich der Seele wie der Welt). Die aus den Angeln gehobene Zeit meint dagegen die verrückte Zeit, die aus der Krümmung geraten ist […]. Sie ist nicht länger kardinal und wird ordinal“ [DW 122].

Eine liturgische Heilsökonomie eines Gottes, der die Zeit ver-rückt, bedürfte entsprechend gerade nicht mehr des Angelpunktes, des cardo. Besser verstanden wären auch Gottes Dienst und dessen responsorialer Gottesdienst nicht kardinal, als wäre er – und sei es in der Inkarnation – die endzeitliche Summe aller vergangenen und zukünftigen Teile der Geschichte. Heilsöko-

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nomischer Gottesdienst als Gottes Weg mit der Welt wäre vielmehr ordinal zu verstehen, stets bezogen auf die mit allen Gegenwarten koexistente und ihnen präexistente Vergangenheit und Zukunft. Etwas vereinfacht: Gottes präexistente Zukunft bricht die Vergänglichkeit der Vergangenheit auf und lässt der Totalität der Gegenwart keinen Raum, sondern füllt ihn von je her eschatisch. Es wurde schon angedeutet, dass Brunners anamnesis-Begriff der deleuzianischen ,Wiederholung‘ strukturell auffällig ähnlich ist. Eine gewichtige Ausnahme dieser Beobachtung muss nun allerdings noch nachgetragen werden. Wenn Brunner die Begriffe antecipatio und repraesentatio in der anamnesis gleichsetzt, wird damit in der Konsequenz die Einzigartigkeit göttlichen Heilsgeschehens in der Geschichte arretiert und damit sterilisiert, weil so eine Wiederholung ohne Differenz gedacht wird, die dann letztlich doch keine Wiederholung, sondern eine Kopie oder ein Klischee15 ist. Das damit hermeneutisch und philosophisch-philologisch verbundene Grundproblem schien schon im ersten, in Deleuzes Denken einführenden Kapitel immer wieder durch, dann deutlicher in der Diskussion von Platons Parmenides-Dialog (vgl. oben Kapitel 2.3.1) auf und begegnete in pointierter Form noch einmal bei Alicens Werden (vgl. oben Kapitel 2.3.3.1) und bei Nietzsches Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen (vgl. oben Kapitel 2.3.3.2): Einerseits subsumiert eine repräsentationstheologische Denkfigur das Identische in der Tautologie des A=A, die aus sich heraus nichts Neues (und damit notwendig Differentes) setzen kann. Andererseits wohnt diesem Denken der Keim jenes zeittheoretischen Dekadenzmodells des Ähnlichen inne, das den Gedanken einer gegenwärtigen Eschatologie und einer eschatologischen Gegenwart ausschließt. ,Wiederholung‘ allerdings meint demgegenüber dezidiert den Augenblick, dessen Vorher sein Nachher und dessen Nachher sein Vorher ist, meint theologisch den einmal und immer und immer wieder idealen Gottesdienst in seiner noch nicht vollendeten Form und das eine Abendmahl Adams wie das vergangene und kommende des Vf. dieser Studie – wenn stimmt, dass „[w]eder das Selbe noch das Ähnliche [wieder]kehren[.] [V]ielmehr ist die ewige Wiederkunft das einzige Selbe, die einzige Ähnlichkeit dessen, was wiederkehrt“ [DW 165]. Deleuze-Nietzsches ,Augenblick‘ – „war schon einmal da und viele Male und wird ebenso wiederkehren, alle Kräfte genau so vertheilt, wie jetzt: und ebenso steht es mit dem Augenblick, der diesen gebar und mit dem, welcher das Kind des jetzigen ist“ – ist der Gegenentwurf zum absolutierten Jetzt normativer Gottesdienstgestalten, das nie vergeht und das Brunners ,Mitte‘ des einen Gottesdienstes im einen Abendmahl auf gefährliche Weise denkbar werden lässt. Denn nur der Augenblick, der schon immer vergangen ist und 15 Zum „Klischee“ in Relevanz für die Rede von Gott mit Bezug auf Deleuze vgl. meinen eigenen Beitrag: Ferenc Herzig, Gilles Deleuze und das Bild im Klischee. Eine homiletische Annäherung, in: Alexander Deeg (Hrsg.), Gottesprojektionen homiletisch. Bilder von Gott in Bibel, Kunst und Predigt, Leipzig 2016, 124–129.

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zugleich noch gegenwärtig, markiert erst die Möglichkeit des Werdens – oder, wenn man so will, die Denkmöglichkeit der alle Zeit kreierenden und alle Zeit kolligierenden „d}malir heoO“, in der Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit miteinander koexistieren. So wiederholte sich entsprechend nicht der eine Gottesdienst Adams in Christus, als würde Christus ihn identisch repräsentieren (das könnte wohl auch Brunner so nicht unterschreiben). Vielmehr ist die Wiederholung des einen Gottesdienstes selbst das Eine, das die Identität seiner Verschiedenheit garantiert: Die Verschiedenheit des stets einen Gottesdienstes zu allen Zeiten wäre dann gerade das identifikatorische Moment, das wesentlich erst Gottesdienst als solchen durch die Zeiten ausmacht. Gottesdienst nicht repräsentativ, sondern ausschließlich anteceptativanamnetisch in Brunners Sinne zu denken, würde seinem Anliegen entsprechend gerechter. Als einheitliche Verschiedenheit in der wiederholten Differenz Gottesdienst analog dem sie verkleinernden Wachstums- resp. sie vergrößernden Minimierungsprozess Alicens zu verstehen, würde dann bedeuten, den immer wieder gleichen und mit Adam gefeierten, vor aller Zeit intendierten Gottesdienst mit Gott zu feiern, wie ihn Christus mit den Seinen anders (nach Mk 14,12–26 oder Mt 26,17–29 oder Lk 22,14–20 oder nach Joh 6 resp. 13; nach 1Kor 11,23–25 oder gar nach Jer 31,31 resp. Ex 24,8?) feierte und die (hier nur synekdochisch erwähnte) Auenkirchgemeinde Markkleeberg-Ost ihn am kommenden Sonntag gleichermaßen feiern wird: Jenseits (besser vielleicht: diesseits!) von Überbietungsgedanken der Vergleichspunkte und im Flussstrom der wiederholt nassen Füße auf differentem Terrain; diesseits der Ewigkeit und jenseits der Gegenwart, d. h. inmitten erfüllter Gegenwart und einheitlicher Ewigkeit – oder, mit den Worten Foucaults aus dessen Deleuze-Doppelrezension: „(vielfältige) Ewigkeit der (verschobenen) Gegenwart“. Wenn Lewis Carroll mit seinen Alice-Erzählungen ein mögliches liturgisches Paradigma vordenkt im Sinne ,reiner Ereignisse‘, in denen Alice „größer wird, als sie war“ und „eben dadurch“ „auch“ „kleiner [wird], als sie jetzt ist“, gilt allein die Zeit, in der sie beides wird: die Zeit des Werdens, i. e. Ereigniszeit. Entsprechend entzieht sich jeder gegenwärtige Gottesdienst seiner Gegenwart in der Gleichzeitigkeit seines werdenden Gewordenseins, und gilt zumal liturgisch: „[V]erträgt dieses Werden weder die Trennung noch die Unterscheidung von Vorher und Nachher, von Vergangenem und Künftigen“, dann feiert niemand anderes als Brunners ,Ersterschaffener‘ Gottesdienst am kommenden Sonntag in der Auenkirchgemeinde Markkleeberg-Ost. Wenn also aus dem deleuzianischen Zeitbegriff hinsichtlich der ,äonischen‘ Struktur der Zeit die liturgische Erkenntnis gewonnen werden kann, Äon sei „die Vergangenheit-Zukunft in einer unendlichen Unterteilung des abstrakten Augenblicks, der sich unablässig in beide Richtungen zugleich zerlegt und dabei auf immer jeder Gegenwart ausweicht“ [LS 105] einerseits und gilt zudem, dass sich „jedes Ereignis“ „über den gesamten Äon“ durch „seine unbegrenzte Unterteilung in beide Richtungen zugleich erstreckt“ und „seiner

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in beiden Richtungen laufenden geraden Linie koextensiv“ [LS 89 f.] wird, dann kann für Brunner festgehalten werden, dass gerade die Linie seiner Darstellung und die Mitte ihrer Zielrichtung für das Ereignis Gottesdienst eine Denkfigur ist, die seiner Sache letztlich nicht dienlich sein kann, gerade weil sie die Gegenwart Christi und der gottesdienstfeiernden Kirche in der Konsequenz ausschließt. Dass es Gottesdienst nicht ,gibt‘ – dass er nicht ,existiert‘ – und dass es ,den‘ Gottesdienst nie geben kann, kann damit gerade ereignistheologisch näher bestimmt werden. Ich schlage mit Blick auf das Ereignis (im) Gottesdienst entsprechend vor, nicht mehr von einem „faktischen“ Gottesdienst zu sprechen, der das Missverständnis eines histodeterminierten Gewordenseins in sich trägt. Stattdessen wäre Gottesdienst als Ereignis schlicht zu verstehen als ein ,fientischer‘:16 Gottes Dienst ist kein Faktum, und wo Gottesdienst Fientum wird, wäre er Ereignis …

2.2 repetitio lusa vel lasciva oder: Karl-Heinrich Bieritz und die spielerische Wiederholung des Gottesdienstes Grundsätzlich anders formatiert ist der Ansatz von Karl-Heinrich Bieritz (1936–2011), und er ist es zumal in zeittheoretischer Perspektive. Auf dem Hintergrund des vorangegangenen A-Teils dieser Studie lässt er sich noch deutlich einer Chronos-Perspektive zuordnen, wenn gilt: „Eine Einschachtelung, ein Einrollen relativer Gegenwarten […]. Das ist Chronos“ [LS 203] einerseits und zudem: „Chronos ist die einzig existierende Gegenwart, der aus Vergangenheit und Zukunft ihre j beiden derart ausgerichteten Dimensionen macht, daß man immer von der Vergangenheit zur Zukunft übergeht, unter der Maßgabe jedoch, daß die Gegenwarten in den Einzelwelten oder den Partialsystemen aufeinander folgen“ [LS 104 f.].

Dass Bieritz’ Ansatz von profundem Wissen um das historische Wachstum der christlichen Gottesdienstgestalt geprägt ist, zeigt dabei zugleich die Problematik eines Singulars auf, der sich im berechtigten Widerstand gegenüber willkürlichen semantischen Bedeutungsverschiebungen letztlich doch an einer historischen Größe einer damaligen „Gegenwart“ in „Einzelwelten“ oder „Partialsystemen“ orientiert. 16 Diese Unterscheidung greift eigentlich in der Verbal-Semantik der Linguistik, etwa in der Einteilung in Zustandsverben und fientische Verben im Akkadischen; vgl. Josef Tropper, Akkadisch für Hebraisten und Semitisten, Kamen 2011, 58. Für diesen Hinweis dankbar bin ich Anne Herzig.

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2.2.1 Das zyklische Gottesdienstereignis im kulturwissenschaftlichen Spiegel Wo Brunner eine dogmatisch formatierte Liturgik schreibt, orientiert sich Bieritz vor allem in kulturwissenschaftlich-ritologischer Perspektive. Er bestimmt den Begriff und die Konzeption von ,Zeit‘ liturgiewissenschaftlich (resp. und insbes. kirchenjahrestheoretisch) in enger Verzahnung mit der Semiotik und den Ritualtheorien des 20. Jahrhunderts. Zeit, so ist sich Bieritz in seinem klassischen Lehrbuch für „Liturgik“ explizit mit Immanuel Kant (vgl. oben Kapitel 2.3.2.3) einig, ist „als ,Anschauungsform‘ aller Wahrnehmung – mehr noch: allem Leben – eingestiftet und vorgegeben“17 und damit, weil determiniert von „kosmische[n], vegetative[n] und biologische[n] Rhythmen“18, als Primär- oder Grunderfahrung des Menscheins in der Welt zunächst unterschieden von kulturellen Setzungen von Zeit(en), sekundär allerdings mit diesen verwandt und von ihnen abhängig. Das zeigt sich insbesondere an der Entwicklung der Fixpunkte des Kirchenjahres im Verhältnis zum Kalenderjahr, gerade wo dieses „im Schoße des christlichen Jahres“ heranwachse und es „sozusagen von innen heraus“ ,verwandle‘19, immer in Interdependenz zur jeweiligen Nährkultur, sei es anfänglich der jüdischen Festkultur (Ostern als das über Jahrhunderte einzige christliche Fest) oder später der römischen und stärker politischen Agenda (Weihnachten!), seien es gegenwärtig auch an kommerziellen Interessen ausgerichtete und verstärkt ,weltliche‘ Tendenzen. Wichtig ist, dass für Bieritz das Kirchenjahr keinen zwingend normativen Charakter hat. Es ist „gewiss kein Gegenstand göttlicher Offenbarung“, sondern vor allem als „Versuch, dem Evangelium eine kulturelle Gestalt zu geben“, zu verstehen, mithin als „eine der Weisen“, „in denen der Glaube auf das Gotteswort antwortet.“20 Freilich kann aber auch Bieritz sagen, dass im Rückblick auf Ostern dort für die (frühe?) Christenheit das Entscheidende der Zeitenwende entdeckt wird, nicht weniger als „das heilsgeschichtliche Ereignis [sic!], in dem sich die Wende der Äonen [sic!] vollzog“21, worauf das Kirchenjahr als Reflexionsform der gottesdienstlichen Antwort auf das Wort Gottes nun eine spezifische Normatisierung erfährt: „Hatte sich die Zeit in so grundlegender Weise gewendet und gewandelt, 17 Karl-Heinrich Bieritz, Liturgik, Berlin/New York 2004, 58. Wortgleich findet sich dieses Zitat genau wie viele andere mit explizitem Zeitbezug auch in Bieritz’ Zeitbüchlein, das sich zur grundlegenden Lektüre für Bieritz‘ Zeitverständnis schon allein aufgrund der Leichthändigkeit, mit der Bieritz hier die Feder führte, empfiehlt; vgl. Karl-Heinrich Bieritz, Von Zeit zu Zeit. Überlegungen zur christlichen Zeitrechnung und zum Wechsel der Jahre, Hannover 2007, hier: 13. 18 Ders., Liturgik, 58. 19 Ders., Gedächtnis des Glaubens. Das Kirchenjahr: Ursprung und Gegenwart, in: Musik und Kirche 77 (2007) 4, 254–262, 255. 20 AaO., 256. 21 AaO., 257.

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konnte man nicht so einfach zur Tagesordnung übergehen.“22 Damit erfüllt das Kirchenjahr eine vor allem für die kollektive Psyche hilfreiche Funktion, indem seine Institution und seine ,gemessene und bedachte Begehung‘ verhindert, „dass das Glaubensgedächtnis – bildlich gesprochen – zerfasert, sich in Erinnerungsfetzen verliert, die in ihrer Beliebigkeit keinen kohärenten Zusammenhang mehr bilden.“23 Gerade um eine Kohärenz jenseits der semantischen, syntaktischen, pragmatischen oder strukturellen Ebene allerdings ist es Bieritz nach eigenem Bekunden zu tun, damit keine „Gedächtnispolitik“ Einzug hält in grundlegende Funktion der Erinnerungsstiftung des Kirchenjahres, die auch hier ihren Angelpunkt im historischen Geschehen des Frühjahrs 30/33 hat. Denn das Zentrum des Kirchenjahres besteht auch für Bieritz gerade in (der rituellen Begehung der) Ostern(acht) und ist bedroht von „epochalen Paradigmenwechsel[n]“, wie Bieritz sie beispielhaft in Matthias Morgenroths Versuch einer Institutionalisierung eines „WeihnachtsChristentums“ ausmacht als Ausdruck einer Tendenz, unerwünschte oder unverständliche, fremde Inhalte zugunsten von „genehmen“ zu ersetzen.24 Bieritz geht damit und darüber hinaus in seinem auf die Breite gegenwärtiger Referenzwissenschaften der Theologie bedachten liturgiewissenschaftlichen Ansätzen bei genuinem Bezug auf Gottesdienst neben Standardeinsichten der Ethnologie (v. a. Victor Turner und Arnold van Gennep) immer wieder von Jan Assmanns (bzw. von Maurice Halbwachs’) den Alltag ,transzendierenden‘ Begriff von kulturellem resp. kollektivem Gedächtnis aus25 – und damit auch hinsichtlich des hier schon diskutierten Wiederholungs-Begriffs eine interessante Verbindung ein: Der Begriff – oder wenigstens das Wort – ,Wiederholung‘ ist im genuin liturgiewissenschaftlichen Sinne mittlerweile auch durch Bieritz‘ Arbeiten grundlegend geworden für die liturgiewissenschaftlichen Lehrbuchwissenschaften und im weitesten Sinne tragend für die liturgieritologische Grundeinsicht jeder Fest-Zeit als sowohl zyklisch wie momentan bestimmter, wie exemplarisch deutlich wird an einem Zitat aus Jan Assmanns „Das kulturelle Gedächtnis“, das grundlegend für Bieritz’ Überlegungen ist und weswegen sich an dieser Stelle ein Umweg über Assmann anbietet: „[D]er Ritus erschöpft sich nicht in der Repetition, der bloßen Wiederholung eines genau festgelegten Ablaufs. Der Ritus ist mehr als eine reine Ornamentalisierung der Zeit, die durch die periodische Wiederkehr identischer Handlungsabläufe ein Muster

22 AaO., 258. 23 AaO., 260. 24 Vgl. aaO., 260 f. mit Bezug auf Matthias Morgenroth, Weihnachts-Christentum. Moderner Religiosität auf der Spur, Gütersloh 2002. 25 Vgl. grundlegend Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 72013.

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erhält wie eine Fläche durch die Wiederkehr immer derselben Figur. Der Ritus vergegenwärtigt auch einen Sinn [sic!].“26

Assmanns Begriff des „kulturellen Gedächtnis“ ist im Wesentlichen durch zwei Pole charakterisiert: Einerseits die Unterscheidung von ,Routine‘ und ,Ritual‘, andererseits die Unterscheidung zwischen einem individuellen, einem zeitlich (auf etwa drei Generationen) bemessenen (kollektiven) und einem generationell überzeitlichen (kulturellen) Gedächtnis – in jeweils aufsteigender Ordnung, wobei das kollektive einen Teilbestand des kulturellen Gedächtnisses ausmacht.27 Mit Blick darauf besteht für Bieritz die heortologische Pointe im inszenierten ,Ritual‘ im Gegensatz zur Alltagsroutine darin, dass die anthropologischen Grunderfahrungen der zyklischen Selbstrepräsentationen der Naturabläufe gesellschaftshistorisch zunächst als „bedeutungsvoll wahrgenommen, festgehalten und überliefert“ werden, sie sodann kultisch dergestalt qualifiziert werden, dass sie theistisch attribuiert werden („in Gestalt von Natur-, Himmels-, Erd-, Meeres- und Jahreszeitgöttern“28) und sie schließlich auf einer semantisch dritten Ebene koexistent mit historischen Begebenheiten gedacht werden können. Das so verstandene (religiöse) Fest bezieht sich also stets auf die Bedingungen der jeweiligen Kulturen, die ihre genetisch solcherart bestimmten Feste feiern. Ihre „Kodes“ sind dabei so volatil wie ihre Bedeutung, so dass gerade sie durch die Zeiten nicht selbstverständlich ist. Sie „muss je und je erneuert werden; nur so kann man sich der Geltung wie der Gültigkeit des hier bewahrten Wissens vergewissern.“29 Wenn nun Jan Assmann – und in seiner Folge Karl-Heinrich Bieritz – den Begriff der ,Wiederholung‘ und seine drei Gedächtnismodi verwendet, bezieht er sich entsprechend auf die Unterscheidung zwischen „Routinen“ und „Ritualen“, insbesondere auf die zwischen halbbewussten Alltagshandlungen und besonderen Bedeutungsinszenierungen: „Routinen sind Handlungs-Schematisierungen zum Zwecke der Wiederholbarkeit und Entlastung. Sie orientieren sich am Handlungsziel und haben keinen anderen Sinn als dessen Erfüllung. Da Routinisierung den Handelnden davon entlastet, über andere Wege zur Erreichung dieses Ziels nachzudenken, bewirkt sie eine Sinnentleerung des Handelns. Riten dagegen sind Handlungs-Schematisierungen im Hinblick auf einen Sinn, den sie im Vollzug selbst zur Darstellung bringen. Sie verweisen gerade durch die Strenge, die ,Deckungsgleichheit‘ der Wiederholung auf die Bedeutung der Handlung. Die strikte Festlegung des Handlungsablaufs ermöglicht eine Art von Wiederkehr des Gleichen, die in der unter dem Zeichen der Kontingenz stehenden AlltagsRoutine weder möglich noch angestrebt ist. Die Riten beruhen auf einer Art von Wieder-jholbarkeit, die nicht als Entlastung, sondern als Bedeutung zu 26 27 28 29

AaO., 90 (Hervorhebung FH). Das individuelle Gedächtnis fällt aus diesem System heraus – dazu weiter unten. Bieritz, Liturgik, 61. AaO., 62.

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verstehen ist: Sie bringt die zyklische Zeit zur Erscheinung. Wenn ich die Routine morgendlicher Naßrasur verfehle, laufe ich Gefahr, mich zu schneiden; wenn aber der Priester einen Ritus verändert, läuft er Gefahr, den sakramentalen Sinn zu verfehlen.“30

,Rituale‘ als gestaltgeronnene ,Art von Wiederholbarkeit‘, die zumal ,sakramentalen Sinn‘ (sic!) stiften, partizipieren dabei am ,kulturellen‘ als dem überund hyperkollektiven Gedächtnis, vermittelt durch welches sich „Ähnlichkeiten und Kontinuitäten“ in Ritualform überliefert manifestieren. Assmanns und Bieritz’ Pointe besteht dabei vordergründig darin, dass gerade der zyklische Charakter dieser sog. ,Wiederholung‘ sich einer sich stetig ausdifferenzierenden linear-historischen Entwicklung widersetzt und dieser widersteht.31 Allerdings gehen Halbwachs und Assmann gleichwohl unter der Hand linear-historisch in der Bestimmung dieser archetypischen Spielart von kollektivem Erinnern vor, wenn sie das grundsätzliche ,kulturelle‘ vom Spezialfall des ,kommunikativen‘ Gedächtnis mit einer auf die „rezente Vergangenheit“32 bezogenen Generationen-Erinnerung abgrenzen und selbst dieser noch einen grundsätzlicheren Charakter bescheinigen als dem Individualgedächntis, das sie als undenkbar ausschließen, weil sich Erinnerung/Gedächtnis stets nur sozial konstituiere.33 Beide Formen des Kollektivgedächtnis zeichnen sich durch ihren Raum- und Zeitbezug, durch ihren Gruppenbezug und durch ihre grundsätzliche Rekonstruktivität aus,34 d. h. sie sind streng auf Vorangegangenes bezogen, allerdings in einer symbolischen Dichte vermittelt, die es verunmöglicht, die ,reine‘ Vergangenheit ansich zu erinnern und zu vergegenwärtigen. Das, was einst geschah, vermittelt sich vielmehr über tradierte Erinnerungen in schriftlicher und mündlicher Gestalt über die Grenzen der persönlichen Bekanntschaft oder Jahrhunderte hinweg.35 Für Bieritz zumal im Unterschied zu Brunner entscheidend ist nun, dass sich diese Rekonstruktivität nicht allein (wenn auch bei ihm noch dominant) als anamnesis vollzieht, sondern zugleich deutliche und notwendig mimeti30 Jan Assmann, Der zweidimensionale Mensch. Das Fest als Medium des kollektiven Gedächtnisses, in: Jan Assmann/Theo Sundermeier (Hrsg.), Das Fest und das Heilige. Kontrapunkte des Alltags, Gütersloh 1991, 13–30, 16 f. 31 „Die Geschichte verfährt nach Halbwachs genau umgekehrt wie das kollektive Gedächtnis. Schaut dieses nur auf die Ähnlichkeiten und Kontinuitäten, so nimmt jene nur Differenzen und Diskontinuitäten wahr“; ders., Das kulturelle Gedächtnis, 42. 32 AaO., 50. 33 „Die zentrale These, die Halbwachs in all seinen Werken durchgehalten hat, ist die von der sozialen Bedingtheit des Gedächtnisses. Er sieht vollkommen ab von der körperlichen, d. h. neuronalen und hirnphysiologischen Basis des Gedächtnisses und stellt statt dessen die sozialen Bezugsrahmen heraus, ohne die kein individuelles Gedächtnis sich konstituieren und erhalten könnte. […] Ein in völliger Einsamkeit aufwachsendes Individuum […] hätte kein Gedächtnis. Gedächtnis wächst dem Menschen erst im Prozeß seiner Sozialisation zu. Es ist zwar j immer nur der Einzelne, der Gedächtnis ,hat‘, aber dieses Gedächtnis ist kollektiv geprägt“; aaO., 35 f. 34 Vgl. aaO., 38–42. 35 Vgl. aaO., 52.

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sche Züge trägt. Der Begriff der mimesis wird seit Jahrtausenden aus unterschiedlichen Perspektiven gebraucht und rückt seit einigen Jahren verstärkt in den Fokus der Philosophie und ihrer (nichttheologischen) Nachbardisziplinen. Kulturanthropologisch kann mimesis bestimmt werden als ein „außerordentlich wichtige[r] Aspekt der gesellschaftlichen Existenz von Menschen […], der sich im Gestalterischen zeigt, im Formenden und selbständigen Herstellen, bei dem auf andere Menschen Bezug genommen wird. Im mimetischen Handeln erzeugt ein Individuum seine eigene Welt, bezieht sich dabei aber auf eine andere Welt, die es – in der Wirklichkeit oder in der Vorstellung – bereits gibt.“36 Bieritz nun überwindet einen Hiatus, indem er diese Schichtlücke zur kultur- und theaterwissenschaftlichen Erforschung dieses Begriffs in fast allen seinen Schriften liturgietheologisch füllt. Dabei ist für ihn vor allem die Frage bedeutsam, wie Christuspräsenz im Wechselspiel von dramatisierenden und rationalisierenden Elementen gedacht werden kann und wurde.37 Ihm ist daran gelegen, den Begriff der Mimesis von seiner Konnotation der kopierenden oder imitierenden „Nachahmung“, d. h. der Repräsentation oder ,falschen‘ Wiederholung, zu befreien und an deren Stelle den schöpferischen Prozess der „Vergegenwärtigung durch Nachahmung“38 als Mimesis zu betonen.39 Indem Bieritz von „Vergegenwärtigung im Modus der Mimesis“ spricht – „in der Weise nach- und neugestaltender Performance der Heilsgeschichten und der Heilsgeschichte, ein Vorgang, in dem sich Heilsvergangenheit und Heilsgegenwart40 im mimetischen Handeln […] verbinden“41 – fügt er dem Anamnesiskonzept Brunners ein Moment hinzu, das er als wesentliches Korrektiv verstanden wissen will, und mit diesem Motiv einen

36 Gunter Gebauer/Christoph Wulf, Spiel – Ritual – Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek bei Hamburg 1998, 7. 37 Entsprechend grundlegend sind für seine Betrachtungen die (ökumenischen) Untersuchungen zur Historizität und Ludizität von Liturgie. Verwiesen sei hier neben den grundlegenden Ritualtheorien seit Arnold van Gennep und Victor Turner u. a., die Bieritz selbstverständlich rezipiert, nur auf eine Auswahl: einerseits auf die sehr grundsätzlich angelegte Arbeit von Thomas Klie, Zeichen und Spiel. Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktion der Pastoraltheologie, Gütersloh 2003. Vgl. auch und v. a. die Dissertation von Olaf Richter, Anamnesis – Mimesis – Epiklesis. Der Gottesdienst als Ort religiöser Bildung, Leipzig 22006, die m. E. die nach wie vor gründlichste Verhältnisbestimmung der Begriffe „Anamnesis“ (145–215) und „Mimesis“ (216–256) bietet und auch die historischen Nuancenverschiebungen der Begriffe seit Platon berücksichtigt. 38 Karl-Heinrich Bieritz, Verschränkung der Zeiten. Der Gottesdienst als Ort kontrapräsentischer Erinnerung (2006), 66–84, 69. 39 Hier bietet sich Olaf Richters Begriff der „Mitahmung“ als gelungene Wortfindung sehr an, den auch Bieritz bevorzugt. Vgl. Richter, Anamnesis – Mimesis – Epiklesis, 216 f. et passim. 40 … und auch -zukunft. 41 Bieritz, Verschränkung der Zeiten. Der Gottesdienst als Ort kontrapräsentischer Erinnerung, 71. Dass diese Betonung des Mimetischen der Liturgie immer auch sprachlicher Struktur ist, betont Bieritz eigens aaO., 72 f.

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Akteur: Gott. Neben die Menschen als Akteure einer ,spielerisch‘ in actu vergegenwärtigten Welt tritt Gott als „[p]rimäres Subjekt wie primärer Adressat der Anamnesis“; und wiederum deren „Gegenstand ist Gottes rettendes Handeln in Geschichte, Gegen-jwart und Zukunft. In seinem Gedenken, auf das sich das Gedenken der gottesdienstlich Handelnden richtet und mit dem es sich verbindet, ,verschränken‘ sich die Zeiten: Geschichte vermag die Gegenwart gleichsam zu überholen, erweist sich – obwohl einst geschehen – als Zukunft, die einst noch geschehen wird. Und die große Erzählung, die im Zentrum glaubenden Gedenkens steht, handelt nicht nur von dem, was war, sondern zugleich von Dingen, die noch sein werden.“42

Indem also auch Bieritz die drei Zeit-Modi im idealen Gottesdienst zusammendenkt,43 verschiebt er (mit Olaf Richter44) den Fokus von einer rein anamnetischen zu einer auch mimetischen Handlungsweise aller Beteiligten in einem Gottesdienst, indem er Mimesis als den modus der Anamnesis versteht: Im mimetischen Handeln eignet sich die Gemeinde die Erinnerung der Anamnesis an und ereignet sich die Vergangenheit der ihr zukünftigen Gegenwart. Bieritz sieht zudem, dass jede mimetische Aneignung des anamnetisch Beschworenen nie ohne ihre jeweils eigenen ,Bilderstürme‘ vonstatten geht noch ging: „Eine bestimmte mimetische Gestalt des Heilsgedächtnisses musste zerschlagen werden, um der großen Erzählung von der Liebe Gottes neuen Raum in der Gegenwart zu schaffen. Und es scheint fast so, als müssten sich – wie auch immer – solche Bilderstürme von Zeit zu Zeit wiederholen, damit das Heilsgedächtnis nicht in seinen mimetischen Realisierungen erstickt.“45 Um dem entgegenzuwirken, brauche es (erneut mit Jan Assmann46) notwendig einer ,von Zeit zu Zeit‘ ,rekonstruierten‘ Vergangenheit, damit die Form nicht zur bloßen Hülle verkomme und der ,Kern‘ erhalten bleibe – so schreibt Bieritz noch im Jahr 2006. Drei Jahre später, in seinem Aufsatz „Zwischen Raum- und Zeitgenossenschaft. Vergegenwärtigung des Heils in Liturgie und geistlichem Spiel“, erkennt er nach vertieften theaterwissenschaftlichen (vor allem Erika Fischer-Lichtes ,Ästhetik‘47) und kulturwissenschaftlichen Studien (hier vor allem Hans Ulrich Gumbrechts ,Präsenz-Her-

42 AaO., 74. 43 Und mit und vor ihm auch schon andere; vgl. nur Oswald Bayer, Tempus creaturi verbi, in: ders. (Hrsg.), Schöpfung als Anrede. Zu einer Hermeneutik der Schöpfung, Tübingen 1990, 128–139, oder auch die Dissertation von Martin Stuflesser, Memoria passionis. Das Verhältnis von lex orandi und lex credendi am Beispiel des Opferbegriffs in den eucharistischen Hochgebeten nach dem II. Vatikanischen Konzil, Altenberge 22000. 44 Vgl. Richter, Anamnesis – Mimesis – Epiklesis, 216 f.253. 45 Bieritz, Verschränkung der Zeiten. Der Gottesdienst als Ort kontrapräsentischer Erinnerung, 80. 46 Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 32. 47 Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen; Bieritz zitiert nach der ersten Auflage 2004.

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meneutik‘48) die Grenzen einer funktionalen Interpretation performativer Vorgänge und Prozesse, nähert sich deutlicher einem ästhetisch formatierten Ereignis-Begriff, und kann dann schreiben.: „[D]ie Wirkung, die von einem Ereignis ausgeht, ist nicht Ergebnis irgend einer Interpretation.“49 Interessant ist nun, dass bei der Betrachtung des Gottesdienstes als Ereignis für Bieritz zunehmend die reflexionale Leistung des hermeneutisch agierenden Individuums schwindet zugunsten der reinen Performanz des Geschehens, je mehr sich sein Fokus auf die Kategorie des Spiels zentriert. Dass sich und wie sich mimetische – d. h. theatralische, nach- und mitahmende und imitierende – Elemente in diverse Gestalten schon der Urformen christlicher Liturgie ein- und stetig fortgeschrieben haben, versteht Bieritz anhand biblischer Belege zur Abendmahls- und zur Taufmimesis nach 1Kor 10,16b.17 und Eph 5,750 nachzuweisen, aber vor allem durch einen kursorischen Gang durch die Geschichte, über Berichte der Pilgerin Egeria und die Riten der Fußwaschung, der Kreuzverehrung oder der „,Entblößung‘ der Altäre (denudatio altarium)“51 aufzuzeigen. Die Pointe besteht dabei darin, dass die entsprechende „Tendenz“ zu mimetisch-szenischer Ausgestaltung „in Gottesdienst und geistlichem Spiel […] auch vor dem Kerngeschehen christlicher Liturgie, der Eucharistie, nicht halt“ mache, wenn sich „etwa bei den Wandlungsworten eine fortschreitende Ausgestaltung, ja Ausschmückung und Dramatisierung des Textes beobachten“52 lässt.53 Trotz seiner Beobachtung, dass zeitgleich zur Entwicklung ostkirchlicher Gottesdiensttraditionen mindestens die römisch geprägte Spätantike bis zum Frühmittelalter eine gewisse „Widerständigkeit“ gegen das mimetische Imitieren (bis in die Gegenwart) aufrechterhielten, lassen sich Bieritz’ Darstellungen auf der Grundlage von Fischer-Lichte und Gumbrecht lesen als ein liturgiewissenschaftliches Plädoyer für die Wahrnehmung eigenständiger Präsenzeffekte und wider die hermeneutische Produktionsleistung von Ereignissen. Indem Bieritz aufzeigt, dass eine gottesdienstliche Entgegensetzung der Handlungsweisen von Anamnesis und Mimesis (und damit auch der cartesischen von res cogitans versus res extensa bzw. der Gumbrecht’schen von Sinn und Präsenz) sowohl theologisch als auch schon historisch unbegründet 48 Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt am Main 2010; Bieritz zitiert nach der ersten Auflage im gleichen Jahr 2004. 49 Karl-Heinrich Bieritz, Zwischen Raum- und Zeitgenossenschaft: Vergegenwärtigung des Heils in Liturgie und geistlichem Spiel, 39. 50 Vgl. aaO., 49. 51 AaO., 50. 52 AaO., 51. 53 Die mimetisch-theatralischen Aspekte gottesdienstlichen Geschehens zu betonen ist seit dem sog. performative turn überdies eine jüngere Tendenz (evangelischer) Liturgiewissenschaften, wie etwa die in mehrfachen Auflagen und Nachdrucken erschienen Arbeiten von David Pl ss, Gottesdienst als Textinszenierung. Perspektiven einer performativen Ästhetik des Gottesdienstes, Zürich 2007 und Ursula Roth, Die Theatralität des Gottesdienstes, Stuttgart 2016, zeigen.

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ist, gewinnt die spielerische Dimension des ,Ereignis Gottesdienst‘ einen stärkeren liturgischen Stellenwert, indem die Ästhetik des Gottesdienstes zugleich „Verstörungen, Bilderstürme, Antistruktur-Erfahrungen“ aus sich heraussetzt und eine liturgische Eigenzwecklichkeit etabliert, weil gerade diese „um ihrer selbst willen inszeniert, erlitten und verarbeitet werden. Mit keinem anderen Ziel als dem, dass ich erfahre – und so schnell nicht wieder vergesse – was das mit mir macht. Und die sich vielleicht zu der Erkenntnis verdichten, dass nichts so bleibt wie es ist. Und die zugleich […] die Möglichkeit neuen, anderen Lebens, neuer, anderer Lebensverhältnisse, Lebensformen, Lebenswelten erinnernd gegenwärtig halten.“54 Nun ist die Erkenntnis, dass das anamnetische Gedächtnis immer auch mimetischer, nach- und mitahmender, inszenierender Vollzüge bedarf, einerseits eine Binse, denkt man an die nichthermeneutischen Vollzüge aller im Gottesdienst Beteiligten: Singen und Beten, Sitzen und Stehen, Gehen, Essen und Trinken und dergleichen mehr sind Konstitutiva eines jeden Gottesdienstes. Entscheidend für diese Studie wie auch für Bieritz ist allerdings die schon angedeutete Zweckungebunden- und losgelöstheit dieser Vollzüge, die sie in ihrer Gesamtheit zu einem ,Ereignis-Spiel Gottesdienst‘ werden lassen. Schon 1996 hält Bieritz für das „Evangelische Kirchenlexikon“ fest: „Evident ist der Zusammenhang von S[piel] und Kult, Ritual [… und] Liturgie“55. Er widmet diesem Aspekt theologischen Spiels in seinem Lexikonartikel den meisten Raum und bezieht sich vor allem auf die fundamentale Studie von Johan Huizinga (1872–1945) aus dem Jahr 1938,56 den er zitiert mit den Worten: „Im kultischen S[piel], so J. Huizinga, verwirklicht die Menschheit ,die dargestellten Ereignisse [sic!] von neuem und hilft [so] die Weltordnung instand halten‘“, wobei für Bieritz entscheidend ist, dass im Kult Wirklichkeit „keineswegs nur dargestellt und nachgespielt, sondern darin und dadurch grundlegend gehalten und erneuert“57 wird. Unter spieltheoretischer Hinsicht beruft sich Bieritz zumal in liturgicis zurecht gerade auf Huizingas nach wie vor lesenswerte (wenn auch in manchem überholte) Analyse, zumal wenn dieser die Hauptmerkmale des Spiels definiert: Spiel in seiner ,Eigenzeitlichkeit‘58 ist ihm zufolge „vor allem ein freies Handeln“; „nicht das ,gewöhnliche oder das ,eigentliche‘ Leben“; es „steht außerhalb des Prozesses der unmittelbaren Befriedigung von Notwendigkeiten und Begierden, ja es unterbricht diesen Prozess“, und „die Ziele, denen es dient, liegen selber außerhalb des Bereichs des direkt materiellen 54 Bieritz, Zwischen Raum- und Zeitgenossenschaft: Vergegenwärtigung des Heils in Liturgie und geistlichem Spiel, 66. 55 Karl-Heinrich Bieritz, Art. Spiel, in: Erwin Fahlbusch u. a. (Hrsg.), Evangelisches Kirchenlexikon. Internationale theologische Enzyklopädie, Göttingen 1996, 390–393, 392. 56 Vgl. Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek bei Hamburg 242015, 16. 57 Bieritz, Art. Spiel, 392. 58 Vgl. Huizinga, Homo Ludens, 18 f.

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Interesses oder der individuellen Befriedigung von Lebensnotwendigkeiten“59; kurz: Es ist, innerhalb eines festgeschriebenen Regelwerkes, sich selbst Zweck.60 Bieritz’ Anliegen der Betonung auch mimetischer Aspekte des Gottesdienstes ließe sich auf dem Hintergrund des Geschriebenen vielleicht so paraphrasieren: Gottesdienst wird um Gottes und um seiner ,selbst willen inszeniert, erlitten und verarbeitet‘ – mit ,keinem anderen Ziel als‘ der Erfahrung der Transformation des gewohnten und gewöhnliche Lebens in ein ,neues, anderes Leben‘, in ,neue, andere Lebensverhältnisse, Lebensformen, Lebenswelten‘, die es vielleicht auch mehr als nur „erinnernd gegenwärtig [zu] halten“ gilt. 2.2.2 Spielregeln brechen oder: Gottesdienst und Imitat Freilich kann, wo schon Brunners, da auch Bieritz’ Liturgik durch ein Ereigniskonzept mit Gilles Deleuze ergänzt werden. Dass auch Bieritz’ normatisierende Tendenzen der Verankerung des Kirchenjahres im Ostergeschehen mit Blick auf die Bedeutung bzw. den Sinn von Gottesdienst arbiträr (und diese Arbitrarität auch von ihm selbst bemerkt worden) sind, soll mit Blick auf Brunner und seiner Verortung des einen und wesentlichen Ereignisses in der Menschwerdung hier nun nur noch angedeutet werden dürfen, träfe sich doch hier die gleiche Kritik und würde nur dadurch ergänzt, dass offensichtlich sogar in der Rekonstruktion des Lebens Jesu als Versuch einer Identifikation des ,einen‘ Ereignisses und innerhalb dieses Lebens den Angelpunkt für eine Liturgik zu finden schon im Diskurs der liturgischen Lehrbuchwissenschaften über den Zeitraum von 50 Jahren wenigstens das Spektrum von Geburt bis Tod und Auferstehung mit jeweils beanspruchter Legitimität abgebildet ist.61 Auch der bei Bieritz unermüdlich begegnende Hinweis auf die „große Erzählung“ des Christentums irritiert in seiner durchgängig und nahezu ungebrochenen Verwendung in einer anhaltenden geisteswissenschaftlichen Epoche, die seit der Begründung bzw. Etablierung wenigstens des Begriffs der ,Postmoderne‘ wenigstens die Fraglosigkeit monozentrischer Narrative selbst infrage stellt. Verwunderlicher ist ein anderer Umstand. Bieritz legt seiner heortologischen Grundlagenbetrachtung ein Zeitverständnis zugrunde, das wesentlich mythischen Ursprungs ist und grundsätzliche Geltung habe – was einzig sachgemäß ist, wenn man der Kantischen Verlagerung der Subjektivität in die Anschauung keinen absoluten Stellenwert zumessen62 und einer gewissen 59 AaO., 16.17.18, im Original jeweils italisiert. 60 Oder auch, mit Schleiermacher: ,darstellendes‘ statt ,wirksames‘ Handeln. 61 Allenfalls ließe sich von hier aus fragen, ob Matthias Morgenroths Versuch in Brunnerscher Perspektive nicht doch wenigstens einen weiteren Pol im Spektrum der unendlichen Möglichkeiten der einen Ereignisverortung bildet; vgl. Matthias Morgenroth, WeihnachtsChristentum, und Bieritz‘ Kritik. 62 Auch Bieritz erkennt zu, dass die von ihm beobachtete ,Tatsache‘ der Erfahrung von Zeit als

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Objektivität bzw. Hyperrelativität der Zeit Rechnung tragen will. Innerhalb seiner vielfältigen Rekurse auf transkulturelle Mythologeme interpretiert Bieritz schon in seinem Liturgik-Lehrbuch mit dem Kieler Philosophen Kurt Hübner (1921–2013) die mythische Grundstruktur eines gottesdienstlichheortologischen Geschehens so, dass „[g]rundlegend […] für das Zeitverständnis, das hier begegnet und das sich vom neuzeitlichen Verhältnis zur Zeit nicht unerheblich unterscheidet, […] der Begriff der Arch (!qw^,)“63 sei. Bieritz zitiert Hübner: „Eine !qw^ ist eine Ursprungsgeschichte. Irgendeinmal hat ein numinoses Wesen zum ersten Mal (t± pq_ta) eine bestimmte Handlung vollzogen, und seitdem wiederholt sich dieses Ereignis [sic!] identisch immer wieder.“64 Problematisch ist daran zweierlei: Zum einen und schon oft bemerkt, meint ,Wiederholung‘ jedenfalls mit Deleuze gerade nicht das Identische, sondern das Differente. Zum Anderen bedeutet das – weder im Sinne Hübners noch im Sinne etwa der vorplatonischen Mythologie als Hauptreferenzpunkt westlicher, nach-platonischer Theo-Philosophie – aber auch gerade nicht, was Bieritz konkludiert: „Nur dort, wo die jeweilige Ursprungshandlung in gemessenen Abständen begangen wird, bleibt sie in Kraft.“65 Vielmehr droht Bieritz die Aktionspotenziale aus dem Bereich des Theologisch-Numinosen in die subjektiv-anthropologische Verantwortungssphäre zu verschieben.66 Ursprünglich galt und gilt hingegen im ,Denk- und Erfahrungssystem‘ des Mythos, mithin des rituell sich wiederholenden Ereignisses, was und wie Hübner selbst seine Erkenntnis des Mythischen weiterführt: „[Ein Gott] selbst ist […] in dieser Wiederholung anwesend, leitet und führt dabei den Menschen, der ihn deswegen vorher im Gebet anruft.“67 Dass gerade im Begriff des „Identischen“ das Bieritz’sche Mißverständnis liegen dürfte, kann dabei mit Deleuze nicht oft genug betont werden, und weil ,Wiederholung‘ gerade nicht das Identische meint, braucht es ein differentes externum dieser ,Wiederholung‘. Dabei erinnert seine Beobachtung, in „früheren Kulturen“ sei „Zeit noch nicht in dem uns vertrauten Sinne als ,Dauer‘, ,Verlauf‘, ,Prozess‘ wahrgenommen, sondern als Abstand zwischen zwei augenfälligen, für das Gemeinschaftsleben bedeutsamen Veränderungen registriert“68 worden, zu-

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einer (vermeintlichen) Abfolge von ,Nacheinander‘ und ,Nebeneinander‘ bestimmter Zeitpunkte „keineswegs“ bedeute, „dass sich Zeit wie Raum auf reine Bewusstseinsphänomene reduzieren ließen“; Bieritz, Von Zeit zu Zeit, 14 (Hervorhebungen im Original). Ders., Liturgik, 62. Kurt H bner, Die Wahrheit des Mythos, Freiburg 2011, 135, zit. bei Bieritz, Liturgik, 62. H bner, Die Wahrheit des Mythos, 136, von Bieritz nicht zitiert. Stimmt meine Beobachtung, träfe er damit allerdings, und dies sei nur am Rande bemerkt, genau den Nerv, den Rudolf Otto 1917 freigelegt hat; vgl. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 2014, etwa Kapitel 3: „,Das Kreaturgefühl‘. Als Reflex des Numinosen Objekt-Gefühls im Selbstgefühl (Momente des Numinosen I)“ et passim. H bner, Die Wahrheit des Mythos, 136. Bieritz, Liturgik, 63.

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nächst auffällig an die oben (vgl. Kapitel 2.3.2.2) erwähnte Unterscheidung Henri Bergsons zwischen ,Zeit‘ und ,Dauer‘. So lässt sich die Zeit des Gottesdienstes durchaus verstehen als eine Dauer im präzisen Sinn, die zwar ein ,Nacheinander‘ von Abläufen darstellt (kosmisch analog zu den Abläufen von Tag und Nacht; Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter). Aber dieses Nacheinander gestaltet sich dann gerade nicht, wie Bieritz betont, „als die Unterscheidung eines nebeneinandergereihten ,Vorher‘ und ,Nachher‘“ [HB 28]. Die Zeit des Gottesdienstes im Sinne der Bergson’schen Dauer ist, so verstanden, auch keine Abfolge von Augenblicken, wenn anders das schon Geschehene und das noch Künftige in irgendeiner Weise aufeinander in Bezug und Abhängigkeit gedacht werden sollen. Mit Blick auf den Gottesdienst gibt es nicht den einen „Augenblick, der einen Augenblick ersetzt – dann gäbe es immer nur Gegenwart, keine Erstreckung des Vergangenen ins Jetzige, keine Evolution, keine konkrete Dauer. Die Dauer ist kontinuierliches Fortschreiten der Vergangenheit, die an der Zukunft nagt und im Vorrücken anschwillt. Da die Vergangenheit unablässig anwächst, bleibt sie gleichzeitig auch unablässig erhalten. Das Gedächtnis ist […] kein Vermögen, das dazu dient, Erinnerungen in Schubladen zu sortieren oder sie in Register einzutragen. Es gibt keine Register und keine Schubladen, es gibt hier sogar nicht einmal ein Vermögen im eigentlichen Sinne; denn ein Vermögen wird mit Unterbrechungen ausgeübt, je nachdem, wann es will oder kann, wogegen sich die Aufschichtung von Vergangenheit auf Vergangenheit ohne Unterlaß fortsetzt. In Wirklichkeit bleibt die Vergangenheit ganz von selbst, gleichsam automatisch, erhalten. Als Ganze folgt sie uns zweifellos in jenem Augenblick: Was wir von frühester Kindheit an gefühlt, gedacht, gewollt haben, ist da: über die Gegenwart geneigt, die ihm zuwächst, und andrängend an die Tür des Bewußtseins, das es aussperren möchte.“ [HB 59]

Ein Begriff der ,Wiederholung‘, der, deleuzianisch weitergedacht, einer in sich differenten Wiederholung entspricht, wäre zudem kein Kreis (und entspräche auch nicht heortologischen Zeitkreisen).69 Für die Begehung der ,jeweiligen Ursprungshandlung‘ bedeutet das, dass ihr Ursprung schon alle weiteren Feste ihrer Vergegenwärtigung aus sich heraussetzt und zum Inkraftbleiben nicht darauf angewiesen ist, jeweils neu begangen zu werden, sondern gewissermaßen automatisch je neu begangen wird: Einerseits der Zyklus der Feste seit ihrer historischen Erstmaligkeit (etwa: die erste historische Zusammenkunft von Christen an einem Sonntag zur Feier von Wort und Sakrament im Gedächtnis des Herrn), andererseits die Linie von einem ursprünglichen Ereignis

69 Vgl. aaO., 70–73. Bieritz korrigiert sich allerdings schon im Ansatz selbst, wenn er dem „ersten, alles übergreifenden Kreis“ der „Sonntage“ zuschreibt, gerade sie trügen „ein nicht-zyklisches, lineares Moment in die christliche Zeitrechnung ein“; aaO., 70.

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in der zeitlos-überzeitlichen Zersplitterung70. Das Ereignis ganz dialektisch in und mit beidem zu denken, wäre hier das entsprechende Additum. Wo Bieritz einer „Gedächtnispolitik“ den Einzug in die liturgische Erinnerungskultur verwehren will, ist sein Ansatz ebenfalls so begrüßenswert wie ergänzungsbedürftig. Das Stichwort der ,gemessenen Begehung‘ des Kirchenjahres zeigt die Doppelseitigkeit der Medaille auf: Wo eine kenntnisreiche und liturgisch bedachte Gestaltung der Liturgie die Feier prägt, werden einerseits Tendenzen vulgärästhetischer Gestaltungswillkür radikal beschränkt. Es verwundert allerdings, dass Bieritz die Kohärenz gerade des Gewordenseins kirchenjahres- und historischer Elemente betont, so als gebe es dann doch die eine Form, die wenigstens idealiter geeignet ist, ein reines Gedächtnis des österlichen Ursprungsgeschehens zu bewahren. Folgenreich ist dieses Denken für einen Begriff der mimesis, wenn Bieritz demgegenüber betont, um der Kohärenz der ,großen Erzählung‘ willen bedürfe es ,von Zeit zur Zeit‘ der „Rekonstruktion“ von Vergangenheit: Einerseits ist es nun erneut die Gegenwart, die die Vergangenheit aus sich heraussetzt und in eine neuerliche Abhängigkeit zur Vergangenheit gebracht wird, andererseits wird diese als der Grund jener erneut inkraftgesetzt. Die so hypostasierte Gegenwart, die ihre eigene Vergangenheit schaffen soll, zementiert die stasis und wehrt der dynamis der Ereigniszeit und perpetuiert zudem das Missverständnis (gegen das doch Bieritz synthetisch eigentlich anschrieb), mimesis sei im Kern nichts anderes als Repräsentation und Imitation, d. h. falsche Wiederholung. Dabei beobachtet Bieritz cum grano salis richtig, wo er in zeitenverschränkender Ergänzung zu Brunners Anamnesis-Lehre schreibt: „Geschichte vermag die Gegenwart gleichsam zu überholen“ und „die große Erzählung, die im Zentrum glaubenden Gedenkens steht, handelt nicht nur von dem, was war, sondern zugleich von Dingen, die noch sein werden.“ Mit Deleuze weitergedacht hieße das, die Gegenwart nicht nur „gleichsam“, sondern in jeder Hinsicht und tatsächlich von der Geschichte ,überholt‘ worden sein zu lassen als eine Zeitform, die nie ist, sondern stets gewesen und damit wiederholt. Entsprechend verkleinert wäre die ,große Erzählung‘, rückte sie von einem vermeintlichen Zentrum in die Unendlichkeit der Peripherien gelebter Zukunft und würde den Nachgeborenen nicht die Last aufbürden, durch je neue Rekonstruktionsleistung im Gedenken der je Feiernden bestätigt zu werden. In poststrukturalistischer Umkehrung bedeutet das die Präzisierung des Bieritzschen Gedankens: Die Erzählung Gottes mit seiner Kirche 70 Zur Erinnerung: Bergson beschreibt – und diese Analogie ist hier naheliegend und treffend – die ,Bewegung der sich differenzierenden Dauer‘ mit dem Bild der Zersplitterung der Evolution; deren Bewegung „wäre ein Einfaches und ihre Richtung wäre schnell bestimmt, wenn das Leben eine einzige Bahn beschreiben würde, ähnlich einer aus einer Kanone geschossenen Vollgeschoß-Kugel. Doch wir haben es hier mit einer Granate zu tun, die sofort in Stücke geborsten ist, Stücke, die selbst eine Art Granaten waren und die ihrerseits sofort in Teile zersplitterten, welche wiederum zu zerbersten bestimmt waren, und so weiter und so fort, über eine sehr sehr lange Zeit“ [HB 107].

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erzählt mehr vom heutigen Sonntag und aktuellen Gemeinden, als dass sie (von) ihnen erzählt werden müsste. Hier begegnet ein Problem, das eng zusammenhängt mit den durch Assmann angeregten Weisen der Wiederholung in ihren Ausprägungen durch Gegenwarts-Gewohnheit und Vergangenheits-Gedächtnis, und markiert das vielleicht entscheidende Defizit in der Zeitnäherbestimmung durch Bieritz (und Assmann): ,Gewohnheit‘ (resp. ,Routine‘) und ,Gedächtnis‘ beziehen sich als empirische Kategorien der Zeitwahrnehmung in je spezieller Weise auf Gegenwart einerseits und auf Vergangenheit andererseits und lassen sich den Überlegungen Deleuzes zwar gut zuordnen. Zugleich aber vermag es diese Konzeption nicht eigentlich, Zukunft als Wiederholung der Differenz zu denken: Man kann zwar einerseits und mit Deleuze ebenso gut ritualphilosophisch denken, dass die ,Gewohnheit‘ die präreflexive Kontraktion oder Synthese zweier (oder beliebig vieler) von einander unabhängiger Momente oder Zustände und Bestandteile im betrachtenden Ich ist.71 Unter dem Aspekt der Gewohnheit bilden Vergangenheit und Zukunft Dimensionen der Gegenwart, die sich in ihr verbinden/kontrahieren und sich zu ihr synthetisieren; unter dem Aspekt der Reflexion scheiden sich Vergangenheit und Zukunft von der Gegenwart, lösen sich gänzlich los und werden ihrerseits unabhängig von ihr.72 Unter dem Aspekt der Erinnerung wird die wiederholte Vergangenheit nur repräsentiert und wird ihrer ,gedacht‘, wiederholt sie sich in schlechter Entsprechung, aber noch nicht als unentsprechliche. Die Kontraktion der stets different-wiederholten Zeitpunkte ereignet sich demgegenüber erst im zügel- und regellosen Spiel der eschatologisch-gegenwärtig antizipierten Zukunft, das Deleuze mit Heraklit und mit Nietzsche (vgl. oben Kap. 2.3.3), nicht zuletzt mit Borges (vgl. oben Kap. 2.2) spielt, und dessen Bedeutung Bieritz wenigstens geahnt zu haben schien, wenn er (selten explizit, aber doch) passim auf Romano Guardinis „Vom Geist der Liturgie“ verweist. Guardini stellt die Gleichberechtigung der zweckgebundenen und der zweckfreien Existenzschattierungen von Kirche heraus und unterstreicht die Bedeutung des Spiels in letzterer Perspektive explizit für die Liturgie: „Die Kirche hat aber [neben kanonischem Recht und Verfassung und Verwaltung von Kirche; FH] auch eine andere Seite. Ihr Leben umfaßt ein Gebiet, in dem es vom Zweck im besonderen Sinn frei ist. Und das ist die Liturgie. […] Die Liturgie schafft eine Welt voll reichen geistlichen Lebens und läßt die Seele sich darin bewegen und 71 Die Gegenwart des Zeitpunktes ,Vier Uhr‘ etwa ist mit Henri Bergson die Kontraktion der gewohnten und gewöhnlichen Glockenturmschläge, die einander ablösen und im Geist zusammenfinden zur Erkenntnis der Zeit, die gleichzeitig sich differenziert von dem ebenso gewöhnlichen Glockenschlag in oder vor einer Stunde genau so wie nach Mitternacht oder nachmittags. 72 Deleuzes Beispiel: „Die Narbe ist nicht das Zeichen der vergangenen Wunde, sondern der ,gegenwärtigen Tatsache, eine Wunde gehabt zu haben‘: sagen wir, sie sei Betrachtung der Wunde, sie ziehe alle Augenblicke, die mich von ihr trennen, in einer lebendigen Gegenwart zusammen“ [DW 109]).

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entfalten. Diese Fülle von Gebeten, Gedanken, Handlungen, diese ganze Ordnung von Zeiten usw. wird unverständlich, wenn man sie am Maßstab der sachlichen, gespannten Zweckmäßigkeit mißt. Die Litur-jgie hat keinen ,Zweck‘“.73

Bieritz, zumal post mortem, zu verdenken, den Gedanken eines Gottesdienstes als regellosen Spieles nicht gedacht zu haben, ist sicherlich so wohlfeil wie ungerecht. Und doch bietet Deleuze mit seinem „idealen Spiel“ (vgl. oben Kap. 2.3.3.3) Ansätze, Bieritz weiterzudenken. Gottesdienst in der Typologie von Carrolls „Proporzwettlauf“ oder „Croquetspiel“ zu verstehen, birgt die Chance, die Grundschwierigkeit der Analogie von Liturgie und Spiel zu vermeiden: Ein Spiel, dass keine festgeschriebenen Regeln hat, kennt entsprechend auch keine Gewinnerin und keine Verlierer; es gibt dem Unerwarteten – d. h. dem Ereignis – Spielraum, ohne das Geschehende regulativ im Sinne einer Ursache-und-Wirkungs-Reduktion funktional vorherzubestimmen. So verstanden werden die Kategorien des Guten oder Schlechten obsolet und wettet im Gottesdienst weder Pascal noch spielt dort der Gott Leibnizens Schach.

2.3 Liturgie ,zwischen den Zeiten‘:74 Horizont I Eine Vorbemerkung: Es mag verwegen erscheinen, einen ersten Horizont abzuschreiten, der mit den Gründungsworten desjenigen Organs überschrieben ist, mit dem sich die Dialektische Theologie in elf Jahrgängen zwischen 1923 und 1933 einer breiten Öffentlichkeit vorstellte, und wird es noch viel mehr, bedenkt man die Heftigkeit des Angriffs, den Friedrich Gogarten 1920 mit seinem gleichnamigen Aufsatz gegen seine Zeit, d. h. gegen die kulturprotestantisch-liberale Theologie führte. Fast nichts davon, was Gogarten unter seinen acht Anläufen wider seine Gegenwart vorbringt, lässt sich mutatis mutandis für die Liturgik übersetzen: Weder „sehen wir Eure Welt zugrunde gehen“, noch „die Zersetzung in Allem.“ Weder gilt, „dass wir bis in die Fingerspitzen hinein misstrauisch geworden sind gegen alles, was irgendwie Menschenwerk ist“, noch „sind wir des Untergangs nur froh, denn man lebt nicht gerne unter Leichen.“ Ein solches Dekadenzmodell, das allein in seiner Zeit zu verstehen ist und dort seinen berechtigten Ort hat, ließe sich 73 Romano Guardini, Vom Geist der Liturgie, Ostfildern/Paderborn 242018, 61 f. 74 Sowohl die Formulierung „zwischen den Zeiten“ als auch das damit hier Gemeinte haben manche Analogien in der phänomenologischen Liturgik von Manfred Josuttis, insbesondere im das Abendmahl betreffenden Kapitel „Essen“; vgl. Manfred Josuttis, Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage, Güterloh 32000, bes. 271–297 bzw. 277 („[im Geschehen der Präfation] handelt es sich offensichtlich um eine ,Traumzeit‘-Erfahrung, um einen ewigen Augenblick ,zwischen den Zeiten‘“); 287 („[D]ie Feiernden […] machen nun die Entdeckung, daß im Grenzbereich zwischen Diesseits und Jenseits etwas geschieht, was vergangen scheint: Jesus Christus lädt seine JüngerInnen zum Mahl.“) et passim.

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nicht einmal mehr systematisch-theologisch, geschweige denn liturgiewissenschaftlich wiederholen – mit einer Ausnahme vielleicht, die Gogartens Schlusssätze bewusst aus ihrem Kontext entbindet: „Die Zeiten fielen auseinander und nun steht die Zeit still. […] Wir haben keine Zeit. Wir stehen zwischen den Zeiten.“ Das jedenfalls lässt sich sagen von einem Gottesdienst, der im Ereignis von Äon und Chronos die Zeiten aufeinander bezieht: ,Zwischen den Zeiten zu stehen‘ bedeutet in der Denkspur dieser Metapher gottesdienstlich, auf dem Weg – nicht zu stehen, sondern – zu gehen, den Martin Nicol „im Geheimnis“ verortet; bedeutet, diesen Weg „zu verstehen als die von Gott selbst eingeräumte Möglichkeit, die Gotteszeit in der Weltzeit und die Weltzeit in der Gotteszeit zu begehen. Liturgie […] gibt der Gotteszeit kontrapunktisch zur Weltzeit Gestalt, lässt Menschen in dieses Geschehen ein und ermuntert in der ihr eigenen Schönheit zu einer Ästhetik des Widerstands gegen die Zumutungen einer von der Gotteszeit isolierten Weltzeit.“75 Liest man Deleuze liturgie-theologisch, zeigt sich, dass das Ereignis gerade in liturgicis nicht ,jetzt‘, sondern ,augenblicklich‘ ist, wie oben über Deleuzes Lektüre von Platons „Parmenides“ vorgedacht wurde.76 Es ist als Ereignis differente Wiederholung und damit ,zwischen den Zeiten‘ und wiederholt in Chronos und Äon mit anderen Worten Karl Barths Diktum gerade vom Ereignis (bei Barth jetzt: der Auferstehung Jesu Christi), es berühre „wie die Tangente einen Kreis, ohne sie zu berühren, und gerade indem sie sie nicht berührt, berührt sie sie als ihre Begrenzung“.77 Wenn ein bestimmbares und damit immer auch wenigstens potenziell bestimmtes, d. h. ein vexiertes „Ereignis“ kein Ereignis sein und nie geworden-werdend sein kann, wird es, so von ihm gesprochen wird, verfehlt, wo man sich seiner Verfehlung nicht intentional bewusst ist: Wo sich ,Marcel‘ erinnert, ereignet sich für Proust das Nieerinnerbare. Wo Theseus sich in einer euklidischen Geometrik doch nur verirren kann und Borges Linien und Zirkel miteinander ,geschichtlich‘ ver75 Martin Nicol, Weg im Geheimnis. Plädoyer für den Evangelischen Gottesdienst, Göttingen 32011, 297. 76 Man denke etwa auch daran, wie poetisch Schleiermacher den Augenblick (des Ereignisses) in seiner ,Zweiten Rede‘ umschreibt: „Jener erste geheimnißvolle Augenblik, der bei jeder sinnlichen Wahrnehmung vorkommt, ehe noch Anschauung und Gefühl sich trennen, wo der Sinn und sein Gegenstand gleichsam in einander gefloßen und Eins geworden sind, ehe noch beide an ihren ursprünglichen Platz zurückkehren – ich weiß wie unbeschreiblich er ist, und wie schnell er vorüber geht, ich wollte aber Ihr könntet ihn festhalten und auch in der höheren und göttlichen religiösen Thätigkeit des Gemüths ihn wieder erkennen. Könnte und dürfte ich ihn doch aussprechen, andeuten wenigstens, ohne ihn zu entheiligen! Flüchtig ist er und durchsichtig wie der erste Duft womit der Thau die erwachten Blumen anhaucht, schamhaft und zart wie ein jungfräulicher Kuß, heilig und fruchtbar wie eine bräutliche Umarmung; ja nicht wie dies, sondern er ist alles dieses selbst“; Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), Berlin 2001, 89 [221]. 77 Karl Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, GA II, hg. von Cornelis van der Kooi und Katja Tolstaja, Zürich 182012, 6.

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webt, verschmelzen eine punktuale Linie und ein unaufhörlich-gestreckter Punkt und werden Begriffe wie „unendlich“ ¼ 6 „begrenzt“ und „endlich“ ¼ 6 „unbegrenzt“ als Ereignis gleich: „=“. Ist das Ist-gleich-Zeichen im Ungleichen einmal gesetzt, wird sowohl für die Bestimmung der Verhältnisse von Gedenken und Inszenierung resp. anamnesis und mimesis einerseits als auch gegen die (Priorisierung und) Linearisierung der Kirchenliturgiegeschichte der Begriff des Werdens mit Alice und Zarathustra und von Heraklit mit einem großen Sprung zu Deleuze (vgl. insgesamt oben Kapitel 2.3.3) entscheidend. Nicht mehr die Tiefe (der Kirchengeschichte), sondern die Breite der zukünftig-gegenwärtigen Gottesdienstfeier wäre dann das neue Paradigma, das Zugleich-Werden aller Richtungen der Vertikalen wie der Horizontalen: „Man könnte sagen, daß die alte Tiefe sich in Breite gestreckt hat, zur Weite wurde“ – wie die Würfel im Spiel, die im Schwung eine Weite einnehmen, die sich als unabhängig erweisen von der linearhistorisch-gegenwärtigen Tiefe vorangegangener Spiele liturgiewissenschaftlicher Kasuistik. Gottesdienst würde dann mit Deleuze verstanden als kristalline Oberfläche, dessen Bestimmungsgeschehen sich an den Rändern entwickeln (und d. h.: überall, zu jedem Zeitpunkt), weil sie das eine vermeintliche Zentrum zugunsten der Einsicht in die Denknotwendigkeit einer nomadisierenden Ebene jedes Gottesdienstes über die Ränder hinaus verdrängt. Auch vermeintliche elliptische „Gipfel“-Markierungen der Liturgiegeschichte78 würden so als Tiefpunkt liturgiewissenschaftlicher Hierarchisierungstendenzen erkannt. Vielmehr würde Gottesdienst so gedacht als Plateauerfahrung des einen Ereignisses, auf dem die Eröffnung ,in nomine patris etc.‘ oder der aaronitische Segen oder genau dieses eine Lied in der Gesamtheit des Massivs tragen.79 Wiederholung wäre dann ein ebener und kein Stufenprozess, berechtigte alle Niveaus des Mitfeierns gleichermaßen und trüge jedes (auch das ,ungeübte‘) Individuum auf dem Plan des Kollektivs, statt singuläres Gedächtnis kollektiv zu subsumieren. Eine solche Erkenntnis hätte Auswirkungen für die Gestalt wie für die Gestaltung der Gottesdienstfeier und eliminierte zudem alpine Tendenzen80 einer vorreformatorischen wie vorkonziliaren Hyposta78 Vgl. Wilhelm Lçhe, Agende für christliche Gemeinden des lutherischen Bekenntnisses, Neuendettelsau 1953, 13. 79 Dass dies nicht zuletzt empirisch ,gilt‘, zeigen entsprechende Untersuchungen der vergangenen Jahre mit verstärkter Tendenz; vgl. nur die Studie des Nürnberger Gottesdienstinstituts von Hanns Kerner, Der Gottesdienst. Wahrnehmungen zum Gottesdienst aus einer neuen empirischen Untersuchung unter evangelisch Getauften in Bayern 2007, und Uta Pohl-Patalong, Gottesdienst erleben. Empirische Einsichten zum evangelischen Gottesdienst, Stuttgart 2011. Dort berichtet etwa Manfred hinsichtlich seines Erlebens von Gottesdienstmusik: „,Ja, das also … das ist … da bin ich ganz gerührt. Das … ja, das trägt mich richtig. Das ist fast … wenn das richtige Lied kommt, ist das für mich fast das Wichtigste‘“ [118]; und Verena mit Blick auf den Segen: „,Ich glaube, der [Segen] ist essentiell. In dem Sinne, […] einfach weil man will irgendwas mitnehmen‘“ [164]. 80 Vgl. auch kritisch Karl Barths Gegenüberstellung der „Flachlandbewohner“ gegenüber den auch

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sierung des Amtes gegenüber der Funktion und verteilte das ,Priestertum aller Gläubigen‘ äquivalent zu den jeweils im Gottesdienst Anwesenden.81 Das bei Bieritz (mit Assmann) in der Konsequenz eliminierte individuelle Gedächtnis käme dann zum Tragen, wenn der Begriff der ,Wiederholung‘ nicht verstanden würde als metaphysische Grundtatsache jedes Gottesdienstes, sondern als je aktualisiertes Ereignis des Eintritts des Zufalls sowohl in Abhängigkeit Gottes als auch jedes jeweils anwesenden und Gottesdienst feiernden Menschen – und sei es im Individuum, das nach je seinem ,Gedenken‘ des Geschehenden auch in der vorletzten Reihe hinten links und heute Platz findet oder nimmt. Eine solche Erkenntnis unterstriche zudem das Bild des auf den Christus deutenden Zeigefingers Luthers,82 indem es ebenjenen Blick abwendet vom Amtsgipfel und gerade das „Zeigen-auf“ betont, welches in jedem Element des Gottesdienstes – Lied und Gebet, Segen und Predigt – gefunden werden kann und vor allem aufseiten der Gemeinde wahrgenommen werden dürfte. Wo ,Wiederholung‘ nicht klischeehaftes Imitat meint, kommen kirchenhistorisch-liturgische Paradigmen auch grundsätzlich an ihre Grenzen. Für das Sein selbst wie für die Gestalt der Elemente gibt es eine außerordentliche Gesetzgebung so wenig, wie es die eine Liturgie geben kann.83 Das hieße es mit Deleuze, den Zufall radikal zu bejahen, „um darin zugleich die Zahl oder die Notwendigkeit, die [das Ereignis] wiederbringt“, akzeptieren zu können, und d. h., den Gegensatz von Einheit und Vielheit als Einheit der Vielheit zu denken. An einem vermeintlich simplen Beispiel konkret erläutert bedeutet dies etwa in historicis, dass das erste Kyrie, das jemals in einem christlichen Gottesdienst vielleicht als dezidiert doxologisch-politisches in der Mitte des 2. Jh. n. Chr. gesungen wurde, auch das Kyrie wiederholt, das eine beliebige Ortsgemeinde in S¼o Paulo oder Leipzig am kommenden Sonntag singen wird: Es ist zwar und vielleicht die Gewohnheit der örtlichen Tradition, die das hinreichend Selbe oder Ähnliche am kommenden Sonntag ihrem Inhalt nach gegenwärtig tradiert; es ist zwar und vielleicht die örtlich-gegenwärtig-bein seiner Gipfel- bzw. „Grat“-Metapher nur vermeintlich schwindelfreien ,Dialektischen‘; Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie (1922), bes. 212 ff. 81 Zur theologischen Kritik an möglichen und tatsächlichen Missverständnissen von Amt und Funktion vor allem bei Pfarrpersonen vgl. Alexander Deeg, Von Pfarrern und Priestern in der evangelischen Kirche. oder: Was Kirche ist und was das für ihr Personal und all die anderen bedeutet, in: Korrespondenzblatt. Herausgegeben vom Pfarrer- und Pfarrerinverein in der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern 131 (2016) Nr. 8/9 Aug./Sept., 104–112. 82 Bekanntlich depiktiert in theologisch paradigmatischer und kunsthistorisch monumentaler Weise von Lucas Cranach dem Älteren auf der Predella des Wittenberger Stadtkirchenaltars und auf der Kreuzigungstafel des „Isenheimer Altars“ von Mathias Grünewald. 83 Das ist auf römisch-katholischer Seite seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wie auf reformatorischer seit Luthers Gottesdienstordnung allein für Wittenberg (1523) und den mindestens drei für allein ihn denkbaren Gottesdienstformen (1526) so deutlich, wie es mutatis mutandis auch für die drei Formulare und deren Genese der byzantinischen „heiligen und göttlichen Liturgie“ gilt.

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wusste Vergangenheit, derer ,formell‘ gedacht wird und die den Grund der Gründung ihrer selbst setzt; aber es ist die Wiederholung selbst, die die Differenz markiert und die das 2000 Jahre alte Ereignis ihrer und als ihre Wiederholung ist. Die Vergangenheit des ,wahren‘ Ursprungs des ersten gesungenen Kyrie ist (auch mit den Mitteln der Territorial-Kirchengeschichte) nicht nur unerreichbar, sondern unvordenklich in doppelter Hinsicht: Es selbst ist nicht denkbar (wer könnte es nachvollziehen?), es ist nicht kopierbar (wer könnte es reproduzieren?). Was ein ,Kyrie‘-Ereignis nie ist, setzt sich seiner Wiederholung und setzt sich seiner Nichtsesshaftigkeit aus: als Wiederholung, die notwendig different ist. Nur das Kyrie, das war, ist; und ein Kyrie, das ist, ist keines; ein Kyrie, das jemals war, kann nicht gewesen sein, wenn es nicht zugleich wird. Es wäre auch nie gewesen, wenn es nicht zugleich auch sei. Darauf deutet allein seine Genese hin, wo und wenn aus dem Singularium ein orthodoxer Brauch, eine lateinische Adaption und dann gegenwärtigschließlich sogar eine lutherische Differenzwiederholung wurde und wird – auch am kommenden Sonntag. Das griechische Kyrie bleibt different und wird wiederholt auch und vor allem von jedem Gottesdienstbesucher, der nicht versteht, was in diesen fremden, „eigenen Sprachen“ (Apg 2,6; vgl. Gen 11,7) damit gesagt und gesungen ist, und dessentwegen allein es gültig ist. „Verstehen“ als Grundlage zur berechtigten Teilnahme an einem Gottesdienst wäre zudem nicht nur ethisch höchst bedenklich, sondern auch hermeneutisch unterbestimmt.84 Die nietzscheanisch-deleuzianische, dialektische Synthesis – „Synthesis der Zeit und ihrer Dimensionen, Synthesis des Verschiedenen und seiner Reproduktion, Synthesis des Werdens und des sich im Werden bejahenden Seins, Synthesis der zwiefachen Bejahung“ – bedeutete demgegenüber mit Betonung des „hinreichenden Grundes“ contra Leibniz vielleicht ein Gemeinschaftsideal unter dezidiert nichthierarchischer Einbeziehung jedes Individuums – der Pfarrerin wie des Gemeindekirchenratsvorsitzenden wie der Neugierigen. Einem individualistischen Eklektizismus auf allen Seiten des Kirchenschiffes gerade sub specie communionis würde damit gewehrt und die Vielheit als Einheit gedacht wie gefeiert. Das traditionsstatische Missverständnis des seit Vincentius Laurentius etablierten und mit ihm formulierten „est“ („quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est“ (Commonitorium II, 5]) würde restituiert, würde es konsequent traditionskontinuierlich85 gedacht, und die Dichotomisierung einer dogma84 Vgl. dazu auch meine epilogischen Überlegungen zum 26. Kongress der Societas Liturgica in Leuven/Belgien vom 7.–12. August 2017, wo ich den Begriff des „Verstehens“ mit den je aktuellen Vollzügen der Sakramente in philosophisch-ökumenischer Perspektive kontrastiere: Ferenc Herzig, Sakramentalität verstehen. Eine kurze Retrospektive, in: Martin Stuflesser/ Joris Geldhof/Andy Theuer (Hrsg.), „Ein Symbol dessen, was wir sind“. Liturgische Perspektiven zur Frage der Sakramentalität, Regensburg 2018, 182–185 (im englischen Original: „Understanding“ sacramentality, in: Studia Liturgica XLVIII 2018, 167–170). 85 Vgl. Klaus Raschzok, Die notwendige Fortsetzung des agendarischen Erneuerungsprozesses. Ergebnisse einer Ausschussarbeit, in: Michael Meyer-Blanck/Klaus Raschzok/Helmut

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tischen Gestalt der Feier und der Wünsche und Erwartungen der Feiernden käme zu einem Ende.86 Wo der Gedanke einer vergangenheitsgesättigten Gegenwart verabschiedet würde und sowohl das Sein der Vergangenheit als auch die Nichtigkeit der Gegenwart gedacht wird, könnte eine hypersubjektive Hierarchie der Tradition zugunsten der augenblicklichen Feier leichthändig verworfen werden. Tradition und Individuation bezögen sich dann nicht mehr auf die jeweils aus unterschiedlicher Perspektive und in unterschiedlicher Funktion Feiernden, sondern meinte als Feier von Individuen in communionis die Feier selbst.87 Ich schlage entsprechend vor, von einer ereignistheologischen Autopoiesis des Gottesdienstes zu sprechen, die das Spiel der Formen affirmiert und die Akteure aus ihrer Gestaltungsverantwortung entlässt, indem und weil sie sie zur Affirmation der Gegenwärtigkeit des Vergangen-Seienden befähigt.88 So verstanden ereignete eine autopoietische Liturgik der wiederholten Zukunft ein Spiel der Liturgie, der es nicht um ,Erfolg‘ oder ,Misserfolg‘ und schon gar nicht um ,Gewinnen‘ oder ,Verlieren‘ geht, sondern um den Gottesdienst „ansich“ im „fürsich“ und vice versa. Der bestünde mit Deleuze grundsätzlich aus einem fragmentarischen und nicht aus einem normativen Regelwerk und wäre ein Spiel des Fragments ohne apriorische Regel mit Blick auf den Würfelwurf des individuellen Vollzugs. Es wäre deswegen ein Carrollsches Spiel um seiner selbst willen mit in actu sich selbst setzenden Regeln auf der Grundlage der Vergangenheit, die allein ist. Müsste so „das System der ZuSchwier (Hrsg.), Gottesdienst feiern. Zur Zukunft der Agendenarbeit in den evangelischen Kirchen, Gütersloh 2009, 9–25, bes. 22–24. 86 Diese „falsche Alternative“ bemerkt aus reformierter Sicht klug Ralph Kunz, der beobachtet und feststellt: „Den einen bereitet die Erosion der Liturgie Mühe. Sie beklagen den Verlust der Tradition und fragen besorgt: Wie kann es ein Wiedererkennen in der Liturgie geben, wenn alles Überraschung und nichts mehr Gewohnheit ist? Andere mahnen, dass nichts oder nur sehr wenig geschehe, um die Gotteskultur [sic!] unserer Volkskirche den Bedürfnissen heute lebender Zeitgenossen anzupassen. Wer hat Recht? Ich habe für beide Anliegen Verständnis, möchte mich aber weder ausschliesslich für das Eine noch für das Andere entscheiden. Denn unter Umständen hat das wiederentdeckte Alte mehr Erneuerungskraft als das modisch Veränderte. Es kann aber auch sein, dass die Tradition den Zugang zum Feiern verstellt. Vielleicht entdeckten Menschen, die sich nicht länger im Schatten der Tradition verstecken, im Gottesdienst eine neue Welt. Vielleicht lohnt es sich, einiges anders zu machen, um den Gottesdienst neu zu erleben. Wo steht eigentlich geschrieben, dass sich der Morgen besser als der Abend eignet, um Gott anzubeten? Warum muss die Orgel spielen? Weshalb sitzen wir auf Bänken und tanzen nicht? Was zwingt die Protestanten dazu, beim Beten die Hände zu falten?“; Ralph Kunz, Der neue Gottesdienst. Ein Plädoyer für den liturgischen Wildwuchs, Zürich 2006, 27. 87 (Nicht nur römisch-)Kat-holisch gesprochen wäre Gottesdienst also wirklich stets, als Darstellung von Kirche als des Leibes Christi, mit und in all seinen Gliedern, manifestatio ecclesiae (SC 41), und wären Gottesdienste ohnehin nie ,privat‘ (vgl. SC 26). 88 Insofern ist auch, wo schon nicht zu hinterfragen, dann doch jedenfalls dialektisch zu denken, wenn Eberhard Hauschildt schreibt, dass für ein Ritual „nicht mehr das Ich, sondern die symbolische Handlung in ihrer Form“ konstitutiv sei; Eberhard Hauschildt, Was ist ein Ritual? Versuch einer Definition und Typologie in konstruktivem Anschluss an die Theorie des Alltags, in: WzM 45 (1993), 24–35, 29.

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kunft ein göttliches Spiel genannt werden, weil die Regel nicht im Voraus existiert, weil sich das Spiel bereits auf seine eigenen Regeln bezieht, weil das spielende Kind nur gewinnen kann – da der ganze Zufall jedesmal und für allemal bejaht wird“ [DW 153], würde zudem auch der empirischen Realität der je verschiedenen und notwendig differenten ,Wiederholungen‘ von Gottesdiensten zwischen dem ,lutherischen‘ Bayern und dem ,reformierten‘ Friesland Rechnung getragen. Dabei forderte die liturgische Wiederholung der Zukunft nicht einmal eine regellose Liturgie, sondern eine bewusst ereignisoffene, d. h. eine Liturgie, die nicht restringiert und nicht begrenzt, sondern durchaus affirmativ re-agiert auf das in ihr Geschehende – „Bejahungen, die zu den gestellten Fragen und zu den Entscheidungen, die aus ihnen hervorgehen, koextensiv sind“ [DW 153]. Die Wiederholung der Zukunft inkludierte dann alle möglichen Möglichkeiten antizipativ und im Voraus ganz konsequent unausdenklich, und ihr Ereignis wanderte spielerisch auf „verzweigten Pfaden“ einerseits und zugleich auf der „labyrinthischen Linie“. Das hieße: Wo Liturgiker:innen mit Borges spielen, wehren sie nicht zuletzt der funktionalistischen Tyrannei der kontrollierten Gottzufälligkeit und spielen regellos so, dass Gott zufallen und d. h., zugegen sein mag, ubi et quando visum est Deo. Dann verzweigt sich der Punkt des Ereignisses ins Unendliche und teilt sich im Borgesschen Unaufhörlichen, ohne unendlich zu sein. Dann ist potenziell jeder Sonntag auf der Linie des Kirchenjahres (und jenseits ihrer) und eines Menschenlebens ein Ereignispunkt – nicht nur der Tauftag oder der Ostersonntag –, und im Hier und Jetzt der vergangenheitszukünftigen Gegenwart eines jeden Gottesdienstes zwischen dem Ruf der Glocken und dem Orgelnachspiel ereignet sich dann Gottes Gegenwart – nicht nur im Abendmahl. In der „Lotterie des Gottesdienstes“ entscheidet dann keine ,Gesellschaft‘ und kein Gottesdienstablauf mehr über das Ereignis und kein manuell beinflussbarer Vorgang zeitigt es. Es ist vielmehr ein „stillschweigende[s] Funktionieren, dem Gottes vergleichbar“, das Ereignisse im Gottesdienst zeitigt und auf die anderen Teile des Gottesdienstes auswirkt. Wo Liturgiker:innen mit Heraklit spielen, werden die Zeitebenen ohnehin durcheinandergewürfelt und wird die theologische Gottesdienstzeit zur paralogischen Ereigniszeit, exklusiv und parallel zur Profanzeit der Gegenwart.89 Eine herakliteische Liturgie spielt mit den Bausteinen, die die Geschichte ihr gegeben hat und baut sie mit diesen immer wieder neu, wirft sie um, ordnet sie anders an und verwirft sie zuweilen, findet andere Bausteine und baut Liturgie so immer neu mit den gleichen Menschen im Angesicht des gleichen Gottes, um deren und seiner Andersartigkeit gerecht zu werden. Ein herakliteischer 89 Man denke hier etwa auch an Ernst Langes berühmtes Diktum, die Geschichte Gottes spiele eben „nicht im Tempel von Jerusalem, sondern auf den Straßen und Märkten Galiläas, nicht in der Sakralität, sondern in der Profanität“; Ernst Lange, Chancen des Alltags. Überlegungen zur Funktion des christlichen Gottesdienstes in der Gegenwart, Gelnhausen 1965, 16.

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Gottesdienst beginnt so mit dem Segen und endet „im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“, auch wenn die Gottesdienstordnung chronologisch von einem Gegenwartsmoment zum nächsten führen will. Wo Liturgiker:innen mit Nietzsches Zarathustra Liturgie als Spiel der Ewigen Wiederkehr spielen, wirklich spielen, wird das Werden der Liturgie affirmiert und die Liturgin selbst zur kindlich aufgeregten Mitspielerin eines Gottesdienstes, all dessen Teile zwar schon einmal und schon tausendmal gefeiert wurden, und doch Sonntag für Sonntag neu, neuartig, neuwertig, unerfahren und unberührt sein werden – sich ereignen. Mit der Kategorie des zweckfreien Spiels vereinfacht sich mithin das Nachdenken über die Notwendigkeit des Gottesdienstes nicht zuletzt in christologischer Perspektive, die für Brunner und Bieritz je auf ihre Weisen so zentral war. Man könnte in Abwandlung der Grundthese Eberhard Jüngels auch schlicht sagen: Gottesdienst ,ist nicht notwendig, er ist mehr als notwendig‘ einerseits und: „Dasjenige, was mehr als notwendig ist, ist um seiner selbst willen interessant“90. So etwa regt Franz Kafka an, als er am 4. Dezember 1917 in einer „[s]türmische[n] Nacht“ in sein drittes Oktavheft notiert: „Der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird, er wird erst nach seiner Ankunft kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen, sondern am allerletzten.“91 Liturgie im Horizont des zwischenzeitlichen Ereignisses als eine nichtnotwendige zu denken ließe dem Kommen des Messias zwischen „heute“ und dem „allerletzten Tag“ seine Zeit und unterbräche auf heilsame Weise linearhistorische Paradigmen liturgiewissenschaftlicher Teleologie. Wo Gottesdienst nicht notwendig ist, weil er sich nicht in ein funktionalistisches ,um-zu‘-Paradigma einordnen lässt, versteht sich auch das Urteil des Literaturwissenschaftlers und Deleuze-Kenners par excellence Joseph Vogl, der Deleuzes Ereignisphilosophie so zusammenfasst: „Das Ereignis ist Ereigniserwartung“ (nach FLB 30). Ereignis Gottesdienst, würde es jemals Ereignis, wäre jedenfalls nur so ein erwartetes. Kafka weiter: „An Fortschritt glauben heißt ja nicht glauben, daß ein Fortschritt schon geschehen ist. Das wäre kein Glauben.“92 Für den Übergang zum nächsten Kapitel, der Erörterung von „Sinn“ als Ereignisdimension in homileticis, sei in diesem Sinne noch einmal Romano Guardini zitiert. Guardini ordnet in seinem Kapitel „Liturgie als Spiel“ dem Zweck der Liturgie antinomisch den Sinn zu. Sinn ist für Guardini der ,Selbstzweck‘, die bloße Gegebenheit der Dinge: „Der Begriff des Zweckes legt den Schwerpunkt eines Dinges aus ihm heraus; faßt es als Durchgang für eine weitergehende Bewegung, nämlich die auf das Ziel hin. Jedes 90 J ngel, Gott als Geheimnis der Welt, 43. 91 Franz Kafka, Die acht Oktavhefte, in: Max Brod (Hrsg.), Franz Kafka: Das Werk, Darmstadt 2012, 631–698, 653. 92 Ebd.

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Ding ist aber auch – und manche sind es fast ganz – etwas in sich Ruhendes, sich selbst Zweck, soweit man den Begriff in dieser weiteren Bedeutung überhaupt anwenden kann. Besser paßt der Begriff des Sinnes. […] Was ist nun der Sinn des Seienden? Daß es sei und ein Abbild sei des unendlichen Gottes. Und welches ist der Sinn des Lebendigen? Daß es lebe“93.

93 Guardini, Vom Geist der Liturgie, 59.

3. Sinn in der Predigt „Der Gast wollte die Abkürzung nehmen, nicht ich.“ Michael Krüger, Rede eines Taxifahrers1

Ging es im vorherigen Kapitel dem Philosophie-Teil dieser Studie korrespondierend um Zeit, wird nun entsprechend der Fokus auf Sprache, näherhin auf Sinn und Unsinn durch Sprache gelegt. Sprachphilosophisch wurde in Teil A dieser Studie der Begriff „Sinn“ vor allem auf Grundlage der Analytischen Philosophie erörtert, seinen Relata zugeordnet und mit Deleuze weitergedacht und problematisiert. Dabei wurde der Begriff „Sinn“ im Spiegel des Unsinns auf seine Struktur der Paradoxalität in Unterscheidung der ereignis-logischen Ausdrucksdimension von Sprache und ihren herkömmlichen Dimensionen (Bezeichnung, Manifestation und Bedeutung) beleuchtet. Die genuin homiletische Relevanz dieser Differenzierungen wird im Folgenden anhand der zwei m. E. gegenwärtig prägendsten Predigtkonzeptionen diskutiert und mit einem Ausblick bedacht.

3.1 Wilhelm Gräb und das Sinnprinzip von Nachfrage und Angebot Wohl keinem anderen Homiletiker (nicht nur der Gegenwart) als Wilhelm Gräb (*1948) dürfte zugestanden werden, dass der2 ,Sinn‘3 und die homiletische Konsequenzerweisung der Beschäftigung mit ,Sinn‘ sein Werk par excellence prägen. Grundsätzlich lässt sich sagen: Gräbs Lebenswerkfrage gilt ,dem‘ modern-religiösen Menschen auf der Suche nach verloren gegangenem Lebens-,Sinn‘. Um ,Sinn‘ geht es Gräb rahmend in seiner Antritts- wie in seiner Abschiedsvorlesung an der Theologischen Fakultät der Humboldt1 Michael Kr ger, Archive des Zweifels. Gedichte aus drei Jahrzehnten, Frankfurt am Main 2001, 135. 2 Weil das eine andersgeartete, sprachpragmatische Untersuchung zeigen müsste, warum genau solche Formulierungen in genau dieser Art von Theologiekonzeption problematisch sind, werde ich das im Folgenden nicht genau ausführen und nur andeuten, wie auffällig es ist, dass Gräb nahezu ausschließlich mit determinativen Singularien operiert, wo begriffliche Differenzierungen sachgemäß gebotener wären, und anstatt des Menschen, der Kirche, der Religion, des Christentums u. a. besser ohne bestimmenden Artikel geschrieben worden wäre (die einzige mir bekannte, löbliche Ausnahme dieser Regel begegnet in seiner Homiletik [Wilhelm Gr b, Predigtlehre. Über religiöse Rede, Göttingen 2013, 42]). 3 Aufgrund der Äquivokation des Gräbschen und eines philosophisch begründeten Sinnbegriffs werde ich in diesem Kapitel das Wort „Sinn“, wo es in Bezug zu Wilhelm Gräbs Hermeneutik steht, in einfache Zitationszeichen setzen.

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Universität zu Berlin und in nahezu allen seinen Schriften, die auf seine Bochumer und vor allem seine Berliner Lehr- und Forschungszeit datieren. Es ist vor allem „der Sinn des Lebens“, der für Gräb homiletisch, aber auch praktisch- und fundamental-theologisch im Zentrum seines Denkens steht, und weit mehr das Haupt-Thema seines akademischen Schreibens als recht eigentlich der Haupt-Begriff. ,Sinn‘, wie Wilhelm Gräb ihn versteht, ist zwar analytisch unterbestimmt, dafür hermeneutisch universal angelegt und kann sachlich definiert werden als das Moment der subjektiven Deutung, das die ganzheitliche Bezogenheit partikularer Lebenswirklichkeiten aufeinander garantiert. Wo es um ,Sinn‘ geht, geht es mit Gräb grundsätzlich immer und um nicht weniger als den „Sinn des Lebens“ und damit um Schattierungen und Ausprägungen eines „Ganzen“.4 Das „Ganze“ wiederum, das Gräb mit seinem Sinnbegriff zu klären und damit praktisch zu orientieren versucht, richtet sich sowohl an lebensweltlich-empirischen Beobachtungen als auch an theologischen Denkformationen liberal-theologischer Traditionen aus. Im Folgenden werden die Nuancen, Entwicklungen und Bestimmung des Gräbschen ,Sinn‘-Begriffs detaillierter anhand seiner religionshermeneutischen Schriften besprochen und darauf folgend anhand seiner 2013 erschienenen Homiletik fokussiert. Eine Würdigung der daraus folgenden homiletischen Konsequenzen sowie deren kritische Diskussion auf dem Hintergrund der oben im zweiten Hauptkapitel des A-Teils dieser Studie entwickelten Erkenntnisse schließen dieses Kapitel ab. 3.1.1 Sinn als homiletische Fehlkategorie 3.1.1.1 Zur Grundbestimmung des Sinn-Begriffs bei Wilhelm Gräb Schon als neuberufener Professor für Praktische Theologie an der HumboldtUniversität zu Berlin stellt Wilhelm Gräb seine Position geschickt so vor, dass er den Ort seines künftigen Wirkens verbindet mit dem für ihn so zentralen Begriff ,Sinn‘: Berlin, diese multireligiöse und „multikulturelle“ Metropole par excellence, sei, so Gräb, nicht weniger denn als ein „Modell“ zu verstehen, als ein „,Modell‘ für eine öffentliche Kirche der Sinnerfahrung und Wertevermittlung“5 – und das täte Not gerade angesichts alldrohenden Sinnverlustes im Zeichen spätmodernen6 Menschseins. Dieser Gedanke ist für Gräb so gegen-

4 Hier steht deutlich erkennbar der Religionsbegriff von Ulrich Barth im Hintergrund; vgl. im Überblick seinen Aufsatzband: Ulrich Barth (Hrsg.), Religion in der Moderne, Tübingen 2003. 5 Wilhelm Gr b, Religion in Berlin, in: Pastoraltheologie 90 (2001), 134–151, 139. 6 Gräb selbst spricht durchgängig von „Moderne“, wo er eine historische Gegenwart seit den 1990er Jahren im Blick hat. Ich bevorzuge im Folgenden, stattdessen den Begriff „Moderne“ der 19. Jahrhundertwende vorbehalten sein zu lassen und für eine historische Gegenwart spätestens seit den gesellschaftsanalytischen Umbrüchen der späten 1960er Jahre und der Dekon-

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wartstauglich, wie er sich auf eine breite Berliner Tradition und einen großen Namen berufen kann: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher und seine „Neubeschreibung des christlichen Glaubens als einer Sache sinnbewußter Weltanschauung und freiheitsbewußter Weltdistanz“7. Er bildet das Grundgerüst, auf dem Gräb nicht weniger als eine neue Fokussierung der gesamten Theologie in Orientierung am ,Sinn‘ und seiner zahlreichen Komposita fordert – mit unmittelbaren Konsequenzen für Praktische Theologie: Sie solle nun „[n]icht normative Vorgaben für Predigt, Unterricht und Seelsorge machen, sondern zeigen, wie die religiöse Lebensansicht und Sinneinstellung nach allen Regeln der Kunst zur Mitteilung gebracht werden kann“8; alles andere sei zu verstehen als ein drohend hängendes Damoklesschwert des Selbstmissverständnisses. Praktische Theologie, die für Gräb mit Schleiermacher auf die Kirche und ihr Handeln orientiert ist (und d. h. auf ,Mitteilung religiösen Bewusstseins‘), täte in diesem Sinne gut daran, sich eine anthropologisch induktive statt einer dogmatisch deduktiven Bewegung zu eigen zu machen. Denn „[d]a [in der Kirche] wird von Gott geredet, als dem allgemeinen Grund individueller Selbstkompetenz und kommunikativen Freiheitsbewußtseins, von Sinngründen und Sinnabgründen.“9 Kommunikation und Mitteilung bedeuten für Gräb eine Schwerpunktverschiebung hin zum symbolischen Gehalt dessen, was er unter ,Sinn‘ versteht, gemessen daran, welche individuellen Einstellungen Menschen gegenüber dem ,Sinn ihres Lebens‘ pflegen: „Worauf es eben nur ankäme, daß die Kirche sich auch als selbstverständlichen Ort kulturellen Austauschs, lebendiger Gemeinschaft, symbolischer Kommunikation über unsere Sinneinstellungen und Lebensformen begreift“10. Dann hätte nach Gräb christliche Religion und dann hätte Kirche in der Zeitenwende der Jahrtausende ihren Ort in der Gesellschaft, wenn es ihr gelänge, sich am Realismus etwa des Berliner Theodor Fontane (1819–1898) ein Beispiel zu nehmen und im Glauben Gott und die (Mit-)Menschen unter dem Vorzeichen eines sinnvollen Lebens zusammenzudenken: So sei etwa „[e]xistentiell relevant am Christentum […] für Fontane der Vorsehungsglaube“ gewesen, d. h. „die Sinndeutung der Lebenserfahrungen unter der Voraussetzung des Begleitetseins von Gott. Dieser Glaube, eine bestimmte Kultur des Verhältnisses zu den transzendenten Sinnbedingungen des Lebens, die Liebe zu Gott, welche die Liebe zum

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struktion damit verbundener gesellschaftstypischer Monolinearitäten akkurater von „Post“bzw. „Spätmoderne“ zu schreiben. Gr b, Religion in Berlin, 142. Gräb bezieht sich hier in toto und ohne konkreten Ver- oder Hinweis auf Schleiermacher, Über die Religion. Gr b, Religion in Berlin, 143. AaO., 143. Ebd.

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Nächsten einschließt und fördert, ist es, wodurch das protestantische Christentum seine Lebensdienlichkeit gewinnt.“11

Die Begriffe „Sinn“ und „Gott“ treffen sich für Gräb dort, wo sein Begriff von „Religion“ eins wird mit dem „existentiellen Grundgefühl der Dankbarkeit“ – oder, mit Adolf von Harnack (1851–1930), dem anderen großen Berliner Gewährsmann dieser Antrittsvorlesung: Es geht Praktischer Theologie und Kirche um den „Punkt“ des christliches Glaubens, „an dem er angesichts einer zunehmend säkularen, entkirchlichten Welt Bedeutung für die Sinn-jorientierung der Menschen behalten und in seiner Lebensdienlichkeit erfahren werden kann“, es geht mithin um den „Gedanken der Gotteskindschaft, ,das Bewußtsein in Gott geborgen zu sein‘12“13. Seine Abschiedsvorlesung14 gestaltet Wilhelm Gräb ähnlich grundsätzlich15 und hinsichtlich seines explizit liberaltheologischen Ansatzpunktes beim Individuum in deutlicher Klarheit. Entsprechend formatiert er resümierend sein Verständnis von Theologie als „Lebenssinndeutung“ mit klarer Fokussierung auf ,den Sinn‘. War die Bewegung der Antrittsvorlesung noch auf den Sinn-Begriff ausgerichtet, der an ihrem Ende bedacht wurde, macht Gräb hier den Sinn-Begriff gleich im zweiten Satz zum Ausgangspunkt seiner folgenden Überlegungen: „Deutlich machen möchte ich, dass und wie die Theologie es mit grundlegenden Lebensfragen zu tun hat, mit der Frage nach dem Sinn des Lebens und was das Ganze überhaupt soll.“16 ,Der Sinn‘ steht hier als Scharnier zwischen Individuum und Gott mit deutlicher noetischer Priorisierung des Individuums – auch noch während der etwas eigentümlich unbegründet wirkenden Kontroverse um die Legitimität einer ,Öffentlichen Theologie‘.17 Neben dem Berliner Johann Joachim Spalding (1714–1804)18 sind es vor allem philosophisch orientierte Gewährsmänner wie (eher en passant) Jürgen Habermas (*1929)19, Charles Taylor (*1931)20 und Paul Tillich (1886–1965)21, mit 11 12 13 14 15

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AaO., 147. Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, Gütersloh 1999, 90. Gr b, Religion in Berlin, 148 f. Wilhelm Gr b, Lebenssinndeutung als Aufgabe der Theologie, in: ZThK 113 (2016), 366–383. Vgl. den ersten Satz: „Die Theologie ist als Ganze, in allen ihren Disziplinen, der Lösung einer praktischen, ins Leben greifenden Aufgabe zugeordnet. Das hat ihr Friedrich Schleiermacher ins Stammbuch geschrieben. Deshalb will ich als Praktischer Theologe etwas zum Ganzen der Theologie und ihrem Lebensbezug sagen.“; aaO., 366. Ebd. Hervorhebung im Original. Als ahnte Gräb selbst, dass sein eigentliches Anliegen im Fortklang seiner Vorlesung verschwindet, ist es ihm doch zum Abschluss dieser aufgeworfenen Kontroverse um die Legitimität „Öffentlicher Theologie“ wichtig, zu betonen: „Ich habe wahrlich nichts gegen das Bemühen der Theologie, eine öffentliche Theologie sein zu wollen. Im Gegenteil. Aber dieses Bemühen müsste von der Öffentlichkeit des religiösen Bewusstseins am Ort des Individuums ausgehen.“; aaO., 369. Vgl. aaO., 369 f. Vgl. aaO., 371. Vgl. aaO., 371 ff. Gräb bezieht sich hier sehr global auf Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt am Main 2012.

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denen Gräb seine Annahme eines nachaufklärerisch-gesellschaftlichen Sinnverlustes erklärt und dessen Wiedergewinnung von der (Praktischen) Theologie fordert.22 Zwar mutet es etwas eigenartig an, wie Gräb immer wieder eigene Vorurteile auf die Negativfolie einer von ihm ausgemachten dogmatistisch-normativen Theologie überträgt – etwa wenn er ohne Begründung oder auch nur Anmerkung behauptet: „Von einem säkularen Zeitalter […] redet Taylor am Ende vielleicht doch j nur deshalb, weil er feststellen muss, dass immer mehr Menschen den traditionellen Kirchenglauben nicht teilen, die theistische Vorstellung vom Göttlichen nicht mitmachen und sich den Verpflichtungsansprüchen religiöser Institutionen entziehen.“23 Nichtsdestotrotz kann sich Gräb auf eine solide empirische Basis stellen, wenn er im Anschluss an die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung24 und eine ihrer Vorgängerstudien25 eine „Neuformatierung von Lebensstilen“ in gegenwärtigen spätmodernen Kontexten feststellt, „von denen man sich Selbstfindung und eine gesteigerte Sinnerfahrung verspricht. Es gewinnt die gelebte Religion überhaupt jene Auffassung von sich selbst, wonach sie auf der Selbst- und Sinndeutungskompetenz der Individuen aufbaut.“26 Entscheidend ist für Gräbs Argumentation wie für seine Vorwürfe, dass hier, in der Netz21 Vgl. Gr b, Lebenssinndeutung als Aufgabe der Theologie, 377. Es ist vor allem Tillichs Erörterung der religiösen Frage der Menschen der Gegenwart des frühen 20. Jahrhunderts, die Gräbs Fragerichtung prägt. Vgl. Paul Tillich, Nichtkirchliche Religionen (1929), in: Paul Tillich/ Renate Albrecht/Ingeborg C. Henel (Hrsg.), Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie (Gesammelte Werke Bd. 5), Stuttgart 1978, 13–31, 22: „Welches ist die Frage des modernen Menschen? Es ist nicht die Frage des antiken Menschen, auch des spätantiken der christlichen Zeit – die Frage nach der Erlösung. Es ist nicht die Frage des griechischrussischen Menschen – die Frage nach dem Leben, das den Tod überwindet. Es ist nicht die Frage nach der höheren Natur, in der diese Natur aufgehoben und vollendet ist. Es ist nicht die Frage nach dem gnädigen Gott, die der Protestantismus stellte, sondern es ist die Frage nach dem Sinn:“ Entscheidend ist die Negativfolie der Angst, die moderne Menschen auf der Suche nach Sinn antreibe: „In jedem Menschen ist beobachtbar eine tiefe Lebensangst, eine Angst, die nicht etwa darauf beruht, daß man das Leben verlieren kann, die etwa mit Todesangst übersetzt werden könnte. Das gerade ist sie nicht, sondern sie ist Lebensangst, nämlich Angst, seinen Lebenssinn zu verlieren.“ Es ist die „Möglichkeit, sein Sein zu verlieren, den Sinn zu verfehlen, den das Sein hat“, die „im tiefsten die Lebensangst schafft“ (aaO., 23). 22 Im Hintergrund dieser und aller Überlegungen Gräbs der jüngsten Zeit steht deutlich erkennbar und explizit erwähnt, wenn auch inhaltlich nur in einer Fußnote angedeutet, das weiter Verbreitung unter Theolog:innen sich erfreuende Buch des Philosophen Volker Gerhardt, Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München 2014. Das wird besonders deutlich an Gerhardts Gleichsetzung der Begriffe „Gott“ und „das Ganze“ im Sinnbegriff; vgl. dazu insbes. sein Kapitel 5 (209–266). 23 Vgl. Gr b, Lebenssinndeutung als Aufgabe der Theologie, 372 f. 24 Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.), Engagement und Indifferenz, Hannover 2014. 25 Christian Stegbauer u. a., Gemeinde in netzwerkanalytischer Perspektive. Drei Beispielauswertungen, in: Heinrich Bedford-Strohm/Volker Jung (Hrsg.), Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung; die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover/Gütersloh 2015, 400–435. 26 Gr b, Lebenssinndeutung als Aufgabe der Theologie, 373.

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werkstudie zur fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung und dort vor allem im Beitrag der Tübinger Praktischen Theologin Birgit Weyel, zum ersten Mal bedacht worden sei, „dass Menschen die von ihnen selbst im religiösen Bezug verstandene Sinnfrage in ihre lebensweltliche Kommunikation einbeziehen, auch wenn sie sie oft genug im Hintergrund der Aufmerksamkeit belassen“ – wie reflektiert auch immer. Bemerkenswert ist das für Gräb, wo er mutmaßt: „Es könnte sein, dass man über die Sinnfrage genau deshalb in kirchen- und religionssoziologischen Untersuchungen leicht hinweggegangen ist, weil man meinte, sie sei theologisch unerheblich oder, auch das hat es gegeben, theologisch illegitim.“ Wenn es ,aufgeklärter Theologie‘ folglich vor allem darum gehen solle, „für die aus dem gelebten Leben kommenden religiösen Sinndeutungsaktivitäten die Augen zu öffnen“27, erhält auch der Titel der Abschiedsvorlesung seine konkrete Bedeutung, und zwar zunächst negativ und polemisch abgrenzend: Auf die selbstgestellte Frage unter dem vierten Überschriftenpunkt „Lebenssinndeutung als Aufgabe der Theologie, wie ist das nun zu verstehen?“ fällt die Absage klar aus: „Gewiss nicht so, dass die Theologie von oben herab, gar als Sprachrohr der Kirche, über den Sinn des Lebens zu belehren hätte. Die Sinnfrage ist nicht von der Art, dass sie sich im doktrinalen Stil verhandeln ließe.“ Vielmehr gelte es, positiv gewendet, durchaus mit dem Anspruch der Bescheidenheit und schlicht, nachzuvollziehen, was es für das je konkrete Individuum bedeutet, „an der Fülle des Lebens teilzuhaben oder das Gefühl ertragen zu müssen, dass das Leben jeden Inhalt verloren und keine Bedeutung mehr für mich hat“28. Gräb folgt dann auch weniger Martin Luthers Frage nach dem ,gnädigen Gott‘ denn vielmehr Martin Walsers Ahnung, „dass Gott fehlt und wir ihn brauchen“29. Ihr spürt Gräb nach auf der Suche nach dem verloren gegangenen ,Sinn‘, und er fragt mit Walser weiter: „Ist diese Ahnung nicht da, genau in dem merkwürdigen Sinnvertrauen, aus dem unser Lebensmut kommt? Trotz der beängstigenden Ungewissheit, trotz des Ungeheuren, von dem wir wissen, dass es uns treffen kann und treffen wird, glauben wir doch an das Leben. Trotz der Misserfolge und Enttäuschungen, trotz Leid, Krankheit und Tod, lieben wir doch das Leben. […] Was trägt unser Lebenssinnvertrauen? Woher kommt dieser unversiegliche Lebensmut?“30

Antworten auf diese Fragen zu entwickeln wäre, so Gräb in seinem akademischen Abschlussplädoyer, die Aufgabe der Theologie als Arbeit an „Lebenssinndeutung“. Wo sie diese zu finden sich auf den Weg mache, wäre sie 27 AaO., 374. 28 AaO., 377. 29 AaO., 382. Vgl. Martin Walser, Über Rechtfertigung, eine Versuchung, Reinbek bei Hamburg 2012, 33: „Wer sagt, es gebe Gott nicht, und nicht dazu sagen kann, dass Gott fehlt und wie er fehlt, der hat keine Ahnung. Einer Ahnung allerdings bedarf es.“ Vgl. dazu auch die Beiträge in Jan-Heiner T ck (Hrsg.), Was fehlt, wenn Gott fehlt?, Freiburg im Breisgau 2013. 30 Gr b, Lebenssinndeutung als Aufgabe der Theologie, 382.

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Theo-logie und religiöse Rede als „Rede von Gott zum Verweis auf den unbedingten Grund des Sinns, aus dem heraus wir unser Leben führen.“31 Diese Rede von einem mit dem unbedingten Grund des Lebenssinns gleichgesetzten Gott verbindet Gräb – etwas überraschend – mit der Frage nach ,Wahrheit‘ und imaginiert eine liberale Theologie, die sich vor der Wahrheitsfrage entsprechend nicht zu scheuen brauchte, wäre ihr Geschäft des Bemühens um die Lebenssituationen und -fragen der Menschen nur redlich: „Die Wahrheitsfrage klammert sie dabei nicht aus. […] Eine liberale Theologie setzt darauf, dass sich allen, die wahrhaftig nach dem Grund der ihr Leben tragenden Sinngewissheit suchen, irgendwann und irgendwo auch die Wahrheit zeigen wird.“32 In dieser appenditiven Weise prägt die liberaltheologisch spätestens mit Ulrich Barth (*1945) geläufige Umschreibung Gottes33 als eines abstrakten Sinn- oder Ideengaranten34 die theologischen Publikationen Wilhelm Gräbs grundsätzlich. Noch vor seiner Berliner Zeit fällt dabei der im Wortsinne kirchen-,kritische‘, praktisch-theologische Ton auf, vor allem in seiner in 17 Kapiteln auf alle denkbaren Teildisziplinen ausgreifenden „Praktischen Theologie gelebter Religion“35, verfasst noch an der Ruhr-Universität Bochum. Zumal im Vorwort umreißt Gräb hier in deutlicherer theologischer und philosophischer Klarheit, was mit dem Begriff „Sinn“ gemeint und für sein Verständnis von Theologie impliziert ist. Mit den ersten drei Worten seines – 31 Ebd. 32 AaO., 383. 33 Eine würdigende Darstellung der Position Hartmut von Sass’ zur gegenwärtig diagnostizierbaren Enge oder Weite eines Theologiebegriffs drängt sich hier zwar auf, soll aber, weil dieser Studie als systematisch-theologische Grundfrage themenfern, nur anhand der ersten drei Sätze seiner Habilitationsschrift in Erinnerung gerufen, als bemerkens-wert empfohlen und ansonsten nicht weiter diskutiert werden: „Theologie handelt von Gott – und theologische Bücher sind nur dann theologisch, wenn sie das auch tun. In der gegenwärtigen Theologie werden selten theologische Bücher geschrieben. Die meisten handeln nicht von Gott, sondern von ,Gott‘, nicht von der für Menschen heilsamen Gegenwart Gottes, sondern von ihren religiös-kulturellen Symbolisierungen, nicht von einem Gott ohne Anführungszeichen, sondern einem Gott, der in ,Gott‘ gefangen bleibt“; Hartmut von Sass, Gott als Ereignis des Seins. Versuch einer hermeneutischen Onto-Theologie, Tübingen 2013. 34 Vgl. zum schulemachenden Diktum von Religion als „Deutung von Erfahrung im Horizont der Idee des Unbedingten“: Ulrich Barth, Was ist Religion? Sinndeutung zwischen Erfahrung und Letztbegründung, in: Ulrich Barth (Hrsg.), Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 3–27, 10 und die zahlreiche Kritik daran nur exemplarisch anhand von Tom Kleffmann, Religion als menschliche Deutung. Über Sinn und Grenze eines aktuellen religionsphilosophischen Ansatzes, in: Ingolf U. Dalferth/Hans-Peter Grosshans (Hrsg.), Kritik der Religion: zur Aktualität einer unerledigten philosophischen und theologischen Aufgabe 2006, 285–300; Hartmut von Sass, Gotteslehre 2017. Einschätzungen aus systematisch-theologischer Sicht, in: Julia Koll/Alexander Deeg/Kathrin Oxen (Hrsg.), Gott zur Sprache bringen. Die homiletische Herausforderung neu buchstabiert, Rehburg-Loccum 2018, 31–65; oder Ulrich H. J. Kçrtner, Einführung in die theologische Hermeneutik, Darmstadt 2006, 28–31. 35 Wilhelm Gr b, Lebensgeschichten – Lebensentwürfe – Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 22000.

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im Grunde als Orientierungsleitfaden für Kirche36 angesichts der Herausforderungen der Moderne (sic!) angelegten – Buches ist die liberaltheologische Ausgangsrichtung zwar auch hier schon ganz zu Anfang dominant: „Menschen suchen Sinn“37. Allerdings entwickelt Gräb hier im Fortgang eine behutsam-umfassendere Theorie des ,Sinns‘ und definiert im Kontext der ersten Absätze gleich zwei Mal: „Sinn ist Beziehung, ist Zusammenhang, ist Verbundenheit“38. Dieser ,Sinn‘ sei den Menschen nicht zuletzt der Postmoderne verlustig gegangen, und gerade sie suchten ihn „in der Unübersichtlichkeit unseres Heute mehr als vielleicht jemals zuvor.“39 Mag jedenfalls theoretisch gelten, dass die Funktion des ,Sinns‘ die Erschließung von Zusammenhängen ist,40 kann ein ,Sinn‘, der für Gräb (mit Tillich) ganz praktisch verloren gehen kann und immer wieder geht, sich nicht mehr mit seiner theoretischen Einbettung in Zusammenhänge begnügen, weil er gerade sie nicht mehr erschließen kann. Angesichts einer immer diffuser werdenden Welt gelten in Gräbs Sinntheorie auch systemische Zusammenhänge nicht mehr als Garanten eines ,Ganzen‘ resp. eines ,Sinns‘, denn „diese Zusammenhänge haben sich in einer Weise vervielfacht, daß wir den Zusammenhang zwischen den Zusammenhängen nicht mehr fassen können. […] Der umgreifende Zusammenhang, von dem her unserem Leben sein Sinn zuwachsen könnte, hat sich in sich selber jedenfalls dergestalt vervielfältigt, daß wir ihn als einen Zusammenhang nicht mehr zu erkennen vermögen. Darin liegt dann auch der Grund, daß die umfassenden religiösen Lebens- und Weltdeutungen, die uns aus früheren Zeiten überkommen sind, so auch die des christlichen Glaubens, vielfach nicht mehr einleuchten, jedenfalls nicht als Generalschlüssel für unsere Frage nach dem Sinn des Lebens.“41

Auf der Grundlage dieser lebenssinnpessimistischen Dekadenzvorstellung des ,Sinn‘-Verlustes42 der Spätmoderne sieht Gräb Kirche umso stärker gefordert, ihn erneut zu generieren. Sie ist gefragt, wo und weil sie es mit Reli36 „Von der Kirche ist heute entschlossene Klugheit und neuer theologischer Ernst gefordert, damit sie ihre gesellschaftliche Aufgabe der Darstellung und Vermittlung religiösen Sinns wahrnehmen kann. Dieses Buch will dabei helfen.“; aaO., 20. 37 AaO., 13. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Vgl. ebd.: „In theoretischer Hinsicht, so könnte man sagen, verstehen wir etwas in seinem Sinn schon hinreichend, wenn wir es überhaupt in einen größeren Zusammenhang einbeziehen können: einen Satz in den Gesamtzusammenhang einer Rede, ein Werkzeug in den Gesamtzusammenhang eines Fertigungsablaufs.“ 41 AaO., 14. 42 Vgl. zu dieser fundamental-anthropologischen Setzung, die in Gräbs Werk passim begegnet, auch generell das dritte Kapitel aus Wilhelm Gr b, Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002, das mit Indizien und Interpretationsangeboten dieser Prowie Diagnose delikat-disparater und -desolater Lebensverhältnisse (spät-)modernen Menschseins nicht spart.

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gion zu tun hat; Religion wiederum ist das Feld par excellence, auf dem Sinnfragen als Erfahrungen von Lebensbrüchen verhandelt werden und ,Sinn‘ sich in Gestalt von ungerichteter, transzendentaler Sehnsucht Bahn bricht: „Die Religion […] kennt […] die Sehnsucht nach dem Vollkommenen, ist mehr Frage als Antwort, eher eine Bewegung der Suche und des unaufhaltsamen Problematisierens als die Gewißheit des Gefundenhabens und der fertigen Antworten. Diese Suche ist letztendlich die Suche nach Sinn. Wenn die Moderne je riskant gewesen ist, dann eben deshalb, weil sie den Menschen den Sinn entzog, der doch erst ihr Dasein zur bewußten Existenz aufwertet. […] Nichts kennzeichnet die Moderne tiefenschärfer als die Suche nach dem (verlorenen) Sinn.“43

Kirche leidet nach Gräb nicht minder als andere organisierte Sinndeutungsgeneratoren unter den Auswirkungen einer fragilen Pluralität; „[d]ie symbolische Welt- und Lebensdeutung der christlichen Religion hat genau damit auch die Funktion eines kollektiv verbindlichen Sinn-Daches für unsere Lebensführung eingebüßt“44. Entscheidend wird hier der liberaltheologisch geprägte Begriff der „Deutung“, wo und weil nach Gräb die Selbstverständlichkeit von Glaubensaussagen in und mit der Schrift mit ihrem ,Sinn‘ ihre Selbst-Verständlichkeit eingebüßt habe.45 Zwar müsse die Beobachtung des generell religiösen Sinnverlustes der Menschen der Postmoderne „keineswegs heißen, daß der christlich-religiöse Deu-jtungshorizont bedeutungslos geworden wäre und keine sinnorientierende Kraft mehr von ihm ausgehen könnte. Es ist inzwischen nur so, daß die Sätze des Glaubens über die Welt, über die Geschichte der Menschen und die unseres eigenen Lebens von uns explizit in ihrem symbolischen Sinn verstanden sein wollen. Sie haben für uns nur Sinn und sie geben uns in unserem Leben nur Sinn, wenn wir sie nicht als objektive Wirklichkeitsbehauptungen nehmen, sondern bewußt als Deutungen, vermöge derer wir die Welt, die Natur und die Geschichte, die an sich keinen Sinn haben, in einen solchen für uns überführen können.“46

Was so ,Sinn‘ sein kann, hinge also allein davon ab, was auf einer individuellen Ebene eine Sinnzuschreibung erfährt. Damit das nicht objektivistisch missverstanden werden möge, gebraucht Gräb hier erneut den Wahrheitsbegriff 43 Wilhelm Gr b, Sinnfragen. Transformationen des Religiösen in der modernen Kultur, Gütersloh 2006, 8. 44 Ders., Lebensgeschichten – Lebensentwürfe – Sinndeutungen, 17. 45 Vgl. ders., Sinnfragen, 72: „Was hält letztlich am Leben? Das ist die zentrale religiöse Lebensfrage. Sie bricht radikal auf, wenn zerbricht, was Halt geben konnte und gegeben hat: Familie, Partnerschaft, Gesundheit, Arbeit. Was hält am Leben, wenn das alles oder auch nur einiges davon verloren geht, wenn Sinnzusammenhänge, die Orientierung gaben, sich verdunkeln, alles Denken und Handeln ins Leere zu gehen scheinen?“ 46 Ders., Lebensgeschichten – Lebensentwürfe – Sinndeutungen, 17 f., Hervorhebungen im Original.

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zur Legitimation seiner Sinntheorie: „Den religiösen Deutungssinn religiöser Aussagen über Gott und die Welt hervorzuheben, heißt in keiner Weise, sie abzuwerten bzw. die Möglichkeit ihrer Wahrheit von vornherein zu bestreiten. Es ist damit vielmehr zum einen gesagt, daß die Wahrheit des Glaubens nicht mit einer Tatsachenwahrheit verwechselt werden darf. […] Die religiöse Wahrheit ist eine Sinn- und Beziehungswahrheit.“47 Das führt in den Kern seiner Kirchen- und Theologie-Kritik als gefragte Deutungsinstanzen von Religion und d. h. ,Sinn‘; und dass sie gefordert sind, gilt für Gräb nicht zuletzt in seelsorglicher Perspektive:48 „Aufgabe der Kirchen, so sagen wir zu Recht, ist die cura animarum, die Sorge für den Sinn, die Sinn- und Wertvermittlung. […] Die religiösen Sinnerwartungen sind groß. Die Kirchen reagieren jedoch bislang nur unzulänglich darauf. […] Zu zaghaft jedenfalls fällt bislang ihre Umstellung aus auf die konkreten Lebenslagen der Menschen und die Plausibilitätshorizonte gegenwärtigen Bewußtseins. Die Zeitgenossen sind eben nur noch selten bereit, einen durch Bibel, Lehre, kirchliches Bekenntnis gleichsam objektiv vorgegebenen Sinnzusammenhang für unsere Welt und das eigene Leben anzuerkennen […]. Zu tief sitzen die Entzauberungen, welche die Naturwissenschaften, aber auch die Wissenschaften vom Menschen, hinsichtlich unserer Wirklichkeitsauffassungen ausgelöst haben.“49

Wo ,Sinn‘ wie hier zum Synonym für „Plausibilität“ wird, seien Kirche und Theologie umso mehr gefragt, die im Grunde simple Antwort auf die Frage nach ,Zusammenhängen, Beziehungen und Verbundenheit‘ im Angesicht derer Verluste50 zu geben: „Du bist gewollt, du bist wertgeachtet, dir kommt eine unverlierbare Würde zu, dein Leben war auf keinen Fall umsonst. Das ist der Trost des Evangeliums. Das ist die Antwort des christlichen Glaubens auf die Sinnfrage.“51 Entsprechend versucht Gräb, eine angenommene allgemein-menschliche Suche mit dem Proprium der Theologie zu verbinden, wenn er die Aufgabe der cura animarum generalis gerade in der Mitteilung dieser Grundbotschaft verstanden wissen will: „Dazu ist die Kirche da, daß es einen solchen Ort in der Gesellschaft gibt, an den ich auf alle Fälle zurückkommen kann, an dem ich ein offenes Ohr finde, an dem ich den 47 AaO., 18. 48 Freilich kann, das sei hier nur als poimenische Randnotiz bemerkt, gerade dieser These einer der Grundlagentexte der kontemporären Seelsorgeliteratur par excellence entgegengehalten werden, nach dem Glaube gerade nicht der Sinnvergewisserung dient; vgl.: Henning Luther, Die Lügen der Tröster. Das Beunruhigende des Glaubens als Herausforderung für die Seelsorge, in: PrTh 33 (1998) 3, 163–176. 49 Gr b, Lebensgeschichten – Lebensentwürfe – Sinndeutungen, 17 (Hervorhebung FH). 50 „Wenn wir vom Sinn des Lebens sprechen, somit auch von unseren Sinnerwartungen und Sinnkrisen, dann ist ebenfalls Beziehung, Zusammenhang, Verbundenheit oder eben deren Verlust, Verdunkelung und Zusammenbruch gemeint“; aaO., 13. 51 AaO., 19.

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Trost des Evangeliums höre: vom Mensch gewordenen Gott, damit von der göttlichen Würde eines jeden Menschenlebens, auch des meinigen – trotz aller Schuld und Verfehlung.“52

Deutlich wird: Auch so gewendet geht es am Gesellschaftsort Kirche, wenn es um „Gott“ geht, mit aller liberaltheologischer Wahrheitsvergewisserung um ein Symbol53 der Selbstdeutung, stehen ,Sinn‘ und „Gott“ in einem äquivalenten Metaphernverhältnis des menschlichen Selbstbezugs: 52 AaO., 19. Dieses Zitat bietet gleichzeitig eine Kurzfassung dessen, was Gräb unter dem Begriff und der Funktion von „Rechtfertigung“ versteht. Davon steht weiter unten mit Blick auf Gräbs Predigtverständnis noch Ausführlicheres. 53 Wenn Gräb hier, zuvor und im Folgenden mit den Begriffen „Symbol“/„symbolisch“ zitiert wird, muss man ihn wohl auf dem Hintergrund der durchdachten Symboltheorie des (,frühen‘) Tillich, insbesondere seines Aufsatzes „Das religiöse Symbol“ aus dem Jahr 1928 verstehen; vgl. neben der heuristisch hilfreichen Unterscheidung der vier grundlegenden Merkmale eines Symbols – Uneigentlichkeit; Anschaulichkeit; Selbstmächtigkeit und Anerkanntheit nach Paul Tillich, Das religiöse Symbol, in: Paul Tillich/Renate Albrecht/Ingeborg C. Henel (Hrsg.), Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie (Gesammelte Werke Bd. 5), Stuttgart 1978, 196–212, 196 f. – für diese Arbeit besonders seine Ausführungen zum Symbol ,Gott‘: „Die göttlichen Wesen und das j höchste Wesen, Gott, sind Vertretungen des im religiösen Akt Letztgemeinten. Sie sind Vertretungen; denn das Unbedingt-Transzendente geht über jede Setzung eines Wesens, auch eines höchsten Wesens, hinaus. Sofern ein solches gesetzt ist, ist es im religiösen Akt auch wieder aufgehoben. Diese Aufhebung, dieser dem religiösen Akt immanente Atheismus ist die Tiefe des religiösen Aktes. Wo sie verlorengeht, entsteht eine Vergegenständlichung des Unbedingten, nie Gegenständlichen, die zerstörerisch ist ebenso für das religiöse wie für das geistige Leben. Es entsteht ein ,Ding‘ mit widerspruchsvollen Merkmalen, das in Wahrheit ein ,Unding‘ ist und dessen Setzung zu einem religiösen Werk […]. Dieses Schweben zwischen Setzung und Aufhebung des religiösen Gegenstandes drückt sich im lebendigen Gottesgedanken unmittelbar aus. Zwar der religiöse Akt meint, was er meint, eigentlich. Er meint Gott, aber im Worte ,Gott‘ schwingt ein doppeltes: das Unbedingt-Transzendente, Letztgemeinte, und ein irgendwie gedachtes Objekt mit Eigenschaften und Handlungen. Das erste ist nicht uneigentlich, ist nicht symbolisch, sondern ist eigentlichst das, was es sein soll. Das zweite dagegen ist in der Tat symbolisch, uneigentlich. Dieses zweite aber macht den anschaulichen Inhalt des religiösen Bewußtseins aus. […] Das Wort ,Gott‘ läßt also im Bewußtsein einen Widerspruch erscheinen zwischen einem uneigentlich Gemeinten, das Bewußtseinsinhalt ist, und einem eigentlich Gemeinten, das von diesem Inhalt vertreten wird. Im Wort ,Gott‘ ist enthalten zugleich das Vertretende, und dieses, daß es ein Vertretendes ist. Es hat die Eigentümlichkeit, seinen eigenen Vorstellungsinhalt zu transzendieren: […] Gott als Gegenstand ist eine Vertretung des im religiösen Akt Letztgemeinten, aber im Worte ,Gott‘ ist diese Gegenständlichkeit zugleich negiert, dieser Vertretungscharakter mitgemeint.“; aaO., 206 f. (Hervorhebungen im Original). Tillich beschreibt damit „[d]ie erste und grundlegende Schicht der religiösen Gegenstandssymbolik […] nach Brechung des Mythos“ (aaO., 206) und bezieht sich damit explizit auf die „Theorie der mythischen Symbole“ (aaO., 202) von Ernst Cassirer (1874–1954). Aus dessen dreiteilgier „Philosophie der Formen“ (Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache, Hamburg 2010; ders., Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, Hamburg 2010; ders., Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, Hamburg 2010; vgl. auch ders., Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen, Hamburg 2010) ist für diese Frage insbesondere Bd. 2 zu Fragen des ,mythischen Denkens‘ und darin insbesondere die Erkenntnis

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„So wir diesem absoluten Sinn einen Namen geben, reden wir von Gott, was aber keineswegs heißt, daß wir ihn nun wieder gegenständlich oder personhaft als ein jenseitiges Wesen vorstellen müssen. […] So oder so reden wir symbolisch, also sinndeutend von dem, was sich objektiv nicht feststellen läßt und gleichwohl der Grund des Grundes ist, daß wir in tragenden Beziehungen stehen, zu uns selbst und zur Welt, in der wir leben.“54

Dabei gilt paradoxerweise zweierlei im Sinnsystem von Gräb: Einerseits ist ,Sinn‘ nichts, worüber verfügt werden könnte: „Sinn wächst von innen her. Sinn ist nicht objektivierbar.“55 Andererseits kann ,Sinn‘ – und das ist ja die Hauptlegitimation der Gräb’schen Sinntheorie – sehr häufig und unter den Vorzeichen der Spätmoderne nahezu zwangsläufig verlorengehen und ist also ,Sinn‘ etwas, das ein Mensch jedenfalls häufig negativ ,hat‘, indem er ihn nicht „hat“. Deswegen braucht es in Gräbs System eine andere Instanz, die sehr wohl objektivierbar zu sein scheint: Religion. Denn „[w]er Religion hat, dem ist das Selbstgefühl und damit die Sinngewissheit im Metaphysischen verankert. Wer Religion hat, empfindet die Bergung in einer geistigen Wirklichkeit, die nicht verloren gehen kann, was immer auch geschieht. Wer Religion hat, versteht, was gemeint ist, wenn ihm gesagt wird: Du bist nie allein, dein Leben ist auf keinen Fall vergeblich.“56

Hier wird erneut der immer wieder angeklungene Begriff der „Deutung“57 in Verbindung mit Gräbs Religionsbegriff entscheidend, zunächst aufseiten der Menschen, die ,Sinn‘ verloren hätten und ihn suchten. Wenn der Satz gilt:

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der Unmittelbarkeit des Weltzugangs im Mythos mehr denn in allen Formen der Rationalität relevant. Auf dieses nicht unterkomplexe Gedankensystem kann hier nicht weiter eingegangen werden; es lässt sich aber im Internet problemlos eine hilfreiche Darstellung auf knappem Raum (31 Seiten) des religionshermeneutischen Hintergrunds des Cassirerschen Mythosbegriffs durch den Berliner Philosophen Oswald Schwemmer greifen; vgl. Oswald Schwemmer, Die symbolische Existenz des Göttlichen. Mythos und Religion bei Ernst Cassirer. URL: https:// www.philosophie.hu-berlin.de/de/forschung/drittmittelprojekte/ernst-cassirer-nachlassediti on/lehre/index_html/myt1 (Stand: 05. 07. 2018). Vgl. dazu und insgesamt zu Tillichs frühem Symbolbegriff auch die Dissertation von Lars Christian Heinemann, Sinn – Geist – Symbol. Eine systematisch-genetische Rekonstruktion der frühen Symboltheorie Paul Tillichs, Berlin/Boston 2017. Gr b, Lebensgeschichten – Lebensentwürfe – Sinndeutungen, 20. AaO., 19. Ders., Sinnfragen, 72; Hervorhebungen FH. Deutlich schwingt hier der Religionsbegriff des romantischen Schleiermacher mit, wie er sich etwa schrifthermeneutisch (aber im Grunde passim) in der Frage nach der (,lebendigen‘?) Autorität des inneren Gefühls im Gegenüber zur Heiligen Schrift (als „Mausoleum“?) ausdrückt; vgl. die zweite der Reden von Schleiermacher, Über die Religion, 110 [242]: „Nicht der hat [sic!] Religion …“. Es ist dabei ausreichend, das diesbezüglich einschlägige Werk – Wilhelm Gr b, Religion als Deutung des Lebens. Perspektiven einer Praktischen Theologie gelebter Religion, Gütersloh 2006 – allein im ersten der drei Hauptteile unter der Überschrift „Religion als lebensgeschichtliche Sinndeutung“ (15–64) zur Klärung dieses Begriffs mitsamt der vorgenommenen soziohermeneutischen Weichenstellungen zur Kenntnis zu nehmen.

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„Religion deutet das Leben“58, ist damit bei Gräb ein Religionsbegriff vorausgesetzt, der in seiner Weite alles kommunikative Geschehen spätmoderner Kultur hermeneutisch umfassen will: ,Religion‘ ist so verstanden ein „doppelt gestufter kommunikativer Sachverhalt: Zu ihr gehört die Kommunikation über Religion, also die Debatte über den Begriff der Religion. Sie setzt aber in der gesellschaftlichen Realität immer auch religiöse Kommunikation voraus, Symbole und Rituale, in denen sie sich als innere Daseinsgewissheit bildet, also Religion als Kommunikation.“59

Dieser sehr weite, zweifache Religionsbegriff – „Religion 1, dieses unser Grundvertrauen ins Dasein. Und Religion 2, die Vorstellungen, mit denen wir uns deutend zu uns verhalten, eine Sinnspur in unserer Lebensgeschichte zu entdecken versuchen, das, was Halt gibt und Zusammenhalt gewährt auch auf unwegsamen Gelände“60 – gewinnt seine suggestive Berechtigung wie seine generelle Bedeutung durch Berufung auf die oben schon mit Paul Tillich angedeutete Grundangst des ,modernen‘ Menschen und die daraus resultierende Suche nach ,Sinn‘ und wird von Gräb nun angereichert mit Erkenntnissen vor allem des amerikanisch-deutschen Soziologen Thomas Luckmann (1927–2016): „Die metaphysische, religiöse Dimension des Alltags muss uns alltagspraktisch nicht immer bewusst sein. Darauf hat besonders Thomas Luckmann […] aufmerksam gemacht. Längst nicht immer geht es ja im Alltag um die Bewältigung alles verwirrender Krisenerfahrungen. Längst nicht immer ist es deshalb auch so, dass alltagspraktische Sinnorientierungen nur im Rückgriff auf ein metaphysisches Sinnganzes möglich werden. Luckmann spricht von den kleinen und mittleren Transzendenzen, vor die wir uns alltagsweltlich gestellt finden. Gemeint ist unsere zeitliche und räumliche Standortgebundenheit und Begrenztheit, dann die Begegnung mit Fremden, dem Angesicht des anderen.“61

Wo diese kleineren und mittleren Kontingenzen aufbrechen, bricht im Sinne Gräbs ,Sinn‘ weg und die Frage nach dem eigenen Sein als Frage der Selbstvergewisserung und v. a. -deutung als eine nach Individualität auf. Insbesondere angesichts von „Schwellensituationen in den Zwischenfällen des Alltags […], die vor die großen Kontingenzen stellen“62, suchen Menschen Gräb zufolge nach Halt und Zuspruch und entdecken sie in den Symboltra58 AaO., 5. 59 AaO., 18 [Italisierungen im Original]. Mit Blick auf Gräbs Begriffsschärfe auffällig ist, dass er nur drei Seiten später die Relation der Hauptbegriffe dieser definitionsähnlichen Sentenz schadlos umdrehen kann: „Die Praktische Theologie heute braucht eine solche Kommunikation über Religion, wonach uns Religion in der modernen Lebenswelt überall dort begegnet, wo es zur Kommunikation als Religion kommt“ [Unterstreichung FH]. 60 AaO., 53. 61 AaO., 39. 62 AaO., 40.

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ditionen ,der‘ christlichen Religion: „In solchen Fällen braucht es deshalb nach wie vor die Symbolisierungs- und Ritualisierungsleistungen der traditionellen kirchlichen Religionskultur.“63 Der Grund dafür ist ein gemeinanthropologischer: Menschen vergewissern sich ihres Seins angesichts einer ihnen zugeschriebenen Identität nicht minder, als sie bleibend auf der Suche nach genau dieser sind und entsprechende Narrative ihrer selbst entwerfen, d. h. deutend den Verweischarakter von Symbolen als ein ,Mehr‘ in Gegebenem finden. Diese alltägliche Überwindung der Kluft zwischen Selbst-Sein und Selbst-Suche, die als „Differenz“ erfahren wird, überbrückt die Selbst-Deutung alltagsweltlich ganz automatisch und findet so im Alltäglichen nichts weniger denn ,Transzendenz‘:64 „Deutend überwinden wir Differenz. Deutend verhalten wir uns zur Transzendenz. Wir finden z. B. Spuren im Schnee. Kein Lebewesen ist in der einsamen Bergwelt zu sehen. Aber die Spuren können wir deuten. Es muss hier ein Rudel Rehe vorüber gezogen sein, vermutlich auf der Suche nach Nahrung. Oder wir sehen die Tränen im Gesicht des Kindes. Was ihm vorgefallen ist, wissen wir nicht. Auch gibt es uns selber keine Erklärung. Aber wir deuten die Tränen auf den Schmerz hin, den es in sich verspürt, auf Verletzungen, die es erfahren hat. Wir versuchen, uns ein Bild von dem uns Unzugänglichen zu machen, möchten erahnen, wie es in ihm aussieht, was es empfindet, was ihm wohl widerfahren ist. Oder wir erwachen und erinnern uns der Träume der Nacht. Vieles bleibt uns unverständlich, unzugänglich. j Wir hören die Stimme, die unsere unmittelbar eigene ist und doch spricht sie nicht die Sprache, in der wir uns alltäglich verständigen. Diese Zeichen wollen gedeutet sein. Erst auf dem Weg ihrer Deutung erschließt sich uns vielleicht, welche Erfahrungen, welche Wünsche, welche Ängste sich in ihnen auf symbolische Weise Ausdruck verschafft haben. Deutend überwinden wir Differenz. Deutend verhalten wir uns zur Transzendenz. Deutend erschließen wir uns den Sinn dessen, was uns auf direkte Weise unzugänglich bleibt. Die Spuren im Schnee, die Tränen im Gesicht des Kindes, die Träume der Nacht. Besonders dann merken wir, dass unser Leben in seine Deutung drängt, wenn es in unserem alltäglichen Leben zu Unterbrechungen, zu Aufstörungen des Gewohnten kommt. […]65

63 AaO., 41. 64 Man verzeihe mir bitte an dieser Stelle die Länge des folgenden Zitats. Nicht nur wird hier allerdings die Anthropozentrik seines Ansatzes wünschenswert deutlich; auch ist diese Darstellung für einen Einblick gerade in die vor allem immanente Dimension von ,Transzendenz‘ bei Gräb m. E. entscheidend und ihm immerhin selbst so wichtig, dass er der Paraphrase des gleichen Gedankens zwei Buchseiten widmet. Nicht zuletzt auf dem Hintergrund der Diskussion des Differenz-Begriffs für Deleuze halte ich es hier für nicht unwesentlich, auf diese prominente Erwähnung wenigstens des Wortes bei Gräb hinzuweisen. 65 Folgen die erwähnten und wiederkehrenden Hinweise auf Verlusterfahrungen insbesondere in Fragen von „Gesundheit“, „Liebe“ oder „Arbeit“.

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Der Grund dessen liegt in der Struktur des Selbstverhältnisses, das wir sind. Die Struktur unseres Selbstverhältnisses, wonach wir aus unmittelbarer Selbstvertrautheit immer schon leben, uns diese Selbstvertrautheit aber doch nicht direkt zugänglich ist, verweist uns unabschließbar auf den Weg, deutend einzuholen, wie es um unser Leben steht, was es aus macht, worin es seinen Sinn finden kann, woraufhin sich unsere letzten Zwecke versammeln.“66

Wie es um das ,Leben steht und was es ausmacht‘ – d. h. Gräbs Frage nach ,dem Sinn‘ – und wo wie hier ,Sinn‘ und Sein fließend ineinander übergehen, ist in der Folge die Legitimation für Religion und (Praktische) Theologie so gegeben, dass es deren Aufgabe sei, „deutlich [zu] machen, wie die christliche Religion Kontingenz in Notwendigkeit überführt“67 und also ,Sinn‘ stiftete. Gräbs symbolische Sinndeutungstheorie zeichnet sich entsprechend und explizit durch Funktionalität aus: „Praktische Theologie [arbeitet somit] immer auch an einer funktionalen religiösen Interpretation der biblischen Begriffe von Schöpfung und Sünde, Rechtfertigung und Erlösung. D. h., sie versucht, die wesentlichen Gehalte des christlichen Glaubens daraufhin zur Auslegung zu bringen, dass sie sich für die Menschen in ihrer sinnorientierenden Kraft erschließen.“68

3.1.1.2 Zum Predigtverständnis bei Wilhelm Gräb Dieser grundlegenden Funktionalisierung entsprechend konsequent erscheint es, dass Wilhelm Gräbs letzte als werktätiger Professor veröffentlichte Monografie gerade auf dem Feld der Homiletik korrespondierende Antworten auf beobachtete Fragen der Kontingenz gleich welchen Grades im Leben geben will, in deren Annahme sowohl die ,sinn‘- wie auch religionsbegriffliche Kondition seines Ansatzes überhaupt besteht. Gräbs Homiletik bietet dabei gegenüber seinen vorgenannten Ansätzen keine inhaltliche oder hermeneutische Neuerung, zieht allerdings zwei weitere Pole in die Bestimmung des ,Sinns‘ in homileticis ein und nimmt damit eine erstaunliche implizite Umwandlung des klassischen ,homiletischen Dreiecks‘ von Gott–Schrift–Mensch vor: Zur allgemeinen Situationsbestimmung ,des‘ Menschen tritt die Differenzierung in Prediger:innen und Hörer:innen einerseits; deren Bezugspunkt ist andererseits auch bei Gräb bleibend die Bibel. Das homiletische Dreieck, dem im Folgenden nachgegangen wird, hätte Gräb entsprechend die Punkte A–B–C nach dem Schema Hörer:in–Bibel–Prediger:in.69 66 67 68 69

Gr b, Religion als Deutung des Lebens, Hervorhebungen FH. AaO., 43. AaO., 26. Zwar erwähnt Wilhelm Gräb Gott bzw. „Gott“ gelegentlich in seiner Predigtlehre. Es ist allerdings deutlich, dass Gräb Gott bzw. das Wort „Gott“ nicht mehr denn als religiöses Symbol für den die eigene Existenz erschließenden ,Sinn‘ im Blick hat und Gott in diesem Konzept ent-

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3.1.1.2.1 Wilhelm Gräbs Homiletisches Dreieck, Punkt A: Die Hörer:innen Generell kann Gräb auch in seiner Homiletik feststellen: „Das Interesse an religiösen, auf den Sinn des Ganzen von Welt und Leben ausgehenden Sinndeutungen ist groß. Groß ist auch die Bereitschaft, j auf solche Sinndeutungen sich einzulassen, wenn sie dem selbst empfundenen Sinnbedürfnis korrespondieren“70. Der Präzedenzfall der „Attraktivität der Predigt als religiöse Rede“71 für diese Grundannahme ist bei Gräb die Kasualpredigt bzw. jeder Kasualgottesdienst, ausgehend von einem weitestmöglich gedachten ,Kasus‘Begriff: „Die Kasualpredigt […] ist genau dadurch, dass sie sich vom Predigtanlass her darauf einstellt, die Menschen in einer besonderen Situation ihres Lebens auf ihr religiöses Sinndeutungsinteresse anzusprechen, dazu bestimmt, als religiöse Rede realisiert zu werden. Was nun für die Kasualpredigt gilt, und von den Predigenden dort auch am ehesten verfolgt wird72, sollte für jede Predigt gelten.“73

Da alle „Feste im Kirchenjahr […] für die großen, religiös relevanten Themen des Lebens“ stünden, hätten auch – wohl entsprechend Ernst Langes (1927–1974) Idee der homiletischen Bezugspunkte „Großwetterlage“ bzw.

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sprechend keine konstitutive Beteiligung am Predigtgeschehen zukommt. Auch, dass Gräb selbst auf Karl Barths Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes zu sprechen kommt, widerspricht dieser Beobachtung nicht, denn Gott als Akteur der Predigt kommt auch bei Gräbs scheinbar wohlwollender Wiedergabe Barths als Repräsentanten eines breiten protestantischen Traditionsstroms gerade nicht in den Blick, wenn er schreibt: „Das hier leitende Verständnis der Predigt als religiöser Rede weiß sich dabei jedoch in der Kontinuität mit einer evangelischen Predigtlehre, die seit ihren reformatorischen Anfängen alles daran setzt, […] einer Gleichsetzung des Wortes Gottes mit der Bibel bzw. mit der es verkündigenden Predigt entgegenzutreten. Die Vergegenständlichung des Glaubensinhalts als des religiös zentralen Inhalts der Predigt zu vermeiden, war im Grunde auch die Intention von Karl Barths Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes. […] Danach kann das ,Wort Gottes‘ in einem intentionalen Sinn [sic!] gerade nicht gepredigt werden, auch wenn die Predigt sich noch so treu an den biblischen Text zu halten meint. Sehr wohl aber kann das Wort Gottes in der Predigt gehört werden“; ders., Predigtlehre, 37 (Hervorhebungen im Original). Vgl. auch aaO., 94, Anm. 1 und 94 f. Gräbs Umgang mit Barth kann man grundsätzlich so beschreiben: Dass und wo Karl Barth berechtigte Kritik an der Verbalinspiration übt, wie sie ebenfalls seit den „reformatorischen Anfängen“ evangelischer Predigt in der Altprotestantischen Orthodoxie bis heute in evangelikalen Kreisen diesseits und jenseits des Atlantiks gepflegt wird, setzt er damit gleich, dass Karl Barth jeder Möglichkeit, dass (Schrift und) Predigt Wort Gottes sein könne, gewehrt habe. Das halte ich für unlauter. Gr b, Predigtlehre 19 f. Vgl. hinsichtlich der defizitorientierten Situationsbeschreibung des allgegenwärtigen Sinnverlustes auch Gräbs Panoramaaufnahme aaO., 44–50. So die Kapitelüberschrift 4 unter den „Prolegomena“. Vgl. die einer Begründung ermangelnde Behauptung in Gr b, Predigtlehre, 28 Anm. 12: „Jedenfalls ist das inzwischen wieder die Regel – nachdem die Wort-Gottes-Theologie, die dagegen Einspruch erhoben hatte, keine Gefolgschaft mehr findet […].“ Ebd.

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„Situation vor Ort“ – „[a]lle Sonntage des Jahres, alle gottesdienstlichen Gelegenheiten und Predigtanlässe an den festlichen Höhepunkten wie im Alltag […] ihren religionshermeneutisch erschließbaren ,Kasus‘. Bezieht sich die Predigt auf diesen ,Kasus‘, dann ist sie den Menschen nah. […] Dann wird es ihr gelingen, die Religion der Menschen tiefer über sich selbst zu verständigen.“74 Gräb merkt nun allerdings selbst an, dass die Validität dieser theoretischen Vorannahme dort an ihre Grenzen kommt, wo kirchliche Sprache in liturgicis,75 aber vor allem in homileticis grundsätzlich nicht mehr verstanden werde.76 Zwar vermutet Gräb einerseits: „Es ist nicht mehr so, dass Menschen nach Maßgabe einer bestimmten Auffassung von Gott oder dem Göttlichen religiös sind, indem sie sich auf souveräne und eigenständige Weise zu den existenziellen Sinnfragen des Lebens verhalten, im Ausgriff auf religiöse Sinnangebote, an die sie glauben oder an die sie glauben möchten oder an die zu glauben sie für sich selbst meinen, ablehnen zu müssen.“77

Umso mehr gilt dann aber: „Es ist ihr [der Predigt] Auftrag und die an sie gerichtete Erwartung, dass sie das Leben auf existenziell nachvollziehbare Weise im Lichte des christlichen Glaubens deutet und damit zeigt, wofür das Christentum heute steht. Doch das gelingt ihr in der gegenwärtigen religiösen (Großwetter-) Lage auf überzeugende Weise nur dann, wenn sie den biblischen Text in seinem religiösen Sinngehalt erschließt.“78

Weil nach Gräb Predigt diesem Auftrag gegenwärtig nicht mehr gerecht werde, kann man den zwar empirisch nicht belegten Satz: „Außerhalb traditionsgemeindlicher Milieus wird die kirchliche Sprache nicht mehr verstanden“79 dabei durchaus als das suggestive diagnostische Motto der gesamten „Predigtlehre“ ausmachen. Suggestiv ist dieser Satz trotz mangelnder Feindiagnostik vor allem dann, wenn man den zweiten, selbstverständlichen Schritt, 74 AaO., 30 f. Auch hier springt die anthropologische Priorisierung ins Auge. 75 Es ist auffällig, wie wichtig es Gräb ist, Predigt und Gottesdienst als zwei Paradigmen zu behandeln, die besser nicht miteinander in Berührung gebracht werden. Schon auf der zweiten Textseite bemerkt Gräb: „Wer die Predigt als Element der kirchlichen Liturgie thematisiert […] hat sich vom Anspruch, öffentliche religiöse Rede zu sein, mehr oder weniger verabschiedet“ (aaO., 8). Zwar schreibt er später: „Von der gottesdienstlichen Situation und damit von Fragen der Liturgik wird in dieser Homiletik weitgehend abgesehen, was jedoch keineswegs heißt, dass sie die Predigt im Gottesdienst nicht ständig im Auge hat“ (aaO., 34) – allerdings mit der Kondition, „von den Besonderheiten der gottesdienstlichen Situation“ abzusehen. Verbände man beide miteinander, gerieten „all diejenigen zu schnell aus dem Blick, die mit der Liturgie des ,normalen‘ Gottesdienstes nicht vertraut sind, die die Texte der Bibel weder zeitlich noch sachlich einzuordnen wissen, für die die großen Leitbegriffe christlicher Lehre, vor allem die der Christologie, gänzlich unverständliche Vokabeln sind“ (aaO., 35). 76 Vgl. zu den Voraussetzungen dieses Begriffs von „Verstehen“ weiter unten zum Textverständnis. 77 Gr b, Predigtlehre, 19. 78 AaO., 36. 79 AaO., 74.

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Sinn in der Predigt

mitgeht: „Die Predigt ist eine adressierte Rede“80, d. h., sie muss sich der Form nach an Erkenntnissen der Rhetorik bzw. Sprechwissenschaften orientieren,81 um Wahrheit82 als Überzeugung existentiell relevanter Erkenntnisse vermitteln zu können: „An der religiösen Rede j hängt die Wahrheit der Religion“83 und diese „Wahrheit der Religion ist, dass sie uns den Sinn für den Sinn unseres Daseins in dieser Welt gibt. Sie lässt uns den Schmerz empfinden über das, was fehlt, sie stärkt aber auch unendlich die Hoffnung aufs Gelingen.“84 Auf der Grundlage des diagnostizierten allgemeinen Sinnschwunds ist der Begriff der „Deutung“ vor allem hier entscheidend: Weil Menschen nach Gräb im Zuge von Kontingenzerfahrungen85 ,Sinn‘ suchen, stellen sie entsprechende Fragen, die „nach dem Sinn des Ganzen von Welt und Leben nur religiös, d. h. im Bezug auf transzendente Sinninstanzen zu beantworten“86 seien. Idealiter stiftete Predigt als „religiöse Rede“ ,Sinn‘ als Religion87 und spricht zu dieser Religion von Menschen als Garant für ,Sinn‘, indem sie Menschen ein Deutungsangebot ihrer selbst in der Vermittlung eines symbolischen Verständnisses von Glaubensinhalten machte.88 M.a.W.: „In der Situation, die die Predigt anspricht, spiegelt sich immer die menschliche Grundsituation. In ihr liegt deshalb das, was auf die Deutungsfragen des Lebens verweist. Im Lichte der christlichen Botschaft sucht die Predigt nach einer die Situation treffenden, die Erfahrung mit ihr in der Tiefendimension aufschließenden, auch noch das Unbestimmbare und in seiner Sinnlosigkeit Bedrängende zur Sprache bringenden religiösen Deutung. Für die Hörenden wird diese Deutung zu einem Deutungsangebot. Auf alle Fälle muss es individuell angeeignet und in die je eigene Selbstdeutung integriert werden können. Lebensdeutungen funktionieren nicht in der Fremdzuschreibung“89. 80 Ebd. 81 Vgl. dazu grundlegend aaO., 39–44. 82 Sehr richtig bemerkt Gräb: „Es gibt die Wahrheit der christlichen Botschaft nicht, sondern diese ist immer an die Form ihrer Mitteilung gebunden“; aaO., 42. 83 AaO., 9 f. 84 AaO., 10. 85 „Der für die gesamte religionstheoretische Grundlegung zentrale Begriff der ,menschlichen Kontingenzerfahrung‘ meint alle diejenigen Erfahrungen unsers [sic] bewussten Lebens, von denen uns zugleich gewärtig ist, dass sie auch anders oder gar nicht sein könnten. Sie drängen in die Deutung ihres Sinns, werfen die Fragen nach ihrem Warum und Wozu auf“; aaO., 33 Anm. 1. 86 AaO., 18. 87 Vgl. nur die beiden Spitzensätze: „Religion entsteht durch religiöse Ansprache“ (aaO., 7), und „Predigt als religiöse Deutung von Erfahrung teilt Religion mit, weil sie den Hörenden sowohl ihre eigenen Erfahrungen als (implizit) religiöse verständlich macht, wie dann auch die religiös Sinn bildende Kraft der christlichen Botschaft aufzeigt“; aaO., 52. 88 Gräb selbst verwendet hier und andernorts allerdings keine Indefinitpronomina, sondern schreibt demonstrativer und singulärer: „Das symbolische Verständnis der Glaubensinhalte zu vermitteln, sie zu religiösen Selbstdeutungsangeboten zu machen, ist zur entscheidenden Aufgabe der Predigt als religiöser Rede geworden“; aaO., 17 (Hervorhebungen FH). 89 AaO., 51 (Hervorhebung im Original).

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Dieser Erkenntnis folgend – dass alle Menschen „auf religiöse Lebensdeutungsangebote angewiesen sind“90 – eröffnet sich für Gräb ein Ausweg aus dem Dilemma der vermuteten allgemeingesellschaftlichen Ignoranz gegenüber kirchlicher Sprache, „eine neue Chance auch für die Kirche und ihre Predigt. Als auf die Stärkung der Lebensgewissheit ausgehende, das je eigene Leben im Deutungshorizont des christlichen Glaubens über sich verständigende religiöse Rede kann die Predigt die Menschen erreichen. Dann redet sie von den Grunderfahrungen, der Angewiesenheit auf Liebe, von der Meisterung des Alltäglichen, von der Hartnäckigkeit der Hoffnung, von der Bewältigung unergründlicher Ängste – aus der Kraft eines Glaubens, der Menschen unbedingte, in Gott gegründete Lebensgewissheit zuwachsen lässt.“91

Gräb spricht, wo solcherart ,Sinn‘ gestiftet wird, von „Rechtfertigung“ als einem Erschließungsgeschehen, das dem „Sprachereignis“ von Ernst Fuchs nicht unähnlich sei,92 und neben die Rhetorik die Rezeption als entscheidende Kategorie der Homiletik treten lässt: „Es ist, wo es zu diesem Vorgang [des Erschließungsgeschehens der Wirksamkeit der Rechtfertigungsbotschaft] kommt, keineswegs nur von einem die Hörenden passiv in sich einbeziehenden Erschließungsgeschehen zu reden. Dieses Erschließungsgeschehen, auf das die Rede von der Predigt als ,Sprachereignis‘ durchaus immer noch aufmerksam machen kann, verlangt die Predigenden als aktive Träger des sprachlichrhetorischen Vorgangs, durch den die christliche Botschaft, die in der Auslegung des biblischen Textes erschlossen wurde, ihre existenziell relevante Lebensbedeutsamkeit zeigt und so dann auch ihre individuelle Aneignung ermöglicht. Das aneignende Tun der Hörenden ist für diesen sprachlichen Inszenierungsvorgang [sic!] der religiösen Rede ebenso konstitutiv.“93

3.1.1.2.2 Wilhelm Gräbs Homiletisches Dreieck, Punkt B: Die Bibel Zwischen den beiden anthropologischen Punkten – die hörende Aneignung des Deutungsangebots und die persuasive Rhetorik der Prediger:innen –, die Gräbs Homiletisches Dreieck aufspannen, kommt die Bibel zu stehen als Bezugspunkt und Grundlage, um diese „christliche Botschaft“ der Rechtfertigung eigens zu ermitteln. In Bezug auf die Schrift ist es hier Aufgabe der 90 AaO., 76. 91 AaO., 78. 92 Vgl. dazu unter expliziter Ausklammerung des Wirkens Gottes in der Predigt und dessen Substitute, der „religiöse[n] Performanz der Predigt“, aaO., 72 f. 93 AaO., 73. Interessant ist, wenn auch nur als Randbemerkung, vor allem das Wort „Inszenierungsvorgang“, das Gräb im letzten zitierten Satz verwendet, beißt es sich doch mit seiner immer wiederkehrenden Kritik am ,Inszenierungsparadigma‘ im Allgemeinen (vgl. etwa aaO., 75) und in verwunderlicher Heftigkeit an der Dramaturgischen Homiletik im Besonderen (vgl. aaO., 43, Anm. 12 und das unten wiedergegebene Zitat aaO., 74 f.).

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Sinn in der Predigt

Predigt, die Aussagen der Schrift zu finden und in die existenzielle Situation der Hörer:innen weiterzusagen, die für das existenzielle Deutungsbedürfnis entscheidend sind: „Sie [die Predigt] muss den biblischen Text so interpretieren, dass diese religiöse Interpretation j auf die religiösen Sinnbedürfnisse der Menschen zu reagieren vermag.“94 Die Bibel ist für Gräb deswegen ein hilfreiches Predigtinstrument, weil sowohl ihre Texte als auch deren Wirkungsgeschichte „Deutungspotential“ aufweisen, das in existenziell trostloser Selbstwahrnehmung in die Vermittlung von ,Sinn‘ gewandelt werden kann. „Deshalb kann man dann sagen: Die Predigt ist religiöse Deutung von Erfahrung im Horizont der Deutungsgehalte und damit des religiösen Sinnpotenzials der biblischen Texte.“95 Dieses ,Sinn‘- bzw. Deutungspotenzial entfaltet die Bibel nach Gräb jedoch nicht eigenständig, sondern bedarf der schrift- und vor allem lebenshermeneutischen Kunstfertigkeit der Prediger:innen, eine Auswahl zu treffen, welcher und wie viel von diesem Text in einer Predigt Verwendung finden kann, um die oben bestimmte ,christliche Botschaft‘ zu vermitteln. Das geschieht in einem Dreischritt, der die eigenen ,Sinn‘-Fragen der Prediger:innen, die gegenwärtig grundsätzliche Plausibilität des Textes und die Relevanz für die konkreten Hörer:innen ermittelt: a) Weil Prediger:innen und Hörer:innen als Menschen gleichermaßen mit den gleichen ,Sinn‘-Deutungsbedürfnissen vor den biblischen Texten stehen, ist es zunächst Aufgabe der Prediger:innen, ihre eigene Angewiesenheit auf diese Deutungen für sich zu erkennen und auf dieser Grundlage die Bibel zu lesen, und nur unter der erkenntnistheoretischen Kondition dieser Vorauswahl – „wenn“ ein biblischer Text eine Antwort auf existenzielle Fragen zunächst der Prediger:innen zu geben imstande ist – kann Predigt für Gräb gelingen: „Der biblische Text ist die Basis der Predigt, doch nicht als steinernes Fundament, sondern als lebendiger Wurzelgrund96, aus dem die christliche Botschaft hervortritt, wenn wir den Text von unseren eigenen religiösen Sinnfragen herkommend lesen. An die biblischen Texte richten die Predigenden die religiösen j Lebensfragen, in der Erwartung, ihnen ein aktuell überzeugendes Lebensdeutungsangebot abgewinnen zu können.“97

b) Zu diesem ersten Vorauswahlkriterium, welcher und wieviel biblischer 94 AaO., 36 f. 95 AaO., 52. 96 Hier gewinnt die Metapher des Rhizoms, wie Deleuze und Guattari sie prägten, ihre offensichtliche homiletische, mithin texthermeneutische Relevanz: Über eine „Wurzel“ als den hierarchisch untergeordneten Abschnitt kann man und muss man hinaus- und erwachsen, was Gräb hier augenscheinlich auch hinsichtlich des biblischen Textes rät und tut. Im Bild des „Rhizoms“ gibt es derlei Hierarchien dabei nicht. 97 Gr b, Predigtlehre, 53 f.

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Text in der Predigt zur Sprache kommt – die Relevanz für die eigenen ,Sinn‘-Fragen – tritt die Frage der Prediger:innen nach der ,Situation vor Ort‘ bzw. der ,Großwetterlage‘: „Der Textbezug einer Predigt, die zur religiös Sinn stiftenden Rede werden kann, sollte gesteuert sein von der Frage danach, welches Lebensdeutungsangebot die dem Text abgewonnene christliche Botschaft macht. Dann kann die Predigt danach suchen, wo das christliche Lebensdeutungsangebot heute [sic!] plausibel erscheint“98.

c) Haben Prediger:innen die gesuchten Antworten auf die ermittelten Fragen in der Bibel einmal gefunden, scheint für Gräb als drittes Merkmal für die Prädikabilität eines biblischen Textes entscheidend, den einmal hinsichtlich seines ,Sinndeutungspotenzials‘ erkannten und ausgewählten Text der Bibel zugunsten der Relevanz für die ,Sinn‘-Fragen der Hörer:innen in ihrer Eigenständigkeit hinter sich zu lassen: „Die Predigt ist eine adressierte Rede. Sie darf nicht beim biblischen Text und seiner Auslegung stehen bleiben. Auch der j gegenwärtig so beliebte Hinweis, dass es den Text zu inszenieren gelte, geht nicht weit genug, weil er den für eine überzeugungsorientierte Rede entscheidenden Gesichtspunkt übersieht, dass der Redende sich immer auch ein Stück weit99 an die Stelle dessen versetzen muss, den er von seiner Sache zu überzeugen versucht. Die Adressiertheit der Predigt als religiöser Rede gehört zu denjenigen Kriterien, mit denen sie den Regeln persuasiver Kommunikation folgt. Die Predigt orientiert sich jedenfalls besser an der Rhetorik bzw. Sprechwissenschaft als an der Theaterwissenschaft. Die Predigt bringt nicht ein Stück Bibel zur theatralen Aufführung und Predigende sind nicht deren Dramaturgen. Die Predigt befragt biblische Texte vielmehr daraufhin, was sie in einer gegenwärtige Hörer und Hörerinnen religiös überzeugenden Rede zu sagen haben.“100

98 AaO., 59. 99 Diese eigentümliche Redewendung, die – populär gemacht wohl durch den ehemaligen SPDVorsitzenden in Schleswig-Holstein Björn Engholm – zunächst vor allem unter Politiker:innen und dann weite gesellschaftliche Verbreitung gewann, drückt zunächst deutliche Unentschiedenheit aus und verwundert insofern in einer homiletischen Programmschrift. Ihr humoristisches Potenzial bringt m. E. eine Kolumne auf faz.net am besten zur Geltung, die Leser:innen unter der Rubrik „Mehr Inhalte statt Phrasen!“ nach ihren „Unworten“ befragte, und eine Leserin zu Wort kommen lässt: „Diese Floskel ist sicher schon älter als ein Jahr und hat zunächst bei Politikern rege Verbreitung gefunden. Man hört sie aber immer öfter im täglichen Sprachgebrauch. Es drängt sich aber sofort die Frage auf, wie weit ,ein Stück‘ sein kann? Man denkt ja eher, ein Stück ist lang oder kurz – aber weit? Es gibt die Aussage, dass es mir ein Stück weit besser geht, dass ich noch ein Stück weit daran arbeiten muss oder dass das Problem ein Stück weit schwierig ist … Schrecklich! Aber das Beste ist wohl, wenn jemand sagt: ,Ich bin schon ein Stück weit weiter.‘ Da kann man nur noch beipflichten: ,Weiter so!‘“; Stephanie Wirth, Ein Stück weit, in: faz.net (11. 01. 2016). URL: http://www.faz.net/aktuell/ beruf-chance/die-unworte-unserer-leser-mehr-inhalt-statt-phrasen-14002240/ein-stueckweit-14002303.html (Stand: 18. 08. 2018). 100 Gr b, Predigtlehre, 74 f.

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Sinn in der Predigt

3.1.1.2.3 Wilhelm Gräbs Homiletisches Dreieck, Punkt C: Die Prediger:innen Als resümierendes Unterkapitel kann die folgende Darstellung konzise ausfallen. Aus dem oben Dargestellten folgt: „Nicht die Predigt redet. Predigende reden. Sie reden zur persönlichen religiösen Überzeugung“101. Sie tun das, indem sie in den „homiletisch-hermeneutische[n] Zirkel“102 des Verstehens der Bibel eintreten, den Gräb viel zu global nach Hans-Georg Gadamers (1900–2002) „Wahrheit und Methode“103 und im Wesentlichen mit jeweils einem Aufsatz von Rudolf Bultmann (1884–1976)104 und Paul Ricœur (1913–2005)105 ausmisst. Von ,Gadamer‘ stammt Gräbs Erkenntnis, dass „das Verstehen nicht nur nicht objektiv“ sei; „es ist immer auch relativ, bezogen auf mein Die-Sachedes-Textes-Verstehen. Letztlich ist jedes Verstehen der Sache eines Textes ein Mich–in-der-Sache-des-Textes-Verstehen.“106 Ähnlich liest Gräb Bultmann: „Von einem Text sind Antworten auf eine Frage nur dann zu erwarten, wenn der ihn Lesende mit dieser Frage auch gezielt an ihn herantritt. Biblische Texte, das folgt dann aus dieser Grundeinsicht in den hermeneutischen Zirkel, setzen ihren religiösen Bedeutungsgehalt frei, wenn ihre Interpreten die religiöse Frage an ihn richten. Rudolf Bultmann, dessen Plädoyer für eine existenziale Interpretation der biblischen Texte in seiner Bedeutung für eine homiletische Hermeneutik gar nicht überschätzt werden kann, sprach deshalb völlig zutreffend davon, dass ,Voraussetzung des Verstehens das Lebensverhältnis des Interpreten zur Sache ist, die im Texte – direkt oder indirekt – zu Wort kommt.‘107“108

Mit Paul Ricœur schließlich gewinnt Gräbs Texthermeneutik Tiefenschärfung, etwa wo man auf die Feststellung trifft: „Indem das Ich des Lesers bzw. Interpreten in die ihm fremde Sinnwelt des Textes einzieht, entsteht die Möglichkeit, dass das Ich des Lesers ein anderes wird“ – bis man die unmittelbar 101 AaO., 71. 102 AaO., 54 et passim; vgl. 124. 103 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960. 104 Rudolf Bultmann, Das Problem der Hermeneutik (1950), in: ders. (Hrsg.), Glauben und Verstehen II, Tübingen 1965, 211–235. 105 Paul Ricœur, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: Paul Ricœur/Eberhard J ngel (Hrsg.), Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München 1974, 24–45. 106 Gr b, Predigtlehre, 55. 107 Bultmann, Das Problem der Hermeneutik (1950), 217. 108 Gr b, Predigtlehre, 124. In eine ähnliche Richtung weist Gräb wenig später mit einer bemerkenswerten Konditionalisierung („nur“) und Konsekutive („damit auch“): „Nur im Ausgang von der menschlichen Gottesfrage und damit auch dem menschlichen Gottesgedanken kann auf Verständnis davon gesetzt werden, was die Bibel meint und auch uns Heutigen zu sagen hat, wenn sie von Gott und seinem Offenbarungshandeln Zeugnis gibt“ (125).

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darauf folgenden, konditionalisierenden Sätze liest: „Diese Möglichkeit muss die Subjektivität dann aber auch ergreifen. Es wird für die Subjektivität des Lesers auch der Text ein anderer. Er ist nicht mehr der, den er zunächst vorgefunden hat. Denn nun kann er aus ihm herauslesen, was gar nicht in ihm drinsteht.“109 „Deshalb“ kann Gräb schließlich über die Rolle der Prediger:innen im Predigtvollzug und Bezug auf Bibel und Hörer:innen sagen, „kommen die Predigenden schließlich als die medialen Subjekte der religiösen Rede zu stehen, was aber in einem tieferen Sinn [sic!] zugleich meint, dass die Botschaft, die sie ausrichten, als sprachliche Markierung ihrer eigenen religiösen Überzeugungsgewissheit muss verstanden werden können. […] Was die Predigt kommuniziert, sollte in diejenige sprachliche Ausdrucksgestalt der christlichen Botschaft finden, die vom eigenen Sich-durch-diese-Botschaft-Angeredet-Verstehen getragen ist und sich dem je eigenen Selbstverständnis bzw. der Übernahme ins je eigene Selbstverständnis anbietet.“110

Abschließend kann festgestellt werden, dass dieser „hermeneutische Zirkel“, wie ihn Gräb sich vorstellt, vor allem ein selbsthermeneutischer ist, in den der ,Hermeneut‘ auf der Suche nach Antworten auf klar umrissene, vorformulierte Fragen eintritt und finden wird, was er entsprechend seines ,Vorverständnisses‘ im Text nur finden kann.111

109 AaO., 137. Allerdings erkennt Gräb auch in Ansätzen richtig, dass es gerade Ricœur um die Subjektivität des Textes geht, wenn er ihn wenig später zitiert und schreibt: „Der Interpret muss versuchen, sich in der fremden Sinnwelt des Textes einzuwohnen. Dann kann er eine fremde Welt des Möglichen entdecken, die zur eigenen werden kann. Es können sich ihm neue Möglichkeiten der Selbst-, Welt-, und Gottesdeutung eröffnen. Dieses Anderswerden ist gleichwohl nicht schlichtes Resultat persönlicher Entscheidung, sondern durch den hermeneutischen Prozess provoziert. Der Text ist es, der ,zuerst zu meiner Einbildung spricht, indem er ihr die ,Bilder‘ meiner Befreiung vorsetzt.‘“; ders., Predigtlehre, 139, Zitat bei Ricœur, Philosophische und theologische Hermeneutik, 45. 110 Gr b, Predigtlehre, 72. 111 … und wohl auch ohne den so zur Selbstaffirmationsmaschine degradierten Text gefunden hätte. Der Vergleich zum Phänomen der „Unaufmerksamkeitsblindheit“ drängt sich hier auf, wie es experimentell vielleicht am berühmtesten durch das „unsichtbarer Gorilla“-Experiment der US-amerikanischen Psychologen Christopher Chabris und Daniel Simons dargestellt wurde (vgl. Christopher Chabris u. Gabriel Simons, The Invisible Gorilla. And Other Ways How Our Intuitions Deceive Us, London 2011). Die Psychologen hatten „ihren Probanden die Aufgabe gestellt, sechs Basketballspieler zu beobachten. Drei trugen weiße, drei schwarze T-Shirts und warfen sich jeweils gegenseitig einen Ball zu. Die Aufgabe lautete, die Pässe der weiß gekleideten Spieler zu zählen. Und irgendwann latschte dann ein Schauspieler im Gorillakostüm durch das Bild. Völlig offensichtlich, doch die meisten Probanden bemerkten das nicht.“ Das Zitat und weiterführende Hinweise auf grundsätzliche Studien der Psychologin Carina Kratz und den Ursprung des Begriffs bei Arien Mack/Irvin Rock findet sich in einem Artikel von Sebastian Herrmann, Der unsichtbare Gorilla. Wenn sich ein Affe unter ein paar Basketballspieler mischt, kann man das Tier dann übersehen? Ja, man kann. Unter dieser Art der Blindheit leiden selbst die schlauesten Menschen., in: Süddeutsche Zei-

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Sinn in der Predigt

3.1.2 Sinn als plausible Meinung „Man soll also nicht fragen, was der Sinn eines Ereignisses sei: Das Ereignis nämlich, das ist der Sinn selbst“ [LS 41], hatte Deleuze geschrieben und damit eine Identität dieser beiden Begriffe angezeigt. Dass das damit verbundene philosophische Konzept der ,Sinn‘-Homiletik Wilhelm Gräbs grundverschieden ist, dürfte als Feststellung an dieser Stelle nicht überraschen.112 Auch eine grundsätzliche Äquivokation dürfte im Zusammenhang dieser Studie schon implizit deutlich geworden sein: Wo Gräb von ,Sinn‘ in seinen mannigfaltigen Komposita113 schreibt, meint er zunächst einer Gemeinsprache entsprechend „Plausibilität“: Sinn ist für Gräb schlicht, ,was Sinn ergibt‘. Überträgt man seine Gedanken in das oben entwickelte sprachphilosophische Analyseraster, wird allerdings deutlich, dass der Begriff Sinn darüber hinaus weitaus größeres Potenzial hat und homiletische Relevanz entfaltet, wenn man ihn nicht lediglich als Plausibilitätsmarker versteht oder auf sein bloßes Existieren oder Fehlen reduziert. Gerade letzteres erweist sich dann vielmehr als Trugschluss, weil der Begriff „Sinn“ selbst die Kategorie der Existenz transzendiert. Jedenfalls: Sinn, der verlustig gehen könnte, ,gibt‘ es auch streng genommen nicht.

3.1.2.1 ,Sinn‘ als Plausibilität und Sinn als Ereignis der Sprache Zur Erinnerung seien die oben ausführlicher dargestellten Sinntheorien, die die Grundlage einer akkuraten Verwendung dieses Begriffs bilden, noch einmal in Kurzform referiert: tung (12. 11. 2015). URL: https://www.sueddeutsche.de/wissen/psychologie-der-unsichtbaregorilla-1.2733707 (Stand: 18. 08. 2018). 112 Für das Folgende ist die (post-)strukturalistische Prämisse nur in Erinnerung zu rufen, dass Sprache Wirklichkeit nicht nur prägt, sondern erstlich schafft. Dass sie fundamentaltheologisch abgeleitet ist vom schöpferischen Wort Gottes, das seine eigene Identität sowohl verbürgt als auch vermittelt und in deren Analogie (fidei) Predigt selbst (nach reformierter Tradition vor allem auf der Grundlage der Confessio Helvetica posterior/Heinrich Bullingers, wonach ,predicatio Dei est verbum Dei‘) Wort Gottes werden kann und wird und ist – sub conditione Dei voluntatis –, versteht sich auf dieser Grundlage von selbst. 113 Hier eine (jeweils im Singular, als Nomen und in alphabetischer Reihenfolge wiedergegebene) Aufzählung der bislang bei Gräb zitierten Komposita des Wortes „Sinn“: „Deutungssinn“, „Lebenssinndeutung“, „Lebenssinnvertrauen“, „Sinn des Lebens“, „Sinnabgrund“, „Sinnangebot“, „Sinnbedingung“, „Sinnbedürfnis“, „Sinnbewußtsein“, „SinnDach“, „Sinndeutung“, „Sinndeutungsaktivität“, „Sinndeutungsinteresse“, „Sinndeutungskompetenz“, „Sinneinstellung“, „Sinnerfahrung“, „Sinnerwartung“, „Sinnfrage“, „Sinnganzes“, „Sinngehalt“, „Sinngewissheit“, „Sinngrund“, „Sinninstanz“, „Sinnkrise“, „Sinnlosigkeit“, „Sinnorientierung“, „Sinnpotenzial“, „Sinnspur“, „Sinn[…]vermittlung“, „Sinnvertrauen“, „Sinn[…]wahrheit“, „Sinnwelt“, „Sinnzusammenhang“.

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– Für Gottlob Frege ist Sinn das Intermediär zwischen Objekt und Subjekt (vergleichbar dem Fernrohr, das Auge und Mond miteinander in Beziehung setzt) und steht damit zwischen Zeichen und Bedeutung. Sinn ist bei Frege damit nicht nur ungleich der Bedeutung, sondern zugleich mehr als Bedeutung (vergleichbar der Verständlichkeit etwa eines epischen Satzes Homers oder eines religiösen Satzes der Bibel). – Für Betrand Russell ist die daran anschließende Wahrheitsfrage abhängig von sprachlich manifestierten Universalien als gedanklicher Gegenstandsbereich von Bedeutungen, die über einen ihn gemeinsamen Sinn vermittelt werden. Diese Universalien unterscheidet Russell ferner in vermittels von Adjektiven bzw. Substantiven einerseits und Verben bzw. Präpositionen ausgedrückte. Besonders letzteren weist er eine Seinsweise jenseits der „Existenz“ – nämlich „Subsistenz“ – zu. Wahrheit von Bedeutungen vermitteln sich so in präpositionalen Sinnkonstruktionen der Sprache, die ihre Relation untereinander und zum sie denkenden Individuum garantieren, ohne selbst im Gedanken oder dem ihn denkenden Individuum restlos aufzugehen. – Für Edmund Husserl tritt das Noema an die Stelle des Sinns und vermittelt zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem, Signifikat und Signifikant, ohne identisch mit dem einen oder anderen zu sein (vgl. den verbrannten Baum und sein grünendes Noema). Und auch bei Husserl ist, explizit mit dem Terminus „Intention“, das Sinn-Noema der Unterschied zwischen immanenten und transzendenten, realen und hyperrealen Gegenständen als das „Zwischen“ des Erkenntnisaktes und des Erkenntnisgegenstandes. – Meinong schließlich weist linguistisch-nüchtern die positive Seinsweise eines (gedanklichen) Gegenstands nach, unabhängig seiner Vermittlungen und in affirmativer Gestalt auch und vor allem (je)der Negativa. Betrachtet man nur diese philosophischen Analysen des Sinns und seiner Beziehungen, wird deutlich, welche Differenzierung Gräbs System fehlt: Zwar erkennt auch Gräb in der Rede vom „Sinn“ als „Sinn des Lebens“ (auf welches Diktum alle seine Beobachtungen hinauslaufen) zweierlei für die Betrachtung des Sinns Hinreichendes: Sowohl das Individuum als auch das vom Individuum Gemeinte stellen elementare Bestandteile des Sinns dar. Die ungewissen Gefühle eines Menschen, Halt und Ganzes zu ermangeln, bezeichnen eine Bedeutung eines Verlusts, die trotz ihres ungefähren Gehalts eine je konkrete Sorge hinsichtlich eines je konkret Fehlenden ausdrückt.114 Auch epistemo114 Strukturanalog entspricht das der von Gräb passim aufgeworfene Wahrheitsfrage. Gräb dürfte sie entschieden und begründet damit beantworten können, dass sich auch liberaltheologisch betrachtet jede erkannte „Wahrheit“ jenseits von objektivierter Verität aus dem Gefüge erkannter Relata ergibt oder auflöst. Man kann sich das an Gräbs Grundaussage verdeutlichen, der „Sinn“ des „Ganzen“ erschließe sich für sinnsuchende Menschen im Deutungsangebot christlicher Religion als Verweis auf das Getragensein in einem symbolisch ausgedrückten Grund des je existentiellen Grundes: Es sind hier einerseits die Zusammenhänge entscheidend

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Sinn in der Predigt

logisch betrachtet unterscheidet Gräb insofern implizit zwischen Erkenntnisakt und Erkenntnisgegenstand, indem er das Gefühl eines ganzheitlichen Plausibilitäsverlustes auf einen Mangel an gedeutetem „Sinn“ zurückführt. Problematisch daran ist einerseits, dass es nur so scheint, als wären diese Zuordnungen zwei aufeinander bezogene Seiten einer Gleichung. Der entscheidende Term, der tatsächliche Transzendentalität (und damit, theologisch gesprochen, Transzendenz) verbürgt, fehlt. Obwohl Gräb den Unterschied von Objekt („Sinn“) und Subjekt (sinnsuchendes Individuum) erkennt, markiert sein Sinn-Begriff eine Summe, statt gerade diesen als analytischen Divisor auszuweisen. In der Folge wird das als Mangel Erkannte (oder, positiv: das als Deutung zu Generierende) identisch mit der Erkenntnis (resp. generierten Deutung) selbst und gestaltet sich eine tautologische Repräsentation in zwei identischen Termen x=x statt einer Wiederholung der Differenz in unendlichen Verweissystemen. Erweitert man das Analyseraster auf sprachphilosophische Theoreme des Poststrukturalismus bei Deleuze, wird die Insuffizienz des Gräbschen „Sinn“Begriffs noch deutlicher. Obwohl Gräb sich an der Analytischen Philosophie nicht orientiert und den Begriff „Sinn“ gemeinsprachlich verwendet, trägt die Analogie zur sprachphilosophischen Begriffsbestimmung des Sinns dabei zweierlei aus, um diesen Ansatz zu kritisieren und weiterzudenken: Zum einen kann die Tautologie der Repräsentation durchbrochen und zum anderen eine sprach-theologische Grundlage dafür gebildet werden, ein aliquid – oder, in Martin Luthers Sprache: ein extra nos als verbum externum115 – als realitas anzunehmen und homiletisch auszudrücken. Aus der ausführlichen Analyse des Sinns, die in Teil A dieser Studie erarbeitet wurde (vgl. oben Kapitel 3), sind über die einführende grundsätzliche Beobachtung hinaus besonders drei Merkmale geeignet, um die Differenz eines analytisch-philosophischen und eines am Gemeinsinn orientierten

(mit Russell die Relationen, in denen erkannte unmittelbare Grundwahrheiten stehen), zum Zweiten die Verfassung eines Individuums, die sie erfährt (gewissermaßen die anthropologische Grunderfahrung der eigenen Nichtigkeit), und schließlich der gedankliche Verweisgegenstand („Gott“ bzw. ,Rechtfertigung‘). Als den „Sinn“ garantierende – wieder in Russells Terminologie – „Universale“ fungiert in Gräbs Sinnsystem das Symbol als transzendentaler Verweisgegenstand. Ein entsprechendes A–B–C–D-Schema würde sich so gestalten: A (Wilhelm Gräb) urteilt, dass B (ein beliebiges spätmodernes Individuum) C (eine Vielzahl von Verlusterfahrungen) von D (des Sinns) macht. „Wahr“ ist diese Aussage, wenn B, C und D in einem Tatsachenverhältnis zu A stehen. Analytisch-philosophisch kann so festgestellt werden, dass Gräbs eigene Aussagen selbst sinnvoll sind und Sinn ergeben. Dass sie den Begriff Sinn selbst thematisieren, geschweige denn problematisieren, ist damit allerdings nicht gesagt. 115 Vgl. dazu grundlegend Deeg, Das äußere Wort und seine liturgische Gestalt, bes. (mit historisch- und systematisch-theologischem Blick auf Luther) 72–77, 120–126 und (mit Blick auf phänomenologische Konsequenzen am Beispiel der Xenologie von Bernhard Waldenfels) 340–343.

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Sinn-Begriffs aufzuzeigen: Die Tatsächlichkeit des Sinns (Genitivus objectivus und subjektivus), seine Alterität und seine Symbolizität: Anhand von Deleuzes Unterscheidung zwischen Indikation, Manifestation und Signifikation eines Satzes, denen er den Sinn als Ereignis gegenüberstellt, kann die andernfalls notwendige Zirkelhermeneutik der Sprache aufgebrochen und ihren Konstituenten zugleich interrelative Seinsbeziehungen zugesprochen werden. Folgt man der (post-)strukturalistischen Prämisse, dass allein Sprache Wirklichkeit schafft und das Ereignis/den Sinn ausdrückt, können diese drei Dimensionen der Sprache als notwendig, aber sowohl im Einzelnen wie auch in Summe als unzureichend für die Vermittlung von Tatsächlichkeit ausgewiesen werden. Dass sie alle intrinsisch miteinander verwoben sind und sich gegenseitig bedingen, wurde oben gezeigt. Sie alle aber haben Teil an der gleichen Bedingung, die sie selbst nicht garantieren noch schaffen können: der Tatsächlichkeit des Seins ihres Ausdrucks. Sie wird durch den Sinn garantiert, der in der Sprache aufgeht, ohne sich mit dem Sprechenden oder dem Bezeichneten/Bedeutetem zu vermischen. Das cartesische Grundproblem der Sinnhermeneutik Wilhelm Gräbs besteht insofern darin, in jeder Aussage über den „Sinn“ letztlich eine schlichte Affirmation des Ich zu setzen, die über das Bezeichnete oder Bedeutete selbst nichts aussagt (vgl. oben zu Descartes’ Wachsstück). Auch die dem Sinn eigene Tatsächlichkeit trägt diesem Umstand Rechnung: Da Sinn nicht existiert, sondern in der Sprache, der Sprecherin und dem Besprochenen subsistiert und als Ereignis insistiert, kann er weder ,verloren‘ gehen noch selbst Gegenstand von Affirmation oder Negation sein. Auch dort, wo Gräb erkennt, dass Sinn nur in Zusammenhängen und Teilen eines Ganzen – in obiger Terminologie besser: in relata denkbar ist, wird man theologie-philosophisch andere Schlüsse ziehen müssen. Sinn, der relata vermittelt, generiert gegen Gräb gerade kein ,Ganzes‘, sondern markiert umgekehrt die Differenz der Bezugspunkte. Neben die Tatsächlichkeit tritt nun die Eigenschaft als Indefinitum als zweites Charakteristikum des Sinns, die Deleuze als aliquid bezeichnet und ein Externum jenseits des autopoietischen Selbstverweises garantiert. Schließlich trägt die Kategorisierung des Sinns als Tatsächlichkeit garantierendes, subsistierendes aliquid jenseits von Sprecherin und Besprochenem Konsequenzen für die Rede vom Symbolischen aus. Gräb erkennt mit Paul Tillich zurecht den Mehrwert symbolischer Sprache hinsichtlich des Ausdrucks von Sinn. Strukturalistisch kann ergänzend hinzugefügt werden, dass es gerade die symbolische Struktur des Sinns ist, die Wirklichkeit zwischen Gedachtem und Gegebenem vermittelt. M.a.W.: Sinn selbst ist strukturell symbolisch, nicht aber das durch ihn Bezeichnete/Bedeutete.116 116 Exemplarisch bedeutet das: Spricht man symbolisch von Gott, sind weder Gott selbst noch das Wort „Gott“ das Symbol, sondern der Sinn des Wortes „Gott“. Die symbolische Vermittlungsleistung des Sinns garantiert die begriffliche Trennschärfe zwischen dem Ausgedrückten

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Sinn in der Predigt

3.1.2.2 Predigt jenseits plausibler Meinungsvermittlungen Ein zusammenfassender Kritikpunk an Wilhelm Gräbs Homiletik des Sinns betrifft das dort vorausgesetzte Schriftverständnis. Das steht in direktem Zusammenhang zum gerade Erörterten, wo und weil (die) Schrift (post-)strukturalistisch als sinnvermittelnde, hypersignifikante Sprache117 verstanden werden kann. Zum Einstieg ist es dabei naheliegend, ein Bild zu wählen, das für Gilles Deleuze und F lix Guattari im Schlusskapitel ihres gemeinsamen Spätwerks „Was ist Philosophie“ bedeutend war und unterdessen auch homiletisch-hermeneutische Relevanz erlangt hat:118 „Unablässig stellen die Menschen einen Schirm her, der ihnen Schutz bietet, auf dessen Unterseite sie ein Firmament zeichnen und ihre Konventionen und Meinungen schreiben; der Dichter, der Künstler aber macht einen Schlitz in diesen Schirm, er zerreißt sogar das Firmament, um ein wenig freies und windiges Chaos hereindringen zu lassen und in einem plötzlichen Lichtschein eine Vision zu rahmen, die durch den Schlitz erscheint. […] Nun folgt die Menge der Nachahmer, die den Schirm mit einem Stück flicken, das vage der Vision ähnelt, und die der Ausleger, die den Schlitz mit Meinungen füllen: Kommunikation.“ [WPh 241]119

Deleuze und Guattari ziehen dieses Bild heran, um einen Menschheitskampf gegen das Chaos (nicht nur) des Denkens zu illustrieren.120 Für gewöhnlich

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und dem, was davon bezeichnet wird, ohne die Existenz des einen oder anderen zu berühren oder infragezustellen. Folgt man Derridas berühmter Kritik am ,Phonozentrismus‘ und daraus folgendem ,Logozentrismus‘ („Wir werden zu zeigen versuchen, daß es kein sprachliches Zeichen gibt, das der Schrift vorherginge“; Derrida, Grammatologie, 29), ist Schrift weit mehr noch als dies: „Die Schrift ist Bedingung der episteme, ehe sie ihr Gegenstand sein kann“ (aaO., 50). Das gewährleistet Derrida dadurch, dass er die überkommene Hierarchisierung von Signifikant und Signifikat zugunsten einer unendlichen Verweiskette der Signifikanten auflöst, und die Schrift somit nicht mehr als bloßes Konservatorium der Sprache, sondern als Ursprung der Erkenntnis begründet: „Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme, und sei es nur, um ihm letzten Endes wieder anheimzufallen“ (aaO., 17). Aufgegriffen wurde es vor allem von Alexander Deeg, Die Bibel, die Predigt und der Riss im Schirm. Herausforderungen homiletischer Hermeneutik, in: Michael Beintker u. a. (Hrsg.), Uns zu dem Leben führen: Hoffnung predigen, Göttingen 2016, 37–59, 50 f. Vgl. auch Alexander Deeg, „Für euch gestorben“. Von unbequemen Metaphern zwischen problematischer Konvention und notwendiger Unterbrechung. Praktisch-theologische Perspektiven, in: Wolfgang Kraus/Michael H ttenhoff/Karlo Meyer (Hrsg.), „… mein Blut für Euch“. Theologische Perspektiven zum Verständnis des Todes Jesu heute, Göttingen 2018, 258–279, 278 f. Das Sprachbild selbst stammt von dem britischen Schriftsteller D[avid] H[erbert] Lawrence (1885–1930). „Wir wollen doch nichts anderes als ein wenig Ordnung, um uns vor dem Chaos zu schützen. Nichts ist schmerzvoller, furchteinflößender als ein sich selbst entgleitendes Denken, als fliehende Gedanken, die, kaum in Ansätzen entworfen, schon wieder verschwinden, bereits angenagt vom Vergessen oder in andere hineingestürzt, die wir ebensowenig beherrschen. […]

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gehe es darum, sich mithilfe der drei Disziplinen Philosophie, Wissenschaft und Kunst „eine Meinung zu bilden, als eine Art ,Sonnenschirm‘ zum Schutz gegen das Chaos“ [WPH 239]. Sachgemäß verhalten sie sich allerdings als Verbündete des Chaos und lassen es zu, um über es hinauszusteigen und das zu generieren, was man gemeinhin ,Fortschritt‘ nennt: „Kunst, Wissenschaft, Philosophie fordern mehr [als Meinungen zur Überwindung der Angst vor dem Chaos; FH]: sie ziehen Ebenen auf dem Chaos. […] Philosophie, Wissenschaft und Kunst wollen, daß wir das Firmament zerreißen und uns ins Chaos stürzen. Nur um diesen Preis werden wir es besiegen“ [WPh 239]. „Chaos“ meint dabei einen „undifferenzierten Abgrund oder Ozean der Unähnlichkeit“ [WPh 246], also das Gegenteil von Differenz und Wiederholung, nicht zuletzt aber der Meinung (Doxa). Unter dem Aspekt der Wissenschaft bedeutet das für Deleuze und Guatarri: „Der Kampf mit dem Chaos ist lediglich das Instrument eines tiefgründigeren Kampfes gegen die Meinung, denn das Unglück der Menschen rührt von der Meinung her. Die Wissenschaft wendet sich gegen die Meinung, die ihr einen religiösen Hang zu Einheit und Vereinheitlichung andichtet. Doch sie wendet sich auch in sich gegen die eigentliche wissenschaftliche Meinung in Gestalt der Urdoxa, die zum einen in der deterministischen Voraussage beruht (der Laplacesche Gott), zum anderen in der probalitären Näherung (der Maxwellsche Dämon): Indem sich die Wissenschaft von den Anfangsinformationen und den Informationen im Großmaßstab löst, ersetzt sie die Kommunikation durch Bedingungen der Kreativität“ [WPh 245].

Nicht unwichtiger ist allerdings der künstlerische Aspekt. Die Schilderung des Bildes vom ,Riss im Schirm‘ fährt nach dem Wort-Satz „Kommunikation“ so fort: „Immer weitere Künstler werden nötig sein, um weitere Schlitze anzubringen, um die notwendigen und vielleicht immer größeren Zerstörungen vorzunehmen und so ihren Vorgängern die unkommunizierbare Neuheit zurückzugeben, die man nicht mehr zu sehen vermochte. Das heißt, daß der Künstler sich weniger mit dem Chaos herumschlägt (das er in gewisser Weise aus vollem Herzen herbeiwünscht) als mit den ,Klichees‘ der Meinung. Der Maler malt nicht auf einer noch unberührten Leinwand, wie auch der Schriftsteller nicht auf j einem weißen Blatt schreibt, vielmehr sind Blatt und Leinwand schon derart bedeckt mit bereits bestehenden, fertigen Klichees, das als erstes ausgewischt, gewaschen, gewalzt, ja zerfetzt werden muß, um einen Luftzug vom Chaos her eindringen zu lassen, der uns die Vision bringt.“ [WPh 241 f.]

Dies ist der Augenblick, von dem wir nicht wissen, ob er für die Zeit zu lang oder zu kurz ist. Wir erhalten Peitschenhiebe, die wie Arterien pochen. Wir verlieren fortwährend unsere Gedanken. Deshalb krallen wir uns so verbissen an verfestigte Meinungen.“ – so die ersten, zunächst beobachtenden Sätze dieses Kapitels „Schluß. Vom Chaos zum Gehirn“ [WPh 238].

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Es geht dabei keinesfalls darum, mit Kunst selbst Chaos schaffen zu wollen, so sehr Kunst für Deleuze/Guattari Chaos affirmiert: „Ein chaotisches Werk ist gewiß nicht besser als ein Werk der Meinung, die Kunst besteht aus Chaos ebensowenig wie aus Meinung; aber wenn sie sich mit dem Chaos herumschlägt, dann, um ihm die Waffen zu entlehnen, die sie gegen die Meinung richtet, um sie mit erprobten Waffen besser schlagen zu können. Ja sogar weil das Gemälde zunächst mit Klichees gespickt ist, muß der Maler sich dem Chaos stellen und die Zerstörungen vorantreiben, um eine Empfindung zu erzeugen, die jeder Meinung, jedem Klichee[ ] trotzt (wie lange?). Die Kunst ist nicht das Chaos, wohl aber eine Komposition des Chaos, die die Vision oder Sensation schenkt, so daß die Kunst einen Chaosmos bildet […] – weder vorausgesetzt noch vorgefaßt.“ [WPh 242]

Chaos, Zufall und Ereignis: Anhand von Gräbs Rede des ,Selbstverständnisses‘ als ein ,Mich–in-der-Sache-des-Textes-Verstehen‘, das dem Schrift-Verstehen Grundlage sein soll, wird in Verbindung mit diesem Bild unter den Aspekten von Kunst und Wissenschaft zweierlei deutlich: Zum einen das transzendentalphilosophische Problem der Priorisierung des Signifikanten gegenüber beliebiger Signifikate; daraus folgt erneut das cartesische Grundproblem121 seiner Hermeneutik, und zwar in Bezug sowohl auf die Prediger:innen als auch die Hörer:innen. Transzendentalphilosophisch setzt Gräb unter der Hand einen absoluten, objektivierten Signifikanten, der über ebenfalls signifikante Predigten gedeutet werden müsse – der ,Sinn‘ oder auch ,Gott‘. Nicht nur negiert diese Vorannahme die Erkenntnisse poststrukturalistischer Philosophie, wonach die Struktur des Sinns aus einer hierarchielos geordneten Vielzahl an stets auf sich selbst verweisenden und voraussetzenden Signifikanten besteht (vgl. oben Kapitel 3.3.2). Schwerer wiegt: Ist Sinn auch hier nur dort, wo ein Überschuss an Signifikanten gegenüber den Signifikaten besteht, wird noch einmal das Problem der Hierarchie insbesondere an Gräbs cartesischem Missverständnis deutlich, wonach es insbesondere Prediger:innen zukommt, das vermeintliche Deutungsdefizit ihrer Hörer:innen auszufüllen, indem ein starkes ,Ich‘ einem schwachen ,Euch‘ im Verhältnis zu einem ansonsten Unbestimmbaren gegenübergestellt wird.122 Im Bild von Deleuze und Guattari gesprochen wäre dann „Kommunikation“123 als Deutung eine „Meinung“, die Prediger:innen erwartbar und not121 „Selbst das Cogito ist nichts als eine Meinung, bestenfalls eine Urdoxa, solange man daraus nicht die untrennbaren Variationen zieht, die aus ihm einen Begriff machen, vorausgesetzt, man verzichtet darauf, darin einen Schirm zu finden oder einen Schutz“ [WPh 247]. 122 Dass dieses Problem auch unmittelbar in die praktisch-theologischen Disziplinen des Gemeindebaus und der Pastoraltheologie ausgreift, dürfte auf der Hand liegen. 123 Auch „Kommunikation des Evangeliums“ – ein Begriff, auf dessen Autorität sich Gräb mit Vorliebe beruft –, allerdings weniger in seiner Prägung durch Ernst Lange denn gegenwärtig durch Christian Grethlein.

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wendig haben sollen, um sich selbst und eine Gemeinde davor zu bewahren, sich einem Chaos auszuliefern, das erst Kreativität und (Wort-)Schöpfung garantierte, weil es sich einem deutenden Zugriff verschließt und verwehrt. Predigt allerdings, die im Dienst eines plausiblen und undifferenzierten Sinnganzen124 Meinungen als Deutungsangebote mit-teilt, vergeudet entsprechend philosophisch, wissenschaftlich und nicht zuletzt als Sprach-Kunst ihre kreativen und schöpferischen Potenziale. Das heißt auch, dass Predigt, die die Unterbrechung des eigenen und der anderen Selbstverständnisse(s) scheut, notwendig im Erwartbaren stecken bleibt. M.a.W.: Weil nicht alles, was „Sinn ergibt“, auch sinnvoll ist, ist eine solche Predigt weit entfernt davon, Ereignis werden zu können.

3.2 Martin Nicol und die ars homiletica fiendi Von der Kunst als „Chaosmos“ zur Predigt als „Kunst unter Künsten“125: Martin Nicol (*1953) stellt (gemeinsam mit Alexander Deeg [*1972]) Predigt unter dieses Leitwort, das getragen wird von einer zumindest hinsichtlich der verwendeten Häufigkeit des „Sinn“-Begriffs bei Gräb vergleichbaren Verwendung des Begriffs „Ereignis“. Anders als bei den meisten hermeneutischen Theologien126 zeichnet Nicols Dramaturgische Homiletik allerdings ein Vorgehen aus, dass sich einerseits der Grundeinsicht der ,Ästhetischen Wende‘ verschreibt, wonach Form und Inhalt inseparabel miteinander verschränkt sind und woraus folgt, Ereignis nicht streng zu definieren, sondern sprachlich vor allem ausgehend von den Worten, Bildern und Geschichten (statt von menschlicher Erfahrung als dem Apriori) zu ,zeigen‘. Gleichzeitig findet Martin Nicol nach dem performative turn und angeregt durch die New Ho124 Ein „Ganzes“ ist, wie gezeigt, notwendig undifferenziert. 125 Predigt als „Kunst“ zu verstehen, ist – das wissen Martin Nicol und Alexander Deeg – freilich kein novum der Dramaturgischen Homiletik. Der grundsätzlich kunst-handwerkliche Aspekt von Predigt ist prominent von Schleiermacher eingeführt worden (Vgl. etwa Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt, Berlin 1850, 30–50), u. a. von Niebergall (vgl. Friedrich Niebergall, Die evangelische Kirche und ihre Reformen, Leipzig 1908), aber auch in liturgicis in der sog. Älteren Liturgischen Bewegung um Friedrich Spitta und Julius Smend weitergeführt und mit einigem, unter dem Einfluss der Dialektischen Theologie entstandenen Abstand im ausgehenden 20. Jahrhundert dann wirkungseffizient wieder neu entdeckt worden von Henning Luther (vgl. Henning Luther, Predigt als inszenierter Text. Überlegungen zur Kunst der Predigt, in: Wilfried Engemann/Frank M. L tze (Hrsg.), Grundfragen der Predigt. Ein Studienbuch, Leipzig 2006, 395–408). Gerade letzteres Idee von Predigt im Horizont der Künste wird entscheidend für jeden ästhetischen Ansatz der Homiletik: „Predigt wäre demnach nicht als Textauslegung zu begreifen, sondern als die Inszenierung eines Textes, als der j Versuch, den Text in die Szenen unserer Situation, unserer Gegenwart zu versetzen, damit er da neu wirken und leben kann.“ (aaO., 404 f.; Hervorhebungen im Original). 126 Vgl. das oben unter 1. zu diesem Teil der Studie Geschriebene.

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miletic vor allem bei David Buttrick (*1927) im Begriff der „Performativität“ ein Äquivalent, das sowohl Form als auch Inhalt von Ereignis am meisten entspricht.

3.2.1 Ereignis zwischen Kunstwerk und Geisteskunst: Dramaturgische Homiletik Ihren eigentlichen Ursprung hat die Dramaturgische Homiletik nicht in Martin Nicols ,Programmschrift‘, sondern noch in dem acht Jahre zuvor veröffentlichten Aufsatz „Im Ereignis den Text entdecken“127. In diesem prinzipiell-homiletischen Text geht es Nicol um das theologische Problem, das sich aus der methodischen Vorannahme einer ,homiletischen Schriftauslegung‘ als Weg „vom Text zur Predigt, von der Vergangenheit zur Gegenwart, von der Tradition zur Situation, von der Lehre zur Erfahrung, vom Inhalt zur Form, von der Auslegung zur Anwendung“128 ergibt. Es ist „[d]as grundlegende Problem Homiletischer Schriftauslegung, die Vermittlung von explicatio und applicatio“129, dem Nicol „Überlegungen zum j selbstwirkenden Gotteswort, zu einer in den biblischen Text eingeborenen Wirklichkeit“130 entgegenstellt. Er tut dies in einem Abriss der Historie der ,homiletischen Schriftauslegung‘ von Franz Ludwig Steinmeyer (1811–1900) über Martin Doerne (1900–1970) bis Ernst Lange (1927–1974), um mit Friedrich Mildenberger (1929–2012) einen thematischen Kontrapunkt zu setzen. Nicol greift Mildenbergers Begriff der „einfachen Gottesrede“131 auf und versieht ihn mit einer fundamentalhomiletischen Variation: „Im folgenden spreche ich nicht von ,einfacher Gottesrede‘, sondern von ,Ereignissen‘, verweise damit aber auf dieselbe Ebene des Sprechens: existentielles Sprechgeschehen im (weit verstandenen) Deutehorizont des christlichen Glaubens. Auf dieser j Ebene ,ereignet‘ sich so etwas wie die situative Erschließung der Nähe Gottes in der Welt durch biblische Texte.“132 Dieser Ansatz und diese Reformulierung hat die Umkehr des Weges „vom Text zur Predigt“ zum Ziel: „Schriftauslegung hat nicht mehr die Predigt als ihre erfahrungsorientierte Anwendung hervorzubringen, sondern sie denkt, sorgfältig wahrnehmend und kritisch begleitend, den ihr vorgegebenen Ereignissen der ,einfachen Gottesrede‘ und mithin auch 127 Martin Nicol, Im Ereignis den Text entdecken. Überlegungen zur homiletischen Schriftauslegung, in: J rgen Roloff/Hans G. Ulrich (Hrsg.), Einfach von Gott reden. Ein theologischer Diskurs, Stuttgart 1994, 268–281. 128 AaO., 268. 129 AaO., 273. 130 AaO., 270 f. 131 Vgl. Friedrich Mildenberger, Prolegomena: Verstehen und Geltung der Bibel (Biblische Dogmatik Band 1: Eine biblische Theologie in dogmatischer Perspektive), Stuttgart 1991. 132 Nicol, Im Ereignis den Text entdecken, 276 f.

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der Predigt nach.“133 Konkret bedeutet das: „Eine Homiletische Schriftauslegung, die sich innerhalb dieser Bestimmung bewegt, wird es nicht als ihre Aufgabe sehen, zwischen Text und Situation zu vermitteln, sondern bereits geschehene Vermittlungen zu entdecken und kritisch zur Sprache zu bringen. Im Ereignis den Text entdecken – so ließe sich die Aufgabe schlagwortartig benennen.“134 Dieser Aufsatz wird zur tragenden Basis der Programmschrift der Dramaturgischen Homiletik „Einander ins Bild setzen“135. Sie ist als homiletische Konzeption im Geiste des durch die New Homiletic angestoßenen Aufbruchs verfasst als homiletische Konzeption von Ereignis, die sich funktionaler Bestimmungen entzieht und ganz im Wortsinne theologisch verstanden sein will.136 Sie „wehrt der Dualisierung der Wirklichkeit“ und betont explizit „die ästhetische Qualität der Einheit von j Inhalt und Form. Im ,Ereignis‘ wird das vielschichtige Phänomen der gehaltenen, erlebten, auch erlittenen Predigt fassbar. Was ich in der Predigt höre, ist nicht zu trennen von der Weise, wie es die Predigerin sagt und ich es aufnehme. Ich kann keinen abstrakten ,Inhalt‘ mehr trennen von der ,Form‘ […]. Mit dem Ansatz beim ,Ereignis‘ wird Predigt endgültig nicht mehr als Schreibtischprodukt angesehen, sondern als ein Lebensphänomen gewürdigt“137.

Predigt kann, so verstanden, nicht in Informationen aufgehen, sondern partizipiert idealiter immer am Ereignis, das sie ausdrückt. So schreibt Nicol in einen grau unterlegten ,Motto‘-Kasten unter der Überschrift „1.4 Predigt als Ereignis. Theologie“138: „Predigt ist weder Information noch Instruktion, sondern Ereignis des Wortes Gottes“, unverfügbar und wirksam zugleich.139 D. h.: „Die Predigt redet nicht über Ereignisse des Glaubens, sondern sie ist selbst, potenziell jedenfalls, ein Ereignis, in dem Gott Menschen in seine Wirklichkeit hineinzieht.“140 Einfach gesagt: Wo es der New Homiletic und 133 AaO., 277. 134 AaO., 278. 135 Vgl. dort nur die gleichnamige Überschrift mit dem Untertitel „Hermeneutik“ unter dem Punkt 1.5. 136 So schreibt Nicol unter der Teilüberschrift „Glaube“ in Kapitel 2.4 seiner Programmschrift: „Das ,Ereignis‘ ist die bewegende Mitte dieser Dramaturgischen Homiletik; ihr Ziel im Sinne von Zielplanung und Ertragssicherung kann es nicht sein. Das Ereignis ist weder j methodisch machbar noch im Nachhinein mit wissenschaftlicher Zuverlässigkeit fixierbar. Ob und inwiefern die Predigt selbst ein Ereignis war, lässt sich nicht mit wissenschaftlicher Präzision bestimmen. Das lässt sich allenfalls in behutsamen Sprachbemühungen des Glaubens entdecken. Ereignisse sind nur im Medium einer Sprache zu beschreiben, die ihrerseits mit dem Geist rechnet und damit, dass er sich in menschliche Sprachspiele einmischt. Man kann sie als ,Sprache des Glaubens‘ (Gerhard Ebeling) bezeichnen.“ (Martin Nicol, Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, Göttingen 22005, 127 f.). 137 AaO., 26 f. 138 Vgl. auch aaO., 51 im Dialog mit Schleiermachers berühmter Definition von Religion im Gegensatz zu Metaphysik und Moral in seiner „Zweiten Rede“. 139 Vgl. aaO., 48 mit und zu Richard Lischers „The Preacher King“. 140 AaO., 47.

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Nicol um Predigt als Ereignis geht, geht es um nicht weniger und geht es stets um Gott, um sein Wirken, seine Nähe, seine Wirklichkeit, Begegnung mit ihm. Dabei weiß Nicol um die latente Überforderung, die in dieser dialektischen Grundannahme für Prediger:innen stecken kann, und bemerkt dazu (vor allem mit Blick auf die oben vorgenommene Unterscheidung zwischen „Jetzt“ und „Augenblick“) scharfsinnig: „Wer noch den existenzialen Klang von j ,Ereignis‘ im Ohr hat, wird fragen, ob ein so flüchtiger Moment wie das Ereignis überhaupt als Kategorie homiletischer Praxis taugt. Es geht aber in der New Homiletic nicht, wie in der frühen Dialektischen Theologie, um die existenzialistische Überhöhung des Augenblicks mit ihrem überspannten Punktualismus. Der ,event‘ von New Homiletic schließt den Augenblick ein, ohne dass es sich nur um ein flüchtiges Augenblicksgeschehen handeln würde. […] In lebensgeschichtlicher Präzisierung wird das ,Ereignis‘ zum zentralen Begriff einer Homiletik, die ein reales Predigtgeschehen theoretisch, praktisch und vor allem theologisch verantworten möchte.“141

„Predigt als Ereignis“ betont die Besonderheit der Normalität entsprechend mehr als die Normalität des Besonderen: „Zum einen geht es um das Unverfügbare, Nichtmachbare. In der Predigt wird das vom Wirken Gottes erwartet. Zum anderen aber geht es um das Besondere, Einmalige […]. Aber grundsätzlich meint das Konzept ,Predigt als Ereignis‘ die normale Predigt, nicht das Ausnahmeereignis.“142 Will Homiletik so ,im Ereignis den Text entdecken‘, heißt es Abschied zu nehmen von einer objektivierenden Semiotik der Begriffe „Sinn“ und „Bedeutung“, und diese Erkenntnis hat bibelhermeneutische und performativitätsästhetische Konsequenzen auf pneumatologischer Grundlage. Mit Henning Luther143 (1947–1991) distanziert Nicol sich in seiner Programmschrift nachdrücklich vom texthermeneutischen applicatio-explicatioModell ,vom Text zur Predigt‘, wenn gilt: „Die Bedeutung eines Textes liegt nicht in ihm ,wie der Keks in der Keksschachtel‘“144. So bekommen die ,Worte, Bilder und Geschichten‘ der Bibel den Primat vor menschlichem Drang oder Zwang, in der Schrift eine Aussage, einen ,Skopus‘ gar, finden zu müssen und vervielfältigt sich ein hierarchisch und monolinearer Verstehens- als Zugriffsbegriff, der im Verstehen-müssen mit nicht mehr als der eigenen Doxa bzw. Meinung vor dem Text steht;145 kurz: „[d]er Predigtprozess kulminiert im Ereignis.“146 141 AaO., 54. 142 Ebd. 143 Vgl. Henning Luther, Spätmodern predigen, in: Ders. (Hrsg.), Frech achtet die Liebe das Kleine. Biblische Texte in Szene, Stuttgart 1991, 11–14. 144 Nicol, Einander ins Bild setzen, 58. 145 Wie etwa auch Schleiermacher in seiner „Dritten Rede“ in dieser Art von einer „Wut des Verstehens“ spricht (vgl. Schleiermacher, Über die Religion 120 [252]), habe ich über das ,Verstehen als bürgerliche Kategorie‘ mit Mark Uwe Klings Känguru und Gilles Deleuze im

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„Die Formel ,Vom Ereignis zum Text‘ meint, dass ich vom geistgewirkten Verstehen biblischer Worte, Bilder und Geschichten zurückfrage nach der Textgestalt in der Bibel. So setzt sich die Formel polemisch ab gegen die traditionelle Wegbeschreibung ,Vom Text zur Predigt‘. Freilich verdeckt die Formel, dass nun nicht lediglich der traditionelle Weg in umgekehrter Richtung begangen wird. In einem komplexen Predigtprozess kann es überhaupt keine linearen Wege mehr geben. Hermeneutische Fortbewegung erfolgt prinzipiell zirkulär. Dieser Einsicht entspricht unsere Leitformulierung ,Im Ereignis den Text entdecken‘ weit besser als die scheinbare Beschreibung eines Weges ,Vom Ereignis zum Text‘.147

Nicol markiert damit eine wichtige ästhetische Einsicht, die ihn zur unmittelbaren Verbindung von „Ereignis“ und „Performance“ führt. Wo Predigt ,Kunst unter Künsten‘ ist, verabschiedet Homiletik sich nicht nur von einem überkommenen Bedeutungsbegriff, sondern erweitert zugleich ein allzu simplifizierendes Sinnparadigma, wie Nicol mit einem Zitat von David Buttrick pointiert en passant bemerkt: „Biblische Sprache ist nicht wie ein Stillleben, aus dem ein objektiver Betrachter einen Gegenstand als Thema einer Diskussion herausnimmt; sie gleicht mehr einem Stück Film, das in einer bewegten Sequenz Sinn zum Ereignis macht.“148

Nicht umsonst sind vor allem Film, Theater und Vokal- wie Instrumentalmusik (und das Genre derer Kritiken) die wichtigsten Referenzpunkte der Dramaturgischen Homiletik. Mit den Künsten schätzt diese homiletica das Uneindeutige confisa Deo mehr als das epistemologisch allzu schnell Eingeebnete. Ihr geht es um Prozesse, die sich nicht auf den Begriff bringen lassen und die im dialektischen Zwischenton Brüche und Spannungen akzentuiert, statt sie in „Sinn“ aufzulösen: „Dramaturgische Homiletik widmet sich […] Prozessen. In verschiedenen Suchperspektiven entdeckt sie Performances bzw. Ereignisse [sic!] lebendiger Aneignung biblischer Texte, versteht die biblische Vorgabe selbst als Szenario künftiger Performances und verortet die eigene Predigtperformance in diesem Prozess.“149 Von John L. Austins sprachpragmatischer Grundfrage „How to do things with words“ war es ein gedanklich kurzer (wenn auch zeitlich etwas längerer) Weg hin zu ihrer homiletischen Entfaltung bei David Buttrick u. a. in der (weil

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Rahmen einer Göttinger Predigtmeditation zu diesem Schwerpunkt nachgedacht; vgl. Ferenc Herzig, Intellectus quaerens fidem. Der nahe Herr, die Logik und das Herz, in: GPM 70 (2015) 1, 30–35. Nicol, Einander ins Bild setzen, 58. AaO., 59. David Buttrick, On Doing Homiletics Today, in: Intersections. Post-Critical Studies in Preaching (ed. Richard Eslinger; Grand Rapids 1994, 95, in deutscher Übersetzung zitiert bei Nicol aaO., 30 (Hervorhebung FH). AaO., 62.

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das Ereignis selbst bezeichnend ins Deutsche unübersetzbaren) Zuspitzung „To make things happen“. Dass Nicol diesen Gedanken aufgriff, kann im Nachhinein als naheliegend verstanden werden, gerade weil im Zeichen der sich ästhetisch orientierenden Praktischen Theologie Paralleldisziplinen wie nicht zuletzt die Theaterwissenschaft immer stärker in den Fokus der deutschsprachigen Homiletik rückten. Es verwundert insofern nicht, dass für Nicol vor allem ,Performance‘ zum Leitsynonym für Ereignis wird und dabei grundsätzliche gottesdienstliche Geltung entfaltet: „Jeder Gottesdienst ist im gewissen Sinn Theater. Theater – das bedeutet unter anderem: eine deutlich gestaltete Handlung, einen Ablauf mit einer Mehrzahl von Beteiligten in einer Vielfalt von Rollen, ein Geschehen für Ohren und Augen, ein, semiotisch gesprochen, Gemisch unterschiedlichster Zeichensprachen. Ebenso wie beim Theater zählt beim Gottesdienst nicht allein das Textbuch bzw. die Agende, sondern die Aufführung, die lebendige Gestaltung, der Vollzug. Ein sorgfältiges Inszenieren, eine stimmige Dramaturgie ist für den Gottesdienst in ähnlicher Weise unabdingbar wie für ein Geschehen auf der Bühne. Es macht also Sinn, Gottesdienst in Analogie zum Theater zu sehen.“150

Gedankliche Vorläufer dazu finden sich in den späten 1990er Jahren in Reaktion auf die Entstehung des Evangelischen Gottesdienstbuches: „Michael Meyer-Blanck hat eine ästhetische Sicht des Gottesdienstes entworfen. Er entfaltet seine Anleitung zum Umgang mit der Erneuerten Agende unter dem programmatischen Titel einer ,Inszenierung des Evangeliums‘. Mit dem Begriff der Inszenierung kommt die ästhetisch fundamentale Relation zwischen Form und Inhalt zur Geltung. Gottesdienst als Inszenierung unterscheidet sich deutlich von Veranstaltungen, die dem Bericht oder der Information dienen. Im Gottesdienst wird, so Meyer-Blanck, ,nicht von einer anderen Wirklichkeit berichtet, sondern die Wirklichkeit des redenden Gottes wird liturgisch gesetzt‘. Es geht, kurz gesagt, nicht um Referat, sondern um Repräsentation.“151

Das gilt mutatis mutandis und insbesondere für Predigt, die dort ,dramaturgisch‘ wird, wo sie sich am Leitbild Theater orientiert. Für Nicols Begriff dramaturgisch-homiletischer Performance als Ereignis entscheidend wurden auch hier Impulse aus den USA, vor allem Jana Childers Konzept des „Preaching as Theatre“152 (neben grundsätzlichen Bemerkungen bei Fred Craddock)153: „Preaching and theatre share a great deal of ground, whether we care to admit it or not“154 – mit diesem Satz beginnt Childers ihre Exploration in diese 150 Ders., Gestaltete Bewegung, 152. 151 AaO., 159. Nicol zitiert Michael Meyer-Blanck, Inszenierung des Evangeliums. Ein kurzer Gang durch den Sonntagsgottesdienst nach der Erneuerten Agende, Göttingen 1997, 18. 152 Jana Childers, Performing the Word. Preaching as Theatre, Nashville (TN) 1998. 153 Vgl. Nicol, Gestaltete Bewegung, 160–162. 154 Childers, Performing the Word, 9.

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ästhetische Zwischenwelt einer erneuerten Homiletik nach dem Abschied des „three points and a poem“-Paradigmas seit den 1980er Jahren.155 Form und Inhalt nicht nur begrifflich zusammenzuhalten, sondern als „event“ (mit auch in dt. Übertragung sachlich korrekter Minuskel) ganz praktisch aktualisiert zu sehen, verbindet sich hier mit einer Analyse der Gemeinsamkeiten von Predigt und Theateraufführungen, die laut Childers wesentlich miteinander verwandt sind und voneinander lernen können (und sollten): „Why shouldn’t they learn from the other? Theatre and preaching share essential characteristics and qualities that can be said to be true of art in general: each probes for meaning; each is organic by nature; interest and integrity are requisite; distance plays a role; experience is the goal. In giving form to feeling, art creates something that was not there before. It is mimetic, sometimes nemetic, and may be prophetic as well.“156 Im Kern geht es um die drei Hauptgemeinsamkeiten „action“, „distance“ und „performance“, von denen die Rahmenbegriffe „action“ und „performance“ für Dramaturgische Homiletik am entscheidendsten sein dürften. Zuerst „The Role of Action“: „Drama and homiletics each have at their root the antagonistic. The English words act, agitate, and agony are derived from the same j Indo-European base ag-, ‘to drive.’ From this also comes the Latin agere, ‘to do.’ While theatre is widely understood as actors acting, it may be surprising to some to hear that there is anything active—let alone antagonistic—about the pulpit-bound act of preaching.“157 Schaute man allerdings theologisch etwas gründlicher, entdeckte man laut Childers genau dies als relevant für gegenwärtiges Predigen: homiletische Bewegungen, die den Bewegungen des Textes folgen, seine Fragen ernst- und aufnehmen und sich vom Text Orientierungshilfen für die Predigtform suchen. „In this sense, then, it is clear that the theatrical notion of action is applicable to preaching. Actually this understanding of j action may be seen to undergird preaching […]. First, preaching interprets conflict-laden texts and applies them to conflict-laden situations. The birth, death, and resurrection narratives, which are the focus of Christian preaching158 and which gave rise to the early medieval passion plays, are every bit as conflictual as the Dionysian dythrambs [sic!] from which sprang Greek theatre. The cosmic struggle between life and death forms the spine of every Christian sermon; the personal struggle with good and evil fleshes out each moment in the pulpit.“159 155 156 157 158

Vgl. aaO., 42. AaO., 37. AaO., 39 f. (Hervorhebungen im Original). Ob das tatsächlich so ist oder sein sollte, kann man freilich Blick auf den Kanon der Schrift mit guten Gründen fragen … 159 Childers, Performing the Word, 41 f.

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Predigt ist nach Childers Aktion und Akt – ,action‘ bzw. ,act‘, nimmt die Bewegung existentiell-dramatische des Textes auf verbindet sie mit dem gelebten Leben der Hörer:innen, jedenfalls wo es gut geht: „Sermons are act, active and action. They move or they ought to.“160 Kurz: Es geht darum, aufzuführen, worum es dem Text heute und vor dieser konkreten Gemeinde für diese:n konkrete:n Prediger:in geht. Dann „The Role of Performance“: „In performance, the self is an instrument for the following-through or carrying-out of an impulse“, d. h., Prediger:in und Textimpuls werden im Akt des Predigens eins, wo und wenn der Text durch die Predigtperson ,inkorporiert‘ wurde. Dieses Verständnis grenzt Childers weiträumig ab gegen naheliegende und herrschende Missverständnisse der Predigt als ,bloßem‘ „Schauspiel“, die hartnäckig das Verdikt des intendierten Wahrhaftigkeitsmangels transportieren. Childers bemerkt demgegenüber: Was ein:e Prediger:in selbst nicht durch den Text, den sie ,performt‘, erfahren hat – d. h., was sich ihr oder ihm selbst nicht ,ereignet‘ hat –, kann notwendig auch nicht in eine Predigt des Wortes Gottes als transformatives Ereignis münden: „[I]n expressing the emotions, ideas, or suggested by the text, the performer goes only as far as he or she can justify. […] j The resulting communication is characterized by a degree of […] sincerity that belies our stereotypic ideas about acting. Honest actors do not deceive. They show us something that is true. They make themselves present in the words. The more skilled and disciplined they are, the more accurately they show us ourselves.“161

Das Stichwort „Transformativität“ ist schon berührt worden. Es ist neben ,Creation‘ und ,Incarnation‘ entscheidend für den Prozess einer Predigt als „event“: „Creation“ versteht Childers zunächst autopassiv: „In the beginning of the performance process it is the task oft he actor or the preacher to hear what the text is saying […] by hearing a word, a word that comes from outside the performing itself. Creativity starts for the preacher and actor with listening.“162 „Incarnation“ ist demgegenüber „the phase where two separate entities join to create a third entity in which the integrity of each is still preserved. An actor joins the script, a preacher joins the text, and a third thing is born of the union.“163 „Transfomation“ schließlich folgt zwangsläufig aus den beiden vorangegangen Aspekten des einen Prozesses: „As the preacher is caught up in the sermon, the preacher is changed. As the hearers are caught up in the play or the preaching, they give something of themselves to it and they accept some of it into themselves—and are changed.“164

160 161 162 163 164

AaO., 43. AaO., 51 f. (Hervorhebung im Original). AaO., 53 (Hervorhebung im Original). Ebd. (Hervorhebung im Original). AaO., 54. Einige Seiten zuvor (21; Hervorhebung im Original) beschreibt Childers den gleichen Prozess in einer interessanten Umkehrung, nach der es der Prozess selbst ist, der Prediger:in und Predigt ,aktiv‘ beeinflusst: „Preaching is also a transforming event that interprets sacred

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Das alles führt zum Leitwort „Towards a Lively Homiletic“, wie Childers ihr erstes Kapitel überschreibt: „This book is about adding liveliness to all that is already solid and graceful in contemporary preaching.“165 Das Leitwort, von Jana Childers gleich am Beginn des ersten Kapitels gesetzt und italisiert, lautet: „Preaching is by its very nature an event.“ Childers fährt fort: „Preaching is something happening. It is more process than document, more experience than artifact, more volcano than igneous rock.“166 Predigen ist so in Verknüpfung mit einem theatralen Performance-Begriff ein grundsätzlich theologisches167 und konkret gemeindeinklusives, ekklesiologisches, „is a corporate event, which does not mean that it cannot also be personal. Part of the peculiar alchemy of preaching […] is the way in which listeners sitting in the same room, focused on the sound of the same human voice, are wound together.“168 Am Stichwort der ,Performance‘ zeigt sich zudem die Paradoxalität des Leitworts der New Homiletic, ,to make things happen‘ im RedenIn statt RedenÜber.169 Martin Nicol weiß (mit Alexander Deeg) um die Unverfügbarkeit von Ereignis: „Im Ereignis des Verstehens ist der Heilige Geist am Werk. Ich kann das Ereignis nicht machen. Wohl aber kann ich den Spuren solcher Ereignisse [von Performances, in denen das Bibelwort Ereignis wurde] nachgehen. Dramaturgische Auslegung will das Ereignis inspirierten Verstehens nicht synthetisch produzieren. Sie will auch nicht das Ereignis zerstören, indem sie es analytisch zerlegt. Die dramaturgische Erkundung der Worte, Bilder und Geschichten der Bibel ist weder synthetisch noch analytisch, sondern ästhetisch. Dramaturgische Auslegung nimmt Ereignisse in ihrer Ganzheit aus Inhalt und Form wahr. In dieser Spur gewinnt auf der Kanzel eine neue Performance Gestalt, die, so Gott will, zum Ereignis wird. Das ist PredigtKunst.“170

Predigt im Ereignishorizont ist damit neben bedeutungsschwerem Postulat als ,Kunst unter Künsten‘ nicht zuletzt, schlicht und ganz praktisch – wo und wenn der Heilige Geist am Werk ist – dies: Handwerk.171

165 166 167 168 169 170 171

texts. The interpretation process acts on the preacher and the listeners. As they bring themselves to the biblical text, they are changed.“ AaO., 35. AaO., 20 (Hervorhebung im Original). Vgl. aaO., 21–24. Ebd. Vgl. Alexander Deeg u. Martin Nicol, Im Wechselschritt zur Kanzel. Praxisbuch Dramaturgische Homiletik, Göttingen 22013 15 f. et passim. Nicol, Einander ins Bild setzen, 77. Auch die explizite Verbindung von Kunst und Pneumatologie, die für Dramaturgische Homiletik wichtig ist, kann sich auf den Vater der Praktischen Theologie berufen, wenn Schleiermacher erkennt: „Sodann ist nicht zu leugnen, daß wenn der göttliche Geist in den Menschen wohnt, er dann auch menschlich, auf eine der menschlichen Natur gemäße Weise wirkt, und so müssen seine Wirkungen auch als menschlich richtige dargestellt werden, und das ist es was wir unter Kunst verstehen. Also können sich Wirksamkeit des göttlichen Geistes und Kunst

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„Als Leitbild für eine Predigtarbeit zwischen Kunst und Handwerk schlage ich vor: Predigtmachen. […] Durch die Verwandtschaft mit dem Filmemacher, dem Theateroder Liedermacher stehen Predigtmacherin und Predigtmacher nicht beziehungslos im Raum. Es gibt Leute, bei denen ich mir Rat holen kann. Leute, für die der Umgang mit Bildern täglich Brot ist. Leute, die Spannungsbögen gestalten können. Die Unterhaltung nicht als unangemessene Kategorie ansehen. Die um den Zusammenhang von Inhalt und Form wissen. Die Zauber und Anspannung der Live Performance aus eigener Erfahrung kennen. Die ihre Kunst ausüben im Spiegel und im Kreuzfeuer der Kritik. Es gibt Leute, bei denen ich mir Rat holen kann und die, vielleicht, auch einmal Rat brauchen von mir. Predigtmachen – Kunst unter Künsten.“172

Am Stichwort Live Performance, das Nicol erwähnt, ist die intrikate Verquickung von Prediger:in und Predigt überaus interessant, weil Nicol in seiner Programmschrift sogar beide gleichermaßen (wenn auch eher am Rande) als Ereignis verstehen kann: „Die Predigt ist potenziell Ereignis. Man sagt aber auch, dieser Prediger oder jene Predigerin sei ein Ereignis (gewesen). Es gibt Predigtereignisse, die sich zum Ereignis einer Predigtpersönlichkeit verdichten.“173

Jedenfalls: Wo Predigt als handwerkliche Kunst Ereignis werden kann, ist ihr Instrument notwendig Sprache, die behutsam verwendet werden muss und auch ganz praktisch verwendet werden kann: Gerade nach dem Vorzeichen der Ästhetik ist es möglich, Gottes Ereignis sprachlich nachzugehen und so die Predigt ubi et quando visum est Deo Ereignis werdend zu gestalten:174 „Die Sprache der Predigt ist […] ,Rede‘, nicht ,Schreibe‘. Darauf sollte achten, wer am Manuskript arbeitet. Mündliche Sprache gehorcht spezifisch anderen Gesetzen als das geschriebene Wort. Bis in Wortwahl und Satzbau hinein lassen sich Unterschiede markieren. nicht widersprechen.“; Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt, 30. 172 Nicol, Einander ins Bild setzen, 71. 173 AaO., 130. 174 Interessant ist, zu beobachten, dass im Überschritt von ,Kunst‘ zu ,Handwerk‘ sowohl in Nicols ,Programmschrift‘, deutlicher aber noch im zusammen mit Alexander Deeg verfassten Nachfolge- und ,Praxisbuch‘ der Dramaturgischen Homiletik die Verwendung des Begriffswortes „Ereignis“ mit wenigen Ausnahmen keinerlei hermeneutische Funktion mehr erfüllt. Das fällt schon im Unterschied vom ersten zum zweiten Hauptkapitel der Programmschrift mindestens anhand der Häufigkeit der Verwendung von „Ereignis“ auf, wird im ,Wechselschritt-Buch‘ allerdings offensichtlich: „Ereignis“ dient hier vor allem als ein theologischer Grundlagenbegriff, der methodologisch sachgemäß nicht leicht handhabbar und unter den handwerklichen Aspekten eines Lehrbuchs nicht zielführend ist: „Ereignis“ in von Komposita gelöster Reinform begegnet im ersten Kapitel der ,Programmschrift‘ noch nahezu auf jeder Seite und dort häufig mehrfach; im ,Praxisbuch‘ erscheint das Wort insgesamt 15 Mal und meint in nur fünf dieser Fälle mehr als ein tagesaktuelles oder politisches datum. Vgl. Deeg/ Nicol, Im Wechselschritt zur Kanzel, 34.65.161.174.186 f. mit 35.75.109.163.166.

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Predigt ist gestaltete Bewegung. Diese Vorgabe macht skeptisch gegenüber abstrakten Begriffen, mahnt zur Zurückhaltung mit nominalen Sprachgestalten. Das Verbum ist die geborene Wortart für Bewegung. Rose Ausländer beschrieb einst einen Herbst der Wörter und Sätze (aus Grammatikalischer Herbst, 1967). Sätze haben sich aufgelöst, Adjektive welken, Worte verirren sich im Wind, Substantive sind siech geworden: ,Nur das Verbum / zaubert noch braun‘.“175

3.2.2 Ereignis zwischen Predigt und Person: Hermeneutische Stolperstricke Nicols Ansatz einer Homiletik im Ereignishorizont denkt implizit vieles an, das auf dem Hintergrund des im Sinn-Kapitel im A-Teil dieser Studie Geschriebenen einsichtig sein dürfte. Dabei springen vor allem zwei Bemerkungen unmittelbar ins Auge, die sich mit Deleuze weiterzudenken anbieten: Die gebotene Sorgfalt für eine ereigniswerdende Sprache und die damit implizierte Verschmelzung von Prediger:in und Predigt selbst als Ereignis, die daraus folgt, einerseits; die Zirkularität des hermeneutischen Erschließungsgeschehens, das sich zwischen Text und Prediger:in ereignet und daraus folgt, andererseits.

3.2.2.1 Sprachdimensionen und der homiletische Ereignis-Ausdruck Wo die Erkenntnis, dass Sprache Wirklichkeit nicht nur abbildet, sondern schafft, sich im ästhetischen Diskurs theologisch immer weiter durchgesetzt hat, drängten sich die homiletischen Konsequenzen nahezu auf. Nicols Dramturgische Homiletik steht zweifellos unter diesem Vorzeichen, mit den Erkenntnissen der etwa seit Gert Ottos (1927–2005) Predigtlehre176 rehabilitierten Dimension der Rhetorik praktisch ernst zu machen; Rose Ausländers „Herbst der Wörter und Sätze“ steht synekdochisch für die Bedeutung, die Sprache, d. h. Sprachformen, vor allem aber Wortarten, für den Ausdruck einer Predigt im Modell Dramturgischer Homiletik gewinnt: „Sätze haben sich aufgelöst, Adjektive welken, Worte verirren sich im Wind, Substantive sind siech geworden: ,Nur das Verbum / zaubert noch braun‘“ ist die poetische Summe poststrukturalistischer Philosophie nach Deleuze. Die homiletische Aufgabe, Ereignis durch Sprache auszudrücken, besteht im Anschluss an das oben Dargestellte darin, die Verbindung zu finden von Gesagtem und Gegebenem in Ausdrücken, die ihr eigenes Gegebensein transzendieren und auf einen Prozess, genauer: auf einen Effekt hinwirken. Wenn oben davon die Rede war, dass Ereignis durch Verben ausgedrückt wird, 175 Nicol, Einander ins Bild setzen, 119. 176 Gert Otto, Predigt als Rede. Über die Wechselwirkungen von Homiletik und Rhetorik, Stuttgart 1976.

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soll damit nun freilich keine Empfehlung für einen rein ,verbale‘ Predigt ausgesprochen werden – eine solche Predigt wäre nicht unsinnig im Wortsinne, sondern schlicht albern. Der Sinn ist ein tieferer, paradigmatischer: Verb und Infinitiv sind, poststrukturalistisch verstanden, die idealen Wortarten, um Ereignis auszudrücken, weil sie genau dies vermögen: Im Infinitiv ist die Möglichkeit ausgedrückt, ohne im Korsett der festgelegten Zeit arretiert zu werden, und das Verb selbst drückt Ereignis so aus, dass es das, wovon gesprochen wird, zugleich verwirklicht. Lyrisches „Braun“ statt semiotischem „Grün“: Rose Ausländer weist mit dem Verb „zaubern“ auf dieses Ereignis im Sprachgeschen hin, wo es selbst zum Attribut des Satzes – nicht des Subjekts – wird und die indizierte Farbe zum Prädikat gerinnt bzw. lediglich einen Seinszustand beschreibt. Die Wahl des Präsens ist geschickt, weil sie die Zeitdimensionen des Aufgeschriebenwordenseins, des Lesens und des Wirkens zusammenbindet, und deutet die homiletische Empfehlung des praesens historicum an. Für das Ereignis entscheidend ist die zeitliche Zielrichtung der Sprache: Gegenwart, die sowohl Vergangenheit als auch Zukunft vergegenwärtigt (Proust und Nietzsche) im radikalen Widerspruch zum Modell von Explikation und Applikation, das per sprachlichem Gewaltakt von der Gegenwart aus in eine (so) nie gewesene Vergangenheit oder (so) nie werdende Zukunft den Sprung über den erst dadurch aufgerissenen garstigen und unüberwindbar breiten Graben erzwingt – und sich darin verliert. Mehr noch: Jede Explikation verliert das Ereignis darin, das sie sich allein darauf beschränkt, Indikationen und Signifikationen abzubilden, wobei die Ebene der Manifestation selbst meist schamhaft verschwiegen bleibt. Oben wurde gesagt, dass Sinn mehr ist als Wahrheit, was in homileticis heißt, dass Ereignis in der Predigt jede Kategorie (logischer) Wahrheit übersteigt und sich dem binären Korsett der Wahrheitsfrage entzieht. Jede beliebige Predigt nun, die in der Expositition die Darstellung bzw. Bezeichnung der vermeintlichen (meist historischen) Situation der Perikope wagt, verfängt sich im Dickicht von ,wahr‘ oder ,falsch‘, und wie auch immer die Antwort darauf lautet: Homiletisch ist sie irrelevant. Entsprechend schwer hat es die Applikation als Ausweis der Satzdimension der Bedeutung/Signifikation, deren Kriterium das der Wahrheitsbedingung im Gesamtgefüge der Aussage ist: Steht nach Deleuze „die Wahrheitsbedingung nicht im Gegensatz zum Unwahren, sondern zum Absurden: zu dem, was ohne Bedeutung ist, was weder wahr noch falsch sein kann“ [LS 32], ist die homiletische Konsequenz solcher Aussagen gleichermaßen allenfalls Irrelevanz. Dass in diesem Modell sich um den Ausweis der Manifestation, d. h. des Urteils oder Wunsches etc. der Prediger:in zumeist nicht explizit bemüht wird und so die Kategorie der ,Wahrhaftigkeit‘ umschifft wird, ist nicht der Einsicht in das notwendige Verschwinden des Predigtsubjekts hinter den Text oder ,das Wort Gottes‘ geschuldet, sondern vergrößert das Problem der homiletischen Irrelevanz nur. Jedenfalls: Sinn bzw. Ereignis wird so nicht ausgedrückt. Das explizite Verschweigen der Dimension der Explikation im Modell von

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explicatio und applicatio verweist allerdings auf ein zweites, homiletisch grundlegenderes Problem, das gleichsam paradox ist: Denn einerseits ist vor allem die Dramaturgische Homiletik getragen von der (post-)strukturalistischen Erkenntnis, dass das Subjekt hinter den Text zurücktreten muss, wenn sich Sinn – jetzt: Gottes Wort ereignen soll. Das ist allerdings undenkbar ohne jede Subjektivität – jetzt: Menschlichkeit. Wenn mit Jana Childers gilt, dass das Selbst Instrument des Durchbruchs und der Aktualisierung dessen ist, was zum Ausdruck gebracht wird, und wenn Nicol schreibt: „Man sagt aber auch, dieser Prediger oder jene Predigerin sei ein Ereignis (gewesen). Es gibt Predigtereignisse, die sich zum Ereignis einer Predigtpersönlichkeit verdichten“, liegt die Gefahr auf der Hand: Das Subjekt dominiert den Text, vertritt das Ereignis seines Sinns und tritt so an seine Stelle. Zugleich ist damit aber auch eine homiletische Chance angezeigt, die Nicol nicht weiter ausbuchstabiert, die aber an Alice in ihrer Namenlosigkeit ,hinter den Spiegeln‘ anklingt: Im „Wald ohne Namen“ (vgl. oben) wird Alice, indem sie in ihn eintritt, eins mit den Dingen, die sie vordem bezeichnen konnte: Nicht nur die Indikationen verlieren ihre Bedeutung, auch die Person selbst lässt sich nicht mehr einordnen in das Reich der Signifikanten. Sie kann sich nur im modus des Verweises an einen Baumstamm klammern, dessen Begriff ihr entfallen ist, und wird eins mit dem ,Unbegreiflichen‘, d. h. mit den unbegrifflichen Dingen, die sie umgeben. Alice als Paradigma einer persona homiletica geht ganz auf in dem, was sie umgibt, worauf sie verweisen will und was sie selbst so sehr in den Sog des Unbestimmbaren zieht, dass sie von einem Anderen – bei Carroll einem Reh – an ihr Eigensein erinnert werden muss, um dessen Bedeutsamkeit von wiederum einem Anderen – dann Goggelmoggel – kurz darauf wieder abgesprochen zu bekommen. 3.2.2.2 Rhizom als texthermeneutisches Paradigma Alice, die Predigerin als Zeugin im Ereignissog des Gotteswortes, verweist zugleich auf die jedem Predigtereignis inhärente Regression des Sinns, der sich dem Jetzt ent- und stets auf seine Vor- und Nachläufer bezieht. Ist das Paradigma der Dramaturgischen Homiletik, die „Worte, Bilder und Geschichten der Bibel“ zu inszenieren, liegt der Vergleich von Bibel und Deleuzes und Guattaris „Tausend Plateaus“ nahe – ein Buch, das selbst kein linearhierarchisch strukturiertes Buch sein, sondern auf jeder Seite oder in jedem Kapitel aufgeschlagen je neue Verbindungen zu seinen zwischen den Buchdeckeln versammelten Paralleltexten ziehen will, die es nicht ,gibt‘, sondern die sich ergeben. Denn zweifellos kann Nicols homiletische Abkehr vom ,Weg‘ als Bewegungsrichtung ,vom Text zur Predigt‘ als ein, wenn nicht als das leitende Predigtparadigma der spät- und postmodernen Gegenwart gelten, wenn er schreibt: „In einem komplexen Predigtprozess kann es überhaupt keine li-

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nearen Wege mehr geben.“ Etwas problematisch erscheint dann allerdings der Folgesatz: „Hermeneutische Fortbewegung erfolgt prinzipiell zirkulär.“ Auf dem Hintergrund des im A-Teil dieser Studie aufgezeigten und oben in liturgicis bedachten Verhältnisses von ,Äon‘ und ,Chronos‘ kann man hier zunächst fragen, ob gerade angesichts der hermeneutischen Komplexität des Predigtprozesses, die Nicol erkennt, in der Konsequenz nicht gerade das Prädikat der Zirkularität ebenso monolinear ist wie jede Linearität. Deleuzes und Guattaris „Rhizom“-Begriff bietet sich als Metapher m. E. gerade hinsichtlich des nichthierarchischen Schwerpunkts weitaus besser für eine solche Beschreibung an, weil er ein Wurzelgeflecht bezeichnet, das eine grundlegend nicht-hierarchische Struktur aufweist und ein Gegenmodell zum teleologischen Bild von Wissenszuwachs und Weltzugang etwa des Baumes ist. „Rhizom“ als Metapher für dynamische Prozesse ist offen nach allen Seiten, verbindet alle „Äste“ nicht in einem angenommenen Zentrum, sondern mit- und untereinander, übergeht alle Binaritäten und ,sprießt‘ immer wieder und weiter. Ein Rhizom lebt von Brüchen und wuchert, statt dass es linear strukturiert ist; es ist genuin autopoietisch so, dass es aus sich selbst heraus multiple Zentren des Auseinanderbrechens und Aufbruchs ergibt. Deeg und Nicol sprechen von ,Intertextualität‘ als Wechselschritt zwischen „Bibelwort & Kanzelsprache“ bzw. Text und Kontext177 und wissen um die beiden Gefahren von zuviel Nähe und zuviel Distanz von Prediger:in und inszeniertem Predigttext, der sie das „Zwischen“ des Ereignisses als Chance gegenüberstellen: „Gegenüber vereinnahmender Distanzlosigkeit und unüberbrückbarer Distanz gilt es, die Chancen des Wechselspiels zu entdecken. Es gilt, auf das eigentümliche Zwischen zu vertrauen, das sich zwischen Bibelwort und Kanzelsprache ereignen kann, wo die beiden zum Spiel befreit werden – ein Zwischen, in dem, so er denn will, Gott selbst zu Sprache kommt.“178

Aber auch dieser Hoffnung wohnt eine Gefahr inne, wenn sie sich wiederum im binären Zweischritt zweier Texte – des Bibel- und des Kontextes – bewegt und Inszenierung nicht als Wiederholung, sondern als Repräsentation konzipiert. Deeg und Nicol sehen diese Gefahr, und es ist unhintergehbar, wie sie problematisieren, was sie in Predigten als „nicht unüblich“ wahrnehmen: „Der Inhalt schreitet munter voran, der Prediger entwickelt eine Fülle von Predigtgedanken – und lässt die Frage nach der formalen Gestaltung irgendwo zurück. Oder umgekehrt: Ich bin so verliebt in meine ansprechende Predigtform, dass der Inhalt hinterherhinkt. Im Wechselschritt, wie wir ihn üben, kommt [demgegenüber; FH] immer beides zum Zug: Form & Inhalt, Gestalt & Gehalt, das eine nie ohne das andere.“179 177 Deeg/Nicol, Im Wechselschritt zur Kanzel, 108. 178 AaO., 114. 179 AaO., 13.

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Auch der Gefahr der Binarität eines starren Text-Begriffs wehren beide schon zu Beginn ihres „Wechselschritt-Buchs“: „Wo Text und Text sich begegnen, wird es spannend. Ein Text nimmt den anderen auf und spinnt ihn weiter. Oder widersetzt sich und stellt sich hart entgegen. Oder spielt mit einzelnen Fäden des Textgewebes. Oder parodiert, verfremdet, ironisiert … Das ist Intertextualität. In solchem Wechselspiel bleibt kein Text, was er war. Und das ist gut so. Beim Predigen verweben sich vielfältige Texte zu einem intertextuellen Netz. Jeder biblische Text bringt weitere Kon-Texte aus der Textwelt des Kanons mit. Und in jedem Text der Predigenden werden weitere Texte aufgerufen: Texte aus den Nachrichten und der Werbung, Politikerreden und Liebesbriefe, Gebet und Smalltalk. Und dann sind da die Hörerinnen und Hörer, die ihre eigenen Lebenstexte beisteuern, wenn das Wechselspiel der Texte auf der Kanzel in Gang kommt.“180

Deswegen gilt für beide „[i]n der Konsequenz: Eine Hermeneutik ohne Homiletik ist so sinnlos wie eine Homiletik ohne Hermeneutik“181, und gemeint ist dabei vor allem eine biblisch-homiletische Hermeneutik. Freilich: Die Gefahr, die jeder Hermeneutik auch eines Wechselschritts anhaftet, ist damit nicht endgültig gebannt: dass das Manuskript den Predigttext überformt und der Interpret des Kunstwerks größeren Ruhm beansprucht als der Komponist: Textverlust. Dabei können Deleuzes Sinn-Paradoxa (vgl. oben) im Ereignis homiletisch ein hilfreiches Modell sein für die Spannung von Predigt innerhalb der Pole von Text und Tag, wobei beide je für sich in unendliche Differenzsysteme aufgegliedert werden können. Das Paradox der Regression: „Ich sage nie den Sinn dessen, was ich sage. Dagegen kann ich aber immer den Sinn dessen, was ich sage, zum Gegenstand eines anderen Satzes machen, dessen Sinn ich dann wiederum nicht sage. Ich trete folglich in eine endlose Regression des Vorausgesetzten ein“ [LS 48] hieße homiletisch: Keine Predigt besteht für sich, sondern steht in einem unendlichen Verweisgefüge zu anderen Predigten – den vorangegangen und den folgenden, der Predigt von letzter Woche und von vor sechs Jahren zur gleichen Perikope, den Predigten des Vorgängers und den innerbiblischen Auslegungen des gleichen biblischen Textes; hieße zudem, fromm formuliert: ,Ich predige nie Gottes Wort. Dagegen kann ich aber Gottes Wort zum Gegenstand meiner Predigt machen, das ich dann wiederum nicht sage. Ich trete folglich in eine endlose Regression des Vorausgesetzten ein.‘ Das Paradox der Verdopplung: „Dem Satz entzogen, ist der Sinn unabhängig von diesem, weil er dessen Bejahung und dessen Verneinung suspendiert, und ist dennoch nur sein entschwindendes Double“ [LS 52] homiletisch gewendet: 180 AaO., 15. 181 AaO., 20.

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Was der biblische Text zu sagen hat, wird durch die persönliche Interpretation seines Sinns reformuliert und damit verdoppelt, ohne damit deckungsgleich zu sein: Es entsteht ein neuer Sinn, dem ursprünglichen nur noch schemenhaft verwandt, der dennoch in der Interpretation des Auslegers insistiert – Grinsen ohne Katze. Das Paradox der Neutralität: „Besteht der Status des reinen Ereignisses […] darin, derart alle Oppositionen zu überbieten: weder privat noch öffentlich, weder kollektiv noch individuell … und um so schrecklicher und mächtiger in dieser Neutralität, da es alles gleichzeitig ist?“ [LS 55 f.] in homileticis: Man hüte sich vor allzuschnellen Festlegungen des Sinns oder des Ereignisses in Kategorien des Entweder-Oder, des lieben Gottes oder der bösen Welt einerseits wie vor Synthesen des Sowohl-Als auch, die harmonisierend gemeint sein mögen, aber mindestens aussagearm sind. Das Paradox der Unmöglichkeit: „Die Sätze, die widersprüchliche Objekte bezeichnen, haben ihrerseits einen Sinn. Ihre Bezeichnung jedoch bleibt in jedem Fall unverwirklichbar; und sie verfügen über keine Bedeutung, die die Möglichkeitsart einer solchen Verwirklichung bestimmen würde“ [LS 56] schließlich: die Paradoxa der Bibel ernstnehmen und vom menschgewordenen Gott so predigen, dass wirklich von Gott und wirklich vom Menschen die Rede ist und von Luthers simul so, als gäbe es das: Die Gleichzeitigkeit des sündhaften Gerechten ohne eschatologischen Vorbehalt und einseitige Auflösung. -–-–Das wäre dramaturgisch-homiletische Inszenierung als Ereignis-Wiederholung des Bibelwortes: eintreten in den Predigtraum, den Schrift und Tradition spannen, ohne falsche Bescheidenheit oder Übermut, mit dem Ziel, das Unmögliche zu sagen: Gottes Wort, das schon gesagt ist und sich selbst in und als Differenz wiederholt ubi et quando visum est.

3.3 Unsinnige Homiletik: Horizont II Lewis Carroll formuliert anstelle eines Vorworts zu „The Hunting of the Snark“ eine Apologie: „If—and the thing is widely possible—the charge of writing nonsense were ever brought against the author of this brief but instructive poem, it would be based, I feel convinced, on the line ,Then the bowsprit got mixed with the rudder sometimes.‘“ Carroll fährt fort: „In view of this painful possibility, I will not (as I might) appeal indignantly to my other writings as a proof that I am incapable of such a deed: I will not (as I might) point to the strong moral purpose of this poem itself, to the arithmetical principles so

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cautiously inculcated in it, or to its noble teachings in Natural History—I will take the more prosaic course of simply explaining how it happened.“182

Wiederum ist eine Apologie angebracht: Der Begriff „Unsinn“, landläufig verstanden, könnte Irritationen hervorrufen, wird er in einen unmittelbaren Zusammenhang mit Homiletik gebracht. Das ist nicht die Absicht dieser Studie. Eher soll dieses Schlusskapitel zur Betrachtung des Ereignisses in homileticis eine mehr oder weniger prosaische Erklärung dafür bieten, wie der im Kontrast zu einem analytischen, sprachphilosophischen Sinnbegriff verstandene Unsinn einen weiteren Horizont für homiletische Grundfragen eröffnen kann. Unsinnige Homiletik ist ein Wagnis. Sie schaut nicht als strenge Lehrerin auf die Predigtstruktur und den gelungenen Vortrag, sondern ermutigt auf hermeneutischer Ebene zum Loslassen. In unsinniger Homiletik ist sie auf einmal ganz da – die Predigt. Sie atmet und wuchert und breitet sich aus – wie ein Rhizom. Sie lebt. Und so ganz verständlich ist das nicht. Unnütz nur der geschriebene Text, unnütz nur das gesprochene Wort, unnütz eine Kirche mit ein paar Menschen. Und: An manchen Sonntagen kommt all das zusammen und es geschieht etwas, das niemand erwartet hat. Etwas Unsinniges. Ereignis. Carrolls selbst ironisch-unsinnige Vorwort-Apologie lässt sich dabei gut als eine grundlegende Hinführung zur prinzipiell-homiletischen Frage: „Was ist Predigt?“ lesen, spitzt sie doch das klassische Vorgehen antiker Rhetoren, das noch für Augustin den entscheidenden Predigtzweck markierte, ironisch zu: docere – delectare – movere solle die Predigt, und gegen die funktionalistische, materialhomiletische Bestimmung stünde dann der homiletische nonsense: Nicht die moralische Verwendbarkeit einer Predigt, nicht die kunstvolle Anordnung ihrer Moves innerhalb einer Structure und nicht ihre Nützlichkeit zur Welterklärung183 sind entscheidend für das Paradigma einer unsinnigen Homiletik – und schon gar nicht die Integrität der Prediger:in. Und wenn Martin Nicol in der vierten Auflage der RGG definiert: „P. (von lat. praedicare, ,öfftl. bekannt machen‘) ist geistl. bzw. rel. Rede im Unterschied etwa zur Gerichtsrede, der polit. Rede oder Festrede“184, ist damit ebenfalls der Weg der Abkehr vom augustinischen Modell, das vor allem diese drei Redegattungen treffend charakterisiert, schon lexikalisch gebahnt. Unsinnige Homiletik aber wäre noch mehr und auch anders zu bestimmen als in (gängiger) negativer Abgrenzung gegenüber Formalismen. Positiv formuliert: Predigt ist notwendig unsinnig im besten Sinne des Wortes, und wo 182 Carroll, The Hunting of the Snark, 4. 183 Vgl. Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie (1922), 200.201: „Zum Aufbau ihrer Existenz mit allem, was dazu gehört, brauchen sie [scil. die Menschen] uns nicht. Das besorgen sie ohne unsere Ratschläge, und zwar besser als wir gewöhnlich denken. […] j Als Dorf- und Stadtweise […] sind wir im Grunde unerwünscht.“ 184 Martin Nicol, Art. Predigt. I. Allgemein, in: Hans Dieter Betz u. a. (Hrsg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Tübingen 2003, 1585.

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sie Sinn stiftet, tut sie das eher en passant als absichtsvoll – oder sie ist keine Predigt, sondern Rede. M.a.W.: Es ist vielleicht eine allgemein anerkannte Grundlage, dass Predigtlehre auf der Werkebene handwerkliche Hinweise impliziert, allein: Sie betreffen vor allem rhetorische Phänotypen und weniger das Idion der von jeder anderen „Rede“ fundamental unterschiedenen Gattung „Predigt“. Dass Predigt notwendig unsinnig ist, haben vor allem der US-amerikanische Homiletiker Charles Campbell und sein südafrikanischer Kollege Johann Cilliers erkannt, die das Wort durch „Narretei“, „Torheit“, „foolishness“ supplementieren, der Sache nach aber in die Richtung dessen weisen, was ich unter „Unsinn“ verstehe. Sie gehen aus von 1Kor 1,17–25, den paulinischen Worten zur Torheit des Evangeliums und damit zur Torheit Gottes, und schreiben einleitend zum Vorhaben ihres Buches „Preaching Fools“: „Für Paulus ist das Evangelium – das Wort vom Kreuz – eine Dummheit, und Predigen eine Torheit. […] Das Idealbild des Predigers im Sinne von Paulus ist nicht das des Boten, Hirten, Geschichtenerzählers oder des Zeugen, auch nicht das des Prophejten, Weisheitslehrers, Ratgebers oder Gesprächspartners. Sein Bild ist eher seltsam, störend: das des Narren. Das Evangelium ist eine Torheit. Predigen ist eine Torheit. Und der Prediger ist ein Narr. Diese Worte des Paulus haben uns die letzten Jahre beschäftigt. Sie gingen uns nach, da wir das Predigen inmitten einer Welt lehren, deren beherrschende, gewalttätige, tödliche Mächte uns beinahe überwältigen. Sie gingen uns nach, wenn wir mit nichts als einem Wort bewaffnet zum Predigen aufstanden, und rings um uns die Welt von Armeen und Massenvernichtungswaffen, von Technologie und Weltwirtschaft, von Mächten und Gewalten und ihrer Verführung und Bedrohung geprägt war. Und gegen all dies reden Prediger ein paar Minuten lang von der Kanzel. Das wirkt so töricht! Angesichts dieser Strukturen und Institutionen und Systeme und Mythen und Ideologien, die uns so oft gefangen nehmen und davon abhalten, Alternativen zu ihrem todbringenden Dasein zu suchen, erscheint das Predigen nur als schwache, vergebliche Reaktion. Man fühlt sich ein bisschen wie Don Quixote, der inmitten einer gebrochenen und zerstückelten Welt auf Christus zeigt.“185

Diese pastoralhomiletische Beobachtung hat Konsequenzen für jede gehaltene und zu haltende Predigt – nach anfänglich zu vermutender Konventionalität dann in interessanter Abgrenzung zu rhetorischen Paradigmen der homiletischen Machbarkeit: „Diese Torheit geht aufs Ganze und betrifft schließlich auch die Rhetorik der Predigt. Denn Prediger gebrauchen eine Rhetorik der Torheit. Wie die predigenden Narren unterbricht sie die Bräuche und Denkweisen der alten Zeit und schafft einen limi185 Charles Campbell u. Johan Cilliers, Was die Welt zum Narren hält. Predigt als Torheit, Leipzig 2015, 18 f.

Unsinnige Homiletik: Horizont II

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nalen Raum am Knotenpunkt der Zeiten; sie deutet die Sichtweisen und sieht bereits die einbrechende neue Schöpfung. Zu bedenken ist, dass diese närrische Rhetorik nicht künstlich gemacht werden kann, sie lässt sich nicht auf eine Liste von rhetorischen Mitteln oder Sprachfiguren reduzieren. Sie entspringt vielmehr dem Mund des Predigers, der selbst vom Evangelium genarrt worden ist; sie tritt auf, wenn das Leben des Predigers unterbrochen wird und er oder sie dadurch in den liminalen Raum tritt und mit bifokaler Schau zu sehen lernt.“186

Das letzte Stichwort ist entscheidend für die Paradoxalität der Predigt als Torheit, wie Campbell und Cilliers sie verstehen: „Das Leben am Knotenpunkt der Zeiten erfordert eine bifokale Schau, die zwei scheinbare Gegensätze zusammensieht. Der predigende Narr steht genau dort und sieht die spannenden Inkongruenzen. Ehrlich und unnachgiebig blickt er auf die Todesmächte der alten Zeit und erkennt dennoch, oft in verborgener Form, die lebensspendende Realität der neuen Schöpfung. Mit bifokaler Sprache bringt er das zusammen, was sich eigentlich ausschließt. Die Rhetorik der Torheit ist in ihrem Inneren zutiefst bifokal; sie bewegt sich zwischen den Zeiten, zwischen Fragment und Ganzem, zwischen Form und Reform, zwischen Sein und Werden. […] j Bifokale Rhetorik ist paradox.“187

Philosophisch-homiletisch lässt sich daran gut anschließen mit Blick auf eine unsinnige Homiletik. Eine nahtlose Übertragung der Kategorien der Sprache des Unsinns, die Deleuze anhand von Carroll ausmacht (vgl. dazu insgesamt oben Kapitel 3.4, v. a. 3.4.3), scheitert zwar daran, gerade prinzipiell-homiletisch nicht auf Onomatopoesien (vgl. den „Phlizz“ und sein Entschwinden) als Hauptstilmittel üblicher Predigtpraxis rekurrieren zu können; grundsätzlich finden sich daneben dennoch m. E. hilfreiche Hinweise für die Predigt. Spricht Deleuze diesbezüglich von je immer zwei „Ereignisserien“, die von einem Dritten „geregelt“ bzw. zueinander in Beziehung gesetzt werden, muss an dieser Stelle eine entscheidende zusätzliche Verhältnisbestimmung vorgenommen werden: Geht es Theologie und Praktischer zumal immer darum, Gott und Mensch zusammenzudenken, können die Ereignisserien nicht allein auf immanente Geschehnisse reduziert werden. So ergibt sich folgender Übertrag aus dem sprachanalytischen Begriffskordon in die Theologie: „Erstens, zwei Ereignisserien mit minimalen inneren Differenzen, die durch ein sonderbares Objekt geregelt werden“ [LS 64]: Analog zum Bild der unsinnigen Uhr Carrolls ist das homiletische ,Objekt‘, das die Serien von Gott und Mensch verbindet, die Predigt selbst. Auf sie trifft idealiter beides zu: Weder geht sie mit der Welt noch geht sie mit Gott, sondern Welt und Gott gehen mit ihr. Der 186 AaO., 194. 187 AaO., 197 f.

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Sinn in der Predigt

unsinnige Prediger greift in das Weltgefüge (Gottes) ein, vermag wohl auch für einen Augenblick das Jetzt durch den Ausdruck der Worte seines ausgedruckten Manuskripts zu verändern – movere und delectare –, aber das Ereignis selbst vermag die Predigt weder herzustellen noch gar zu beeinflussen. Was die Predigt idealiter vermag: Das Ereignis zu verschieben von der einen in die andere Serie und damit Wirklichkeit. Daraus folgt „Zweitens, zwei Ereignisserien mit großen und beschleunigten inneren Differenzen“ [LS 64], d. h. der Überschlag von einem „normalen“ oder einem „irrlichen“ in einem Traumzustand wie bei Alice in der Erfahrung ihrer gewöhnlichen und den Phantasiewelten ,im Wunderland‘ resp. ,hinter den Spiegeln‘. Bei Carroll ist diese Dimension des Unsinns gezeichnet davon, dass sich diese drei Zustände, einmal aus dem Bereich des Gewöhnlichen getreten, nie säuberlich voneinander trennen lassen. Predigt würde so verstanden idealiter einführen wenigstens in den „irrlichen“ Zustand der Hörer:innen wie der Prediger:innen selbst als in eine Welt, in der Gott weder Prinzip noch Projektion ist, sondern präsent in der Welt. „Drittens, zwei Satzserien […] mit starker Ungleichheit, die von einem esoterischen Wort geregelt werden“ [LS 65]: „Gott“ als Wort, das seine Bedeutungen einerseits übersteigt und gleichzeitigt einfängt, sich dem Signifikanten-Spiel des Sinns und seiner Deutung entzieht und gleichzeitig Bedeutung schafft, wo nichts bedeutet wurde: So, wie der „Phlizz“ sich per Ausdruck entzieht, ist Gott dort, wo (im Gottesdienst, in der Predigt) „Gott“ gesagt wird oder zwei oder drei sich in seinem Namen versammeln. Schließlich „Viertens, die Serien mit starker Verzweigung, durch Schachtelwörter geregelt und nötigenfalls durch esoterische Wörter eines vorhergehenden Typs gebildet“ [LS 66] fällt schon bei Deleuze aus der Reihe und muss auch hier keinesfalls als homiletischer Handwerkstipp zur Ereignisproduktion verstanden werden: nicht, dass die Prediger:in dem Zwang verfällt, Schachtelwörter – auch wenn sie ihre eigene Evidenz entweder durch Gebrauch oder Effekt und sich vielleicht sogar zu einem eigenständigen Begriff entwickeln mögen (von „Bit“ [binary & digit] über „Brunch“ [breakfast & lunch] bis „Brexit“ [Britain & exit] ist alltagssprachlich mittlerweile vieles gewöhnlich geworden, was ehedem kreativ war) – zu erfinden. Heuristisch hilfreich ist diese unmittelbarste der sprachlichen Verbindungsmöglichkeiten zweier vorher radikal getrennter Kontexte allerdings doch. Homiletische Schachtelwörter – wie sähen die aus?

4. Dialektik und Ereignis „Ewiger Traum, daß man etwas nicht macht, sondern es entsteht.“ Gottfried Benn an Käthe von Porada am 9. Juli 1933

Was ist ein Ereignis? Dass diese Frage falsch gestellt ist, wurde eingangs bemerkt, und doch drängt sie sich weiter auf. Ereignis, das ist zunächst und positiv verstanden ein Problem, das das Denken herausfordert und erkenntnistheologische Prämissen infragestellt. Das gilt insbesondere für einen theologischen Gebrauch des Begriffs. Mit Blick auf das erkenntnistheoretische Problem einer christlichen Ereignishermeneutik jedenfalls kann Slavoj Zˇizˇek (*1949) schreiben: „Definitionsgemäß liegt etwas ,Wunderbares‘ in einem Ereignis, von den Wundern unseres alltäglichen Lebens zu denen der höchst erhabenen Sphären, die göttlichen eingeschlossen. Die ereignishafte Natur des Christentums ergibt sich aus der Notwendigkeit, an ein ein einziges Ereignis zu glauben, um Christ zu sein – den Tod und die Auferstehung Christi. Vielleicht ist sogar das zirkuläre Verhältnis zwischen Glaube und seinen Begründungen noch wesentlicher: Ich kann nicht sagen, dass ich an Christus glaube, weil ich von den Gründen, an ihn zu glauben, überzeugt worden wäre; erst wenn ich glaube, kann ich die Gründe für den Glauben verstehen.“1

Dabei wohnt dem Ereignis eine ihm eigene Dialektik inne, die auch alle bekannten Begriffe von „Dialektik“ infragestellt: eine Dialektik der Affirmation der Negation bzw. eine Dialektik des Sic et non,2 die sich an Karl Barth anlehnt und sich doch anders als bei ihm verhält. Am 10. April 2004 konnte man in der NZZ lesen, wie sich Karl Barths Theologie in nuce zusammenfassen lässt: „Der Fund, den man in den biblischen Texten machen kann, wird von Barth mit einem einzigen Wort zur Sprache gebracht. Und dieses Wort heisst: Ja. Auch das gehört zur eisernen Ration der Theologie Karl Barths, «dass wir vom Ja und nicht vom Nein her kommen». Doch diese unsere Herkunft «von einem vorausgesetzten anfänglichen Ja» macht alles andere als selbstsicher. Es ist vielmehr «die Realität des Ja», die uns «so stark beunruhigt», dass nun das kritische Fragen überhaupt erst richtig in Gang gesetzt wird, und zwar so, dass auch das scharfe Verneinen nunmehr 1 Slavoj Zˇizˇek, Was ist ein Ereignis?, Frankfurt am Main 2014, 8. 2 Eine Dialektik des Ereignisses wäre sowohl als auch etwas anderes, als Petrus Abaelardus (1079–1142) mit diesem Schlagwort methodisch der cartesischen Moderne vordachte. Vgl. sein Vorwort, das sich im Internet zusammen mit einer deutschen Übersetzung des gesamten Buches hier finden lässt: http://www.abaelard.de/050503sicnond.htm. Mit Barth und Deleuze würde ich schlicht in Aufnahme des Grundgedankens sagen: Kritik an Überkommenem: „ja“, Hermeneutik des Subjekts dagegen: „nein“.

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unerlässlich wird. «Wir würden nicht verneinen, wenn uns nicht die Realität des Ja so stark beunruhigte.» Ja – das ist das die Theologie Karl Barths bestimmende Grundwort. In den Göttinger Anfängen konnte man es neben den scharfen Verneinungen, in denen die damalige dialektische Theologie sich gefiel, leicht überhören. Aber es war da. Und es wurde immer deutlicher vernehmbar. Und es wurde immer klarer als dasjenige Ja identifiziert, das Gott in der Person Jesu Christi ein für allemal und unwiderruflich gesprochen hat: «Denn Gottes Sohn Jesus Christus . . . in ihm wurde Gottes Ja Ereignis» (2. Kor. 1, 19)“.3

Sic et non – das ist und wäre mehr als eine „Grundformel“ der Barthschen Dialektik: Gilt der Vorwurf der Theoretiker:innen des Poststrukturalismus der Synthese jeder Dialektik, insofern sie ihre je eigene Prämisse und damit notwendig ihre Präferenz synthetisch verschleiert, wäre ein biblisches diak]colai idealiter dialektisch so, dass es sich als Paradoxon jedem vordeutenden Begreifen entzieht. Sind Para-Doxa das, was gegen jede Meinung und jeden Anschein steht, kann schon ein Blick in das Neue Testament helfen, um den Begriff selbst aufzulockern. Diak]colai das meint jedenfalls im Neuen Testament nicht selten Streit in jedenfalls überraschenden Szenarien mit unerwartetem Ausgang: – Auf dem Weg nach Kafarnaum diskutieren die Jünger miteinander (pq¹r !kk^kour c±q diekoc_feshe), wer unter ihnen der Größte sei, und Jesus bescheidet sie mit der dialektischen Antwort: „Wenn jemand will der Erste sein, der soll der Letzte sein von allen und aller Diener“ (Mk 9,34 f.). – Sogar apokalyptische Klänge schwingen in neutestamentlicher „Dialektik“ mit, wenn Michael mit dem Teufel um den Leichnam des Mose streitet und sich daraus ein heftiger Wortwechsel entspinnt gO d³ Liwaµk b !qw\ccekor, fte t` diab|ky diajqim|lemor diek]ceto peq· toO Ly{s]yr s|lator; Jud 9). – „Dialektik“ neutestamentlich kann aber auch die friedliche Koexistenz unterschiedlicher Kontexte auf dem gemeinsamen Grund der Schrift (des Alten Testaments) meinen, so etwa wenn Paulus in der Synagoge in Thessaloniki mit den hiesigen Juden „aus der Schrift“ redet – diek]nato aqto?r !p¹ t_m cqav_m (Apg 17,2) und es so ähnlich auch mit Juden und Nichtjuden wenig später in Athen (vgl. Apg 17,7) in Korinth (vgl. Apg 18,4) und in Ephesus (vgl. Apg 18,19; 19,8.9) tun wird. – Diese paulinische „Dialektik“ der Schriftauslegung geht nach lukanischer Darstellung der paulinischen Selbstauskunft zwar im Gegensatz zu Jesu markinischen Jüngern auf dem Weg nach Kafarnaum und dem eschatologischen Wortgefecht des Judasbriefes wohl ganz ohne Streit vonstatten (vgl. Apg 24,12), hat aber wohl zuweilen ,erschreckende‘ Konsequenzen (vgl. Apg 24,25) und kann unter Umständen zu einer Erfahrung zwischen Leben 3 Kein Nein ohne Ja. Karl Barths theologische Existenz als Provokation. URL: https://www.nzz.ch/ article9IJGI-1.239452.

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und Tod führen (vgl. Apg 20,7.9), wenn Paulus wie in Troas gar zu viel der dialektischen Rede wagt und bis Mitternacht ,predigt‘ (PaOkor diek]ceto aqto?r […] l]wqi lesomujt_ou). – Ganz ,glatt‘ lässt sich ein neutestamentlicher Begriff von „Dialektik“ ohne Dissens jedenfalls nicht entwickeln, wie ein Blick in die letzte Stelle des Neuen Testaments zeigt, an der diak]colai vorkommt: „Dialektik“ ist hier gleichzeitig entwaffnend und entmündigend im Sinne von „Trost“, „der zu euch redet wie zu Kindern“ t/r paqajk^seyr, Ftir rl?m ¢r uRo?r diak]cetai Hebr 12,5) – mit der fragwürdigen Konsequenz, biblisches Sprüchegut als autoritäre Legitimation streitbarer Pädagogik in parakletischer Analogie zu benutzen (vgl. Hebr 12,5 f. mit Spr 3,11 f.). Karl Barths Dialektik, die sowohl von seinen Studien des Neuen Testaments, vor allem des Römerbriefs, als auch von Kierkegaard geprägt ist,4 ist eine Dialektik zwischen Gott und Mensch. Das kommt gut in seiner (zweiten) Auslegung zu Röm 1,16 f. zum Ausdruck: „Im Christus […] redet Gott, wie er ist […]. Er bejaht sich selbst, indem er uns, wie wir sind, und die Welt, wie sie ist, verneint. Er gibt sich selbst als Gott zu erkennen, jenseits unsres Abfalls, jenseits der Zeit, der Dinge und der Menschen, als Erlöser der Gefangenen und gerade damit als Sinn alles dessen, was ist, der Schöpfer. Er bekennt sich zu uns, indem er die Distanzen zwischen uns und ihm schafft und wahrt. Er begnadigt uns, indem er unsre Krisis einleitet, indem er uns ins Gericht bringt. […] Er ,rechtfertigt‘ uns, indem er sich selbst rechtfertigt.“5

Karl Barths Dialektik ist so der Versuch, zwischen Ja und Nein Gottes zum Menschen zu changieren – aber so recht dialektisch ist auch dieses Zwischen nicht, das zeigt schon die Richtung an. Barth ist vielleicht der größte Meister einer theologischen Dialektik, insofern er das Spiel der Dynamik Gottes und der Menschen in Begegnung verstanden hat – und doch geht auch Barth noch nicht weit genug, verfängt sich jedenfalls noch zur Zeit seiner ,expressionistischen‘ Phase in einem Wortspieldickicht, das jedenfalls auch seiner Sache nicht dienlich ist. So etwa in der Auslegung zu Röm 5,12: „Die scheinbar unendliche Parallelität oder Polarität der Gegensätze zerbricht, sofern diese Bewegung echte Bewegung ist. Echte Bewegung kann nur im unwiderruflich endgültigen Übergang vom Gleichen zum ganz und gar Ungleichen stattfindet. Eben das ist aber der Sinn des kritischen Augenblicks (der Auferstehung und des Glaubens), daß dem Gleichen Adams das ganz und gar Ungleiche des Christus als Ziel, und in der Bewegung diesem Ziel entgegen, gegenübertritt. Er führt, indem er die 4 „Wenn ich ein ,System‘ habe, so besteht es darin, dass ich das, was Kierkegaard den ,unendlichen qualitativen Unterschied‘ von Zeit und Ewigkeit genannt hat, in seiner negativen und positiven Bedeutung möglichst beharrlich im Auge behalte. ,Gott ist im Himmel und du auf Erden.‘ Die Beziehung dieses Menschen zu diesem Gott ist für mich das Thema der Bibel und die Summe der Philosophie in einem“; Barth, Der Römerbrief, XX (Hervorhebungen im Original). 5 AaO., 17.

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Zweiheit in der vermeinten Einheit des Menschen offenbar macht, nicht nur Scheidung, sondern mit der Scheidung Ent-Scheidung zwischen den Gegensätzen herbei. […] Wo Kraft Gottes ist und Glaube, da steht der Mensch als der, der er nicht ist, als neuer Mensch auf der Schwelle der neuen Welt“6.

Neben der Dialektik des Zwischen – d. h. der Scheidung, die eine Ent-Scheidung erzwingt und eine Schwelle imaginiert, die weder-noch oder ,betwixt and between‘ ist – wäre die Dialektik des Ereignisses eine konjugierende, eine Dialektik des und.7 Sie hebt Unterschiede nicht auf oder nivelliert sie zugunsten eines höheren Dritten, sondern ermöglicht eine Begegnung der Verschiedenheiten, die sich durch diese Begegnung selbst verändern, different zu sich selbst werden. Reißt das Zwischen erst den gähnenden Spalt weit auf, spannt das und eine Brücke darüber, lässt beide Seiten souverän miteinander koexistieren und ermöglicht die Fluktuation des Differenten. Dialektik und Ereignis: Werden mit der Grundannahme zweier antizipierender Thesen theologische Begriffe umklammert und müsste jedes Predigen zwischen „sollen“ und „nicht können“ liegen; „gibt es“ Gott, wo es ihn nicht gibt, ist damit ,Wahres‘ gesagt. Alles das ist durchaus richtig. Allein die Schwachstelle der Umklammerung jeder synthetischen Dialektik bleibt: Das Ausweichen vor dem, was dazwischen steckt und so nur stecken bleiben muss – zwei starke Arme des Verbs ver-stecken das Umschlungene und im Umkreisen einer Sache vergibt man die Möglichkeit, vielleicht einen Blick auf den Riss im eigenen Konstrukt wenigstens zu erhaschen. In einer wie hier entwickelten poststrukturalistischen Praktischen Theologie werden Begriffe nicht ohne ihr inhärent Unerwartetes, ihre je eigene Differenz zu sich selbst gefunden. Keine Klammern, die ihre Formeln auflösen, sondern entzogen halten, was darinnen wuchert. So kann mit Deleuze dem Gottesdienst und der Predigt wieder mehr zugetraut werden, bedeuteten beide auch, Gott selbst und der Begegnung mit ihm selbst etwas zuzumuten. Rhizomische Theologie hieße dann, Gott zuzulassen, und zwar nicht als wissenschaftlichen Faktor, doch aber als Unbekannte X. So verstanden bedeutete Dekonstruktion nicht zerstören, aber nackt sein mit Jesaja, mit Jerusalem auf den König warten, mit David Psalmen beten und mit Alice hinauffallen. Unsinn zur Unzeit feiern.

6 AaO., 156 (Hervorhebungen im Original). 7 Vgl. dazu und in etwas globalerer Perspektive zur Vernetzung anderer Geisteswissenschaften mit der Philosophie auch Mirjam Schaub, Das Wörtchen ,und‘. Zur Entdeckung der Konjunktion als philosophische Methode, in: Friedrich Balke/Marc Rçlli (Hrsg.), Philosophie und NichtPhilosophie. Gilles Deleuze – Aktuelle Diskussionen, Bielefeld 2011, 227–251.

Siglen der Bücher von Gilles Deleuze AÖ BE DW FLB H HB KP LS NP PZ Rh TP WPh WSt U

Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie 1, Frankfurt am Main 142014 (frz. 1972), zusammen mit F lix Guattari. Henri Bergson zur Einführung, Hamburg 21997 (frz. 1966). Differenz und Wiederholung, München 1992 (frz. 1968). Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt am Main 62015 (frz. 1988). David Hume, Frankfurt am Main 1997 (frz. 1953). Henri Bergson, Philosophie der Dauer. Textauswahl von Gilles Deleuze, Hamburg 2013 (frz. 1957). Kants kritische Philosophie, Berlin 1990 (frz. 1963). Logik des Sinns, Frankfurt am Main 1993 (frz. 1969). Nietzsche und die Philosophie, Hamburg 1991 (frz. 1962). Proust und die Zeichen, Berlin 1993 (frz. 1964). Rhizom, Berlin 1977 (frz. 1976), zusammen mit F lix Guattari. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, Berlin 1992 (frz. 1980), zusammen mit F lix Guattari. Was ist Philosophie?, Frankfurt am Main 2000 (frz. 1991), zusammen mit F lix Guattari. Woran erkennt man den Strukturalismus?, Berlin 1992 (frz. 1973). Unterhandlungen, Frankfurt am Main 1993 (frz. 1990).

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