Entwurf und Ordnung: Übersetzungen aus »Jahrestage« von Uwe Johnson. Ein Dialog mit Fragen zur Bildung [1. Aufl.] 9783839420102

Ein Dialog mit Uwe Johnsons »Jahrestage«, der nicht eindeutig literaturwissenschaftlich ist, sondern sich in Übersetzung

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Entwurf und Ordnung: Übersetzungen aus »Jahrestage« von Uwe Johnson. Ein Dialog mit Fragen zur Bildung [1. Aufl.]
 9783839420102

Table of contents :
INHALT
Vor–Ordnungen
Einleitendes
Einblick in den Forschungsdialog zu Jahrestage
Überblick zu diesen Reflexionen
A DIALOG MIT JAHRESTAGE
1. In Übersetzung
1.1 Übersetzen in Geschichte
1.2 Lebens-Geschichte
1.3 Vielstimmigkeit
Erste Übersetzung
2. Zwischen Geheimnis und Enthüllung
2.1 Lebensgeheimnis
2.2 Komplizenschaft
2.3 Erste Seite: Hohlraum
2.4 Letzte Seiten: Verlust
2.5 Vertiefung: das Geheimnis des Anderen
3. Zwischen Erinnerung und Gedächtnis
3.1 Leben in Erinnerung
3.2 Spurlosigkeit: der 7. September 1967
3.3 Streik: der 8. September 1967
3.4 Tropfenfall: der 8. Dezember 1967
3.5 Sprengung: der 2. Juni 1968
3.6 Spur/spur
Zweite Übersetzung
4. Zwischen Update und Ableben
4.1 Der Tod lebt
4.2 Verwaltete Sprache: der 11. August 1968
4.3 Tote am Bauplatz: der 29. August 1967
4.4 Tote auf der Strecke: Pius, Jakob und D.E
4.5 Tote mit Landschaft: der 26. Mai 1968
4.6 Vertiefung: Sein zum Tode
5. Zwischen Entwurf und Ordnung
5.1 Entwurf und Plan
5.2 Entwurf und Aufbruch
Dritte (nicht letzte) Übersetzung
Übergänge/Übersetzen
B FRAGEN ZUR BILDUNG
Einleitendes
1. Zwischen Bildung und building
1.1 Bildungsplan
1.2 bilden
2. Zwischen Entzug und Identität
2.1 Performanz
2.2 Unterbrechung
2.3 Aussetzung
2.4 Sinn
2.5 Die Paradoxie der Bildungsinstitution
Nachweise/Literaturangaben
Siglen
Literatur von Uwe Johnson
Literatur in Auseinandersetzung mit Uwe Johnson
Weitere Literatur
Internetquellen
Verortungen/Dank

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Miriam N. Reinhard Entwurf und Ordnung

Lettre

Meiner Großmutter Emilie Bertram gewidmet.

Miriam N. Reinhard hat Germanistik, Evangelische Theologie, Pädagogik und Performance Studies in Duisburg und Hamburg studiert.

Miriam N. Reinhard

Entwurf und Ordnung Übersetzungen aus »Jahrestage« von Uwe Johnson. Ein Dialog mit Fragen zur Bildung

Dies ist die überarbeitete Fassung einer Dissertationsarbeit, die zur Erlangung des Grades Dr. phil. an der Fakultät für Geisteswissenschaften – in Kooperation mit der Fakultät für Bildungswissenschaften – der Universität DuisburgEssen von Miriam N. Reinhard eingereicht wurde. Der Erstgutachter war Prof. Dr. Herbert Kaiser, der Zweitgutachter war Prof. Dr. Norbert Meder.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Kirsten Hellmich, Bielefeld Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2010-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

I NHALT Vor–Ordnungen | 7 Einleitendes | 7 Einblick in den Forschungsdialog zu Jahrestage | 9 Überblick zu diesen Reflexionen | 21

A D IALOG MIT J AHRESTAGE 1. In Übersetzung | 27 1.1 Übersetzen in Geschichte | 27 1.2 Lebens-Geschichte | 41 1.3 Vielstimmigkeit | 46 Erste Übersetzung | 54

2. Zwischen Geheimnis und Enthüllung | 55 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Lebensgeheimnis | 55 Komplizenschaft | 58 Erste Seite: Hohlraum | 63 Letzte Seiten: Verlust | 69 Vertiefung: das Geheimnis des Anderen | 83

3. Zwischen Erinnerung und Gedächtnis | 101 3.1 Leben in Erinnerung | 101 3.2 Spurlosigkeit: der 7. September 1967 | 107 3.3 Streik: der 8. September 1967 | 113 3.4 Tropfenfall: der 8. Dezember 1967 | 119 3.5 Sprengung: der 2. Juni 1968 | 130 3.6 Spur/spur | 136 Zweite Übersetzung | 139

4. Zwischen Update und Ableben | 141 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Der Tod lebt | 141 Verwaltete Sprache: der 11. August 1968 | 148 Tote am Bauplatz: der 29. August 1967 | 154 Tote auf der Strecke: Pius, Jakob und D.E. | 158 Tote mit Landschaft: der 26. Mai 1968 | 169 Vertiefung: Sein zum Tode | 174

5. Zwischen Entwurf und Ordnung | 181 5.1 Entwurf und Plan | 181 5.2 Entwurf und Aufbruch | 185 Dritte (nicht letzte) Übersetzung | 189

Übergänge/Übersetzen | 191

B F RAGEN ZUR B ILDUNG Einleitendes | 199 1. Zwischen Bildung und building | 201 1.1 Bildungsplan | 201 1.2 bilden | 208

2. Zwischen Entzug und Identität | 211 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Performanz | 211 Unterbrechung | 217 Aussetzung | 221 Sinn | 225 Die Paradoxie der Bildungsinstitution | 228

Nachweise/Literaturangaben | 233 Siglen | 233 Literatur von Uwe Johnson | 233 Literatur in Auseinandersetzung mit Uwe Johnson | 233 Weitere Literatur | 236 Internetquellen | 241

Verortungen/Dank | 243

Vor–Ordnungen Abweichungen fallen erholsam auf, nahezu kostbar: der Anschein von Unabhängigkeit oder Schrulligkeit in einer Person; der sanfte Schreck, wenn ein Fahrstuhl in Kopenhagen eine andere Bedienung fordert als der in New York; Das erste Jahr in einer fremden Sprache. (Jahrestage, S. 914)

E INLEITENDES Auch bei der Arbeit an diesem Text fiel es auf: Als ich eine Stelle aus Jahrestage interpretierte, schrieb ich in Bezug zur Erzählung etwas über die »politische Führung in Berlin«, die ich glaubte, im Text erkennen zu können. Mein Doktorvater Herbert Kaiser fragte nach, ob wir diese nicht in diesem Fall noch in Bonn verorten müssten? Gewiss. An solchen Geschichten wird deutlich: »Unsere« Wirklichkeit ist nicht mehr die von Gesine Cresspahl – und in nicht unwesentlichen Teilen ist sie es doch. Zwanzig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, nach der scheinbaren Neuordnung der Gesellschaft, stehen auch wir als Übersetzerinnen mit unseren Fragen, Ängsten und Visionen in einer Wirklichkeit, die wir nicht verstehen. Das hängt auch damit zusammen, dass vieles nicht einfach ist: Beschleunigung, Dauerbenachrichtigung, gesellschaftliche Eskalation, Verdrängung des Todes – all das gehört auch in unseren Alltag, so wie es die Tage von Gesine im New York der 1960er Jahre bestimmt. Manche Erscheinungsformen haben sich verschärft, manches hat sich »entschärft« und dann verlagert: Der Konflikt zwischen Ost und West hat sich nicht völlig erledigt, aber dennoch zersplittert. Meine Generation (sozialisiert im bundesdeutschen Westen, bei der Wiedervereinigung noch

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zu jung, um sie zu verstehen) weiß kaum noch davon. »Kalter Krieg« und »DDR«: Das sind Vokabeln aus einer Geschichte, die – das ist bedenklich – schon nicht mehr so recht zu uns gehört, während uns gleichzeitig die Probleme der Wiedervereinigung und der Globalisierung herausfordern. Vielleicht ist es das, was Gesine am meisten von meiner Generation unterscheidet: Den Geschichten der Geschichte hören wir nicht zu. In einer Zeit, in der alles möglich ist, ist es auch möglich, alles ohne sie zu erreichen. Dies hat Konsequenzen für die Lebensentwürfe. Ein Leben ohne Geschichtsbewusstsein mag freier erscheinen, sich freier »entwerfen« zu können. Diese Freiheit ist jedoch trügerisch, weil sie den Anderen nicht wahrnehmen kann. Dieses Vergessen des Anderen lässt uns so ungebunden handeln, dass schließlich eine jede Handlung leer zu werden beginnt. Das bedeutet – so möchte ich mit Blick auf einen viel diskutierten Bestseller1 sagen: Nicht durch, sondern ohne den Anderen schafft eine Gesellschaft sich ab. Weil sie durch nichts mehr zur Übersetzung bewegt wird, verliert sie, erstarrt in Identität, ihren Sinn. Das Selbe aber hat keine Geschichte, sieht man von der Geschichte der Konstitution seiner Darstellung ab. Eine Gesellschaft, die den Status quo zu wahren versucht, hat damit nichts zu erzählen. Und eine Gesellschaft, die nichts mehr zu erzählen weiß, ist auf allen Ebenen verstummt. Historische und kulturelle Bildung gehören deswegen untrennbar zusammen – sie sind grundlegend für Pluralismus und Liberalität. Dies ruft nicht nur die politisch Verantwortlichen in die Pflicht – ob es sich bei ihnen um die Abgeordneten in Berlin handelt oder sie die Entscheidungen in den Landtagen von Schwerin, Düsseldorf oder München treffen –, sondern vielleicht auch uns in besonderem Maße, die wir in Universität und Wissenschaft nach Arbeits-Stellen suchen. Vergessen wir nicht auch, obwohl wir seit geraumer Zeit thematisch um Alterität und Differenz bemüht sind, dass die Universität eine Institution aus und in der Gesellschaft, der Wirklichkeit der Anderen ist? Vor diesem Hintergrund setzt sich diese Arbeit mit Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl von Uwe Johnson auseinander, indem sie die Erzählung mit phänomenologischer bzw. postmoderner Theorie in einen Dialog bringt, der zu bildungsphilosophischen Fragen hin ausgeweitet 1 | Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München: Deutsche Verlagsanstalt 2010.

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wird. Ich habe überlegt: Eine Erzählung, deren Hauptfigur eine Übersetzerin ist, lädt zu vielfältigen Übersetzungen ein. Diese »Einladung« sehe ich allerdings nicht nur durch Erzählungen, die von Übersetzungen oder Übersetzerinnen und deren Geschichten handeln formuliert. Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass es die einzige Aufgabe der Literaturwissenschaft sein kann, mit der Literatur im fortwährenden, offenen Gespräch zu bleiben. Die Literaturwissenschaft ist damit nicht im Besitz eines Gegenstandes, den sie von einer metatheoretischen Ebene aus zu sezieren vermag. Schon gar nicht ist sie in irgendeiner denkbaren Weise »klüger« als dasjenige, was ihr in der Literatur, in dieser anderen Sprache, begegnet. Das Sprechen der Literaturwissenschaft ist nicht »reiner« oder »fundierter«, nicht »wahrer« oder »wissenschaftlicher« als die Sprache des Literarischen. Wie die Literatur selbst, so spricht auch die Literaturwissenschaft von etwas, was ihr zwar eigen ist, ihr aber dennoch nie ganz gehört. Sie spricht von ihren Konstitutionsbedingungen, ihren Fragen, sie spricht über Sprache und den darüber transportierten Hoffnungen und Versprechen. In der Konfrontation mit diesem Anderen, der Literatur, kann sie sich immer wieder versprechen, über ihre eigene Sprachlichkeit stolpern, kann neu ansetzen, anders erzählen, Möglichkeiten ausloten und Perspektiven verwerfen. Mit der Literatur setzt sie über zu Fragen, die sie aus den Texten vernommen hat. Sie steht damit zwischen Entwurf und Ordnung – wobei die »Ordnung des Wissenschaftlichen« und der »Entwurfcharakter des Literarischen« nur eine denkbare Modalität ist, in der Entwurf und Ordnung in Beziehung zueinander stehen, zu oszillieren beginnen. Ich komme auf diese Beziehung zurück. Bevor ich meinen Dialog mit dem Text beginne, soll nun – nicht nur, weil es die »Ordnung der Wissenschaft« verlangt, sondern auch, weil wissenschaftliches Schreiben immer im Dialog steht mit denen, die vor einem schrieben – zunächst ein kurzer Einblick in ausgewählte Positionen der Johnson-Forschung gegeben werden.

E INBLICK IN DEN F ORSCHUNGSDIALOG ZU J AHRESTAGE Die bereits geleistete Forschungsarbeit zu Jahrestage ist auch Fach- und Diskursgeschichte, die durch sie lesbar wird. Kaum verwunderlich ist es, dass gerade bei einem solchen Werk nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Wiedervereinigung Deutschlands, also mit dem »Ende

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der großen Erzählungen«, postmoderne Theorie in die Forschung Einzug erhält. Gerade Jahrestage gibt Anlass für eine Reflexion über Gedächtnis, Geschichte und Verarbeitung der Geschichte. Umso erstaunlicher ist es für mich, dass der Begriff der Übersetzung, der auch im neueren postmodernen Diskurs einen großen Stellenwert einnimmt, für die Jahrestage – Forschung noch nicht von allzu großer Bedeutung zu sein scheint.2 Die bereits geleisteten Arbeiten zu dem Verhältnis von Erzählen und Erinnerung in Jahrestage haben dennoch auch meine eigenen Reflexionen begleitet und beeinflusst; besonders hervorheben möchte ich die im Folgenden besprochenen Arbeiten von Norbert Mecklenburg, Thomas Schmidt und Ulrich Krellner.

Zu Norbert Mecklenburg Norbert Mecklenburg widmet sich in Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa3 in fünf Kapiteln einer Analyse von Jahrestage. In allen Kapiteln geht Mecklenburg auf die Spezifik des Erzählens ein, die er mit den thematischen Schwerpunkten von Jahrestage verknüpft. Durchgehend interessiert Mecklenburg die Frage, inwiefern sich Erzählung und Ethik miteinander verbinden, denn: »Auch für den Jahrestage-Autor heißt Schreiben: Schreiben nach Auschwitz, ein ebenso schwieriges wie notwendiges Unterfangen, ein historisches und erzähle-

2 | Hinweisen möchte ich aber auf einen Aufsatz von Andreas Lorenczuk, in dem er betont: »Die Jahrestage sind eine Übersetzung […].« Vgl. Andreas Lorenczuk: Von Melville zur South Ferry. Bemerkungen zum Übersetzen bei Johnson, in: Ulrich Fries, Robert Gilett, Holger Helbig, Astrid Köhler und Irmgard Müller (Hg.): So noch nicht gezeigt. Uwe Johnson zum Gedenken, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2006, S. 151 (Auslassung durch Verf.), sowie auf den Aufsatz von Odile Jansen: Die Wahrheit der Erinnerung. Trauma, Identität und Geschichtskonstruktion bei Uwe Johnson und Christa Wolf, in: Michael Hofmann (Hg.): Johnson-Jahrbuch 12/2005, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2005, S. 145-155. 3 | Hier und im Folgenden beziehen sich die Seitenangaben in Klammern auf: Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997.

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risches Apriori, eine unhintergehbare Bedingung literarischer Darstellung deutscher Ge schichte im 20. Jahrhundert.« (S. 301, Hervorhebung im Original)

Die Spezifik des Erzählens stellt Mecklenburg zunächst anhand der hybriden Struktur des Textes heraus, die er in der »Erzählgemeinschaft und Arbeitsteilung von Hauptfigur und Autor im Rahmen eines ›Vertrages‹« (S. 221) begründet sieht. In der Aufteilung der Erzählstimme in zwei Erzählstimmen erkennt er eine klare Struktur: »Verbinden sich in der zweiten Stimme, derjenigen Gesines, Erfahrung, Erinnerung, Reflexion, mündliches Erzählen in alltäglicher Kommunikation, so in jener ersten Stimme Materialrecherche, Rekonstruktion, thematische Durcharbeitung, schriftliche und schriftstellerische Ausgestaltung.« (S. 228)

Den Komplex der Erinnerung, den Jahrestage zu bewältigen versucht, sieht Mecklenburg mit der Fähigkeit des Sehens verbunden, die er als »ethisch belangvolle Erkenntnisleistung« (S. 231) bestimmt; Mecklenburg: »Erinnerung hat etwas mit Sehen zu tun. Sie ist eine innere Sehkraft, die das Gewesene in der Vorstellung anwesend macht. […] Sehen, als Voraussetzung für wirkliches Begreifen des Gegenwärtigen, Vergangenen und Kommenden, ist geradezu ein Schlüsselwort des Romans, das zugleich ein Stück Johnsonscher Poetik enthält. […]Der Sehende zeichnet sich durch Wachheit und Vorstellungskraft aus, die über das, was vor Augen liegt, hinausgeht, und durch den ethischen Willen, Selbsttäuschung zu vermeiden.« (S. 230f., Auslassung durch Verf.)

Damit man das, was man wahrnimmt, erzählend in gerechter Weise aufnehmen kann, bedarf es also einer besonderen Sehkraft, die über Dinge hinauszublicken vermag und deren Eindrücke und aus ihr gewonnenen Möglichkeiten der Reflexion dann in Erzählung übersetzt werden. Mecklenburg führt dafür zunächst den Begriff des »dokumentarischen Erzählens« ein; darunter versteht er eine »ästhetische Verfahrensweise, der eine ethische Haltung zugrunde liegt« (S.  261). Diese ethische Haltung kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass der Text sich dem Leser nicht verschließt, sondern durch die dokumentarische Erzählweise gerade eine Öffnung ermöglicht, da der Leser jene »Spuren des dokumentarischen Materials an der Wirklichkeit selbst zu überprüfen« (S. 263) vermag. Dabei setzt sich dieses Erzählen den Möglichkeiten einer Kritik aus: »Das

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dokumentarisch Mitgeteilte wird nicht als objektives Faktum behandelt, sondern ebenso wie die erzählerischen Fiktionen, in die es eingebaut ist, auf seinen Wahrheitswert hin geprüft und befragt.« (S. 261). Weiter weist Mecklenburg auf das »topische Erzählen« hin, das er folgendermaßen bestimmt: »Topisches Erzählen heißt, den Faden der Erzählung, gewissermaßen durch Querfäden, mit Argumentationen verknoten, heißt die Aspekte und Umstände, die zu einem Sachverhalt gehören, Punkt für Punkt durchgehen. […] Topisches Erzählen ist Johnsons Alternative dazu, daß er in Jahrestage weder den Prozess subjektiver Erinnerung nachbilden noch Geschichten in konventionell glatter Weise vortragen will: Der Text gibt sich vielmehr als schriftliche Fixierung einer Materialsammlung und -sortierung für ein gedankliches Durcharbeiten der Vergangenheit.« (S. 283f., Auslassung durch Verf.)

Dieses »topische Erzählen« ist nicht primär eine Strategie der Ästhetisierung, sondern ergibt sich aus der Komplexität des Erzählgegenstandes selbst, dem man erzählerisch gerecht werden will, ohne die eigene Perspektivität auf diesen zu hierarchisieren. Damit verbunden scheint mir auch Mecklenburgs Begriff des »topographischen« Erzählens zu sein; die Relevanz der Orte ergibt sich für Mecklenburg daraus, dass diese mit den Lebensgeschichten der Figuren untrennbar verknüpft sind: »Die Ortsbezogenheit der Figuren ist also keine unbedingte, sie ist einer der Bedingungsfaktoren ihres Lebens und wird als solches auch problematisiert.« (S. 341) Diese Vorgehensweisen des Erzählens spiegeln ein Verständnis von Geschichte, in der die »erinnernde und reflektierende Subjektivität« auch der »kleinen Personen« zum Modus von Erkenntnis wird. »Historisches Erzählen« in diesem Sinne hat nicht primär die »Geschichte« zum Gegenstand, sondern geht von der Verstrickung der Person in Geschichte und Geschichten aus und bindet die Person somit in den Zusammenhang des großen Geschehens zurück,4 was auch bedeutet, sich der »historische[n] Recherche als Korrektiv gegen die Begrenztheiten und Verzerrungen [des] individuellen und kollektiven Gedächtnisses« (S. 234) zu bedienen. 4 | So verstehe ich die tabellarische Gegenüberstellung Mecklenburgs, in der er die »Archivhistorie« von der »oral history« abzugrenzen versucht. Vgl. Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 436.

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An den aus Jahrestage herausgearbeiteten thematischen Schwerpunkten »Familie«, »Schuld«, »Heimat – Fremde« sowie in durchgängiger Auseinandersetzung mit der Frage nach der politischen Verantwortung und den Möglichkeiten des »Zur-Sprache-Kommens« angesichts des Verstummens, das der Tod mit sich bringt, entfaltet Mecklenburg eine Analyse, die Jahrestage als beispielloses Werk für »epische Verarbeitung moderner deutscher Geschichte« (S. 459) aufzeigen kann. Mit Mecklenburg teile ich auf der analytischen Ebene den Begriff des »Hybrids«, den ich allerdings nicht nur in Bezug auf intertextuelle Arrangements anwende, sondern auch in dem Phänomen der Lebens-Geschichte selbst verortet und damit in mehrfacher Weise im Text und durch das Erzählen umgesetzt sehe. Im Gegensatz zu Mecklenburg bin ich zurückhaltend damit, die Figur des »Genossen Schriftstellers« mit dem Autor Uwe Johnson zu identifizieren und von einem »Vertrag zwischen Autor und Figur« zu sprechen, der das Erzählen konstituiert.5 Ich teile mit ihm die Beobachtung, dass dem Text eine ethische Bewegung zugrunde liegt, würde hier aber nicht ohne Differenzierung das Sehen als die entscheidende ethische Kategorie stark machen. Zwar hat Mecklenburg recht, dass im Text ein »richtiges Sehen« von einem »falschen Sehen« unterschieden wird,6 doch m.E. ist durch die Problematik 5 | Auch wenn der »Genosse Schriftsteller« für mich eine fiktive Figur ist, würde ich auch innerhalb dieser Struktur nicht von einem Vertrag zwischen Gesine und ihm sprechen. In den in Jahrestage integrierten Metareflexionen über die Zusammenarbeit der Erzählpartner fällt zwar auch der Begriff des Vertrages; für eine Beschreibung des Verhältnisses zwischen den beiden finde ich den Begriff der Komplizenschaft jedoch angemessener; vgl. hierzu Buchteil A, Kap. 2.2 Komplizenschaft, S. 58ff. 6 | Mecklenburg bezieht sich hier u.a. zu Recht auf die in Jahrestage aufgeworfene Frage: »War Anfang 1933 etwas zu sehen« (JT, S. 169) und ein »Stimmengespräch« zwischen Gesine und ihrem Vater: »Warum bist du dann hingefahren zum Krieg. War doch nicht zu sehen, Gesine. Doch.« (JT, S. 391) Dass Cresspahl jedoch mit einem »nicht deutbaren Blick« (JT, S. 16) auffällt, sehe ich nicht als ein Bemühen um Deutung, sondern gerade als eine Eigenschaft des Anderen (hier Cresspahl), der sich den deutenden Blicken zu entziehen versucht. Die Familie Papenbrock behält ihn nämlich durchaus im Blick, was dann auch wieder auf ihr Misstrauen dem Anderen gegenüber und damit auf die begrenzende Ordnung ihrer Lebenswirklichkeit hinweist. Dies wird in einem Stimmengespräch zwischen

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der Sichtbarkeit – die im Text oft als Opposition zum Geheimnis erscheint – das Sehen als Bedingung für Erkenntnismöglichkeit und ethisches Handeln stark problematisiert.7 Gesine sagt in Bezug zu ihren Dialogen mit Marie: »Ihre Fragen machen meine Vorstellungen genauer, und ihr Zuhören sieht aufmerksam aus.« (JT, S. 143) Auch hier taucht das Sehen auf, aber gerade als eine qualitative Beschreibung, die auf das Hören und die daraus sich ergebenden Anfragen verweist. Es sind die Anfragen des Anderen, die hier die »Vorstellungen«, die eigene Sehkraft schärfen. Ohne Hören und Sehen völlig gegeneinander ausspielen zu wollen, möchte ich den Anderen stark machen, der sowohl zum eigenen Sehen (zur Perspektivität) als auch zum Hören nicht nur ein Korrektiv bildet, sondern – gerade in Bezug auf das Erinnern – erst in besonderer Weise das hervorzubringen vermag, was Mecklenburg mit dem »richtigen Sehen« zu beschreiben versucht. Ich möchte von dem Sehen als einer Praxis ausgehen, die zunächst nicht ethisch kategorisiert wird, sondern performanztheoretisch beschrieben werden kann. 8 Den von Mecklenburg gewählten thematischen Schwerpunkten schließe ich mich im Wesentlichen an und werde im Laufe meiner eigenen Überlegungen auf Mecklenburg verweisen.

Zu Thomas Schmidt Thomas Schmidt nähert sich in Der Kalender und die Folgen. Uwe Johnsons Roman »Jahrestage«. Ein Beitrag zum Problem des kollektiven Gedächtnisses9 der Frage, wie das kalendarische Erinnern in Jahrestage erscheint. Zunächst geht er von dem Verhältnis zwischen Titel und Untertitel aus; diese Gesine und ihrer Mutter deutlich: »Ich war hübsch, Gesine. Und er sah doch eher aus wie ein Arbeiter. Dafür hatten wir einen Blick, Gesine.« (JT, S. 18) Vgl. Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 230f. 7 | Es ist gerade eine besondere Stärke Cresspahls, dass er das »Jüdische« an Semig nicht sehen kann, was diesen erstaunt. (JT, S. 71). 8 | Diese Bewegung werde ich an verschiedenen Stellen aus Jahrestage aufzeigen und im bildungsphilosophischen Teil vertiefen. Vgl. zu dem Aspekt von Sehen und Sichtbarkeit auch Kap. 2.5.2 Begegnung, S. 88ff., sowie Buchteil B, Kap. 2 Zwischen Entzug und Identität, S. 212ff. 9 | Hier und im Folgenden beziehen sich die Seitenangaben in Klammern auf: Thomas Schmidt: Der Kalender und die Folgen. Uwe Johnsons Roman »Jahresta-

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beiden Ebenen »verschränken […] den Jahrestag als kulturelle Technik mit dem Leben und dem Erzählen der Gesine Cresspahl« (S. 66, Auslassung durch Verf.). Über die Frage, wie »stabil diese Verschränkung« ist (S. 66), versucht Schmidt die Basisstruktur des Textes zu identifizieren, die er in der Datierung der einzelnen erzählten Tage findet (S. 66). Diese Datierung wirft die Frage der Gattung auf und öffnet die Optionen des Tagebuches und der Kalendergeschichte. Schmidt diskutiert diese Gattungszuschreibungen in Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur, die er kritisch mit Jahrestage konfrontiert, um dann den Kalender selbst, als der Erzählung zugrundliegendes Konstruktionsprinzip aufzuzeigen: »Die Datierungen der Jahrestage beziehen ihren Sinn nicht aus der Referenz zu den skandierenden Zwischentiteln des Tagebuchs, sondern aus dem vom Titel eröffneten Feld der Fest- und Gedächtniskultur. Supplemente zu etlichen Daten geben in den Kapitelüberschriften einen Fingerzeig. […] Was sind die Jahrestage dann? Zunächst einmal ein großangelegter Erzähltext, der sich rigoros der vom Kalender angebotenen Segmentierungsmöglichkeiten bedient; womöglich auch ein ›Buch aus Jahrestagen‹. Letzten Endes läßt sich resümieren, daß die Jahrestage nicht in erster Linie an einer literarischen Gattung orientiert sind, sondern bei aller Aufnahme literarischer Traditionen gleichsam durch diese hindurch direkt auf den Kalender zugreifen.« (S. 75ff., Auslassung durch Verf.)

Um das Prinzip des Jahrestages genauer zu fassen, stellt Schmidt ausführlich die Bedeutung des Kalenders und die Begehung von Jahrestagen in den kollektiven Praktiken des Gedächtnisses kulturtheoretisch dar (S. 103152). Dabei weist er auf die Bedeutung des Jahrestages sowohl im individuellen Erinnern wie auch in den politisch umkämpften Konstruktionen eines Kollektivgedächtnisses, eines »politischen Kalenders«, hin. In Bezug auf Jahrestage wirft er dann die Fragen auf: »Inwieweit behält der Kalender als Apparatur der außertextlichen Lebenswelt seinen Eigenwert gegenüber der sich in ihm vollziehenden Narration mit ihrem vielmaschigen Netz unterschiedlicher Jahrestage? Inwieweit paßt sich die Narration in die ihr vermeintlich fremde Form ein? Inwieweit zieht sich also die Form die Geschichte auf den Leib? Was kann ein Jahrestag in einem literarischen Text bestelge«. Ein Beitrag zum Problem des kollektiven Gedächtnisses, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2000.

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len? Und nicht zuletzt: Welche Ursachen liegen den zu Erzähltexten zuvor invers gesetzten Vorzeichen von Titel und Basisstruktur zugrunde, die Johnson durch sein provokantes Vorspiegeln einer Kontinuität der Form-Inhalt-Relation zu überspielen suchte?« (S. 155)

Schmidt stellt zunächst heraus, dass der Jahrestag in Jahrestage explizite Erwähnung, aber auch implizite Verarbeitung findet (S. 184) und in drei Varianten auftaucht: »1. Durch namentliche Nennung des Jahrestages, aber unabhängig von Basisstruktur und Tageskapitel; ein solcher Jahrestag kann als Referenzsignal auch auf sein Tageskapitel verweisen; 2. durch namentliche Nennung des Jahrestages als explizite Markierung in seinem Tageskapitel; 3. durch implizite Markierung und Absicherung im kulturellen Code des Textes ohne namentliche Nennung im jeweiligen Tageskapitel.« (S. 185)

Alle drei Varianten weist Schmidt mit Einzelstellen in der Erzählung nach. Dabei stellt er sowohl die politisch motivierten als auch die religiösen und lebensgeschichtlich bedeutsamen Jahrestage heraus und zeigt die Momente ihrer Verschränkung. Er weist darauf hin, dass der Kalender und die in ihm auftauchenden Jahrestage die Bedeutung des Textes so mitkonstituieren. Der Text erfüllt sich dennoch nicht immer in dem Bedeutungshorizont, der durch den Jahrestag zunächst evoziert wird; Schmidt: »Johnsons Kalenderroman ist kein erinnerungspolitisches Pamphlet und Gesine Cresspahl keine mustergültige Erinnerungsarbeiterin. Diese literarische Figur hat weder die kalendarische noch eine andere Form der kollektiven Erinnerung zu propagieren. Hingegen soll mit ihrer Hilfe u.a. eine weitestgehend verdrängte nationale Schamgeschichte zur Sprache kommen – und zwar gerade an jenen Aporien und Widerständen, die im Einflußbereich des kollektiven Gedächtnisses aus dem Appell zu erinnern und zu gedenken resultieren, wenn die Institutionen weder vorhanden noch wünschenswert sind, die jenen Appell umsetzen könnten.« (S. 217)

Um diese »Schamgeschichte« zur Sprache kommen zu lassen, steht das Erzählte in Jahrestage in der Wirklichkeit des »kollektiven Gedächtnisses« und greift so auch auf kollektive Kalender, auch auf den jüdischen

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Festkreis zurück. Schmidt zeigt: Als Marie ihrer Mutter das Modellhaus schenkt, das sie heimlich aus den Erzählungen ihrer Mutter vom Jerichower Familienhaus nachgebaut hat, ist die Geschenkübergabe in der intertextuellen Struktur in Jahrestage mit Chanukka verbunden. In die Metaphorik dieses Festtages der jüdischen Tradition eingebunden, erfährt das Modellhaus eine Umkonnotierung vom »Haus der Schuld« zum »Haus der Erzählung« (S. 272f). Weil Marie sich wünscht, dieses Modell auszubauen, wird eine Hoffnung für die Zukunft geöffnet. Gesine »wohnt« nun nicht mehr in der Schuld. Das Weiterverkaufen des zum Puppenhaus umgebauten Modellhauses auf einem Schulbasar zeigt, dass die Dominanz der Schuldgeschichte weicht – Erinnerungen sind nun nicht mehr »zu Hause«, sondern »unterwegs«, wie Schmidt herausstellt: Mit dem Verkauf des Hauses, bei dem jedoch die lebensweltliche Bedeutung des Hauses für Gesine und Marie ihr »Geheimnis bleibt« (S. 283), wird der Umgang mit der Vergangenheit an einen anderen »symbolischen Ort verlagert, auf die South Ferry« (S.  281). Jahrestage positioniert sich damit für Schmidt kritisch zu den Praktiken des kollektiven Gedächtnisses. Weil die Situation der Überlieferung für Gesine eine grundlegend andere als die der jüdischen Tradition ist, »bricht sich das Projekt der Jahrestage am jüdischen Gruppengedächtnis als Ganzes« (S. 306). Der Bezug zum kollektiven Jahrestag bleibt so in der kritischen Haltung zu einer Erinnerungssituation bewahrt, die der Protagonistin von Jahrestage jedoch fremd bleibt. Denn Jahrestage zeigt für Schmidt eine »Überlieferung ohne Gebot« (S. 306) innerhalb eines arrangierten »Überlieferungslaboratoriums«, das »psychologische, soziologische und pädagogische Versuchsfelder« aufweist (S.  307). Hier wird die Überlieferung problematisiert: »Die Jahrestage überliefern die Überlieferung als Problem« (S. 351). Schmidt hat die Bedeutung des Kalenders und des Jahrestages sowohl allgemein kulturtheoretisch als auch konkret in Jahrestage ausführlich aufgezeigt. Die Bedeutung des »kollektiven Gedächtnisses« und die kritische Auseinandersetzung, die Jahrestage damit führt, sind auch für meine Überlegungen relevant. Schmidts These, die Erzählung würde in Auseinandersetzung mit dem jüdischen Kalender die jüdische Tradition gerade kritisieren und eine »Überlieferung ohne Gebot« fordern, würde ich allerdings so nicht teilen. Am Beispiel von Mrs. Ferwalter wird zwar gezeigt, wie die Praktiken des Gedächtnisses, geregelt durch einen »scharfen Vertrag mit Gott« (JT, S. 791), die lebensweltliche Begegnung zu blockieren beginnen. Doch diese »Orthodoxie« Mrs. Ferwalters zeigt sich als eine Gegenbewe-

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gung zu einer Gesellschaft, von der sie sich lebensgeschichtlich bedroht sehen muss. Mrs. Ferwalter ist auch der Mensch, der durch die deutsche Geschichte »die Sprache verloren« hat (JT, S. 792). Das Erinnern des Judentums ist keine Arbeit, die sich völlig im Kollektiv auflöst. Es ist lebensweltlich erfahrbar und verwurzelt – das Haus des Erinnerns ist auch hier immer als ein Haus des Erzählens zu verstehen. Auch sind die Erinnerungen in Jahrestage nicht ohne ethischen Impuls.10 Diese Ethik begründet sich nicht allein durch abstrakte Gebote, sondern – wie im Judentum auch – durch die Begegnung mit dem Anderen. Die Forderung im 5. Buch Mose »Wenn dein Kind dich morgen fragt …« (5. Mose 6,20) als Weisung der Erinnerung und des Handelns wird zwischen Gesine und Marie dialogisch eingelöst. Gesine selbst verbindet Moralität und Erinnerung in dem Satz: »Daß ich nur tu was ich im Gedächtnis ertrage« (JT, S. 209). Mit diesem Satz Gesine möchte ich zu den Überlegungen Ulrich Krellners übergehen.

Zu Ulrich Krellner Ulrich Krellner leistet in »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk11 eine Gesamtübersicht über den Komplex des Erinnerns in Uwe Johnsons Werken. Bei seiner Analyse von Jahrestage betrachtet auch Krellner zunächst das Verhältnis zwischen Autor und Figur, das er als Erzählpakt definiert. Ähnlich wie Mecklenburg sieht Krellner in diesem Erzählpakt den Erinnerungsvorgang organisiert, den er als zwei Ebenen des Gedächtnisses identifiziert: »Gesines mnemologische Recherche hat ihren Anlaß letztlich in einem autobiographischen Trauma, während der ›Genosse Schriftsteller‹ als Analysator der 10 | Vgl. hierzu auch die Rezension von Bernd Auerochs: Kalenderforschung. Zu: Thomas Schmidt: Der Kalender und die Folgen, in: Ulrich Fries, Holger Helbig und Irmgard Müller (Hg.): Johnson-Jahrbuch 8/2001, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2008, S. 211. 11 | Hier und im Folgenden beziehen sich die Seitenangaben in Klammern auf: Ulrich Krellner: »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk, Würzburg: Königshausen und Neumann 2003.

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individualpsychologischen Befangenheit der Figur verstanden werden kann und damit als Anwalt eines kulturellen Gedächtnisses auftritt, das auf einer höheren Abstraktionsebene angesiedelt ist.« (S. 224)

Krellner versucht an Einzelstellenanalysen aufzuzeigen, dass der Figur Gesine eine individualpsychologische Konzeption zugrunde liegt. Gesine erscheint maßgeblich als traumatisierte Person, die dann erzählerisch zu dem Kern ihrer Identität zurückgeführt wird: »Das Ende der Jahrestage deutet damit emphatisch auf das Gelingen der Selbstaufklärung durch erzählendes Erinnern hin und macht auf die im Verlauf des Romans geleistete Begründung einer Subjektivität und Identität aufmerksam.« (S. 233)

Das Erinnern, das die Selbstaufklärung gelingen lässt, konstituiert sich in einem Gedächtnis, das Krellner mit dem begrifflichen Repertoire Aleida Assmanns beschreibt: »Das ›Bewußtsein Gesine Cresspahl‹ entsteht während des Erzählens im Zeichen ei nes individualpsychologisch und kulturell reflektierten Gedächtnisses, dessen wechselseitige Konstitution anhand der Begriffe ›ars‹ und ›vis‹ beschrieben werden kann.« (S. 375)

Assmann hat mit dieser Trennung den Gedächtnisspeicher als Raum von der Erinnerung unterschieden, die nicht bewahrend, sondern zeitlich bewegend ist. In Auseinandersetzung mit Thomas Schmidt betont Krellner das reflexiv-didaktische Moment der Erinnerungsdialoge zwischen Gesine und Marie, dem auch er eine Moralität zugrunde legt. Schmidts Begriff der Überlieferung übersieht seiner Einschätzung nach die psychische Disposition der Protagonistin (S. 320ff.). Das von Marie gebaute Modellhaus ist für Krellner Ausdruck eines konstruktiven Umganges mit Geschichte zwischen den Generationen: »Die Basis, auf der sie [Marie, Verf.] die Nachbildung des Jerichower Wohnhauses vorgenommen hat, kann als kritisch reflektiertes, aber zugleich auch konstruktives Verstehen-Wollen bezeichnet werden.« (S. 324)

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Damit betont er den intergenerativen Prozess, in dem Geschichte als Überlieferung steht. Er betont, dass die Entscheidung, eine Geschichte anzunehmen oder zu gestalten, in der Freiheit und Reflexion der nachfolgenden Generation liegen muss (S. 333). Dass es gerade die individuelle Disposition Gesines ist, die ihre Erinnerung maßgeblich motiviert, versucht Krellner damit zu erklären, dass der Selbstmord ihrer Mutter das entscheidende Trauma ihres Lebens ist; Krellner: »In der Tat gibt es in den Jahrestagen keinerlei mythopoetische Motivierung für die erzählerische Erinnerungsarbeit. Ganz ohne konkreten Anlaß kommt Gesines Bekenntnis-, Rechtfertigungs- und Erinnerungszwang jedoch keineswegs aus. Ihr im Laufe des Romans akribisch hergeleitetes Muttertrauma belegt, daß sie nichts weniger als eine ›leere Einschreibfläche‹ darstellt, sondern vielmehr von den Erfahrungen ihrer Vergangenheit traumatisiert und dadurch für das Unternehmen Jahrestage erst konditioniert worden ist.« (S. 256)

Mit Ulrich Krellner teile ich analytische Schwerpunkte (so wie die Unterscheidung des Gedächtnisses als Speicher vom Prozess der Erinnerung), die ich allerdings unter anderen Vorzeichen lese. Ich gehe nicht so sehr davon aus, dass »Selbstaufklärung« zentrales Moment des Erzählens ist; gerade im Erzählen werden die Grenzen einer »Aufklärung« gezeigt. Nicht aus dem Selbst, sondern in der Begegnung mit dem Anderen ereignet sich m.E. eine Erkenntnis, die ihre Begründung und ihre Grenze im lebensweltlichen Geheimnis finden muss. So sehe ich auch im Unterschied zu Krellner den Selbstmord Lisbeth Cresspahls (S. 236ff.) nicht als vollständig deutbar an. Der kurze Einblick in den Forschungsdialog zeigt: Erinnern und Gedächtnis, Tod und Vergangenheit bilden die zentralen Themen in der Auseinandersetzung mit Jahrestage. Auch ich gehe davon aus und möchte den Dialog um die Aspekte der Übersetzung und des Geheimnisses als Motive des Erzählens und Erzählten vertiefen. Auf die hier genannten Wissenschaftler, so wie auch auf weitere Forschungspositionen, verweise ich im Laufe meiner textanalytischen Arbeit. Im Folgenden gebe ich einen kurzen Überblick über meine Reflexion.

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Ü BERBLICK ZU DIESEN R EFLE XIONEN Die vorliegenden Überlegungen gliedern sich zwei Teile: Teil A widmet sich dem Dialog mit Jahrestage, Teil B weitet ihn zu bildungsphilosophischen Fragestellungen hin aus. Der literaturwissenschaftliche Teil A ist folgendermaßen gegliedert: Im ersten Kapitel »In Übersetzung« werde ich, ausgehend von den vielfältigen Über-Setzungen der Dolmetscherin Gesine Cresspahl, die Relevanz der Übersetzungstheorie für diese Arbeit verdeutlichen. Dabei werde ich zeigen, dass Gesine selbst ein Bewusstsein von Übersetzung als Handlung hat. Dies setze ich in Beziehung zu einem Übersetzungsbegriff, den ich ausgehend von Martin Luther und Wilhelm von Humboldt definiere, um ihn dann, erweitert um die Reflexionen Walter Benjamins, in die postmoderne Diskussion zu stellen. Mit diesem Übersetzungsbegriff möchte ich zeigen, dass die Hybridität der Übersetzung sowohl thematisch als auch strukturell in Jahrestage reflektiert wird. Die im Text vorgenommenen Übersetzungen stehen dabei in der Spannung, gesellschaftliche Ordnungen freizulegen, während sie gleichzeitig versuchen, das Geheimnis des Lebens zu bewahren. Im zweiten Kapitel »Zwischen Geheimnis und Enthüllung« werde ich, ausgehend von der Verstrickung des Lebens in Geheimnisse, wie es sich in Jahrestage darstellt, besonders die erste Seite des ersten Bandes und die letzten Seiten aller vier Bände von Jahrestage analysieren. Dabei beschäftige ich mich mit der Frage, wie sich Jahrestage auf der ersten Seite dem Geheimnis des Lebens verpflichtet, das ein bedrohtes Geheimnis ist. Die letzten Seiten entfalten eine Genealogie des Verlustes. Das Geheimnis des Lebens erscheint bedroht – durch Bestrebungen seiner Enthüllung und von aufdeckenden Blicken. Es wird nur in besonderen Momenten des Begegnens bewahrt. Die in diesem Abschnitt gewonnenen Einsichten werden durch eine phänomenologische Reflexion zu der Beziehung zwischen dem Anderen und dem Geheimnis vertieft. Dabei gehe ich zunächst von Heideggers Überlegungen der »Innerweltlichkeit des Daseins« aus. Im weiteren Dialog mit Jahrestage gehe ich auf das Erscheinen des Anderen als Heimsuchung ein, wie auch Emanuel Lévinas es beschreibt. Im dritten Kapitel »Zwischen Erinnerung und Gedächtnis« beschäftige ich mich, nach kurzen Vorüberlegungen zum Verhältnis zwischen dem »kollektiven Gedächtnis« und der Erinnerung, mit der Frage, wie sich die

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Prozesse des Erinnerns in Gesines Lebenswelt konstituieren. Ich werde dabei anhand von Einzelstellen zeigen, dass Jahrestage sich zu der Konstruktion eines »kollektiven Gedächtnisses« kritisch positioniert und die Erinnerung als Einfall des Anderen erscheint, der zugleich Spur und »spur« in der Ordnung des Gedächtnisses ist. Im vierten Kapitel »Zwischen Update und Ableben« vertiefe ich die Todesproblematik, die ein durchgängiges Thema in Jahrestage bildet. Ausgehend von zwei »Todesszenarien«, mit denen uns der Text konfrontiert, reflektiere ich den Zusammenhang von Tod und aufgeklärter Wirklichkeit. Die darauffolgenden Einzelstellenanalysen zeigen, wie der Text den Tod als entfremdeten Tod zeigt, dem ein entfremdetes Leben vorangeht, das die Angst vor dem Fremden, Angst vor dem Anderen reproduziert. Pius, Jakob und D.E., die wichtigsten männlichen Bezugspersonen Gesines sterben auf rätselhafte Weise – inmitten eines Milieus der Politik und Geschwindigkeit. Die Entfremdung, die ihre Lebensgeschichten erfahren zeigt sich als Teil einer gesellschaftlichen Identität des Lebens, die schließlich auch das Sterben normiert. Die darauffolgende Vertiefung positioniert sich vor diesem Hintergrund kritisch zu Heideggers Denken des Seins als »eigentliches Sein zum Tode«. Ich werde fragen, ob der Schluss des Schlusses in Jahrestage nicht eine Perspektive bietet, die den Aufbruch zum Anderen verlangt. So schließt der gesamte Teil A im fünften Kapitel »Zwischen Entwurf und Ordnung« mit Überlegungen zu den Verhältnissen von »Entwurf und Plan« und »Entwurf und Aufbruch«, wie sie sich durch eine Lektüre darstellen können. Der in Jahrestage von Heinrich Cresspahl zitierte Satz »Geschichte ist ein Entwurf« (JT, S.  1891) wird mich in allen Kapiteln begleiten, und ich werde überlegen, wie sich seine Bedeutung vor dem Hintergrund des Dialoges mit dem Text zeigt und transformiert. Ich werde deswegen zum Ende der Abschnitte 1, 3 und 5 eine Übersetzung dieses Satzes vorschlagen, die ich aus der bis dahin erbrachten Analyse entwickle. In allen Kapiteln werden auch innerhalb der konkreten Interpretationsarbeit an Einzelstellen theoretische Positionen zu Wort kommen, so wie innerhalb dieser Reflexionen auch die Erzählung eine Stimme erhält. So versuche ich Literatur und Wissenschaft in einen Dialog der wechselseitigen Kommentierung zu stellen. Die Auseinandersetzung mit Jahres-

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tage dient sowenig der »Illustrierung« des Theoretischen, wie die Theorie »Legitimation« des Literarischen ist. Durchgängige theoretische Bezugspunkte im Dialog mit Jahrestage sind die Reflexionen Martin Heideggers und Emanuel Lévinas’ geworden. Das war mir zu Beginn dieser Arbeit nicht klar. In gewisser Weise rief sie der Text in diese Arbeit hinein. Auch Heidegger fragt nach Entwurf und Ordnung, und seine Antworten haben mich durch die Lektüre von Jahrestage so irritiert, dass ich ihn an diesem Dialog beteiligen wollte. Von den Grenzen seiner Theorie spricht das Denken Emanuel Lévinas’, dessen Reflexionen dem Geheimnis des Anderen verpflichtet sind, wie es auch Jahrestage auf mehreren Ebenen zeigt. In Teil B setze ich mich damit auseinander, wie die durch den Dialog mit Jahrestage gewonnenen Ergebnisse in eine Bildungsphilosophie übersetzt werden können. Dabei werde ich, von der Mehrdeutigkeit und Dynamik des Bildungsbegriffes ausgehend, mich kritisch mit dem Verhältnis von Subjektivität und Performativität auseinandersetzen. Dies führt mich zu der Frage, ob Bildung nicht etwas impliziert, das den performativen Akt überdauert. Stimmen aus Jahrestage werden mich in dieser Reflexion erneut begleiten; in Teil A herausgearbeitete Bewegungen aus dem Denken Heideggers und Lévinas’ werden in Teil B vertiefend mit Hinblick auf die Frage nach Möglichkeiten der Bildung reflektiert. Ich schließe diese Auseinandersetzung mit Überlegungen zur Paradoxie der Bildungsinstitution. Nicht nur als akademische Arbeit bleibt ihr Sprechen durch diese Paradoxie bewegt.

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A Dialog mit Jahrestage

1. In Übersetzung Es muß am Dolmetscher gelegen haben. (Jahrestage, S. 1356)

1.1 Ü BERSE T ZEN IN G ESCHICHTE Mit Gesine Cresspahl1 lernen wir eine Übersetzerin kennen, die auf mehreren Ebenen biographisch übersetzt. Sie setzt über von Deutschland nach New York; sie übersetzt ihre Geschichte nicht allein, sondern im Dialog mit ihrer Tochter Marie und in komplizitärer2 Zusammenarbeit mit dem »Genossen Schriftsteller«. Es ist bezeichnend, dass mit dieser Komplizenschaft davon ausgegangen wird, dass diese Geschichte nicht allein bewältigt werden kann, sondern einer Form des gemeinschaftlichen, geteilten Erzählens bedarf, einer gedanklichen Über-Setzung in dialogischer Konfrontation und Arbeit an ihr. Damit weist das Wie des Erzählens selbst darauf hin, dass das narrative Potential nicht nur im – von einem »schriftstellerischen Bewusstsein« gesetzten – Bewusstsein der Akteure liegen kann, über das diese – vermittels der Autorinstanz – vollständig verfügen, oder für die die Autorinstanz sich in der Frage nach der letzten Bedeutung verbürgt. Denn das gemeinschaftliche Erzählen zwischen Gesine und dem »Genossen Schriftsteller« sperrt sich dagegen, dass Bedeutung und Schöpfung einer Lebensgeschichte allein einem Bewusstsein entspringen können. Die Differenz zwischen dem »Genossen Schriftsteller«, der in der Erzählung auch unter dem Namen Uwe Johnson auftaucht, und dem Uwe Johnson, der diesen Roman 1 | Zum Namen »Gesine Cresspahl« und der in dem Begriff »Crest« begründeten Mehrdeutigkeit vgl. Buchteil A, Kap. 2.3 Erste Seite: Hohlraum, S. 63ff. 2 | Den Begriff der Komplizenschaft erläutere ich in Buchteil A, Kap. 2.2 Komplizenschaft, S. 58ff.

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signiert, widerspricht der Annahme einer authentischen schöpferischen Identität, die allein in der Erzählung zur Sprache kommt und sich nur auf verschiedene Perspektiven »verteilt«. Der »Genosse Schriftsteller«, der sich Gesine in New York erzählend und recherchierend zur Seite stellt, befindet sich ihrer Geschichte gegenüber in einer Übersetzungsfunktion: Er bildet eine Brücke zwischen Zeiten und Lebenswelten, weil er eine besondere Fähigkeit des Umganges mit Geschichte zu haben scheint. Wichtig ist an dieser Stelle zu betonen, dass er Schriftsteller bleibt und kein Historiker ist. Zwar vermag er Geschehenes zu rekonstruieren, Recherchen zu betreiben und schließlich in besonderer Weise das Recherchierte narrativ zu gestalten, doch geht es in erster Linie darum, diese Daten vor dem Hintergrund des konkreten Lebens Gesines als in diesem relevante aufzuzeigen und sie narrativ mit ihrer momentanen Lebenswelt zu verflechten. Es geht ihm eben um die Geschichte und Geschichtlichkeit eines konkreten Lebens. Innerhalb der Erzählung werden wir darauf gestoßen, dass sowohl Gesine als auch dem »Genossen Schriftsteller« nicht immer klar ist, wer diese Erzählung maßgeblich in welcher Situation erzählt: »Wer erzählt hier eigentlich, Gesine. Wir beide. Das hörst du doch, Johnson.« (JT, S. 256) Doch diese sich hier zeigende Verunsicherung bedeutet mehr als nur die Frage, ob man selbst oder der Partner für einzelne Sätze verantwortlich ist: Sie ist der Hybridität einer Lebenswelt geschuldet, die Geschichten birgt, die bloß punktuell, perspektivisch zur Sprache gebracht werden können. Dies verdeutlicht, dass man nie genau wissen kann, wer spricht – auch dann nicht, wenn man selbst zu sprechen beginnt.3 Auch im eigenen Sprechen, scheint noch etwas über-gesetzt zu sein, was sich der eigenen Kontrolle entzieht. Nicht zuletzt muss im Zusammenhang der Übersetzung darauf hingewiesen werden, dass Gesine »diplomierte Übersetzerin« (JT, S. 1281) ist. Dabei ist es bezeichnend, dass die Ausbildung für diese Tätigkeit und ihre 3 | Was ohne Zweifel nicht nur ein Phänomen des Alltages ist, sondern auch in der Geschichte selbst zur Sprache gekommen ist. Heinrich von Kleist hat dieses Phänomen in seinem Essay Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden nachvollzogen. Vgl. Heinrich von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, in: ders.: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Hg. v. Roland Reuß und Peter Staengle, Band 2/9: Sonstige Prosa, Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Roter Stern 1997, S. 25-32.

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anschließende Ausübung ebenfalls nach einem mehrfachen biographischgeographischen Über-Setzen erfolgt: Aus Ostdeutschland, Mecklenburg stammend, studiert sie zunächst Anglistik in Halle und lässt sich schließlich in der westdeutschen Großstadt Frankfurt zur Diplomdolmetscherin ausbilden. Dies bedeutet zu der Zeit Gesines nicht einfach ein Über-Setzen zwischen Orten, sondern einen Wechsel zwischen politischen Systemen und ihrer Weltanschauung, zu dem es einer bewussten Entscheidung bedarf. Die Entscheidung in Westdeutschland zu leben fällt für Gesine nach den Aufständen vom 17. Juni 1953, die sie von Westberlin aus mitverfolgt. Als sie damit konfrontiert wird, wie die SED-Führung ihr gewaltsames Einschreiten im Sinne ihres Geschichtsbildes zu interpretieren versucht,4 weiß sie endgültig, dass sie für dieses System nicht arbeiten will: »Wenn sie sich entschloß zu einer Abreise, so kaum, weil im jenseitigen Deutschland die Amerikaner regierten als Besatzungsmacht; sie fürchtete sich vor der Aufforderung, an der Saale in einem System etwas aufzusagen von einem Tag X, an dem jemand anderes als die Arbeiter …« (JT, S. 1853)

Nach der Ausbildung an der Dolmetscherschule in Frankfurt übt sie die Übersetzungstätigkeit an einem Ort des politischen Geschehens aus, der zugleich auf die Brüche im Politischen verweist: Sie arbeitet beim Amt für Manöverschäden der NATO (JT, S. 1866). Noch in Deutschland wechselt sie nach einer Zusatzausbildung im Bankwesen, die sie »dem Kind zuliebe« (JT, S.  1871) absolviert, zu einer Bank nach Düsseldorf und wird von dieser Bank schließlich zur »gehobenen Ausbildung« (JT, S. 1872) in einer »befreundeten Bank« (JT, S. 1872) nach New York geschickt, die sie entläßt, als sie einer Kundin von einem 4 | »Am 21. Juni unterbreitete das Zentralkomitee der ostdeutschen Einheitspartei der Bürgerin Cresspahl einen zusätzlichen Vorschlag für ihre Rückkehr: Der Aufstand in ihrer Republik, er müssen begriffen werden als bloß Ereignisse. Als das Werk der amerikanischen und west(deutschen) Kriegstreiber, die in ihrer Enttäuschung über die Gewinne der Friedensbewegung in Korea wie in Italien einen Kriegsbrand hätten hinüberwerfen wollen über den Brückenkopf Westberlin … überführt durch das Absetzen von Banditen mit Waffen und Geheimsendern aus ausländischen Flugzeugen … durch Lastwagen mit Waffen an der Autobahn Leipzig-Berlin …« (JT, S. 1852)

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Geschäft abrät (JT, S.  1878). So findet sie in New York schließlich eine Stelle als »Fremdsprachensekretärin« (JT, S.  1882) bei einem amerikanischen Kreditinstitut, in dem sie von ihrem Chef de Rosny auch wieder mit Übersetzungsarbeiten betraut wird. Dass eine solche Arbeit an diesem Ort ebenfalls nicht unpolitisch ist, weiß Gesine, wenn sie in de Rosny einen von denen wiedererkennt, »vor denen sind wir gewarnt worden auf der Schule« (JT, S. 1471). Dass sie nun in de Rosnys Auftrag ein »Transferieren von ein paar Millionen in den tschechoslowakischen Staatshaushaushalt« (JT, S. 1879) in dem sich verändernden Prag sondieren soll, obwohl es de Rosny nicht um die Verbesserung des Sozialismus, sondern um »ökonomische Investitionschancen« geht, bringt sie in einen inneren Konflikt. Dieser Konflikt zeigt, dass ihr ständig präsent ist, für wen und mit welchem Ziel sie ihre Arbeit verrichtet. Gerade dazu beizutragen, dass die Kommunikation auf einer geschäftlichen Ebene möglichst ohne Irritationen verläuft, bedeutet, dass man im Sinne des Unternehmens handelt, zu seiner Handlungsfähigkeit einen entscheidenden Beitrag leistet. Dies ist für Gesine auch dadurch eine sprachliche Herausforderung, da sie sich in der englischen Sprache nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit5 bewegen kann, wie ihrer Tochter Marie es gelingt, denn: »Sie hat ihr Englisch von einer Dolmetscherschule kaufen müssen, für eine Universität war kein Geld da.« (JT, S. 1137). In dieser Sprache läuft die Verständigung für sie nicht »glatt«, sie hat immer wieder das Gefühl »im Englischen Bruch gebaut« (JT, S.  1138) zu haben. Tschechisch so zu lernen, dass sie es für die Interessen einer amerikanischen Bank wird anwenden können, stellt 5 | Siehe zum Beispiel folgende Szenen aus Jahrestage: »Sie begreift nicht, was diese Worte voneinander wissen, und der leichte abkippende Schwindel beim Anblick dieses Satzes warnt sie vor der Einbildung, sie könnte jemals auf der englischen Seite der Sprache leben.« (JT, S. 780) »Die Phrase scheint so geläufig im Englischen, im Amerikanischen, das Buch der Zitate von Oxford braucht sie gar nicht mehr zu führen. Alle wissen es, die Cresspahl nicht.« (JT, S. 1138) »Das muß die diplomierte Übersetzerin Cresspahl, seit sieben Jahren ansässig in New York doch wieder nachschlagen, damit sie ja nicht nach Hause kommt in der hiesigen Sprache: […]« (JT, S. 1281, Auslassung durch Verf.) Lorenczuk formuliert: »Kann Übersetzung also Erkenntnisgewinn bedeuten, ist seine Notwendigkeit zugleich die Signatur der Fremdheit des Nicht-Ankommens.« Andreas Lorenczuk: Von Melville zur South Ferry, S. 152.

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somit eine zusätzliche, nicht unerhebliche Übersetzungsherausforderung dar. Bemerkenswert ist, dass das englische Wort für dolmetschen »to interpret« lautet, während man im deutschen Sprachraum zwischen Dolmetschen und Interpretieren klar unterscheidet. Im angelsächsischen Sinn des Dolmetschens fallen also Übersetzung und Sinnreflexion deutlicher zusammen. Gesine wird in ihrem Arbeitsumfeld mit dieser Idee des Dolmetschens konfrontiert gewesen sein.6 Sie selbst wird Übersetzen also als ein Handeln in und mit der Sprache verstanden haben, das politisches Handeln ist.7 »Übersetzung als Handlung« – wie es hier mit Gesine bereits sichtbar wird –, das ist ein Gedanke, der auch in der Übersetzungstheorie zentral ist. Bereits Luther und Humboldt haben den Übersetzungsbegriff nicht primär linguistisch diskutiert. Für beide Denker gilt, dass ihre Übersetzungsarbeiten (und Arbeiten zur Übersetzung) auch eine politische Relevanz haben, die sowohl Luther als auch Humboldt bewusst ist. Die angestrebten Übersetzungen sollen – mit unterschiedlicher Gewichtung – dem Selbstverständnis der deutschen Nation dienen, sie auf spezifische Weise zur Sprache kommen lassen.8 Dabei ist das Verhältnis zum Anderen und dessen Sprache bei Humboldt und Luther ein verschie6 | Durch die Verschiedenheit der Übersetzungsebenen, mit denen Gesine biographisch konfrontiert ist, ist der Beruf Gesines als Dolmetscherin durchaus auch metaphorisch zu verstehen. Μεταφορά , μ ετά-φήρειν trägt ebenfalls die Vorstellung eines Über-Tragens, Über-Setzens, Transportierens in sich; dies zeigt die Nichtfestlegbarkeit seiner Referenz etymologisch an. Übersetzung als Metapher – und die Metapher als performatives Handeln in der Sprache – fordert auch deswegen dazu auf, die Bedeutung von Übersetzung und die Bedeutung einer Übersetzerin in Jahrestage nicht festzuschreiben, sondern sie prozesshaft zu denken. 7 | Das Übersetzung Handlung ist, ist Gesine schon während ihrer Ausbildung bewusst, wenn sie über die Dolmetscherschule erzählt: »Mir genügte eine Dolmetscherschule […] wo die Geschicklichkeiten von Hitlers Chefdolmetscher dir geläufig sein mußten wie die Sprüche Salomos. Da wurden die Schüler zu Diplomaten, wenn sie hinüberwechselten aus dem Naturschutzpark eines Pensionsberechtigten in die freie Wildbahn der Aktiven.« (JT, S. 1858f., Auslassung durch Verf.) 8 | Vgl. hierzu Boris Buden: Eine Tangente, die den Kreis verrät. Über die Grenzen der Treue in der Übersetzung, in: TRANSLATE/EIPC (Hg.): Borders, Nations,

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denes und wird bei der Frage nach der Treue signifikant. Die Frage nach der Treue bezieht sich dabei zunächst auf das Verhältnis zwischen Übersetzung und Original. So zeichnen sich die zeitgenössischen Kritiken an Luther dadurch aus, dass sie ihm vorwerfen, die Heilige Schrift zu verfälschen. Luther rechtfertigt sich in seinem »Sendbrief vom Dolmetschen« damit, dass er sie gerade durch Übersetzung erst einer breiteren Masse zugänglich macht und somit den Glauben durch die Schrift erst dem Einzelnen in besonderer Tiefe seines Verstehens ermöglichen kann.9 Sicher geht es ihm auch darum, den Text der Bibel aus dem Übersetzungsmonopol des Papstes zu lösen. Doch bleibt die Schrift das, was durch Glaube und Gnade allein den Menschen gerecht werden lässt. Luthers Übersetzung ist primär ein theologischer Akt, ein Übersetzen, das sich als Hören auf das Sprechen Gottes versteht. Im Gegensatz zu seinen Kritikern bedeutet Treue für ihn Treue dem Wort Gottes gegenüber, dem der Mensch in seiner Sprache begegnen muss. Humboldt stellt bei den Überlegungen zur Treue die »Liebe zum Original« heraus, die der Übersetzung vorangehen muss. Doch er macht in seiner Argumentation auch deutlich, dass durch diese Treue der Dienst der Übersetzung zum Ausdruck kommen muss, der für Humboldt Dienst an der Nation ist.10 Diese Treue gegenüber der Nation zeigt sich im Akt des Übersetzens in Bezug auf die Bildung einer Nationalkultur, die durch das Andere, das zu Übersetzende, auf eine höhere Stufe gehoben werden soll.

Translations. Übersetzung in einer globalisierten Welt, Wien: Turia und Kant 2008, S. 13ff. 9 | Vgl. hierzu Martin Luther: Sendbrief vom Dolmetschen, in: ders.: Ausgewählte Werke. Band 6: Bibelübersetzung, Schriftauslegung, Predigt. München: Kaiser 1958, S. 9-20. 10 | »Soll aber das Übersetzen der Sprache und dem Geist der Nation dasjenige aneignen, was sie nicht, oder was die doch anders besitzt, so ist die erste Forderung einfache Treue. Diese Treue muß auf den wahren Charakter des Originals, nicht, mit Verlassung jenes, auf seine Zufälligkeiten gerichtet seyn, so wie überhaupt jene gute Übersetzung von einfacher und anspruchsvoller Liebe zum Original, und daraus entspringendem Studium ausgehen, und in sie zurückkehren muß.« Vgl. Wilhelm von Humboldt: Einleitung zu »Agamemnon«, in: Hans Gert Störig (Hg.): Das Problem des Übersetzens, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963, S. 83.

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Übersetzung ist so Instrument der Nationalkultur, der primär die Treue zu gelten hat.11 Doch der Übersetzung selbst haftet weiterhin in der kulturellen Wahrnehmung der Verdacht eines zwangsläufigen Verrates an dem ihr vorgängigen Original an. Dies spiegelt ein bekanntes italienisches Sprichwort: »traduttore, traditore« – »der Übersetzer ist ein Verräter«. Es geht davon aus, dass der Übersetzer das Original verfälscht und damit Verrat an diesem übt. In der »Verfälschung« steckt die »Falschheit«; das Sprichwort besagt demnach, dass durch die Übersetzung ein spezifischer Wert verloren gehen muss, eine »Wahrhaftigkeit«, die nur im Original selbst zugegen ist. Damit erscheint das »Original« in einer Sphäre, die gleichsam unerreichbar wird, zu der eben nicht über-gesetzt werden kann. Diese Vorstellung impliziert zwangsläufig auch eine Werthaftigkeit der Sprachen: Wenn ein Werk an Wert durch Übersetzung verliert, so bleibt die durch das Werk offenbarte »Wahrhaftigkeit« nur einer bestimmten Sprachgemeinschaft zugänglich. Walter Benjamin löst in seinem Essay »Die Aufgabe des Übersetzers« die Übersetzung aus diesem Verdacht des Verrates heraus. Er richtet das Augenmerk nicht auf das zu Übersetzende des Inhaltes, sondern auf die Form eines Werkes. Hinter Benjamins Überlegungen steht dabei ein Begriff von Literatur und Dichtung, der sich darin begründet, dass ihr Wesentliches gerade das ist, was nicht vollständig im Begrifflichen aufgeht. 11 | Boris Buden hat in kritischer Auseinandersetzung mit Humboldt hervorgehoben, dass über die Humboldt’sche Differenzierung von Fremden und Fremdheit eine Ausgrenzung betrieben wird, die sich gerade durch das Primat der Treue in Bezug auf die Nation begründet: »Für Humboldt muss […] der/die Übersetzerin dem Fremden treu sein, doch er unterscheidet dieses von dem, was er die Fremdheit nennt. Der Unterschied besteht darin, dass das Erstere, das Fremde – das unvermeidlich ist, da für Humboldt der Geist in seiner objektiven Form nur in der Vielheit unterschiedlicher Nationalsprachen erscheint – im Prozess des Nationenaufbaus als Mehrwert eingesetzt, investiert, integriert und vereinnahmt werden kann. Das Fremde baut die Nation auf, bringt sie hervor und kultiviert sie. Die Fremdheit ist ganz im Gegensatz dazu ohne Nutzen für die Kultivierung, und überdies sabotiert sie den Prozess des Nationenaufbaus, gefährdet sein eigentliches Ziel und vernichtet seine wertvollsten Errungenschaften – kurz: sie setzt die Nation der Assimilierung aus.« Vgl. Boris Buden: Eine Tangente, die den Kreis verrät, S. 13ff. (Auslassung durch Verf.).

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Benjamin: »Was ›sagt‹ denn eine Dichtung? Was teilt sie mit? Ihr Wesentliches ist nicht Mitteilung, nicht Aussage.«12 Benjamin geht davon aus, dass das Dichterische der Dichtung gerade der überschüssige Rest der Sprache ist, der nicht mit dem Begrifflichen zur Deckung gebracht werden kann. Dieser ist als sie transzendierendes Potential in der Sprache, als das, was über ihre Inhaltlichkeit hinausweist. Übersetzung, die genau dieses Moment zu tradieren versucht, ist somit nach Benjamins Überlegungen eine gelungene Übersetzung. Denn wenn das Werk schon in seiner »Originalsprache« eine Differenz in sich trägt, so ist die Übersetzung eben nicht Verlust, sondern Potenzieren der Differentialität, derer das Werk bedarf, um etwas bedeuten zu können. Hier wird deutlich, dass die Reflexion Benjamins auch ein religionsphilosophisches Moment in sich trägt: Denn die Sprachen sprechen über ihre eigene Materialität hinaus das aus, was sie als Verbindendes in sich tragen. Benjamin legt damit eine »reine Sprache« zugrunde, die sich in der Übersetzbarkeit eines Werkes und seinen verschiedenen Übersetzungen offenbart. Vollständig offenbart diese »reine Sprache« sich erst im Zustand der Erlösung. Die Übersetzbarkeit eines Werkes und die Übersetzung, die dies hervorzuholen vermag, partizipieren jedoch bereits an diesem Nichtbegrifflichen. Diese Partizipation am Nichtbegrifflichen ist keine Partizipation am λόγος, wo sie sich nur rechtfertigen könnte, wäre die Einheit des Begrifflichen vorausgesetzt, sondern zeigt sich in einem Sinn, der sich aufschiebt und dessen Sinnhaftigkeit im Prozess dieses Aufschiebens beginnt. Dieser Sinn ist im »Jenseits der Sprache« zugegen; doch im Differentiellen, FremdBleibenden der Sprache scheint er auf.13 Die Übersetzung als Potenzierung des Differentiellen kann damit immer nur vorläufig sein. Das bedeutet auch, dass der Prozess der Übersetzung in dieser Welt nicht zeitlich oder quantitativ beschränkt werden kann. Übersetzung bleibt eine sich selbst

12 | Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser, Band 4.1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 9. 13 | Hier sei auch auf Blumenberg hingewiesen, der die »Störungen« der Begriffssprache, die Metaphern als unverzichtbar herausstellt. Vgl. z.B. Hans Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Ich komme auf den Aspekt des Nichtbegrifflichen im Gegensatz zur Begriffssprache immer wieder im Laufe dieses Dialoges zurück.

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fremd bleibende Auseinandersetzung mit der immer andauernden Fremdheit der Sprachen; Benjamin: »Damit ist allerdings zugestanden, daß alle Übersetzung nur eine irgendwie vorläufige Art ist, sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen. Eine andere als zeitliche und vorläufige Lösung dieser Fremdheit, eine augenblickliche und endgültige, bleibt den Menschen versagt oder ist jedenfalls unmittelbar nicht anzustreben. Mittelbar aber ist das Wachstum der Religionen, welches in den Sprachen den verhüllten Samen einer höheren reift.«14

Wichtig scheint mir an diesen Überlegungen zu sein, dass Sprache in einem Spannungsfeld von Entfremdung (ihrer gegenwärtigen, punktuellen Realisation) und aufgeschobener Erlösung (ihrem τέλος) steht. Der Prozess der Übersetzung hebt die Entfremdung der Sprache im doppelten Sinne auf. Als Fremdheit des Anderen bleibt sie bewahrt. Als Affizierung des Nicht-Sprachlichen, das auf die »reine Sprache« rekurriert, wird der Zustand der außer Kraft gesetzten Entfremdung (der Versöhnung) angedeutet. Das bedeutet, dass die Sprache immer die entfremdende und aber auch fremde Sprache ist. In-der-Sprache-Sein bedeutet damit, sich in einer Fremdheit zu bewegen. Wo dies geleugnet wird, ist Sprache Ideologie. Übersetzung dient nach diesem Verständnis also nicht dazu, eine Fremdheit zu beseitigen, sondern sie in dieser Welt als Fremdheit zu markieren. So verweigert sie sich letztendlich einer begrifflich klaren Identität und einer bestimmbaren Identitätskonstruktion.15 Für meine Lektüre von Jahrestage ist es von Bedeutung, einen solchen Übersetzungsbegriff zu bedenken, der von der nicht zu überwindenden Fremdheit der Sprache ausgeht, der dadurch ein Geheimnis in der Sprache weiterträgt. Eine Übersetzung ist nach diesen Überlegungen gescheitert, wenn sie beansprucht, dass Bedeutung sich durch identifikatorische Begriffe erschließt. Denn Bedeutung wird durch Übersetzung erst perfor14 | Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 14. 15 | Ich werde noch darauf eingehen, dass Lévinas die Möglichkeiten der Sprache in ähnlicher Weise befragt und in diesem Zusammenhang den Begriff des »Verrates« nicht gänzlich verschwinden lässt, sondern ihn innerhalb der Möglichkeit eines Übersetzens in der Spannung von »Sagen« und »Gesagtem« problematisiert; vgl. Buchteil A, Kap. 2.5.2 Begegnung, S. 88ff.

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mativ hervorgeholt; performativ hervorgeholt, weil der entstehende Sinn nicht allein aus sich selbst heraus, sondern im dialogischen Bezug zu dem, was ihm vorläufig ist, entsteht, jedoch auch nicht mit diesem mehr vollständig zur Deckung kommt. Der in diesem Sinne »gedolmetschte Satz« trägt so einen doppelten Überschuss in sich. Ein Denken, das dies verleugnet, das identifizierende Denken, übergeht die der Sprache eingeschriebene Alterität. Die Sprache beginnt dort als Sprache des definierenden Subjektes zu funktionieren, das sich selbst in das Zentrum der Erkenntnis setzt und von dort aus sie begrifflich festzusetzen sucht. Dieses Moment kritisch zu betrachten ist auch einer der Ausgangspunkte des postmodernen Diskurses, der den Begriff der »Übersetzung« zu einem zentralen Begriff für die Kultur- und Sozialwissenschaften erhebt. Gerade in einer hybriden, globalisierten Welt ist der Mensch auf Übersetzungen mehr als zuvor angewiesen, um an ihr partizipieren und sich in ihr orientieren zu können. Doch auch hier ist nicht nur das bewusste Übersetzen von Sprache und den damit aufgeworfenen Fragestellungen zum wichtigen thematischen Angelpunkt geworden. Die Kulturwissenschaften gehen vielmehr davon aus, dass kulturelle Erscheinungen a priori bereits ein Akt der Übersetzung sind. Übersetzung wird damit als eine wesentliche Kategorie des Sozialen begriffen und berührt so die Frage nach dem Handlungsspielraum. Doch wir handeln nicht nur, indem wir übersetzen, wir finden uns bereits in Übersetzungen vor. Die Organisation der Wahrnehmung durch die vorherrschenden Diskurse spiegelt bereits eine Übersetzung von Dispositiven, die die Realität konstruieren. Der »translational turn« der Sozialwissenschaften hat vor diesem Hintergrund die Frage nach kultureller Übersetzung gestellt und sie zu einer soziologisch wichtigen Frage erhoben. Doris Bachmann-Medick nennt als entscheidende Punkte dieser aus der postkolonialen Diskussion kommenden Übersetzungsarbeit: das »Aufbrechen fester Identitäten«, die »Kritik am Binäritätsprinzip zugunsten hybrider Vermischungen«, die »kritische Umkartierung von Zentrum und Peripherie«.16 Mit diesen Überlegungen zur Übersetzung erscheint dann das Subjekt selbst als diskursiver Effekt einer europäisch zentrierten Denkordnung, also als ein spezifischer Übersetzungs- und Konstruktionsakt des Erkenntnis suchenden Menschen in einer bestimmten, historischen Konstellation. Über diese Betrachtung führt die Frage 16 | Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Hamburg: Rowolth 2006, S. 240.

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nach einer Transformation des Wissens im Prozess der Übersetzung zu einer ideologiekritischen Position, die die Prämissen des traditionellen Subjektverständnisses erschüttert. Der Umgang mit dem Faktum der eigenen Immer-schon-Übersetztheit und Übersetzungsfähigkeit sowie mit dem zu Übersetzenden und seiner Fremdheit wird zu einer Markierung des Welt- und Selbstverständnisses, das die eigene Positionierung bedingt. Ideologien zeichnen sich demnach dadurch aus, dass sie das Moment der eigenen Übersetztheit verschweigen und es als factum brutum annehmen. Die unerkannte oder bewusst verschleierte eigene Übersetztheit bietet dann keine Änderungsmöglichkeiten mehr, sondern stellt sich selbst als letztbegründet dar. Wie lassen sich die doch eher fundamental-poetischen Reflexionen Benjamins mit diesem Begriff der Übersetzung des »translational turns« verbinden? Ich halte eine Verbindung auf zwei Ebenen für möglich: Das zu Übersetzende zeigt sich nicht als ein »Original«, das irgendjemandem in Gänze zugänglich sein könnte, dessen Möglichkeiten einem »Eigentümer« – etwa durch Autorschaft – gehören könnten oder auf dessen alleinige Deutung jemand durch besonderes Talent Ansprüche erheben könnte. Was dieses Original authentisch bedeutet, lässt sich nicht sagen, sondern nur, wie es in den unterschiedlichen Übersetzungen erscheint. Dass darin der Wert eines Werkes zur Sprache kommt, scheint mir nicht nur eine Demokratisierung des Wissens zu sein, sondern setzt die Unabgeschlossenheit des Originals als dieses selbst voraus. Die Polysemie dekonstruiert die angebliche Geschlossenheit des Werkes. Bereits am Beginn steht nicht Sinntotalität, sondern Zersplitterung des Sinns im Erscheinen von hybrider Übersetzung. Damit ist Hybridität keine Forderung, die auf ein »Erstes« aufbaut; es gibt keine andere Möglichkeit, Sinn zu behaupten, als in der Hybridität als Form des Kulturell-Wirklichen.17 Handlung ist nach diesem Verständ17 | Damit würde die Forderung nach »Hybridisierung« in der Tat von etwas ausgehen, was sie zuvor als das »Reine«, das »Original« erkannt zu haben glaubt, und würde es der Hybridität »freigeben«, womit Hybridität als eine Art Großzügigkeit einer Wissenselite erscheinen würde. Dies ist nicht nur philosophisch fragwürdig, sondern auch empirisch falsch, wenn man nicht leugnen will, dass Kultur seit jeher Produkt sozialen Austausches gewesen ist. Den Übersetzungsbegriff dahingehend zu kritisieren, dass Übersetzung nur als »kulturelles Phänomen existiert, wenn Interaktion besteht«, wie Michaela Wolf es tut, erscheint mir vor diesem

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nis dann nicht die Realisierung eines Geplanten in einer vom Subjekt bestimmbaren Welt, die bestenfalls Übersetzung als Forderung formuliert. Handlung in diesem Sinne bleibt sich ihres eingeschriebenen fragmentarischen Charakters bewusst, sie ist Entwurf in die Lebenswelt hinein. Doch ist ein solcher Übersetzungsbegriff wirklich noch brauchbar, wenn es um Verständigung geht? Heißt denn Verständigung nicht gerade außer Kraft setzen der Fremdheit, Überwindung der Grenzen, Schaffen gleicher Tatsachen, Verständigung über eine gemeinsame Realität? Man merkt bald, dass gerade solche Postulate eine Reihe weiterer Fragen aufwerfen, die das Problem der Handlung als ethisches Problem verdeutlichen und die Frage nach Verständigung wieder an die Frage nach Übersetzung zurückgeben. Denn: Wer ist der Fremde? Zu welchem Zweck soll die Fremdheit überwunden werden, wer bestimmt, was gemeinsame Tatsachen sind, mit welchen Mitteln wird ihre Anerkennung durchgesetzt? Wer übersetzt hier also mit welcher Intention? Was ist denn diese »gemeinsame Sprache« dieser »gemeinsamen Realität«, wer kann sie unter welchen Voraussetzungen erlernen? Rückblickend auf ihren Schulfreund Lockenvitz erinnert sich Gesine: »Der Schüler Lockenvitz bedachte gewiß nur eine grammatische Feinheit, wenn er den Namen der Deutschen Volkspolizei abhorchte, auf einen possessiven oder akkusativen Genitiv. Wer besaß da wen, und stand da wer gegen wen? Es ging ihm um Semantisches, wenn er den Begriff der res publica als Sache des Volkes übersetzte, und eine Tautologie vermutete in der Bezeichnung ›Volksrepublik‹. Schon die Frage, warum man sie China und Polen zugestand, von einer ›Volksrepublik Deutschland‹ vorläufig absah, sie sollte ihm späterhin von Schaden sein.« (JT, S. 1779)

Die »Übersetzungen« von Lockenvitz sind mehr als nur eine Analyse der Sprache. Weil dieser weiß, wie Sprache innerhalb politischer Rhetorik funktionieren soll, prüft er sie darauf, was sie verschweigt. Wenn Lockenvitz »res publica« als (nicht »mit«) »Sache des Volkes« übersetzt, so geht

Hintergrund absurd zu sein. Wo ist Kultur ohne Interaktion? Vgl. hierzu Michaela Wolf: Translation – Transkulturation, Vermessung von Perspektiven transkultureller politischer Aktion, in: TRANSLATE/EIPC (Hg.): Borders, Nations, Translations. Übersetzung in einer globalisierten Welt, Wien: Turia und Kant 2008, S. 84.

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es ihm nicht primär darum, ob das »est« in Ciceros Satz18 tatsächlich eine Identität von »Gemeinwesen« und »Sache des Volkes« behauptet, sondern er hebt durch seine Übersetzung hervor, dass das Gemeinwesen als Sache des Volkes in der Gegenwart der sozialistischen Systeme verdrängt wird – auch dort, wo das Volk in tautologischer Konstruktion mit der Republik verbunden wird. Die »Semantik«, die er prüft, ist bereits Produkt einer Übersetzung und unterstützt somit die hergestellte Ordnung. Lockenvitz übersetzt gegen den Strich.19 Wenn man Übersetzung auch als Markierung und Potenzierung einer Alterität versteht, wie ich es oben versucht habe herauszustellen, so lässt sich im Hinblick auf die Lebenswelt und Wahrnehmung Gesines sagen, dass gerade in ihrer Lebensgeschichte die Vieldimensionalität der Alterität eine besondere Markierung erfährt. Zunächst ist sie selbst Fremde, 18 | Marcus Tullius Cicero in De republica: »›Est igitur‹, inquit Africanus, ›res publica res populi, populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo congregatus, sed coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus‹.« Karl Büchner übersetzt: »›Es ist also‹, sagte Aficanus, ›das Gemeinwesen die Sache des Volkes, ein Volk aber nicht jede irgendwie zusammengescharte Ansammlung von Menschen, sondern die Ansammlung einer Menge, die in der Anerkennung des Rechts und der Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigt ist‹.« Vgl. Marcus Tullius Cicero: De re publica, in: ders.: Der Staat, lateinisch und deutsch. Hg. v. Harald Merklin, übersetzt v. Karl Büchner, Düsseldorf/Zürich: Artemis und Winkler 1999, S. 52f. 19 | Vgl. hierzu auch Gesine bei der Lektüre der New York Times: »Die New York Times, in ihrer Bildung, sie deutet uns ja nicht nur aus, was Charles de Gaulle gemeint haben könnte mit dem beschmutzten Bett seiner Nation. Umfassend will sie uns bilden, und heute bietet sie uns einen Schlüssel zur Sprache der amerikanischen Streitkräfte. Leichte Verluste sind solche, die behindern eine Einheit noch nicht in der Ausführung ihres Auftrags. Mäßige Verluste an Menschen und Material bedeuten eine fühlbare Beeinträchtigung der Kampfkraft, schwere endlich sollen heißen, daß die Einheit ihre Aufgabe nicht mehr ausführen kann. Auflösung: Wenn ein Stützpunkt in Viet Nam leichte Verluste meldet, können von 3,000 Mann gut und gern 100 umgekommen sein, die zählen in dieser Sprache noch nicht.« JT, S. 1203. Hier werden nicht nur die Übersetzungen der New York Times gezeigt und in die Wirklichkeit reübersetzt, es wird auch die Verbindung von medialer Sprache und Gewalt deutlich. Vgl. hierzu Buchteil A, Kap. 1.3 Vielstimmigkeit, S. 46ff.

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Über-Gesetzte in ein fremdes Land, in eine fremde Sprache im New York der 1960er Jahre, in dem sie sich nie ganz heimisch fühlen wird: »1964 fing das an mit dem Heimweh nach New York inmitten New Yorks.« (JT, S. 1882) In den Zeitraum der Erzählung fallen mehrere politische Konflikte: der Vietnamkrieg als Stellvertreterkrieg innerhalb eines Grundkonfliktes zweier konträrer Ideologien, der gesellschaftliche Diskussionen nach sich zieht und Teile der US-amerikanischen Bevölkerung zum Protest mobilisiert; der Versuch in Prag, den Sozialismus weiter zu übersetzen, ihm ein »menschliches Gesicht« zu geben, in den auch Gesine große Hoffnungen setzt und der schließlich an der kommunistischen Ideologie scheitern wird. Letztendlich ist es diese Hoffnung auf einen anderen Sozialismus, die Gesines Entscheidung leitet, den Auftrag in Prag anzunehmen, obwohl sie weiß, dass de Rosny die »falschen Gründe« hat (JT, S. 1471). In die Zeit der Erzählung fallen auch die Morde an Robert Kennedy und Martin Luther King. Der Konflikt zwischen der »weißen« und »schwarzen« Gesellschaft eskaliert zu einem Höhepunkt. Gesine spürt schon in den ersten Tagen ihres Aufenthaltes, wie die »weiße« Gesellschaft mit dem Anderen umgeht und ihr Selbstverständnis auf einem mal offenen, mal subtilen Rassismus begründet. Gesine ist sich aber auch einer existentiellen Fremdheit bewusst. Sie scheint zu wissen, dass sie das Vergangene ihrer eigenen Geschichte niemals vollständig wird überblicken können und dass sie die Komplexität des Gegenwärtigen niemals ganz begreifen wird. Sie hat damit ein Bewusstsein von einer Alterität des Daseins, die in der qualitativen Struktur des Daseins begründet liegt (eben in seinem Sein im Da). Diese Fremdheit konkretisiert sich bei Gesine zunächst im sozialen Gefüge der eigenen Kindheitsgeschichte in der Zeit der Nazidiktatur. Die Irritationen, die sie dort auch besonders durch ihre Mutter erfährt, dauern bis ins Gegenwärtige an. Vor dem Hintergrund dieser Fremdheitserfahrung entfaltet sich ihr Verhältnis zur eigenen Existenz. Gesine will diese Fremdheit nicht »überwinden«; sie weiß, dass sie ein Teil von ihr bleibt, der ihr auch Möglichkeiten eines anderen Umganges mit Wirklichkeit eröffnet. Wir haben das Problem der Übersetzung hier bereits in Beziehung zu der Frage nach Identität gesehen, die die Frage nach dem Fremden und seiner Bedeutung aufwirft. Im Begriff der Lebensgeschichte wird dieses Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem wieder bedeutend. LebensGeschichte erscheint so in mehrfacher Hinsicht als Übersetzungsprozess.

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1.2 L EBENS -G ESCHICHTE Die Lebens-Geschichte verbindet die Narration mit der Vergangenheit und der Bedeutung des Vergangenen auf allen Ebenen der Zeit. Der Mehrdeutigkeit der Lebensgeschichte geht die Mehrdeutigkeit des Begriffes Geschichte auf der Ebene des Zeitlichen und der Wissenschaft über diese voran.20 Eine Lebensgeschichte zu erzählen bedeutet immer ein Zusammentragen von Geschehenem und ein Über-Tragen ins Gegenwärtige, ein Abtragen von Schichten, unter denen Bedeutung verborgen liegen mag. Schließlich ist sie ein Weitertragen, das sich aus der Motivation ihres Erzählens ergibt, allerdings nicht unbedingt mit dieser zur Deckung gebracht werden kann. Denn: Weitertragen bedeutet Weitererzählen im Sinne der Tradierung und des Entwurfes in die Zukunft hinein. Damit ist auch die Geschichte in der Form des Vergangenen in den transformatorischen Prozess des Entwerfens gestellt. Wenn Heinrich Cresspahl zitiert wird mit den Worten: »Geschichte ist ein Entwurf« (JT, S. 1471), so kann dies sowohl den narrativen Prozess des Aufarbeitens und Wiedererzählens umfassen als auch des Entwerfens in die Möglichkeiten der Zukunft – und spiegelt somit die Vieldeutigkeit der Geschichte als Ebene der Zeit und Wissenschaft von dieser zurück.21 Gesine selbst ist sich dieser – durchaus auch schöpferisch – besonderen Tätigkeit des Geschichte-Erzählens bewusst. Über Marie, der sie ihre Geschichten erzählt, merkt sie an: »Aber was sie [Marie, Verf.] wissen will, ist nicht die Vergangenheit, nicht einmal ihre. Für sie ist es eine Vorführung von Möglichkeiten, gegen die sie sich gefeit glaubt, und in einem anderen Sinn Geschichten. Mein Erzählen kommt mir oft vor wie ein Knochenmann; mit Fleisch kann ich ihn nicht behängen, einen Mantel für ihn habe ich gesucht: Im Institut zur Pflege Britischen Brauchtums.« 22 (JT, S. 144) 20 | Dies zeigt sich etwa, wenn von einer Person als »lebende Geschichte« gesprochen wird, womit das ihr zugesprochene »Exemplarische für die Epoche« zum Ausdruck kommt. Der Terminus »lebendige Geschichte« verweist dagegen auf ein Wie der Darstellung der Vergangenheit. 21 | Vgl. hierzu auch Buchteil A, Kap. 5 Zwischen Entwurf und Ordnung, S. 181ff. 22 | In diesem Institut, das nicht real in New York existiert, recherchiert Gesine Zeitungsartikel, um die Zeit Heinrich Cresspahls in Richmond zu rekonstruieren. Dass die Fiktionalität dieses Institutes für manche Interpreten von Jahrestage eine so große Überraschung darstellt, finde ich irritierend. Schließlich ist Gesi-

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Marie, so nimmt Gesine es hier wahr, interessiert sich nicht für die »Vergangenheit«, sondern für deren Inszenierung im Erzählten. Gleichzeitig scheint sie eine Übertragung vorzunehmen. Diese Verstrickungen (des ihr dargebotenen Lebens) werden ihr, so scheint sie anzunehmen, nach geleisteter Übertragung und Interpretation nicht widerfahren. Warum sie dies glaubt, sagt Gesine nicht. Möglich ist, dass Marie sich aus dem »zeitlichen Vorsprung« und dem Wissen um diese Möglichkeiten des Lebens erhofft, anders handeln zu können. Wenn Gesine hier ihr Erzählen gruselig als »Knochenmann« wahrnimmt, so lässt dies die Grundlage des Erzählens als Skelett oder Gerüst erscheinen. Als Skelett gedacht, ist das Erzählen mit dem Tod assoziiert, der eine Grenze markiert, die, nur ästhetisch oder inhaltlich »geschmückt«, nicht zum Leben erweckt oder überwunden werden kann. Die erzählte Geschichte wäre dann die Verhüllung des Todes. Sie würde dazu beitragen, ihn zu verbergen, und doch wissen, dass sie ihn nicht zum Verschwinden bringen kann. Wenn unter der Hülle »Erzählung« der Tod liegt, ist zu überlegen, welche Konsequenzen dies für das Geheimnis hat.23 In Beziehung zum Skelett gesetzt, würde das Erzählen die Macht des Todes zugleich verschleiern, sich aber dennoch in dieser Macht und damit auch gegen sie begründen.

ne auch fiktiv. So wird dieses Institut in ihrer Welt nicht fiktiv sein, während sie sich aber gleichzeitig fiktiver Elemente in ihren erinnernden Erzählungen bedient. Dass dann auch der Autor Johnson sich derselben Praxis bedient, finde ich ebenfalls nicht überraschend. Dass aber ausgerechnet die Übersetzerin Leila Vennewitz nach der Existenz dieses Archives fahndete, halte ich für die eigentliche Ironie in dieser Geschichte. Die Überraschung über die Fiktionalität des Archives spiegelt genau die Grenze, an der die Frage zwischen den Verbindungen des kollektiven Gedächtnisses und der Erinnerung verläuft. Auch die Frage über das Verhältnis von Geschichte und Geschichten lässt hier sich verorten. Überraschend ist die Fiktionalität des Archives also so wenig, wie sie in einer Erzählung, die genau solches verhandelt, zufällig ist. Vgl. zum »Überraschungseffekt« der Fiktionalität des Archives: Holger Helbig: In einem anderen Sinn Geschichte. Erzählen und Historie in Uwe Johnsons Jahrestagen, in: Ulrich Fries und Holger Helbig (Hg.): Johnson-Jahrbuch 2/1995, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1995, S. 126f. 23 | Vgl. auch Buchteil A, Kap. 2.5.2 Begegnung, S. 88ff.

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Das Institut, das Gesine für ihre Recherchen über ihre Geschichte aufsucht, hat auch räumlich eine Nähe zum Tod bzw. zu dem Prozess der Organisation, den der Tod nach sich zieht: »Es wohnt in der Madison Avenue an der 83. Straße, nicht weit von der prächtigen Todesfesthalle, wo die Leute aus dem Register New Yorks verabschiedet werden.« (JT, S. 144) Dass es dem Tod benachbart ist, lässt es in einer Ambivalenz erscheinen: Auf der einen Seite archiviert es Artikel über bereits Gestorbene und kann somit ihre Geschichten wieder zum Sprechen bringen. Auf der anderen Seite sorgt es dafür, dass ein »Registrierungsvorgang« verlängert wird: Wenn die Menschen aus dem »Register New Yorks verabschiedet werden«, so bedeutet das noch nicht das Ende der Verwaltung, das Ende des Lebens in Form einer Aktennotiz. Die Funktion des Institutes »zur Pflege Britischen Brauchtums« als Institut, von dessen Materialien ausgehend man erzählen kann, zeigt die Beziehung von Erzählung und Archiv an. Das Erzählen wird so auch als ein Material der Tradition begreiflich. Gleichzeitig wird aber auch kritisch eine Nähe zur Selektion gezeigt. Ist diese Nachbarschaft zwischen Erzählung und Tod eine gefährliche, eine unvermeidbare Nähe? Oder ist Erzählen nicht immer auch schon ein Umzugsprozess? Als Marie das Haus aus Gesines Kindheit aus ihren Erzählungen in ein Modell übersetzt, taucht der Tod wieder auf – in der Form eines Tuches, das zunächst das Modellhaus verhüllt und an ein Leichentuch erinnert: »Aber ein weißes Tuch wird auf Totes gelegt, auf Abgetanes, auf was nicht wiederkommt« (JT, S. 538). Wohnt in diesem Haus der Tod? Marie zieht das Tuch herunter. Bedeutet das Wegziehen des Tuches das Verschwinden und Abwenden des Todes oder seine Enthüllung? Als Marie das Haus aufdeckt, sagt Gesine: »Es ist unser Haus, Marie«, und Marie antwortet: »Es soll nicht dein Haus sein! Es ist nur, was ich verstanden habe« (JT, S. 538). Richtig ist beides: Es ist das Haus der Erinnerung Gesines, das sie in den Dialog mit Marie übersetzt hat, nun in der Übersetzung Maries. Geschichte zu tragen bedeutet auch (so sehen wir an diesen Stellen), an ihr zu tragen im Sinne einer Aufgabe, die dem Dasein mitgegeben ist, oder – wie dem »Knochenmann« – »aufgeladen«, »angezogen« wird. Es bedeutet aber auch, an und in den Erzählungen zu bauen, sie umzubauen, auszubauen, zu verfremden und weiterzugeben.24 Das weggezogene Leichen24 | Willi Goetschel weist auf die Bedeutung des intergenerativen Dialoges zwischen Gesine und Marie hin, der das Erzählen der Geschichte und damit die

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tuch enthüllt eben nicht das »tote Haus«, sondern die Übersetzung der bereits aus der Erinnerung übersetzten Vergangenheit … es ist nicht nach Vorlage eines Konstruktionsplanes gebaut. Gesine und der »Genosse Schriftsteller« tragen auf diesen verschiedenen Ebenen die gegenwärtige Situation Gesines und die Geschichte ihrer Familie zusammen. Als Deutsche tragen Gesine und der »Genosse Schriftsteller« an der gemeinsamen deutschen Geschichte, die die Geschichte Nazideutschlands und der DDR ist. Damit wenden sie sich gegen die Bedrohung der Geschichte durch das Vergessen. Inwiefern ist aber auch die Lebensgeschichte von dem Vergessen bedroht und rechtfertigt so, sie in ihrer Mehrdeutigkeit wahrzunehmen? Das Vergessen kann ein Vergessen der konkreten Lebenswelt unter den Schichten historischer Fakten sein. Das Vergessen kann ein Vergessen der Historie unter der Ägide eines bloß individuellen Blickes sein. Die ausschließlich auf kollektive Perspektivität ausgerichtete Erzählung bedroht die Erinnerung, weil sie in ihrer Übersetzung der Wirklichkeit bestimmte Momente des Lebensweltlichens immer ausschließen muss. Die bloß individuelle Erzählung eines vorgeblich »ungebundenen« Subjektes ohne historische Verortung bedroht in gleichem Maße die Erinnerung, weil sie sich zum Einzel- und Spezialfall erhebt und glaubt, über die Geschichte erhaben zu sein.25 Sie ist eine Privatideologie und lässt Übersetzung ebenIdentität der erzählenden Person erst ermöglicht: »Denn vermittelt durch die Erzählung, die ja für Marie bestimmt ist und daher auf sie hin erst als solche entsteht, vergewissert sich Gesine ihrer eigenen Identität, indem sie sie sie auf Marie bezogen konstruiert. […] Gesine kann ihre Geschichten nur erzählen, weil sie auf eine Adressatin (Marie) zugeschnitten ist, auf die hin sie sich als Gestalt und Identität darstellt.« Vgl. Willi Goetschel: »Was wird nun mit der Vergangenheit?« Zum Erinnerungsspiel in den Jahrestagen, Holger Helbig, Bernd Auerochs, Katja Leuchtenberger und Ulrich Fries (Hg.): Johnson-Jahrbuch 17/2010, Göttingen: Wallstein 2011, S. 119 (Auslassung durch Verf.). 25 | Vgl. hierzu auch, wie Swetlana Stalin ihre Erinnerungen an ihren Vater der New York Times gegenüber ausbreitet. Dazu heißt es: »Deswegen erst recht lädt sie [die New York Times, Verf.] sich die Tochter Stalins ins Haus, ein mit 41 Jahren nicht erwachsenes, apperzeptiv defektes Kind, das vom zwanzigsten Jahrhundert nichts deutlicher begriffen hat, als seine privaten Lebensumstände, eine nicht heilbare Tochter, die wie nur je ein abhängiges Kind den Vater entlasten will […].« (JT, S. 76, Auslassung durch Verf.) Sabine Fischer-Kania liest Jahrestage als »Ge-

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falls nicht zu. Dass Lebensgeschichte vom Vergessen bedroht ist, ergibt sich also gerade aus einer einseitigen Praxis der Erinnerung, die sie deshalb, wie wir noch sehen werden, in die Ordnung eines Gedächtnisses überführt – zum Preis von dem, was sie vom Gedächtnis gerade unterscheidet. Die Lebens-Geschichte kann sich somit nur in einer bewusst hybriden, entwerfenden Form als Erzählung formulieren. So bleibt sie sich ihrer Einschreibungen bewusst und zeigt sich als Gewordene und Werdende. Damit bleibt der Aspekt der Alterität in der eigenen Geschichte bewahrt, ohne – auch nicht im Erzählten – diese Alterität in sie zu assimilieren. Die erzählte Lebensgeschichte weiß, dass sie sich auf spezifische Weise erzählt, und schließt das Anders-Erzählen nicht aus, weil sie im Spannungszustand von eigener und fremder Rede steht, somit eigenes und fremdes Zeugnis ist. Paul Ricœur sieht in der Form einer »narrativen Identität« den »fähigen Menschen« verwirklicht. Narrative Identität bedeutet für ihn, dass die Identität nicht als einmalig gesetzte gedacht werden kann, sondern in Erzählungen stehend und an diesen partizipierend dort ein Dasein entwirft, das Zeugnis davon gibt, dass es im Prozess einer narrativen Konstitution steht.26 Doch es ist zu überlegen, ob der Begriff der »narrativen Identität« der Lebens-Geschichte als Hybrid wirklich gerecht werden kann. Ist Identität nicht eine Kategorie des Selben, in der das Andere als Anderes in diesem als Aufgelöstes zu verschwinden droht?27 Behalten wir hier aber zunächst die Vielstimmigkeit im Blick, die in der Lebensgeschichte erklingt. Wie zeigt sich diese Vielstimmigkeit in Jahrestage?

genentwurf zu den Memoiren der Swetlana Stalins«. Vgl. Sabine Fischer-Kania: Geschichte entworfen durch Erzählen. Uwe Johnsons »Jahrestage«, Münster: LIT 1995, S. 47. 26 | Paul Ricœur: Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. 27 | Vgl. auch Buchteil A, Kap. 2.5.2 Begegnung, S. 88ff.

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1.3 V IELSTIMMIGKEIT Dass die Erzählkonstruktion in Jahrestage Momente einer Montagetechnik zeigt, wurde von der Forschung herausgestellt und diskutiert.28 Es lässt sich jedoch feststellen, dass sich solche Montage auch innerhalb der auf den ersten Blick aneinander montierten Elementen findet. Besonders deutlich wird das an dem Umgang mit der New York Times in Jahrestage: Die New York Times repräsentiert im Text den »Mediendiskurs Presse« der USA. Sie ist, wenn auch in ihrer Berichterstattung tendenziös, dennoch potentiell vielstimmig, da sie sich selbst auf bestimmte Weise einer Montagetechnik bedient. Sowohl an der Technik der Inszenierung ihrer Meldungen als auch an ihrer Rezeption durch Gesine erkennt man, dass sie eine verdrängte Polysemie transportiert, die ihre eigenen journalistischen Absichten unterläuft. Die Darstellung der Rezeption Gesines der New York Times ist eine Montage der Montage, damit ein Montieren in Dekonstruktion.29 Dies kommt besonders in dem Umgang der New York Times mit den Opfern des Vietnamkrieges zum Tragen und in ihrer journalistischen Ausstellung der Erinnerung Swetlana Stalins. Die Hybridität der New York Times ergibt sich nicht allein dadurch, dass unterschiedliche Menschen in ihr zu Wort kommen. Diese unterschiedlichen Stimmen sind unter Umständen innerhalb des Pressetextes bereits so arrangiert, dass die journalistische Stimme des Gesamttextes sie übertönt. Die Hybridität ergibt sich daraus, dass der arrangierte Text der Presse als Konstruktion sichtbar gemacht werden kann – und so eine andere Bedeutungsebene sichtbar wird. In diese neue Konstellation gestellt, entfaltet der Ursprungstext eine Sprengkraft, die einen ersten Kontext des Bedeutens transformiert, den er zuvor bestimmen sollte. Ein Beispiel aus der Lektüre Gesines: »Auch die New York Times weiß einen Vergleich, nachdem die Arbeiter der Stadtreinigung begonnen haben, den Abfall zweier Wochen von den Straßen zu räumen: Dieses Mal sei die Stadt Saigon gewesen und die Krise die Zertrümmerung der Stadt durch die Viet Cong zu Anfang des Monats. Sie meint die new yorker Müllkrise. Sie meint die Verluste an Menschenleben in Viet Nam. Sie vergleicht.« (JT, S. 713) 28 | Vgl. hierzu z.B. Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 262f. 29 | Vgl. hierzu Buchteil A, Kap. 4.3 Tote am Bauplatz: der 29. August 1967, S. 154ff.

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Gesine gibt hier einen Artikel aus der New York Times wieder, aber gerade in kritischer, entlarvender Weise. Was innerhalb des rhetorischen Arrangements des Pressetextes bruchlos funktioniert, wird hier demontiert; der Zynismus der Presse, die die Müllkrise als Krieg dramatisiert und in der gleichen Bewegung den Krieg in Vietnam banalisiert, tritt nun offen zutage. Deutlich wird: »Abfall« und »Krieg« funktionieren als semantische Felder, die in dieser konkreten Situation einen entfernten Konflikt in Vietnam mit einem lokalen Problem verbinden können. Damit trifft die New York Times zwei Aussagen: 1. Wenn die Müllabfuhr nicht kommt, befinden wir uns in einem »kriegsähnlichen Zustand«. 2. Irgendjemand muss ja »die Drecksarbeit machen«, um solchen Zuständen entgegenzuwirken. So gelingt es der New York Times, zu suggerieren, dass der Krieg in Vietnam »Aufräumarbeit« ist. Die Notwendigkeit einer solchen »Aufräumarbeit« wird den Lesern vor dem Hintergrund des Vergleiches mit der Müllkrise in der eigenen Stadt einleuchten: Sie haben schließlich auch nicht gern im Dreck gelebt. Dadurch, dass das rhetorische Mittel des Vergleiches hier nun in der Lektüre Gesines hervorgehoben wird, funktioniert der Pressetext jetzt gegen seine Intention: Dass amerikanische Vorgehen in Vietnam erscheint nicht mehr als verständlich, sondern als fragwürdig. Ebenso fragwürdig wird eine Zeitung, die das mit den oben beschriebenen rhetorischen Tricks zu unterstützen versucht. Wenn Gesine hier im Leseprozess die Konstruktion des Pressetextes offenlegt, so macht sie damit deutlich: Auch die Redakteure haben die Wirklichkeit in einer bestimmten Weise gelesen. Der Pressetext spricht so nicht mehr primär über die Ereignisse in Vietnam, sondern legt Zeugnis vom amerikanischen Bewusstsein ab, das sich hier als »sauberes« Bewusstsein hervorbringen will.30

30 | Hier kann man sicher auch wie Isabel Plocher auf die Diskursanalyse Michel Foucaults verweisen, dergestalt, dass der Diskurs seinen Gegendiskurs bereits in sich birgt. Plocher: »[…] sie [Gesine, Anm. Verf.] zeigt, dass sie um die herrschaftsstützende Macht der Sprache und dem ihr gleichzeitig inhärenten subversiven Potential weiß. […] Die Wege zum Protest werden folglich in der Verwendung des Materials des Mediendiskurses für die Montage offenbart – der Diskurs wird gegen ihn selbst gerichtet.« Vgl. Isabel Plocher: »Wenigstens mit Kenntnis leben«: Der Mediendiskurs in Uwe Johnsons »Jahrestage« am Beispiel der »New York Times«, Würzburg: Königshauen und Neumann 2004, S. 141-147 (Auslassung durch Verf.). Norbert Mecklenburg hat im Zusammenhang mit der in Jahres-

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Wir sehen hier die Möglichkeiten des Zitierens innerhalb einer historischen Montage. Benjamin formuliert: »Geschichte schreiben heißt also Geschichte zitieren. Im Begriff des Zitierens liegt aber, dass der jeweilige historische Gegenstand aus seinem Zusammenhang gerissen wird.«31 Einen Gegenstand aus seinem Zusammenhang zu »reißen«, bedeutet für Benjamin, den Fortschritt der Geschichte zu unterbrechen. Unterbrechen in diesem Sinne ist: Einspruch einlegen gegen die einst festgeschriebene Bedeutung, die einen Sinn in der Überlieferung garantiert. Mit dem Text selbst – so haben wir oben gesehen – wird gegen seine Intention argumentiert. Zitieren ist somit eine kritische Praxis der Geschichtsschreibung, die hier zu einer kritischen Praxis der Zeitgenossenschaft wird. Doch nicht nur die Texte und ihre Lektüre machen die Vielstimmigkeit von Jahrestage aus. Auch die Räume, die von Gesine betreten werden, und jene, die durch die Erinnerung hervorgeholt werden, sind in gewisser Weise Akteure des Erzählens: Sie affizieren auf bestimmte Weise Gesines Bewusstsein. Sie sind damit keine statischen Orte32, sondern bergen durch ihre Geschichtlichkeit bereits Narrationen und schreiben sich so selbst in die Sprachlichkeit der Akteure ein. So zeigt sich das New York der späten 1960er Jahre bereits als eine beschleunigte, dezentrierte Metropole, die schon durch die Organisation ihres Verkehrsnetzes, ihrer Organisation des Stadtraumes, auch Bewegungen, Wahrnehmungen und Geschichten auf spezifische Weise hervortage verwendeten Technik des Zitierens von »Dokumentarsatiren« gesprochen. Vgl. Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 262. 31 | Walter Benjamin: Das Passagenwerk, in: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser, Band 5.1., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 536. 32 | Siehe zur Unterscheidung zwischen Ort und Raum die Überlegungen Michel de Certaus, der den Raum als performatives Geschehen vom Ort abgrenzt: »Insgesamt ist der Raum ein Ort, aus dem man etwas macht.« Vgl. Michel de Certau: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988, S. 219. Damit ist eine Abgrenzung allerdings schwierig, da jedem Ort die potentielle Dynamik des Raumes innewohnt. Wenn de Certeau den Ort als Anordnung des Gegebenen begreift, so ist es schwierig diese Unterscheidung durchzuhalten, wenn die Geschwindigkeit selbst zur Ordnung gehört. Der Begriff des Nicht-Ortes von Marc Augé, den ich in Teilen der Analyse anwenden werde, bezieht sich auch auf die Dynamik des Raumes, allerdings auf ihre Unterbrechung.

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bringt. New York ist somit durchgehend – und nicht nur im Medium der tonangebenden Tageszeitung – New York Times – ein Raum, der von mehreren Ebenen der Zeitlichkeit durchkreuzt und damit performativ hervorgebracht wird und so seinerseits das Dasein der in ihm lebenden Akteure organisiert. Die Räume sind damit Schauplätze einer diskursiv hergestellten gesellschaftlichen Ordnung, die zugleich auch an der sozialen Choreographie dieser Ordnung beteiligt sind.33 Da sie geschichtlich gewordene Räume sind, durchkreuzt von Übersetzungen, sind sie aber auch mehr als eine »gesetzte« Lebenswelt, die eine alleinige Determinante des Bewusstseins bilden kann. Was sie zu affizieren vermögen, hängt dann wiederum mit der Geschichtlichkeit derer zusammen, die sie betreten und somit in Konfrontation mit ihrer Erzählung zu transformieren beginnen. Gesine ist somit auch in ständiger dialogischer Auseinandersetzung mit den Räumen, die sie durchquert; so bemerkt sie: »Gewiß, unsere Heimat in der Oberen Westseite von Manhattan, sie ist eingebildet.« (JT, S.  173) Eingebildet als Heimat nicht nur im Sinne einer Imagination, sondern auch im Sinne einer Überschätzung: Weil Gesine nicht hoffen kann auf »Erwiderung«, weil sie sich selbst nicht als prägend für diese Straße wahrnimmt, wo sie mit ihrer Tochter durch das Blickfeld von herumhängenden Jugendlichen zieht, »als wären wir nicht vor ihren Augen« (JT, S. 174). Und dennoch sagt Gesine: »Die 97. Straße ist uns dicht an dicht besetzt mit Vergangenheit, mit Anwesenheit.« (JT, S. 173) Die Vergangenheit ist die eigene Vergangenheit, die die Eindrücke dieser Straße hervorbringen können; sie ist aber auch die Vergangenheit des Raumes selbst, der sich bei aller Kontinuität verändert, und sei es durch »Verfall« Der urbane Raum zeigt sich in Beziehung zu Gedächtnis und Erinnerung; er ist an der Subjektivation beteiligt – auch dort noch, wo er das Erinnern bedroht.34 Doch auch Gesines Bewusstsein selbst ist bereits von einer »Vielstimmigkeit« durchzogen, die sie im Alltag begleitet. Die Stimmen der Toten, die Gesine auch in Extremsituationen hört, die ihren Alltag unterbrechen, 33 | Damit würde ich Nicola Westphals Überlegungen erweitern wenn sie sagt, dass die in Jahrestage geschilderten Räume in erster Linie »zu Erforschende« Räume sind. Der Raum in Jahrestage ist für mich nicht nur der »erzählte«, sondern auch der erzählende Raum. Vgl. Nicola Westphal: Literarische Kartografie. Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2008, S. 229ff. 34 | Vgl. auch Buchteil A, Kap. 3.2 Spurlosigkeit: der 7. September 1967, S. 107ff.

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sind ebenfalls nicht vollständig in einer bestimmten Bedeutung aufzulösen. Sie sind selbst vielstimmig, indem sie manchmal das Vergangene als So-Geschehenes bezeugen wollen, manchmal unabhängig von der Vergangenheit in die Gegenwart hineinbrechen und aktuelle Ereignisse kommentieren. Auch wo sie Gesine nicht an ihrem Dialog teilnehmen lassen, und scheinbar längst Vergangenes allein verhandeln sprechen sie für Gesine verstörend in ihre Gegenwart: »Werden wir unseren Namen ändern, wenn wir britische Bürger sind? Wenn du es willst. Ich will deinen Namen gern behalten.« (JT, S. 50)

An diesem Dialog zwischen Lisbeth und Heinrich Cresspahl ist Gesine nicht beteiligt, die Stimmen bleiben hier unter sich. Sie fallen ein, als Gesine sich mit den bestialischen Verbrechen Ilse Kochs auseinandersetzt. Fragen der Identität ihrer Eltern, ihre Möglichkeiten ihre Identität zu wählen, den Ort ihres Lebens zu bestimmen beginnen dort »laut« zu werden, wo Gesine damit konfrontiert ist, wie durch die Verbrechen der Nazis Geschichten ausgelöscht worden sind. Die Stimmen kommentieren aber auch bewusst Gesines Alltag; sie fordern Antwort von ihr, warum sie sich nicht in den politischen Auseinandersetzungen ihrer Zeit sichtbar engagiert: »Warum warst du gestern nicht bei der Demonstration in Washington?« (JT, S. 206) Dieses »Sprechen aus dem Jenseits« kann Gesine nicht steuern, es fällt in ihre Wahrnehmung und macht die Toten und ihre Vergangenheit gegenwärtig, im Sinne einer anderen Form der Realität. Gesine: »Das ereignet sich in meinem Kopf, ohne daß ich steuere« (JT, S. 1539). Diese Stimmen sind ein Unterbrechen der Kontinuität des Alltäglichen, ein Unterbrechen des Lebens-Laufes, aus dem die Toten sie reißen, das ihr zeitweise zur Last wird: »Wenn nur die Toten das Maul halten wollten« (JT, S. 278). Die Stimmen markieren auch eine Grenze der Sprache und des Gespräches, eine Grenze des Verstehbaren.35 Nicht nur mit den Toten führt Gesine solche fiktiven Gespräche. In ihrem Kopf diskutiert sie auch mit Lebenden, denen sie begegnet ist. Auch 35 | Christian Elben hat sehr ausführlich den Zusammenhang zwischen Stimmen und Trauma dargelegt. Vgl. Christian Elben: »Ausgeschriebene Schrift«: Uwe Johnsons Jahrestage: Erinnern und Erzählen im Zeichen des Traumas, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2002, S. 229-249.

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hier ist das Sprechen ein Sprechen an der Grenze des Aussprechbaren, das zugleich eine Grenze der gesellschaftlichen Ordnung markiert. Dies wird deutlich in einem »Stimmengespräch«, das Gesine mit ihrem Nachbarn Bill nach der Ermordung Martin Luther Kings führt: »Es tut mir leid, daß sie ihn erschossen haben, Bill. Daß sie höflich sind, Mrs. Cresspahl, ich weiß es. Es tut mir leid. Und doch, wenn heute nacht die schwarzen Leute aus Harlem hierher kommen; keinen Finger werd ich für Sie rühren, Madam. Wissen Sie überhaupt, was das ist, Angst haben? Ja. Nichts wissen Sie. Sie sind nicht schwarz.« (JT, S. 960)

Der Mord an Martin Luther King ist Produkt des geschürten Hasses zwischen der »weißen« und »schwarzen« Gesellschaft. Gesine partizipiert an dem sozialen Gefüge, das diesen Hass hervorbringt, und stabilisiert es so. Deswegen kann ihr Sprechen als »weiße Frau«, so empfindet sie es, nicht authentisch sein, es kann die gesellschaftliche Barriere, für die es mitverantwortlich ist nicht überwinden. Die Stimme Bills markiert hier die Ordnung, unterstützt die Kontinuität und unterbricht sie doch dadurch, dass sie für Gesine hörbar wird. Die Barrieren bleiben so nicht stillschweigend bestehen. Sie werden laut und fragen das Handeln und das ihm vorausgehende Selbstverständnis an. Auch die in Jahrestage zu findenden intertextuellen Verweisungen sind Ausdruck der Hybridität des Textes – ob diese nun nachweisbar von einem Autor Johnson bewusst gesetzt sind (wie nachgewiesen etwa zu Proust, Woolf oder Faulkner) oder sich als assoziatives Feld in die Bildlichkeit der Erzählung einschreiben. Sie können als Übersetzung – eben als ein Weitertragen einer spezifischen Narration, deren Interpretationspotential sich dadurch gerade als unabgeschlossen erweist – gelesen werden. Damit ist klar, dass auch der mit Hilfe dieser Intertextualität zu interpretierende Text wieder in den Prozess der unabgeschlossenen Übersetzung selbst gegeben werden muss, in eine neue Konstellation gebracht werden kann.36

36 | Vielleicht mein Beatrice Schulz etwas ähnliches wenn sie etwas unvermittelt schreibt: »Johnson hätte zehn Verse Homer aufnehmen können, und doch wären

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Mit den hier aufgezeigten Ebenen zeigt Jahrestage eine durchgehende hybride Vielstimmigkeit. Diese zeigt sich nicht nur als eine Technik des Erzählens, sondern auch eine Ebene der Realität des Daseins und besonders der Zeitlichkeit, die dem Dasein eingeschrieben ist. In diesem hybriden Sinne ist auch der Titel Jahrestage zu verstehen. Wie zeigt sich Hybridität am Begriff der Jahrestage?37 Jahrestage kann man zunächst als kontinuierliche Folge von Tagen innerhalb eines Jahres betrachten. Mit diesem Verständnis würde der Begriff Jahrestage auf eine chronologische Aufteilung der Zeit in Einheiten referieren. Jahrestage kennen wir aber primär als besondere Tage des Jahres, als Gedenktage, an denen sich bestimmte Ereignisse jähren. Gedenktage verweisen auf ein Moment der politisch gesetzten Zeit, auf die Organisation des Gedächtnisses. So heißt es an einer Stelle in Jahrestage: »Die New York Times, sie möchte ihre Leser vorbereiten auf einen Jahrestag: […].« (JT, S. 1789, Auslassung durch Verf.) Jahrestage in diesem Sinne betreffen das Kollektiv, das zur Erinnerung durch einen »politischen Kalender« aufgerufen wird. Zwar gibt es Jahrestage auch im individuellen Leben, doch ihre Begehung – etwa eines »Dienstjubiläums« – ist wieder auf kollektive, rituelle Praktiken begründet. Jahrestage sind zudem auch vorstellbar als Tage, die in ihrer Gegenwärtigkeit zu denken geben. Damit sind sie Tage des Jahres, die weder bloß chronologisch nach vorn schreiten noch sich im Akt des Erinnerns zwangsläufig auf die politische Zeit oder die kollektiven Praktiken beziehen. Sie erscheinen damit als eine Form des Zeitlichen, die sich aus der Mehrdeutigkeit der Lebensgeschichte ergibt. In dieser Mehrdeutigkeit steht auch der Untertitel von Jahrestage: »Aus dem Leben von Gesine Cresspahl«. Aus dem Leben heißt: Aus-Schnitt aus einer konkret historischen Zeit, die in diesem Leben gleichsam aufbewahrt ist. Aus dem Leben bedeutet aber auch: aus dem Leben heraus erzählend, also in diesem Leben seiend (was nicht eine Identität mit diesem Leben bedeuten muss) dieses zur Sprache zu bringen. Dies setzt nicht ein Individuum als alleinige Instanz des Bedeutens, der entfalteten Wirklichkeit fest. Vielmehr besagt »aus dem Leben heraus« auch, die Bedingungen einer Perspektivität aufzuzeigen, und damit auch die Möglichkeit, über dieses Leben hinaussie kein Homer mehr.« Vgl. Beatrice Schulz: Lektüren von Jahrestagen. Studien zu einer Poetik der »Jahrestage« von Uwe Johnson, Tübingen: Niemeyer 1995, S. 2. 37 | Schmidt reflektiert ausführlich die Bedeutung des Jahrestages im kalendarischen Gedächtnis. Vgl. Thomas Schmidt: Der Kalender und die Folgen, S. 103-150.

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zublicken.38 Sprechen »aus dem Leben« vermischt die Grenzen von Innen und Außen. Es ist Anteilnahme im Sinne eines Von-außen-Betrachtens und Teilnahme im Sinne eines Mit-Gestaltens zugleich. Zudem verbindet das »aus« in Titel und Untertitel Jahrestage und Lebensgeschichte auf mehrdeutige Weise: Einmal können die Jahrestage eine Struktur innerhalb dieses Lebens sein. So verstanden bedeutet der Titel: Jahrestage, wie sie sich in dieser Lebensgeschichte zeigen, die aus Jahrestagen (und Tagen des Jahres) besteht. Man kann dies aber auch umkehren und lesen: Jahrestage (bestehend) aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Dies würde bedeuten, dass die Tage aus Lebensgeschichte bestehen – ihren Grund in ihr finden – und nicht umgekehrt das Leben aus Tagen gebildet ist. Die Sinnhaftigkeit der Jahrestage ergibt sich dann durch das Leben und ist nicht ohne dies als sinnhaft gesetzt. Ordnung braucht in diesem Fall die Lebensgeschichte, um als diese bestehen zu können, während im anderen Beispiel in den Jahrestagen der Sinn auch unabhängig vom konkreten Leben gesetzt ist. Wir sehen hier schon an der Oszillation von Titel und Untertitel, wie bereits ein Erzählen ansetzt, das sich übersetzt und so Möglichkeiten des Übersetzens bildet. Übersetzendes Erzählen können wir so als Handeln erkennen, das sich gerade nicht in Intentionen eines Erzählten erschöpfen kann, weil es selbst die Hybridität als konstituierend markiert. Das »Original« (der Text, das Ereignis, der Diskurs), das die Übersetzung veranlasst, ist Ort ihres Sprechens, aber determiniert ihr Bedeuten nicht. Die Übersetzung als Handlung partizipiert damit an einer dialogischen Situation, die in einer kulturell-hybriden Wirklichkeit steht. Die semantische Unerschöpflichkeit der Übersetzung liegt sowohl in dem Wie der Übersetzung (von der ein Teil das zu Übersetzende bildet) als einem 38 | Vgl. zur Polysemie von Titel und Untertitel auch Thomas Schmidt: Der Kalender und die Folgen, S. 55ff. Trotz der Einwände Schmidts gegen solche Überlegungen, möchte ich weiter davon ausgehen, dass es eine Rolle spielt, dass mit dem Ausdruck Jahrestage auch auf Tage des Jahres verwiesen werden; diese Assoziation stellt sich, denke ich, unweigerlich ein, weil wir es eben mit den Tagen eines Jahres zu tun haben. Jahrestage als Gedenktage könnten sich erzählerisch auch auf zehn Jahre verteilen. Auch Mecklenburg und Goetschel betonen die Mehrdeutigkeit des Jahrestage-Begriffes: Vgl. Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 216, Willi Goetschel: »Was wird nun mit der Vergangenheit?«, S. 126ff.

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Moment des Sprachlichen als auch in dieser hybriden Situation selbst begründet, die schon aus Übersetzungen besteht. Übersetzendes Erzählen setzt nicht Übersetzung als »erstes Faktum« voraus; vielmehr zeigt es sich als die Modalität des kulturell Wirklichen, in der das Erste allenfalls als SoÜbersetztes erscheint und in der somit auch das »Original« auf Geschichtlichkeit, Bedingungen des Bedeutens verweist. Noch mal: Das Haus des Erzählens, das Marie ihrer Mutter schenkt, baut auf der Erinnerung an das Erzählen aus der Erinnerung auf.

E RSTE Ü BERSE T ZUNG Geschichte ist Entwurf, der aus den Geschichten heraus ins Gegenwärtige übersetzt und sein Übersetzen als Handeln zeigt. Damit ist er kein Entwurf, der danach strebt, sich irgendwann seines Entwurfcharakters durch Vollständigkeit zu entledigen. Er kann und will kein Bauplan sein. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass das wesentliche Moment der Übersetzung in der Spannung von Eigenem und Fremdem steht und die damit aufgeworfene Frage der Identität ein durchgängiges Phänomen des Erzählten ist. Übersetzung hat sich gezeigt als etwas, was Identität einerseits generiert, andererseits aber auch aufschiebt, das Geheimnis des zu Übersetzenden in diesem Aufschub bewahrt. Sie steht damit in einer Spannung von Offenbaren und Verbergen. Lässt sich dann, so kann man fragen, denn nach ausgiebiger Analyse performativer Sprechakte und Diskursivitätseffekten etwas »filtern«, was zur »festen« Aussage über Identität führen kann, wenn sie uns durch die diskursiven Praktiken nur als konstruierte erscheinen kann? Gibt es dort die Möglichkeit eines »Hinter-Gehens des Diskurses« und somit die Möglichkeit einer »unverstellten Daseinsanalyse«? Und: Ist das ein Ziel des Erzählens: über die Inszenierung von Konstruktion und Dekonstruktion zu solchen unverstellten Aussagen zu gelangen? Ist dies ein »sinnvoller« Umgang mit dem Geheimnis des Daseins? Ich werde versuchen, mich diesen Fragen zu nähern. Sehen wir uns dazu zunächst an, in welcher Beziehung die Personen in Jahrestage zum Geheimnis stehen.

2. Zwischen Geheimnis und Enthüllung You mean a secret even the New York Times doesn’t know of? (Jahrestage, S. 466)

2.1 L EBENSGEHEIMNIS Die Personen in Jahrestage sind auf vielfältige Weise in Geheimnisse verstrickt. Gesines Jugendliebe Pius wird zum Geheimnisträger als Soldat der Sowjetunion. D.E. ist als Physiker bei der NATO mit Geheimnissen der US-Regierung betraut. Sowohl D.E.’s als auch Pius’ Dasein als Geheimnisträger im Dienste eines Systems vermag sogar, die Modalitäten ihres Todes zu regeln. Nicht weniger »geheimnisvoll« ist der Tod Jakobs auf den Gleisen.1 Von seinem Leben zumindest hat die Geheimpolizei der DDR Akten angelegt. Gesines Auftrag in Prag ist ein Geheimnis der Chefetage der Bank. Obwohl sie gerade vor Marie vieles offenlegt, hält sie D.E.’s Tod vor ihr geheim. Marie baut heimlich das einstige »Heim« der Mutter nach, das sie ihr zu Neujahr schenkt. Die Bedeutung dieses Hauses für ihre Geschichte offenbaren die beiden nicht, als sie es verkaufen. Das Geheimnis bleibt so wohnen in ihm.2 Heinrich Cresspahl arbeitet als Geheimagent der britischen Abwehr, ist »Bundesgenosse im englischen Geheimnis« (JT, S. 1449). Lisbeth Cresspahl notiert sich im Geheimen Dinge, die sie auch mit ihrem Mann nicht besprechen kann. Schon bei einem kurzen Blick in die Lebenswege dieser Personen erkennen wir bereits verschiedene soziale Konstellationen, in denen der Mensch auf unterschiedliche Weise in ein Geheimnis verstrickt sein kann. 1 | Vgl. auch Buchteil A, Kap. 4.4 Tote auf der Strecke: Pius, Jakob und D.E., S. 158ff. 2 | Vgl. hierzu auch Ulrich Krellner: »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 283ff.

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Wir sehen also: Wenn man den Menschen als Mensch im Geheimnis zu denken versucht, kann sich dies auf verschiedenen Ebenen sowohl des Privaten als auch des Gesellschaftlichen zeigen. Man kann in einem sozialen Gefüge stehen, das einem durchgängig rätselhaft, undurchschaubar erscheint. Dies kann mit der Komplexität des Sozialen zusammenhängen, in dem der Einzelne das Gefühl gewinnt, dass alles auch ohne ihn funktionieren könnte und dass nicht mehr nachvollziehbar ist, wer dieses Soziale auf welche Weise organisiert. Ein solches Gefühl kann gleichermaßen Angst oder Faszination hervorrufen. Man kann selbst im »Geheimen agieren«, mit Informationen und Prozessen betraut sein, die einer besonderen Verschwiegenheit unterliegen. Für diese Tätigkeit stehen die Geschichten von Pius und D.E. In diesem Sinne kann ein Geheimnis »gehütet« und »bewahrt« werden. Geheimnis in diesem Verständnis zeigt sich in einer Opposition zur Öffentlichkeit, die vom Geheimnis ausgeschlossen wird. Hier zieht das Geheimnis die »Heimlichkeit« nach sich. Diese Heimlichkeit widerspricht dem Vertrauen. Wer heimlich handelt oder glaubt, heimlich handeln zu müssen, vertraut nicht mehr dem offenen Dialog. Ein solches Handeln kann seine Ursache in einer bewussten Abgrenzung einer Gruppe haben, die von sich selbst glaubt, dass allein ihr ein spezielles Wissen zugänglich sein soll. Es kann aber auch die soziale Wirklichkeit selbst dazu führen, dass bestimmten Menschen der Raum des öffentlichen Handelns genommen wird. So zwingen Diktaturen dazu, Widerstand gegen sie im Geheimen zu organisieren, während sie gleichzeitig ihre Geheimpolizeien mit der Aufdeckung beauftragen. Ein Merkmal der Diktatur ist es, dass ihr nichts verborgen bleiben darf und sie darüber entscheidet, welches Wissen wem zugänglich ist. Das Wissen darum, dass Menschen im Geheimen agieren und so Einfluss auf die Wirklichkeit nehmen, zieht die Möglichkeit nach sich, in anderen Menschen etwas Unheimliches zu erkennen. Unheimlich heißt hier: bezogen auf das eigene »Heim«, die Ordnung der eigenen Welt eine Bedrohung. Unheimlichkeit transportiert jedoch gleichzeitig auch eine gewisse Sichtbarkeit: Wer unheimlich wirkt, weil er im Geheimen operiert, dem scheint die Verstellung nicht ganz zu gelingen; ein perfektes heimliches Agieren dürfte nicht als unheimlich auffallen. Er offenbart also an irgendeiner Stelle seine Heimlichkeit. Diese Form der als Bedrohung wahrgenommenen Heimlichkeit kann jedoch auch eine bloße Unterstellung einer sozialen Gruppierung einem Anderen gegenüber sein, dem

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unterstellt wird, er verwirkliche einen heimlichen, undurchschaubaren, tendenziell Gefahren bergenden Plan und »irgendwie« sehe man es ihm auch an. So werden in New York die »Fremden mit Vorsicht besehen« (JT, S. 53), während die Stadt gleichzeitig Freundschaft zum Fremden plakativ verlangt (vgl. z.B. JT, S. 169, S. 206). Diese Unheimlichkeit ist dann Effekt eines Blickes, der glaubt, im Anderen etwas hervorzuholen, während er es jedoch erst in ihn projiziert. Das Sehen, das zu erkennen und aufzudecken glaubt, resultiert aus einem Blick, der den Anderen bereits als Diesen entstellt und ihm so eines Geheimnisses beraubt.3 Doch auch innerhalb einer vertrauten Beziehung gibt es Geheimnisse. Gesine sagt über ihre Beziehung mit D.E.: »Es kann nicht die Rede sein, daß D.E. keine Geheimnisse hätte vor uns; wir werden uns welche behalten vor ihm.« (JT, S. 344) Hier zeigt sich: Die »absolute Offenheit« ist eine Überforderung, die auch die vertraute Beziehung belasten muss. Ein »Lebensgeheimnis« miteinander zu teilen, muss also nicht bedeuten, dass man alles voreinander offenlegt; auch bedeutet es nicht, dass man den Menschen, die an diesem Geheimnis nicht beteiligt sind, das Vertrauen entziehen will. Die Teilung des Lebensgeheimnisses begründet sich nicht durch Ausgrenzung und Negation, sondern findet ihren Grund in der Bejahung des Nächsten, der in dieses eingeweiht wird. Als Lisbeth Cresspahl vor ihrer Ehe mit Heinrich diesen ohne das Wissen ihrer Eltern in England besucht, wird dazu erzählt: »Sie wollte gar nicht ihre Eltern hintergehen; sie wollte ein Geheimnis nicht ausliefern.« (JT, S. 102) Ein Geheimnis nicht ausliefern zu wollen stellt somit die Wahrheit der Beziehung über das bloße Aussprechen dessen, was geschieht. Wer alles erzählt, weil er immer die »Wahrheit sagen will«, gibt ein Geheimnis preis und verletzt so eine Wahrheit, die in diesem liegt. Wer alles in die Öffentlichkeit trägt, missachtet die Sphäre des Privaten, auch dann, wenn es sich um sein Leben handelt. So ist der Leser, der die Enthüllungen der Swetlana Stalin in der New York Times zur Kenntnis nimmt, von der journalistischen Inszenierung dieses Erinnerns peinlich berührt. Umgang mit dem Geheimnis und Umgang mit der Wahrheit beziehen sich also aufeinander und die Wahrheit zeigt sich nicht unbedingt als 3 | Vgl. hierzu auch Eva Schürmann: Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008; sowie meine weitere Auseinandersetzung mit Blick, Sehen und Sichtbarkeit in dieser Arbeit.

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Moment, dem ein bedingungsloses Enthüllen vorangeht.4 Deshalb bringt Cresspahl seiner Tochter bei: »Es ist nicht schlecht zu lügen; solange die Wahrheit geschützt wird.« (JT, S. 856) Wenn man mit anderen im Geheimen für eine gemeinschaftliche Sache handelt, so kann man von einer »Komplizenschaft« sprechen. Diesen Begriff möchte ich vor dem Hintergrund des Verhältnisses zwischen Gesine und dem »Genossen Schriftsteller« an dieser Stelle einführen.

2.2 K OMPLIZENSCHAF T Ich habe bereits davon gesprochen, dass das Verhältnis zwischen Gesine und dem »Genossen Schriftsteller« ein Arbeitsverhältnis ist, das man als komplizitär bezeichnen kann. Sie gehen ein komplizitäres Arbeitsverhältnis ein, damit Gesines Geschichte in einem Jahr in New York und die damit dort als diese entstehende, mit den Ereignissen in New York verflochtene Vergangenheit erzählbar wird. Das zeigt noch einmal die Bedingung der Möglichkeit der Lebensgeschichte in ihrer Mehrdeutigkeit: Als seine Geschichte gehört diese untrennbar zum Menschen, sie steht diesem jedoch nie als von ihm vollständig zu Identifizierendes zur Verfügung. Dieser Mensch, der in seiner Geschichte steht, steht damit immer auch in den Geheimnissen seines eigenen Daseins. Das Geheimnis des Daseins zeigt sich als Rätsel der zeitlichen Wahrnehmung, sofern man nicht versucht, diese in Kausalitäten aufzulösen. Von diesem Rätsel der Zeitlichkeit beginnt Daseins sich selbst ein Rätsel zu sein. Wie kann man angesichts dieser Fragen das Verhältnis zwischen Geheimnis und Komplizenschaft 4 | Vgl. hierzu auch die Überlegungen Dietrich Bonhoeffers in seinem fragmentarisch gebliebenen Essay »Was heißt: die Wahrheit sagen?« Bonhoeffer betont, dass wir in verschiedenen Wahrheitssphären stehen, die beim Sprechen der Wahrheit bedacht werden müssen. Das Sprechen der Wahrheit muss den lebensweltlichen Bezügen gerecht werden, in denen das Wort steht. Nur dann kann man der Forderung der »wahrheitsgemäßen Rede« gerecht werden. Denn Gott selbst hat den Menschen in die konkreten Bezüge des Lebens gestellt. Bonhoeffer: »Das wahrheitsgemäße Wort ist nicht eine in sich konstante Größe, sondern ist so lebendig wie das Leben selbst.« Vgl. Dietrich Bonhoeffer: Was heißt: die Wahrheit sagen, in: ders.: Ethik. Hg. v. Eberhard Bethge, München: Kaiser 1966, S. 388.

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denken? Komplizenschaften, die ein Geheimnis teilen und bewahren und damit ihrerseits mindestens an diesem Punkt im Geheimen agieren – gegebenenfalls sogar einen »geheimen Plan« verwirklichen wollen –, gründen sich, weil der Gegenstand ihres Wissens oder die Durchführung ihres Projektes innerhalb einer bestimmten sozialen Wirklichkeit diese besondere Formation verlangt. Gesa Ziemer, die den Begriff der Komplizenschaft für die Beschreibung künstlerischer Praxis starkgemacht hat, nennt u.a. folgende Merkmale »komplizitärer Zusammenschlüsse«, die auch auf Gesine und den »Genossen Schriftsteller« zutreffen: Komplizenschaften teilen ein Anfangsmoment, das sie in eine zeitlich begrenzte Schicksalsgemeinschaft wirft. Dieses Anfangsmoment kann ein sich plötzlich herstellendes Einverständnis bedeuten: eine Nähe in einem bestimmten Punkt. Komplizen suchen sich also nicht bewusst, sondern finden sich in einer spezifischen Konstellation. Sie verfolgen ein gemeinsames Interesse, von dem sie profitieren, und sind eine »subversive Form der Kollaboration« und damit ein Beweis für die »Kraft des Schwachen«, weil sie ihre Stärke aus der Konstellation ihrer Zusammenarbeit gewinnen und nicht aufgrund einer Position, die sie a priori mit Macht ausstatten kann. Ihre Regeln und Codes sind den Außenstehenden nicht in der Bedeutung der Komplizen zugänglich und können auch innerhalb ihres Verhältnisses verändert und diskutiert werden.5 Die Komplizenschaft steht so zwischen Offenheit und Abschottung. Diese Merkmale der Komplizenschaft treffen auf das Arbeitsverhältnis zwischen Gesine und dem »Genossen Schriftsteller« zu. Den Unterschied zum »Vertrag«, »Bündnis« oder »Pakt« sehe ich darin, dass der Pakt bindender und reglementierter ist als die Komplizenschaft. Der Pakt – etwa als Pakt zwischen Staaten – organisiert eine bereits vorhandene, institutionalisierte Macht und bringt sie in eine neue, »gemeinsame« Form. Der Pakt ist das Ergebnis von langwierigen Verhandlungen; er entsteht nicht aus einem plötzlichen Einverständnis heraus, sondern steht als Resultat eines Prozesses in einer bereits gegebenen Beziehungsgeschichte. Der Pakt beglaubigt Einverständnis und Identität. Die gewonnene »gemeinsame Identität« wird im Pakt demonstriert. Das Aussteigen aus dem Pakt hat damit gravierende Konsequenzen für die Identität des Aussteigenden. 5 | Gesa Ziemer: Komplizenschaft. Eine Taktik und Ästhetik der Kritik, in: Jörg Huber, Philipp Stöllger, Gesa Ziemer und Simon Zumsteg (Hg.): Ästhetik der Kritik. Verdeckte Ermittlung. Reihe T: G/05, Zürich/Wien 2007, S. 75ff.

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Somit ist ein Aussteigen auch nicht vorgesehen; die eingegangene Verbindung soll auch die Lebenszeit derer überdauern, die ihn stellvertretend unterzeichnen. Deshalb kann man in die Wirklichkeit eines Paktverhältnisses hineingeboren werden – der Komplizenschaft geht jedoch immer die situativ bestimmte Entscheidung voran. Eine Komplizenschaft kann man nicht stellvertretend als »Symbolfigur« eines sozialen Gefüges eingehen, sondern agiert immer selbst als Komplize in ihr. Sichtbar für die Öffentlichkeit wird – wenn überhaupt – das Ergebnis der Komplizenschaft. Der »Pakt« dagegen benötigt ein Ritual des Eintretens in diesen, zu dem auch die Anwesenheit von Zeugen gehört, die die nun beginnende Gültigkeit des Paktes bestätigen. Für eine »Komplizenschaft« zwischen Gesine und dem »Genossen Schriftsteller« sprechen die diskutierbaren »Vertragsregelungen«, die sie getroffen zu haben scheinen. Auch würde ein Aussteigen keine gravierende Konsequenz für die Identität eines der beiden Partner haben. Ein zweites, gemeinsames Projekt scheint nicht vorgesehen zu sein. Wir wissen zudem nicht, wie sich ihr Verhältnis nach dem Ende des Jahres gestalten wird. Doch vor allem spricht die Zufälligkeit und auch der Umstand ihrer Begegnung für die Komplizenschaft, der das Anfangsmoment ihres Arbeitens markiert. Denn bezeichnend ist es, dass Gesine den »Genossen Schriftsteller« zum ersten Mal wahrnimmt, als er dort scheitert, wo gerade er doch erfolgreich sein müsste: beim Finden von Worten. Gesine sieht ihn sprechen und in diesem Sprechen scheitern. Als Redner auf dem Jewish American Congress versucht er die »Wahlerfolge der westdeutschen Nazipartei« (JT, S. 253) zu erklären und wird von den Zuhörern mit ihren konkreten Leidensgeschichten konfrontiert: »Und sie sagten: Meine Mutter. Theresienstadt. Meine ganze Familie. Treblinka. Meine Kinder. Birkenau. Mein Leben. Auschwitz. Meine Schwester. Bergen-Belsen. Mit siebenundneunzig Jahren. Mauthausen. Im Alter von zwei, vier und fünf Jahren. Maidanek.« (JT, S. 256)

Gesine und der »Genosse Schriftsteller« erinnern sich gemeinsam an diese Situation zurück. Dass dem Schriftsteller nicht zuzutrauen war, dass er »selber das Land verstand, geschweige denn erklären konnte, für dessen Erklärung er sich hatte haftbar machen« lassen (JT, S. 255), schafft ein Einverständnis mit Gesine: Beide fühlen sich diesem Land und seiner Geschichte verpflichtet, beide kennen aber auch das Gefühl des Scheiterns,

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des Ringens um Sprache, der Sprachlosigkeit angesichts des konkreten Leidens in Lebensgeschichten. Der Verantwortung für diese Geschichten wollen sie sich nicht entziehen. Sie teilen somit ein Anfangsmoment, das in der »geteilten Herkunft« und der »geteilten Sprache« sich begründet, sie teilen zugleich die Erfahrungen des nicht mehr Mitteilbaren, die mit dieser Herkunft einhergehen. Die Komplizenschaft zeigt sich hier als ein Beispiel für »die Macht des Schwachen«, denn sie ist eine Organisation gegen die Sprachlosigkeit, die diese Komplizen in sich spüren und die sie umgibt. Sie ist auch eine Organisation gegen das Vergessen und gegen eine politisch organisierte Praxis des Gedächtnisses.6 Gerade weil das Einverständnis zwischen den beiden im Scheitern des Sprechens sich herstellt, wollen sie wenigstens den politischen Repräsentationen widersprechen – dadurch, dass sie Geschichten zur Sprache bringen, denen sonst der Raum verwehrt bleibt – dadurch, dass Schweigen und Sprachlosigkeit »laut« zu werden beginnen. Aus dem geteilten Schweigen soll ein geteiltes, ein gemeinsames Sprechen werden, weil dies allein nicht zu bewältigen ist. Die geteilte Sprache muss geteilt, somit auch unversöhnt bleiben. Wie gestaltet sich diese Komplizenschaft im Verhältnis zu uns Lesern? Sind wir dadurch, dass wir die Erzählung lesen, in das »Ergebnis« dieses Verhältnisses eingeweiht? Hat die Erzählung die Komplizenschaft im Medium der Schrift nachvollzogen und sich in ihm als Ergebnis offenbart? Zunächst bleibt auffällig: »Uns« übergibt Gesine ihre Erinnerungen am Ende der Erzählung nicht, und auch der »Genosse Schriftsteller« wendet sich nirgends explizit an die möglichen zukünftigen Rezipienten dieses Werkes. Über ihr Verhältnis zu uns als mögliche Rezipienten lassen sie uns im Unklaren, so wie auch das genaue Verhältnis zwischen Gesine und dem »Genossen Schriftsteller« ein Geheimnis bleibt. Das genaue Kompositionsprinzip dieses gemeinsamen Erzählens entzieht sich uns.7 Unent6 | Vgl. auch Buchteil A, Kap. 3 Zwischen Erinnerung und Gedächtnis, S. 101ff. 7 | Heinz-Jürgen Staszak hat das Changieren zwischen den Erzählpositionen und Erzählweisen als »flackernde Erzählweise« bezeichnet. Staszak weist zu Recht darauf hin, dass diese Erzählweise sich daraus ergibt, nicht eine Geschichte, sondern eine Person erzählen zu wollen. Ich stimme ihm zu, lehne den Begriff der Lebensgeschichte aber für Jahrestage nicht ab, weil ich in der Zweideutigkeit der Lebensgeschichte den Begriff der Person, wie Staszak ihn darlegt, aufgehoben sehe. Vgl. Heinz-Jürgen Staszak: Das Erzählen der Person, in: Michael Hofmann

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scheidbar ist von daher, wie sich das, was wir als Erzählung in den Händen halten, zu dieser Komplizenschaft verhält. Wir können nicht sagen, ob diese Komplizenschaft Teil einer größeren Erzählung ist; wir können auch nicht wissen, ob diese größere Erzählung dann von einem »auktorialen Erzähler« zusammengehalten wird. Genauso vorstellbar ist, dass die Komplizen selbst eine Gestaltung des Materials vorgenommen haben und in dieser Gestaltung uns auch den künstlerischen Prozess – durch Kommentierung, Diskussion miteinander – stellenweise zeigen. Zunächst scheint diese Komplizenschaft uns erneut aufzuteilen in die beiden, die eingeweiht sind in einen künstlerischen, narrativen Prozess, und jene, die verstehen wollen, wie sie diese Arbeit vollziehen. Diese Komplizenschaft führt uns jedoch auch mit den beiden Komplizen Gesine und dem »Genossen Schriftsteller« wieder zusammen – auf der Ebene einer Beteiligung an etwas, einer Erfahrung, die den Prozess sowohl begründet als auch begleiten wird: dass Erzählung und Erzähltes in den Bedingungen ihrer Konstitution nicht vollständig enthüllt werden können, das Geheimnis in ihnen bleibt. Die soziale Realität und die Beschaffenheit des Daseins scheinen genau eine solche Formation der Arbeit zu verlangen, wenn es um Lebens-Geschichte geht. Das Lebens-Geheimnis zeigt sich damit ebenfalls in einer Mehrdeutigkeit: Es ist das Geheimnis eines individuellen Lebens und das strukturelle Geheimnis des Daseins selbst. Ist damit die Komplizenschaft die Formation, die sich dem Geheimnischarakter der Lebensgeschichte nähert, wenigstens ihn zum Aufscheinen bringen kann? Ist dies also eine geheime Formation, an deren Ende nicht die Offenbarung eines Außen steht, sondern die auf die Beschaffenheit von Geheimnissen, auf das Wie des Geheimnisses in Leben und Begegnung verweisen möchte? Damit meine ich nicht, dass es diesen Komplizen darum geht, bewusst Spuren zu verwischen, um uns vor eine »detektivische Aufgabe« zu stellen, an der wir dann scheitern müssen – so wie Partner einer Komplizenschaft, die in konspirativer Verschwörung gegen Gesetze verstoßen, nicht wollen, dass man ihnen auf die Schliche kommt. Vielmehr scheint diese Form der Komplizenschaft eine zu sein, die uns ihre Spuren zu lesen gibt und uns damit auf die Mehrdeutigkeit und auch Undeutbarkeit der Spuren verweist. Das Projekt, an dem wir beteiligt werden, ist also kein »Programm«, (Hg.): Johnson-Jahrbuch 12/2005, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2005, S. 27-39.

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das sich einer umfassenden Aufklärung verpflichtet hat, sondern das vielmehr um die Gefahren eines solchen Anspruches zu wissen scheint. Das geteilte Sprechen, das die Komplizen praktizieren – und das sich aus der Erfahrung eines geteilten Schweigens begründet – zeigt: Ein ungeteiltes, eindeutiges, aus einem Subjekt kommendes Sprechen wird den Anfragen, mit denen Dasein konfrontiert ist, nicht gerecht. Ich möchte nun das Wie des Geheimnisses dort betrachten, wo eine Erzählung ihre »Rahmung« erhält. Die erste Seite und die letzten Seiten der vier Bände von Jahrestage geben in dieser Hinsicht zu denken: Sie sind um ein bedrohtes Geheimnis herum organisiert.

2.3 E RSTE S EITE : H OHLR AUM Die erste, undatierte Seite von Jahrestage8 führt uns über die dargestellte atmosphärische Dichte bereits in einen Zusammenhang von Übersetzung, Geschichte und Geheimnis ein, obwohl diese Problematik nirgendwo explizit benannt wird. Die ersten Zeilen nehmen uns, die wir lesen, mit an einen gänzlich unsicheren Ort. Der Ort des Meeres ist assoziiert mit »Tiefe« und »Weite«, symbolisiert das Verborgene und die Undurchdringlichkeit. Mit Blick auf das Meer lassen sich Geschichten erzählen – beim Anblick des Meeres kann man sich verlieren. Das Meer übt Faszination aus, weil sich Widersprüchliches dort zu verbinden scheint: Ruhe und Chaos, Ursprung und Zerstörung; das Meer ist Leben spendend und Leben verschlingend, es fasziniert uns in dieser Unberechenbarkeit. Es macht einen großen Unterschied, ob eine Geschichte beim Anblick des Meeres oder am heimischen Kamin beginnt, im vertrauten, warmen, aber auch begrenzten Raum. Dem Meer muss man sich aussetzen, will man dort eine Erzählung beginnen. Das Meer erscheint als Möglichkeit und als Gefahr. In diesem Sinne wird hier in das Leben der Protagonistin eingeführt: »Lange Wellen treiben schräg gegen den Strand, wölben Buckel mit Muskelsträngen, heben zitternde Kämme, die im grünsten Strand kippen. Der straffe Überschlag, schon weißlich gestriemt, umwickelt einen runden Hohlraum Luft, der von

8 | Vgl. zur Interpretation der ersten Seite auch die Überlegungen von Ulrich Krellner in: »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 196ff.

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der klaren Masse zerdrückt wird, als sei da ein Geheimnis gemacht und zerstört worden.« (JT, S. 7)

Der hier beschriebene Schaum, der entsteht, wenn die Wellen des Meeres sich aneinander brechen, kann als Teil einer in dem Namen »Cresspahl« mitgegebenen Symbolik gelesen werden: »crest« – das ist der Schaum auf der Welle; »crestfallen«, das bedeutet: niedergeworfen, niedergedrückt.9 »Crest« ist mit Dynamik und Bedrohung verbunden. Gesine selbst will ihren Namen mit einer widerständigen Bedeutung innerhalb eines dynamischen Feldes übersetzt wissen: »[…] zusammengesetzt aus kross und Pall. […] Die Sperre im Zahnrad, die das Zurückschlagen der Winde verhindert, und zwar eine grobe, krude, krasse.« (JT, S.  1253, Auslassung durch Verf.) Auch hier zeigt sich eine potentielle Bedrohung an, die doch gleichzeitig in Widerstandskraft gewendet wird: Die Sperre im Zahnrad einer Winde (Wellenrad!), die Lasten aus der Tiefe emporheben kann, trägt dazu bei, dass der Mechanismus des Hebens gelingt. Die Sperre verhindert nach abgeschlossenem Hebeprozess, dass die Last aufgrund der Schwerkraft wieder nach unten bewegt wird und sich die Winde durch die Schwerkraft in die Gegenrichtung zu bewegen beginnt. »Rad im Getriebe«, aber auch gleichzeitig »Sperre« beim Emporheben, Sperre gegen das Zurückfallen – das ist das Feld, das sich durch Gesines Übersetzung ihres Namens in »kross« und »Pall« öffnet.10 »Crest« weckt auch Erinnerungen – an eine Nacht am Strand, die Gesine noch in Ostdeutschland erlebt hat: »On the crest of the waves«, sagte ihre Stimme, ja, auf den Schaumflocken der Wellenkämme, bevor sie sich überschlagen.« (MJ, S. 215)

9 | Weitere interessante Übersetzungsmöglichkeiten des Namens »Cresspahl« finden sich in: Frank Mardaus: Fotografische Zeichen, Uwe Johnsons Bildprogramm in den »Jahrestagen«, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2008, S. 162ff. Besonders bemerkenswert finde ich den Hinweis, dass »Krest« im Tschechischen »Taufe« bedeutet. Die Taufe verbindet das »aus der Taufe heben« im Sinne der Demonstration eines Neuanfanges damit, dass der Mensch in einen transzendenten Zusammenhang gehoben wird und somit aufgehoben im Geheimnis ist. 10 | Vgl. auch Buchteil A, Kap. 3.6 Spur/spur, S. 136ff.

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»Crest« bedeutet zudem auch »Bergkamm«. Auf dem Bergkamm des Heidbergs trifft Gesine sich als Jugendliche heimlich mit ihrer besten Freundin Anita und wünscht sich, dass dieses Bild, das sich ihr dort eröffnet, später das Bild ihres Sterbens wird: »[…] [Sie] fanden einander auf dem Kamm des Heidberges, wo ein Abhang sich öffnet, Güstrower Kindern wohlbekannt als Schlittenbahn, auch dem Auge freien Weg öffnend über die Insel im See und das hinter dem Wasser sanft ansteigende Land, besetzt mit sparsamen Kulissen aus Bäumen und Dächern, leuchtend, da die Sonne gerade düstere Regenwolken hat verdrängen können: welch Anblick mir möge gegenwärtig sein in der Stunde meines […11] Sterbens.« (JT, S. 1821f., Auslassung durch Verf.)

Der Blick auf das Spiel der Wellen, den »crest of the waves«, eröffnet also die bildliche Ebene von Höhe und Tiefe, von Fortlaufen, Gefahr und Widerstand, und gleichzeitig auch die Ebene von Sichtbarkeit und Verborgenheit. Denn der Schaum auf der Welle ist Produkt eines dynamischen Spiels des Wassers, das ihm vorangeht und sich in diesem verdichtet. Der Kamm eines Berges ist sowohl Gipfel als auch auf der geologischen Ebene verbindendes Element (Kammgebirge) – politisch kann er territoriale Grenze werden. Auch in der oben zitierten Stelle steht der Bergkamm für Höhe und Abgrenzung, ist sowohl mit der Freiheit des Geheimnisses als auch im Bild des Erinnerns mit einer Sehnsucht nach dem Tod assoziiert: einem Tod, der kommen kann, wenn dieser Augenblick der Bewahrung zurückgerufen ist. Das Spiel der Wellen auf der ersten Seite von Jahrestage scheint in einer ähnlichen Spannung zu stehen. Denn diese Wellen, so wird erzählt, spielen, als sei »da ein Geheimnis gemacht und zerstört worden«. Dieses Spiel der Wellen, in dem das Leben Gesines als bedrohtes Geheimnis verortet wird, birgt noch einen weiteren Assoziationsraum in sich, der uns in die Auseinandersetzung mit der Geschichte führt: In einem – von der literaturwissenschaftlichen Forschung als »Fatalismusbrief« bezeichne11 | Auf den Konflikt mit dem »Genossen Schriftsteller«, von dem die Beschreibung der Landschaft unterbrochen wird, gehe ich an dieser Stelle nicht ein, möchte aber darauf hinweisen, dass es solche Gespräche zwischen den Komplizen sind, die unklar werden lassen, wie sich der Text, den wir lesen, zu der Komplizenschaft verhält.

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ten – Brief an seine Geliebte schreibt Georg Büchner, einer, der sich dem Geschehen und den Möglichkeiten der Geschichte verpflichtet weiß und unter der Last der Geschichte zu zerbrechen droht, 1834: »Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken.« 12

Auch Büchner assoziiert hier das Meer mit Unberechenbarkeit und zeigt den Menschen als den auf der Welle Gebrochenen, der sofort wieder zu verschwinden droht. Der Einzelne ist hier der »Schaum auf der Welle«, der dem Spiel der Gewalten hilflos ausgeliefert zu sein scheint. Damit ist auch hier das bedrohte Geheimnis des unverwechselbaren Lebens gemeint, das auch Büchner vor Augen hat. Er, der die Grausamkeit der Revolution erkennt, sieht hier keine andere Möglichkeit mehr, als einem Fatalismus sich hinzugeben; einer Geschichte, deren hoffnungsloses Ende bereits festzustehen scheint, bevor sie gelebt, geschrieben und erinnert worden ist. Dennoch gibt es in Büchners »Revolutionsdrama« Dantons Tod Menschen, die zur Sprache kommen, obwohl die Revolutionsgeschichte ihre Geschichten zu verschlingen droht. In dem »Hohlraum Luft«, jenem winzigen Raum, der wirkt, »als sei da ein Geheimnis gemacht und zerstört worden« – so scheint Büchner doch noch hoffen zu können, so schließt sich Jahrestage dieser Hoffnung an – ist Atem möglich, Atem, der eine Wende bringen mag…13 Denn ein Hohlraum ist kein von seiner Umwelt isolierter Raum. Er interagiert mit dieser, vermag sogar ihre Strukturen verändern. Es ist 12 | Georg Büchner: Brief an Wilhelmine Jaeglé, 10. März 1834, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar, Hg. v. Werner R. Lehmann, Band 2, Hamburg: Christian Wegner, S. 425f. (Hervorhebung durch Verf.) 13 | Paul Celan: »Dichtung: das keine Atemwende bedeuten.« Vgl. Paul Celan: Der Meridian, in: ders.: Der Meridian. Endfassung, Entwürfe, Materialien, Tübinger Ausgabe. Hg. v. Bernhard Böschenstein und Heino Schmull, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 7.

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dieses bedrohte Geheimnis im Hohlraum Luft, dem sich die beiden Komplizen mit den Möglichkeiten des Erzählens von Geschichte verpflichten. Dieses Erzählen angesichts des bedrohten Geheimnisses zeigt sich hier konstitutiv für Literatur. Der Schaum auf der Welle, der Büchner zum Symbol dafür wird, dass der Mensch bloßer Spielball zwischen den Mächten ist, wird so erzählend in Hoffnung gewendet: Es ist ein Zur-SpracheKommen, das weiß, dass es jeden Augenblick wieder verstummen kann und doch seine Hoffnung aus diesem einmaligen Augenblick zieht. So kommt auch Lucile am Ende des Dramas Dantons Tod zur Sprache und wird mit diesem Sprechen sofort wieder untergehen. So wird auch Gesine hier Sprache bekommen, die dokumentiert und bezeugt, dass es ihr bedrohtes Geheimnis gegeben hat. Dennoch bleibt der »Hohlraum Luft« ein unsicherer, gefährdeter Ort, ein Ort im Dazwischen und Übergang14 , ein Nicht-Ort15 , den es schon bald nicht mehr geben wird. Wenn man jedoch gerade hier erzählen kann, so muss man sich an diesen Übergängen orientieren. So wird hier mit den Wellen die Erinnerung an die Heimat, die Gesine verlassen hat, angespült: »Die zerplatzende Woge stößt Kinder von den Füßen, wirbelt sie rundum, zerrt sie flach über den graupligen Grund. Der Wind ist flatterig, bei solchem drucklosen Wind ist die Ostsee in ein Plätschern ausgelaufen. Das Wort für die kurzen Wellen der Ostsee ist kabbelig gewesen.« (JT, S. 7)

So setzt die Erzählung mit der Bewegung des Meeres über in die Vergangenheit. Die Sprache der Heimat (»kabbelig«) markiert diesen zeitlichen Übersetzungsvorgang. Die Kinder, so wird beschrieben, haben durch die Wellen keinen festen Boden mehr unter den Füßen, dennoch berühren sie den Grund: Der Boden der Kindheit, das, wovon die Gestaltung und dann Erinnerung eines Lebens ausgehen mag, ist ein Boden, der bedroht ist – von den Füßen geworfen, landen die Kinder zunächst auf einem Grund, von dem auch sie wieder fortgetrieben werden. Das bedrohte Kind, das Ge-

14 | Sabine Offe bezeichnet diese Orte des Überganges als »Transiträume der Erinnerung«. Vgl. Sabine Offe: Transiträume der Erinnerung in Johnsons Jahrestagen, in: Michael Hofmann (Hg.): Johnson-Jahrbuch 12/2005, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2005, S. 79-90. 15 | Vgl. auch Buchteil A, Kap. 3 Zwischen Erinnerung und Gedächtnis, S. 101ff.

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sine ist, deutet sich hier bereits an. Mit dieser Über-Setzung in die Vergangenheit wird erzählt, was gegenwärtig das Geheimnis des Lebens bedroht: »Die Gemeinde hat den breiten Sandstrand abgezäunt und verkauft Fremden den Zutritt für vierzig Dollar je Saison, an den Eingängen lümmeln uniformierte Rentner und suchen die Kleidung der Badegäste nach den Erlaubnisplaketten ab. […] Neger sollen hier nicht Häuser kaufen oder Wohnungen mieten oder liegen in dem weißen grobkörnigen Sand. Auch Juden sind hier nicht erwünscht. Sie ist nicht sicher, ob Juden vor 1933 noch mieten durften in dem Fischerdorf vor Jerichow, sie kann sich nicht erinnern an ein Verbotsschild aus den Jahren danach.« (JT, S. 7, Auslassung durch Verf.)

Die Begrenztheit der gesellschaftlichen Ordnung kontrastiert die Weite des Meeres. Der Strandraum ist bereits kapitalisiert, Fremde sind hier nicht erwünscht. Diese Ordnung erscheint hier als eine gesellschaftliche Kontinuität: Die Diskriminierung der Juden ist es, die das kleine Fischerdorf Jerichow und die Metropole über die Zeiten hinweg als Gemeinsames verbindet. Das Geheimnis in diesem »Hohlraum Luft« erscheint dadurch umso mehr hier als der Grund, Aufgabe und Ziel der Komplizenschaft des Erzählprojektes zugleich. Dabei soll es nicht nur darum gehen, dieses konkrete Leben Gesines als Geheimnis zu schützen, sondern auch die bedrohten und zerstörten Geheimnisse der Anderen zu erinnern, denen der Blick auf die Weite des Meeres durch die gesellschaftlichen Grenzen verwehrt wird. Wenn man hier auf der ersten Seite erkennt, wie bereits eine Übersetzung der Geschichte auf mehreren Ebenen stattfindet, die von dem Spiel der Wellen einen Assoziationsraum öffnet, der die Höhen und Tiefen von Gesines Leben umrahmt und sich mit dem Geheimnis solidarisiert, so ist es bezeichnend, dass die letzten Seiten der vier Bände von Jahrestage in je verschiedener Weise vom Verlust des Geheimnisses sprechen. Es ist zu überlegen, wie es gelingt, trotz dieser Bedrohung das Geheimnis Gesines und damit den Grund des Erzählens selbst bewahren zu können. Was wird aus diesem »Hohlraum Luft« in den letzten Tagen, in die wir Einblick bekommen?

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2.4 L E T Z TE S EITEN : V ERLUST Es scheint mir sinnvoll, die vier letzten Seiten der vier Bände von Jahrestage in Dialog miteinander zu stellen, sie in ihrem Erzählen aufeinander zu beziehen. Denn gemeinsam ist ihnen, dass hier die zentralen Themen von Jahrestage noch einmal aufgegriffen und ineinander verschränkt werden. Damit können sie als gegenseitiger Kommentar gelesen und dialogisch aufeinander bezogen werden.16 In den vier letzten Szenen deutet sich etwas an, was man als eine Genealogie des Verlustes lesen kann; des Verlustes eines lebensweltlichen Geheimnisses, einer besonderen Möglichkeit des Sprechens, einer Übersetzbarkeit. Die letzte Szene des vierten Bandes und die darauffolgende leere Seite spitzen einen Konflikt zu, der in den vorangegangenen Szenen bereits verhandelt wird. Gerade die leere letzte Seite spricht so auf besondere Weise: Sie ist der Höhepunkt eines Verlustszenarios, das sich als Möglichkeit zuvor bereits anbahnt,17 und mehr als dieser. Denn: Die Datierung dieser letzten Seite und die sich anschließende Leere, ich werde mich dieser Frage zu nähern versuchen, geht keineswegs allein in diesem Verlust auf. In den folgenden Überlegungen gehe ich nun chronologisch vor.

16 | Obwohl von dem Autor Johnson drei Bände geplant gewesen sind und so der dritte und vierte Band oft als »ein Band« interpretiert werden, werde ich sie hier in der Betrachtung auseinanderhalten. Denn es scheinen mir auch gerade die Eindrücke, die wir aus der letzten Seite des dritten Bandes mitnehmen können, für die Überlegung relevant. 17 | Dabei schließt sich die hier vorgelegte Interpretation der letzten Seite des vierten Bandes dem Teil der Johnsonforschung an, die davon ausgeht, dass Johnson schon zu Beginn seiner Recherche für dieses Romanprojekt den 20. August 1968 im Blick hatte. Allerdings halte ich diese Frage für die Interpretation eines literarischen Textes nicht für so relevant, wie bestimmte Teile der Johnsonforschung. Der Beweis des Gegenteiles würde auch nichts daran ändern, dass auf der literarischen Ebene die letzten Seiten der vier Bände ineinanderspielen, sich wechselseitig kommentieren. Auch wäre dies für mich kein Beleg für eine »metaphysische Kraft in der Geschichte«, die sich in der Arbeit Johnsons ins Werk zu setzen sucht.

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2.4.1 Der erste Band: verborgen Der erste Band von Jahrestage schließt mit folgender Szene: »Und Marie hatte sich von Mr. Robinson den Fahrstuhl geliehen und fuhr im Hause auf und nieder und wartete darauf, daß die Kabinentüren einmal aufgingen vor Mrs. Cresspahl, für die ich gelte, Mrs. Cresspahl, die da nicht ihr Kind erwartet hat, Gesine, die ich bin für Marie. Einmal wird das Kind aussehen wie ich auf den ersten Blick, aber mögen wird es die Welt auf den zweiten, und nicht einmal sie wird wissen, daß sie zurücklächelt wie Jakob.« (JT, S. 478)

Hier wird der Komplex des Erinnerns explizit mit der Begegnung und der Dimension der Zeit verknüpft. Die Zukunft des Kindes wird in Gesines Augen immer mit ihrer Geschichte verbunden bleiben. Dem Kind ist die Herkunft von Gesine gleichsam »ins Gesicht geschrieben«. Das Lächeln, das an Jakob erinnert, wird jedoch in seiner Bedeutung – seinem Rückverweis auf die Lebensgeschichte – immer Geheimnis bleiben. Auch Marie selbst kann diesen Verweis nicht ganz verstehen, den sie dennoch selbst durch ihr Lächeln möglich werden lässt. Jakob ist der, der selbst vom Verlust des Geheimnisses radikal bedroht gewesen ist, doch dessen Geschichte man nicht ganz aufzuschlüsseln vermag. Es ist zu überlegen, ob das Geheimnisvolle in Jakobs Leben hier nicht nur als Umstand seines Todes verstanden werde kann,18 sondern auch für Gesine Auftrag bleibt: Gerade weil Jakob von einem System bedroht war, das die totale Identifikation der Menschen wollte, und eben auch, weil das Antlitz Maries das nicht aufschlüsselbare Erbe des Vaters trägt, behauptet das »Nicht-Wissen der Welt« von diesem Erbe die Bewahrung des Geheimnisses. Gesine nimmt sich jedoch in dieser Szene selbst als identifizierbar wahr, als »Mrs. Cresspahl«, die sie in ihrem Arbeitsumfeld ist, und als »Gesine«, die sie ist für Marie. Man kann diese Szene also auch als Trauer über einen Verlust lesen, der sich darin zeigt, dass Gesine glaubt, für sich selbst kein Geheimnis mehr behaupten zu können. Sie scheint das Gefühl zu haben, umfassend sichtbar zu sein, sobald sie einen bestimmten Raum betritt, und in diesem vollständig erklärbar zu werden durch die Rolle, die die Konnotation dieses Raumes ihr abverlangt. Die Anonymität des Fahr18 | Vgl. hierzu auch Buchteil A, Kap. 4.4 Tote auf der Strecke: Pius, Jakob und D.E., S. 158ff.

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stuhles, des Überganges von einer Station zur anderen, in der der Fahrende sich dann selbst in einer auf den Raum bezogenen »unbestimmbaren« Identität befindet, wird abrupt unterbrochen, sobald sich die Türe öffnet und der ordnende Blick diesen Menschen zu einem Menschen dieses Raumes macht.19 Gesine scheint es so zu empfinden, dass sie in allen Bereichen des Lebens eine von außen zugeschriebene Identität besitzt, und es scheint erleichternd für sie zu sein, dass sie allein von einem Geheimnis weiß, das ihrer Tochter innewohnt und das der Welt verborgen bleiben wird. Das Erkennen wird damit als etwas gezeigt, das das Dasein in einer Spannung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses hält und es seiner Alterität gerade in dieser Differenz beraubt. Gesine weiß, dass es Marie aufgrund der Beschaffenheit des Sozialen auch bevorstehen wird eine zugeschriebene soziale Identität anzunehmen und in ihr zu agieren. Was wird diese Gesellschaft in Marie erkennen, wie wird diese Welt Marie erinnern? Das ist für Gesine auch eine Auseinandersetzung mit der Frage: Wie werde ich einmal erinnert werden, wie werde ich mich spiegeln in den Augen dieses Kindes, wenn es einmal erwachsen ist? Damit stellt sich für Gesine nicht nur die Frage, was sie ihrem Kind als Erinnerung mitgeben kann, sondern auch, wie sie im Kinde erinnert wird, und welche Erinnerungen dieses Kind auszulösen vermag. Dieser Aspekt der Spur, der hier eröffnet wird, wird zum Ende des zweiten Bandes verdichtet und zunächst einmal anhand einer landschaftlichen Perspektive aufgezeigt.

2.4.2 Der zweite Band: fremd Durch diese Beschreibung wird der Leser in die Landschaft zum Ende des zweiten Bandes mitgenommen: »Der Schmutzdunst macht aus dem Gedränge der Häuser in Queens eine weiche schwingende Landschaft, Waldwiesen und Durchblicke auf einen Bischofmützenturm, wie ich ihn einmal sah von der See her beim Halsen des Bootes, zugestellt, von Bodenfalten und endlich zum Hingehen nahe über der Steilküste.« (JT, S. 1008)

19 | Vgl. hierzu auch Buchteil A, Kap. 3.4 Tropfenfall: der 8. Dezember 1967, S. 119ff.

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In dieser Landschaftsbeschreibung verschwimmt die Industriemetropole mit erinnerter Landschaft und evoziert Bilder von einst. Die Zeichen der konkreten Stadt verwischen und werden für Gesine zu Spuren, die auf den Zusammenhang der eigenen Geschichte verweisen. Fast wie ein »Gegenbild« bricht aus der vom Schmutzdunst vernebelten Landschaft ein Bild der Erinnerung hervor, das von dem »Gedränge der Häuser« zur Weite des Wassers führt. Mit der Einhüllung, aus der Anonymität der Städte heraus, die dann in die Erinnerung überführt wird, wird das dann hervorgeholte Bild der Landschaft zu einem, das in seiner Bedeutung auf Gesine antwortet, während es sie gleichzeitig anzufragen beginnt. Die Entstehung der Landschaft und ihre Bedeutung erscheinen so als ein singuläres Szenario, das auch der Leser nicht ganz begreifen wird. Der letzte Satz der Szene spricht von dem Aspekt des Verlustes: »Ich war lange noch ein Kind« (JT, S. 1008). Einerseits bedeutet dieser Satz: Ich war anders, ich bin auffällig gewesen innerhalb von Konvention, die die Lebenszeit in Phasen aufteilt und diese einem bestimmten Alter zurechnet. Diese Erinnerung bedeutet für Gesine aber auch: Ich bin lange noch bedroht gewesen und habe diese Bedrohung nicht vergessen können. Kindsein bedeutet im Erleben Gesines, um ein Geheimnis betrogen worden zu sein. Die fundamental religiöse Welt der Mutter kennt kein Geheimnis, weil sie einen umfassenden Interpretationsrahmen für alles Geschehene zu setzen versucht und Gesine so, mit einer von Leid geprägten Theologie die Kindheit geraubt hat. Lange noch dieses Kind gewesen zu sein bedeutet, lange noch diesem Leidensdruck wehrlos ausgesetzt gewesen zu sein. Es transportiert aber auch: Ich habe lange noch ein Geheimnis ersehnt. Ein solcher Wunsch entwirft eine Wirklichkeit, in der diese Bedrohung nicht akut ist, in der es Raum für die Spontanität und Kreativität eines Kindes gibt. Denn schon als Kind ist Gesine bewusst, dass ihr etwas genommen worden ist. Die Nähe, die sie zu ihrem Vater Heinrich Cresspahl empfindet, stellt sich zu ihrer Mutter nicht her. Die schwierige Welt der Mutter bleibt ihr zwar in ihren Begründungsmechanismen verschlossen, dennoch kann sie sie nicht naiv oder staunend wie ein Kind erleben; zu überdeutlich ist die von ihr ausgehende Bedrohung gewesen. Die Möglichkeiten, die Mutter zu erleben als jemand, zu dem man Vertrauen haben kann, sind durch die Bedrohung, die sie für das Kind bietet, drastisch eingeschränkt. So weiß Gesine um die Gefahr, Marie dasselbe anzutun, wenn das Kind sie erwartet:

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»Dann werden wir uns begrüßen wie die Fremden, und sie wird mich absuchen nach den Spuren der Arbeit, mir folgen mit den Augen, umsichtig, heimlich heiter, fürsorglich. Als dürfe sie einen Schützling nicht allein lassen. Sie nennt es so: I am keeping a watch on you. – Ick häud. Ich hüte: wie Cresspahl sagen konnte auf Befragen nach solcher Tätigkeit. Ich war noch lange Zeit ein Kind, und so sagte es noch Jakob.« (JT, S. 1008)

Gesine betrachtet hier, wie das Kind sie ansieht und sie absucht nach dem, an dem es nicht beteiligt worden ist. Die Mutter liest in den Augen des Kindes, was dieses zu lesen versucht. Die Mutter trägt Spuren eines fremden Lebens, doch Marie vermag sie aufzunehmen, und Gesine weiß um die besondere Sensibilität ihres Kindes, die auch einmal ihre Sensibilität gewesen ist. Das Kind Gesine ist dem Kind Marie ähnlich in dem Bewusstsein Verantwortung für die Mutter zu haben. Dennoch sagt diese Szene nicht nur etwas aus über die Gefahr, Marie mit einer ähnlichen untragbaren Verantwortung zu beschweren, wie Gesine mit einer solchen einst von ihrer Mutter beschwert worden ist. Die Begegnung »wie die Fremden« kann auf der einen Seite melancholisch, als Teil des Verlustes, gelesen werden. Fremd kann man sich geworden sein im Sinne eines Entfremdungsprozesses. So schreibt Gesine an Jonas Blach: »Wir sind Fremde« (JT, S. 1642) und drückt ihre Enttäuschung aus. Andererseits birgt die Fremdheit auch eine Möglichkeit, die eine Möglichkeit und eine Modalität des In-Beziehung-Stehens zueinander ist.20 Den Anderen in seiner Fremdheit wahrnehmen zu können, heißt, ihn nicht in den Horizont des eigenen Verstehens zu assimilieren. Fremdheit in diesem Sinne ist positiv konnotiert. Sie markiert den Zustand der Freiheit, in dem der Andere nicht nur im Lichte einer Deutung erscheint. Die Anerkennung, dass die sich Begegnenden immer auch Fremde bleiben werden und ihre Begegnung damit selbst dem Geheimnis unterworfen bleibt, nimmt die Bedrohung des Verlustes und öffnet der Begegnung den Raum. Beklagt diese Schlussszene den Verlust der eigenen Kindheit als Verlust des Geheimnisses, so wird hier doch 20 | Ich denke hier auch an das Gedicht »Sprachgitter« von Celan, in dem es an einer Stelle heißt: »[…] Am Lichtsinn/errätst du die Seele./(Wär ich wie du. Wärst du wie ich.)/Standen wir nicht/unter einem Passat?/Wir sind Fremde./« Vgl. Paul Celan: Sprachgitter, in: ders.: Sprachgitter, historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Holger Gehle, 5. Band, 1.Teil, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 32 (Auslassung durch Verf.).

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die Bedingung der Möglichkeit einer Begegnung ohne Bedrohung geschildert. Diese Bedingung scheint mit dem Geheimnis der Begegnung selbst verknüpft zu sein und dem Moment der unüberwindbaren Fremdheit, das ihr innewohnt. Ich komme auf diese Frage zurück. In der Genealogie des Verlustes, wie sie hier für die letzten Seiten aufgezeigt werden soll, ist der Schlussteil des zweiten Bandes gleichzeitig eine Steigerung des Verlustes und ein sich andeutender Entwurf einer anderen Möglichkeit des Daseins. Ich werde noch fragen, wie sich am Schluss der Erzählung dieser Entwurf zur Erzählung selbst verhält. Zum Ende des dritten Bandes, wo das Geheimnis des Lebens weiter entheimlicht wird, wird nicht nur dieser Prozess der Entheimlichung sichtbar, sondern auch die Sichtbarkeit selbst wird deutlich zentrales Motiv.

2.4.3 Der dritte Band: blind Zu Beginn des letzten Tages, der am Ende des dritten Bandes steht, erscheint zuerst ein Blinder vor den Augen der Leser. Ein blinder Bettler wird beschrieben, der seinem Hund einen Eimer mit Wasser bereitgestellt hat. In dieses Wasser werfen »besonders gebildete Passanten« (JT, S. 1382) Münzen, die nicht erkennen können, dass dieses Wasser für den Hund bereitsteht und sich nicht als Aufbewahrung für Münzen eignet. Als eine Art Wunschbrunnen missbrauchen diese gebildeten Menschen den Eimer des Bettlers und erfüllen damit ihren Wunsch: mit rascher Geste gut zu sein. Gesine beobachtet genau, wer in dieser Szene die eigentlich mit Blindheit Geschlagenen sind. Die hastige Wohltat der Passanten wird durch ihr eigenes Verhalten karikiert: Sie sehen nicht genau genug hin. Auch in der Landschaftsbeschreibung an diesem Tag ist die Sichtbarkeit Motiv: »Abends hängt ein Gewitter über dem Fluß fest. Die Blitze machen aus dem Park Schattenrisse, manchmal beleuchten sie nur das jenseitige Ufer mit buntstichigem Weiß. Einige, die ganz kurzen, kaum wahrnehmbaren, ätzen scharfe Risse ins Gehirn.« (JT, S. 1382)

Die Blitze erhellen die Landschaft und verdunkeln sie doch, lassen sie zu Schattenfiguren ihrer selbst werden. Sie ätzen scharfe Risse ins Gehirn, was vermuten lässt, dass sie sich ins Gedächtnis einbrennen, als Spur, die unauslöschlich dort bleiben wird. Und in diesem Sinne erhellen die Blitze

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gleichsam den letzten Eindruck des Tages: »Als Kinder noch bei Gewitter in einer Kornhocke, haben wir gedacht: uns sieht einer. Wir werden alle gesehen.« (JT, S. 1383) Das Gewitter leitet hier zum Komplex der Erinnerung in doppelter Hinsicht über – es erhellt in diesen Zeilen das Versteck der Kinder und weckt in ihnen das bedrohliche Gefühl, überall gesehen zu werden. Auch Lisbeth Cresspahl überfällt in Richmond bei einem Gewitter die Angst, Cresspahl könnte nach ihrem Tod ihre Notizen lesen über das, was sie ihm gegenüber nicht aussprechen kann. Sie wird bei diesem Gewitter »den Gedanken an das Sterben nicht los« (JT, S. 149). So taucht auch in Gesines Kindheitserinnerung das Gewitter in dieser Konstellation von Sichtbarkeit und Angst wieder auf. Es kündigt bedrohlich eine endgültige Aufhellung des Geheimnisses an, die Gesine hier in der Erinnerung durchlebt. Ich habe zu zeigen versucht, wie in diesen letzten Seiten besonders über das Motiv des Sichtbar- und Gesehenwerdens der Verlust eines Geheimnisses beschrieben wird, das sowohl der authentischen Begegnung als auch dem Dasein selbst innezuwohnen scheint. Die Sichtbarkeit wird zum einen mit Blindheit der Sehenden verbunden und zum anderen in die Prozesse der Erinnerung eingebunden. Die erhellenden Blitze sind zwar Teil eines Naturereignisses; dennoch ist das Gefühl der Kinder, durch diese sichtbar zu werden, kein Gefühl, das einem kindlich mythischen Naturverständnis entspringt. Vielmehr ist es ein erstes Bewusstsein, eine Ahnung von einem gesellschaftlich umfassenden Blick, der sich hier andeutet und vor dem es kein Versteck mehr gibt. Nicht umsonst kommt das erhellende Licht (eine zentrale Metapher der Aufklärung) hier nicht durch die Sonne, sondern durch das Gewitter, das schon auf der Ebene des Naturereignisses bedroht. Dieses Leben ohne Möglichkeit des Geheimnisses, ohne Fremdheit zeigt sich hier als Bedrohung der Begegnung. In diesem Sinne hat Gesine ihre Kindheit erleben müssen, vor dem Hintergrund dieser Bedrohung erlebt sie die Gegenwart. In diesen drei Bänden steht das Geheimnis des Daseins in einer Spannung zwischen Leben und Tod, Bedrohung durch umfassende Enthüllung und Widerstand im Verbergen gegen diese.

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2.4.4 Der vierte Band: synchron Die letzten Seiten des vierten Bandes beschreiben die radikale Ausleuchtung des Geheimnisses; sie beschreiben den radikalen Verlust und fragen, inwiefern Dasein – mit einem Wort von Büchners Lenz: »Möglichkeit des Daseins«21 – unter diesen Umständen noch gegeben sein kann. Dem Ende des vierten Bandes ist ein großes Verlusterlebnis vorausgegangen: der Tod D.E.s, der zweiten großen Liebe Gesines, den sie nach Erfüllung ihres Prag-Auftrages zu heiraten geplant hat. Trotz seines Todes hat Gesine die Entscheidung getroffen, den Auftrag in Prag anzunehmen, und ist auf der Reise, die sie um einer Begegnung willen unterbricht. Eine Unterbrechung der Reise nach Prag führt so zum Wiedersehen mit Klieforth, dem geliebten Lehrer, mit dessen Erscheinung schon ein Ende vorausgedeutet wird: »Von vorn gesehen ist Klieforths Kopf schmal, im Profil erscheint vergessene Tiefe« (JT, S.  1888). Klieforth wirkt wie einer, der aus der Zeit gefallen ist, weil er sie nicht mehr versteht und in ihr alleingelassen ist. Als wichtiger Bezugspunkt aus Gesines Vergangenheit fehlt ihm der Zugang zur Gegenwart. Er selbst begreift sich so in erster Linie als Überlebender: »Es ist mehr daher, daß ich von den Überlebenden der Älteste bin. Müßt auf den Friedhof gehen, wollt ich mit jemanden reden.« (JT, S. 1889) Er leidet unter Schmerzen, und es ist sein schmerzvolles Gesicht, das in Gesine eine Erinnerung wachzurufen beginnt: »Einmal hatte ich mich geschnitten, gab Jakob den Fuß in die Hand aus dem Stand. Er sah sich das an, ließ den Fuß abgleiten im selben Rhythmus wie meine Hand auf seine Schulter sich stützte; die Bewegung ging mir durch den Leib ohne einen Schmerz. Ich glaub das geschieht einem im Leben ein einziges Mal.« (JT, S. 1891)

Das hier geschilderte Moment wird in der Anspielung auf Kleists Essay Über das Marionettentheater nicht nur als Utopie gedeutet, sondern auch als ein Erlebnis, das eine Nähe zum Tod aufweist.22 Die schmerzfreie Über21 | Georg Büchner: Lenz, in: ders.: Marburger Ausgabe. Hg. v. Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer, Band 5, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001, S. 37. 22 | Vgl. zu dieser Stelle auch Uwe Neumann: Uwe Johnson und Heinrich von Kleist. Neuigkeiten aus dem Schlußkapitel der Jahrestage, in: Ulrich Fries und

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führung von dem einen in den anderen Zustand, die vollkommene Bewegung ist bei Kleist nur für den Verlust des Lebens, am Ende der Geschichte zu denken.23 Bei Kleist ist es gerade der Junge voll Anmut, der sich an ein vollkommenes Bild erinnert und dann, als er beginnt, unter dem Primat dieser Erinnerung seine Bewegung kontrollier- und wiederholbar zu machen, seine Anmut völlig verliert. Der hier in der Erinnerung Gesines dargestellte synchrone Rhythmus der Körper erinnert an das, was Kleist die »unbewusste Anmutung« nennt. Es ist diese absolute Übereinstimmung zwischen zwei Zuständen, ein Moment vollkommener Harmonie, das von Gesine zu Recht als einmalig erinnert wird; und das in dieser spezifischen Weise der Vollkommenheit auch nur in der Imagination des Erinnerns existieren kann: als Gegenbild zu dem schmerzvollen Gesicht Klieforths. Doch gleichzeitig bleibt durch Klieforth auch das Moment der Todesgefahr präsent. Diese Stelle soll hier jedoch nicht nur vor dem Hintergrund der Kleist’schen Überlegungen betrachtet werden. Vielmehr gibt die dargestellte Synchronität auch einen weiteren Hinweis auf die Frage nach der Übersetzbarkeit des Daseins. Wenn wir diese hier dargestellte Synchronität zweier Zustände als Utopie wahrnehmen und in ihr durch ihre Referenz eine Ferne zum Leben, ja sogar die Bedrohung des Lebens lesen, dann wirkt dies auch auf eine Stelle zurück, wo Gesine selbst eine Aussage über Übersetzung tätigt, in der der Aspekt der Synchronität gerade die zentrale Rolle spielt. Ich möchte die Betrachtung dieser Stelle hier kurz einfügen, weil sie etwas vorwegnimmt, was zum Ende des vierten Bandes zugespitzt wird. An einem Tag sagt Gesine in Bezug auf die Tätigkeit des Dolmetschens zu Marie: »Nein, das Konsekutive ist die Kunst, die Hohe Schule des Dolmetschens à la Konferenz; wenn du eine dreiviertel Stunde lang einen Vortrag so übersetzen und sprechen kannst, als hättest du selber ihn entworfen. Hier hast du einen von mei-

Holger Helbig (Hg.): Johnson-Jahrbuch 7/2000, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2000, S. 197ff. 23 | Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater, in: ders.: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Hg. v. Roland Reuß und Peter Staengle, Band 2/7: Berliner Abendblätter 1, Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Roter Stern 1997, S. 317-319.

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nen verfehlten Berufswünschen: als Mitglied gewählt zu werden in die A.I.I.C., die Association Internationale des Interprétes de Conférences.« 24 (JT, S. 1859)

Die Parallelität zum oben diskutierten Phänomen der Synchronität ergibt sich aus der konsekutiven Übersetzung als utopisches und zugleich bedrohliches Moment. Die konsekutive Übersetzung, deren angestrebtes Ideal absolute Synchronität und Deckung in der Bedeutung ist, ist nicht nur ebenfalls utopisch, sondern sie ist mit derselben Nähe zum Tod behaftet wie die Synchronität der oben dargestellten Bewegung im selben Rhythmus es ist. Sie ist die Übersetzung, die durch den absoluten Anspruch der Treue zum Original das Lebendige vergisst. Denn sie strebt danach, die Differenz aufzuheben und mit dieser Überwindung die ihr eingeschriebene Zeitlichkeit und Alterität zu negieren. Sie sucht nach einem Sinn jenseits der Bedingung der Konstitution von Bedeutung. Ein Geheimnis der Sprache kennt eine solche Übersetzung nicht mehr. Das bedeutet: Ein Text, der vollständig übersetzbar wäre, bräuchte keinen Übersetzer mehr. Er stünde jenseits des Wirklichen als eigene Totalität. Im Sinne seiner Übersetzbarkeit, wie ich sie oben mit den Überlegungen Benjamins entfaltet habe, ist ein solcher Text bedeutungslos. 25 Wir sehen hier, wie das Konzept der Identität über die Ambivalenz des Synchronen ebenfalls kritisch betrachtet wird, aber damit die Möglichkeit der Übersetzung nicht negiert, sondern gerade aus dieser kritischen Betrachtung heraus bewahrt wird. Das Erinnern an die utopische Situation der schmerzfreien Synchronität, das jedoch auf die Unmöglichkeit der Übersetzung verweist, potenziert hier noch einmal in einer gedanklichen Weiterentwicklung den Verlust des Geheimnisses. Es ist kein Zufall, dass Klieforth, der von sich sagt: »das Gedächtnis verhält sich lediglich angemessen« (JT, S. 1891), im Folgenden den Satz Cresspahls zitiert: »Geschichte ist 24 | Diese Stelle ist auch von Moritz Baßler im Zusammenhang mit dem Begriff der Hybridität in dem Sinne interpretiert worden, dass sie gerade nicht das Konsekutive verficht, da Jahrestage selbst eine simultane Mehrsprachigkeit praktiziert, die Baßler auch durch den Gebrauch des Englischen in Jahrestage realisiert sieht. Vgl. Moritz Baßler: Deutsch-englische Hybridbildungen und die Funktion der Marie in Uwe Johnsons Jahrstagen, in: Michael Hofmann (Hg.): Johnson-Jahrbuch 12/2005, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2005, S. 105. 25 | Vgl. auch Buchteil A, Kap. 1 In Übersetzung, S. 27ff.

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ein Entwurf« (JT, S. 1891). Dass diese Auffassung Cresspahls mit Klieforths Worten »dahin ging« (JT, S. 1891), zeigt, dass das Verständnis der Geschichte sich verändert hat. Geschichte wird tendentiell zur dokumentierten und dokumentierbaren Historie, sie entfernt sich von narrativen Entwürfen, die im Zwischenraum und im Anders-Erzählen entstehen. Sie tendiert zu den festgesetzten Planungen einer Machtelite, der Geschichte verfügbar sein will, die über die Treue zum Plan die Wirklichkeit konsekutiv zu erschließen versucht. Wenn Geschichte in diesem Sinne kein Entwurf mehr ist, kann auch Politik nicht mehr Staats-Kunst, sondern nur noch bloße Planexekutierung sein. Diese Geschichte, die aufgrund von Ableitungen geplant wird, die versucht, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und daraus Handeln abzuleiten und somit Synchronität herzustellen, übersetzt die in ihr existierenden Geschichten nicht mehr weiter, sondern übergeht sie in ihrer Potentialität der Bedeutsamkeit. Sie beansprucht, die Geschichten mit einem τέλος der Geschichte selbst zur Deckung bringen zu können. Benjamin hat zu Recht eine solche Geschichte als Teil einer »homogenen und leeren Zeit« bezeichnet und vor der Kurzsichtigkeit eines solchen Verständnisses gewarnt.26 »Geschichte ist ein Entwurf« (JT, S. 1891) – das sind die Worte eines schon nicht mehr ganz im Leben Stehenden, gerichtet an eine junge Übersetzerin, die vor dem entscheidenden Schritt nach Prag steht, die die Dramatik dieser letzten Szene zuspitzen. Denn Klieforths Abschied von dieser Vergangenheit wird in der bevorstehenden Zukunft zur unausweichlichen Realität. Klieforth, der mehrsprachige Melancholiker, scheint bereits wie ein Relikt einer untergegangenen Zeit. Hier wird er zum Propheten des Endes einer entworfenen Geschichte. Mit diesem Bild entlässt uns die Erzählung auf der buchstäblichen Ebene: »Beim Gehen an der See gerieten wir ins Wasser. Rasselnde Kiesel um die Knöchel. Wir hielten einander in den Händen: ein Kind; ein Mann unterwegs an den Ort, wo die Toten sind; und sie, das Kind das ich war.« (JT, S. 1891)

Hier, in diesem letzten Bild, verbinden sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Zukunft jedoch wird nicht von Marie repräsentiert. Sie ist das Kind, das sie innerhalb dieser Situation ist, und wird gedanklich in 26 | Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser, Band 1.2., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 693ff.

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keine andere Ebene überführt. Gesine ist assoziiert mit der Vergangenheit. So wie sich am ersten Tag des Jahres bereits der Bezug zum verwundeten »Kind, das ich war« herstellt, wird er hier ein letztes Mal aufgenommen. Die Zukunft ist repräsentiert durch Klieforth, der sich »unterwegs an den Ort, wo die Toten sind«, befindet. Hier wird noch einmal die oben erwähnte Funktion Klieforths deutlich, die Funktion eines Vorausdeuters auf ein Ende einer Modalität der Geschichte. In der Metaphorik dieser Stelle ist die Zukunft ein Ort ohne Möglichkeit des Lebens, ein Schlusspunkt, nach dem nur noch Leere kommt. Dass die Erinnerungen dem Sterbenden, dem »Knochenmann« Klieforth, übergeben werden (auch ihm hätte Gesine gern einen Mantel gegeben [JT, S. 1890]), lässt diese Szene so wirken, als schlösse sich mit ihr ein Kreis, in dem der Tod das letzte Wort behält. Das, was wir vom Leben noch wissen, ist – so sagt Klieforth –, dass es im Kreislauf »des Werdens und Vergehens« steht (JT, S. 1891). Wieso also noch nach dieser starken Bildlichkeit die letzte, auf den ersten Blick leere Seite? Was vermag sie jetzt noch zu erzählen? Mit ihrer Leere scheint sie zunächst das radikale Ende »Last and Final« (JT, S 1888) all dieser Erzählungen zu setzen, die mit der Hoffnung auf Übersetzbarkeit und Möglichkeit des Geheimnisses begannen. Hier, an diesem Moment des Endes, scheint Übersetzung zunächst nicht mehr möglich, öffnet sich kein solcher Zwischenraum, in dem man sich mit dem Geheimnis seines Lebenszusammenhanges entwerfen kann. Der Einmarsch der Panzer in Prag, der am nächsten Tag folgt, stellt die totale Negation der politischen Hoffnung dar. Die letzte leere Seite wäre dann das Ende der Erzählung aus dem Leben einer Übersetzerin, weil das von ihr markierte Ereignis das Ende der Möglichkeiten ihrer Übersetzungen ist. Den sowjetischen Ideologen zeigt sich ihre Wirklichkeit bereits vollständig und abgeschlossen interpretiert; damit ist sie unterwerfbar im Sinne der eigenen Sache geworden. Diese Welt soll und darf kein Geheimnis mehr besitzen, ein Anders-Erzählen wird ihr verwehrt. Dennoch: Im Beginn von Jahrestage habe ich eine Bezugsmöglichkeit zu Büchners »Fatalismusbrief« gefunden, die sich im Namen »Cresspahl«, im »Schaum auf der Welle« zeigt. Dieser Brief Büchners entstand in der Zeit seiner Arbeit am Revolutionsdrama »Dantons Tod«. Auch hier wird Geschichte im Verhältnis zu den durch sie überwältigten Geschichten geschrieben – Geschichte, an deren Ende die völlige Katastrophe zu stehen scheint. Gewalt und Terror haben die Macht übernommen, das Volk erscheint als gesichtslose, oportunistische Masse, das seine Ideale verrät.

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Dennoch: In der letzten Szene dieses Dramas, mit dem eigenwilligen Zur-Sprache-Kommen Luciles mit ihrem paradoxen Satz: »Es lebe der König«27, ist ein Ausweg aus dem befürchteten Fatalismus gelungen. Denn Lucile bringt einen Satz hervor, der nicht in den historischen Zusammenhang integriert werden kann.28 Für diesen muss er bedeutungslos sein. Es ist ein Satz, der den Rahmen der historischen Referenz sprengt29 und für einen Moment noch die Möglichkeit des Unterbrechens ausspricht, auch wenn seine Sprecherin mit ihm den Tod finden wird. Gesine bekommt keinen solchen letzten Satz mehr; doch die vorgenommene Datierung auf der letzten Seite: »[29. Januar 1968, New York, N.Y – 17. April 1983, Sheerness, Kent.]« (JT, S. 1892) und die anschließende Leere könnten eine ähnliche Unterbrechungsfunktion haben wie dieser letzte Satz von Lucile. Denn wäre diese Datierung nur als zusammenfassende Datierung eines Arbeitsprozesses zu lesen, wäre sie überflüssig und deutlicher abgegrenzt von der Narration. Als Teil der Narration eröffnet sie ein Spannungsverhältnis. Das, was dort datiert wird, der Prozess des empirischen Schreibens des realen Schriftstellers Uwe Johnson, hat die Panzer überdauert. Aber auch das wäre dem Roman gegenüber tautologisch, dessen Existenz das Überdauern ja schon beweist. Die Datierung steht in der Spannung darauf zu verweisen, dass sie erzählend ein Datum überdauert hat, an dem es nun scheinbar nichts mehr zu erzählen gibt; dennoch beweist sie gerade das Erzählen als Möglichkeit in eigenartiger Tautologie noch einmal. Sie fungiert damit als eine Spur, die sich hier bei erster Betrachtung als Hinschreiben auf ein Nichts zu zeigen scheint, dessen Weg durch die Katast-

27 | Georg Büchner: Danton’s Tod, in: ders.: Marburger Ausgabe. Hg. v. Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer, Band 3.2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, S. 81. 28 | In seiner Büchnerpreisrede Der Meridian hat Paul Celan diesen Satz Luciles als »Dichtung« bezeichnet: »Es ist das Gegenwort, es ist das Wort, das den ›Draht‹ zerreißt, das Wort, das sich nicht mehr vor den ›Eckstehern und Paradegäulen der Geschichte‹ bückt, es ist ein Akt der Freiheit. Es ist ein Schritt. […] Das, meine Damen und Herren, hat keinen ein für allemal feststehenden Namen, aber ich glaube, es ist … die Dichtung.« Vgl. Paul Celan: Der Meridian, S. 3f. (Auslassung durch Verf.). 29 | Dank an Nikolaus Müller-Schöll für intensiven Austausch über die Bedeutung bzw. Bedeutungslosigkeit von Luciles Satz.

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rophe doch Sprache geworden ist. Die Sprache wird ausgewiesen als eine durch die Katastrophe markierte Sprache.30 Das Geheimnis, das in dieser Zeit des Schreibens dem Leser zugänglich gemacht werden soll, kann aber an dem durch die sowjetischen Panzer evozierten Ort nicht mehr bewahrt werden, es wendet sich hin zu einem Nicht-Ort, zu einer eigenartigen Utopie. Mit der Datierung über der letzten Seite scheint sich der Text in noch zu bestimmender Weise über sich und seinen hier gesetzten Raum hinaus zu »versprechen«. Oder ist dies doch nur die Markierung des Stand-Ortes des realen Autors, der hier Bürge seiner Zeit ist und damit die Differenz zum Werk absichert, gleichzeitig aber auch die Position seiner Über-Sicht? Fallen dann doch hier Identität und Bedeutung in einer Markierung von Hyper-Jahrestagen zusammen, auf die alle Jahrestage und damit auch Jahrestage zu beziehen sind? Gibt es noch eine andere Möglichkeit? (Oder eine Möglichkeit des Anderen?) Ich komme auf die Möglichkeiten des Lesens, die die Datierung auf der letzten Seite uns bietet, im Rahmen meiner Schlussüberlegungen dieses Teiles zurück.31 Auf den ersten Blick aber versperren die sowjetischen Panzer in Prag die Sicht auf die eigenwillige Signatur. Sie erscheinen unweigerlich am Ende des Erzähltextes, bauen sich vor den Augen der Leser auf. Sie stellen sich einer Öffnung entgegen, damit der utopische Gedanke nicht mehr einzufallen vermag. In diesem Sinne hat der »Prager Frühling« politische und symbolische Bedeutung erlangt und ist in das »kollektive Gedächtnis« eingegangen. Mit ihm sollte eine Öffnung stattfinden zu einem ideologisch noch unbesetzten Raum, der auch um des Geheimnisses willen gesellschaftlich notwendig geworden war. Diese Panzer, die Gesines letzte Hoffnung auf eine andere Gesellschaft überrollen, werden so in ihrem Gedächtnis kaum erträglich sein, und es bleibt zu fragen, ob sie damit – nach ihrer Selbstdefinition – die Möglichkeit, in einer solchen Gesellschaft zu agieren, verliert: »Daß ich nur tu, was ich im Gedächtnis ertrage« (JT, S. 209). Ich möchte die Bedeutung der Panzer jedoch nicht nur in ihrer Zeit, im Sinne der Zeitgeschichte, betrachten, sondern auch auf der Ebene der Zeit, wie sie theoretisch reflektiert werden kann. Die Panzer in Prag stehen – in der Fragestellung nach ihrer zeitlichen Dimension, im Sinne einer 30 | Celan nennt dies in seiner Büchnerpreisrede den »21. Jänner«, der jedem Gedicht eingeschrieben ist. Vgl. Paul Celan: Der Meridian, S. 8. 31 | Vgl. auch Buchteil A, Kap. 5.2 Entwurf und Aufbruch, S. 185ff.

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politisch gefüllten, organisierten Zeit – für den Fortschritt, das Fort-Schreiten eines Unrechtssystems mittels Fortschritt der Technik. So offenbaren sie sich in dieser Referenz gerade als rückschrittig, reaktionär. Es ist wichtig, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass dieses reaktionäre Moment eine Facette des Fortschritts ist. Fortschritt zeigt sich hier ohne Möglichkeit der Rück-Sicht und ist damit ein Rückfall in gesellschaftliche Zustände, die als bereits überwunden geglaubt werden. Diese Zeit garantiert eine Bewegung nach vorn durch das Hinwegschreiten über, das Überrollen des Anderen. Wenn wir den Anderen dennoch in dem »Hohlraum Luft« des Geheimnisses verorten wollen, zeigt sich dann durch sein Erscheinen eine andere Modalität der Zeit?

2.5 V ERTIEFUNG : DAS G EHEIMNIS DES A NDEREN Ich habe vom fortschreitenden Verlust des Geheimnisses des Daseins durch den Fortschritt innerhalb der Gesellschaft gesprochen, der ein Moment des Rückschrittes offenbart. Zum Ende des ersten Kapitels habe ich die Frage aufgeworfen, ob vielleicht eine Analyse des Diskursiven den Blick zu einer »unverstellten« Daseinsanalyse ermöglichen kann. Ist eine solche Analyse des Diskursiven dann nicht die letzte, wichtige Arbeit, die aufgeklärtes Denken sich vornehmen muss? (Ist die Datierung auf der letzten Seite von Jahrestage vielleicht in diesem Sinne zu verstehen?) Um auf diese Frage zurückzukommen, möchte ich zunächst darauf eingehen in welchem Verhältnis Aufklärung und Geheimnis zueinander stehen können. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben in ihrer Analyse von Herrschaftskonstitutionen herausgestellt, dass die Aufklärung angetreten ist, um »von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen«32 . Furcht vor dem Un-heimlichen, das nach Aufklärung nicht mehr das un-heimlich Fremde, sondern das Vertraute, Begreifbare, Eigene werden soll. Nehmen wir dieses Bestreben als Motivation der Aufklärung ernst, dann muss sie sich der Auf-Deckung, der Enthüllung der Welt verpflichten. Adorno und Horkheimer formulieren:

32 | Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.: Fischer 2001, S. 9ff.

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»Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen. […] Aufklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst. […] Es darf überhaupt nichts mehr draußen sein, weil die bloße Vorstellung des Draußen die eigentliche Quelle der Angst ist.« 33

Aus Angst vor dem »Draußen« hat Aufklärung das Subjekt so in eine Position der Herrschaft gesetzt. Herrschaft bedeutet dann: zugesprochene Potentialität, die Wirklichkeit aus diesem Subjekt heraus zu bestimmen, das als ihr Zentrum erscheint, sie in der Ordnung des λογὸς aufgehen zu lassen, als der einzigen Ordnung, die Sinn verheißt. Dies Subjekt benötigt zur Legitimation seines Status ein ihm entgegengesetztes, unterworfenes Objekt, auf das es sein Erkenntnisinteresse richtet und das somit durch den auf es gerichteten Blick und die darauffolgende Benennung performativ als dieses hervorgebracht wird. Doch diese Performativität kann nur dann sich im Objekt als Identität erfüllen, wenn das Subjekt ignoriert, dass es zuvor von etwas affiziert worden ist, was ihm vorläufig ist, was schon da ist und bereits von der Wirklichkeit Zeugnis gibt, bevor Subjektivität es mittels Kategorien von Begriff und Blick reduziert, den Status des Draußen ins Eigene zu assimilieren versucht. Wo das geschieht, dort ist das Entdeckte das Auf-Gedeckte des aufklärenden, enthüllenden Blickes. Dort kann Identität sich erfüllen, ohne Irritation.34 Doch am Lächeln Maries haben wir bereits gesehen, dass dort etwas zum Ausdruck drängt, das die Welt auch »auf den zweiten Blick« nicht erkennen wird und von dem Marie selbst nichts weiß (JT, S. 478).35 Wir sehen die Grenze des aufklärenden Blickes (im Sinne der Enthüllung) auf zwei Ebenen: Einmal in der Vorläufigkeit dessen, das mir begegnet und das auch ich in meinem Dasein trage; weiter in der Transzendenz, die in der Begegnung selbst aufzuscheinen beginnt. Die Vorläufigkeit der Lebenswelt spricht von der Innerweltlichkeit des Daseins, die Dasein prägt. Der Andere spricht noch einmal über diese Innerweltlichkeit als autonome Ganzheit hinaus. Behalten wir diese Grenze im Blick, wenn wir uns 33 | Ebd., S. 19ff. (Auslassung durch Verf.). 34 | Ausführlich gehe ich auf den Zusammenhang von Performanz und Subjektivität in Teil B dieser Arbeit ein, wo ich die Frage nach der Bildung stelle. Hier wird auch die Blick-Richtung in der Begegnung vertieft behandelt. 35 | Vgl. hierzu auch Buchteil A, Kap. 2.4.1 Der erste Band: verborgen, S. 70ff.

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den Überlegungen Martin Heideggers zur Innerweltlichkeit des Daseins widmen. Die Angst vor dem »Draußen«, von der Adorno und Horkheimer sprechen, kehrt, wenn auch unter anderen Vorzeichen, hier zurück. Mit diesen Überlegungen möchte ich dann im Dialog mit Emanuel Lévinas und Jahrestage zu dem Zusammenhang von Geheimnis und Begegnung zurückkehren.36

2.5.1 Inner weltlichkeit Mit einer begrifflichen Trennung von »Zuhandenheit« und »Vorhandenheit« hat Martin Heidegger in Sein und Zeit die Modalitäten beschrieben, in der Welt und Dasein sich begegnen. Dabei liegt sein Fokus auf der Innerweltlichkeit des Daseins. Innerweltlichkeit bedeutet: In der Welt und damit beim und in der Wirklichkeit des Anderen zu sein. Das, was dem Dasein außerhalb seiner selbst begegnet, ist für dieses nicht sofort als etwas Bestimmtes zu erschließen; als Zuhandenes ist es mehr als das, auf das mittels Abstraktion geschlossen werden kann. Das Andere wird als Abstrahiertes verfügbar (vorhanden), gleichwohl es weiter »zuhanden« ist. In dieser Zuhandenheit ist es »unthematisch« anwesend, »leuchtet auf« im Umgang mit Welt und affiziert das Dasein so; Heidegger: »Zuhandenes begegnet innerweltlich. […] Welt ist vorgängig mit allem Begegnenden schon, obzwar unthematisch, entdeckt. Sie kann aber auch in gewissen Weisen des umweltlichen Umganges aufleuchten. Welt ist es, aus der her Zuhandenes zuhanden ist.« 37

Das Dasein findet das Andere also zunächst als Unbestimmtes vor. Dieses Unbestimmte lenkt seine Aufmerksamkeit. Die Zuhandenheit zeigt, dass das zu seiner Vorhandenheit abstrahierte Objekt nur eine hervorgehobene Bedeutung aus der Potentialität seiner Bedeutungen ist. Diese Bedeutung zeigt das Zuhandene in seiner Bewandtnis. Die Bewandtnis ist »je nur ent-

36 | Ich komme auf den Zusammenhang von Aufbruch und Subjekt in Teil B dieser Arbeit zurück, wo ich die zentralen Momente dieser Überlegungen um den Moment des Bildens erweitern werde. 37 | Martin Heidegger: Sein und Zeit. Göttingen: Max Niemeyer 1986, S. 83 (Auslassung durch Verf.).

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deckt auf dem Grunde der Vorentdecktheit einer Bewandtnisganzheit«38. Zu der beschriebenen Innerweltlichkeit des Daseins gehört auch, dass das Mitdasein konstitutiv zum Dasein gehört. Mitdasein bedeutet: Dasein im Gesellschaftlichen, in der Gemeinschaft. Von diesem Mitdasein spricht bereits die Verfasstheit des Zuhandenen, die darauf verweist: »Das verankerte Boot am Strand verweist in seinem An-sich-sein auf einen Bekannten, der damit seine Fahrten unternimmt, aber auch als ›fremdes Boot‹ zeigt es Andere. […] diese ›Dinge‹ begegnen aus der Welt her, in der sie für die Anderen zuhanden sind, welche Welt im vorhinein auch schon immer die meine ist.« 39

Doch während Heidegger den Anderen hier im »fremden Boot« verortet, referiert sein Beispiel aus der Zuhandenheit der eigenen Welt auf den »Häuserbau«, der primär dem Schutz des Daseins geschuldet ist; Heidegger: »[…] mit diesem Zuhandenen, das wir deshalb Hammer nennen, hat es die Bewandtnis beim Hämmern, mit diesem hat es seine Bewandtnis bei Befestigung, mit dieser bei Schutz gegen Unwetter; dieser ›ist‹ um-willen des Unterkommens des Daseins, das heißt, um einer Möglichkeit seines Seins willen.« 40

Bevor ich weiter fragen möchte, warum Heidegger das Dasein ein EigenHeim hämmern lässt und es nicht stattdessen mit dem Anderen im Boot verortet, möchte ich zunächst die Frage stellen: Was bedeutet Dasein im Mitdasein für den von der aufgeklärten Philosophie formulierten Herrschaftsanspruch des Subjektes? Zunächst kann man sagen: Wenn Dasein nicht ohne den Anderen als Seiendes sein kann, dieses Andere aber zunächst »unthematisch« ist, so bleibt die Alterität dem eigenen Dasein eingeschrieben. Dies heißt: Das Dasein spricht nicht nur von seinem Dasein, sondern verweist schon in seinem Sein als Da zunächst über das Selbst hinaus. Dennoch wird in derselben Bewegung, in der das Andere erscheint, es auf die Bedeutung des Selben zurückgeführt; da es möglich ist, das Andere als Teil von mir zu begreifen, also verortet oder verwirklicht zu sehen in der Struktur des Daseins, so sind das Andere und das Fremde 38 | Ebd. S. 85. 39 | Ebd., S. 118 (Auslassung durch Verf.). 40 | Ebd., S. 84.

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in der Identität selbst versöhnt. Der Andere bleibt so Teil des Selben, vor dessen Hintergrund er verstanden wird: »[…] im Seinsverständnis des Daseins liegt schon, weil sein Sein Mitsein ist, das Verständnis Anderer. Dieses Verstehen ist, wie Verstehen überhaupt, nicht eine aus Erkennen erwachsene Kenntnis, sondern eine ursprünglich existentenziale Seinsart, die Erkennen und Kenntnis allererst möglich macht. Das Sichkennen gründet in dem ursprünglich verstehenden Mitsein. Es bewegt sich zunächst gemäß der nächsten Seinsart des mitseienden In-der-Welt-seins im verstehenden Kennen dessen, was das Dasein mit den Anderen umweltlich umsichtig vorfindet und besorgt.« 41

Wenn wir mit Heidegger hier eine Grenze des aufdeckenden Denkens erkennen konnten, so sehen wir doch auch, dass dieses Denken die Grenze nachzeichnet, die es zu durchbrechen versucht, wo ein Denken der ἀρχή des Seins den λόγος abzuwehren versucht. Heidegger erkennt an: Die Wirklichkeit der Welt als In-der-Welt-Sein liegt unthematisch vor dem Dasein. Dort zeigt sie etwas, was außerhalb des Subjektes liegt. Doch die darauffolgende Bewegung ist: Das Dasein bewegt sich durch diese zunächst unthematische Wirklichkeit und findet durch die Bewandtnis einen thematischen Umgang, der der Sorge des Selbst als seiner ursprünglichen Bewegung entspringt. Auch wenn Heidegger betont, dass die »Verklammerung des Verweisungsganzen […] kein Zusammenschweißen einer vorhandenen ›Welt‹ von Objekten mit einem Subjekt [bedeutet, Verf.]«42 , so umklammert die Sorge als Modus der Zeitlichkeit des Daseins diese Umklammerung noch einmal.43 Die Irritation verringert sich, die Sorge beginnt Klarheit, Orientierung zu schaffen. Die Sorge ruft das Dasein zur Übernahme des Selbst, weil dieses Selbst – ich komme darauf zurück – seine unablehnbare Aufgabe (keine Selbst-Aufgabe, sondern Selbst-Bewusstsein) ist.44 Doch was ereignet sich, wenn der Andere in der Lebenswirklichkeit des Subjektes erscheint? Wenn ich den Anderen nicht nur sehe, weil er im 41 | Ebd., S. 123 (Auslassung durch Verf.). 42 | Ebd., S. 192. 43 | Ebd., S. 73ff. 44 | Vgl. auch Buchteil B, Kap. 1 Zwischen Bildung und building, S. 201

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»leeren Boot« sitzen könnte, weil er fehlendes Attribut eines durch das Dasein auf seine Bedeutsamkeit hin Erschlossenes ist, sondern wenn er auf einmal das Haus betritt, das das Dasein sich baut, die Abschottung nach Außen durch die Heim-Suchung des Anderen unterbrochen werden muss? Was ereignet sich im Moment seines Eintretens? Liegt im Wie seines Erscheinens die Grenze der Versöhnung von Alterität in Identität? Im Folgenden möchte ich nun Überlegungen von Emanuel Lévinas zu Jahrestage in dialogische Beziehung stellen.

2.5.2 Begegnung Versuchen wir uns vorzustellen: Der Andere ist nicht mehr der, der auf die eigene Ordnung zurückzuführen ist und so die Bewandtnisganzheit nicht irritiert, während das Dasein sein Eigenheim zwecks Rückzug sich errichtet. Er ist ein Anderer, der von einer ganz anderen Ordnung zu sprechen beginnt. Wie können wir uns das vorstellen? Machen wir uns zunächst noch einmal klar: Was bedeutet es für die Möglichkeiten der Begegnung, wenn das Subjekt versucht, dem Anderen in einer Position zu begegnen, die sich auf die Sicherheit dieser Position als Sicherheit des Bedeutens beruft? In dieser Position kann das Erscheinen des Anderen nur als beunruhigender Einbruch in den eigenen Zusammenhang erlebt werden. Wir sehen, wie hier der Aspekt der Angst wieder ins Spiel kommt, die sich in der Furcht vor dem Anderen als Furcht vor der Möglichkeit des Verlustes der eigenen Autonomie im Sinne einer Deutungshoheit zeigt. Diese Furcht haben wir bereits in der unterstellten »Unheimlichkeit« des Anderen bei der Frage nach dem Geheimnis gesehen: Jemand scheint etwas zu verbergen, was mich bedrohen könnte. Diese in den Anderen projizierte Angst findet ihre Bedingung in den Grundängsten des Menschen,45 die als verdrängte 45 | Paul Tillich nennt in seinen Überlegungen Der Mut zum Sein drei Grundängste, die die menschliche Existenz begleiten: 1. Die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit; 2. Die Angst vor Schuld und Verdammung; 3. Die Angst vor Tod und Nichtexistenz. Diese drei Ängste sind dem menschlichen Dasein nicht immer voll gegenwärtig. Sie sind jedoch unbewusst immer vorhanden, was das Dasein dazu bringt, Strategien des Umganges zu entwickeln. Vor dem Hintergrund der Überlegungen Tillichs würde ich sagen, dass in der Furcht vor dem Anderen als Furcht vor der Möglichkeit des Raubes in gewisser Weise alle drei von Tillich be-

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Grundangst, als Angst vor dem Draußen in der Furcht vor der Möglichkeit des Beraubt-Werdens durch den Anderen, wieder erscheint. Das Erscheinen des Anderen wird so als Einbruch erlebt, der die Möglichkeit des Raubes impliziert. Dies organisiert die Möglichkeiten des Anderen in der eigenen Sphäre bereits im Vorhinein: Begleitet von dem Blick, der ihn zu enthüllen sucht, hat er kaum Möglichkeiten, etwas zu tun, das ihn aus dem entstandenen Bild von ihm befreit. Dieser Zusammenhang von Blick, Bild und Stigma wird deutlich, wenn Gesine merkt, wie die gesellschaftlichen Bilder die Blicke Maries zu lenken beginnen: »Sie erkennt Indianer nun nicht mehr allein an ihrer Gesichtsbildung, auch an ihrem Auftreten ohne Selbstbewußtsein, der verwischten, unsicheren Miene, dem Mangel an Anpassung, der ihnen selbst die Kleider uneben hängen läßt; sie sagt von ihnen ohne Bosheit, im Ton des Feststellens: Vanishing Americans. Verschwindende Amerikaner, als sei es in der Ordnung, daß die ihrer eigenen Hautfarbe überlebten.« (JT, S. 550f)

Der fest-stellende Ton Maries wiederholt das fest-stellende ihres Blickes. Noch sind diese von ihr identifizierten Menschen sichtbar und werden zugleich in dieser Sichtbarkeit verbannt. Zu der Ordnung, die Marie internalisiert und durch ihre Blicke zu reproduzieren scheint gehört, dass sie verschwinden werden. So stirbt auch Martin Luther King unter solchen Blicken, die Stimmen Gesines sprechen es aus: »Weil er ein Neger war. Ob er Gewaltlosigkeit predigte oder Gewalt. Dieser war nun zu sichtbar geworden.« (JT, S. 962) 46 nannten Ängste eine Rolle spielen: Die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit tritt auf, wenn das Eigentum eine sinnstiftende Funktion eingenommen hat. Die Angst vor Schuld und Verdammung zeigt sich als Furcht vor dem Einbrechen-Können im Sinne des Verlassens der eigenen Funktion, sofern man sich dieser umfassend verpflichtet fühlt. Die Angst vor Tod und Nichtexistenz zeigt sich in der Furcht, durch den Anderen so eingenommen zu werden, dass das Dasein selbst keine Möglichkeit mehr hat. Die Abwehr des Anderen kann diese Ängste aber nicht beantworten, sondern verschiebt sie auf weitere mögliche Ebenen der Projektion. Vgl. Paul Tillich: Der Mut zum Sein, Berlin/New York: de Gruyter 1991. 46 | Gesine erkennt auch, wie de Rosny eine »positive Diskriminierung« betreibt, als er eine Mitarbeiterin ehrt, deren Leistungen am Arbeitsplatz eher mangelhaft

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Die »Sichtbarkeit« Martin Luther Kings macht sichtbar, was die Gesellschaft zu verschleiern sucht: Ihre Aversion gegen den Anderen, die Unfähigkeit, mit Alterität gesellschaftlich umzugehen: Wer nicht ins Bild passt, soll nicht mehr erscheinen, sichtbar darf nur sein, was immer schon gesehen worden ist. Angst vor und Aversion gegen den Anderen spiegelt Jahrestage durchgehend: Der Antisemitismus in Jerichow, die von Rassismus geprägte Wohnungspolitik, mit der Gesine schon bei ihrer Ankunft in New York konfrontiert wird, und auch das bleibende Misstrauen Maries gegenüber Francine sind ebenso Produkte dieser Angst, wie es auch die einmarschierenden Panzer in Prag sind. Damit diese in Furcht verwandelte Angst einen Gegenstand hat, um den sie sich ängstigt, muss das Eigene als potentiell Bedrohtes durch den Anderen gedacht werden, als Besitz, der jederzeit der Gefahr des Raubes ausgesetzt ist. So formuliert sich in der vorgeblich entdeckten Unheimlichkeit des Anderen bereits die Furcht, dieser könnte mein Heim zerstören oder besetzen, es un-bewohnbar werden lassen – eben das Eigen-Heim in ein Un-Heim verwandeln. Wenn wir den Anderen jedoch aus dieser Bewegung der Angst – auch in philosophischer Reflexion – hinausnehmen wollen, so kann sein Erscheinen in der eigenen Sphäre nicht als Einbruch gedacht werden, der die Möglichkeit des Beraubt-Werdens impliziert, sondern als Ankunft und Einfall: Ankunft, die die Passivität des Empfangens und das Gewähren der Begegnung verlangt; Einfall, der nicht vom »Einfall der feindlichen Truppen« spricht, sondern der mit dem Moment des Plötzlichen, Neuen, der Singularität des Kreativen oszilliert und insofern durchaus noch den »Einsturz« des Fest-Stehenden, Fest-Gefahrenen enthält; Einfall, weil mit ihm etwas in die eigene Ordnung drängt, das unvertraut, unbestimmt ist, dennoch nicht unheimlich – im Sinne einer unterstellten Gefahr für mein Heim –, aber geheimnisvoll bleibt. Können wir den Anderen nur so denken, ist dies eine Möglichkeit der Entscheidung, also doch Teil einer aktiven Organisation? Wenn wir den Empfang als eine Option der Handlung denken, dann scheint die Möglichkeit des Empfangens noch auf die Frage des Wozus des Auftauchens des Anderen zu antworten. Wozu erscheint er? »Um empfangen zu werden.« Doch zu der Antwort: »Er erscheint, um mich zu berauben«, ist es von einer solchen Frage ausgehend nur ein kleiner Schritt. Den Einfall des Anwaren: »[…] hier wird keine Person geehrt sondern eine Negerin als ein Alibi des Unternehmens […].« (JT, S. 1564, Auslassung durch Verf.).

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deren mit dem Wozu des Empfangs zu beantworten, zeigt sich dann als eine Gefälligkeit des Subjektes, das seine Wirklichkeit in Gefälligkeit organisiert. Die Frage nach dem Wozu zeigt bereits den Willen, die Ankunft des Anderen in die Sinnhaftigkeit der Organisation zu integrieren. Doch ist das Wie der Ankunft nicht schon selbst die radikale Beschränkung dieser Organisation? Aus Jahrestage erfahren wir, dass Cresspahl erschrickt, als er merkt, wie sehr er sich zu Gesines Mutter Lisbeth hingezogen fühlt, »von dem Bild der Person, dass der Herzschlag anzieht, nur bei ihrem Anblick« (JT, S. 86). Schließlich ist sein Kopf »voll von dem Geheimnis, das zwischen ihm und Lisbeth Papenbrock eingerichtet war, für niemand zu sehen als für sie und ihn« (JT, S. 87). Cresspahl – dem selbst nachgesagt wird, er habe etwas »Heimliches an sich« (JT, S. 412) – ist auch derjenige, der im Gespräch mit dem jüdischen Tierarzt Dr. Arthur Semig zugibt, diesem nicht angesehen zu haben, dass er Jude ist, was Semig, der diesen gesellschaftlichen Blick bereits internalisiert zu haben scheint,47 erstaunt: »Aber mein lieber Herr Cresspahl, sehen Sie das nich? Sie wissen doch, man sieht es.« (JT, S. 71). Doch schließlich ist Cresspahl auch derjenige, der die geheime politische Aktivität bei der britischen Abwehr über seine Begegnung mit Kronberg stellt, der dann ums Leben kommt (und dessen Vornamen Cresspahl vergessen musste).48 Die organisierte Geheimaktivität drängt sich dann auch in seiner Geschichte vor das Geheimnis des Anderen.49 Doch wir erinnern uns auch daran, dass Gesine im Lächeln und im Antlitz ihrer Tochter etwas sieht, das der Öffentlichkeit der Welt immer verborgen bleiben wird (JT, S. 478 und S. 1008): Das Antlitz Maries trägt eine Spur von etwas anderem, das dem Wissen der Welt und auch ihr 47 | Hier gibt es eine Ähnlichkeit zwischen Semig und Andri aus Max Frischs Andorra, der auch den gesellschaftlichen Blick auf sich selbst anzuwenden beginnt. Andri: »Man hat mir gesagt, wie sich seinesgleichen bewege, nämlich so und so, und ich bin vor den Spiegel getreten fast jeden Abend. Sie haben Recht: Ich bewege mich so und so.« Vgl. Max Frisch: Andorra. Ein Stück in zwölf Bildern, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 86. 48 | Das Vergessen des Vornamens ist deswegen bezeichnend, weil nach jüdischem Verständnis der Name des Menschen auf das Geheimnis seines Daseins verweist. 49 | Gesine: »Er erklärte mir nach dem Krieg, er habe um dieses Einen willen nicht seine Sache mit den Engländern (gegen die Deutschen) gefährden dürfen. Oft glaubte ich, dies zu verstehen. Ich wünschte sehr, Cresspahl auch hierin zu verstehen.« JT, S. 981.

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selbst entzogen bleibt und doch unwiderruflicher Teil ihres Daseins ist. Es ist eine Spur, die Gesine in ihre Erinnerung führt. Gesine wird von diesem Geheimnis, das sich im Antlitz ihrer Tochter zeigt, affiziert. Ihre Erinnerung an Jakob setzt ein, die Abwesenheit vergrößert sich. Denn auch Jakob ist nicht präsent wie einer, der als Objekt der Erkenntnis zu erschließen ist, und Marie selbst ist ihrem Vater Jakob, den sie nur aus Erzählungen kennt, noch ferner. Das Antlitz Maries steht in der Spannung von Sichtbarkeit dieses Anderen und dessen Entzug. Der, der hier Spuren hinterlassen hat, wird nicht greifbar werden – die Spur, die das Antlitz Maries trägt, ist kein eindeutiges Zeichen, sie will nicht auf Jakob verweisen, wenn sie es für Gesine auch tut. Lévinas formuliert: »Doch wenn sie [die Spur, Verf.] […] als Zeichen genommen wird, dann weist die Spur gegenüber den anderen Zeichen immer noch den folgenden Unterschied auf: sie bedeutet, ohne daß sie die Intention hat, ein Zeichen zu geben, ohne daß sie einen Plan verfolgt.« 50

Die Mehrdeutigkeit der Spur zeigt sich im Antlitz, das die Ordnung der Welt irritiert. Ich werde diesen Zusammenhang noch vertiefen.51 Weiter erfahren wir aus Jahrestage: Gesine hat das Gefühl, ihr Gesicht im buchstäblichen Sinne zu verlieren, wenn der Soziologe Dmitri Weiszand sie anblickt – und mit diesem Blick gerade die Person übersieht. Weiszand, der Opfer des nationalsozialistischen Terrors wurde, beginnt in seiner An-Sicht von Gesine eine strukturelle Gewalt zu wiederholen: »Am Montag lud uns D.W. zu den Tschechen ein, und ich gebe dir recht, immer von neuem verwechselt er die Person mit der staatlichen Herkunft. Für ihn bin ich Deutschland, das vorige und die beiden jetzigen, für ihn habe ich manchmal kein Gesicht am Kopf sondern nationales Pigment, ihm bin ich verantwortlich für die westdeutsche Bundesbahn und für die westdeutschen Nazis.« (JT, S. 145, Hervorhebung durch Verf.)

Weiszand muss »die Person« mit der »staatlichen Herkunft« identifizieren; nur dadurch, dass er die Person ausblendet, kann er das erkennen, 50 | Emanuel Lévinas: Humanismus des anderen Menschen, Felix Meiner 2005, S. 55. 51 | Vgl. auch Buchteil B, Kap. 2.2 Unterbrechung, S. 217ff.

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was er in Gesine als einer Deutschen sehen kann. Nur dann schafft er es, die Ordnung nicht irritieren zu lassen und die Begegnung durch sie zu strukturieren. Wenn der Andere sich aber gerade durch das Antlitz zeigt wie Lévinas sagt, so bedeutet dies nicht: Er zeigt sich hier in der Vollständigkeit seines Bedeutens. Sondern er zeigt sich in seiner Alterität, er verbleibt damit – wie wir es schon an Marie gesehen haben – in der Spannung von Offenbaren und Verbergen, er ist weder völlig offenbar noch völlig verborgen, er ist jenseits des »bi-polaren Spiels von Transzendenz und Immanenz«52 . Somit ist der Andere tatsächlich in der Bewegung des »crest on the waves«, aber nicht in der negativen Konnotation, in der Büchner dies in seinem Fatalismusbrief denkt, sondern in diesem »Hohlraum Luft«, zwischen der Oberfläche und dem Verborgenen.53 Lévinas: »Seine Gegenwart [die Gegenwart des Anderen, Verf.] besteht darin, auf uns zuzukommen, einzutreten. Dies lässt sich so ausdrücken: Das Phänomen, das die Erscheinung des Anderen ist, ist auch Antlitz, oder auch folgendermaßen (um dieses Eintreten, das in jedem Augenblick in der Immanenz und Geschichtlichkeit des Phänomens stattfindet, zu zeigen): Die Epiphanie des Antlitzes ist Heimsuchung. Während das Phänomen bereits Bild ist, Manifestation, die gefangen ist in ihrer plastischen und stummen Form, ist die Epiphanie des Antlitzes lebendig.« 54

Das bedeutet: Das Antlitz manifestiert sich zwar im Gesicht des Gegenübers, doch löst es diese Form zugleich auf. Das, was Lévinas hier beschreibt als »plastische und stumme Form«, und das gleichzeitige Übersteigen derselben, formuliert Gesine in einem Brief an D.E. mit diesen Worten: »Wenn du das Gesicht nimmst, rundum besehen; das Gesicht bin ich nicht. Du siehst einen Raum, normal umgrenzt oder aufgeteilt durch Stirn Augen Mund Nase; darin schon Fortsetzungen Cresspahlscher oder Papenbrockscher Plastik und Knochenform, Nachrichten von Urgroßeltern, Reste von deren Möglichkeiten, 52 | Emanuel Lévinas: Humanismus des anderen Menschen, S. 54. 53 | Vgl. hierzu auch Buchteil A, Kap. 2.3 Erste Seite: Hohlraum, S. 63ff. 54 | Emanuel Lévinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München: Karl Alber 2007, S. 221f.

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die ich nicht kenne. Der Anblick mag merkbar sein, doch nicht zum Verstehen. […] was immer das Gesicht ausdrückt, dich nicht ganz. Nicht dich. Nicht mich.« (JT, S. 864, Auslassung durch Verf.)

Die »Fortsetzungen Cresspahlscher oder Papenbrockscher Plastik« sind die »stumme Form«, die allerdings auch schon »Möglichkeiten, die ich nicht kenne«, birgt. Gesine verdeutlicht, dass das, was als Gesicht erscheint, was zum »Anblick« wird, zwar beschreibbar ist – und doch nicht »zum Verstehen«.55 Der wahrnehmbare Ausdruck des Gesichtes ist Teil der Person – und ist sie doch »nicht ganz«. Von der Deutung des Gesichtsausdruckes auf die Person zu schließen, wird sie zwangsläufig verfehlen. Gesine: »Gesichter werden beschrieben als Ausdrucksflächen. Da täusche ich dich, D.E. Voraussetzen müßtest du fehlerlos schaltende Kommunikationen zwischen Gehirnelektrik und Gesichtsmuskulatur […]. Die Reaktionen eines Gesichts auf Anlässe scheinen wenn nicht verständlich so doch kenntlich mit der Unterstellung: diese Erfahrungen seien den eigenen ähnlich, vergleichbar, wenn nicht die selben doch die gleichen. Der Betrachter identitfiziert sich mit dem Allgemeinen, indem er das Allgemeine wahrnimmt.« (JT, S. 864f., Auslassung durch Verf.)

Der Andere ist nicht der, der aus der Interpretation des Ausdruckes seines Gesichtes herausgedeutet wird, er ist nicht der, der aufgrund von Vergleichbarkeiten und Abstraktionen aus dem Konkreten heraus erschlossen werden kann. Was er fühlt kann nicht aufgrund eines mechanischen Gesetzes rekonstruiert werden, das D.E. hier zu unterstellen scheint. Das Gesicht ist eben mehr als nur »Kunst und Mechanismus«.56 Gesine beschreibt, 55 | Danton zu Julie: »Du hast dunkle Augen und lockiges Haar und einen feinen Teint und sagst immer zu mir: lieber Georg. Aber (er deutet ihr auf die Stirn und Augen) da da, was liegt hinter dem? Geh, wir haben groben Sinne. Einander kennen? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.« Vgl. Georg Büchner: Danton’s Tod, S. 4. 56 | Valerio: »Sehen Sie hier meine Herren und Damen, zwei Personen […]. Nichts als Kunst und Mechanismus, nicht als Pappendeckel und Uhrfedern.« Vgl. Georg Büchner: Leonce und Lena, in: ders.: Marburger Ausgabe. Hg. v. Burghard Dedner unter Mitarbeit von Arnd Beise und Eva-Maria Vering, Band 6, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, S. 121 (Auslassung durch Verf.).

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dass das Gesicht nur dann die Bedeutung der Person erschließbar macht, wenn diese bereits ins Allgemeine verbannt worden ist, das deshalb als allgemeingültig behauptet wird, weil es der eigenen Erfahrung ähnelt. Lévinas formuliert: »Seine Anwesenheit [die Anwesenheit des Anderen, Verf.] besteht darin, sich der Form zu entledigen, die ihn gleichwohl manifestiert.«57 Wie ereignet sich dann die »Heimsuchung«, von der Lévinas spricht? Die Heimsuchung, die eben diesen »normal umgrenzten Raum« zu transzendieren beginnt? Heimsuchung rekurriert auf das Moment des Unheimlichen und des Heimisch-Werden-Wollens zugleich. Wenn jemand sucht, in meiner Sphäre heimisch zu werden, so muss diese für diesen, den ich nicht kenne und vielleicht niemals vollständig kennen werde, geöffnet sein. Bleibt meine Lebenswelt verschlossen, so erscheint die Heimsuchung als Unheimlichkeit; das als bedroht gedachte Heim wird seine Türen verschlossen halten, so wie D.E. die Ordnung seines Hauses »beaufsichtigen lässt von einem Plan« (JT, S. 268), so wie Heidegger den Hausbau des Daseins auf die »Bewandtnisganzheit« zurückführt und die Sorge des Daseins mit der Furcht vor dem Anderen zusammenzufallen scheint. Wenn jedoch der Einfall des Anderen als Heimsuchung gedacht wird, die ein Heim sucht und in diesem die Möglichkeit der Bewahrung seines Geheimnisses, so kann ich auf den Einfall des Anderen nicht mit Reklamation meiner Grenzen, sondern mit dem Versprechen antworten, das Öffnung bedeutet. Inwiefern muss ich Antwort geben – Antwort, weil der Andere spricht, bevor die Sprache sich formt? Sicher, meine Welt macht er sogar dann sprechend, wenn er von ihr abgewiesen wird. Er entlockt ihr ihre Begrenztheit, er macht sprechend, dass er auf die Frage des Wozus antworten soll. Er zeigt die Ordnung und Organisation der vorhanden gemachten Welt. Doch auch er selbst spricht, bevor er zur Sprache kommt. Das Antlitz ist sprechend und Transzendenz der Sprache zugleich. Lévinas: »Das Antlitz spricht. Die Erscheinung des Antlitzes ist die erste Rede.«58 In diesem Sprechen ist es unbedingte Anfrage an mich, der ich nicht ausweichen kann; Lévinas:

57 | Emanuel Lévinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München: Karl Alber 2007, S. 221 (Hervorhebung im Original). 58 | Ebd.

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»Das Antlitz ist Not. Die Nacktheit des Antlitzes ist Not, und in der Direktheit, die auf mich zielt, ist es schon inständiges Flehen. Aber dieses Flehen fordert. In ihm vereinigt sich die Demut mit der Erhabenheit. Und dadurch kündigt sich die ethische Dimension der Heimsuchung an. […] während also das freie Denken »das Selbe« bleibt, nötigt sich das Anlitz mir auf, ohne daß ich gegen seinen Anruf taub sein oder ihn vergessen könnte, d.h. ohne daß ich aufhören könnte, für sein Elend verantwortlich zu sein. Das Bewußtsein hört auf, die erste Stelle einzunehmen.« 59

So kann Gesine die Blicke Francines nicht vergessen und weiß, dass sie die Verpflichtung annehmen muss, die in diesen liegt. Sie wird auf Francine antworten müssen, weil sie von ihr unwiderruflich angefragt worden ist; Gesine: »Diesen Blick erkannte ich wieder. Oft an Nachmittagen um die Zeit, wenn die Arbeitenden hierher zurückkommen, stand an diesem Ausgang dies Mädchen, fast so groß wie Marie, eine ›Gefärbte‹, und sah mich jedes Mal an, als hätte sie mich erwartet, und wandte sofort das Gesicht ab.« (JT, S. 344)

Gesine, die sich dem Blick und der Anfrage nicht entzieht, macht deutlich: In der Begegnung ist Handeln für den Anderen nicht mehr eine Entscheidung des souveränen Subjektes – Handeln für den Anderen liegt bereits vor der Reflexion. Das Antlitz des Anderen hat die Handlung schon herausgefordert, bevor die Reflexion hinzutreten kann, bevor die Sprache sich formt: Rede, die schon stattfindet, bevor etwas ausgesprochen, in sprachliche Zeichen übersetzt worden ist. In diesem Zusammenhang kommt Lévinas auf den Begriff des Verrates zurück, auf den ich bereits in den Reflexionen zur Übersetzung hingewiesen habe. Lévinas: »Die Korrelation von Sagen und Gesagtem, das heißt die Unterordnung des Sagens unter das Gesagte, unter das linguistische System und unter die Ontologie ist der Preis, den die Manifestation verlangt. In der Sprache als Gesagtem läßt sich alles für uns ausdrücken – und sei es um den Preis eines Verrates.« 60 59 | Ebd. S. 222f. (Auslassung durch Verf.). 60 | Emanuel Lévinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München: Karl Alber 1998, S. 30f.

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Das heißt: Lévinas sieht das Gesagte, die Realisation des Sagens in sprachlichen Zeichen bereits als die Bestimmung an, die Verrat zwangsläufig verursachen wird. Verrat, der aber auch über sich hinaus spricht, der verrät, dass ihn etwas markiert, was ihn transzendiert.61 Denn der Andere ist nicht der, der in Sprache übersetzt werden soll, sondern der, der schon immer in meine Sphäre über-gesetzt hat. Mein Antworten ereignet sich durch ihn und wird von nun an durch seinen Einspruch begleitet sein. Beginne ich zu sprechen, so verspreche ich mich also in der Sprache im Sinne eines zwangsläufigen Verfehlens dessen, worauf ich antworten will. »Konsekutives Übersetzen« dessen, was der Andere durch sein Erscheinen bereits sprechen lässt, lässt ihn als Anderen sofort verstummen. Der Begriff des Versprechens beinhaltet jedoch eine Zweideutigkeit, die uns an dieser Stelle interessieren muss. Denn Versprechen besagt auch: ein Versprechen geben im Sinne der Eröffnung einer Möglichkeit des Zukünftigen, die zugleich das Scheitern dieser Möglichkeit voraussetzen muss.62 Wie verspreche ich mich in dieser Bedeutung des Versprechens, wenn der Andere meine Sphäre betritt? Ich verspreche die Möglichkeit des Begegnens (des Sprechens), trotz der dem Versprechen eingeschriebenen möglichen Unmöglichkeit seiner Realisation, und ich verspreche, diese Möglichkeit immer wieder zu geben. Möglich unmöglich ist die Realisation dieses Versprechens, weil ich scheitern kann; möglich unmöglich aber auch, weil dieses Ich, das verspricht, in der evozierten Zukunft nicht mehr dieses sein wird, schon im Moment des 61 | Ludwig Wenzler formuliert: »In allem feststellbaren Gesagten, Formulierten, Ausgedrückten, kurz: im Sichtbaren, spricht ein Sagen oder Bedeuten, das nicht restlos in Gesagtes oder Vorstellbares, in Gegenwart übersetzt werden kann. Dennoch ist es nicht sinnlos oder irrational, sondern es macht überhaupt erst Bedeutung möglich […].« Vgl. Ludwig Wenzler: Menschsein vom Anderen her, in: Emanuel Lévinas: Humanismus des anderen Menschen, S. XVI. (Auslassung durch Verf.). 62 | Jacques Derrida hat darauf hingewiesen, dass das Versprechen von der Möglichkeit seines Nicht-Erfüllen-Könnens gedacht werden muss: »Ein Versprechen muss von der Möglichkeit bedroht sein, gebrochen zu werden oder sich selbst zu brechen, bewusst oder unbewusst. […] Um möglich zu sein, muss ein Versprechen von der Möglichkeit des Verrats oder der Verkehrung ins Schlechte heimgesucht oder bedroht werden.« Vgl. Jacques Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin: Merve 2003, S. 54 (Auslassung durch Verf.).

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Sprechens nicht dieses ist, das sich sprachlich in Beziehung zu diesem ankommenden Anderen hin entwirft – das also das Ich einer erst hier möglich werdenen Un-Übersetzbarkeit wird.63 Möglich unmöglich zeigt sich dieses Versprechen an einem Bruch mit der Identität. Der Einfall des Anderen bringt so den Auf-Bruch des Subjektes64 , den Aufschub von Identität mit sich. In der Genealogie des Geheimnisverlustes, wie ich sie für die letzten Seiten der vier Bände zu zeigen versucht habe, bedeutet eine solche Philosophie, ein Gegen-Entwurf zur Praxis des identifizierenden, aufhellenden Blickes zu sein. Sie spricht von einer anderen Modalität des Daseins, als jene es ist, die die Begegnung unter dem Primat einer Fest-Stellung der Subjektivität und der Bewandtnis für das Dasein zu organisieren sucht. Diese Modalität des Daseins, von der Lévinas spricht, kann sich nicht entwerfen, ohne zuvor ergriffen von dem Anderen zu sein, der erst die Möglichkeit des Entwurfes eröffnet. Der Einfall des Anderen bringt so eine Zeit in die Sphäre des Daseins, die nicht die politisch gesetzte Zeit ist, auch nicht die »Gegenwart der Zukunft«, sondern die »Zukunft, die mich überfällt«,65 die mich zum Anderen auf-brechen lässt; Lévinas: »[…] das Übergreifen der Gegenwart auf die Zukunft ist nicht die Tat eines einsamen Subjektes, sondern das intersubjektive Verhältnis.«66 Das Dasein verlässt das Haus, das es gebaut hat, weil jemand in ihm auftaucht, der es heraus-fordert, der nicht auf die Bewandtnisganzheit des Hauses zurückzuführen ist. Er hat das Heim des Subjektes in seinen Grundfesten erschüttern können. Der Umzug des Hauses der Erzählung beginnt. Findet so die Lebensgeschichte damit im Einfall des Anderen ihren Sinn? In Teil B dieser Überlegungen werde ich näher darauf eingehen, was diese Bewegung, die wir nun im Dialog mit Jahrestage nachvollziehen 63 | Vgl. auch Jacques Derrida: Die Einsprachigkeit des Anderen. Oder die ursprüngliche Prothese. München: Wilhelm Fink 2003, S. 131ff. 64 | »Subjekt« ist hier nicht mehr als das Subjekt der traditionellen Subjekt-Objekt-Relation zu verstehen. Lévinas verwendet selbst den Begriff des Subjektes unabhängig von dieser Relation; in diesem Sinne übernehme ich ihn in meinen Reflexionen mit Lévinas. 65 | Emanuel Lévinas: Die Zeit und der Andere, Hamburg: Felix Meiner 2003, S. 48. 66 | Ebd., S. 51 (Auslassung durch Verf.).

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konnten, für die Bildung der Subjektivität und für den Sinn bedeuten muss.67 Doch bereits hier wird deutlich, dass wir nicht unkritisch eine »narrative Identität« voraussetzen können, sondern versuchen müssen, eine Identität zu denken, die den Bruch offenhält, der sie begründet – eine Narration ohne klaren Ursprung, die sich immer nur in einem geteilten Erzählen vollziehen kann. Damit gehen wir auch nicht mehr von einer Narration im engeren Sinne aus, sondern vielmehr von einer Erzählung innerhalb einer fortwährenden Oszillation mit dem Anderen; einem Entwurf, der zu meiner Ordnung und zur Ordnung des Anderen als ganz andere Ordnung gehört. Als Antwort auf die zum Ende des ersten Kapitels aufgeworfenen Fragen nach der Möglichkeit einer »unverstellten Daseinsanalyse« ergibt sich damit durch die Begegnung mit dem Anderen die Unmöglichkeit einer solchen Rekonstruktion. Der Andere ist es, der auf diese Grenzen verweist, wo er das Gespräch eröffnet. Die Begegnung verlangt Antwort, sie fragt nicht nach Identität. Erinnern wir uns noch mal an den Umbau des Hauses von Marie und die Übergabe des Geschenkes: Das Wegziehen des Tuches, das das von Marie gebaute Haus verhüllt – es könnte den Tod freilegen. Es tut es nicht, weil das Geheimnis in ihm noch eine Bleibe hat.68 Diese Praxis, die entwerfend ist, ist auch, wie wir bereits gesehen haben, in besonderer Weise eine Praxis des Erinnerns und der Arbeit an der Erinnerung. Damit möchte ich von diesen Überlegungen ausgehend zu der Frage des Erinnerns in Jahrestage übergehen. Die Bewegung des Einfalls des Anderen wird uns hier wieder begegnen.

67 | Vgl. auch Buchteil B, Kap. 2.4 Sinn, S. 225ff. 68 | Vgl. hierzu auch Thomas Schmidt: »Beide [Gesine und Marie, Verf.] stellen das Haus fremd, als handle es sich dabei um ein Geheimnis, das nur sie betrifft.« Thomas Schmidt: Der Kalender und die Folgen, S. 283.

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3. Zwischen Erinnerung und Gedächtnis Einen ganzen Tag leben und vergessen; vergeßlich einsetzen in der längst abgetanen Zeit, im Montagsgefühl der Angestellten vor sieben und sieben mal sieben und mal sieben Tagen. (Jahrestage, S. 914)

3.1 L EBEN IN E RINNERUNG Gesine fühlt sich der Geschichte verpflichtet, weil sie weiß, dass sie untrennbar mit ihr verbunden bleibt. Für sie ist Erinnerung an die Geschichte nicht primär eine Frage der politischen Haltung – sie ist eine Frage der Existenz, was besonders in diesem Satz zur Sprache kommt: »[…] ich bin das Kind eines Vaters, der von der planmäßigen Ermordung der Juden gewusst hat« (JT, S. 232, Auslassung durch Verf.). Sie ist diejenige, die »das Vergessen fürchtet« (JT, S. 937). Erinnerung bedeutet: Arbeit des Daseins an seiner Geschichtlichkeit. Arbeit im Sinne einer Aktivität, einer Gestaltung. Diese Gestaltung bezieht sich darauf, die Vergangenheit vor dem Hintergrund des Gegenwärtigen zu modifizieren. Sie kann auf die Frage antworten: »Was bedeutet dies Vergangene heute, in dieser Situation?« Dies ist die Arbeit, in der der Entwurf Geschichte seine Form gewinnt. Doch Arbeit ist sie auch im Sinne einer Passivität, eines Annehmens des Geschehenen. Der Entwurf steht nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum. Wir haben bereits gesehen – und das bringt auch der oben zitierte Satz Gesines zum Ausdruck –, dass man an der Geschichte trägt, die man gestaltet.1

1 | Vgl. auch Buchteil A, Kap. 1.2 Lebens-Geschichte, S. 41ff.

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Aktiv zeigt sich diese Erinnerungsarbeit da, wo das Dasein beginnt, seine zukünftige Vergangenheit zu organisieren; die Gegenwart vor dem Hintergrund ihres potentiellen Vergangen-Seins zu gestalten beginnt. Gesine tut dies, indem sie Tonbänder für ihre Tochter bespricht, denn diese erhofft sich, vielleicht später verstehen zu können, was ihre Mutter in dieser Situation gedacht hat. Gleichzeitig versteht Marie selbst dies als eine Form der Erinnerungsarbeit, wenn sie darum bittet, dass Gesine ihr diese Tonbänder bespricht »Für wenn du tot bist« (JT, S. 151). Dies organisierte Erinnern kann, so wird es in Jahrestage aufgezeigt, als ein Teil des Gedächtnisses bezeichnet werden. Die Möglichkeiten seiner Organisation sind allerdings begrenzt und werden auch in Jahrestage als begrenzt dargestellt: Die Tonbänder jedenfalls werden Marie in der Zukunft nicht mehr zugänglich sein – sie werden in New York noch gestohlen (JT, S. 1667). Aktiv ist die Erinnerungsarbeit auch dort, wo man sich bestimmten gesellschaftlichen Praktiken anschließt, um so die Erinnerung in der Gemeinschaft zu bewältigen: Rituale, das Begehen von Jahrestagen sind Praktiken des Erinnerns, die jedoch zunächst darauf zielen, ein Gedächtnis zu konstituieren und so den Anspruch erheben, die Gegenwart zu transformieren. Diese Arbeit bedarf der Kontinuität einer Gemeinschaft, die die Einsetzung des Rituals durch ihre Traditionen begründet und seine transformatorische Macht bezeugt.2 Wenn ein solches Gedenken von einer Gemeinschaft ausgestaltet, organisiert und gelenkt wird, kann man in der Tat von der Arbeit an einem »kollektiven Gedächtnis« sprechen, obwohl dieser Begriff einige Probleme mit sich bringt.3 Zunächst setzt der 2 | Jan Assmann: »Wer an ihm [dem Kollektivgedächtnis, Verf.] teilhat, bezeugt damit seine Gruppenzugehörigkeit. Es ist deshalb nicht nur raum- und zeit-, sondern auch, wie wir sagen würden: identitätskonkret. Das bedeutet, daß es ausschließlich auf dein Standpunkt einer wirklichen und lebendigen Gruppe bezogen ist.« Vgl. Jan Asmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: Beck 2007, S. 39. 3 | Es bleibt problematisch, ein »kollektives Gedächtnis« vorauszusetzen. Es ist klar, dass ein »kollektives Gedächtnis« das Kollektiv als Körper voraussetzt, was bereits schon Teil einer kollektiven Symbolik ist. Susan Sontag schreibt: »Strenggenommen gibt es kein kollektives Gedächtnis – das Kollektivgedächtnis gehört in die gleiche Familie von Pseudobegriffen wie die Kollektivschuld. Aber es gibt kollektive Unterrichtung.« Dies stimmt, ich würde dennoch nicht das, was durch den Begriff des »kollektiven Gedächtnisses« bezeichnet werden kann, völlig mit

3. Z WISCHEN E RINNERUNG UND G EDÄCHTNIS

Begriff vom »kollektiven Gedächtnis« eine Gemeinschaft voraus, die nicht selbstverständlich gegeben ist, sondern performativ hergestellt wird: Ein Kollektiv definiert sich über Gemeinsamkeiten seiner Mitglieder, die diese beglaubigen, und grenzt sich damit von anderen Gemeinschaften ab. Obwohl auch Jahrestage die Begründung des Kollektives als Gemeinschaft erinnern können, so erinnern sie jedoch nicht, dass sie mit der Form dieses Erinnerns eine potentielle Gewalt wiederholen können. Denn wenn diese Praxis allein dazu dient, die Gemeinschaft etwa in einen Zustand der κάθαρσις zu transformieren, das Ritual gleichwohl Gedenken organisiert, aber nur zum Zwecke der Gemeinschaftskonstitution, so suspendiert die Macht dieser Form die potentielle Möglichkeit eines Erinnerns: etwas Vergangenem, mir nicht mehr Zugänglichem Raum zu geben, Ein-Fall zu ermöglichen. Kollektive Gedächtnisarbeit ist immer auch eine Arbeit an der Zukunft dieses Kollektivs als Kollektiv und erinnert jedoch nicht, warum es in dieser Gestalt zusammentritt.4 Die Konstruktion vom »kollektiven Gedächtnis« zielt auf eine gemeinsame Narration, die Konventionen für die Gegenwart impliziert. Sicher bedeutet das noch nicht, die Narration des Einzelnen zu leugnen. Man könnte so das »kollektive Gedächtnis« als eine in der Gemeinschaft entstehende Gesprächs- und Bewältigungsgrundlage für das Vergangene verstehen. Doch die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass ein Dialog über dieses Vergangene stattfindet, der auch über das Ritual hinaus Bedeutung gewinnt, ist, dass dieses Gemeinsame in die eigene Narration integriert werden kann, dass Sinn sich ins Dasein zu übersetzen vermag. Unterrichtung gleichsetzen. Ich glaube, dass das Verhältnis zwischen dem »kollektiven Gedächtnis« und der Unterrichtung (sowohl im Sinne von Belehrung als auch im Sinne von Erziehung) komplexer ist bzw. dass man die Bedeutung von »Unterrichtung« zunächst diskutieren müsste. Die Schwierigkeit an diesem Punkt ergibt sich m.E. bei der Frage nach dem kollektiven Gedächtnis, wenn es nicht in der Gedächtnisarbeit erscheint. Vgl. Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, Frankfurt a.M.: Fischer 2005, S. 99. 4 | Mit Lévinas kann man sagen, dass dem kollektiven Gedächtnis die Zukunft immer nur als »Gegenwart der Zukunft, nicht als authentische Zukunft« erscheinen kann. Vgl. Emanuel Lévinas: Die Zeit und der Andere, S. 48. Das Ergebnis des Dialoges zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist in der kollektiven Praxis, die dieses Gedächtnis erreichen will, bereits formuliert, ebenso die sich daraus ergebene Möglichkeit der Zukunft des Kollektivs.

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So sind auch Bedeutungsformationen, wie z.B. Symbole, die im Alltag eine Bedeutung haben, Teil des »kollektiven Gedächtnisses«, Teil dessen, was dem Dasein selbst vorgängig ist, was aber erst durch das Dasein in einer Bedeutung hervortreten kann. Eine erklärt pluralistische Gesellschaft geht auf zweifache Weise damit um: Zum einen macht sie deutlich, dass dieses uns Vorgängige das konstitutiv Andere dessen ist, was als »Eigenes« deklariert wird, und nicht völlig in das Eigene assimiliert zu werden vermag. Zum anderen betont sie die Offenheit der Bedeutungen, die eine Erweiterung der Narration um die Bedeutung des Einzelnen ermöglicht. »Kollektives Gedächtnis« vor diesem Hintergrund wäre ein unabgeschlossenes Gedächtnis, das weiß, dass es das ihm Vorläufige nicht mehr ganz einzuholen vermag und die Möglichkeit der Transformation offenhält. Noch mal: Die Grenzen des Gedächtnisses betreffen die Begrenzungen des Kollektivs, auf das dieses Gedächtnis referiert und das es repräsentiert.5 Die Erinnerung dessen, der nicht in diese Kollektivität mit aufgenommen wird, weil diese sich auch auf seiner Exklusion begründet, artikuliert sich nicht. In der Tat wäre zu fragen, inwieweit gesellschaftliche Minderheiten innerhalb eines Kollektivs (das sich eben als »Mehrheitsgesellschaft« definiert) zur Sprache kommen können, wenn in diesem das »kollektive Gedächtnis« als Dispositiv der Wahrnehmung funktioniert. Wie ist dann das Verhältnis des Erinnerns zum »kollektiven Gedächtnis«? Die Erinnerung ist – so werde ich im Dialog mit Jahrestage zeigen – zwar immer partizipatorisch durch die soziale Realität der kollektiven Praktiken des Gedächtnisses an diesen beteiligt; doch es vermag Gedächtniskonstruktionen in Frage zu stellen. Denn das »kollektive Gedächtnis« wird überhaupt erst organisiert, weil eine Vielzahl von Erinnerungen niemals zur Deckung kommen kann. Die »eigene« Erinnerung, die immer auch woanders herkommt, innerhalb der kollektiven, rituellen Praktiken zum Sprechen zu bringen, ist damit ebenfalls eine Arbeit, die von der kollektiven Praxis sogar bedroht werden kann. Auch wenn Gesine in ihrem 5 | In diesem Sinne scheinen mir die »kalte und heiße Option der Erinnerung«, wie Assmann sie in Bezug auf Claude Lévi-Strauss übernimmt, zwei Facetten desselben Phänomens zu sein: Es geht dem Kollektiv mit diesen Optionen als Beziehung zu ihrer Geschichte primär um die Behauptung eines Status quo, ob dessen Selbstverständnis nun ein statisches oder dynamisches ist. Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 68ff.

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Alltag selbst rituelle Praktiken (wie z.B. die Ausflüge auf der South Ferry) vollzieht, so ist ihr die Gefahr des gesellschaftlichen Rituellen bewusst – gerade in solchen Momenten, wo es durch vorgeschobene Individualität seinen Inszenierungscharakter verdeckt. Über das »gemeinsame Absingen von down by the riverside«, das sie als Ritual der Antikriegsbewegung erkennt, sagt sie: »[…] schon beim Dabeisein wär mir die Aussicht auf Erinnerung daran nicht behaglich.« (JT, S. 209, Auslassung durch Verf.) Die hier zusammengetretene Gemeinschaft droht über das rituelle Moment in der gemeinsamen Bewegung den Grund ihrer Zusammenkunft aus den Augen zu verlieren.6 Erinnerungsarbeit ist jedoch nicht nur Arbeit an und mit der Zeit, sondern auch Arbeit an und mit den Orten. So werden Jahrestage, die ein Kollektiv betreffen, an symbolischen Orten begangen, die die Bedeutung des Erinnerten und des Erinnerns autorisieren. Die Autorität eines solchen Ortes kann sich daraus ergeben, dass dies der Ort des Geschehens ist, dessen gedacht wird. Es kann auch der Ort sein, an dem eine Person gewirkt hat, derer gedacht wird.7 Jan Assmann hat in diesem Zusammenhang von »topographischen Texten«, »Mnemotopen« gesprochen.8 Aleida Assmann von dem »Gedächtnis der Orte«.9 Auch wenn die Erinnerung Gesines von 6 | Hans-Georg Soeffner hat mit Blick auf den Zusammenhang von politischer Bewegung und Ritual formuliert: »Die Bewegungen haben kein Programm, sie sind das Programm.« Vgl. Hans-Georg Soeffner: Die Ordnung der Rituale. Die Auslegung des Alltages 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 119 (Hervorhebung im Original). 7 | Die Autorität eines Ortes im kollektiven Gedächtnis kann sich aber aus der ihm zugesprochenen Semantik ergeben, die Teil einer anderen Geschichte, aber somit ebenfalls Teil des »kollektiven Gedächtnisses« ist. Dies geschieht etwa an Orten, die auf eine hinter ihnen stehende Macht einer Institution, wie z.B. der Kirche oder politischen Institutionen, verweisen können. Zur Organisation des »kollektiven Gedächtnisses« gehört also die Versammlung an Orten, deren Bedeutung konventionell geregelt worden ist. Die Erinnerung des Einzelnen dagegen scheint die kollektive Semantik nicht unbedingt zu brauchen, damit ihr der Ort zum Erinnerungsort wird. 8 | Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 60. 9 | Aleida Assmann: »Selbst wenn Orten kein immanentes Gedächtnis innewohnt, so sind sie doch für die Konstruktion kultureller Erinnerungsräume von hervorragender Bedeutung. Nicht nur, daß sie Erinnerung festigen und beglau-

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den Orten evoziert wird, so bleibt sie sich der Problematik eines kollektiven Bedeutens, eines »Erinnerungsraumes« bewusst: Am 1. April 1968 wird ein Brief von Leslie Danzmann aus Jerichow wiedergegeben, in dem Gesine mitgeteilt wird, dass ein Weg und ein Kindergarten nach ihrem Vater benannt werden sollen. In diesem Brief wird deutlich, wie ein solches organisiertes Erinnern nicht vor einem entstellten Geschichtsverständnis schützt: Der Verfasserin des Briefes scheint es bei ihrer Begeisterung für die Ehrung Cresspahls in erster Linie darum zu gehen, dass sie diesen nun berühmt werdenden Heinrich Cresspahl persönlich gekannt hat. Dass sie nun erfahren hat, dass er gegen die Nazis arbeitete, entsetzt sie: »Gesine, du glaubst es nicht. Der Ziegeleiweg soll umbenannt werden. In Cresspahlweg. Und an euer Haus soll eine Tafel, Bronze, und der Kindergarten, den sie darin untergebracht haben, der soll Heinrich-Cresspahl-Kindergarten heißen. In deinen Zeitungen steht wohl nicht, wie es hier zugeht. Es geht so zu, dass die Sowjetunion ihren Richard Sorge ausgeliefert hat. Solche heißen aber nicht Spione, sondern Kundschafter. Nun muß die DDR auch ihre Kundschafter haben. Und Cresspahl soll einer gewesen sein. Nicht für die Sowjets, das ginge doch übers Bohnenlied; aber für die Engländer gegen die Nazis eben. Gesine, ist das die Möglichkeit? Kind, ich kann das nicht mal in Gedanken aushalten! Gesine, schreib gleich es ist nicht wahr.« (JT, S. 944)

Die Begeisterung, die das geplante, organisierte Erinnern an Heinrich Cresspahl im Zusammenhang mit dem hier offensichtlich werdenden Geschichtsbewusstsein auslöst, macht deutlich, dass Cresspahl im Gedächtnis dieser Frau für eine Privatideologie steht. Die Geschichte Cresspahls im Zusammenhang zur Zeitgeschichte will sie nicht näher kennen. Die leichtfertige Gleichsetzung der politischen Systeme zeigt, dass sie die Tätigkeit Cresspahls nicht begriffen hat. Daran werden auch ein Weg und ein Kindergarten mit seinem Namen nichts verändern.10 Leslie Danzmann hat bigen, indem sie sie lokal im Boden verankern, sie verkörpern auch eine Kontinuität der Dauer, die die vergleichsweise kurzphasige Erinnerung von Individuen, Epochen und auch Kulturen, die in Artefakten konkretisiert ist, übersteigt.« Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: Beck 2011, S. 299. 10 | Nicht zufällig schließt sich an diesen Brief eine Schilderung über die »Justiz in Mecklenburg während des Nazikrieges« (JT, S. 945) an. 31 Lebensgeschichten

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das Haus Cresspahls in ihrem Gedächtnis bereits zugebaut und sich mit ihren Erinnerungen dort eingerichtet. In Jahrestage ist es auffällig, dass es dagegen keine gesetzten, autorisierten Orte, sondern gerade oft Orte des Überganges, im weitesten Sinne Heterotopien11 bzw. Nicht-Orte12 sind, die bei Gesine eine bestimmte Erinnerung auslösen, so wie schon der Grund der Erzählung selbst sich in einem Zwischenraum (Hohlraum Luft) öffnet, der zugleich die Möglichkeit und Gefahr seiner Situierung zeigt. Die semantische Potentialität dieser Orte13 scheint auf eine besondere Weise mit der Möglichkeit des Erinnerns verknüpft. In den folgenden Tagen, die ich zur Analyse ausgewählt habe, möchte ich der Spur auf der Spur sein als dem Phänomen zwischen Gedächtnis und Erinnerung, als Übersetzungspunkt zwischen den Zeiten, das uns gleichzeitig – wie wir gesehen haben – über die Frage nach der Bedeutsamkeit der Spur wieder mit der Frage nach dem Anderen verknüpft. Ich beginne mit einem Tag, an dem die Spur als bedrohte Spur erscheint.

3.2 S PURLOSIGKEIT : DER 7. S EP TEMBER 1967 Gesines hat ein ambivalentes Verhältnis zum Leben. Die Ambivalenz dem Leben gegenüber konstituiert sich nicht allein aus der Situation in New York, sondern ist wesentlicher Teil von Gesines Geschichte.14 Dennoch werden hier benannt; 31 Namen, die bis auf den Namen Marianne Grunthals (JT, S. 949ff.) nicht in das organisierte Gedächtnis eingehen werden. 11 | Vgl. zum Begriff der Heterotopie: Michel Foucault: Die Heterotopien. Der utopische Körper, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. 12 | Mit dem Begriff Nicht-Ort schließe ich mich den Reflexionen Augés an, der ihn sowohl für die empirische Realität eines Ortes mit der Funktion des Durchquerens verwendet als auch für die soziale Realität, die dieser Raum hervorbringt, mit diesem Begriff beschreibt. Vgl. Marc Augé: Nicht-Orte, München: Beck 2010. 13 | Weswegen auch hier der Ort, dessen Bedeutung durch die Organisation des Gedächtnisses gesetzt ist, wieder in die Bewegtheit des Raumes kippt. Siehe auch Anm. 32, S. 48. 14 | Vgl. hierzu die Ausführungen von Ulrich Krellner in: »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 224ff.

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scheint New York als urbaner Raum die Ambivalenz zu verstärken. Die »Lebensfreude«, die einer pulsierenden Metropole zugesprochen wird, bringt Gesine nicht zum Ausdruck, wenn sie von ihr Zeugnis gibt. Dies zeigt sich auch an der Schilderung ihres Arbeitsalltages in New York, der deswegen nicht spurlos an ihr vorübergeht, weil er gerade die Möglichkeit der Spur bedroht. Zeit hinterlässt unweigerlich Spuren, mit denen das Dasein konfrontiert ist, die das Dasein hinterlässt. Bei der Schilderung New Yorks wird deutlich, dass hier nicht die Menschen, die die Stadt durchqueren, in ihr Spuren hinterlassen, sondern dass die Wirklichkeit des Urbanen Spuren in den Bewegungen der Körper hinterlässt. So erkennt man an Gesines Weg zur Arbeit, wie die Enge, die sie auf ihrem Weg erlebt, die Bewegung des Körpers bestimmt: »Auf den Stufen des Niedergangs, deren stählerner Belag links stärker abgetreten sind, müssen die Schritte kurz treten. Es ist zweckmäßig, die UBahnmünze schon fünf Schritte vor den Drehkreuzen zwischen Daumen und Zeigefinger zu halten. Nach dem Weg unter dem Bummelzuggleis hindurch auf den Südbahnsteig hält die erste Tür des letzten Wagens anderthalb Schritt vom Treppengeländer. Der Zug ist durch Harlem passiert, die Bänke sind stramm besetzt mit Schlafenden von dunkler Haut. Die New York Times muß gefaltet werden in den verbliebenen Sekunden vor dem Ruck der Abfahrt, bevor der Fahrgast sich an dem Haltegriff oberhalb jeden Sitzplatzes gegen das Schlingern des Zuges sichert.« (JT, S. 59f)

Die Wahrnehmung der Treppe als »Niedergang« spricht bereits von dem Gefühl eines untergehenden Ichs, eines unaufhaltsamen Abstieges. Der Körper muss sich seinen Platz in diesem Raum erkämpfen; ihm wird so seine Beschaffenheit schon durch die Begrenzung eingeschrieben. Der Körper trägt die Spuren des ihm aufgezwängten Bewegungsmusters. In diesem Sinne bewegt sich hier kein autonomer Körper, sondern er ist der Performanz des Urbanen unterworfen, während er als konkreter Körper gleichzeitig mit an der ständigen Aktualisierung dieser Performanz beteiligt ist.15 Die hier beschriebene Stadt ist nicht nur ein Raum, der durch15 | Auf einer rein deskriptiven Ebene würde ich bei diesem Phänomen von einem Aspekt von »sozialer Choreographie« sprechen, als »Ordnung von Raum Körper und Bewegung«. Vgl. hierzu Gabriele Klein: Das Soziale choreographieren. Tanz im öffentlichen Raum, in: Ästhetik und Kommunikation. Heft 146, 40. Jahr-

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quert werden muss; sie ist Teil der Ökonomie der Zeit. Dies zeigt der Text auch dort, wo sich in die Beschreibung der Organisation von Bewegung bruchlos Nachrichten aus der Ökonomie mischen: »Die Regierung findet ihre Voraussage von einer starken ökonomischen Expansion bestätigt; die Regierung meldet überzeugende Beweise für eine Zunahme inflationärer Tendenzen. Morgens sind die Gänge und Treppen unterhalb des Times Squares mit Ketten und von Bahnpolizei in Kanäle aufgeteilt für die Gehströme zwischen den vier Linien; unter den drei Bahnsteigen des automatischen Pendelzuges zum Bahnhof Grand Central gilt der mittlere als der günstigste.« (JT, S. 60)

Der Widerspruch der ökonomischen Meldungen wird durch den Bewegungsfluss aufgelöst: Hier geschieht Expansion (im Sinne von Masse) und Inflation (im Sinne von Abwertung) in einem. Die Person hat keine Bedeutung im Durchqueren; und für sie selbst wird das, was sie durchquert und wahrnimmt, ebenfalls bedeutungslos. Denn obwohl Gesine bis zu ihrer Ankunft am Arbeitsplatz um die »siebenhundert Gesichter« gesehen hat, hat sie keines genau wahrgenommen und hat sie spätestens mit dem Eintritt in die Bank völlig vergessen (JT, S. 60). So kann der Einzelne, indem er eben vereinzelt bleibt, sich gegenüber der Masse als Subjekt wahrnehmen, das so wenig mit den Anderen beschäftigt ist wie diese mit ihm. Subjektivität und Gleichschaltung ist das Paradox, das die Ökonomie der Zeit im Durchqueren des Stadtraumes vereint; die geforderte Integration in die Bewegung ermöglicht das sofortige Vergessen dieser Paradoxie.16 Das Agieren innerhalb der Durchquerungssituation ist dem gang, Berlin 2009, S. 29; eine weitere Facette dessen, was Klein »soziale Choreographie« nennt, wird sicher auch an der in Jahrestage geschilderten rituellsymbolischen Praxis des Staatsbegräbnisses sichtbar. Vgl. hierzu auch Buchteil A, Kap. 4.1 Der Tod lebt, S. 141ff. 16 | Jürgen Funke-Wienecke formuliert: »Die gesamte Architektur der Gänge, Gehwege, Treppenhäuser, Straßen, ihr glatter, fester Belag, ihre geometrische Ausrichtung, die vor allem die geradlinige, direkte Bewegungsrichtung vorgibt, kommt mir nun vor, als sei sie, was auch immer die Erbauer selbst ausdrücklich beabsichtigen, in der sich anonym durchsetzenden Tendenz der Zeit gerade genau dazu angelegt: Dass der Bewegungsraum als widerstandsloses Feld traumwandlerisch durchlaufen werden kann, weil es auf ihn nicht ankommt, sondern auf ein ungestörtes Zentriert-bleiben-Können im Horizont des Handlungsraumes,

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situativen Subjekt in der Masse nicht zugänglich. Das, was hier beschrieben wird, kann als Erkenntnis dieses Subjektes paradoxerweise immer nur Teil seiner Erinnerung sein. Jürgen Funke-Wieneke formuliert zu Bewegungen im Stadtraum: »Denn abgesehen von meinem situativen Bewegungsengagement, zu dem ich genötigt bin, liegt der Mittelpunkt meiner Welt ganz woanders, ist der Horizont meines Handelns nicht identisch mit dem Horizont meines Wahrnehmens.« 17

Gegenüber den hier geschilderten Bewegungen behauptet gerade wegen dieser Bewegungen der Text sich als zukünftige Erinnerung; das, was er ausspricht, kann synchron zu den geschilderten Bewegungen nicht existieren. Die geschilderte Situation in der U-Bahn kann so auch die Trennungen innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung sichtbar werden lassen: Die »Schlafenden mit dunkler Haut«, die in Harlem zusteigen, werden erst ab dieser Station im Stadtbild sichtbar, fallen deswegen auf. Weil dies aber auch zum »Ablauf« dazugehört, wiederkehrender Eindruck an dieser Stelle ist, irritiert es die Ordnung des Situativen nicht. Die soziale Ordnung zeigt sich auch an Gesines Arbeitsplatz und strukturiert ihren ersten Small Talk, dessen Geschwindigkeit und Inhaltsleere Gesine noch immer befremdet; nur unter dem Schutz eines antrainierten Lächelns kann sie ihn ausführen, wenn ihr auch das Maskenhaft-Inszenierte ihres eigenen Gesichtes in diesem Moment bewusst bleibt: »Jetzt beginnt das Lächeln. Sie hat es gelernt. […] von diesem Lächeln fühlt sie sich gedeckt und putzt es auf bis ins Ausgelassene.« (JT, S.  60, Auslassung durch Verf.) Der städtische Raum und der in ihm stehende Bürokomplex besitzen die Macht, sich in die Verhaltensweisen der Menschen einzuschreiben, diese zu normieren, während die Menschen sie wie spurlos durchqueren. Was bedeutet diese Spurlosigkeit? Was sagt das über einen Raum? Wenn Spuren verwischt bzw. manipuliert werden, so soll ein Bedeutungszusammenhang unleserlich gemacht werden; so wird eine Hinterlassenschaft des Gewesenen entweder nicht mehr lesbar sein oder in der die Existenzweise des Städters bestimmt.« Vgl. Jürgen Funke-Wieneke: Sich Bewegen in der Stadt. Eine Besichtigung mit Maurice Merleau-Ponty, in: Jürgen Funke-Wieneke und Gabriele Klein (Hg.): Bewegungsraum und Stadtkultur. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld: transcript 2008, S. 83. 17 | Ebd.

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der Potentialität ihres Bedeutens manipuliert. Dies setzt die Möglichkeit einer Identifizierung der Spur als Spur für dieses Identifizierte voraus. Die Manipulation gelingt nur dann, wenn eine hinzutretende Semantik – etwa die des Raumes – diese Identifizierung absichern kann, so dass eine Lesart sich förmlich »aufzudrängen« beginnt. Dennoch trägt die manipulierte Spur auch noch die Spur der Manipulation. Wenn Spuren-Hinterlassen überhaupt nicht möglich ist, ist Dasein selbst nicht vorgesehen. Eine in diesem Sinne spurlose Gesellschaft ist leblos, steril. Eine spurlose Gesellschaft verweigert sich der Polysemie, weil sie ein Für-Sich-Stehen und Aus-sich-selbst-heraus-Bedeuten beansprucht, ein Fest-Stehen in totaler Identität, die sich hier gereade nicht durch Stillstand, sondern durch die Geschwindigkeit produziert. Sie fürchtet nicht primär die Spur, sondern die Anfrage, die aus ihr spricht. Wenn die Spuren Bürgen einer Unverwechselbarkeit des Daseins, einer singulären Anwesenheit sind, die in ihrer Komplexität nicht mehr entschlüsselt werden können, so ist es bezeichnend, dass auch Gesines eigener Büroraum als einer geschildert wird, der sich von ihr nicht prägen lässt: »Neben ihrer Zelle ist ein Schild aus braunem Kunststoff angebracht, auswechselbar in einer Schiene, mit dem Namen ›Miss Cresspahl‹ in weißer Einprägung.« (JT, S. 61) Der Begriff »Zelle« lässt den Arbeitsplatz zum Gefängnis werden und weitet dieses Gefängnis auf die Gesellschaft aus. Die Zelle wird Pars pro Toto des funktionierenden »Organismus« Gesellschaft, der in diesen Zellen sein Fortkommen organisiert. Die problemlose Auswechselbarkeit von Gesines Namensschild zeigt die Unpersönlichkeit dieses bloß funktional eingerichteten Arbeitsplatzes, an dem jeder sitzen könnte und jeder dieser Austauschbarkeit unterworfen bleibt. Obwohl sie an ihrem Arbeitsplatz mit Übersetzungen zu tun hat, vermag sie diesen nicht in ihre Person zu übersetzen. Dies zeigt den Gegenstand ihres Übersetzens als einen, der davon ausgeht, Interpretationen nicht unbedingt zu brauchen. Somit zeigt sich die ökonomische Kommunikation als eine, die die Identität erst produziert, mit der sie sich dann austauschen kann. Ökonomische Kommunikation ist dann kein Gespräch im Sinne einer Begegnung, sondern ein Gespräch, das seine Selbstbestätigung organisiert. In der Metaphorik des Hauses, die ja in οἰκονόμος mitgegeben ist, kann man sagen: Die Ökonomie konstruiert die Bewohner dieses Hauses nach ihren Gesetzen gleich mit. Die Zeit an diesem Arbeitsplatz verrinnt als leere Zeit, der dieser Tag nur zufällig zugeordnet ist:

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»Während die Angestellte Cresspahl die Post aus der Eingangsschale auf dem Schreibtisch von Mrs. Williams nimmt, sieht sie durch ihre offene Tür auf die von blauem Mattglas eingefassten Jalousiestreifen des Gebäudes gegenüber, auf den Spiegel, in dem dieser Tag bis zum Dunkelwerden einstürzen wird ohne eine Spur.« (JT, S. 61)

Das hier beschriebene Gebäude, das gegenüber vom Bankgebäude steht, wird architektonisch diesem ähnlich sein. Der Tag, der – in der Bildlichkeit der Szene – in ein Fenster (das hier der Spiegel ist) einstürzen wird, hinterlässt keine Spuren, weil er an der Verfassung der Stadt abgleitet. In diesem Abschnitt verknüpft sich ein bestimmtes Lebensgefühl von Gesine mit der Verfassung einer Stadt, in deren Fassaden sich nichts mehr zu spiegeln vermag. Die Stadt scheint dies aber auch nicht zu brauchen, um als diese Stadt erscheinen zu können. Die Architektur bestätigt (und aktualisiert im Arbeitsprozess) so das ordnende Machtsystem, das hinter ihr steht. Die Stadt ist architektonisch so konzipiert, dass sie zur Organisation des Vergessens (der Anderen) gehört, das wir als Bedrohung der Lebensgeschichte ausgemacht haben.18 Der Apparat Gesellschaft suggeriert Teilnahmslosigkeit, wo Dasein doch gerade nicht gleichgültig ist, sondern erst als Gleich-Organisiertes hervorgebracht werden soll, was dann auffällt, wenn die Erinnerung die Spurlosigkeit aufdecken kann. Es ist kein Zufall, dass genau an dieser Stelle, wo das Leben in der Spurlosigkeit zu versinken droht, in der Erzählung am Folgetag sich eine Begegnung anschließt, die man als Kernreferenz auf die Problematik von Erinnern und Gedächtnis lesen kann.

18 | Axel Dunker zu dem Zusammenhang von Stadt, Erinnerung und Erzählung in Jahrestage: »Die Stadt New York verdeckt die Vergangenheit. […] Wegen dieser Verdeckung oder Überlagerung, die zugleich eine zeitliche und räumliche Verschiebung ist, muss die Vergangenheit erzählt, d.h. imaginiert werden.« Vgl. Axel Dunker: Gedächtnis-Strukturen. Zur Poetik der Memoria in Uwe Johnsons Roman Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, in: Michael Hofmann (Hg.): Johnson-Jahrbuch 13/2006, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2006, S. 161 (Auslassung durch Verf.).

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3.3 S TREIK : DER 8. S EP TEMBER 1967 Am 8. September wird eine Begegnung Gesines mit ihrem Arbeitskollegen James Shuldiner geschildert. Offensichtlich nehmen die beiden Kollegen einen Bericht der New York Times über einen Streik zur Kenntnis. Dies löst bei Gesine Erinnerungen aus – sowohl an die Geschichte als auch an ein traumatisches Ereignis ihrer Kindheit, bei dem sie in eine Wassertonne fiel: »Vor dreißig Jahren fiel ein Kind von Cresspahl in die Regentonne hinter seinem Haus.« (JT, S.  62) Gesine erinnert das Kind, das buchstäblich »in den Brunnen gefallen ist« – und es wird deutlich, dass es in der Tat zu spät ist, diesen Brunnen (als Wunde) zu verschließen.19 Mr. Shuldiner bemerkt daraufhin: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!«20 Er selbst wird diese Situation im Gedächtnis behalten und Marie mit Gesines Geschichte konfrontieren, so dass Gesine auch ihrer Tochter die Geschichte erzählt (JT, S. 615ff.). Zunächst wird mit 19 | Über eine Verbindung zwischen dem Sprichwort vom in den Brunnen gefallenen Kind und der wiederholten Erinnerung Gesines an ihr Fallen in die Regentonne, als Trauma in ihrer Geschichte, stellt sich für mich an dieser Stelle auch eine Assoziation zu Thomas Mann ein. Der erste Satz in Joseph und seine Brüder lautet: »Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.« Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. 4 Bände, Band 1: Die Geschichten Jaakobs, in: ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe, Hg. v. Peter de Mendelssohn, Band 9, Frankfurt a.M.: Fischer 1983, S. 9. Greg Bond weist eine interessante Verbindung zwischen diesem Satz und Johnsons Heute Neunzig Jahr nach. Vgl. hierzu Greg Bond: »Der Brunnen der Vergangenheit«: Historical Narration in Uwe Johnson’s Heute Neunzig Jahr and Thomas Mann’s Joseph und seine Brüder, in: German Life and Letters 52:1 January 1999, S. 67-84. 20 | Die Interpretation von Thomas Schmidt zu dieser Stelle teile ich nicht. Schmidt sieht in dieser Passage eine »kontrastive Thematisierung« des »jüdischen Gedächtnisparadigmas«. Zwar ist es richtig – und das ist auch der Ansatz meiner Arbeit –, dass Jahrestage nicht für ein ausschließlich kollektives Gedächtnis plädiert, sondern dieses gerade als Konstruiertes aufzuzeigen versucht. Die Erinnerungsarbeit im Judentum ist allerdings auch nicht allein einem Kollektiv überantwortet, sondern übersetzt sich in die Lebenswelt des Einzelnen als Modalität des Begegnens, in der die Aktualisierung kollektiver Geschichte sich vollzieht. Vgl. Thomas Schmidt: Der Kalender und die Folgen, S. 304f. Vgl. auch Kap. Einblick in den Forschungsdialog zu Jahrestage, S. 9ff.

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Mr. Shuldiners Bemerkung explizit auf eine Genderfrage angespielt: Das Gedächtnis der Geschichte und der Geschichtsschreibung formuliert sich hier als ein männliches Gedächtnis, das in den agierenden Männern der Geschichte seine Bestätigung zu finden sucht. Geschichte wird weitestgehend von weißen Männern dominiert und auch als ihre Erfolgsgeschichte geschrieben. Weiter behauptet dieser Satz aber eine Dekonstruktion dieser Macht des männlichen Gedächtnisses, indem er dieses Gedächtnis gerade als ein Konstruiertes zeigt. Denn wenn wir zunächst diesen Begriff ungeachtet seiner auf binären Prinzipien beruhenden Konstitution reflektieren, so lässt sich sagen, dass ein Klischee von »Männlichkeit« die Fähigkeit zur Organisation und Übersicht über die Dinge ist, die Herrschaft ermöglicht. Aber Gesine spricht mit ihrer Erinnerung an die bedrohte Kindheit ja gerade nicht diese Dinge aus, die sich abgeklärt aus der Distanz betrachten ließen. Gesine hat also gerade kein solches »männliches Gedächtnis«. Dieses Gedächtnis ist nicht in der Lage, seine eigene, ihm mitgegebene Diskursivität zu erinnern. Es konstituiert sich durch Verdrängung; denn das »weibliche Gedächtnis«, das in dieser binären Opposition erscheinen müsste, wird an dieser Stelle nicht bloß als defizitär hervorgeholt, sondern überhaupt nicht benannt. Es tritt zwar in gewisser Weise ex negativo in Erscheinung, wenn der Leser es sich über die Konstruktion einer möglichen Opposition hervorholt; doch auffällig ist, dass es für die Erinnerung Gesines keine eigene sprachliche Repräsentation in der Semantik dieses Gedächtnisses zu geben scheint. Sie erscheint durch ihre Abwesenheit innerhalb des benannten Systems, und dennoch wird gerade dadurch die Konstruktion eines »männlichen Gedächtnisses« unterlaufen. Wie geschieht dies auf der Ebene des Erzählten? Inmitten der Erinnerung einer historischen Konstellation, in der zwei Geschichten vom Streik zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, wird die Fähigkeit zur gradlinigen Konstruktion durch die Erinnerung an die Bedrohung aus der Kindheit unterbrochen. Das »männliche Gedächtnis« selbst scheint zu streiken und vermag den historischen Zusammenhang nicht weiter allgemeinverbindlich zu durchdringen. Mr. Shuldiner, der im Folgenden beschrieben wird als »ein versorgter Steuerfachmann«, »der bereit wäre, stolz zu sein auf ein männliches Gedächtnis« (JT, S. 62), steht mit seiner Bewunderung für das »männliche Gedächtnis« in einem konträren Verhältnis zu Gesine. Zwar bedankt sich Gesine für das vermeintliche Kompliment, doch bereits in den nächsten Zeilen erfährt man aus ihrem Inneren:

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»Mrs. Cresspahl ist nicht stolz auf ihr Gedächtnis. […] Sie hatte nach dem Jahr 1937 gesucht und wieder nichts bekommen als ein statisches, isoliertes Bruchstück, wie es ihr der Speicher des Gedächtnisses willkürlich aussucht, aufbewahrt in unkontrollierbarer Menge, nur mitunter empfindlich gegen Befehl und Absicht: 1937 ließ Stalin einen großen Teil seines Generalstabes hinrichten, 1937 hatte Hitler seine Kriegspläne fertig ausgearbeitet […] die heutige Ausgabe der New York Times ist die 40 039., seit vorgestern steht auf einem Reklameplakat im U-Bahnhof 96. Straße/Broadway handschriftlich: Fickt die Juden: das Gedächtnis hat ihr geholfen durch Schulprüfungen, Tests, Verhöre, es bringt sie durch die tägliche Arbeit, es wird von einem Mann als ein Schmuckstück angesehen; ihr kam es an auf eine Funktion des Gedächtnisses, die Erinnerung, nicht auf den Speicher, auf die Wiedergabe, auf das Zurückgehen in die Vergangenheit, die Wiederholung des Gewesenen: darinnen noch einmal zu sein, dort noch einmal einzutreten. Das gibt es nicht. Daß das Gedächtnis das Vergangene doch fassen könnte in die Formen, mit denen wir die Wirklichkeit einteilen! Aber der vielbödige Raster aus Erdzeit und Kausalität und Chronologie und Logik, zum Denken benutzt, wird nicht bedient vom Hirn, wo es des Gewesenen gedenkt. […] Auf Anstoß, auf bloß partielle Kongruenz, aus dem blauen Absurden liefert es freiwillig Fakten, Zahlen, Fremdsprachen, abgetrennte Gesten; halte ihm hin einen teerigen, fauligen, dennoch windfrischen Geruch, den Nebenhauch aus Gustafssons berühmten Fischsalat, und bitte um Inhalt für die Leere, die einmal Wirklichkeit, Lebensgefühl, Handlung war; es wird die Ausfüllung verweigern. Die Blockade läßt Fetzen, Splitter, Scherben, Späne durchsickern, damit sie das ausgerauchte und raumlose Bild sinnlos überstreuen, die Spur der gesuchten Szene zertreten, so daß wir blind sind mit offenen Augen. Das Stück Vergangenheit, Eigentum durch Anwesenheit, bleibt versteckt in einem Geheimnis, verschlossen gegen Ali Babas Parole, abweisend, unnahbar, stumm und verlockend wie eine mächtige graue Katze hinter Fensterscheiben, sehr tief von unten gesehen wie mit Kinderaugen.« (JT, S. 63f., Auslassung durch Verf.)

Was wir hier über das Gedächtnis erfahren, zeigt in erster Linie dessen Begrenztheit an. Es ist »Speicher«; doch dort, wo man mittels dieses Speichers des Gewesenen gedenken will, wird die Authentizität des Vergangenen vom Gedächtnis selbst blockiert. Die »Spur der gesuchten Szene« wird überdeckt durch das, was das Gedächtnis durchlässt. Gegenüber dem Gedächtnis entzieht sich die authentische Vergangenheit als bleibendes Geheimnis, bleibt »verschlossen gegen Ali Babas Parole«, die ja nicht nur auf »Sesam öffne dich«, sondern auch auf das Erzählen selbst verweist. Die-

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ses Erzählen hat die Möglichkeit, sich dem Geheimnis als Geheimnis zu nähern, es nicht aufzubrechen, sondern von seinem flüchtigen Aufscheinen in »Fetzen, Splittern und Spänen« auszugehen.21 Weiter lässt sich an dieser Szene erkennen, dass bereits auf der narrativen Ebene auf eine Form des Gedächtnisses als (kultureller) Speicher verwiesen wird. Gerade diese Stelle zielt auf ein kanonisch-literarisches Gedächtnis. Sie erinnert auf bestimmte Weise an Vorgänge und Sehnsüchte des Erinnerns in der Literatur. Der Text funktioniert hier als eine Form des »kritischen Archivs«, weil er eine mögliche Ebene seiner Bedeutung aus der kritischen Auseinandersetzung mit Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zieht.22 Doch während dort die Einfühlung in die Vergangenheit in dem Moment gelingt, in dem Swann sich völlig abschottet, von dem Geschmack des Gebäcks ausgehend seinen Geist in diese Erinnerung zwingt, vermag sich über »Gustafssons Fischsalat« keine Identität zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. Mit dieser Szene aus Jahrestage gelesen ist das, was Proust als Erinnerung beschreibt, nicht nur eine Utopie des Erinnerns, es ist auch einem Subjekt geschuldet, das 21 | Christian Elben hat darauf hingewiesen, dass sich hier ein Widerspruch zwischen Denken und Gedenken formuliert: »Im Sprechen über das Funktionieren ihres Gedächtnisses und im Aussprechen von Erinnerungen steht Gesine somit vor einem unlösbaren Begriffsproblem. Denn die Begriffe der Sprache sind der Darstellung ihrer Probleme zufolge dem Denken, nicht aber dem Gedenken angemessen.« Vgl. Christian Elben: »Ausgeschriebene Schrift«, S. 29. 22 | Viele Literaturwissenschaftler haben auf den erwähnten Zusammenhang zu Proust bereits Bezug genommen. Vgl. z.B. Christian Elben: »Ausgeschriebene Schrift«, S. 30ff., und Thomas Schmidt: Der Kalender und die Folgen, S. 165, die beide auch auf Zusammenhänge zu Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit verweisen. Bernd Neumann betont den großen Unterschied zwischen diesen Erinnerungssequenzen, der in einem Abschied vom Utopischen sich begründet: »Was ehemals die konkret utopische Aufhebung von Entfremdung und Verdinglichung, die Humanisierung der Natur und die Naturalisierung des Menschen in sich schloß, dient hier nur noch zu einer nostalgischen norddeutschen Variante der ›recherche du temps perdu‹, in der an die Stelle der Madelaine der Fischsalat und an die der endlichen Erfüllung die Einsicht in deren Unmöglichkeit getreten ist.« Vgl. Bernd Neumann: Utopie und Mimesis. Zum Verhältnis von Ästhetik, Gesellschaftsphilosophie und Politik in den Romanen Uwe Johnsons, Kronberg: Athenäum 1978, S. 297.

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sich erinnernd von der Wirklichkeit ausgrenzt und deswegen Identität des Vergangenen kraft des eigenen Geistes herzustellen vermag.23 Erinnerung wird so mit dem Gebäck einverleibt, das sie hervorgerufen hat. Hier scheint die Erinnerung sperriger zu sein. Denn innerhalb dieses intertextuellen Spieles wird dargestellt, wie Gesines Erinnerung ihrerseits Bilder hervorholt und diese in Beziehung zueinander setzt. Die Erinnerung, idealisiert gedacht als etwas, das ermöglicht, in dem Vergangenen noch einmal zu sein, gibt es nicht. Ist eine solche Erinnerung nicht auch dieselbe Utopie, die eine Nähe zum Tod hat, weil unter dem Primat der Treue das Lebendige selbst erstickt – wie wir es im »konsekutiven Übersetzen« gesehen haben? Der Prozess, der den »Speicher« des Gedächtnisses anzufragen beginnt, findet also nicht seinen ersten Impuls in diesem, sondern entsteht aus einer Konstellation des Augenblicklichen heraus. Diese stellt sich aber nicht durch eine Identität von Geschmack und Form ein (wie bei Proust), sondern sie entsteht innerhalb der dialogischen Situation. Gesine sucht nicht die Erinnerung, um die Vergangenheit zu identifizieren, sondern wird von ihr heimgesucht. Die »Katze« als »Katze Erinnerung« (JT, S. 670) steht für diese Augenblicklichkeit, Nicht-Dressierbarkeit. Eine Katze kann man nicht choreographieren. Sie ist ein Tier, das plötzlich auftauchen kann, das plötzlich Nähe aufbaut und sich ebenso plötzlich entzieht, wie Gesine sagt: »[…] ein wohltuender Geselle, wenn sie sich zeigt, selbst wenn sie unerreichbar ist« (JT, S. 670, Auslassung durch Verf.). Wenn wir Erinnerung als Wiedererkennen von etwas Gewesenem verstehen wollen, so ist vor dem Hintergrund dieser Überlegungen deutlich, dass dieses Wiedererkennen immer auch ein Anderserkennen sein muss. Zwar bezieht sich der Text innerhalb des hier geschilderten Erinnerungsprozesses auch auf historische Fakten, die das Gedächtnis hervorzuholen vermag: »1937 ließ Stalin einen großen Teil seines Generalstabes hinrichten. 1937 hatte Hitler seine Kriegspläne fertig ausgearbeitet.« (JT, 23 | Swann: »Wird sie bis an die Oberfläche meines klaren Bewußtseins gelangen, diese Erinnerung, jener Augenblick von einst, der nun plötzlich durch die Anziehungskraft eines identischen Augenblickes von so weit her in meinem Innersten erregt, emporgehoben wird? […]. Und mit einem Mal war die Erinnerung da.« Vgl. Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, in: ders.: Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Luzius Keller, Band I, Suhrkamp: Frankfurt a.M. 1994, S. 67f. (Auslassung durch Verf.).

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S. 63) Mit Hitler und Stalin ist es jedoch gerade der Aspekt des statistischen Todes, der hier hervorgeholt wird – und damit die Erinnerung weiter befragt. Wie also zeigt sich der Unterschied zwischen der Erinnerung und einem Archiv des Wissens? Mitten in das historische Wissen, das das Gedächtnis hervorholt, bricht Gesines traumatische Erinnerung daran ein, dass sie selbst als Kind fast zu Tode gekommen wäre. Chronologie und Kausalität werden aufgesprengt, und das, was historisch fassbar ist, fusioniert mit der Erinnerung der erinnernden Person. Auch diese ist eine Geschichte, die sich auf die Vergangenheit bezieht, doch im Gegensatz zum statisch-abrufbaren Wissen erscheint sie aus der sich im Augenblick herstellenden Person Gesines, die von dieser angesprochen und hervorgebracht wird und die sie immer wieder anders und zu anderer Zeit hervorbringt. Dass sie sich immer wieder an solche Szenen erinnert, in denen sie vom Tod bedroht ist, hängt mit ihrer Sensibilisierung für die Todesproblematik zusammen, die sie auch im Gegenwärtigen wahrzunehmen vermag und hier als Thema aus der Geschichte wiedererkennt. »Fickt die Juden« (JT, S. 63) zeigt, dass das Vergangene nicht abrufbar ist wie etwas, das man als erledigt und einmal gewesen hervorholen könnte. Der Prozess der Erinnerung verbindet hier unter der Bedrohung des Todes die Ereignisse, die somit in eine Erinnerungskonstellation zu treten beginnen. Dies konstituiert in einer paradoxen Bewegung aber gerade die Erzählung Gesines von diesem Tag, die immer auch ein Erzählen gegen die Gefahr dieses Todes ist. Denn wenn das »andere Gedächtnis« in dieser Gesellschaft nicht sprachlich repräsentiert wird, so wird gerade im Moment der Abwesenheit der sprachlichen Repräsentation die Erinnerung übersetzt, die mit ihren repräsentativen Mustern bricht. Zwar ist es Gesine wichtig, wie sie selbst einmal in der Erinnerung ihrer Tochter auftauchen wird; doch dieses Erzählen verspricht sich nicht allein der unausweichlichen Tatsache des einmal eintreffenden Todes. Es verspricht sich ex negativo auch einer anderen Zukunft, in der Erinnerung nicht mehr vom »männlichen Gedächtnis« und seiner Repräsentation autorisiert werden muss. Dieses Erinnern suspendiert Gesine aus dem Gespräch mit Mr. Shuldiner auf der Ebene seiner Kommunikation. Es lässt sie anders anwesend werden, Teil einer anderen Geschichte und einer anderen Wirklichkeit, als Shuldiner es ist. Die Identifikation ihres Erinnerns als Ordnung seiner Welt geht eben nicht auf. Da die Erzählung dieses Momentes ihre Konsti-

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tution aus dieser anderen Anwesenheit bezieht, wird diese mit dem Moment des »Zur-Sprache-Kommens« selbst verknüpft. Schreiben und Sprechen, so zeigt es sich hier noch einmal, bedeutet immer, in der Sprache eines Anderen zu sein, und dies hat hier eine doppelte Bedeutung: Das Andere ist auch das bereits Archivierte, was allerdings auf bestimmte Weise einzufallen beginnt. Dies deutet aber auch auf den transformatorischen Prozess hin, der den Anderen als Anders-Gewordenen, als mir Übersetzten erscheinen lässt, der sich sofort weigert, nur bedeutend in meiner, in dieser spezifischen Übersetzung zu sein. Damit trägt die Sprache selbst ein Anderserkennen im Widererkennen und bringt das, was sie trägt, immer wieder genau an dieser Bruchstelle der Identität anders hervor. Diese Sprache ist Komplizin der Katze, die sich dem dressierenden Blick bereits entzogen hat, bevor er sie einzufangen vermag. Als Komplizin der Katze warnt sie diese vor dem Blick und beteiligt sich an der Möglichkeit ihres Entzugs. Somit verspricht sie sich dem Anderen, das »versteckt in einem Geheimnis« (JT, S. 64) verweilt. Dieses Sprechen kann damit die Ordnung des Gedächtnisses unterlaufen; und es unterläuft so auch die Macht des Urbanen, die diese Möglichkeit fürchten muss und deswegen das Vergessen befördert. In der folgenden Szene, die ich besprechen möchte, erscheint das Vergessen allerdings auch in einer positiven Konnotation, weil es die unaufhaltsam scheinenden Bewegungen des Gesellschaftlichen unterbricht.

3.4 TROPFENFALL : DER 8. D E ZEMBER 1967 Am 8.  Dezember bespricht Gesine das Tonband für Marie mit den Eindrücken ihres Tages. An diesem Tag sind Erinnern und Vergessen die zentralen Themen, die Gesine beschäftigen. Die Reflexionen über den Tag, über die erinnernde Vergangenheit und über das, was die New York Times zu berichten weiß, bilden die Ebenen, in denen die Erzählung geschieht. Gesine berichtet: »Heute mittag habe ich eine Baustelle angesehen, halb so groß wie die Blocks zwischen den Avenuen Park und Lexington sind. Anders als in Deutschland sind in die Holzzäune Fenster geschnitten für die Passanten, die Oberaufseher des Bürgersteiges, und nun stehen sie aufgestützt da und betrachten das unebene Feld, über dem das Haus, die Häuser nicht mehr vorstellbar sind, nur noch als

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trockene Gedächtniskonserve aufgerufen von der Umzugsnotiz eines Restaurants.« (JT, S. 421)

Baustellen sind Nicht-Orte in besonderer Weise; sie sind Orte, die sich selbst im Übergang befinden. Innerhalb des Phänomens des Nicht-Ortes, der sich dadurch auszeichnet, dass seine Funktion die Möglichkeit der Durchquerung, des Transporter, der Überwindung von Distanzen ist,24 markieren Baustellen einen Bruch innerhalb der Kontinuität dieser Durchquerung. Sie machen diese Kontinuität des Durchquerens als Effekt der organisierten Zeit sichtbar und sorgen somit für einen Stillstand innerhalb einer urbanen Wirklichkeit – obwohl ihre Bedeutung für die gesellschaftliche Ordnung genau in der Überwindung dieses Stillstandes liegt. Die Baustelle, wie Gesine sie hier beschreibt, kann als dieser NichtOrt betrachtet werden, an dem das Vergangene nicht mehr vorstellbar ist, sondern nur noch als Notiz, als Spur seines Verschwindens präsent bleibt. Die »trockene Gedächtniskonserve« steht für die Unbewohnbarkeit dieses Nicht-Ortes; ihm musste der Wohnraum weichen, der nun an dieser Stelle nicht mehr möglich ist. Das Erkennen eines solchen Ortes als Nicht-Ort setzt ein gewisses Maß an »Reife« (negativ: an organisiertem Dasein) voraus. Kindern können Baustellen zu Spielplätzen werden, weil sie dem »unebenen Feld« eine Bedeutung als Ort ihres Spielens verleihen können, der herumliegende Bauschutt in ihr Spiel integriert werden kann. Weil sie an den Orten des Überganges verweilen können und ihnen somit Bedeutung verleihen, bekommt dieser Ort für sie eine andere Gegenwart; das, was Erwachsene als Spuren des Abwesenden zu lesen vermögen, ist für sie Präsenz. Der Erwachsene, der nicht mehr über die Zäune klettert, kann einen solchen Ort nur von »oben«, als »Oberaufseher des Bürgersteiges« betrachten und mit diesem Blick entweder das zerstörte Vergangene oder die neu entstehende Zukunft sehen. Er entdeckt in Baustellen den Nicht-Ort des Überganges, wobei er diesen Übergang bereits vor dem Hintergrund seines Gewesen-Seins, also als Etappe innerhalb der fortlaufenden Zeit zu betrachten vermag. Er affiziert so bereits das Verschwinden des Bruches in seiner Betrachtung. Ein Ausspruch wie »Dort ist noch Baustelle« zeigt das Noch-Nicht einer Zukunft an, die so schnell wie möglich eintreten soll.

24 | Vgl. zu diesem Aspekt: Marc Augé: Nicht-Orte, S. 81ff.

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Bauschutt muss beseitigt werden.25 Gesine bringt diesen Mechanismus kritisch zur Sprache: »Das Skelett des umgebrachten Hauses war nun fast ganz nackt. Das wird nicht wieder. Nach einer Weile werden sie die wertvollen Teile von dem Abfall gesondert und beides abgefahren haben, die Fläche planieren, fertig ist die Zukunft.« (JT, S. 421)

Das »Skelett des Hauses« weist zurück auf den »Knochenmann«, an dem das Erzählte »hängt«, aber auch an den Hausbau Maries. Wenn Gesine nun davon spricht, so macht sie deutlich: hier werden Geschichten begraben, die wieder hervorgeholt werden müssen. In Gesines Beschreibung dieses Überganges kommt so auch eine Wut zum Ausdruck, die sie dazu führt, diesen Übergangsort nicht nur vor dem Hintergrund der chronologischen Zeit zu betrachten, sondern an diesem zu verweilen. Der stattfindende Arbeitsprozess hat ein Haus aufgrund eines Bauplanes »umgebracht«, hat Geschichte zerstört, weil ihm ein normativer Selektionsprozess voranging, der auch das zukünftige Handeln organisiert (sogar den Abfall noch selektiert): »fertig ist die Zukunft«. Die entstehende planierte Fläche wird davon nach flüchtiger Ansicht nicht mehr berichten. Die Schicht Geschichte ist abgetragen worden und in diesem Abtragen der Geschichte wird die Zukunft hergestellt, als habe es diese Vergangenheit nie dort gegeben. Gesine will Marie dafür sensibilisieren, dass in jenen »planierten Flächen« sich der Verdrängungsprozess dokumentiert, der ihnen voranging. Deswegen verweilt sie an diesem Nicht-Ort und archiviert dessen Erscheinen auf dem Tonband, berichtet vom Bauschutt. Sie verweilt so bei den »verworfenen Steinen«26. Auch die zweite Reflexion dieses Tages, in der Erinnerung eine Rolle spielt, öffnet einen Raum, der im Dazwischen steht. Gesine beschreibt, wie Arbeiter das Foyer ihrer Bank geputzt haben, und erinnert sich innerhalb dieser Erinnerung, wie in ihrer Heimat Jerichow Türschild und Wasserhahn poliert worden sind: 25 | Ich möchte noch mal an die Rhetorik der New York Times erinnern, die bewusst den Krieg in Vietnam mit der New Yorker Müllkrise vergleicht. Vgl. Buchteil A, Kap. 1.3 Vielstimmigkeit, S. 46. 26 | »Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden.« Psalm 118,22.

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»Nachmittags im Foyer der Bank knieten und lagen drei Arbeiter, einer nahezu bäuchlings, und beschmierten das gelbe Metall am Fuß und Bauch, der sechs Glastüren mit einem Putzmittel (und was wir in Jerichow benutzt haben für Türschild und Wasserhahn war so sprichwörtlich als gehörte es zum Leben, und ist vergessen. Vielleicht habe ich doch vergessen, was die Sekunde machte, und einen Tropfenfall später gab es nur noch die interpretierte Sekunde, die die Erinnerung aber auch verfehlt), und sie rieben und rieben.« (JT, S. 422)

Auffällig ist, dass Gesine hier tatsächlich etwas ein-fällt. Der »Tropfenfall« ereignet sich als Einfall einer anderen Wirklichkeit im Moment der Erinnerung an die Beobachtung. Hier wird eine Erinnerung durch eine andere Erinnerung aufgerufen, sie verdoppelt sich, hinterlässt Unsicherheit. Doch dass Gesine vergessen haben will, womit Türschild und Wasserhahn poliert worden sind, gibt zu denken, wenn sie gleichzeitig erinnert, dass dies so »sprichwörtlich« gewesen ist, dass es zum Leben gehört. Sie kann also nicht vergessen haben, worum es sich gehandelt hat, sondern vergessen worden ist die Sprichwörtlichkeit, die den Bezug zum Leben herstellt, und damit über den unmittelbaren Zusammenhang hinaus verweist. »Der Tropfenfall später, die interpretierte Sekunde, die die Erinnerung doch verfehlt«, verweist darauf, dass eine authentische Erinnerung unmöglich ist, weil sie in einem Moment der Flüchtigkeit entsteht, was wir in kritischer Auseinandersetzung mit Proust bereits bemerkt haben. Man erinnert vor dem Horizont des Gegenwärtigen (und hier ist Gesines Situation ja gerade die Archivierung des Erinnerns), der den Interpretationsrahmen für die Vergangenheit bildet. Gleichzeitig bricht in das Gegenwärtige die Erinnerung ein und transformiert die Gegenwart, was dann wieder auf das zu Erinnernde zurückwirkt. Das authentische Moment, die uninterpretierte Sekunde wäre das winzige Moment, in dem Gegenwart und Vergangenheit aufeinandertreffen, bevor sie sich im Bewusstsein wechselseitig transformieren. Hier wird deutlich: nur dieser Transformationsprozess ist die Wirklichkeit des Erlebens. In ihm konstituiert sich Bewusstsein, das sich selbst nur als Spur dieses Konstitutionsprozesses reflektieren kann. Auch am dritten Moment dieses Tages, an dem Erinnern reflektiert wird, verknüpft diese Erinnerung Gegenwart und Zukunft; indem vorgestellt wird, dass dieses nun Gegenwärtige irgendwann eine erinnerbare Vergangenheit sein wird. Der Übergang zeigt sich hier nicht primär als Ort im Übergang in der Verfasstheit seines eigenen Daseins, sondern seine Rezeption wird in den Übergang des Zeitlichen selbst gestellt. In der

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Tagesausgabe der New York Times ist ein Bild zu finden, das die Arena des neuen Madison Square Gardens zeigt: »[…] ein ungeheures Oval für 20 000 Leute unter einem weitläufigen Himmel, sehr festlich beleuchtet. […] und ich bin es sehr zufrieden, daß du solche Erinnerung an deine Kindheit haben wirst, und hätte vielleicht solche auch gern für mich.« (JT, S. 423, Auslassung durch Verf.)

Die Zufriedenheit über die Erinnerung an eine Arena als Zukunft der Vergangenheit in Maries Erinnerung kann man zunächst ironisch verstehen; denn die Masse der Menschen, die diese Arena fassen kann, zerstört zugleich die Möglichkeit, dass jemals als Bild beides vorhanden sein wird: die Arena als Ganzes und der in ihr einzigartige, augenblicklich verweilende Mensch. Was dort vor den Augen der Versammelten sich ritualisiert abspielen wird, wird immer ein imaginiertes Kollektiv zu erreichen suchen und findet nur um dieser Imagination willen statt. Andererseits formuliert sich in Gesines Gedanken zur Arena auch eine Melancholie, dass Marie ein solches Bild zur Erinnerung haben wird: Eine Arena unter »weitläufigem Himmel« ist auch assoziiert mit Freiheit. Spiele in der Arena finden sprichwörtlich unter »freiem Himmel« statt. Wenn in der faktischen Arena die Menschenmassen organisiert und die Möglichkeiten des Einzelnen begrenzt, sie so ein imaginiertes Kollektiv verortet werden, so ist der weitläufige Himmel der Fluchtpunkt, den die Konstruktion der Arena nicht berührt. Die Assimilation des Einzelnen – hinein in das imaginierte Kollektiv des Publikums – wird durch den Himmel aufgehoben, an den die Macht von Ritual und Inszenierungen nicht heranreichen kann. Dies ist ein Bild, das Gesine angesichts der Bedrohung der eigenen Kindheit nicht vergönnt gewesen ist. Die gesellschaftlichen Inszenierungen, die sie erlebte, waren so übermächtig und hielten das »Publikum« von oben im ordnenden Blick. Ihnen war gemeinsam, dass sie die »letzten Fragen« beantworteten und damit beanspruchten, den »Himmel Freiheit« ausgedeutet zu haben. Aber nicht nur die Erinnerung ist ein wichtiges Moment dieses Tages, sondern auch das Vergessen. Die erste und die letzte Erinnerung des Tages sind dem Vergessen gewidmet, das der Zwischenzustand des Schlafes mit sich bringt und hier eine positive Konnotation erfährt. De Rosny vergisst die Autorität seiner Führungsposition: Im Halbschlaf spricht er Gesine bei ihrem Vornamen an und hebt so das konventionelle Verhältnis zwischen Vorgesetztem und Angestellter auf. Gesine lässt ihn »erwachen«, indem

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sie mit »korrekter« Anrede antwortet – über diese, der gesellschaftlichen Norm entsprechende Anrufung ruft sie ihn in die Wirklichkeit seines gesellschaftlichen Handelns zurück.27 Gesine: »Heute morgen lehnte ein Mann recht schlapp an der Fahrstuhlwand, und nachdem der Kasten fünfzehn Meter durchs Haus gesaust war, wachte er ein bißchen auf und sagte mit einer Art Erstaunen Dschi-sain zu mir, und ich sprach ihn mit seinem Rang an, um ihn zu wecken.« (JT, S. 419f.)

Das Vergessen, das der Schlaf mit sich bringt, schafft Vertrauen. Der kleine schwarze Junge, Gesines letzter Eindruck dieses Tages, der im Schlaf sich an die Schulter einer Passantin kuschelt, lässt ebenfalls die Barrieren zwischen den Menschen vergessen. Der Schlaf schafft auch hier eine Gleichheit und auch die wachende Person vergisst diese Barriere, denn sie kann die Nähe des Kindes zulassen (JT, S. 423). Diese Szenen des Schlafes sind beide in Bewegungsabläufe eingebunden: De Rosny schläft vor dem Fahrstuhl, der ihn in die Chefetage gebracht hätte (und wieder bringen wird), der kleine schwarze Junge schläft in der Straßenbahn, die ihn zu »seinem Platz«, jenem, den die Gesellschaft ihm gewährt, zurückbringt. Beide nehmen die Bewegung um sie herum nicht mehr wahr und bewirken so ein Innehalten der »Bewegung« innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung, die sie durch ihr zum Bewegungsfluss konträren Verhalten freilegen. Im Schlaf geben sie sich nicht mehr der Konnotation des Raumes hin, der im wachen Zustand ihr Verhalten anders erscheinen ließe. Dies ist ein »still-act«, über den André Lepecki schreibt: »[…] der still-act hinterfragt die Ökonomie der Zeit und verweist auf die Möglichkeit des eigenen Handelns innerhalb der beherrschenden Systeme von Kapital, Subjektivität, Arbeit und Mobilität.«28 27 | Dies ist ein »klassischer« performativer Sprechakt, wie er etwa von Judith Butler als Prozess der Subjektiviation im Moment der Anrufung beschrieben wird. In diesem Zusammenhang finde ich es allerdings wichtig, zu bedenken, dass der Sprechakt bereits eine Übersetzung des ordnenden Blickes ist; der, der die Anrufung vollzieht, hat den Anderen bereits als diesen erblickt. Vgl. auch Buchteil A, Kap. 2.5.2 Begegnung, S. 88ff., und ausführlich zu dem Aspekt der Performativität des Subjektes Buchteil B, Kap. 2.1 Performanz, S. 211ff. 28 | André Lepecki: Option Tanz. Performance und die Politik der Bewegung, Berlin: Theater der Zeit 2008, S. 27 (Auslassung durch Verf.).

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In diesen still-act werden wir durch Gesines Erinnerung mit hineingenommen, sie wiederholt ihn noch einmal. Denn durch ihr Erinnertes folgt man selbst auch den evozierten Bewegungsabläufen nicht weiter, obwohl man sich der weiterlaufenden Bewegung sicher sein kann. Die Dynamik der Szenen zeigt sich auf paradoxe Weise im Stillstand des Schlafens begründet, der eine Art des positiven, »heilsamen« Vergessens ermöglicht. Dieser Schlaf macht »gerecht« und lässt gerecht werden, weil er die Autorität des Raumes und die hinter ihm liegenden Machtstrukturen offenlegt und durchbricht. Das Vergessen bezieht sich in beiden Szenen auf die gesellschaftliche Ordnung des Subjektes – es ist somit eine Form der Selbst-Vergessenheit, die unvorhergesehene Begegnung und Nähe schafft. Von diesen Schlafszenen wird der Tag eingerahmt. Jedoch ist an diesem Tag auch das negative Vergessen von Bedeutung: das Vergessen, das erneut Schranken schafft, weil es die Geschichte nicht nur verdrängt, sondern als Geschichte des Schreckens verleugnet. Die New York Times berichtet über eine neue Nazipartei, die in Deutschland wieder politisch agieren kann und bewusst an nationalsozialistische Symbolik anknüpft. Diese arbeitet gegen die Erinnerung und damit gegen die Zukunft des Landes – für Gesine arbeitet sie gegen die Möglichkeit, Deutschland als Heimat erinnern zu können. Gesine kreist die Schilderung über die neue Nazipartei ein mit dem Satz: »In Deutschland möchte ich nicht noch einmal leben.« (JT, S. 422) Dies zeigt nicht nur die verlorene Heimat als individuelles Schicksal an, sondern auch, dass in diesem Deutschland, so wie es sich wieder darstellt, kein »richtiges Leben«, kein Leben mit Erinnerung und Geschichte, möglich ist. Es ist ein Land, das sich verloren hat, weil es zulässt, dass ein Vergessen-Wollen der Geschichte politisch organisiert und inszeniert werden kann. Ich habe gezeigt, dass hier auf verschiedenen Ebenen die Problematik der Erinnerung in doppeltem Sinne zum Tragen kommt. Schon das Besprechen des Tonbandes ist ein Vorgang, der versucht, Erinnerung zu organisieren, ein externes Gedächtnis zu schaffen, das erneut abgerufen werden kann. Das Tonband selbst ist ein medialer Träger für Erinnerung; gleichzeitig beschreibt Gesine in ihrem Erlebten weitere mediale Erinnerungsträger: Bilder, die Zeitung, Baustellen. Auch hier wird, wie erwähnt, Erinnerung auf eine bestimmte, doch immer auch brüchige Weise bewahrt. Die Baustelle zeigt am deutlichsten an, dass Erinnerung einerseits entzifferbare Spuren benötigt, um auf ein konkretes Abwesendes noch verweisen zu

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können, das einmal dort gewesen ist; andererseits vermag das »Lesen« der Baustelle gerade Spuren hervorholen, die vom Verschwinden bedroht sind. So verdeutlicht die Baustelle den Nicht-Ort, den die Erinnerung selbst als Zwischenzustand zwischen den Zeiten bildet: Wer sich erinnert, ist nicht mehr völlig Teil des Gegenwärtigen, ist aber auch nicht in der Vergangenheit, wie sie einmal gewesen ist. Er kennt noch nicht die Bilder, in denen diese zukünftig erscheinen wird. Es ist somit nicht mehr klar, wer sich erinnert, wenn sich jemand zu erinnern beginnt: Denn der Erinnernde erinnert nicht im Sinne eines Subjektes, dem gleichsam Erkenntnisse über die Vergangenheit objektiv zu Bewusstsein gekommen sind. Seine Vergangenheit scheint dem Erinnernden so wenig zu gehören, wie ihm seine Zukunft gehört, ohne die es diese Erinnerung nicht geben kann. Es wird deutlich, wie Gesine zur Erinnerung gerufen wird: Sich zu erinnern ist – wie bei der Erinnerung in der Erinnerung durch die Arbeiter im Foyer der Bank – durch das situative Geschehen evoziert, ohne dass dieses es in irgendeiner Weise bewusst provoziert. Es ist der Anruf des Vertrauten oder vertraut Scheinenden, der das Bild zur Spur werden lässt, die in die Erinnerung führt. Das ist die Spur, die einerseits abhängig davon ist, gelesen zu werden, um als Spur dessen zu erscheinen, was sie selbst nicht ist. Es ist aber auch Spur, die jederzeit Spur für jeden anderen werden könnte – und die damit in gewisser Weise eine unendliche Möglichkeit des Bedeutens enthält, ohne selbst auf eine solche Potentialität intentional verweisen zu wollen. Insofern ist die Spur nicht die Identität der »reinen Referenz«, sondern des unendlichen Aufschubes von Identität. In diesem Sinne erschafft die Spur performativ denjenigen, der sie verfolgt, so wie dieser gleichsam der Spur eine vor-läufige Bedeutung zuzusprechen beginnt. Wegen ihrer Potentialität an Bedeutung eröffnet sie Wege der Erinnerung und ruft denjenigen aus seiner Gegenwart heraus, dem sie dann erst zum Zeichen werden kann, zur »Spur für« etwas Konkretes. Fragt man nach der Bedeutung eines Ereignisses, eines Gegenstandes, einer Situation, so kehrt der Fragende auch immer wieder in die Vergangenheit seines Erlebten zurück. »Das bedeutet mir nichts« besagt, dass sich der Erinnerung kein Bild öffnet, das einen bedeutungsvollen Zusammenhang herzustellen vermag. »Das bedeutet nichts« wäre demnach eine unzulässige Aussage, denn der, dem das, mit dem er konfrontiert wird, nicht zur Spur zu werden vermag, kann nicht ausschließen, dass sie eines Anderen Spur zu dessen Vergangenheit werden wird. Mit einer Spur in die Vergangenheit über-zusetzen, bedeutet, davon ausgehen zu müssen, dass andere Wege und Wege für den

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Anderen in dessen Vergangenheit ebenso möglich sind. So setzt sich die selektive Tonbandaufnahme Gesines auch gleichzeitig dieser Potentialität von Bedeutungsvielfalt aus. Zwar bezeugt hier eine Sprecherin, was sie gesehen hat, und bezeugt, was ihr zur Spur geworden ist – doch sie kann auf dieser Bedeutung nicht bestehen. Zu dem Zeitpunkt, wo sie das Tonband aus der Hand gibt, spricht es in eine andere Zeit hinein und spricht zu einem Anderen hin. Schon die Materialität der Aufnahme, die Stimme der Mutter als ganz eigene Spur, kann bei Marie Erinnerungen wecken, die als Spuren der Situation des Aufnehmens Marie in eine andere Vergangenheit führen, als sie Gesine in diesem Moment als Gegenwart erscheint.29 So bezeugt Gesine nicht nur, was sie gesehen hat, sie bezeugt zugleich einen bestimmten Vorgang des Lesens von Wirklichkeit, die einen »Tropfenfall später« schon als eine transformierte Wirklichkeit erscheint und auch nicht mehr dasselbe Bild des Erinnerns zu evozieren vermag. Die Wirklichkeit der Erinnerung bleibt flüchtig auch dann noch, wenn sie als Erinnerung erinnert und auf einem Tonband archiviert wird. Ist diese Flüchtigkeit dieselbe, die sich in jede Gegenwart einschreibt – in die »Baustelle« unseres täglichen Erlebens? Doch womit hängt diese Flüchtigkeit der Gegenwart zusammen, wenn sie immer auch eine Gegenwart des Erinnerten wird und den spezifischen Charakter ihrer Gegenwärtigkeit in nicht zu geringem Maße aus dieser zu beziehen scheint? Die Gegenwart ist nicht bloß die Gegenwart der Erinnerung, also eine Vergegenwärtigung des Vergangenen, denn diese ist – wie wir bereits sahen – durch diese Gegenwart selbst als diese Vergangenheit hergestellt worden. Die Erinnerung kann sich somit auf nichts Feststehendes beziehen, weil ihr Inhalt noch selbst im Prozess dieser Erinnerung sich konstituiert. Die Zeit der Erinnerung ist nicht die Identität der Gegenwart, wenn das, was als Gegenwart sich darstellt, es erst im Lichte der Vergangenheit wird und zu diesem Lesen des Vergangenen Anlass gibt. Die Erinnerung zeigt sich hier in ihrer Flüchtigkeit als das Moment, ohne das weder Gegenwart noch Vergangenheit möglich sind. Sind diese konstituierend für sie, so ist sie für beide konstitutiv. Die Erinnerung erscheint als die Bedingung der Möglichkeit des zeitlichen Bewusstseins und entspringt ihm zugleich, wo dieses selbst eben nicht aus der Macht des Sub29 | Als Leser wissen wir, dass Marie nicht die Tonbänder aus diesen Tagen erhalten wird; dennoch war es mir hier wichtig, die Tonbänder, die zu diesem Zeitpunkt ja noch existieren, als Archiv ernst zu nehmen.

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jektes sich begründen kann. Sie erscheint damit hier als Ausgangspunkt einer Phänomenologie der Zeit; Ausgangspunkt einer Phänomenologie der Zeit, die nicht aus dem Subjekt, sondern aus dem Einfall des Anderen kommt, eines Evoziert-Werdens von einem anderen Ort.30 Insofern gleicht das hier Beschriebene dem, was wir im Einfall des Anderen als Versprechen der Zukunft erkannt haben. Der Wieder-Einfall, der das einst Ent-Fallene ins Gedächtnis in einer bestimmten Konstellation plötzlich zurückbringt, spiegelt diesen Zusammenhang von Einfall und Erinnerung. So werden über die Alterität (das Wie des Auftauchens) Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verknüpft. Dies zeigt, dass die Erinnerung in einem dynamischen Prozess steht, der einer grundlegend anderen Dynamik zu folgen scheint als der der linear fortlaufenden, politisch choreographierten Zeit. Diese Dynamik hat per definitionem zunächst einmal nichts Bewahrendes, sondern etwas eigentümlich Bewegendes, das mit der Bewegungsqualität der fortlaufenden Zeit aber gerade nicht zur Deckung kommt. Das, was erinnert wird, zeigt sich an einem Ort, der entsteht, gerade auch dann, wenn Orte im Übergang zu Nicht-Orten werden. Was bedeutet das für das Dasein des Archivs? Das Archiv ist – sei es nun in Form eines Tonbandes, wie Gesine es zu erstellen versucht, oder in der Form eines angeordneten Komplexes von Texten innerhalb von dafür vergesehenen Gebäuden – ein Raum zwischen den Zeiten, aber nicht im Sinne einer reinen Gegenwart der Vergangenheit. Das Archiv wäre sonst nur der Status quo des »kollektiven Gedächtnisses« und nur als dieser in sich geschlossene Ort zu betreten. Es zeigt sich aber, dass es, der Performanz der Zeit unterworfen, zugleich Produkt und Teil des Produktionsprozesses in dieser Performativität des Zeitlichen selbst ist. Gesine gibt mit dem Tonband diesen Prozess weiter, sie verlängert ihn nicht künstlich, sondern hält so die Unabgeschlossenheit des Erinnerns selbst aufrecht. So ist der Himmel in der Zeitungsfotographie auch Symbol dieses Unendlichen: Was immer auch vor den Augen des imaginierten Kollektives inszeniert werden mag – es kann niemals in einer Abgeschlossenheit erinnert werden. Die Zufriedenheit darüber, dass Marie solche Bilder als Bilder der Erinnerung hat, ist die

30 | In Jahrestage ist es Enzensberger, der sich auf ein solches Erinnern nicht einlassen zu wollen scheint: »Wenn Herr Enzensberger sich erinnert, kommt ihm hier alles bekannt vor.« JT, S. 800.

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Hoffnung darauf, dass dieser unabgeschlossene Bedeutungshorizont auch ihr erscheinen kann. Der Eindruck von Mrs. Agnolo, den Gesine an diesem Tag auf das Tonband spricht, gibt einen weiteren Aufschluss über die Problematik des Erinnerns und zeigt, welche Gefahren Erinnerung birgt, wenn sie das Leben auf eine bestimmte Weise zu dominieren beginnt und sich somit um die Möglichkeiten eines unabgeschlossenen Bedeutungshorizontes bringt. So versucht Mrs. Agnolo auch an diesem Tag ihren in Vietnam stationierten Sohn nicht zu vergessen. Gesine vermerkt dazu: »Ihr Sohn ist in Saigon als Flieger stationiert, und sie zählt jeden Tag seines Dienstjahres in Vietnam, denn sie sagt es. Sie sagt es so bereitwillig, ohne Aufforderung, als sei dem Jungen durch einen Besprechungszauber zu helfen.« (JT, S. 422) Um dem Sohn in Vietnam eine Geschichte weiterhin zu ermöglichen, zählt Mrs. Agnolo die Tage dieser für sie »leeren Zeit«, in der ihr Sohn nicht bei ihr ist. Mit diesem »Besprechungszauber« beschwört sie, dass er am Leben sei. Der Abwesende wird er-innert, d.h. in das Innere zurückgeholt, dem er zu entschwinden droht. Doch an Mrs. Agnolo erkennen wir auch die Problematik eines Erinnerns, das zum leeren Ritual zu erstarren droht und sich der situativen lebensweltlichen Begegnung verschließt. Denn Mrs. Agnolo scheint den Preis ihres eigenen Lebens für dieses Ritual zu zahlen. Verzweifelt stellt sie sich gegen die Zeit, die für sie bedrohlich verrinnt. Gesine bemerkt, dass sie darüber das Verhältnis zu ihrem Leben zu verlieren droht: »Sie zieht sich so jung an wie die Mädchen, mit denen sie in unserem Schreibbereich arbeitet, und versucht sich auch in ähnlichen lässigem oder ausgelassenen Benehmen, aber wer das mit ihrem Sohn weiß, sieht ihr Alter, daß die Schminke nicht sitzen will. Man sieht sie auch untätig vor ihrer Maschine sitzen, sie ist nicht nur mit dem Abfeilen ihrer Fingernägel beschäftigt.« (JT, S. 422)

Mrs. Agnolo versucht nicht nur ihre Trauer zu überschminken, sondern auch die »Spuren der Zeit«, der Sorge, die in ihrem Gesicht lesbar werden. Sie versucht sich selbst zu neutralisieren, eine Person ohne Spuren zu werden, sich angesichts der Bedrohung in das Noch-Zeit-haben-Können und die rituelle Körperpraxis der Jugend zu flüchten. Mrs. Agnolo mag schmerzlich bewusst sein, dass die Erinnerung an ihren Sohn nicht seine Anwesenheit wiederherstellen kann, vielleicht nicht einmal eine Situation, in der sie ähnlich empfinden wird, wie es einmal gewesen ist. Diese Form des Erinnerns macht apathisch und produziert eine Form von Beziehungs-

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losigkeit.31 Diese in letzter Konsequenz bedrohlich werdende Praxis der Erinnerung ist Reaktion auf das unerbittliche Fortschreiten des Alltäglichen, sie ist Teil einer anderen Totalität, die jedoch in das Fortschreiten der alltäglichen Zeit integriert zu werden vermag, dieser ähnlich wird. Sie ist somit selbst eine Wiederholung, die »am Bewußtsein spart, daß es verhungert« (JT, S. 914). Das Fortschreiten der Zeit wird de Rosny vollständig erwachen und ihn in die Chefetage zurücktransportieren lassen, wo er an dem konkreten Ort seines Wirkens als Subjekt der Macht hergestellt wird, um in ihrem Sinne zu agieren. Das Fortschreiten wird den kleinen schwarzen Jungen mit der Bahn zu einem Teil der Stadt transportieren, wo die hier erfahrene Nähe zu einer weißen Frau nicht möglich ist, weil sie sich nicht in diesen Stadtteil begeben wird. Dieses Fortschreiten wird die »Baustelle Gedächtnis« verschwinden lassen und ihre Spuren zu verwischen suchen. So hat auch dieser unvermeidliche Fortschritt einen »Tropfenfall später« die »Erinnerung verfehlt.« Ich habe hier den »Nicht-Ort« als einen Zeugen für das Verschwinden des zu Erinnernden herausgestellt. Gleichzeitig birgt er die Möglichkeit, das bruchlose Überführen in einen anderen gesellschaftlichen Zustand zu hinterfragen, weil er den Bruch markiert, die Brüchigkeit der Konstruktion, des »gradlinigen Überganges« offenlegt. Mit der folgenden Textstelle möchte ich diesen Aspekt vertiefen und zeigen, wie sich dort diese Potentialität des Überganges als Sprengkraft seines Bildes erweist.

3.5 S PRENGUNG : DER 2. J UNI 1968 Auch die Erzählung vom 2. Juni 1968 konfrontiert uns mit der Verschränkung von Raum, Erinnerung und Begegnung. Die Situation der von ihr verlassenen Heimat Deutschland nimmt Gesine vermittelt durch die New York Times wahr. Zu Beginn dieses Tages wird geschildert, wie Gesine 31 | Auch Gesine weiß für sich selbst von der Gefahr eines Erinnerns, das ein so starkes Gegenbild zum Gegenwärtigen aufzeichnet, das so mächtig wird, dass es sie so aus der Wirklichkeit reißt, sie schließlich nicht mehr verortbar macht: »[…] der […] Tag […] erzeugt Verlangen nach einem Tag, der so nicht war, fertigt mir eine Vergangenheit, die ich nicht gelebt habe, macht mich zu einem falschen Menschen, der von sich getrennt ist durch die Tricks der Erinnerung.« (JT, S. 125, Auslassung durch Verf.)

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sich erinnert, einmal mit ihren Freundinnen Heimat erträumt zu haben: in einem Haus auf dem Land, zusammen mit den Kindern der Frauen. Gesine: »Es hat uns auch noch nie ein Wochenende auf dem Lande so gut gefallen. Könnten wir nicht ein Stück Ferien haben an jedem Tag.« (JT, S. 1256) Der letzte Satz der Erinnerungssequenz lautet: »Ja. Und ein Zimmer zum Weinen brauchen wir auch noch.« (JT, S. 1261) Er benennt die Sehnsucht nach und die Unmöglichkeit von Heimat, so wie sie dort auf dem Land erträumt worden ist. Solche Geschichten und die dort nur im Imaginären existierende Heimat möchte Gesine als mögliche Heimat erinnern können. Die Erinnerungssequenz an das Gespräch mit den Freundinnen markiert genau den Wechsel von einer distanzierten Erzählebene in die persönliche, die dann wieder in die distanzierte übergeht, als Gesine die Nachrichten aus Deutschland rezipiert. Gesine erfährt: Die einstige Heimat verändert sich, diese gesellschaftlichen Prozesse lösen bei Gesine weitere Entfremdung aus. »Und aus der Heimat, der anspruchsvollen, was meldet sie da? In dem einen Deutschland haben die Kommunisten die leipziger Universitätskirche gesprengt, am Donnerstag, da war es bei uns vier Uhr morgens. Der Studentin Cresspahl war das Gebäude aufgefallen, weil es keine Ziegelsteine zeigte und gemacht war, zwischen anderen Häusern zu stehen, dem Augusteum und dem Bürgerhaus mit dem Café Felsche, das ganz weggebombt war. 1518 eröffnet, 1545 geweiht von Martin Luther, seit 1945 gemeinsam benutzt von Katholiken und Protestanten: […]. Auf der gleichen Seite sieben, benachbart wie verwandt, heißt es vom westdeutschen Unterhaus, nein, es heißt Bundestag, daß 384 Abgeordnete ihre Stimme abgegeben haben für das Siebzehnte Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes. Wenn nun eine Regierung dort einen Notstand sieht, darf sie die Briefe, Pakete, Telefongespräche der Bevölkerung ausspionieren, die Bevölkerung selbst unter Waffen, an staatliche Arbeiten pressen, alles Errungenschaften, mit denen das Land dem ostdeutschen nicht unähnlicher wird.« (JT, S. 1262, Auslassung durch Verf.)

Die Sprengung der Kirche auf der einen Seite und die Notstandsgesetze auf der anderen Seite Deutschlands offenbaren nicht nur die Kälte der Systeme für die Lebenszusammenhänge und Gefühle der Menschen, ihr Eingreifen in Sphären, die sie nichts angehen, sondern auch ihre Ignoranz für die Möglichkeit von Geschichten. Denn es ist die sowohl historisch als auch für Gesine persönlich bedeutungsvolle Kirche, die im Osten bedroht ist, und es ist die Privatsphäre der Menschen, die nun im Westen

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dem Staat geopfert werden soll. Bei der Spiegelung der beiden Systeme werden auf der politischen Ebene ihre strukturellen Ähnlichkeiten deutlich. Sie greifen in Räume über, die ihnen verschlossen bleiben sollten, weil dort die Machtsphäre des Staatspolitischen aufhören muss. Wieder verteidigt hier das Erzählen das Geheimnis der Person gegen ein kollektivistisches Verständnis von Geschichte. Die »kollektive Verantwortung« wird zum Teil einer Wahn-Vorstellung, und es ist gerade kollektivistische Ideologie auf der einen und staatliche Ideologie auf der anderen Seite Deutschlands, wodurch sich das politische Handeln selbst demaskiert. Die Beschreibung des Innenraums der Kirche, die ein »Zwischenraum«, eben inmitten von »anderen Häusern«, ist, sowie die In-Bezug-Setzung dieser Kirche zur eigenen Geschichte sind ein Moment solidarischer Rück-Sicht vor den politisch verursachten Trümmern. Die Kirche erzählt nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern steht auch Pars pro Toto für die Geschichte des Systems, die nun auch bei der Erinnerung an die Kirche an ihr ablesbar wird. Die Gefährdung der Kirche, die umkämpfte Tradition, bleibt in dem Bild der Kirche bewahrt und überdauert ihre Sprengung: »Eingeschrieben« bleibt dieser Kampf um ihre Bedeutung in der Geschichte und suspendiert damit die »historisch-materialistische Wahrheit«, die der Kommunismus als Fortschritt in der Geschichte verheißt. Der Kampf um Überlieferung und Bedeutung, den die sozialistischen Machthaber kämpfen, wird auch dann noch ablesbar sein, wenn von der Kirche als Gebäude keine materielle Spur mehr zu finden ist. Das Bild der Kirche berichtet somit auch von dem Prozess seiner zwangsweisen Umkonnotierung, seiner Transformation. In seinen geschichtsphilosophischen Thesen formuliert Benjamin:32 32 | Einige Literaturwissenschaftler haben inzwischen – mit unterschiedlichen Schwerpunkten – auf Möglichkeiten und Grenzen der Vergleichbarkeit zwischen Johnson und Benjamin verwiesen. Helmut Kaffenberger hat auf Ähnlichkeiten zwischen Jahrestage und Benjamins Geschichtsphilosophie verwiesen sowie auf Ähnlichkeiten zum »Passagenwerk« und zur »Einbahnstraße«. Vgl. Helmut Kaffenberger: Die Katze Erinnerung und der Tigersprung ins Vergangene. Uwe Johnson und Walter Benjamin, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Uwe Johnson. Text und Kritik, Zeitschrift für Literatur 65/66, München: Richard Boorberg 2001, S. 104-114. Auch Kristin Jahn weist auf die Ähnlichkeiten zwischen Benjamins Geschichtsphilosophie und der Erinnerung hin, wie sie sich in Jahrestage ereignet. Vgl. Kristin

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»Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen wie es denn eigentlich gewesen ist. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben.« 33

Übertragen auf die Sprengung der Kirche bedeutet dieser Gedanke, dass der Augenblick der Gefahr, also das Moment der zwangsweise erfolgten Umkonnotierung des Symbols Kirche durch das System, wiederbelebt werden kann als zu erinnerndes Moment. Dies muss als kritisches Potential erfasst werden, so dass das Bewusstsein den Kampf um diese Tradition als historisch provozierten und nicht unvermeidlichen begreift. Das Bewusstsein, das bedroht ist, instrumentalisiert zu werden, kann somit ein Moment der Freiheit erlangen, wenn es die Erinnerung einfallen lässt, es sich mit ihr gegen die herrschende Ideologie stellt und in diesen Konstellationen den konstruierten historischen Determinismus durchbricht.34 So wie Gesine durch Konfrontation die strukturellen Ähnlichkeiten der beiden Systeme erkennt und über Erinnerung ihre eigene Biographie in die Geschichte stellt und diese somit fragwürdig, anfragbar und eben nicht notwendig erscheinen lässt, so plädiert auch Benjamin für ein anderes Ge-

Jahn: »Vertell, vertell. Du lüchst so schön.« Uwe Johnsons Poetik zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Heidelberg: Winter 2006. 33 | Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 695. 34 | Ich teile die in der Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Ausführungen Sigrun Stohlz-Sahls vertretene Auffassung von Ralf Zschachlitz, dass sich in Jahrestage diese Hoffnung auf Versöhnung, die bei Benjamin Erlösung im theologischen Sinne bedeutet, an welcher der Erinnerungsprozess partizipiert, nicht gegeben ist. Dass aber »Geheimnisse in Johnsons Literatur nur dazu da sind, in kritischer Lektüre aufgelöst zu werden«, würde ich entschieden bestreiten. Es kommt eben auf das Wie des Geheimnisses an. Vgl. Ralf Zschachlitz: »Ali Babas Parole«. Uwe Johnsons Jahrestage – Ein auratischer Roman?, in: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne. Internationales Uwe Johnson Symposium 22.-24.09.1994, Berlin/New York: de Gruyter 1995, S. 170-187.

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schichtsbewusstsein, dafür, dass die von der Geschichte selbst durch Verdrängung und Gewalt verursachte Gegengeschichte sichtbar gemacht wird. Die herrschende Ideologie fürchtet nichts mehr, als dass hinter den »alten Zähnen, die der Sozialismus zieht« sich die eigene Fratze der Grausamkeit zeigt. In beiden hier dargestellten Systemen werden die von der politischen Repräsentanz getroffenen Entscheidungen von dieser selbst als »Befreiungsschlag« legitimiert. Doch diese angeblich gewonnenen Freiheiten offenbaren de facto die Unfreiheit der Systeme, die für die Freiheit vorgeblich kämpfen. Deutschland, aus einer Diktatur kommend, wiederholt in einem neurotischen Reflex auf angebliche Bedrohung jene Verhaltensweisen, die Demokratie gerade aushebeln würden. Die Ähnlichkeit der beiden Systeme begründet sich in ihrer Ignoranz für genau diesen Wiederholungsmechanismus, der ihnen als Fortschritt erscheint. Die »Kirche des Kommunismus«, die auf den Trümmern der zerstörten Universitätskirche von Leipzig ihr Fundament zu stabilisieren glaubt, zeigt damit ein ähnlich ignorantes Credo wie das demokratische Westdeutschland, das sich über Abwehr eines konstruierten Bösen legitimiert und die Lebenssphäre der in ihr lebenden Menschen so missachtet. Der Wechsel der Erzählebenen markiert die ungesicherte Identität, die dort entsteht, wo die Ideologien sich sicher wähnen wollen. Während die New York Times chronologisch nach vorne berichtet, unterbricht Gesine dies durch Rück-Sicht in die Vergangenheit. Die unauffällige Kirche, die »gemacht war, zwischen anderen Häusern zu stehen«, wird in das eigene Dasein gestellt und erlangt so den Status »eines Hauses aus lebendigen Steinen« zurück (wie die Institution Kirche manchmal etwas vorschnell ihre Gebäude zu bezeichnen pflegt), kann wieder zu einem »fast wohnlichen Raum« werden. Es ist kein Zufall, dass genau nach dieser Schilderung Gesine beginnt, Stimmen zu hören. Dort, wo die Systeme einen Etappensieg davon tragen, setzt die »Normalität« in Gesines Leben aus und eine andere Realität fällt in ihr Erleben ein. Dort, wo die Systeme die Welt beherrschbar machen, scheint Gesine nicht mehr ganz in dieser zu sein und wird einmal mehr heimatloser. Sie ist nicht ganz außerhalb, denn die Stimmen – zwar nicht von dieser Welt, doch referierend, konstitutiv auf diese bezogen – konfrontieren sie doch wieder mit dem weltlichen Geschehen. Es ist eine Form von »Wahnsinn«, der einerseits zur Freiheit wird, wo Totalität das Dasein bedroht. Es ist der Wahnsinn, der andererseits zur Zwangs-Vorstellung wird, wo nur noch Zwang vorherrschend ist. Die Stimmen, die Gesine hört, zei-

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gen sich somit hier in ihrer Ambivalenz: Sie ermöglichen Ausbruch aus den vorgegebenen Erklärungszusammenhängen der vorhandenen Wirklichkeit in dem Moment ihres Einbruches; auf der anderen Seite spitzen sie zu, bedrängen Gesine, nun ihrerseits Antworten zu geben, die sie nicht zu geben vermag. Die akustische Illusion ist Antwort, wo die Antwortmöglichkeiten dieser Welt verstummen, sie bleibt Irritation. Die Stimmen verlangen: »Erklären Sie uns das, Mrs. Cresspahl. Sie sind doch auch von da her. Erklären Sie uns dies mit den Deutschen.« (JT, S. 1263) Dies verdeutlicht den Entfremdungsprozess. Die Stimmen suggerieren Gesine, dass auch so etwas, integriert in das »Sinnsystem« Deutschland, von einer Deutschen mitgetragen und erklärt werden muss. Wenn man gleichzeitig vermuten kann, dass sich in diese akustischen Halluzinationen auch häufig die Stimmen der Toten mischen, so ist diese Äußerung besonders irritierend. Was mit »den Deutschen« los ist, kann auch von Gesine nicht erklärend aufgelöst und beantwortet werden. Gleichzeitig aber vermag sie es als erdrückende historische Kontinuität aufzuzeigen, indem sie eben genau die Konstruktion von Kontinuitäten in der Geschichte (als ideologische Arbeit am Geschichtsverständnis) aufzeigt und diese so hinterfragt. Der letzte Satz des Tages, Marie in den Mund gelegt: »Diese deine Dialektik hättest du auch in Europa lassen können, Gesine« (JT, S. 1265), spitzt zu, dass in beiden geschilderten Systemen sich nichts Positives mehr herstellen kann. Die gezeigten Widersprüche lösen sich dialektisch hier nicht auf, sondern müssen zunächst ausgehalten werden, gerade dann, wenn mindestens von einem System behauptet wird, die Dialektik zeige sich durch genau dieses System in der Geschichte selbst am Werke. Die Abwehr heilsgeschichtlicher Dialektik, die hier erzählend entfaltet wird, verharrt nicht in der Bewegung der Abwehr – sie führt aber auch nicht in neue Ideologie: Nicht ein reaktionär durchsetztes Heimatbild wird erzählend gegen Ideologie gesetzt, sondern die Möglichkeit des Bildes, die sich im Augenblick der Gefahr einstellt. Die gesprengte Kirche entfaltet so eine Sprengkraft, die sich nicht in der im Dienst stehenden Staatsdialektik erschöpft, sondern das ist, was Benjamin als »Dialektik im Stillstand« bezeichnet hat und dem »still-act« innerhalb des Bewegungsflusses gleichkommt, der genauso die Ordnung des Gesellschaftlichen unterbricht.35 Benjamin: 35 | Vgl. hierzu meinen Bezug zu Lepecki in Buchteil A, Kap. 3.4 Tropfenfall: der 8. Dezember 1967, S. 119ff.

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»Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken, sondern ebenso ihre Stillegung. […] Der historische Materialist geht an einen geschichtlichen Gegenstand einzig und allein da heran, wo er ihm als Monade entgegentritt. In dieser Struktur erkennt er das Zeichen einer messianischen Stillegung des Geschehens, anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit. Er nimmt sie wahr, um eine bestimmte Epoche aus dem homogenen Verlauf der Geschichte herauszusprengen.« 36

In der Beziehung von Erinnerung und Zeit arbeitet diese Erinnerung gegen die politisch gesetzte Zeit des Fortschrittes, um sich formulieren zu können. Sie arbeitet somit gegen die Setzungen, die ihrerseits gegen das Erinnern zu arbeiten versuchen, die im lebensweltlichen Dasein verwurzelt sind. Mit dieser Arbeit wollen sie Identität in ihrem Sinne generieren. Eine solche Identität zeigt sich hier als Produkt eines Identifizierens, über das sich Geschichte als teleologisch gesetzte zu legitimieren versucht. In allen vier Textstellen haben wir die Erinnerung in Beziehung zur beschleunigten Zeit gesehen – sie im Wieder-Einfall und Stillstand aufblitzen sehen. Die Erinnerung hat sich bedroht gezeigt, doch die Anfrage der Spuren in den verworfenen Steinen hat Möglichkeiten eröffnet. Was bedeutet das für das Verhältnis von Entwurf und Ordnung, Erinnerung und Gedächtnis?

3.6 S PUR /SPUR Wie bereits in der Einführung zu diesem Kapitel herausgestellt und an Jahrestage konkret nachvollzogen, trennen sich Gedächtnis und Erinnerung. Die Trennung vollzieht sich durch das Wie des Auftauchens des zu Erinnernden. Dieses Wie des Auftauchens scheint mit den Möglichkeiten der Spuren zusammenzuhängen und den Möglichkeiten, die sich in der Begegnung mit ihnen ergeben. Das Phänomen der Spur ist uns als Erstes in der Begegnung zwischen Gesine und Marie begegnet: Marie sucht die Mutter nach Spuren des Tages ab. Gesine erkennt: Marie trägt die Spur eines Geheimnisses in ihrem Antlitz, das nicht mehr ganz aufgeklärt wer36 | Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 703 (Auslassung durch Verf.).

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den kann. Weist es für Gesine auf Maries Vater Jakob zurück, so vervielfältigt sich die Bedeutung doch bereits hier durch das Lebensgeheimnis, das Jakob trägt. Wir haben auch gesehen, dass die Spur Gesine in spezifischer Weise zu affizieren vermag. Die Spur zeigt sich also hier nicht nur als Spur, die auf die Hinterlassenschaft Jakobs verweisen könnte, sondern als Über-Setzungspunkt in einen Teil von Gesines Geschichte, der jedoch auch ihr nicht ganz gehört. Ein Nicht-Zulassen der Spur haben wir an dem urbanen Raum New York gesehen, der die durch ihn hindurchgehenden Körper normiert, aber gleichzeitig das individuelle Spuren-Hinterlassen unmöglich macht. Wir haben aber auch gesehen: Dies kann nur als Erinnerung zur Sprache kommen. Beim Betrachten der Baustelle begegneten uns die Spuren zunächst als Resultat eines Zerstörungsprozesses. Dieser sollte durch die »planierte Fläche« verdeckt werden, die die Spuren des Gewesenen übertüncht. Gleichzeitig ist deutlich geworden, dass für Gesine die Spuren des Vergangenen damit aber nicht zum Verschwinden gebracht worden sind. Sie konnte sie gerade in dieser »planierten Fläche« lesen, die für sie auch immer von dem Prozess spricht, der sie entstehen lässt. Auch hier ist somit gerade die Abwesenheit als Verdrängung der Spuren zur Spur geworden. Bei der Erinnerung an die Arbeiter im Foyer der Bank wurde der »Tropfenfall« zum Über-Setzungspunkt in die Vergangenheit. Gesine wurde gerade das Verwischen, das Polieren, zur Spur, weil es ein inneres Bild aufblitzen, wieder-einfallen ließ: Eine Spur, die sich nicht hat verwischen lassen, die aber auch nicht beabsichtigt war. Durchgängig haben wir so die Spur in der Funktion des Zeichens, des Verweisen-Könnens gesehen, gleichzeitig aber auch als eine Unterbrechung des Verweisungszusammenhanges. Wir haben die Präsenz der Spur so in der Abhängigkeit davon gesehen, erblickt und gelesen zu werden. Sie fiel uns aber auch dort auf, wo sie abwesend ist. An diesem Punkt wurden die Räume zu einem Archiv, in denen eine Ebene der Spur sich verräumlicht hat, obwohl sie sie zu verhindern suchte. Diese Ebene der Spur ist nicht der Abdruck, nicht die Hinterlassenschaft von etwas Konkretem, nicht das Zeichen – sondern sie ist eine Möglichkeit des Anderen (die Möglichkeit, anders zu bedeuten als in der Ordnung der Stadt), die in New York ausgeschlossen worden ist. (Wir werden dem auf der Spur bleiben … die Spur schließlich noch radikaler erscheinen und sich entziehen sehen.)37 37 | Vgl. auch Buchteil B, Kap. 2.2 Unterbrechung, S. 217ff.

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Gerade ein »kollektives (männliches) Gedächtnis«, das, wie wir gesehen haben, sich auf ein durch Konventionen hergestelltes Archiv des Bedeutens bezieht, kann dieses Bedeuten der Spur nicht in die Ordnung des Gedächtnisses aufnehmen. Das, was es hervorbringt, »zertritt die Spur« (JT, S.  64). Der Erinnerung jedoch ist die Spur anders zugänglich: weil sie nicht an Orten, die bereits im Sinne der Geschichte des Gedächtnisses Bedeutung haben, »Spuren zu suchen« beginnt (als vorhandene Spuren, als Zeichen, die verweisen sollen), sondern weil sie die Spur einfallen lässt, die erst im Erinnern hervortritt, das von ihr ausgelöst wird. »On the spur of a moment« (JT, S. 942) – dieser Satz, mit dem Lisbeth Cresspahl – bzw. Lisbeths Englischlehrerin – von Leslie Danzmann zitiert wird, die Geschichte bereits vollständig sich übersetzt hat, birgt gerade in seiner Verschiebung zur Redewendung etwas Interessantes in sich: Er macht das Moment vergleichbar, das gerade von etwas Unvergleichbarem spricht. So verbindet sich durch diese Verschiebung das »Auf-der-SpurBleiben« grundsätzlich mit dem »Stachel« oder dem »Dorn« (»spur« bedeutet auch Sporn), den Gesine erwähnt, als sie über das Phänomen des Stimmenhörens reflektiert, das ihr Erzählen unterbricht: »[…] kommen mir gelegentlich vom Zwischenreden der Toten Pausen bei, aber nicht länger als ein Dorn in ein Kleid einen Triangel reißt.« (JT, S. 1541, Auslassung durch Verf.) »On the spur of the moment« ist eine Redewendung, die das Plötzliche, Unerwartete betont, das in den Moment einzufallen beginnt – und die dadurch gerade das spezifische Moment nicht mehr einzuholen vermag. »On the spur of the moment« ist ein Satz, der noch die Spur des Momentes nachzuzeichnen vermag und deshalb immer schon Jenseits des Momentes ist, in dem er sich begründet (was auf dieselbe Bewegung verweist, die im »Tropfenfall später«38 sichtbar geworden ist). Bezogen auf die Erinnerung an dieses Moment ist diese »spur« also genau die Sprengkraft des Momentes, welche die Bedeutung der fortlaufenden Zeit suspendiert; das Moment, in dem das Gedächtnis an gradlinigen Konstruktionen durch etwas gehindert wird, das sich ihm in den Weg stellt, das heraussticht, das unerwartet und plötzlich Irritation bewirkt. Diese Spur/spur hat auch eine Nähe zu der »Sperre im Zahnrad«, die »das Zurückschlagen der Winde« (JT, S. 1253) verhindert (»spur gear« be-

38 | Vgl. auch Buchteil A, Kap. 3.4 Tropfenfall: der 8. Dezember 1967, S. 119ff.

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deutet auf der technischen Ebene »Stirnradgetriebe«), die Gesine als Bedeutungsebene in ihren Namen legt.39

Z WEITE Ü BERSE T ZUNG Erinnerung ist der Wieder-Einfall des Anderen in die Ordnung des Gedächtnisses. Geschichte als Entwurf setzt durch den Wieder-Einfall des Anderen in Sprache über. Die Spur des Anderen ist Stachel (spur) im Gedächtnis: Das Geheimnis im »Hohlraum Luft« hebt das Wellenrad Erinnerung durch den Widerstand im Zahnrad empor. Geheimnis und Erinnerung haben sich in Beziehung zum Tod gezeigt, von dem sie bedroht sind. Gleichzeitig haben wir an der Erinnerungspraxis von Mrs. Agnolo auch gesehen, wie das ritualisierte Erinnern eine Form des »sozialen Todes« produziert. Ich möchte die unterschiedlichen Erscheinungsweisen des Todes in Jahrestage nun genauer betrachten, um dann noch einmal auf die Möglichkeit des Erzählens zurückzukommen.

39 | Vgl. Buchteil A, Kap. 2.3 Erste Seite: Hohlraum, S. 63ff.

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4. Zwischen Update und Ableben Das Kind Gesine kannte sich inzwischen aus mit den Begräbnissen. Sie wußte das mit den drei Händen Erde auf den Sarg. (Jahrestage, S. 932)

4.1 D ER TOD LEBT Will Jahrestage doch gerade eine Lebens-Geschichte sein, so ist auffällig, dass der Tod eine dominierende Rolle in der Erzählung einnimmt.1 Gesines Fragen an das Leben begründen sich auch, wie wir gesehen haben, in ihrem gegenwärtigen Dasein in New York, aber eben nicht ausschließlich in diesem. In ihrem Leben nimmt der Tod schon durch zahlreiche Verlusterfahrungen eine dominierende Rolle ein. Sie träumt von ihrem eigenen Tod (JT, S. 406) und hört, wie die Stimmen die »jährliche Rede auf deinen Tod« halten (JT, S. 286). Diese Dominanz des Todes ist biographisch verständlich, da von den ihr nahestehenden Menschen der Vater der Einzige ist, der nach einem schwierigen, harten Leben eines »natürlichen« Todes stirbt. Traumatisch ist der Selbstmord ihrer Mutter, der die Konsequenz aus einem völlig entfremdeten Leben ist. Lisbeth erlebt Leben als Schuldigwerden und flüchtet sich in die Religion, die ihr dennoch – gerade in der Institution der protestantischen Kirche – keinen Halt im Leben zu geben vermag. Ihr von Leid und Entbehrung geprägtes Selbstverständnis als Christin überträgt sie auf ihr Kind, das dann nicht nur mit dem Selbstmord der Mutter fertig werden muss, sondern auch damit, dass diese sie wahrscheinlich nicht vor einem Tod durch Ertrinken gerettet hätte. Lisbeth 1 | Vgl. hierzu auch Mecklenburg: »Vom Tod hat wie andere Erzähler auch derjenige in Jahrestage ein Teil seiner Autorität geliehen.« Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 328.

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Cresspahl wird nicht heimisch in dieser Welt. Als sie Zeugin des Mordes an Marie Tannebaum wird, will sie sich ein weiteres Mal endgültig nicht mehr mit dem Leben arrangieren. Der vierte Selbstmordversuch nach dem 9. November 1938 gelingt. Somit zeigt sich ihr Selbstmord auch als Widerstand gegen eine Gesellschaft, die – Lisbeth scheint es zu ahnen – dem Terror der Nazis verfällt. Gesine muss also mit einer durchaus ambivalenten Tat der Mutter leben, die sich zwischen religiöser Neurose und politischem Widerstand verorten lässt. Der Tod der Mutter bleibt als Tat rätselhaft. Rätselhaft bleiben auch die Umstände des Todes ihrer wichtigsten männlichen Bezugspersonen: Pius, Jakob und D.E. Auf sie werde ich in diesem Kapitel eingehen. Die Dominanz des Todes in Gesines Leben geht zum Teil so weit, dass sie Menschen ihrer Umgebung von der Möglichkeit ihres Sterbens aus betrachtet, so wie z.B. über de Rosny angemerkt wird: »Sie sieht da einen Herrn, der hat für seinen Körper gesorgt von Jugend an, an dem wird er nicht sterben. Es muß schon schlimmes Alter sein, das diesen erledigen will. Er hat sein Gehirn beschäftigt, aber ohne Gewalt, ohne es treiben zu lassen in Alkohol. Dieser wird einmal sehr wach sein, wenn er in den Tod geholt werden soll.« (JT, S. 1471)

Durchgängig werden wir in Jahrestage mit unterschiedlichen »Todesarten« und einem unterschiedlichen Umgang mit ihnen konfrontiert. »Sterben« ist nicht einfach das Ende des Lebens. In Jahrestage lesen wir von Geschichten, in denen Sterben bereits mitten im Leben sich volllzieht: »Ihnen ist nicht gelungen, Besitz aus Europa vor den Nazis zu retten, sie sind nicht hoch abgefunden worden, sie können nicht bürgerliche Vergangenheit verlängern in den polierten Wohnungen am Riverside Drive, sie leben für sich. Aufgegeben von ihren Kindern, übriggeblieben aus langen Ehen, allein leben sie die letzten warmen Tage ab auf dem Broadway, doch in der Nähe von Bewegung, Verkehr, Umsatz, bis sie zurückmüssen in ihre möblierten Zimmer, in die Altersheime an der West End Avenue.« (JT, S. 98)

Der »soziale Tod« wird hier deutlich: Die Menschen sind zurückgelassen, beziehungslos, wirken wie Statisten vor polierter Kulisse, leben die Tage ab – Ableben, Sterben geschieht bereits. Der Stadtraum ist Teil ihrer Beziehungslosigkeit. Die Macht des urbanen Raumes haben wir bereits dar-

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in erkannt, dass er die Bewegungen hervorbringt, während er gleichzeitig singuläre Spuren fürchtet und so die Identität des Einzelnen in die Identität des Systems zu assimilieren beginnt. So kann man in der Tat von einem »Tod mitten im Leben«2 sprechen. Das, was man als den »Tod mitten im Leben« bezeichnen kann, ist eine Erscheinung, die vom Tod selbst spricht, weil der soziale Tod eine Entfremdung des Daseins von dessen Strukturen ist und ebenso Abbruch und Sprachlosigkeit nach sich zieht, ebenso die Unmöglichkeit eines Zeugnisses, das sich selbst zur Sprache bringt, wie es der faktische Tod am Ende des Lebens mit sich bringt. Der soziale Tod ist eine Konsequenz aus der Tabuisierung des Todes: Die Isolation spricht vom Ausschluss aus dem »produktiven Leben« und enttarnt dieses Leben als falsches. Falsch, weil es auf die Falschheit eines Systems hinweist, das das Dasein seiner Möglichkeiten beraubt, während es gleichzeitig suggeriert, dass in ihm nichts mehr unmöglich ist. Dies manifestiert sich sowohl in den sozial-politischen als auch in den kulturell-ästhetischen Praktiken einer Gesellschaft.3 Eine Gesellschaft, die sich nicht über den Tod verständigen kann, zelebriert umso mehr die Jugendlichkeit, die Aktivität und die Produktion. Je stärker sie sich in diesem Sinne inszeniert und die Inszenierung so zur bestimmenden Realität ihres Daseins wird, desto schwerer fällt es ihr, sich zum Tod zu verhalten, wenn er ihre Inszenierungen radikal unterbricht4 – daher die Panik in den Me2 | Dorothee Sölle hat dieses Phänomen als »Tod am Brot allein« bezeichnet; sie meint damit das Ende der sozialen Begegnungen in der Totalität von Konsum und Produktion. Vgl. Dorothee Sölle: Die Hinreise. Texte zur religiösen Erfahrung. Stuttgart: Kreuz 1975, S. 7ff. D.E. schreibt an Gesine: »Gewiß ich kenne die Lebenden an den Stellen, wo sie zum Funktionieren kommen […].« (JT, S. 817, Auslassung durch Verf.) 3 | Vgl. zu diesem Aspekt auch Derrida: »Der Begriff der Kultur kann scheinbar gleichbedeutend sein mit Kultur des Todes, als ob im Grunde genommen Kultur des Todes ein Pleonasmus oder eine Tautologie wäre.« Vgl. Jacques Derrida: Aporien. Sterben – Auf die »Grenzen der Wahrheit« gefasst sein, München: Wilhelm Fink 1998, S. 77. 4 | In seiner Predigt anlässlich des Gedenkens der Opfer der Duisburger Loveparade 2010 hat Franz-Josef Overbeck formuliert: »So wie sie [die Teilnehmer der Loveparade, Verf.] sehen wir Menschen uns gerne: jung, dynamisch, in Feierlaune, völlig sicher, dass alles gut gehen wird. Am frühen Abend dann das Chaos: Tote und Verletzte. So erleben wir uns auch: Von

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tropolen vor all dem, was »Stillstand« bedeutet.5 Der Fortschritt zeigt sich in ihnen als ein Reflex auf die von der Aufklärung verdrängte Angst vor dem Tod. Der Raum der Verdrängung sichert sich insofern gegen die Anwesenheit des Todes ab, indem er das Leben in Bewegung als das »eigentliche Leben« zelebriert. In »Totenstille«, »Totenruhe« und »Totenstarre« kommt dieses Verständnis auf den Begriff.6 »Sein in Bewegung« wird zum Sein gegen den Tod und kann damit zu Recht als das »ontologische Projekt der Moderne«7 bezeichnet werden. Die Menschen, die »ihre letzten warmen Tage ableben«, sind noch in »der Nähe von Bewegung« (JT, S. 98), wie wir oben gesehen haben. Gerade auch die beschleunigte Metropole New York steht für diese Erscheinung. Hier unterbricht auch ein Verunglückter nicht den Bewegungsfluss, der sich auch hier doppeldeutig am »Niedergang«8 ereignet: »Auf dem Broadway, am Niedergang zur Ubahn war ein alkoholkranker Mann auf dem vereisten Matsch von gestern hingeschlagen und hatte sich verzogen in arg-

jetzt auf gleich bricht alles zusammen. Menschen sterben, werden verletzt – an Leib und Seele. […] Wir möchten das Leben sicher gerne steuern und haben es doch nicht im Griff.« Vgl. Franz-Josef Overbeck: Predigt im Gedenkgottesdienst für die Opfer der Loveparade in Duisburg. Gehalten in der Salvatorkirche Duisburg am 31. Juli 2010; nachzulesen unter: http://www.bistumessen.de/bistum/bischof/texte-des-bischofs-zum-download/, zuletzt aufgerufen am 06.02.2012 (Auslassung durch Verf.). 5 | Paul Virilio schreibt: »[…] es ist eine Politik des Fortschrittes und der Veränderung, Worte ohne Inhalt, genauso wie man hinter der hellerleuchteten Megalopole – eine Stadt, die keine Ruhe mehr kennt – nur noch die verschwommene Silhouette der alten Festung ausmachen kann, die gegen ihre Trägheit ankämpft und für die das Verharren der Tod bedeutet.« Vgl. Paul Virilio: Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie, Berlin: Merve 1980, S. 23 (Auslassung durch Verf.). 6 | Vgl. auch Buchteil A, Kap. 4.5 Tote mit Landschaft: der 26. Mai 1968, S. 169ff. 7 | André Lepecki: Option Tanz. Performance und die Politik der Bewegung, Berlin: Theater der Zeit 2008, vgl. auch meinen Bezug zu dem von Lepecki stark gemachten Begriff des »still-actes« in Kap. 3.4 Tropfenfall: der 8. Dezember 1967, S. 119ff. 8 | Vgl. auch Buchteil A, Kap. 3.2 Spurlosigkeit: der 7. September 1967, S. 107ff.

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losen Schlaf. Die Leute stiegen bei aller Eile sorgfältig über die Beine des Verunglückten, wie ein Pferd über den, den es abgeworfen hat.« (JT, S. 393)

New York zeigt sich so – wir sind diesem Phänomen bereits auf der Spur gewesen – durchgängig als New York Times, ist Fortschritt und Produktion von Sinn für die Zukunft, die über den Tod hinwegschreiten kann. Nun ist es allerdings nicht so, dass in dem Raum, in dem der Tod als Existenzfaktum verdrängt ist, dieser ausschließlich in seiner Negativität erscheint. Die rituellen Praktiken des Gedächtnisses sowie der Trauerarbeit werden in den Raum des Öffentlichen integriert. Hier zeigt sich der Umgang mit dem Tod in der Ambivalenz, die sich daraus ergibt, dass er zwar als Bruch im Leben wahrgenommen wird, dennoch gerade die rituelle Praxis diesen Bruch in der Logik des Fortschrittes zu neutralisieren vermag. Jacques Derrida formuliert: »Aber eine Kultur und ein soziales Gedächtnis können sich mit jedem Tod belasten (das ist sogar ihre wesentliche Funktion und ihr Daseinsgrund). Sie begrenzen in diesem Maße die »Realität« dessen, sie tilgen sie im Symbolischen.« 9

Die Tilgung des Todes im Symbolischen ist kulturelle Praxis, deren Symbolik, so Derrida, sowohl als Repräsentation des Todes als auch als Repräsentation seiner Verdrängung gelesen werden kann. Somit zeigt sich kulturell-kollektive Arbeit auch als die Trauerarbeit, die den Fortschritt absichert, wenn sie sich gerade um den Bruch, den der Tod mit sich bringt, herum zu organisieren versucht.10 Dies wird besonders deutlich an Lebenswegen, in denen der Tod aus der Ordnung des gesellschaftlichen Daseins nicht entlässt; sogar der Tod ist Teil einer Inszenierung, in der der Tote noch seine symbolische Funktion einzulösen hat. In Jahrestage wird dies besonders an der Inszenierung der Beerdigung Robert Kennedys deutlich:

9 | Jacques Derrida: Apokalypse. Von einem neuerdings erhabenen apokalyptischen Ton in der Philosophie, Wien: Passagen 2000, S. 108. 10 | Die Möglichkeit eines kritischen Umganges mit dem Symbol liegt dann darin, es aus seinem Funktionszusammenhang herauszulösen und so den Bruch des Bruches zu erzeugen. Vgl. hierzu Buchteil A, Kap. 3.5 Sprengung: der 2. Juni 1968, S. 130ff.

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»Die Regie der Familie verlangt, daß der Tote jene Senatsgebäude passiert, in denen er Büroräume benutzt hat. Begrüßungsjubel, der verschüchtert abstirbt. Scharfschützen auf den Dächern, verkleidete Polizei überall. Die Leiche muß sich vier Minuten lang verabschieden, von der sanft angestrahlten Figur Abraham Lincolns, der doppelt in seinem Sessel sitzt, so verzogen ist das Bild. Und noch einmal: Der Schlachtchoral. Präsident Johnson im ersten Wagen hinter seinem abgeschlagenen Widersacher, umhastet von Geheimdienstleuten.« (JT, S. 1324f)

Noch als Toter muss Kennedy »symbolische Handlungen« vollziehen, der Regie und Choreographie eines öffentlichen Lebens folgen. Gleichzeitig achtet die staatliche Gewalt darauf, dass nichts diese Ordnung stört. Wir erkennen hier die Organisation des »kollektiven Gedächtnisses« wieder: Mit der Inszenierung wird dafür gesorgt, dass Kennedy als derselbe im Gedächtnis bewahrt bleiben kann. Einen krassen Kontrast zu der Beschreibung von Kennedys Beerdigung bildet die Beschreibung des Sterbens Kennedys, in der deutlich wird, wie der Diskurs des Wissens dieses Sterben rational verbannt: »Dann trat die erste Kugel durch Kennedys rechte Achselhöhle ein, bohrte sich aufwärts durch Fett und Muskeln und blieb dichter unter der Haut stecken, zwei Zentimeter vom Rückgrat entfernt, in einem Stück. Die andere Kugel traf unter dem rechten Ohr auf den Einsatz des Schläfenbeins. […] So flog die hohle Spitze der Patrone gegen den ›wabigen, schwammigen Warzenfortsatz‹ und schickte Splitter von Metall und Knochen in das Kleinhirn, in das Mittelhirn, in die rechte Hemisphäre. Das schon durch Sauerstoffmangel beschädigte Gehirn war beeinträchtigt in seinen Funktionen Balance und Bewegungskontrolle (Kleinhirn) Sehfähigkeit (Hinterhauptlappen) Augenreflexe, Bewegung der Augen und des Körpers, Nervenverbindung zwischen Groß- und Kleinhirn (Mittelhirn) Kontrolle über Herzschlag, Atem, Blutdruck, Verdauung, Muskelreflexe, Emotionen (Stammhirn, ›altes Gehirn‹). So daß ein Überleben nicht zu wünschen war.« (JT, S. 1308f., Auslassung durch Verf.)

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Durch die gliedernde Wiedergabe des Textes wird deutlich, wie der Diskurs des Wissens die Macht des Todes bannt, indem sie das Leben buchstäblich in Einzelteile zerlegt, bis der konkrete Mensch verschwindet und nur noch seine beschädigten Organe sichtbar sind – deren wichtigste Zentrale das Gehirn ist. Treten hier Beeinträchtigungen ein, ist ein »Überleben nicht zu wünschen«. Der Hirntod ist eine Übersetzung des Todes innerhalb des Diskurses der technischen Wissensgesellschaft.11 Die geschilderte Trauerzeremonie führt den Tod zurück in die Kontinuität des Daseins, des »öffentlichen Lebens«, und sichert ihm so seinen Platz im »kollektiven Gedächtnis«. Die medizinische Analyse verbannt das Leben in Fachvokabular. Beide Strategien sind – obwohl sie sich um den Tod herum organisieren – eine Verdrängung des realen Schreckens, den das Sterben mit sich bringt. Wenn die aufgeklärte Gesellschaft den Tod also entweder völlig tabuisieren muss oder ihn vermittels aufgeklärter Wissenschaft oder Inszenierung zu rationalisieren versucht, trägt sie damit bereits den Rückfall in Mythologie in sich, der sie sich enthoben glaubt.12 Da sie dies aber nicht zu reflektieren vermag, wird der reale, schmerzvolle Tod als Ende des Lebens und als unweigerlicher Bruch dem Blickfeld des Menschen, soweit dies organisierbar ist, entzogen. Jean Baudrillard formuliert: »Man spricht immer weniger von den Toten, man faßt sich kurz, man schweigt – eine Mißachtung des Todes. Schluß mit dem feierlichen und umständlichen Tod in der Familie: man stirbt im Krankenhaus – eine Exterritorialität des Todes. Der Sterbende verliert seine Rechte, insbesondere das, zu wissen, daß er sterben wird.«13 11 | Jacques Derrida hat darauf hingewiesen, dass mit dem Überschreiten territorialer und nationaler Grenzen sich auch die Todesgrenze verschiebt. Vgl. Jacques Derrida: Aporien, S. 47ff. 12 | Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: »Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie.« Vgl. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 18. 13 | Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, München: Matthes und Seitz 1991, S. 289. Ähnlich auch Theodor W. Adorno: »Je weniger die Subjekte mehr leben, desto jäher, schreckhafter ist der Tod.« Vgl. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, in ders.: Gesammelte Schriften

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In Jahrestage wird gezeigt, wie eine Gesellschaft den sozialen Tod durch Verdrängung des realen Todes produziert. Diese Gesellschaft vermag sich nicht die Bedrohung des Todes zu vergegenwärtigen oder zwingt jene, die unausweichlich mit ihm konfrontiert sind, in die gesellschaftliche Verstellung hinein. Gesine kann der Macht dieses sozialen Todes entkommen, wo sie durch die Erinnerung der Toten eingedenk bleibt. Sie verdrängt die schmerzvolle Realität des Todes nicht. Sie verweigert sich aber den institutionalisierten Zeremonien der Trauer. Im Folgenden möchte ich nun die verschiedenen Formen des Todes anhand weiterer Passagen aus Jahrestage genauer betrachten. Bereits erarbeitete Aspekte der Übersetzung, des Geheimnisses und der Erinnerung werden hier wieder aufgegriffen.

4.2 V ERWALTE TE S PR ACHE : DER 11. A UGUST 1968 Gesines Lebensbegriff, die ihm eingeschriebene Ambivalenz, ist, das wurde bereits deutlich, auch vor dem Hintergrund der sozialen Wirklichkeit ihrer Begegnungen zu verstehen. In ihrem Alltag in New York begegnet Gesine immer wieder Menschen, die die Selbstverständlichkeit des Lebens ebenfalls verloren zu haben scheinen. Ein prägendes Beispiel dafür ist Mrs. Ferwalter, eine Überlebende des Holocaust, eine Displaced Person. Ihr Herz hängt noch immer an ihrer Vision vom »Alten Europa«, und auch dieses imaginäre Ideal lässt sie in Amerika nicht heimisch werden. Zu Gesine sucht sie Nähe, weil Gesine für sie das andere, das nicht nationalsozialistische Deutschland verkörpert. Ihre Sprache gibt Aufschluss über ihre Sehnsucht und das ambivalente Verhältnis einer Überlebenden zum Leben, die nicht richtig trauern kann über das, was ihr widerfahren ist. Mrs. Ferwalters Sprache schockiert. Es gibt eine Szene, in der sich in die schockierende Sprache der Schock des Lebens selber einzuschreiben scheint – ein Schock, der auch Gesines Lebensbegriff nachhaltig prägt. Gesine begegnet an diesem 8. August Mrs. Ferwalter wie so oft draußen im Park. Marie hat zuvor Mrs. Ferwalters Tochter Rebecca zu einem »Kindernachmittag« eingeladen und Mrs. Ferwalter ist besorgt darüber, dass es dort nichts Koscheres zu essen geben wird. Sie verspricht, sich selbst um in 20 Bänden., Hg. v. Rolf Tiedemann, Band 6, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 363.

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dieses Essen zu kümmern. In diesem Moment, als sie beginnt, von diesem koscheren Essen zu sprechen, überfällt sie ihre Erinnerung wie ein Schock und reißt sie förmlich aus der gegenwärtigen Situation, in der sie dennoch das Gespräch mit Gesine aufrechterhält: »Ich werde bringen Passovergebäck, das ist buntfarbenes mit dickem Überzug, die Kinder mögen es auf einer Gesellschaft, es schmeckt nach Marzipan. Wir haben es zum letzten Mal zu Hause gebakken im vierundvierziger Jahr. Damals gehörte unser Ort zu Ungarn. […] Wir kamen nach Auschwitz. Ich war da acht Monate. Die meisten kamen gleich ins Krematorium. Viele von den Aufsehern laufen noch umher, und man staunt wo. So wie wir hier sprechen habe ich mit dem Mengele geredet.« (JT, S. 1786, Auslassung durch Verf.)

Der Schock, den wir als Leser wahrnehmen, wird durch ihren Sprachduktus vergrößert, weil er zeigt, wie die Bedrohung durch den nationalsozialistischen Terror in ihren Alltag zurückkehrt und sie gleichzeitig so darüber spricht, als gehöre dies zum Alltag dazu und könnte übergangslos in einen Small Talk überführt werden. Ihre Peiniger nennt Mrs. Ferwalter im Verlaufe des Gespräches nicht nur »Aufseher«, sondern bezeichnet sie als »Chefin«.14 Ihre Ankunft in Auschwitz schildert sie mit Worten, die sprachlos machen: »Bei der Ankunft in Auschwitz wurden wir entlaust (you know, some kind of disinfection) und geschoren. Das Haar wuchs doch nach, und Frau Stiebitz sagte gern: Wie schön. War es ja auch. Ja, die Selektion war wie eine Schönheitskonkurrenz. Auch Frau Gräser sagte einmal: Sie könnten gehen als Schönheitskönigin.« (JT, S. 1787)

Das Bewusstsein mag bruchstückhaft erahnen können, welche Gewalt sich hinter solchen Worten von Mrs. Ferwalter verbirgt. Zusammen mit Gesine werden wir radikal mit einer Sprache konfrontiert, die um eine Identität ringt, die radikal bedroht gewesen ist und nun versucht, sich mit dem Schrecklichsten zu arrangieren. Diese Sprache erscheint als Zeugnis für eine Sprache, die mit der Vernichtung kämpft und die das Widerfahrene nicht anders zu übersetzen vermag, nicht, ohne selbst eine Grausam14 | Vgl. hierzu auch die Aussage von Mrs. Ferwalter: »Eine von den Aufseherinnen, die war so gut, sie hatte fünf Kinder und mußte das alles ja.« JT, S. 46.

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keit zu wiederholen, die dem Leben angetan worden ist. Das Sprechen von Selektion als »Schönheitskonkurrenz« ist in mehrfacher Hinsicht bezeichnend: Es zeigt zum einen, wie das Bewusstsein sich in Banalisierungen rettet, als sei die Ankunft in Auschwitz nichts anderes als ein Modelcasting gewesen. Zum anderen zeigt es aber auch einen Zusammenhang zwischen ästhetischen Normen und dem Tod an. Das Ästhetische scheint als Wertung immer zu funktionieren. Das Selektionssystem des Ästhetischen zeigt sich hier als Teil der Todesmaschinerie. Der nach ideologischen Maßstäben »ästhetisch-trainierte Körper« ist der Körper, der überleben darf. Das ästhetische Argument dient sich nicht nur zynisch diesem System an, sondern konstituiert es bereits mit. Die widerfahrene Gewalt kann von der Sprache nicht als Gewalt bezeugt werden und gleichzeitig eine Trauer mit formulieren. Was die Sprache ausdrückt, ist das Versagen des authentischen Sprechens, aber auch ihr Weiterfunktionieren im Inauthentisch-Verstellten.15 Bezeichnend für unsere Frage des Erinnerns, wie ich sie oben unter der Spannung von Anund Abwesenheit der Spur diskutiert habe, ist es, dass es eine Alltäglichkeit, das koschere Gebäck, ist, die Mrs. Ferwalter in den Prozess dieser Erinnerung bringt. Es ist allerdings eine Alltäglichkeit aus dem jüdischen, dem bedrohten Leben16 – es ist eine Alltäglichkeit des Essens, wenn Essen zum Fest wird, eine Alltäglichkeit innerhalb eines Zeitbewusstseins, das unter der Nazidiktatur unmöglich geworden ist. Wir wissen etwa durch Hans Schnier, wie sehr das fehlende Essen in der Erinnerung präsent wird und ihre Bilder bestimmt.17 Dies zeigt nicht nur die Unberechenbarkeit des Erinnerns, das des Vergangenen dann teilhaftig wird, wenn assoziativ, 15 | Norbert Mecklenburg schreibt zu diesem Aspekt: »Das deformierte, entfremdete Reden Mrs. Ferwalters besteht darin, dass sie genau den Zivilisationsbruch nicht artikulieren kann, von dem sie zugleich Zeugnis gibt.« Vgl. Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 308. 16 | Auch ein Unterschied zu der Erinnerung, wie Proust sie beschreibt. Vgl. auch Buchteil A, Kap. 3.3 Streik: der 8. September 1967, S. 113. 17 | Hans Schnier: »[…] wir sind nie richtig satt geworden, wenigstens zu Hause nicht. Ich weiß bis heute nicht, ob es aus Geiz oder aus Prinzip geschah, mir wäre lieber ich wüsste, daß es aus Geiz geschah […].« Vgl. Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns, in: Árpád Bernhard (Hg.): Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns, in: ders.: Werke, Kölner Ausgabe. Hg. v. Árpád Bernath, Band 13, Köln: Kiepenheuer und Witsch 2004, S. 156 (Auslassung durch Verf.).

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konstellativ Bilder einfallen, es zeigt auch die Fähigkeit, das zu erinnern, was auch damals schon abwesend gewesen ist. Mrs. Ferwalter erinnert ein Fehlen von etwas. Es ist Erinnerung an diese Bilder, die Heimat bedeuten sollten, wo ihr die Heimat geraubt worden ist. So wie dem Leser berichtet wird, dass es in den ersten Begegnungen mit Gesine »der Geschmack des Brotes« (JT, S. 47) gewesen ist, den Mrs. Ferwalter assoziativ mit Gesine in Verbindung setzt und der sie Vertrauen zu Gesine fassen lässt, so ist es hier ein Moment der eigenen kulturellen Tradition, das ihr schmerzlich bewusst macht, was verloren und erlitten wurde. Der Bruch, den die Erinnerung hier erzeugt, wird durch die Sprache ex negativo in ihrem Weiterfunktionieren angezeigt.18 Gleichzeitig versagt sie in der Formulierung von Schuld. Zu schrecklich scheint für Mrs. Ferwalter die Erkenntnis zu sein, dass jene Täter im vollen Bewusstsein quälten und mordeten. So braucht Mrs. Ferwalter diesen Mechanismus der Verdrängung innerhalb des Erinnerns, um überleben zu können, um wieder Begegnungen eingehen zu können. Jene Verbrecher, so redet sie sich ein, waren nicht grausam, sondern ihrerseits in Sorge um das eigene Leben und das Leben derer, die ihnen am wichtigsten waren. Es ist die absurde Hoffnung auf eine Anthropologie, das Vertrauen in eine Kultur, die immer das moralisch Gute gepriesen hat, die Mrs. Ferwalter nicht aufgeben will, weil dies ihre innere, geistige Heimat zu sein scheint.19 Mrs. Ferwalter schafft es nicht, anzuklagen, weil sie diese geistige Heimat dann als Täuschung erkennen muss. So ist für ihren Schmerz keine Sprache mehr gegeben, die nicht schon wieder am System des Verbrechens partizipiert. 18 | Alexandra Kleihues schreibt zu dieser Stelle: »In Hinsicht auf die Personencharakteristik kündigt sich im unkontrollierten Wechsel vom Alltagsgespräch in die Vergangenheitserzählung, die naiv-groteske Vermischung der Sphären an, in psychologischer Hinsicht drückt sich darin das gespaltene Selbst der Überlebenden aus. […] In dem Moment, als Mrs. Ferwalter das Pessachgebäck herstellt, ersteht an ihrer Stelle die junge Frau, die 1944, unmittelbar nach dem Pessachfest deportiert wurde.« Vgl. Alexandra Kleihues: Gräser alias Grese? Die Jahrestage im Kontext des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, in: Michael Hofmann (Hg.): Johnson-Jahrbuch 13/2006, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2006, S. 218f. (Auslassung durch Verf.). 19 | Vgl. hierzu auch Mrs. Ferwalter: »Es ist eine gute Erziehung, die europäische: hatte sie gesagt, in ihrem gebrochenen Englisch, gebrochenen Deutsch […].« (JT, S. 46, Auslassung durch Verf.)

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Der letzte Satz dieser Begegnung zwischen Gesine und Mrs. Ferwalter lautet: »Und bleibt es dabei, daß das Gebäck ich bringe zur Kindergesellschaft, Mrs. Cresspahl?« (JT, S. 1789) Auf der einen Seite wird durch die »Kindergesellschaft« eine Hoffnung in die Zukunft projiziert. Jedoch sind es auch schon die Kinder, die die Gewalt zu reproduzieren beginnen. Mrs. Ferwalter weiß zu berichten, dass ihre Tochter Rebecca von einem Jungen mit Namen Moses Deutsch verprügelt wird. Der Name »Moses Deutsch« spielt einerseits auf die jüdische Assimilation an20, die vor antisemitischer Gewalt nicht schützen konnte. Andererseits zeigt er, dass Assimilation ins »Deutschtum« auch bedeutet, eine Struktur der Gewalt anzunehmen und zu reproduzieren. Durch Mrs. Ferwalter gewinnt die Frage Gestalt, warum gerade in Deutschland der Nationalsozialismus möglich gewesen ist, ist doch Deutschland eben auch ein Ort der aufgeklärten Philosophie, des humanistischen Ideals, dem auch Mrs. Ferwalter in absurder Hoffnung noch nachhängt. Wir haben die philosophische Aufklärung bereits in Beziehung zum Geheimnis gestellt. Dort hat sie sich im Bestreben, vom Menschen die Furcht zu nehmen, als auf-deckende, enthüllende Kraft gezeigt; in diesem Sinne sehen sie Adorno und Horkheimer als eine Praxis des Wissens, die Gesellschaft formt. Gesellschaftliche Gewalt ist damit nicht zufällig, sie entsteht nicht trotz der Aufklärung oder weist auf ihre mangelnde Durchsetzungsfähigkeit hin, sondern ist mit ihr selbst verknüpft; Adorno: »Daß es geschehen konnte inmitten aller Tradition der Philosophie, der Kunst und der aufklärenden Wissenschaften, sagt mehr als nur, daß diese, der Geist, es nicht vermochte, die Menschen zu ergreifen und zu verändern. In jenen Sparten selber, im emphatischen Anspruch ihrer Autarkie, haust die Unwahrheit.« 21

Adornos Beobachtung und die daraus formulierte Kritik an der Geschichte der Aufklärung als Geschichte der Herrschaft haben Konsequenzen für den Subjektbegriff, in dem sich das Falsche unvermeidlich reproduziert. Dass ein – in Adornos Duktus – »verwaltetes« bzw. »falsches« Leben22 das 20 | Wofür auch bereits die Familie »Tannebaum« mit ihrem Namen steht. 21 | Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 359. 22 | »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Vgl. Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: ders. Gesammelte Schrif-

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einbüßt, was wir »Leben im Geheimnis« genannt haben, spiegelt Jahrestage auf vielfältige Weise dort, wo explizit vom Tod gesprochen, aber gerade auch dort, wo aus Lebenszusammenhängen gesprochen wird. Wir haben an der oben betrachteten Begegnung gesehen, dass die Erinnerung Mrs. Ferwalters einerseits einen Widerstand gegen diesen sozialen Tod darstellt, andererseits aber die Übersetzung der erinnerten Bilder ins Gegenwärtige in einer sprachlichen Gefangenschaft bleibt. Mrs. Ferwalter ist Opfer des ver-walteten Lebens noch da, wo sie es zu betrauern versucht. Doch führt uns dieses Sprechen primär diese Gefangenschaft vor? Setzt also hinter dem Sprechen der Mrs. Ferwalter eine Perspektivität sich durch, die diese Gefangenschaft als Gefangenschaft in einer Totalität zur Anklage bringt und damit auch die Begrenztheit ihres Zeigens eines solchen Sprechens markiert, so wie wir vom plötzlichen Aufscheinen der Erinnerung, die durch die Sprache des Gedächtnisses nicht repräsentiert wird, bei Gesine gesprochen haben? Oder zeigen sich hier auch die Grenzen der Repräsentation des Subalternen in der Ordnung des Ästhetischen der Erzählung an? 23 Eindeutig entscheiden lässt sich das nicht. Mrs. Ferwalters Sprechen weist somit auf das Versprechen der Erzählung im doppelten Sinne zurück, auch auf die Grenzen der Repräsentation in der Repräsentation der Grenzen. Man kann diese Begegnung zwischen Mrs. Ferwalter und Gesine als einen Teil der Macht des sozialen Todes lesen, der symptomatisch auf die Verfasstheit der Gesellschaft hindeutet. Erzählen und Bezeugen der eigenen Geschichte geschehen in der Gegenwart des Todes, verstricken sich unausweichlich in ihn. Adorno: ten in 20 Bänden, Hg. v. Rolf Tiedemann, Band 4, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 43. 23 | Die gleiche Frage stellt sich auch für Edmondo und Francine, die kaum Stimme bekommen. Auch hier halte ich es vom Text her für unentscheidbar, ob das Zeigen dieses Zustandes als Kritik über diesen »gewinnen kann«. Der Effekt bleibt zunächst derselbe: Dass sie auf der Ebene des Textes als ein exotisches Außen erscheinen. Die Frage wäre: Verspricht sich Sprache immer, wenn sie die Grenzen ihrer Repräsentation befragt? Entmachtet sie den Subalternen gerade dann noch einmal, wenn sie ihn in ihrem Sprechen erscheinen lässt? Vgl. zu solchen Fragen auch: Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Mit einer Einleitung von Hito Steyerl, Wien: Turia und Kant 1998.

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»Die Schuld des Lebens, das als pures Faktum bereits anderem Leben den Atem raubt, einer Statistik gemäß, die eine überwältigende Zahl Ermordeter durch eine minimale Geretteter ergänzt, wie wenn das von der Wahrscheinlichkeitsrechnung vorgesehen wäre, ist mit dem Leben nicht mehr zu versöhnen.« 24

Radikal verstrickt in diesen Schuldzusammenhang, aber ohne Bewusstsein von diesem ist die New York Times, die die Toten täglich in die Statistik verbannt.

4.3 TOTE AM B AUPL AT Z : DER 29. A UGUST 1967 Als »Nachrichtentote« werden im Leseprozess Gesines der New York Times die Opfer genannt, die der Vietnamkrieg mit sich bringt. »Nachrichtentote«, weil es die New York Times ist, die die Nachricht ihres Todes abdruckt und sie somit der Öffentlichkeit überbringt. »Nachrichtentote« aber auch, weil es die Art der Benachrichtigung ist, die selbst den Tod, den die Opfer erlitten, wiederholt. Auf unverhältnismäßige Weise bildet die New York Times das Geschehene ab: Nicht selten werden in den Artikeln die Toten lediglich als statistische Zahl wiedergegeben. In diesem Sinne ist die New York Times eine Art anonymes Massengrab auf der Ebene des Textes. Die Nachricht über den Tod der Soldaten dient nur der Information der Öffentlichkeit, die ebenfalls als anonymisiert gedacht wird. Die Nachricht als Benachrichtigung spricht nicht von diesen Toten als konkreten Menschen und spricht niemanden Konkretes an. Die Nachricht ist somit Teil einer toten Kommunikationsstruktur, in der im Grunde niemand stirbt und niemand angesprochen wird.25 Primär sagt sie aus, dass man selbst trotz alledem noch am Leben ist. Der Tod, den die New York Times reproduziert, ist nicht der Tod der Gestorbenen, wie er als Ende einer LebensGeschichte erscheint. Dieser Tod ist eingebunden in ein Leben, das den Toten durch die Funktionalisierung zu Lebzeiten bereits nicht mehr gehört und in dieser Funktionalisierung wiederholt wird. Die hier gezeigte »Un24 | Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 357. 25 | Vgl. hierzu die Ausführungen Heideggers über die Uneigentlichkeit des Mans und dessen »Gerede« vom Tod als Verdrängung der eigenen Sterblichkeit. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 255ff., sowie meine Auseinandersetzung damit in Buchteil A, Kap. 4.6 Vertiefung: Sein zum Tode, S. 174ff.

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eigentlichkeit« der Öffentlichkeit in ihrer Beziehung zum Tod, die diese Nachrichten täglich zu lesen bekommt, wird medial hergestellt26, indem sie als diese anonymisierte angesprochen wird. Am 29. August 1967, an dem der Begriff »die Nachrichtentoten« zum ersten Mal auftaucht, wird zuvor die Umgebung von Gesine geschildert, die auf den ersten Blick fast wie eine Geisterstadt anmutet: »An der Dritten Avenue, nördlich der Zweiundvierzigsten Straße, sind noch Bürgerhäuser aus dem vorigen Jahrhundert stehengelassen, vier und fünf Stockwerke mit einstmals vornehmen Fronten aus braunem Sandstein oder teuren Ziegeln, aber im Stein sitzt fester Ruß, die Fenster sind schmierig und verstaubt, und nur noch im Erdgeschoß leben kleine Geschäfte, Imbißhallen, Bars, die den toten Baukörper über sich mit ihren Leuchtschriften und Markisen verstellen.« (JT, S. 34)

Die Bürgerhäuser wirken wie vergessene, »zurückgelassene« Bauten und passen nicht mehr so recht in die Stadt, die unter ihnen entstanden ist. Dies zeigt nicht nur einen Wandel des Stadtbildes, sondern auch der Gesellschaft: von einer Bürgergesellschaft zur Konsumgesellschaft, von einer vorzeigbaren Architektur, die bewohnbar gewesen ist, zum Verfall. Die Frage drängt sich auf, wie das eine zum anderen beigetragen hat. So verweisen die Bürgerhäuser nicht nur auf sich selbst und ihr Gewesen-Sein in anderer historischer Situation, sondern auch auf die Frage der Gegenwartsbedeutung ihrer Geschichtlichkeit. Inwiefern trägt das sich ausstellende Bürgertum zum Verfall der Gesellschaft bei, bevor es von diesem selbst betroffen ist? In solchen Schilderungen wird New York auf der Ebene des Verfalls mit dem Bürgertum Jerichows vergleichbar, zu der auch die Familie Papenbrock gehört. Die Veränderungen in der Stadt werden unterstützt durch eine Architektur, die die Anonymität des Urbanen zu zementieren versucht: »Die Zukunft der Straße sollen Bürohäuser aus Stahl und Glas sein, die auf blockbreiten zehnstöckigen Gesäßen Stufen ansetzen, vom zwanzigsten Stockwerk an in immer gleichen Schichten hochgestapelt sind, noch zwanzig Meter breit in der fünfzigsten Etage. […] Die Häuser sind leicht demontierbar, und ihre Namen 26 | Dass die Uneigentlichkeit medial gesteuert wird und politisch gewollt sein kann, ist ein Moment, das Heidegger nicht erkennt.

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sind nicht eingemeißelt und nicht eingemauert, sondern aufgekittet oder angeschraubt, bequem abzunehmen.« (JT, S. 34f., Auslassung durch Verf.)

Der Verfall des Bürgertums geht mit dem Verlust von Identität einher. Das persönliche Haus wird überführt in einen Komplex, in dem Abschottung (Stahl) und Einsehbarkeit (Glas) zwei Seiten desselben Bestrebens sind: Alles kann eingesehen werden, während gleichzeitig nichts ins System einzudringen vermag. Die Häuser sind auch hier so gebaut, dass sie die Spuren ihrer Bewohner nicht tragen werden. Dies fragt den »bürgerlichen Diskurs« und sein Selbstverständnis mit der Wirklichkeit an. Die New York Times als mediale Repräsentantin des gesellschaftlichen Bewusstseins berichtet an diesem Tag: »Die Nachrichtentoten dieses Tages sind zwanzig Amerikaner, fünfzehn Südvietnamesen, achtundneunzig Nordvietnamesen, die letzteren geschätzt. Aus der Liste der amtlichen Toten führt die Zeitung nur zwei an, die zufällig aus dem Staat New York stammen, als verschlüge die genaue Gesamtzahl ja doch nichts gegen einhundertfünfundneunzig Millionen Landesbürger. Der erschossene Nazi darf auf einem militärischen Ehrenfriedhof begraben werden, denn ihm ist lediglich Mordhetze gegen Neger und Juden nachzuweisen.« (JT, S. 36)

Die Aufzählung der anonymen Toten in Bezug gesetzt zu dem erschossenen Nazi, dem das Ehrenbegräbnis gewährt wird, zeigt, dass auch im Augenblick seines Todes der Mensch nicht aus dem Wertungssystem der Gesellschaft befreit ist. Noch nach dem Tod vermag die im Gedächtnis wirkende gesellschaftliche Norm zu selektieren, wen sie in ihre Rituale aufnehmen wird, wessen Leben sie symbolisch in die Unsterblichkeit hebt.27 Dass einem Nazi »militärische Ehren« zukommen, vergrößert den gesellschaftlich waltenden Zynismus, den Gesines Rezeption als diesen ihrerseits durch Zynismus kennzeichnet. Hier zeigt sich die Rezeption Gesines als das Montieren in Dekonstruktion, von dem ich bereits gesprochen habe.28 Sie bedient sich hier auf der sprachlichen Ebene eines rhetorischen Mittels, das sie als Prinzip in der Zeitung erkennt, und legt es somit als 27 | Jan Assmann hat in diesem Zusammenhang von der »prospektiven Dimension der Erinnerung« gesprochen. Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 61. 28 | Vgl. hierzu Buchteil A, Kap. 1.3 Vielstimmigkeit, S. 46ff.

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Rhetorik der Gewalt offen. Wenn die New York Times den Nazi auch selber nicht ehren will – die Präsenz seines Todes hebt ihn gegenüber den Toten des Krieges in Vietnam hervor. Die gesellschaftliche Diskussion, die seine Beerdigung auslöst, wird ausführlich medial begleitet. So bekommt er eine medial gestützte gesellschaftliche Identität, die die New York Times denen, die »beruflich am Krieg gestorben« sind (JT, S. 88), nicht gewährt. Über die Praxis der New York Times heißt es wenig später: »[…] versammelte sie [die New York Times, Verf.] alle Mittel der Beschreibung im epischen Fluss und lieferte in täglichen Berichten vom Bauplatz in Fortsetzung die Geschichte, die ihr gleich Historie gewesen war.« (JT, S. 74, Auslassung durch Verf.)

Ein »Bauplatz« ist uns im Zusammenhang mit der Erinnerung als Ort im Übergang aufgefallen, dessen Dasein in naher Zukunft möglichst nicht mehr sichtbar sein soll. Die »Berichte vom Bauplatz« markieren hier einen dreifachen Übergang als Umgang mit dem Geschehenden: Zum einen wird das »Außen« der New York Times aus ihrer Sicht benannt; die New York Times hat die Macht, »Bauarbeiten« zu analysieren und den hinter ihr stehenden Bauplan aufzudecken. Zum anderen wird ihre eigene Arbeit an einer »Baustelle« sichtbar, deren Konstruktion und Bearbeitung durch den »epischen Fluss« zugedeckt werden sollen. Und schließlich verweisen beide Baustellen auf einer Metaebene auf dasselbe Prinzip des Umganges mit Wirklichkeit, die durch kritische Lektüre aufgedeckt werden kann. Dieses Bauen ist nicht das Bauen, das entwerfend bleibt, sondern dem »Bauplan« folgt, den es zuvor geschrieben hat. Es ist das Bauen mit »Stahl und Glas«, wie wir es oben als architektonisches Prinzip im urbanen Raum umgesetzt gesehen haben. Die ἱστορίαι zeigt sich hier als die »Erkundung«, die die »Baustelle Geschichte« nach den eigenen Möglichkeiten der Bebauung auslotet und diesen Prozess als die Geschichte selbst verkauft. Dies funktioniert durch ein »Herstellen von Kontinuität« – hier markiert als »epischer Fluss«, der die Brüchigkeit der Baustelle durch das Einbinden in den eigenen Fortschritt neutralisiert. Dieser Fortschritt ermöglicht immer die Integration des Todes in ein Sinnsystem, das ihn erträglich macht. Die »Nachrichtentoten« werden mit ihrem Tod aus der Funktion ihres Lebens für die Geschichte nicht entlassen. Ihr Tod als Zahl trägt den Krieg als Alltäglichkeit zusammen, die ohne Unterbrechung unter »ferner lie-

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fen« sich erzählen lässt. Die New York Times ist mit dieser Berichterstattung nicht nur Archiv des Zeitgeschehens, sondern zugleich an der Produktion des Zeitbewusstseins beteiligt. Sicher: Dies ist ein Problem der Tagespresse, die nun einmal täglich Bericht zu liefern sich verpflichtet hat und die die Kapazität, eines jeden Einzelnen zu gedenken auch nicht hat, zudem auch nicht ihre Aufgabe darin sehen sollte, dem Leben in irgendeiner Weise im »vollen Umfang« gerecht zu werden. Dennoch trägt sie die Verantwortung dafür, wie sie den ihr zur Verfügung stehenden Platz nutzt, wie sie also die »Baustelle Geschichte« und ihr eigenes Agieren auf dieser in ihrem Medium reflektiert. Wir haben an Gesines Erinnerungsvermögen bereits gesehen, dass die einzige Möglichkeit an dieser Stelle zu sein scheint, den »Bauplatz Geschichte« als Übergang offenzuhalten, so dass das eigene Erzählen die Brüchigkeit der Konstruktion als Wunde offenhält. Die Rück-Sichtslosigkeit der New York Times zeigt sich darin, dass sie die Rhetorik und ein subtiles System der Wertigkeit von Nachrichten benutzt, um dies gerade nicht zu tun: An diesem Bauplatz der Geschichte fotographierend tut sie so, als täte sie nichts. So verhält sich bürgerliches Bewusstsein kritisch zu der Leuchtreklame des Fortschritts, natürlich auch dann, wenn sie mit längst überwunden geglaubter nationalsozialistischer Symbolik blinkt. Diese, so scheint es, lehnt es schon aufgrund des Plakativen ab, wenn auch dann gerade eine intensive Besprechung sich lohnt. Dass die New York Times die Zeit als Fortschritt nicht nur kommentiert, sondern auch mit choreographiert, kann sie nicht aussprechen. Deswegen hält sie die Toten auf Distanz durch die Zahl. Sie könnten – ließe man ihre Geschichten sprechen – mehr von diesem Bauplatz berichten, als »Mittel der Beschreibung« zur Verfügung stehen, und somit das taktische Schweigen innerhalb der medialen Rhetorik entlarven. In den »Bauplänen der Geschichte« erleiden auch Jakob, Pius und D.E. einen »Arbeitsunfall« – sie sterben hier im mehrfachen Sinne einen »schnellen Tod«, einen Tod inmitten eines Milieus der Geschwindigkeit und Strategie.

4.4 TOTE AUF DER S TRECKE : P IUS , J AKOB UND D.E. Ein großer Teil von Gesines Leidensgeschichte erklärt sich aus dem Verlust der ihr nahestehenden Männer Pius, Jakob und D.E. Es scheint sinn-

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voll, auch die Lebensläufe dieser Männer vor dem Hintergrund der bereits angedeuteten Komplexität der Zeit zu betrachten, die sich im Hinblick auf die Frage nach dem Geheimnis als Zeit des Fortschrittes gezeigt hat, die dieses bedroht. Denn alle drei Biographien verorten sich in einem politischen Milieu des Fortschrittes, der Bewegung, der Spannung von Öffnung und Abschottung. Pius als Soldat in der Sowjetunion, der bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommt; Jakob als Dispatcher bei der Eisenbahn in der DDR, der auf den Gleisen seinen Tod findet; und D.E. als Ingenieur für Raketentechnologie in den USA, der ebenfalls bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommt: Allen ist gemeinsam, dass sie im Dienst eines Systems stehen und dort in einem Feld arbeiten, das sich dem Fortschritt ihres Systems verpflichtet hat. Sie scheinen damit einen dem System immanenten Tod zu sterben, der sie aus dem Leben und einer gemeinsamen Zukunft mit Gesine reißt. D.E. ist im Unterschied zu Pius und Jakob Akteur des Geschehens in New York und ist nicht allein durch das Erinnern präsent. Bis zu seinem Tod wird er uns vermittelt durch Gesine und den »Genossen Schriftsteller« vorgestellt. Doch auch über seinen Tod können schließlich nur Vermutungen angestellt werden. Ich beginne mit Jakob, der gerade durch eine eigenwillige Bewegung erinnert wird.

4.4.1 Jakob Für Marie spricht Gesine auf das Tonband über Jakob, Maries Vater am 29. November 1967 folgendes: »Dein Vater ist gestorben als er noch nicht einmal das Wort sterben ordentlich denken konnte. Von deinem Vater weiß ich nur das Notwendigste. Und ich trau dem nicht, was ich weiß, weil es sich nicht immer in meinem Gedächtnis gezeigt hat, dann unverhofft als Einfall auftritt. […] Von deinem Vater weiß ich nur, was man über Tote wissen kann. Handballspieler, Sozialist, Untermieter. Nach einer Weile stellen sich die Sachen vor die Person und lassen nur einen kleinen Raum, in dem er angeblich ein Leben geführt hat. Was ihn kümmerte muß ich mir erdenken.« (JT, S. 387f. Auslassung durch Verf.)

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Der Mensch, der im nahesten stand ist Gesine nur noch in der Erinnerung zugänglich, die »on the spur of the moment« einzufallen beginnt und den authentischen Menschen nicht mehr einzuholen vermag. Wissen über diesen Menschen kann nur Wissen über Tote, totes Wissen sein, das Jakob austauschbar und entindividualisiert erscheinen läßt. Doch kein weiteres Wissen über Jakob zu haben bedeutet für Gesine auch: die genauen Umstände seines Todes nicht zu kennen. Dieses Nicht-Wissen teilen wir mit ihr: Jakobs Geschichte wird aufgrund ihres rätselhaften Endes erzählt. Jakob ist der Jakob, der – gespiegelt innerhalb verschiedener Ebenen des Erzählens – in Mutmassungen über Jakob dem Leser dargestellt wird. Schon der erste Satz aus den Mutmassungen über Jakob wird den Leser zu Mutmaßungen verleiten: »Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen« (MJ, S.  7). Die unterschiedliche Betonung der einzelnen Worte verwandelt den Satz entweder in einen Einspruch, eine Markierung einer besonderen Eigenschaft, eine Hervorhebung von Jakobs Charakter oder einer zeitlichen und räumlichen Kontinuität, in der sich die beschriebene Person »immer« bewegte. Klar wird mit diesem Satz, dass er ein Ereignis kommentiert, das von der Selbstverständlichkeit dieses Über-Querens der Gleise abweicht und dessen einstige Kontinuität nun durch diese Abweichung besondere Bedeutung gewinnt. Doch Jakob erscheint dadurch schon hier als jemand, der Kontinuität durchbricht: »Querlaufen« deutet darauf hin. Quer läuft jemand, der nicht den »geraden Weg« wählt, der vielmehr die vorgegebenen geraden Wege zu durchkreuzen versucht. »Querschläger« sind Abweichler, die auffällig werden im System.29 Der Satz eröffnet, dass von diesem Jakob nun nur noch in der Vergangenheit gesprochen werden kann und dass diese Gleise etwas damit zu tun 29 | Elisabeth K. Paefgen hat auf die Spannung zwischen dem Namen Jakob und dem Romananfang hingewiesen, in der die Mutmassungen stehen: »Betont wird auch das Unbequeme, Unangepasste dieses Namensträgers […]: Mit dem Namen befinden wir uns in antiken Zeiten, mit der Tätigkeit in den verkehrstechnisch entwickelten Verhältnissen des 20. Jahrhunderts. Titel und Romananfang lassen eine doppelte Spannung entstehen: auf der realistischen Ebene zwischen Archaischem und Modernem, auf der metaphorischen zwischen Traditionsverhaftung und Nonkonformismus.« Vgl. Elisabeth K. Paefgen: Jakob als biblischer und literarischer Quergänger. Weitere Mutmaßungen über die Mutmassungen, in: Michael Hofmann und Mirjam Springer (Hg.): Johnson-Jahrbuch 15/2008, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2009, S. 81f. (Auslassung durch Verf.).

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haben: Gleise, ein Nicht-Ort, der mit Weite, Ausflucht, Übergang und Geschwindigkeit assoziiert ist, also mit Bewegungen, die ein Fort-KommenKönnen, Distanz-Überwinden ermöglichen sollen. Somit verweisen die Gleise auf Dimensionen von möglichen Begegnungen und sind als diese politisch umkämpft. Doch Jakobs Leben haben sie gerade in spezifischer Weise begrenzt. Die Gleise werden zu einem Ort der Gefahr, über den die Zeit in Form der Geschwindigkeit hinwegzugehen vermag, ohne dass das dort Geschehene die Beschleunigung aufhalten kann: Was auf den Gleisen bewegt wird, kann die, die quer stehen, überrollen. Jakob wird als Erinnerung präsent im Dasein Anderer, deren Sprechen über ihn von der Unverständlichkeit seines Todes motiviert ist und die durch den Tod Jakobs sich mit ihrer Verwicklung in seine Geschichte auseinanderzusetzen beginnen. Die Arbeit an der Geschichte Jakobs ist Trauerarbeit; Trauerarbeit, der die Begrenztheit der Sprache so auch als Begrenztheit des politischen Systems erscheinen kann und der deswegen das Querlaufen über die Gleise zum Ausgangspunkt wird. Jakob stellt sich einer gradlinigen Rekonstruktion, den Möglichkeiten eine Geschichte nahtlos zu erzählen so auch weiterhin quer. Die Biographien Gesines und Jakobs werden durch die Zeitumstände zusammengeführt (Jakob landet mit seiner Mutter als Flüchtling in Jerichow) und durch die Zeitumstände wieder auseinandergerissen. Auch Pius ist ein »Kind seiner Zeit«, und Gesines Liebe zu ihm ist in diesen Zeitumständen ohne Zukunft.

4.4.2 Pius Pius ist Schulfreund von Gesine in Mecklenburg. Aus der Begegnung der beiden entwickelt sich Gesines erste Jugendliebe. Von der Volksarmee aus wird Pius in die sowjetische Armee übernommen und kommt dort, wie D.E. in den USA, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Interessant ist, dass Pius selbst angibt (so lässt Gesine es ihn zumindest in ihrer Erinnerung sagen), dass er den Weg in die Armee wählt, um der Lüge im bürgerlichen Leben zu entfliehen: »In der Armee muß der Vorgesetzte mir glauben, was ich ihm aufsage, und keiner im Glied darf zweifeln, daß ich das glaube. Dann ist das Zwinkern weg, das kaputte Lächeln, das deine Lüge überführt und belobigt in einem. Dann darf ich denken was ich will, und keiner wird es je erfahren.« (JT, S. 1759)

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Doch zunächst muss er erfahren, dass in seiner Grundausbildung in Cottbus die Privatsphäre nicht garantiert ist: Privatbriefe werden geöffnet, zur Belustigung der »Genossen Unteroffiziere« verlesen (JT, S. 1761). Pius wird schließlich von der Nationalen Volksarmee in die Rote Armee versetzt, er ist nun »Geheimnisträger« (JT, S. 1764) und hat mit militärischer Höchstgeschwindigkeit zu tun: »Der war endgültig allein. Kam nun dieser Mensch zu sich selbst in seiner Arbeit? Die letzte war die an einem TU-28, einem Jäger für lange Strecken jenseits der Geschwindigkeit des Schalls; eine Maschine von dreißig und einem halben Meter Länge regierte er, eine Spannweite von 19.8 Metern. Oberst Pagenkopf.« (JT, S. 1765)

Wir sehen hier die Geschwindigkeit als Teil militärischer Strategie und Überlegenheit. In gewisser Weise sind Pius und D.E. in einem Milieu tätig, das dieselben Strategien teilt, wenn sie auch mit diesen eine andere Ideologie zu verteidigen suchen. So stirbt auch Pius den Tod im System. Er stirbt den Tod eines Soldaten, ohne dass es wirklich zum kriegerischen Einsatz kommt, er stirbt im Wettbewerb um die Möglichkeit des Gelingens dieses Einsatzes. Wenn es nach dem Tod D.E.s keinen Sarg gibt, so ist auffällig, dass die Sowjets nach Pius’ Tod einen »zugeschweißten Sarg« in seine Heimat schicken, von dem es heißt: »Der wäre nur mit industriellem Gerät zu öffnen gewesen« (JT, S. 1765). Der Anblick des Toten wird mittels politischer Organisation unmöglich gemacht. Dies deutet nicht nur darauf hin, dass auch sein Tod möglicherweise Fragen aufwerfen könnte und der Anblick des Toten deswegen ausgeschlossen werden soll. Es zeigt auch die totale »Gefangenschaft im System« an, aus der auch der Tod nicht entlässt. In einer ähnlichen »Gefangenschaft« – nur im konträren politischen System – befindet sich Gesines New Yorker Lebensgefährte D.E.

4.4.3 D.E. D.E. – dieses Namenskürzel steht zum einen für Dietrich Erichson, zum anderen für »Dear Erichson«, und dieses Kürzel ist seine gängige Bezeichnung in Jahrestage. »Dear Erichson« ist die Anrede, die Erichson in Briefen von Gesine und Marie erhält. D.E. ist somit als Empfänger präsent, was bedeutet, dass er der »zu Erreichende« ist, somit in den meisten Momenten nicht selbst anwesend. Während Jakob sich zwar beruflich mit dem Reisen befasst, dennoch durch die Beschränkungen der DDR selbst sich kaum

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fortbewegen kann, ist D.E. meistens auf Reisen geschäftlich unterwegs. Bezeichnenderweise heißt es in einer Passage: »Eine Reise mit D.E. läuft wie auf Gleisen, auch die nach England und Irland und zurück nach Hause in einem Jahr vor diesem. Gib ihm deine Flugscheine, er wird sie nachrechnen […].« (JT, S. 335, Auslassung durch Verf.)

Eine Reise, die wie »auf Gleisen« verläuft, kann in der Erinnerung Gesines an Jakob nur eine Reise sein, die die Gefahr des Todes birgt. D.E. partizipiert an der Geschwindigkeit, die ihm die Konnotation der Räume und die technischen Möglichkeiten vorgeben. In der Wahrnehmung Gesines ist D.E. deshalb durchgängig mit Verlust assoziiert, obwohl er der Planende, Organisierende ist. Das Innere seines Hauses ist identisch mit seiner Haltung zum Leben: »Das Haus ist an jeder Stelle beaufsichtigt durch einen Plan; da mögen die Lederkissen schief liegen, da mag ein Telefon mitten auf dem Teppich vergessen sein, da mag eine Katze auf einer Schreibmaschine schlafen, das Haus käme der New York Times gerade recht als ein Beispiel für Tradition und Technik in Innenarchitektur. […] Das Haus hat seine Ordnung, die Ordnung läuft wie eine Uhr, die Ordnung zeigt den Gästen lediglich die Zeit, hält keinen fest.« (JT, S. 268f., Auslassung durch Verf.)

Hier wird Ordnung vom Plan beaufsichtigt, der sie konstituiert haben wird und gleichzeitig den Sinn seiner Einhaltung stützt. Diese Ordnung steht im Dienst der Zeit, die keine Unterbrechung und kein Innehalten sich erlaubt. Das Haus ist Spiegel eines Daseins, das ganz in der Ordnung des Planes aufzugehen droht. Es muss die Irritation, die Heimsuchung fürchten, will deswegen das Verweilen des Anderen nicht. Gegenwart und Vergangenheit sind für D.E. zu organisierende Zeiteinheiten, während Gesine die organisierte Zeit auszutricksen, mit ihr zu »jonglieren« (JT, S. 84) versucht. Während sie sich eine gelockerte Beziehung mit ihm wünscht, weiß sie, dass es ihm gelungen ist, sie stärker zu binden: »[…] das als locker Geplante ist fest geworden […].« (JT, S. 337, Auslassung durch Verf.) Sein Umgang mit dem Vergangenen ist das, was ihn am deutlichsten von Gesine unterscheidet, obwohl die gemeinsam erlebte Vergangenheit auch gerade die große Gemeinsamkeit ist, auf der sich ihre Beziehung begründet; Gesine:

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»Er wünscht sich, ›mit uns zu leben‹. Wir haben nicht einmal die Herkunft noch gemein. Seine Vergangenheit, die Leute und das Land, Schusting Brand und Wendisch Burg, achtet er gar nicht für Wirklichkeit. Er hat seine Erinnerung umgesetzt in Wissen. Sein Leben mit anderen in Mecklenburg vor doch nur vierzehn Jahren, es ist weggeräumt wie in ein Archiv, in dem er die Biographien von Personen wie Städten fortführt auf den neusten Stand oder nach Todesfällen versiegelt. Gewiß, es ist alles noch vorhanden, beliebig abrufbar, nur nicht lebendig. Damit lebt er nicht mehr.« (JT, S. 338f., Hervorhebung durch Verf.) 30

Die Ordnung des Hauses und der Umgang mit der Zeit stützen sich wechselseitig: »Die Erinnerung umgesetzt in Wissen«, als totes »Archiv« – das ist das »männliche Gedächtnis«, das Shuldiner lobt. Deutlich wird hier aber, dass diese Organisation ein Aussperren des Lebendigen bedeutet. D.E. räumt die Vergangenheit in sein Archiv ein – er räumt ihr keinen Platz in seinem Leben mehr ein, von dem er bezeichnenderweise sagt: »[…] ich verfüge über keine Biographie, es sei denn eine tabellarische.« (JT, S. 816, Auslassung durch Verf.) Die gemeinsame Vergangenheit, die Gesine und D.E. teilen, ist durch dieses grundlegend andere Verhältnis zur Zeit keine gemeinsame Wirklichkeit mehr. D.E. weist Ähnlichkeiten mit dem Bauingenieur Walter Faber auf, der die Welt auch berechenbar und organisierbar glaubt, das Leben in dieser planbar, und durch ein primär auf Fortschritt orientiertes Zeitverhältnis kein authentisches Verhältnis zum Tod und zum Leben zu entwickeln vermag.31 D.E. hat für den Tod des Anderen keine Sprache, er ist an diesem Punkt verstummt. Die Last und Sprachlosigkeit, die er durch den Tod seiner Schwester (JT, S. 1150) trägt, an dem er sich mitschuldig fühlt, kann er nicht zum Ausdruck bringen. Vielleicht führt ihn diese Trauer sogar erst in die Konstruktion einer Welt, 30 | Vgl. hierzu auch die Überlegungen von Nicola Westphal, die darauf hinweist, dass das Raumverständnis D.E.s dem von Gesine konträr entgegengesetzt ist: Nicola Westphal: Literarische Kartografie, S. 242. 31 | »Mein Irrtum: dass wir Techniker versuchen, ohne den Tod zu leben. Wörtlich: Du behandelst das Leben nicht als Gestalt, sondern als bloße Addition, daher kein Verhältnis zur Zeit, weil kein Verhältnis zum Tod. Leben sei Gestalt in der Zeit. Hanna gibt zu, dass sie nicht erklären kann, was sie meint. Leben ist nicht Stoff, nicht mit Technik zu bewältigen.« Vgl. Max Frisch: Homo Faber. Ein Bericht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 170. Vgl. zum Begriff der »Vorhandenheit« meine Reflexionen zu Heidegger in Buchteil A, Kap. 2.5.1 Innerweltlichkeit, S. 85ff.

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in der er das zu Beherrschende, Kontrollierbare zu erkennen glaubt.32 Er selbst schreibt an Gesine: »Du kannst sprechen; ich kann es nicht […]. […] bei dir verstehe ich unter dem Begriff unverhofft die Summe der Beziehungen, die eine Person ausmachen, einschließlich des nicht erklärten oder noch nicht gekannten Anteils.« (JT, S. 817, Auslassung durch Verf.)

Was er an Gesine bewundert, ist also gerade, dass sie Nicht-Sprachliches so in Sprache zu bringen vermag, dass die Begriffe dadurch aufgesprengt werden. Gesine spricht von Personen dergestalt, dass der Begriff auf das Nicht-Begriffliche, auf die Grenzen des λογὸς verweist. Sie zeigt, dass diese Sprache, die die »Summe der Beziehungen« spiegelt, nur die Sprache des narrativen, metaphorischen sein kann. Es ist eine Sprache, die nicht »beherrschbar« ist. Wenn D.E. von sich selbst sagt, dass er »nicht sprechen kann« so macht dies deutlich, dass die Möglichkeit seiner Begegnungen begrenzt sind, dass seine Sprache, die Sprache der kontrollierbaren Welt ist –eine Sprache, die zum Verstummen, zur Sprachlosigkeit, zur Unfähigkeit des Antwortens auf den Anderen führt.33 Die metaphorische Sprache ist somit keine, die durch den λογὸς zu überwinden ist, ihm gegenüber uneigentlich ist, sondern sie ist die einzige Sprache, die sich durch die Begegnung ereignen, die lebensweltlich sich zu übersetzen vermag.34 32 | Norbert Mecklenburg hat darauf hingewiesen, dass das »Versiegeln der Todesfälle« nicht als Kälte gedeutet werden muss, sondern gerade vor dem Hintergrund der zu tragenden Last durch den Tod der Schwester auch anders gedeutet werden kann: »Unter dem Sigel des Schweigens im Herzen bewahren – auch so kann die Metapher, gegen den Strich von Gesines Verwendung, gelesen werden. Was D.E. bewahrt, ist im Text nicht ausgesprochen, aber deutlich: Andenken, Trauer, Schuld. Und hierin kommt er Gesine und der Grundhaltung des Jahrestage-Projekts wiederum sehr nahe.« Vgl. Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 431. 33 | Christian Elben formuliert: »Sprache ist für ihn [D.E., Verf.] ein System, das einen Zusammenhang zwischen Worten und der Realität herstellt, der im einzelnen zu berechnen und damit auflösbar ist.« Vgl. Christian Elben: »Ausgeschriebene Schrift«, S. 162. 34 | Hans Blumenberg formuliert: »[…] Metaphern [können] auch Grundbestände der philosophischen Sprache sein, ›Übertragungen‹, die sich nicht ins Eigent-

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Bezeichnend ist umso mehr für diesen rational-sprachlosen Menschen D.E., dass ihm die Möglichkeit des eigenen Todes ständig präsent zu sein scheint: D.E. trägt schriftlich seinen Letzten Willen mit sich herum, diesen in vier Sprachen übersetzt, wie Gesine es Anita schildert: »Anita, der reiste mit einem Zettel, auf dem stand in den vier Weltsprachen: zu verbrennen am Ort des Todes ohne Gesang Ansprache Predigt Musik whatsoever. Weißt du, damit er keine unnötige Mühe macht mit seinem Tod.« (JT, S. 1744)

Dort, wo keine Übersetzung mehr möglich ist und wo auch seine Möglichkeit des Organisierens aufhört, will D.E. völlig aus Ort und Zeit verschwinden, will keine Möglichkeit der Trauer an einem Ort einräumen. Es scheint, als würde er versuchen, der gänzlich in der Gegenwart Existierende zu sein; so will er nichts hinterlassen, was diese Gegenwärtigkeit überdauern kann, während er gleichzeitig durch das Herumtragen seines Letzten Willens permanent die mögliche Auslöschung der Gegenwart dokumentiert. Doch gerade auch in der Gegenwart entzieht er sich bereits. Zwar heißt es auch über ihn: »Am Telefon kann er fast immer sagen: Ich bin in der Nähe« (JT, S.  40); doch ob er wirklich in der »Nähe« ist, im Sinne eines Raumempfindens von Nachbarschaft, oder ob diese Nähe die durch das Telefon suggerierte oder durch die technischen Möglichkeiten zur Überbrückung von Entfernungen »erreichbare Entfernung« ist, ist dabei unklar. Nähe und Entfernung, Distanz und Beschleunigung sind auch die Felder, in denen D.E. sich beruflich profiliert. Er projektiert als Physiker mit an einem Frühwarnsystem der Raketenabwehr im Auftrag der Regierung und ist dort in Geheimnisse der technischen Verteidigung eingeweiht. Die Bezeichnung »DEW« »Distant Early Warning« für dieses Abwehrsystem (JT, S. 42) verbindet die Ebenen technischer Sicherheit, des Geheimnisses und des Todes schon auf der Ebene dieser Bezeichnung mit seinem Namen: Die Anrede D.E. ist in DEW aufgehoben. »Distant Early« gilt auch wieder für sein Zusammenleben mit Gesine. Beide kennen sich aus »früherer«35 Zeit, doch D.E.s distanziertes Verhältliche, in die Logizität zurückholen lassen.« Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 10 (Auslassung durch Verf., Hervorhebung im Original). 35 | Im Englischen »earlier« steckt nicht wie im Deutschen die Doppeldeutigkeit von »früher« im Sinne von »damals« und »früher« im Sinne von »rechtzeitig«,

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nis zu dieser früheren Zeit schafft, wie wir gesehen haben, auch wieder Distanz zu Gesine. D.E. ist nach eigener Aussage in den USA, weil er sich mit dem geringeren Übel arrangiert habe, doch Gesine ist sich sicher: »Er wird den Militärs mehr versprochen haben als eine Entschiedenheit für das geringere Übel, ehe sie ihn an diese Arbeit ließen und ihre Geheimnisse bei ihm sicher glaubten.« (JT, S. 42)

Sicher sind die militärischen Geheimnisse bei D.E., weil er selbst in einer Welt ohne Geheimnis lebt, in »diesem verschränkten System […] mit jedem Beruf Funktion« (JT, S. 816, Auslassung durch Verf.) zu sein glaubt. Auf ähnlich rätselhafte Weise wie Jakob findet er den Tod, nicht auf den Gleisen, doch auf der Reise bei einem Flugzeugabsturz – so, wie auch Pius gestorben ist. Das »W«, die Warnung vor dem Tod durch Geschwindigkeit, der er sein Leben gewidmet hat, hat für ihn nicht funktioniert. Der Ordnung, der er sich andiente, ist er schon Zeit seines Lebens zum Opfer gefallen, weil er die damit zusammenhängende Technik und Geschwindigkeit völlig internalisiert hat. Von diesem System der Geschwindigkeit unterscheidet ihn noch das Bewusstsein, der Tod könnte jederzeit hereinbrechen. Doch sein Letzter Wille als Organisation seines völligen, schnellen Verschwindens aus der Welt zielt auf ein baldiges »Hinwegkommen« über seinen Tod, ein bruchloses Weiterlaufen der Zeit. So lässt er die Ordnung seines Daseins auch über die eigene Lebenszeit hinaus noch von »einem Plan beaufsichtigen«, für den seine Person keine Bedeutung hat.36 Die Berufsfelder von Pius, Jakob und D.E. markieren ein spezifisches Verhältnis zwischen Staat und Territorium, für das die Arbeitskraft des Subjektes organisiert wird. Das Verhältnis zum Territorium organisiert Geschwindigkeit und Begrenzung und erhebt beides zur Norm, in der das Subjekt sich bewegen muss. Jakob, Pius und D.E. sterben einen Tod in dem System, obwohl sie diesem System dienten. Das verbindet sie mit den anonymen Toten des »eher«. Ich möchte diese Doppeldeutigkeit jedoch in D.E. (in Bezug zu D.E.W.) ernst nehmen, denn hier scheint mir die Verbindung zwischen seiner und Gesines Geschichte auf der Ebene des Namens deutlich zu werden. 36 | In den vertiefenden Überlegungen zu diesem Kapitel komme ich auf die Frage zurück, ob D.E. damit ein »Sein zum Tode« verkörpert, das sich durch seinen Umgang mit dem Tod aber gerade als inauthentisches Dasein erweist.

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Vietnamkrieges. Sie sind Opfer des Fortschritts, der sich in Jahrestage in Form der Beschleunigung der Metropole, aber auch in Form der modernen Kriegsführung und nicht zuletzt in den in Prag einrollenden Panzern zeigt. Der Tod, der ihnen in gewisser Weise nicht gehört37, wird auf der gesellschaftlichen Ebene durch die rituelle Praxis, zu der auch die Beerdigung zählt, in die Ordnung der Welt reintegriert. D.E. scheint sich dieser Ordnung zu verweigern, weil er nicht will, dass sein Tod überhaupt eine Ordnung, einen Alltag unterbricht. Doch gerade damit verhält er sich zur fortlaufenden Ordnung der Zeit genauso affirmativ, wie wir es auch in der Inszenierung von Kennedys Beerdigung erkannt haben, in der das Moment der Kontinuität gegenüber dem »Dienstleben« zutage getreten ist: D.E. trägt die Geschwindigkeit seines Berufes mit in den Tod, so wie in Kennedys Beerdigung die Präsenz seiner symbolischen Funktion noch mit seinem Tod eine Aktualisierung erfährt. Gesine verweigert sich der Reintegration des Todes in das Sinnsystem einer rituellen Praxis. Ihr »Verpassen« der Beerdigungen ihrer verstorbenen Männer kann als Weigerung verstanden werden, diesem Tod einen Sinn zu verleihen. Dadurch, dass Gesine die Ordnung des Rituals nicht durch Anwesenheit bezeugt, verhindert sie, dass der Tod ihrer Männer der Logik der Welt mit ihrem Einverständnis verfügbar wird. Sie boykottiert die »Abgeschlossenheit« des »Todesfalls«. Gleichzeitig weiß sie, dass auch sie selbst von einem solchen Tod bedroht bleibt und mit ihrer Arbeit jenen Funktionszusammenhang stützt, der ihn mit hervorbringt. In erster Linie ist es Marie, aber auch die Prager Hoffnung, die sie abhält, wie ihre Mutter den Selbstmord zu wählen. Dass sie Marie den Tod von D.E. zunächst verschweigt, um »Prag nicht zu gefährden«, zeigt ihr eigenes Verstrickt-Sein in die politische Zeit, aber auch ihre Sprachlosigkeit angesichts eines Todes, der ihr selbst irreal vorkommen muss. 37 | Auch hier kann man in einen Dialog mit der Büchner-Preisrede Paul Celans einsteigen, der zum gewaltsamen Tod Camilles Folgendes sagt: »Und hier, wo alles zu Ende geht, in den langen Augenblicken, da Camille – nein, nicht er, nicht er selbst, sondern ein Mitgefahrener –, da dieser Camille theatralisch – fast möchte man sagen: jambisch – einen Tod stirbt, den wir erst zwei Szenen später, von einem ihm fremden – einem ihm so nahen Wort – her, als den seinen empfinden können […].« Vgl. Paul Celan: Der Meridian, S. 3 (Hervorhebung und Auslassung durch Verf.).

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In dem im Zusammenhang mit geschehenen Flugzeugkatastrophen immer wieder auftauchenden Satz Gesines »Wir fliegen auch bald« (JT S. 1777 u. 1758) bleibt ihr selbst eine permanente Bedrohung durch den Tod als Teil des Fortschrittes präsent. Ich möchte nun noch einmal in der Chronologie von Jahrestage ein paar Monate zurückgehen und in eine Landschaft einsteigen, die Gesine betritt und die ein Spiegel der toten Gesellschaft ist. Hier ist der Stillstand wirklich die gespenstische Stille der »Totenruhe« geworden.

4.5 TOTE MIT L ANDSCHAF T : DER 26. M AI 1968 Ich habe bereits gezeigt, dass die Landschaft immer auch Zeugin des Geschehens in besonderer Weise ist. Dies ergibt sich daraus, dass sie selbst als Gewordene erscheint und somit ein unter Spannung stehendes Archiv der Geschichten bildet, die durch sie hindurchgingen. Die Landschaft spricht; unabhängig davon, ob jemand sie als Gewordene zu erkennen vermag oder spezifisch befragen wird. Sie trägt, wie wir gesehen haben, immer polyseme Spuren des Daseins, auch dann, wenn diese verhindert werden sollen oder ihre Entzifferung in die Richtung einer Deutung organisiert werden soll. Damit trägt sie immer auch Spuren, die das Bestreben einer organisierten Entzifferung (einer Spuren-Sicherung, eines Fest-Stellens) unterlaufen können, weil sie in einem auf Eindeutigkeit zielenden Zugriff nicht aufgehen kann. Gesine lässt sich von der Landschaft affizieren und eröffnet damit ihre Lesbarkeit in einer bestimmten Weise. Am 26. Mai 1968 durchquert Gesine die Landschaft auf Staten Island. Diese Landschaft ist Zeugin einer Leblosigkeit, die erzählerisch atmosphärisch verdichtet wird: »Nach der einstöckigen Ziegelwüstenei an der Nordküste der Insel, am Park Silbersee doch noch Bäume, Landschaft, schonend abgerichtet zu Spalier und Windschutz. […] Noch Landhäuser von ehedem, treuherzig bewehrt mit Säulenvorbauten, Griechischem aus Holz. […] Hohe Äste, abgefressen vom Atmen des Atlantik, füllige flüsternde Laubwolken. Versammlung der Möwen auf Schindeldächern in Lee. Freileitungen an grob behauenen, oft schiefen Stangen, aus der Zeit einer bescheidenen Technik.« (JT, S. 1223, Auslassung durch Verf.)

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Der erste Eindruck dieser Landschaft ist, dass sie hermetisch in sich abgeschlossen ist. Hier wurde mal gebaut »ehedem«, und dann wurden diese Häuser sich selbst überlassen. »Säulenvorbauten« und »Griechische[s] aus Holz« wirken jetzt wie die Kulisse eines Freilichtmuseums. Es scheint, als sei hier eine Landschaft entstanden, die nicht im Konkreten zu erfahren ist, sondern die nur als abgeschlossenes Ganzes grotesk zu wirken vermag. Auffällig ist, dass in der Schilderung dieser Landschaft keine Menschen vorkommen, gleichwohl von »Nachbarschaften« die Rede ist. Doch die Nachbarschaften scheinen sich aus dem inneren Zirkel dieser Landschaft zu ergeben. Hier, so scheint es, kommuniziert die Landschaft mit sich, ohne den Menschen einzubeziehen. Es ist das »Atmen des Atlantik«, es sind die Laubwolken, die »flüstern«, und die Möwen, die sich »versammeln«. Die Landschaft spricht davon, zurückgelassen worden zu sein. Die Eisenbahn, die durch sie hindurchfährt, steht dem ausgefeilten UBahn-Netz aus New York entgegen. Sie wirkt nicht nur anachronistisch, sondern auch ihrer Funktion entfremdet, als gibt es kein Ziel mehr, das mit ihr erreicht werden kann. Die Eisenbahn als Metapher für die Möglichkeit des Herauskommens einerseits und des Scheiterns einer Flucht andererseits haben wir im Zusammenhang der Geschichte Jakobs bereits gesehen. Hier durchquert sie mühevoll eine Landschaft, in der Gesine Spuren der Geschichte wahrzunehmen beginnt: »Die Züge der S.I.R.R. quer über die Insel erreichen das Geräusch nicht, das ihr Name macht. Die Schnellbahn von Staten Island wollen sie sein, Verwandte der Eisenbahn Baltimore & Ohio; eine ruckelnde, schatternde Vorortlinie sind sie. Wacklige Wagen aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die jede Meile halten an schmalen Plattformen unter knappem Dach. […] An einem der engbrüstigen Brückenhäuser erwischt der Blick eine Jahreszahl, zu feierlich eingelassen in eine Schwelle aus Beton: 1933. Struppiges Gebüsch dicht an den Stromschienen. Fang hier an, Gesine; bleib hier. (JT, S. 1223, Auslassung durch Verf.)

Die »Totenstille« wird von den Zügen sogar noch im Moment ihres Bewegens reproduziert. Das Nicht-Entkommen-Können aus der Geschichte wird durch die Jahreszahl 1933 verdeutlicht, die Gesine an die Machtergreifung Hitlers erinnern wird. Die Einlassung der inneren Stimmen: »Fang hier an, Gesine; bleib hier«, hält sie fest an dieser Erinnerung. Das »struppige Gebüsch« überwuchert nicht die Gefahr. Die tote Landschaft wird so in einen Zusammenhang zur Geschichte gestellt. Verweist hier

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die Jahreszahl vermutlich auf die Errichtung des Brückenhauses, so wird sie für Gesine Brücke in die Geschichte. Zum einen steht die Bahn dafür, dass man aus dieser Geschichte nicht fliehen kann. Zum anderen zeigt das Datum eine Facette des Todes, der sich in Staten Island verdichtet. Die letzte Station der Bahn auf der Insel ist »Tottenville«. Hier wird Gesine Augenzeugin eines Beerdigungszuges in einer Stadt, die wirkt wie eine, in der der Tod nicht nur an diesem Tag vorbeikommt: »In Tottenville kam der Tod vorbei« (JT, S. 1224). Nichts erinnert hier an lebendiges Stadtgeschehen. Und die, die doch sonst flüchtige Zeugin des Lebens ist, immer auch gesehen wird in ihrer Beobachtersituation, will hier nur »gesehen sein« (JT, S.  1224). Die Katze, die sonst bei Gesine die Vergangenheit hervorzuholen vermag und so gegenwärtige totalitäre Muster durch das lebensweltliche Erinnern unterbricht, ist hier Teil des gegenwärtigen, grotesk wirkenden Szenarios. Sie bedeutet, dass keine andere Bedeutung als das, was sich hier zeigt, an diesem Ort möglich ist. Es gibt kein Sich-Entziehen mehr. Die Landschaft scheint wie erstarrt in sich – auch Schiffe setzen hier nicht mehr über: »Ein Frachtdampfer so dicht am Ufer, als läge er fest auf Grund. […] Hinter den dunklen Fenstern, in der langen Veranda zum Atlantik hin, ist keine Bewegung zu sehen.« (JT, S. 1225, Auslassung durch Verf.)

Bereits in den Darstellungen vom 29. August 1967 werden wir mit einer Urbanität konfrontiert, die eine Nähe zum Tod hat. Dort scheint es der Fortschritt zu sein, der durch die Stadt New York hinweggeht, der die Geschichten unter sich begräbt. Hier, in Staten Island, scheint dieser Fortschritt auf der Ebene der Innovation und Bewegungsmöglichkeit nicht richtig angekommen zu sein. Dennoch findet sich auf dieser Insel kein harmonischer Gegenentwurf zur beschleunigten Metropole, wie man sich ein romantisches Inselleben auf einem »Ruhepol« »fernab« vielleicht ausmalen mag. Vielmehr erscheint diese Insel wie ein abgehängter Ableger der Metropole, eine Auslagerungsstätte ihres an diese Peripherie verdrängten Todes. Während der urbane Raum New York seine Geschichte mit blinkenden Plakaten überklebt und das pulsierende Leben mit allen Ambivalenzen und Konflikten in der Stadt beherbergt wird, herrscht auf der Insel eine geradezu gespenstische Stille. Diese Stille wird für Gesine von den Stimmen der Toten an mehreren Stellen unterbrochen. Sie sagen z.B.: »Euer Mecklenburg war auch gestohlen, Gesine.« (JT, S. 1225) Die-

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ser Einwurf der inneren Stimmen – nach Kurzdarstellung der Geschichte des Besitzkampfes um Staten Island – bestätigt noch einmal das Werden einer Landschaft als historische Landschaft, als Archiv von Geschichte. Die historische Bedingtheit der Zugehörigkeit einer Landschaft zu dem Herrschaftsgebiet einer Nation bleibt dieser Landschaft eingeschrieben, auch wenn die Regierung bemüht ist, die Spuren der Vereinnahmung zu verwischen, und versucht, eine Ursprünglichkeit zu suggerieren, wo gesetzte Grenzen den Fremden abweisen wollen. Ist diese Geschichte hier stillgelegt, so kommt sie durch den Einfall der Stimmen in Gesines Bewusstsein zur Sprache. In der Darstellung zeigt auch die Vegetation der Insel nicht mehr Natürlichkeit an: »Immer wieder Vegetation, die das kranke Land zurückholt, die Schrammen und Wunden des Bodens verdeckt; die Außenseite von Ferien, Gesine.« (JT, S. 1224) Die »Außenseite von Ferien« spiegelt zurück, dass es eine Innenseite des Geschehens gibt, von der es keine Erholung gibt. Zwar scheint die Landschaft sich noch aufzubäumen; doch ist der Boden unheilbar krank gemacht worden. Die Stimmung, die diese Landschaft durchzieht, ist nicht die Unbestimmtheit der Melancholie, die einen befallen mag, wenn man das Werden und Vergehen innerhalb der Natur betrachtet, sondern ist die Angst vor dem Tod. Diese vermischt sich mit einer Unwirklichkeit, Inauthentizität des Lebens, als wäre der Tod eine Krankheit, die nach und nach alles auf dieser Insel befällt. Es gibt keinen Dialog, der uns hier geschildert wird, auch keine sich auf Aktualität beziehenden sprachlichen Zeichen in Form von Markierungen (wie etwa die Plakate oder Graffiti in New York), die so herausstechen, dass sie Gesines Aufmerksamkeit erlangen. Die Kontaktaufnahme der dort lebenden Menschen beschränkt sich auf »anstarren der Fremden« (JT, S. 1226). Die Insel wird sichtbar als eine in sich abgeschlossene und in gewisser Weise verlorene, dem Untergang geweihte Welt. Wie es zu diesem Verfall gekommen ist, wird uns nicht konkret mitgeteilt. Über den Bezug zur Geschichte der Kolonialzeit lässt sich ihre Gegenwart jedoch in dieser historischen Konstellation entziffern. Staten Island erscheint als erobertes und unterworfenes Territorium. Die Rückbindung zur Geschichte erfolgt über Negativität: »Zur Fähre nach Perth Amboy hin ist der Bahnhof Tottenville gebaut, an jenem Ende war Stille, hart gefaßt in Maschendraht, als sei schon lange kein Boot mehr unterwegs nach New Jersey, und soll doch gekommen sein seit den Zeiten der Kolonisten.« (JT, S. 1224)

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Das Schiff, das, wie Foucault formuliert, die »Heterotopie par excellence«38 darstellt, und das auch in Gesines New Yorker Alltag ein wichtiger ÜberSetzungs-Punkt ist, ist stillgelegt worden, wie wir es bereits an dem Frachtdampfer gesehen haben. Es scheint, als seien die Träume von Weite, die sich auf dem Schiff einstellen können, ebenfalls kolonialisiert und zum Verstummen gebracht worden, als das Schiff seine Funktion zur Eroberung der Kolonien erhielt. Eine Rückbindung zum Leben erfolgt gleichermaßen über Negativität, über die Präsenz des Todes und Abwesenheit der Kommunikation. Auch in der innertextlichen Struktur von Jahrestage ist die Schilderung dieses Tages eine »Insel« und wird eingerahmt von der Wiedergabe der Tagespolitik, in der die Selbstdarstellung des Kommunismus verhandelt wird. Die DDR erklärt sich mit den wandelnden Verhältnissen in der Tschechoslowakei nicht solidarisch und sieht den historischen Fortschritt auf ihrer Seite: »›Das Rad der Geschichte läßt sich nicht zurückdrehen‹« (JT, S. 1222); dazu lesen wir den Kommentar: »[…] die Geschichte als Seiltrommel, die Vergangenheit aufwickelt, unwiderruflich, auf Ewigkeit, Vorwärts!« (JT, S. 1222). Diese Stelle korrespondiert mit der Selbstdarstellung Ho Tshi Minhs am 17. Mai 1968, der die Öffentlichkeit mit einem narzisstischen Gedicht beglückt, das ebenfalls mit einem im Sinne seines Geschichtsbildes optimistischen »Vorwärts« endet (JT, S. 1226). Dieser Ausruf »Vorwärts« umrahmt das Geschehen auf einer Insel, auf der nichts mehr sich bewegt. Die Schilderung der Insel kann vor diesem Hintergrund als eine »düstere Utopie« gelesen werden. Zwar ist diese Insel schon konkret gewordener Ort. Durch ihr intertextuelles Eingebunden-Sein kommentiert sie allerdings das Geschehen in New York. Sie ist damit die zur Warnung gewordene Landschaft. Denn der Tod, den sie beherbergt, ist nicht unabhängig vom Geschehen in New York und wird es wieder erreichen. Der durchs ideologische »Vorwärts« ausgedrückte Klammergriff, in dem die Insel sich hier befindet, lässt sie als das Vakuum erscheinen, in dem das

38 | Vgl. Michel Foucault: Die Heterotopien, S. 21ff. Marie scheint von der Möglichkeit, die die Heterotopie des Schiffes birgt, zu wissen, wenn sie als Begründung für ihre Liebe zur South Ferry sagt: »[…] weil es eine Straße zwischen den Inseln ist, die sich selbst übersetzt; weil es ein Restaurant ist, in dem man reisen kann, ohne sich einen Abschied einzuhandeln.« (JT, S. 91, Auslassung und Hervorhebung durch Verf.)

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Geheimnis des Daseins erstickt worden ist. Die Räder der Geschichte haben hier ohne Widerstand ineinandergreifen können. Die Schilderung der Landschaft endet mit einem Einwurf der Stimmen: »Vergiß nicht, warum ich dir dies gezeigt habe, Gesine.« (JT, S.  1226) Kommt hier der Entwurf von Geschichte zur Sprache, der allein noch möglich ist? Das Aushalten der Totalität des Todes, das Sich-Nicht-Entziehen seiner Macht?

4.6 V ERTIEFUNG : S EIN ZUM TODE Die Analyse hat die verschiedenen Formen des Todes sowie Strategien des Umgangs mit ihm herausgestellt. Deutlich wurde, dass das, was wir als den »sozialen Tod« gekennzeichnet haben, in der Verdrängung des Todes selbst begründet zu liegen scheint. Den »sozialen Tod« haben wir in der Form der Sprachlosigkeit, der totalen Organisation des Daseins und in seiner Distanz zum Tod als »Todesfall« gesehen. Es stellt sich somit die Frage, ob die Bewusstwerdung der eigenen Sterblichkeit eine Möglichkeit des Ausbruches aus diesem »sozialen Tod« darstellt. An D.E., der die Möglichkeit seines Sterbens und der Organisation seines Verschwindens als »Todesfall« immer präsent hat, haben wir jedoch gesehen, dass auch dieses Leben Teil der Entfremdung ist. Wir sehen das Dasein in einer Art Totalität gefangen und müssen uns fragen, wo die Entwurf-Möglichkeit des Entwurfes Geschichte hier noch gegeben sein kann. Genau an dieser Gelenkstelle, zwischen der »Uneigentlichkeit« dessen, was wir den »sozialen Tod« nennen, und der Bewusst-Haltung der Möglichkeit des eigenen Todes, tauchen in der Daseinsanalyse Heideggers die Begriffe der »Geworfenheit« und des »Entwerfens« in eigentümlicher Beziehung auf. Ich schlage vor, einen kritischen Blick auf die dort entwickelte Denkfigur zu richten, um davon ausgehend vertiefend nach den Möglichkeiten des Entwurfes zu fragen und zu überlegen, ob und wie die Geschichte im Geheimnis sich zwischen Ordnung und Entwurf verorten lässt.

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4.6.1 Geworfenheit Geworfenheit bezeichnet in Sein und Zeit die Bewegung, in die das Dasein in die Innerweltlichkeit und damit auch in eine unvermeidbare Beziehung zum »Man« gerät. Wir haben bereits gesehen, dass für Heidegger Dasein immer Mitdasein ist, auf das die Zuhandenheit der Innerweltlichkeit zurückverweist. Dort, wo das Dasein sich das Haus zum Schutz baut, taucht der Andere vermittelt über die Verweisung des Zeugs auf, dass für diesen Anderen eine Funktion haben kann. Wenn das Dasein das Haus verlässt, begegnet es dem Anderen in der Gestalt des »Man«, über das Heidegger sagt: »Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinsweise des Man das, was wir als die ›Öffentlichkeit‹ kennen. […] Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst, das wir von dem eigentlichen, das heißt ergriffenen Selbst unterscheiden.« 39

Die Uneigentlichkeit dieses Mans wird in seinem Verhältnis zur Welt deutlich, auf das die Modi seiner Kommunikation verweisen, die Heidegger mit »Neugier«, »Gerede« und »Zweideutigkeit« benennt.40 Heidegger betont, dass die Verwicklung in das Man dem eigentlichen Dasein notwendig vorausgeht: »Zunächst ›bin‹ nicht ›ich‹ im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man. Aus diesem her und als dieses werde ich mir ›selbst‹ zunächst »gegeben.« 41

Wir erkennen hier eine Bewegung wieder, die wir bereits in unserem ersten Dialog mit Heidegger und dann in der Phänomenologie Lévinas’ gesehen haben: Das Subjekt konstituiert sich überhaupt erst durch den Anderen, hat insofern a priori keinen Status der Autonomie. Doch an seiner Charakterisierung des Mans als Uneigentlichkeit sehen wir auch, dass Heidegger für das Dasein völlig andere Konsequenzen zieht als Lévinas es tut: Die Be39 | Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 127-129 (Auslassung durch Verf., Hervorhebung im Original). 40 | Ebd., S. 175ff. 41 | Ebd., S. 129.

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wegung, die bei Lévinas zum Antworten auf den Einfall des Anderen, zum Auf-Bruch der Ordnung führt, bleibt bei Heidegger in der Gefährdung des Daseins stehen. Zwar konstituiert sich das eigentliche Selbst nicht ohne vorangehende Begegnung mit dem Man – doch eigentliches Selbst wird es nur, im »Wegräumen der Verdeckungen und Verdunkelungen«42 , die ihm im Man wiederverfahren. Dem Man die Eigentlichkeit entgegenzusetzen, bedeutet das Selbst außerhalb dieser Gemeinschaft zu suchen, die das eigentliche Selbst radikal bedroht; Heidegger: »Die Bewegungsart des Absturzes in die und in der Bodenlosigkeit des uneigentlichen Seins im Man reißt das Verstehen ständig los vom Entwerfen eigener Möglichkeiten und reißt es hinein, in die beruhigende Vermeintlichkeit […], alles zu besitzen, bzw. zu erreichen. Dieses ständige Losreißen von der Eigentlichkeit und doch immer Vortäuschen derselben, in eins mit dem Hineinreißen in das Man charakterisiert die Bewegtheit des Verfallens als Wirbel.« 43

Man erkennt hier bereits auf der sprachlichen Ebene, wie drastisch Heidegger diese Involviertheit ins Man empfindet. Er spricht vom »Absturz« und »reißen« in die (Vor-)Täuschung, in das »Verfallen«: Die Geworfenheit scheint wie ein verhängnisvoller Sog, der das »Entwerfen eigener Möglichkeiten« zu durchkreuzen sucht. Damit ist klar, dass das Dasein diesem Man entkommen muss, wenn es eigentliches Dasein sein will. Das Dasein findet sein eigentliches Selbst, indem ihm ein Ausbruch aus der Zweideutigkeit dort gelingt, wo die Uneigentlichkeit des Mans am deutlichsten zutage tritt: Im Umgang mit dem Tod, dem das Man nur in seinen leeren Kommunikationsstrukturen begegnen und deswegen kein eigentliches Verhältnis zu ihm entwickeln kann; Heidegger: »Die öffentliche Daseinsauslegung sagt: ›man stirbt‹, weil damit jeder andere und man selbst sich einreden kann: je nicht gerade ich; denn dieses Man ist das Niemand. Das ›Sterben‹ wird auf ein Vorkommnis nivelliert, das zwar das Dasein trifft, aber niemanden eigens zugehört. Wenn je dem Gerede die Zweideutigkeit eignet, dann dieser Rede vom Tod. […] Das Man besorgt dergestalt eine ständige Beruhigung über den Tod.« 44 42 | Ebd. 43 | Ebd., S. 178 (Auslassung durch Verf.). 44 | Ebd., S. 253 (Auslassung durch Verf., Hervorhebung im Original).

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In unserem Dialog mit Jahrestage haben wir ebenfalls diese Bewegung bemerkt und sie als »sozialen Tod«, »Tod mitten im Leben« gekennzeichnet. Aus dieser Uneigentlichkeit dem Tod gegenüber zieht Heidegger die Konsequenz, dass Ausbruch aus dem Man bedeuten muss, eine andere Haltung zum Tod einzunehmen; dem eigentlichen Selbst geht so das »eigentliche Sein zum Tode« als Aufgabe des Daseins voraus.45 Heidegger betont: »Der Tod ist, sofern er ist wesensmäßig je der meine«46, und weiter: »Der Tod ist eigenste Möglichkeit des Daseins.«47 Doch in unserem Dialog mit Jahrestage haben wir gesehen, dass das, was Heidegger die »Uneigentlichkeit des Mans« nennt – und was sich durchaus als Phänomen mit unseren Überlegungen zum »sozialen Tod« deckt –, eine sozial, medial hergestellte Wirklichkeit ist, die der Ordnung der ökonomischen Zeit gehorcht. Sie ist Effekt der Macht, die mit ihren Bestimmungen über die Möglichkeiten des Daseins auch das Sterben normiert. Müssen wir, so würde sich nach Lektüre von Jahrestage die Frage an Heidegger stellen, die »Geworfenheit in das Man« nicht vielmehr als strukturelle und nicht wesensgemäße Gewalt betrachten, weil schon das Man Effekt einer Struktur ist, die dieses Man erst in die Zweideutigkeit zwingt? Damit wird die »wesensmäßige« Kennzeichnung des Todes als »mein Tod« fragwürdig, weil sich das Dasein bereits in Strukturen vorfindet, in denen nicht nur das Bewusstsein des Todes, sondern der Tod selbst ein entfremdeter am Ende eines entfremdeten Lebens ist. Durch den Dialog mit Jahrestage ist deutlich geworden, dass dieser Entfremdung die Angst vor dem Fremden (der Angst vor der Spur) vorangeht. Effekt dieser Angst vor dem Fremden ist eine Gesellschaftsstruktur, die auf die totale Organisation des Daseins zielt.48 45 | Ebd., S. 260. Adorno empört sich an diesem Punkt m.E. zu Recht: »Daraus jedoch, daß die Menschen den Tod verdrängen, ist nicht herauszulesen, er selber wäre das Eigentliche; am wenigsten von Heidegger, der sich hütet, denen, die den Tod nicht verdrängen, Eigentlichkeit zu attestieren.« Vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, S. 517. 46 | Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 240. 47 | Ebd., S. 263. 48 | Adorno formuliert: »Noch die Theorie der Entfremdung, Ferment der Dialektik, verwirrt das Bedürfnis, der heteronomen und insofern irrationalen Welt nahe zu kommen, nach dem Wort des Novalis ›überall zu Hause zu sein‹, mit der archaischen Barbarei, daß das sehnsüchtige Subjekt außerstande ist, das Fremde,

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Stabilisiert nicht das »eigentliche Sein zum Tode« genau diese Struktur, wenn es sich vom Anderen abspaltet und in sein aus Sorge um das Selbst gebaute Haus zurückzuziehen beginnt?

4.6.2 Gegenentwurf Wenn wir den sozialen Tod als sozialen ernst nehmen, dann ist ein anderes Todesbewusstsein nicht durch eine andere Haltung zum eigenen Tod zu erreichen. Sondern sie ist Effekt, dem in erster Linie eine andere Selbstverständlichkeit des Daseins vorangehen muss. Hieraus ergibt sich eine politische Forderung: Wenn der Tod »mein Tod« sein soll, muss das Dasein von Anfang an als dieses Dasein sterben können – es muss betrauerbar sein. Betrauerbar ist es aber nur unter bestimmten Bedingungen des Diskurses, die das Dasein in seiner Gefährdung sehen. Die »Uneigentlichkeit« im Sinne Heideggers oder das Phänomen des »sozialen Todes« ergibt sich also nicht allein aus einer Verdrängung des Todes aus dem öffentlichen Leben, sondern aus einer Verdrängung der Gefährdung des Lebens des Anderen und damit aus einer Verdrängung des Lebens selbst.49 Zugespitzt: Wer gesellschaftlich nicht lebt, kann auch nicht »seinen« Tod sterben. Das bedeutet zweierlei: Zum einen fragt es nach der Wahrnehmung des Lebens als spezifisches Dasein innerhalb der Gesellschaft (etwa in medialen Diskursen). Zum anderen fragt es nach dem Wie des Daseins im Gesellschaftlichen. Judith Butler formuliert: das, was anders ist, zu lieben; mit der Gier nach Einverleibung und Verfolgung. Wäre das Fremde nicht länger verfemt, so wäre Entfremdung kaum mehr.« Vgl. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 174. 49 | Diese Verdrängung ist Heidegger zu attestieren, wo er den Anderen nicht als Gefährdeten, sondern nur als Gefahr erkennt und deswegen den eigenen Tod mythisch erhöht. Adorno: »Die Unvertretbarkeit des Todes wird für die Ontologie von Sein und Zeit zum Wesenscharakter von Subjektivität selbst; sie determiniert alle anderen Bestimmungen bis zum Übergang in jene Lehre von der Eigentlichkeit, die am Tod nicht nur ihr Maß sondern ihr Ideal hat. Tod wird zum Wesenhaften des Daseins. Rekurriert der Gedanke als auf seinen Grund auf die absolute isolierte Individualität, so bleibt ihm tatsächlich nichts als Sterblichkeit in Händen; alles andere folgt erst aus der Welt, die für Heidegger sekundär ist wie für die Idealisten.« Vgl. Theodor W. Adorno: Ebd., S. 504f.

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»Nur in Verhältnissen, in denen sein Tod von Bedeutung ist, kann der Wert des Lebens zutage treten. Betrauerbarkeit ist somit Voraussetzung dafür, dass es auf ein bestimmtes Leben ankommen kann. […] Ohne Betrauerbarkeit gibt es kein Leben, oder vielmehr: Wer nicht betrauerbar ist, lebt außerhalb des Lebens.« 50

D.E. scheint sich selbst außerhalb dieses Lebens stellen zu wollen, obwohl er weiß, dass es Menschen gibt, die ihn betrauern werden, für die sein Tod einen Bruch auch im eigenen Lebenslauf darstellen wird. Es scheint, als habe er seine gesellschaftliche Funktion so verinnerlicht, dass er die Strukturen seines gesellschaftlichen Seins auch in der Organisation seines Todes reproduziert und somit mit an seiner Subjektivation beteiligt ist: Subjekt eines Lebens, das nicht betrauerbar ist. Das wirft die Frage auf, inwiefern seine Funktion innerhalb der politischen Machtstrukturen in der Raketentechnologie der NATO überhaupt erst möglich wird durch die Verdrängung der Betrauerbarkeit des Daseins. Auch die totale Verschließung des Sarges von Pius spiegelt das System, dem er angehörte, als absolut Verschlossenes zurück. Mit einer solchen Deutung der diskursiven Verdrängungsstrukturen erklärt sich auch die in Jahrestage gezeigte Sprachlosigkeit, die der Vietnamkrieg mit sich bringt. Die Statistik des Todes ist somit einem Begriff vom Leben geschuldet, das von Anfang an Teil der Statistik ist und sich somit auch nicht außerhalb dieses Diskurses entwerfen kann. Als »kommunistischer Feind« markiert, ist das Dasein der Menschen in Vietnam bereits in ein Sinnsystem integriert, aus dem weder ein Lebensentwurf noch der faktische Tod entlassen kann. »Der Tod, das ist die Unmöglichkeit einen Entwurf zu haben«51 , betont Lévinas zu Recht; die Möglichkeit des Entwerfens kann sich dann nicht in ihm begründen. Wenn wir dem »Man« den Status einer Öffentlichkeit zurückgeben, den Heidegger ihm raubt, einer Öffentlichkeit, in die wir zweifellos involviert sind, ist der eigene Entwurf jener, der nicht nur durch den Entwurf des Anderen spricht, sondern auch vom Fehlen des Entwurfes des Anderen immer Zeugnis ablegt. »Trauerarbeit« ist dann eine Arbeit, die bereits auf Veränderung der Bedingungen der Möglichkeit der Daseinsentwürfe abzielt. Die Verdrängung des Todes, als Resultat der Verdrängung der Daseinsentwürfe, zeigt sich als Strategie von Systemen, in denen Übersetzung im Sinne eines Bruches nicht mehr mög50 | Judith Butler: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt/New York: Campus 2010, S. 22 (Auslassung durch Verf.). 51 | Emanuel Lévinas: Die Zeit und der Andere, S. 47.

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lich ist. Wir haben aber gerade diese »Brüchigkeit« im Übersetzen – z.B. über die in Jahrestage entfaltete Kritik am Synchronen – als die Übersetzung erkannt, die Sprache und Sinn erst ermöglicht. Wo die Häuser ohne Leben sind, so haben wir mit Gesine auf Staten Island gesehen, sind sie nur noch Kulisse von »ehedem« (JT, S. 1223), Dokumente dafür, dass die Zeit des Anderen fehlt, die ihnen Zukunft geben kann. Ich möchte diese hier aufgeworfenen Fragen in den bildungsphilosophischen Teil dieser Arbeit mitnehmen und nun darauf schauen, wie sich der Entwurf Geschichte und seine Möglichkeiten bisher gezeigt haben und wie vor diesem Hintergrund das Ende von Jahrestage gelesen werden kann. Gibt es einen Einspruch zum Tod, der das Haus der Erzählung noch einmal zu öffnen vermag? Entwurf gegen Totalität, die sich dem Umbau verschließt?

5. Zwischen Entwurf und Ordnung Wäre aber gern ordentlich gewesen, unbeeinflußt von Biographie und Vergangenheit, mit richtigem Leben, in einer richtigen Zeit, mit den richtigen Leuten, zu einem richtigen Zweck. Ich kenne die Vorschriften. (Jahrestage, S. 889)

5.1 E NT WURF UND P L AN Wir haben im Dialog mit Jahrestage gesehen, wie das Dasein sich in einer gesellschaftlichen Ordnung vorfindet, die es performativ mit hervorbringt und von der es hervorgebracht wird. Innerhalb dieser Ordnung konnten wir den Plan von Geschichte auf der Seite der totalen gesellschaftlichen Organisation vorfinden, die das Dasein nicht nur im Leben, sondern auch im Tod noch umfasst. In D.E.s Haus wohnte der Plan, der die Ordnung beaufsichtigt hat und dem Lebendigen keinen Platz mehr eingeräumt hat. Wir haben gesehen, dass die Verwirklichung von Plänen sich einer Reihe diskursiver Mittel bedient, die die Person in die Gefangenschaft eines Systems nehmen. Der konkrete Mensch ist gegenüber der Planbarkeit der Geschichte eine Tautologie: Er muss bereits als einer vorausgesetzt werden, der im Sinne des zu verwirklichenden Plans funktionieren kann. Gleichzeitig versuchen die Systeme diesen Widerspruch zu kaschieren und nutzen Strategien, um den Menschen in ihrem Sinne zu normieren. An Jakob haben wir gemerkt: Wer da quer läuft, spielt mit dem Leben. Die Planbarkeit der Geschichte als kollektive Erzählung haben wir bei der Organisation der Erinnerung als »kollektives Gedächtnis« gesehen, von dem wir die Erinnerung als »Wieder-Einfall des Anderen« abgegrenzt haben. Der Unterschied zwischen Plan und Entwurf macht sich also durch den

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Anderen bemerkbar. Die Widerstandsmöglichkeit gegen die totale Organisation kommt – so haben wir gesehen – nicht aus dem Subjekt selbst, sondern ereignet sich durch die Begegnung mit dem Anderen. Während der Entwurf durch den Anderen auch von der Abwesenheit des Entwurfes des Anderen zu sprechen vermag, kennt der Plan den Entwurf des Anderen nur als Moment der Gefahr. Der Plan zeichnet sich dadurch aus, dass er Zukunft nicht entwerfen, sondern ihr eine Ordnung geben will, die sich gerade durch andere Entwürfe nicht erschüttern lässt. Der Plan hat damit schon aufgrund seiner gesetzten Bedingung – die Beherrschbarkeit der Geschichte – ein Moment der Gewalt in sich. Im Laufe unseres Dialoges mit Jahrestage hat sich die Lebenswirklichkeit der Geschichte jedoch als Entwurf in der Unabgeschlossenheit des übersetzenden, geteilten und umbauenden Erzählens, im Einfall des Anderen, im Wieder-Einfall der Erinnerung und der Polysemie der Spur gezeigt, die Auf-Bruch bedingt. Der Entwurf steht im Spannungsfeld von Offenbaren und Verbergen: Offenbaren, weil er etwas zur Sprache bringt; verbergen, weil er seinen Anfang und sein Bedeuten in der Zukunft nicht kennt, weil er ein Geheimnis transportiert und bewahrt. Doch auch darin scheint der von Heinrich Cresspahl überlieferte Satz »Geschichte ist ein Entwurf« noch nicht in allen Möglichkeiten erschöpft. Mit den bisher erfassten Bedeutungen haben wir ihn primär in eine Dynamik gestellt, die das Situative in die Spannung der Zeitlichkeit stellt. Gleichzeitig klingt hier aber auch schon der Blick auf die Geschichte, etwa als Geschichtsphilosophie, an.1 An diesem Punkt muss noch einmal genauer hingesehen werden. Was kann es bedeuten, wenn mit Blick auf die Geschichtsphilosophie vom Entwurf gesprochen wird? Was impliziert der Entwurf? Zum einen haftet dem Entwurf das Schöpferische, auch Plötzliche an, das wir im Einfall beschrieben haben. Zum anderen begegnet uns der Entwurf aber auch, wenn etwas als mangelhaft kritisiert wird: »Dies ist ja ein bloßer Entwurf« heißt: »Es ist noch unzureichend. Es kann vor dem Realen nicht bestehen.« Die Abqualifizierung des Unfertigen setzt den Entwurf als Vorstufe des Plans voraus. Herder schwärmt so beispielsweise von einer Möglichkeit des »höchsten Entwurfes der Geschichte«, in 1 | Vgl. hierzu auch Eberhard Lämmert: »Geschichte ist ein Entwurf«. Die neue Glaubwürdigkeit des Erzählens in der Geschichtsschreibung und im Roman. German Quarterly, Nr. 63/1990, S. 5ff.; und auch Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 457.

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der sich die Macht der Nemesis zeigt.2 Im Sinne der Unvollständigkeit des Entwurfes ist Kritik an der Geschichtswissenschaft geübt worden. Diese Kritik formulierte, die Geschichtswissenschaft habe sich die »Geschichte unter der Ägide bestimmter Begrifflichkeiten des Zeitgeistes entworfen.« Diese Kritik, die den bisherigen Entwurf als unzureichend disqualifiziert, unterstellt eine »wahre« Geschichte, die durch die »richtige« Geschichtsphilosophie erkannt werden soll. In diesem Sinne beschreiben etwa Karl Marx3 oder Oswald Spengler4 ihren Überlegungen vorangehende »Geschichtsentwürfe« von Historikern und Philosophen, um gleichzeitig ihr unterstelltes »eigentliches« τέλος der Geschichte dagegenzusetzen. Ihre Formulierung würde lauten: »Bisher ist Geschichte ein Entwurf gewesen. Jetzt wird sie Wissenschaft.« Dieser »besseren Wissenschaft« gemeinsam ist es, dass es ihr auch immer um das Wozu des Betrachtens der Geschichte geht. Ähnlich wie Humboldt die Übersetzung in den Dienst der Nation stellt, steht hier die Geschichtsphilosophie im Dienste einer »größeren Idee«, die sich – so die Prämisse – in der Geschichte selbst bereits offenbart. Dies fragt nach dem »Wohin« des Entwerfens. Denn selbst wenn wir 2 | »Der letzte, ohne Zweifel der höchste Entwurf der Geschichte wäre der Entwurf der Nemesis selbst, in allen Staatsverhüllungen die reine Menschengeschichte; […].« Vgl. Johann Gottfried Herder: Postscenien zur Geschichte der Menschheit. Nebst einem Anhang. Hg. v. Johann von Müller, Tübingen: J.G. Cotta 1807, S. 39 (Auslassung durch Verf.). 3 | Vgl. hierzu z.B. folgende Aussage Karl Marx’ in der Deutschen Ideologie: »Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. […] Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann.« Karl Marx: Die Deutsche Ideologie, in: ders.: Frühe Schriften. Hg. v. Peter Furth und Hans-Joachim Lieber, Band 2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971, S. 15f. (Auslassung durch Verf.). 4 | Vgl. hierzu z.B. folgende Überlegung Oswald Spenglers in Der Untergang des Abendlandes: »[…] Welthistorische Perspektiven [der zweite Teil von Untergang des Abendlandes, Verf.] versucht aus der historischen Praxis der höheren Menschheit die Quintessenz der geschichtlichen Erfahrung zu erhalten, auf Grund deren wir die Gestaltung der Zukunft in unsere Hand nehmen können.« Vgl. Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1972, S. 70 (Auslassung und Einfügung durch Verf.).

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den Entwurfcharakter bisheriger Geschichtsphilosophie nicht als Mangel denken, sondern einen anderen Entwurf (im Sinne von Philosophie) dagegenstellen, kann man fragen: Wozu ist dieser Entwurf entworfen worden? Was zeigt sich an diesem Entwurf? Ist dies ein Entwurf, um etwa »eine Wahrheit zu finden«, »etwas über den Menschen zu sagen«, »die Rätsel der Welt zu lösen?« Oder ist die Geschichte ein Entwurf von etwas, das nicht sie selbst ist, etwa ein »Entwurf vom Menschen«? (Hiermit ist die Geschichte auch als Akteur denkbar, was diese Problematik dann verdoppelt.) Ist sie ein Entwurf, so wie Keuner sich vom Menschen, den er liebt, einen Entwurf macht und daran arbeitet, dass der Mensch dann diesem ähnlich wird?5 Welche Rolle spielt dann, wer diesen Entwurf unterzeichnet hat? Können wir das, was wir dem Entwurf durch die Erscheinungsweisen des Anderen zugesprochen haben, mit dem verbinden, was sich hier zeigt, wenn wir von der Geschichtsphilosophie als Entwurf sprechen? Eine vorstellbare Möglichkeit ist, dass der Entwurf der Geschichte bereits Antwort auf eine Frage gibt, die wir nicht kennen und die sich in der entstehenden Geschichte als eine Möglichkeit zeigt. So würde Cresspahls Satz dann lauten: »Geschichte ist ein Entwurf«, als eine Antwort, die sich zeigt, ohne die Frage zu offenbaren. Diese Geschichte, die als ein Entwurf zu uns spricht, kommt unseren Beobachtungen nahe: Wir wissen nicht, woher der Einfall des Anderen kommt; wir wissen nicht genau, was das Erinnern und Sprechen motiviert – »wer erzählt hier eigentlich«, wenn der Entwurf Geschichte zu antworten und aber auch zu fragen, anzufragen beginnt? Doch mit Blick auf Jahrestage bleibt die Frage: Sind all diese Modalitäten des Entwurfs Geschichte nicht auch unweigerlich geknüpft an den »Knochenmann« Tod, der die Geschichte als Erzählung bedingt und trägt und dann wieder in der Person von Klieforth mit sich nimmt? Wird somit das Geheimnis, das sich ausgehend von der Bedrohung des Todes schreibt

5 | Bertolt Brecht: Geschichten vom Herrn Keuner. Wenn Herr K. einen Menschen liebte, in: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Werner Hecht und Jan Knopf, Band 18: Prosa 3, Sammlungen und Dialoge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 24. Eine intensivere Auseinandersetzung mit dieser Geschichte nehme ich in Teil B dieser Arbeit in Kapitel 1 Zwischen Bildung und building, S. 201ff., vor.

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und behauptet, wieder an diesen Tod gegeben? Wird das Geheimnis in Jahrestage damit auch »als in sich selbst zurückgenommenes gezeigt«?6 Zeigt dann Jahrestage nicht schließlich doch das Sein in seinem »Sein zum Tode«, als Eigentliches, das in einem aus der allein vom Todmotivierten Sorge des Daseins entstehenden Entwurf zur Sprache kommt? (Dies ist der Entwurf, wie Heidegger ihn für den Entwurf des Eigentlichen hält.)7 Blicken wir noch einmal auf das eigenwillige Ende des Textes und fragen uns: Wo zeigt sich dort selbst ein Moment des Auf-Bruches, das als anderes Sprechen jene Vollständigkeit, Totalität und Dogmatik suspendiert, die wir dem Plan im Gegensatz zum Entwurf zugesprochen haben? Ich möchte nun versuchen, über die Panzer in Prag zu blicken, die die Aussicht bisher am Ende verstellt haben. Was geschieht in Jahrestage am Schluss des Schlusses noch?

5.2 E NT WURF UND A UFBRUCH Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass das Ende von Jahrestage sprechend ist und in diesem Sprechen absurd anmutet. Wie umgehen mit »[29. Januar 1968, New York, N.Y – 17. April 1983, Sheerness, Kent.]« (JT, S. 1892) wenn diese Datierung mehr als nur eine Tautologie sein soll, die beweist, was das Werk ohnehin schon dokumentiert? Vor dem Hintergrund der nun dargelegten Überlegungen schlage ich nun folgende Möglichkeiten vor, mit der letzten Seite von Jahrestage umzugehen: Erste Möglichkeit: Weil dieses Erzählen anders sein will als die politische Gewalt, gegen die es sich stellt, setzt es sich selbst in die Fiktionalität und ihre Unabgeschlossenheit. Die Narration, die das Geheimnis bewahrt – das der Sammlung, Verwaltung, der geplanten Ordnungen und der letzten Interpretation von Informationen entgegensteht – will sich dem verweigern, was sie als Gewalt narrativ zu zeigen vermag. Diese Gewalt haben wir an verschiedenen Stellen des Umgangs mit der Zeit gesehen: bei der New York Times, der die Geschichte bereits im vorhinein erklärbar, verfügbar und vorhanden ist; in dem Stadtraum New York, der nicht zulässt, dass 6 | Vgl. hierzu auch die Überlegungen von Ulrich Krellner, der die Übergabe der Erinnerungen an Klieforth als »in sich selbst zurückgenommene[s] Geheimnis« liest. Ulrich Krellner: »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 343. 7 | Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 191ff.

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seine Bewohner in ihm Spuren hinterlassen. Fortschritt, Geschwindigkeit und Beschleunigung haben sich als bestimmende Erscheinungsweisen der politischen Zeit gezeigt, die das Leben normieren, so den Tod verdrängen, über die Normierung des Lebens ihn als »eigenen Tod« verhindern und dann in einer Form des sozialen Todes als gesellschaftlich Verdrängtes hervorbringen. Da Jahrestage dies als gewaltsame Organisationsformen zeigt, sich ihnen zu verweigern sucht, stellt der Schriftsteller sich durch die Datierung auf der letzten Seite mit seiner Zeit in die Unaufgeklärtheit des Anderen; indem er seinen eigenen Arbeitsprozess, der datierbar zur Geschichte gehört, nicht als übergeordneten Standpunkt eines möglichen Herrschaftswissens setzt, sondern diesen Standpunkt – durch eine doppelte Anbindung an seine Zeitlichkeit und an die Narration selbst – den Unsicherheiten und Potentialitäten der Begegnung aussetzt. Das »Autorbewusstsein« kann dann als Teil eines künstlerischen Prozesses verstanden werden, das durch und in diesem ist. Einspruch zur ersten Möglichkeit: Ist das nicht nur ein Trick, der gerade den starken Autor (und seine Planung) als letzte Instanz – hier in der Ermöglichung eines Prozesses des Rahmen-Absteckens, des Spieles von Differenzen – wieder einführt, weil dann doch alles in ihm zusammenläuft? Liefert dieser Autor hier nur noch einmal den dokumentarischen Beweis dafür, dass das entfaltete Zeugnis in erster Linie Zeugnis von seinem Bewusstsein ablegt? Einspruch gegen diesen Einspruch: Müssen wir uns das fragen? Was setzt diese Frage voraus? Zweite Möglichkeit: Wir können nicht entscheiden, zu welcher Ordnung die Datierung auf der letzten Seite und die sich ihr anschließende Leere gehört. (Dazu gehört auch: Wir können nicht entscheiden, wer oder was sie in diese Unentschiedenheit gebracht hat.) In dieser Unentschiedenheit öffnet sich gerade am »Schlusspunkt« etwas, das in Bewegung bleibt. Die Panzer in Prag, die wir als Teil einer politisch-beschleunigten Zeit erkannt haben, bewirken nicht die totale Suspendierung des Zeitlichen. Sie sind nicht die »Vorboten der Apokalypse«, sie bewirken nicht »das Ende der Geschichte«, auch wenn das auf den ersten Blick so scheint. Sicher: Das Erzählte scheint zunächst am Ende zu sein, doch die Möglichkeiten des Übersetzens sind es nicht. In diesem Sinne endet Jahrestage nicht in einer Katastrophendialektik, fällt nicht ins Nichts. Die letzten Seiten sprechen dann nicht allein von einem Scheitern im Sinne eines Ausbruches von Gewalt und eines gescheiterten Ausbruches von Gesine aus dieser, sondern die Datierung,

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der die scheinbare Leere folgt, bewirkt, dass die Erzählung selbst dort auf-bricht, wo sie als Erzählung aufbrechen kann, auf der Ebene der Bedeutung ihrer Zeit, ihrer Konstitution. Die Datierung auf der letzten Seite zeigt sich so als eine Art Atopie, weil sie weder der Ordnung der Erzählung noch der Ordnung ihres Außen eindeutig angehört, aus beiden eine Bedeutung gewinnt, beides als Instanzen trennt und genau diese Trennung hinterfragt. Sie ist ein Bruch, der die Vollständigkeit und Abgeschlossenheit suspendiert und somit ein Weiter-Über-Setzen als Moment der Rhetorik, die sich dem Anderen öffnet, radikalisiert. Damit öffnet sich das Ende des Textes, weil er die Leere und Stille in seine Bedeutung aufnimmt und darauf verweist, dass noch etwas fehlt, was zu ihm gehört. Die Leere der Seite verweist auf die Abwesenheit des Erzählten, aber darin auch darauf, dass hier ein Raum entsteht, der noch (im doppelten Sinne) beschrieben werden kann und beschrieben werden muss. Das Aufhören des Erzählten macht so das Auf-Horchen auf das Unerhörte möglich. Damit ist Jahrestage kein Text, der durch die Datierung zu einer Identität des Selben zurückkehrt, sondern er bricht mit dieser Identität. Am Ende von Jahrestage stehen wir vor einem Bruch, der weder der Erzählung noch der Geschichte (hier auch verstanden als die Bedingung der Konstitution der Erzählung) das letzte Wort erteilt und sich als dieser Bruch weder erzählerisch noch geschichtlich eindeutig verorten lässt.8 (Oder stehen wir als Literaturwissenschaftler nicht gerade in diesen Brüchen?) Dieser Text-Bruch öffnet den Weg, der die Rhetorik (des Gesprochenen, Verschriftlichten) als Effekt eines Anderen erscheinen lässt, der hier zur Sprache kommen muss, weil auch die Macht (das Sprechen, die Ordnung, das Zeugnis) des Autors in der Zeit nur eine begrenzte ist. 8 | Derrida formuliert in Schibboleth: »Wie soll man die Unterscheidung treffen zwischen dem Datum, von dem das Gedicht spricht, und dem Datum des Gedichts, wenn ich hier, jetzt, schreibe, um an das andere hier, jetzt, zu erinnern, das ein anderes war, aber quasi am selben Datum. Quasi: Nicht so sehr deshalb, weil diese Stunde hier, heute an diesem Datum, dieses datierte Hier-Jetzt, nicht rigoros das Selbe, zum Anderen nur Analoge ist, sondern weil das ursprüngliche Datum, in seiner Eigenschaft als ein vom anderen Hier-Jetzt kodiertes Merkmal, bereits eine Art Fiktion war, die das Einzigartige nur in der Erzählweise der Konvention und der Allgemeinheit, jedenfalls der wiederholbaren Merkmale, wiedergibt.« Vgl. Jacques Derrida: Schibboleth. Für Paul Celan, Wien: Passagen 2007. S. 95 (Hervorhebung im Original).

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A D IALOG MIT J AHRESTAGE

Das Geheimnis, das die Erzählung trägt, wird so nicht mit in den Tod genommen, sondern gibt den Entwürfen eines Anderen Raum – flickt das Kleid nicht, in das der »Dorn einen Triangel reißt« (JT, S. 1541). Und Gesine in diesem Aufbruch? Wird die Tochter des Tischlers es noch einmal schaffen, über zu setzen, umzuziehen, das Haus der Erzählung neu zu bauen? Wie ihr Leben weitergeht, hängt auch davon ab, ob sie den Aufbruch nach Prag in der Logik einer Dienstreise aufgehen lässt. Tut sie das, dann wird sie wie Jona verzweifeln, der alles als sinnlos empfindet und sterben will, als sich der Empfänger seines Auftrages verändert hat und er sein Sprechen in der veränderten Situation für bedeutungslos hält.9 Als Übersetzerin aber wohnt Gesine nicht in einem Haus aus »Stahl und Glas« (JT, S. 34), dessen Ordnung »an jeder Stelle beaufsichtigt ist von einem Plan« (JT, S. 268). Sondern sie wohnt in einem »Haus des Seins«10, das nicht allein ihr Entwurf ist und das durch die Heim-Suchung des Anderen immer wieder aufgebrochen und umgebaut wird.11

9 | Es ist klar, dass der Vergleich zwischen Jona und Gesine Grenzen hat; es geht mir hier auch nicht um eine Gleichsetzung, sondern primär darum, darauf hinzuweisen, dass der Aufbruch des Jona als Aufbruch scheitert, weil er ihn ganz in der Logik der Dienstreise aufgehen lässt, was auch Gesines Aufbruch scheitern lassen könnte. Zum Jona-Motiv bei Johnson vgl. auch: Uwe Johnson: Jonas zum Beispiel, in: ders.: Karsch und andere Prosa, Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 1990, S. 82-84. 10 | Martin Heidegger: »Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch.« Vgl. Martin Heidegger: Über den Humanismus, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2000, S. 5. 11 | In Variation eines Gedankens von Derrida ließe sich sagen, dass dieses »Haus des Seins« eins ist, das im Erzählen statt-findet, statt Stätte zu sein. Vgl. zum Zusammenhang von Statt-Finden und Stätte: Jacques Derrida: Wie nicht sprechen. Verneinungen, Wien: Passagen 1989. Bernhard Waldenfels formuliert in Anspielung auf diese Reflexionen Derridas: »Was uns in Bewegung setzt und in Bewegung hält ›findet statt‹, doch es ist nicht einfach an seinem Platz.« Vgl. Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 223.

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In diesem Haus sagen zu können: »Es ist unser Haus« (JT, S. 538), weil wir uns dort »begrüßen wie die Fremden« (JT, S. 1008) – das ist das Versprechen der Komplizen gegen den Tod, der kommt, wenn das Haus fertig ist12 , d.h. wenn Geschichten planbar, Erinnerungen verordnet, Geheimnisse ausgeleuchtet und Übersetzungen ohne Bedeutung sind.

D RIT TE (NICHT LE T Z TE) Ü BERSE T ZUNG Geschichte ist ein Entwurf, der weder zur Ordnung des Ästhetischen (Erzählung oder Rhetorik) noch zur Ordnung des Historischen (im Sinne von Geschichte und Geschichtsphilosophie) eindeutig gehört. In den Grenzen dieser Ordnungen bricht sich das Unerhörte als Einwurf des Anderen Raum.

12 | Ein türkisches Sprichwort sagt: »Wenn das Haus fertig ist, so kommt der Tod.« So fällt auch Thomas Buddenbrook dieses Sprichwort ein, nachdem er ein neues Haus bezogen hat und seinen Abstieg zu ahnen beginnt: »Ich habe in den letzten Tagen oft an ein türkisches Sprichwort gedacht: ›Wenn das Haus fertig ist, so kommt der Tod‹. Nun, es braucht noch nicht grade der Tod zu sein. Aber der Rückgang … der Abstieg … der Anfang vom Ende […] es kam die Senatswahl, und ich hatte Glück und hier wuchs das Haus aus dem Erdboden. Aber ›Senator‹ und Haus sind Äußerlichkeiten, und ich weiß etwas woran du noch nicht gedacht hast, ich weiß es aus Leben und Geschichte. Ich weiß, daß oft diese äußerlichen, sichtbarlichen und greifbaren Zeichen des Glükkes und Aufstiegs erst erscheinen, wenn in Wahrheit alles schon wieder abwärts geht.« Vgl. Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie, in: ders.: Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe I/I, Hg. v. Eckhard Heftrich, Frankfurt a.M.: Fischer 2001, S. 473f. (Auslassung durch Verf.). Ähnlich formuliert Bernhard Waldenfels: »Der fertige Bau gliche einem Mausoleum, aus dem das Leben verbannt ist.« Vgl. Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 223.

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Ü BERGÄNGE /Ü BERSETZEN

Von der Übersetzerin Gesine Cresspahl haben wir uns durch einen Teil der Geschichten ihrer Lebenswelt auch mit in die Geschichte nehmen lassen. Wir sind einer literarischen Figur begegnet, die innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung zeigt, dass es die Möglichkeit gibt, diese Ordnung zu unterlaufen. Mit diesen Möglichkeiten, so wurde deutlich, bedroht Gesine nicht das Selbstverständnis dieser Gesellschaft, sondern bewegt sich an den Grenzen einer solchen Gesellschaft, die ihre Ordnung durch Exklusion des Anderen stabilisiert und damit gerade in fundamentale Widersprüche geraten muss. Diese Widersprüche drängen sich Gesine an den Grenzerfahrungen ihres Lebens auf: Am Umgang mit Erinnerung, Trauer und Tod, im Hören der Geschichten des Anderen, in der Begegnung mit Geschichten, in ihrer Konfrontation mit Landschaft und Text. Die Existenz lässt in Begegnungen die Widersprüche des Gesellschaftlichen sichtbar werden, die sich in einem gesellschaftlichen Dasein gerade nicht mehr versöhnen lassen. Wir begleiteten Gesine und den »Genossen Schriftsteller« bis zu einer politischen Grenze, die 1968 mit dem Einmarsch der sowjetischen Panzer in Prag errichtet worden ist. Hier habe ich versucht, über diese Grenze hinauszublicken. Hier, angesichts eines Ereignisses, das für Gesine die Zerschlagung einer konkreten politischen Hoffnung bedeuten muss, versuchte ich noch eine Möglichkeit des Weiter-Sprechens, des Im-AufbruchBleibens zu finden. Den Satz ihres Vaters Heinrich Cresspahl »Geschichte ist ein Entwurf« habe ich zu ihren Erfahrungen und den gewonnenen Leseeindrücken ins Verhältnis gesetzt und vor dem Hintergrund dessen, was mir durch die Lektüre begegnet ist, übersetzt. Ich habe diese drei Übersetzungen formuliert:

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1. Geschichte ist Entwurf, der aus den Geschichten heraus ins Gegenwärtige übersetzt und sein Übersetzen als Handeln zeigt. Damit ist er kein Entwurf, der danach strebt, sich irgendwann seines Entwurfcharakters durch Erfüllung zu entledigen. Er kann und will kein Bauplan sein. Der Entwurf Geschichte wurde dann zunächst ins Verhältnis zur Übersetzung gestellt: Dort zeigt er sich als unvollständige Handlung, weil er nur im Weiterübersetzen bestehen kann. Diese Handlung steht der Logik eines Bauplanes somit entgegen, der sich als letzte und geschlossene Interpretation behaupten will. In der darauffolgenden Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Erinnerung und Gedächtnis übersetzte ich: 2. Erinnerung ist der Wieder-Einfall des Anderen in die Ordnung des Gedächtnisses. Geschichte als Entwurf setzt durch den Wieder-Einfall des Anderen in Sprache über. Die Spur des Anderen ist Stachel (spur) im Gedächtnis: Das Geheimnis im »Hohlraum Luft« hebt das Wellenrad Erinnerung durch den Widerstand im Zahnrad empor. Die Erinnerung, die das Ent-Fallene in das Gedächtnis zurückruft, kommt nicht aus der Ordnung des Selbst, sondern durch den Anruf des Anderen, der »on the spur of the moment« die Zeit in die Sphäre des Daseins bringt. Die Spur des Anderen verbleibt in der Ordnung des Gedächtnisses und beginnt die Ordnung des »kollektiven Gedächtnisses« zu stören und als Konstruktion sichtbar werden zu lassen. Das »kollektive Gedächtnis« vermag sich nicht seiner eigenen Konstitution zu erinnern: Es kann sich konstituieren, weil es zuvor ein Kollektiv vorausgesetzt hat, dass sich durch Abgrenzung behauptet und das entschieden hat, welche Geschichten ins Gedächtnis dieses Kollektives aufgenommen werden. Spuren der Geschichte sind ihm so Zeichen der eindeutigen Verweisung geworden. Geschichte als Entwurf haben wir hier als die Übersetzung gesehen, die durch den Einfall des Anderen Sprache geworden ist. Dieses Sprechen bleibt ein Sprechen, das durch die Alterität begründet ist und somit konstiutiv auf sie bezogen bleibt. Nach einer Reflexion über den Tod, wie er uns in Jahrestage begegnet ist, standen wir mit Gesine vor den Panzern in Prag. Auf der Ebene des Textes sahen wir – in der Konstellation von Datierung und Leere der letzten Seite von Jahrestage – eine Bewegung, die den Text uneindeutig werden

Ü BERGÄNGE /Ü BERSETZEN

und aufbrechen lässt. Diese Bewegung des Textes durchbricht den Tod, den er als Teil der Ordnung benannt hat. So formulierte ich eine dritte, (nicht letzte) Übersetzung: 3. Geschichte ist ein Entwurf, der weder zur Ordnung des Ästhetischen (Erzählung oder Rhetorik) noch zur Ordnung des Historischen (im Sinne von Geschichte und Geschichtsphilosophie) eindeutig gehört. In den Grenzen dieser Ordnungen bricht sich das Unerhörte als Einwurf des Anderen Raum. Wir haben gesehen, wie sich der Entwurf Geschichte in den Grenzen der Ordnungen von Ästhetik und Historie zu behaupten beginnt: Gerade in dieser Uneindeutigkeit, die sich im Text einstellt, öffnen sich Möglichkeiten, Perspektiven über die verstellten Blicke der Ideologen hinaus. Hier, in dieser Uneindeutigkeit, behauptet sich die Erzählung, ohne Rückfall in Totalität. Durch diese Übersetzungen hat mich die Frage nach dem Subjekt in den theoretischen Reflexionen begleitet und es wurde deutlich, wie es in verschiedenen Konstellationen erscheint und zur Frage wird. Wir haben beobachtet, dass »das Subjekt der Erkenntnis« eine Übersetzung des Wissens ist, die Gefahr läuft, die Hybridität zu übergehen und somit die Wirklichkeit in das Eigene zu integrieren. Zunächst schien durch die Philosophie Heideggers die Möglichkeit eines anderen Denkens gegeben. Dieses Denken findet seine Grenzen dann aber – genau wie Bewegungen innerhalb der Aufklärung – in der Begegnung mit dem Anderen. Die Kritik eines solchen Denkens haben wir durch die Phänomenologie von Emanuel Lévinas vertieft. Hier werden diese gesellschaftlichen Grenzen als Effekt des aufgeklärten Blickes philosophisch konkret – ein Anders-Denken scheint in der Andersheit des Anderen auf. Dort wurde sichtbar, dass der Entwurf sich im Gegensatz zum Plan im Einfall des Anderen begründet: Der Andere, der nicht gekommen ist, um übersetzt zu werden, der schon immer in die Sphäre des Subjektes übergesetzt hat, versetzt die Grenzen der Ordnung in Bewegung. Die Fähigkeit, der gesellschaftlichen Ordnung kritisch zu begegnen, begründet sich bei Gesine also gerade nicht primär in dem Selbst, das ohne Zweifel über akademische Bildung und Ausbildung verfügt, sondern in der Hybridität ihrer Lebenswelt. Gesine kann nur durch diese Hybridität zur Sprache kommen.

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Ist Gesines Geschichte ein Bildungsweg, den wir nachvollzogen haben, ist Jahrestage damit Bildungsroman? Könnten wir dies, legitimiert durch die Ordnung der Wissenschaft, bejahen, so wäre eine Übersetzung in die Bildungsphilosophie ein aus der Lektüre von Jahrestage konsequent abgeleiteter Weg. Ein solcher würde jedoch die Lektüre wieder in die Ordnung des Eindeutigen reintegrieren, gegen die sich Jahrestage sträubt. Nun vermag die Ordnung der Wissenschaft diese Übersetzung zu Bildungsfragen ohnehin nicht zu erleichtern: Sie kann – zumindest in der deutschen Germanistik – nicht zulassen, das Genre des Bildungsromans auf Jahrestage anzuwenden, weil Kategorie und Erzählung sich nicht zu der Identität bringen lassen, die die Definition von Bildung im Genre des Bildungsromans verheißt.1 Nicht nur gegen die Bewegung dieses Denkens möchte ich hier etwas einwerfen, sondern auch gegen diese Vorstellung von Bildung, die in der Definition eines Genres aufzugehen sucht und damit doch gerade Bildung widerspricht, wenn sie sich hinter gebildeten Begriffen zurückzuziehen sucht.2

1 | Die Auseinandersetzung entzündet sich vor allem an den Überlegungen von D.G. Bond, der in seiner Analyse Jahrestage als Bildungsroman klassifiziert.Vgl. D.G. Bond: German History and German Identity. Uwe Johnson’s Jahrestage, Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1993, S. 38ff. Mehrere Germanisten haben sich damit kritisch auseinandergesetzt. Krellner weist darauf hin, dass Gesine das Alter eines »Bildungshelden« überschritten habe. Vgl. Ulrich Krellner: »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 224. Isabel Plocher sieht die Differenz zum Bildungsroman darin, dass man an Gesine keinen vergleichbaren Erfolg zu den Erfolgen der Bildungshelden ablesen kann. Vgl. Isabel Plocher: »Wenigstens mit Kenntnis Leben«, S. 115f. Ich finde dies wenig weiterführend, möchte die Frage des Genres hier aber auch nicht entscheiden; ich halte sie aber auch nicht für wesentlich, um Jahrestage in Bezug zu Bildungsfragen zu lesen. 2 | Adorno formuliert: »Erstarrt das Kraftfeld, das Bildung hieß, zu fixierten Kategorien, sei es Geist oder Natur, Souveränität oder Anpassung, so gerät jede einzelne dieser isolierten Kategorien in Widerspruch zu dem von ihr Gemeinten und gibt sich her zur Ideologie, befördert die Rückbildung.« Vgl. Theodor W. Adorno: Soziologische Schriften I. Theorie der Halbbildung, in: ders.: Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Hg. v. Rolf Tiedemann, Band 8, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 96.

Ü BERGÄNGE /Ü BERSETZEN

Ich möchte dagegen behaupten: Durchgängig sind wir in Jahrestage auf einen Prozess des Bildens aufmerksam geworden, der einer solchen Vorstellung entgegensteht. Inwiefern? Es fiel uns eine Bewegung auf, die zwischen Offenheit und Bild zu oszillieren beginnt, die Entwurf und Ordnung trennte, die dort Sinn in das Geschehen gebracht hat. Um diese Bewegung soll es nun gehen. Damit setze ich über in den nächsten Teil dieses Dialoges, in dem es um bildungstheoretische Fragen gehen wird.

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B Fragen zur Bildung

Einleitendes Sag meinetwegen: meine Mutter wollte da das Amerikanisch von Besitz und Bildung lernen, lieber als wie die Arbeiter sprechen und Räuber und Gendarm. (Jahrestage, S. 514)

Zu Beginn dieser Arbeit habe ich davon gesprochen, dass Bildung grundlegend für eine liberal-pluralistische Gesellschaft ist. Dieses behauptete Grundlegende scheint allerdings selbst noch unbegründet zu sein. Tatsächlich gehört es zur Eigenart des Bildungsdiskurses, dass die Forderung nach Bildung sofort konsensfähig ist. Dies sagt zunächst nichts über sie selbst, sondern etwas über den Umgang mit dem Bildungsbegriff, der diskursiv aufgeladen, positiv konnotiert ist und deshalb ein unkritisches Vertrauen genießt: Engagement für Bildung findet Zustimmung – vermutlich auch dann, wenn man Bildung inhaltlich nicht weiter zu spezifizieren versucht. Niklas Luhmann hat zu Recht auf die »Unübersetzbarkeit« des deutschen Begriffes Bildung hingewiesen.1 Bildung lädt zu zahlreichen Begriffs-Bildungen ein (wofür der schon erwähnte »Bildungsroman« ein Beispiel liefert), schillert irgendwo zwischen Ausbildung und Selbstbildung (in dieser Zeit damit zwischen Arbeit und Wellness, was die Industrie längst in einem möglichen Facettenreichtum begriffen hat), während zeitgleich das »Bildungsbürgertum« sein eigenes Ende betrauert und die Politik die »Bildungsnation« beschwört. Wenn auch der Begriff der Bildung polysem ist und es deswegen schwierig ist, ein Äquivalent in einer anderen Sprache zu finden (was, wie wir gesehen haben, gar nicht das Bestreben einer »gelungenen Überset1 | Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 187.

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zung« sein kann, sondern vielmehr das Ende von Übersetzung ist2), ist es mir dennoch wichtig, ihn in Beziehung zur Übersetzung zu sehen: Wie übersetzt sich Bildung zwischen Entwurf und Ordnung? Zwischen Prozess und Funktion? Ich möchte nun im Folgenden so vorgehen, dass ich unter Punkt 1 »Zwischen Bildung und building« zunächst den Zusammenhang von Bildung und Ordnung dort betrachte, wo er innerhalb der Gesellschaft am stärksten zutage tritt: Am Bildungsplan. Hier wird es besonders darum gehen, das Selbstverständnis des Bildungsplanes als Ausbildungsprogramm aufzuzeigen und diese Bewegung dann im Dialog mit der bereits angesprochenen Keunergeschichte und in weiterer kritischer Auseinandersetzung mit Reflexionen Heideggers philosophisch zu verorten. Diese Auseinandersetzung führt zu der Frage, was »bilden von« und »bilden aus« implizieren kann. Unter Punkt 2 »Zwischen Entzug und Identität« werde ich vor dem Hintergrund dieser Überlegungen die Frage nach der Subjektivität erneut aufwerfen. Dabei werde ich das Subjekt mit Judith Butler und Jean-Paul Sartre in der Situation seiner performativen Bildung durch die Begegnung beschreiben. Dabei wird uns eine symmetrische Konstruktion auffallen, die auch auf der Ebene der Wissenschaft die Möglichkeiten des Anderen als Anderen begrenzt. Mit Emanuel Lévinas werde ich die Performanz der Bildung mit dem Erscheinen des Anderen konfrontieren. Durch diese Überlegungen wird uns das Moment der Bildung als eine Bewegung auffallen, die den performativen Akt der Subjektiviation überdauert und das Subjekt in eine Bewegung bringt, die eigenwillig ziellos und dennoch sinn-voll ist. Bildung in Beziehung zu diesem Sinn zeigt sich als das Ereignis, das ihn hervorbringt und das Subjekt in Aufbruch versetzt. Dies wirft die Frage auf, inwiefern wir von einer Bildungsinstitution sprechen können, ohne dass Bildung mit der Ordnung selbst zusammenzufallen beginnt.

2 | Vgl. hierzu meine Überlegungen zum Übersetzungsbegriff in Teil A dieser Arbeit, besonders in Buchteil A, Kap. 1 In Übersetzung, S. 27ff.

1. Zwischen Bildung und building Das sagt jemand leicht, der hat zu Hause höhere Anstalten für höhere Bildung die Menge, und eine Columbia-Universität um die Ecke. (Jahrestage, S. 1827f.)

1.1 B ILDUNGSPL AN Wenn wir den Zusammenhang von Bildung und Ordnung betrachten, so lässt sich zunächst feststellen, dass sich Bildung innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung, der Ordnung des Sozialen ereignet. Sie ist ein Teil und ein Produkt des Gesamtgesellschaftlichen und zugleich an seiner Performanz beteiligt. Was bedeutet dies? Wenn Bildung an der Performanz des Sozialen beteiligt ist, so muss es in ihr Akte geben, die die soziale Ordnung hervorbringen, aktualisieren und so stützen. Bildung ist somit Teil der sozialen Inszenierung einer Gesellschaft. Nicht nur inszeniert sich in Bildung das Wissen des pädagogischen Diskurses, sondern sie ist das Gebiet, in dem eine Gesellschaft auch ihr Selbstverständnis über die in ihr lebenden Menschen artikuliert, ihre Vorstellung von Zukunft kommuniziert und diese Vorstellungen im pädagogischen Handeln praktisch zur Anwendung bringt. Bildung bildet somit die Ordnung mit und bildet sie zugleich ab. Der Begriff des »Bildungsplans« spiegelt auf der begrifflichen Ebene einen starken Zusammenhang zwischen Ordnung und Plan in Bezug zur Bildung und verortet die Bildung im institutionellen Gefüge des Sozialen. Im Bildungsplan werden die Menschen für die Zukunft des Gesellschaftlichen gebildet und der Bildungsplan sucht damit die Differenz zwischen Auszubildendem und der Ordnung, in der sich dieser bewegt, in Bezug

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auf die verlangten Fähigkeiten zu vermindern, so dass dieser an der gesellschaftlichen Ordnung wird partizipieren können. Er verfolgt also das Ziel der Integration der Menschen in eine Gesellschaft, deren Zukunft er zwar nicht genau kennt, aber die er mit hervorzubringen und zu gestalten (im Sinne einer Stabilisierung des zukünftigen Subjektes für diese Gesellschaft) beansprucht. Im Zuge der Bildungsreform 2004 ist von der Landesregierung Baden-Württemberg ein umfassendes Papier vorgelegt worden, an dem man dieses Bestreben ablesen kann. Exemplarisch möchte ich kurz auf einige Stellen dieses Papieres eingehen. Dort heißt es: »Der Bildungsplan 2004 enthält die Vorgaben, welche grundlegenden und unverzichtbaren Haltungen, Werte, Kompetenzen und Wissensinhalte die Schule der heranwachsenden Generation vermitteln soll. Die Schule leistet damit ihren Beitrag zur Aneignung kultureller und wissenschaftlicher Traditionen, zur Vermittlung von religiösen Kompetenzen, Sitten und Gebräuchen, zu lebenslangem und nachhaltigem Lernen, praktischer Lebensbewältigung in Alltag und Beruf sowie zur aktiven Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Dies geschieht auch im Blick auf das Zusammenleben in unserer Gesellschaft und in Europa und im Blick auf eine zukünftige Weltgesellschaft. Schule ist heute schon Ort für die Integration von Schülerinnen und Schülern aus anderen Kulturkreisen. Kinder und Jugendliche können hier Werte kennen und anerkennen lernen; gleichzeitig sollen sie befähigt werden, Werte zu reflektieren und zu diskutieren und bei Wertkonflikten eigenverantwortete Haltungen zu entwickeln.« 1

Die Richtung der hier formulierten Vorgaben ist eindeutig: Schule soll die Grundlagen schaffen, die die Menschen befähigt, sich in der bestehenden Gesellschaft orientieren und gleichzeitig an der Gestaltung der »zukünftigen Weltgesellschaft« mitwirken zu können. Dabei wird innerhalb dieses Bildungsplans zwischen drei Bildungsbegriffen differenziert, die alle der Schule aufgetragen sind: • Die persönliche Bildung, deren Voraussetzungen von der jeweiligen Kultur mitgegeben sind, die den Menschen befähigt, Vorstellungen von sich zu entwickeln, Hoffnungen zu formulieren und Sinn zu finden. 1 | Vgl. unter: http://www.bildung-staerkt-menschen.de/schule_2004/fragen_ zum_bildungsplan/index.html#ziele, zuletzt aufgerufen am 06.02.2012.

1. Z WISCHEN B ILDUNG UND BUILDING

• Die praktische Bildung, die dem Menschen ermöglicht, sich »in der von seinesgleichen ausgefüllten Welt zu orientieren und in der arbeitsteiligen Gesellschaft zu überleben«. • Die politische Bildung, die auch als standortsichernde »human resource« bezeichnet wird, die »der Gemeinschaft erlaubt, gesittet und friedlich und mit einem Anspruch auf Glück zu bestehen«2 . Wird an diesen Stellen deutlich, wie hier versucht wird, die Schule aus der Funktion der bloßen Wissensvermittlung herauszulösen und sie als Schnittstelle zwischen Mensch und (Welt-)Gesellschaft zu verstehen, so ist doch kritisch anzumerken, dass über das Postulat einer Bildung – die zwar auszudifferenzieren versucht wird, aber sich innerhalb der Differenzen nicht konkretisiert – der Staat innerhalb eines semantischen Feldes zu operieren beginnt, in dem er doch nur sehr begrenzt Aussagen treffen kann: Wann ein Anspruch auf Glück gewährleistet ist, vermögen der Staat und seine Institutionen nicht zu entscheiden – ebenso wenig können sie formulieren, was »unverzichtbare Haltungen« sind. Dass der Bildungsplan sich hier dennoch dieses Vokabulars bedient, kann – und das wird noch zu befragen sein – damit zusammenhängen, dass das Bildungssystem in Schwierigkeiten gerät, wenn es den Sinn in sich selbst zu suchen beginnt. Im Bildungsplan wird weiter formuliert, in welchem Zeitraum und mit welchen didaktischen Methoden diese Ziele erreicht werden sollen. So plant der Bildungsplan damit nicht nur den unmittelbaren Bildungsprozess innerhalb eines vorgegebenen Sozialen, sondern er greift für seine Ziele in die soziale Ordnung regulierend ein: Der Mensch, der gebildet werden soll, soll sich auch in für diesen Prozess als erforderlich evaluierten Umständen vorfinden. Das Gelingen des Bildungsplans misst sich an seinen Produkten, die der so gebildete Mensch sein wird, und an der »friedlichen Weltgesellschaft«, die Effekt dieser Bildung ist. Schließlich soll der ausgebildete Mensch sich als Subjekt des Bildungsprozesses begreifen.3 2 | Vgl. unter: Einführung in den Bildungsplan 2004. Prof. Dr. Hartmut von Hentig im Auftrag des Bildungsrates Baden-Württemberg, S. 9ff., abzurufen unter: http:// www.bildung-staerkt-menschen.de/schule_2004/bildungsplan_kurz, zuletzt aufgerufen am 06.02.2012. 3 | Ebd., S. 1.

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Wir sehen hier, wie der Begriff des Bildungsplans und der der Ausbildung zusammenhängen. Ausbildung sehen wir hier bereits in einer Doppelbewegung stehen: Etwas wird aus-gebildet (herausgebildet); gleichzeitig wird vor dem Hintergrund einer als möglich angenommenen Zukunft der Mensch für diese befähigt, spezialisiert. Die Voraussetzungen für diese Formulierungen im Bildungsplan sind sowohl ein Bild von der Gesellschaft (im Sinne einer Benennung des Status quo und einer Vision) als auch ein Bild vom Menschen in dieser Gesellschaft. Bildung und Bild zeigen sich hier in einer Verbindung, die Wirklichkeit zu beschreiben und gleichzeitig zu kreieren beansprucht. Haben wir diese Bewegung nicht schon einmal bemerkt? Die Keunergeschichte, auf die ich in Teil A dieser Untersuchung bereits verwiesen habe, in der Herr Keuner sich einen Entwurf vom Menschen macht, zeigt, wie ein Mensch dem von ihm angefertigten Entwurf ähnlich werden soll: »›Was tun Sie‹, wurde Herr K. gefragt, ›wenn Sie einen Menschen lieben?‹ ›Ich mache einen Entwurf von ihm‹, sagte Herr K., ›und sorge, daß er ihm ähnlich wird.‹ ›Wer? Der Entwurf?‹ ›Nein‹, sagte Herr K., ›der Mensch.‹« 4

Betrachten wir diese Geschichte vor dem Hintergrund der Doppelbewegung der Ausbildung einmal genauer: Herr Keuner macht sich einen Entwurf vom Menschen. Die erste »Bildung« erfolgt also als eine In-BildSetzung, eine Übersetzung des Menschen in das Medium des Bildes, das Herr Keuner als Entwurf im Sinne einer Skizze anfertigt. Diese ist Entwurf, weil sie nicht Abbild des vor ihm stehenden Menschen, sondern Interpretation von ihm ist: Ein Hervorholen von dem, was Herr Keuner als Potential im Gegenüber zu erkennen glaubt. Herr Keuner erkennt eine Eigenschaft des Menschen, interpretiert diese, bringt diese Interpretation in eine Skizze. Das Erstaunliche ist, dass nun der Mensch dem Entwurf ähnlich werden soll, dergestalt, dass der Mensch im Sinne des Entwurfes von Keuner umgebildet wird. Nicht der Entwurf soll korrigiert werden, sondern der Mensch der Skizze angepasst. Das Fragmentarische des Entwurfes taucht hier in dem Sinne auf, dass der Entwurf eben nur einen Teil dieses Menschen interpretativ fasst. Je mehr der Mensch dem Entwurf 4 | Bertolt Brecht: Werke. Geschichten vom Herrn Keuner, S. 24, sowie Buchteil A, Kap. 5.1 Entwurf und Plan, S. 181ff.

1. Z WISCHEN B ILDUNG UND BUILDING

ähnlich wird, desto mehr verschwindet der Fragmentcharakter des Entwurfes. Der gestaltete Mensch legitimiert den Entwurf, der zuvor bestenfalls von der analytischen und künstlerischen Kompetenz seines Zeichners Zeugnis abgelegt hat. Der Entwurf ist also nur vorläufig für den Zeitraum des Bildungsprozesses. Die gebildete Identität des Menschen hat zur Konsequenz, dass der Entwurf ähnliches Bild wird. Die Weiterbildung des Entwurfes zum Bild ergibt sich aus der Weiterbildung des Menschen im Sinne des Bildes. Die Übersetzung, die Herr Keuner vorgenommen hat, verliert somit ihre Offenheit als Übersetzung, weil sie danach strebt, nicht mehr eine mögliche Übersetzung, sondern Empirie zu sein. Sie strebt nach Eindeutigkeit der Bedeutung. Sehen wir uns vor diesem Hintergrund genauer den Hausbau an, den Heidegger das Dasein in der Innerweltlichkeit vollziehen lässt. Das schutzbedürftige Dasein errichtet sich ein Haus.5 Fragen wir uns, wie es sich hier mit der Ausbildung verhält: Das Haus, das sich das Dasein baut, wird gebildet mit Hilfe des Hammers, der seine Bewandtnis durch das Hämmern anzeigt und damit das Dasein zuvor affiziert hat. Das Haus ist also aus einer »Bewandtnisganzheit« heraus-gebildet, die das Dasein bereits zuvor entdeckt hat und auf die nun der Hammer noch einmal verweist; Heidegger: »Bewandtnis selbst als das Sein des Zuhandenen ist je nur entdeckt auf dem Grunde der Vorentdecktheit einer Bewandtnisganzheit. In entdeckter Bewandtnis, das heißt im begegnenden Zuhandenen, liegt demnach vorentdeckt, was wir die Weltmäßigkeit des Zuhandenen nannten.« 6

Die Ausbildung des Daseins besteht nun darin, befähigt zu sein, sich diese Bewandtnisganzheit immer erschließen zu können und die »Dienlichkeit« des Hammers im Anwenden als sinnvoll zu erfahren. Wenn sich das Haus aus der Zeugverfassung als konkretes Haus herausbildet, so ist dies Zeichen für einen Bildungs-(building-)prozess, in dem es dem Dasein gelungen ist, auf sinnvolle Weise mit dem »Zeug« der Innerweltlichkeit umzugehen. Das Haus ist Dokument dafür, dass das Dasein auf bestimmte, zielführende Weise vermochte, die Dinge zu arrangieren und das »Zeug« somit »bewohnbar« zu machen. Wir können nicht entscheiden, ob zuerst 5 | Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 83ff. 6 | Ebd., S. 85.

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das Hämmern des Hammers ertönt, das das Dasein zur Planung führt, oder zuerst der Bauplan des Daseins existiert, mit Hilfe des Hammers ein Haus zu bauen, und das Dasein aufgrund seines Plans auf das Hämmern erst aufmerksam wird. Selbst wenn zuerst das Hämmern das Dasein affiziert und somit die Frage nach der Wohnung des Daseins akut werden lässt, finden wir das Dasein in demselben Haus vor, weil Heidegger unterstellt, dass dies auf die Bewandtnisganzheit der Innerweltlichkeit verweist. Am Schluss dieses Prozesses steht eine Identität, die sich in der Bewandtnisganzheit bestätigt, die sie zuvor außerhalb von sich verortet, dann aber durch die Struktur des Daseins erschlossen haben will. Heidegger: »Mit der Erschlossenheit von Welt ist je schon innerweltlich Seiendes entdeckt. […] Das Verstehen der Bedeutsamkeit als Erschlossenheit der jeweiligen Welt gründet wiederum im Verstehen des Worumwillen, darauf alles Entdecken der Bewandtnisganzheit zurückgeht. Das Umwillen des Unterkommens, des Unterhalts, des Fortkommens sind nächste und ständige Möglichkeiten des Daseins, auf die sich dieses Seiende, dem es um sein Sein geht, je schon entworfen hat.«7

Das Heidegger’sche Haus ist somit ein Bildungsprozess, in dem das Dasein zwar mit seiner Umwelt interagiert, aber dabei doch auf sich beschränkt bleibt. Es muss davon ausgehen, dass das, was in der Innerweltlichkeit erscheint, schon in irgendeiner Weise eine Antwort für das Dasein bergen muss, einen Sinn, der der eigenen Ordnung dient. Die Notwendigkeit, in der Innerweltlichkeit einen Sinn für das Eigene zu erkennen, das Zeugs »um-willen« des Daseins zu begreifen, wird von Heidegger nicht hinterfragt, denn: »Dasein ist Seiendes, dem es als In-der-Welt-Sein um sich selbst geht.«8 Es handelt sich somit um einen Aus-Bildungsprozess im Sinne einer Herausbildung der Bewandtnis durch die Innerweltlichkeit und um eine Ausbildung der Fertigkeiten des Daseins. In Bezug auf das Dasein und dessen Selbst-Verständnis und Verhältnis zur Welt handelt es sich um eine Tautologie. Der »Entwurf« Keuners und das »Haus« Heideggers folgen derselben Ordnung, die denselben Bildungsbegriff zugrunde legt. Heidegger lässt sich im Dialog mit Keuner zwar erweitern um einen Anderen, der etwa durch sein Verstehen zur Lehre bereits befähigt ist, und 7 | Ebd., S. 297 (Auslassung durch Verf.). 8 | Ebd., S. 143.

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Keuners Verständnis des Entwurfes lässt sich erweitern um die Zuhandenheit der Wirklichkeit, die auch dem Zeichner des Entwurfes vorgeschaltet ist. Doch dies zeigt sich nur als eine Verschiebung im Akzent. Es ergibt sich für Heidegger und Keuner ein Dreieck von zuhandener Welt, dem Menschen, der bereits zur Erkenntnis befähigt ist, und dem, der dies alles noch verstehen wird, – dem Auszubildenden: Das Subjekt, das befähigt werden soll, ein Haus zu bauen, ist zuvor Objekt dessen, der durch den Bildungsplan die Fähigkeiten dazu ausgelotet hat und gleichzeitig den Bildungsplan als Antwort auf die Fragen des Daseins begreift. Ist dies die einzige Möglichkeit, Bildung zu denken? In einer SubjektObjekt-Relation, in der das Subjekt sich dadurch bestätigt, dass es ein Objekt in angemessener Weise verstehen, herausbilden oder umbilden kann? Wir erkennen hier die Bewegung des Bildungsplanes wieder, wie er von den politischen Fraktionen formuliert wird; auch dort geht es darum, einen Teil des Menschen zu bilden, auch hier vermag der Erfolg der Ausbildung die Diagnose des Planes als »zutreffend« zu qualifizieren. Noch mal: Entwürfe sind im Zusammenhang mit diesen Plänen nur deswegen Entwürfe, weil die Empirie noch nicht hergestellt ist, die ihnen ihre Vorläufigkeit nimmt. In Bezug auf das, was ihnen als Ziel voranging, haben sie zumindest für ihre Zeichner keine Offenheit mehr. Es wird deutlich: Dieser Entwurf, der von Anfang an dem Plan – der erkannten Bewandtnis, der Relevanz für das Eigene – entspringt, ist nicht der Entwurf, von dem wir gesprochen haben; es ist nicht der Entwurf, der sich im Einfall des Anderen begründet. Denn hier findet keine Irritation des Planes statt, weil mit der gelungenen Ausbildung ja gerade die Legitimation des Planes als Wahrheit des Sozialen erfolgt. Die Ordnung der Ausbildung, die die Bildungsinstitutionen mit ihren Plänen stützen und aktualisieren, erkennen wir so an ihrem Bestreben nach Identität zwischen Welt und Erkenntnisfähigkeit des Subjektes. Ihr Selbstverständnis ist die Verringerung der Differenz, die Verringerung von Irritation und somit die Integration in bestehende und für die Zukunft entworfene Verhältnisse und zugleich deren Realisation und Legitimation. Am Bildungsplan haben wir gesehen, dass der Ausdifferenzierung des Bildungsbegriffes ein Bestreben nach Einheit vorangeht. Nur vor diesem Hintergrund kann die »mit seinesgleichen ausgefüllte Welt« erscheinen und in die Zukunft projiziert werden, in der der Mensch sich orientieren soll.

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Machen wir uns zunächst noch einmal genau klar, was »Bildung von etwas« bzw. »Bildung durch etwas« implizieren kann, und versuchen damit, dem Begriff seine Dynamik zurückzugeben, die in ihm liegt.

1.2 BILDEN Bildung von etwas bedeutet: Entstehen durch eine Verbindung. Etwas bildet sich durch etwas anderes zu etwas Neuem heraus. Im Dialog mit Jahrestage ist uns das »Bilden« in mehrfacher Bedeutung aufgefallen,9 von dem die Frage ist, wie es sich in Überlegungen zum Bildungsprozess damit verhält: Das »Bilden« fiel uns in Jahrestage auf, weil dort »aus dem Leben von Gesine Cresspahl« erzählt werden soll. Dort haben wir festgestellt: Aus dem Leben bedeutet aus dem Leben heraus – in diesem Leben stehend, gleichzeitig: Ausschnitt, als Teil des Lebens. Dies finden wir hier wieder: Etwas wird aus dem Menschen herausgebildet, was Ausschnitt seiner Person ist, ihm als erkanntes und zuerkennendes Potential mitgegeben worden ist; aus dem Menschen wird etwas gebildet, das sein τέλος in der Erfüllung des Entwurfes als Bild findet, das der Ausbildung des Menschen vorläufig ist. Und: In der Innerweltlichkeit stehend bildet sich die Zuhandenheit in der Verweisung auf das Dasein heraus. Doch in Jahrestage haben wir auch noch eine andere Bewegung der Bildung bemerkt: Etwas bildet mit etwas anderem eine Verbindung, und in dieser Bildung erscheint Sinn. Jahrestage (als Gedenktage) haben einen Sinn, weil sie aus Geschichten von Menschen gebildet sind; ohne diese Geschichten wären sie ihres Sinnes entleert. Jahrestage bestehen aus und durch das Leben auch Gesine Cresspahls, die ihnen Sinn verleiht, obwohl niemand sie zu speziell dieser Sinngebung befähigt hat.10 Dass das Leben Gesine 9 | Vgl. auch Kap. A 1.3 Vielstimmigkeit, S. 46ff. 10 | Bei der Frage, ob etwas »aus« oder »durch« etwas besteht, verschiebt sich die Bedeutung des Bestehens. Wenn etwas aus etwas besteht, so ist das Eine Bestandteil des Anderen. Wenn etwas durch etwas besteht, so ist das Andere mehr als nur Bestandteil des Ersten, das durch Wegfall des Anderen seine Identität als dieses auf einer materiellen Ebene einbüßen würde. Das Bestehen bezieht sich hier auf den Sinn einer Zukunft, eines »Bestehen-Könnens« im Sinne eines »Sinnvoll-Sein-Könnens«, »als-Dieses-Sich-Behaupten-Könnens«. Luhmann kriti-

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Cresspahls auch den Jahrestagen Sinn verleiht, ist damit notwendig und zufällig zugleich. Zwar bilden die Jahrestage eine Ordnung des Außen, vor der der konkrete Mensch sich bewegt; kommt es aber zwischen ihnen und der Existenz zu keiner Berührung, so verlieren sie ihren Status innerhalb der Ordnung, den sie nur durch diese Bildung behaupten können; gleichgültig, ob die Berührung mit der Existenz den Status quo der Bedeutsamkeit eines Jahrestages bestätigt oder diese gerade zu unterlaufen beginnt. Wir haben hier einen gebildeten Sinn aufscheinen sehen, dessen Erscheinen in Bezug zu einem konkreten Subjekt der Zufälligkeit der konkreten Begegnung geschuldet ist. Dass er erscheint, wenn es zu dieser Begegnung kommt, ist notwendig, wenn der Jahrestag seinen Sinn in der Lebenswelt behaupten will. Wenn wir davon ausgehen, dass der Sinn sich in diesem Prozess zeigen muss, und damit die Bildung selbst sinnvoll zu werden beginnt, so haben wir es hier mit einem Sinn zu tun, der außerhalb der Ordnung der Ausbildung liegen muss. Es ist ein Sinn, der außerhalb eines jeden Plans liegen muss, weil sonst nichts herausgebildet wird, was den Sinn in diesem Prozess begründet, sondern was zuvor bereits Teil des Planes ist. Dies gilt auch dann, wenn man etwas durch eine Verbindung herausbilden will, weil man zuvor abgesichert hat, dass diese Verbindung zum gewünschten Ergebnis führt. Der Sinn ist auch hier bereits vorgebildet und braucht das Eintreten in die Verbindung nur als Bestätigung. Damit liegt aber eben in dieser Verbindung der hier gemeinte Sinn des Bildens nicht mehr, sondern zählt zu der definitorischen Macht eines Subjektes, das sich bereits außerhalb des Prozesses gestellt hat. In Bezug auf die Bildungsinstitutionen würde das bedeuten, dass sie bereit sein müssten, einem Prozess Raum zu gewähren, der kein erklärtes Ziel hat und nach keinem Abschluss strebt. Aufgabe der Bildungsinstitutionen wäre es dann, zunächst zu erkennen, dass dieser Sinn gar nicht in ihrem Verfügungsbereich stehen kann, dass sie dennoch genau diesen Sinn bejahen müssen, wenn sie auch Bildung im Sinne der Institutionen ermöglichen wollen. Die Bildungsinstitutionen müssen ihren Bildungssiert die soziologische Behauptung, eine Gesellschaft würde aus Menschen bestehen. Ich würde diese Position so verteidigen: Eine Gesellschaft besteht aus Menschen, weil sie nur durch sie bestehen kann. Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 92.

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begriff somit um die Dynamik erweitern, die im Begriff der Bildung als Modus der Bewegung bereits angelegt ist, was Konsequenzen für ihr Selbstverständnis als Institution impliziert. Dafür müssen wir überlegen, wo innerhalb der sozialen Ordnung diese Bildung sich zeigt, die Bildungsphilosophie als ihren Auftrag verstehen kann, ohne dass sie den Prozess des Bildens determiniert und ihren Sinn suspendiert. Wenn wir voraussetzen, dass Bildung sowohl im prozessualen als auch im institutionell-sozialen Sinne eine performative Kraft hat, so können wir fragen, ob in dieser Performanz die Möglichkeit begründet ist, die Ordnung nicht zu affirmieren, sondern auch so unterlaufen zu können, dass ein Sinn erscheinen kann, der nicht vor-gesehen ist, sondern erst in der Performanz selbst zu erscheinen beginnt. Dies setzt eine Erweiterung des Bildungsbegriffes um seine spezifische Dynamik voraus – und nähert sich einer Performanz, die nicht auf Identität abzielen kann, auch dort nicht, wo sie das Performative als Phänomen der Identität befragt. Im Folgenden möchte ich nun diesen Aspekt des Performativen von Bildung bzw. des Sich-Bildenden in der Performanz der Subjektivität näher betrachten.

2. Zwischen Entzug und Identität Det mista dialektisch sehn, wa? Na, denn sei froh. (Jahrestage, S. 1642)

2.1 P ERFORMANZ Ich habe bereits von der Performanz der Bildung gesprochen, dergestalt, dass die Bildungsinstitutionen, in der sozialen Wirklichkeit agierend, diese aktualisieren und so hervorbringen. So verstanden zielt die Performanz der Bildung auf ihre Theatralität und die Fähigkeit zur Übersetzung zugleich. Theatralität bedeutet hier nicht genuin ästhetisches Handwerk, sondern bezeichnet den Modus, in dem sie erscheint und durch den sie anderes zur Erscheinung bringt: In und durch Bildung inszeniert sich das Gesellschaftliche. Wenn diese Theatralität zur Übersetzung befähigen soll und dem Sozialen gegenüber nicht bloß affirmativ ist, so muss entweder in ihr selbst eine Offenheit liegen, oder es muss sich gerade in dieser Performanz etwas zeigen, was diese Theatralität noch einmal zu suspendieren vermag, so dass sich etwas zeigt, was über das Performative hinauszudrängen beginnt. Sehen wir uns performative Akte des Bildens an: Im Dialog mit Jahrestage ist uns aufgefallen, wie Gesine ihren Vorgesetzten de Rosny aus dem Halbschlaf zurückruft, indem sie ihn mit seinem Titel anspricht. De Rosny, der im Halbschlaf das Dienstverhältnis zu Gesine vergessen zu haben scheint und sie vertraulich bei ihrem Vornamen nennt, erwacht, als Gesine ihn mit ihrer Erwiderung in die Ordnung der Bank zurückruft. Sie beglaubigt seine Position durch Anrufung des Titels und bewirkt so, dass die Vertraulichkeit ihres Vorgesetzten als eine Irritation erscheint.

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Gleichzeitig bewirkt sie aber auch, dass die Ordnung sichtbar wird: Denn de Rosny kehrt sofort in die »Wachheit« zurück, in der diese Anrufung etwas bedeutet, er wird wieder das Subjekt der Macht, die hinter ihm als Bankdirektor steht und die er zugleich repräsentiert. Gesine erkennt mit ihrer Anrufung diese Macht an (JT, S. 419f.).1 Wir kennen diese Situationen aus dem Alltag, wo die Anrede, die Benennung des Anderen als dieses Subjekt, die Identität der Gesprächspartner und die Möglichkeiten des Gespräches strukturieren: Die Anrede von jemandem als Arzt durch die Nennung des Doktorgrades (auch wenn er im akademischen Sinne gar nicht erworben worden ist), wie es oft im Dialog mit Ärzten praktiziert wird, stellt seine Autorität und sein Expertentum heraus und ermöglicht somit einen Dialog in der hierarchischen Struktur einer Arzt-Patienten-Beziehung. Dieser Zusammenhang von Performanz und Struktur ist im Hinblick auf die Subjektivation von Judith Butler (in Auseinandersetzung mit der Theorie Louis Althussers) herausgearbeitet worden. Butler hat darauf hingewiesen, dass der Subjektivation Akte vorangehen, die durch Macht gestützt sind. Die Macht drängt in diesen Akten zur Sprache und zeigt ihre Verbindlichkeit im Gelingen des Aktes an. Die Sprechakte, mit denen das Subjekt gebildet wird, sind somit primär Akte, die zwischen Selbstbehauptung und Unterwerfung oszillieren. Macht und Subjekt beginnen sich zu durchdringen. Butler: »Die Macht handelt in Bezug auf das Subjekt, und diese Handlung ist eine Inszenierung des Subjektes; eine unauflösbare Zweideutigkeit entsteht, wenn man zu unterscheiden sucht zwischen der Macht, die (transitiv) das Subjekt inszeniert, es handelnd hervorbringt, und der vom Subjekt selbst inszenierten, handelnd hervorgebrachten Macht, d.h. zwischen der Macht, die das Subjekt formt, und der ›eigenen‹ Macht des Subjekts.« 2

Will Butler mit dieser Analyse der Subjektivität dekonstruktivistisch auf das Wie dieser Akte verweisen, so ist doch kritisch zu fragen, ob dadurch nicht selbst ein Akt vollzogen wird, der die Begegnung dem Primat der Macht erneut unterwirft. Konkret: Wenn ich die Begegnung begreifen will als etwas, das durch die Akte der Subjektivation in die Strukturen der Macht (die 1 | Vgl. auch Buchteil A, Kap. 3.4 Tropfenfall: der 8. Dezember 1967, S. 119ff. 2 | Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 19.

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bei Butler in diesen Akten mit der Möglichkeit der Herrschaft zusammenfällt) übersetzt wird und dort sich realisiert (also im Sinne der Macht gebildet wird), so stellt sich diese Wirklichkeit mit her, wenn sie theoretisch immer wieder als die Wirklichkeit des Handelns, als die Erscheinung der Subjektivität bezeugt wird. Die Prämisse, dass durch Sprechakte gehandelt wird, kann doch nicht bedeuten, dass die Sprechakte der Wissenschaft an diesem Handeln unbeteiligt sind, als würde ihre Übersicht freischwebend sein. So wird die Wirklichkeit als der Dualismus festgeschrieben, dem es sich kritisch anzunähern gilt. Dies meint nicht, dass diese Vorstellung von Performanz soziologisch nicht zunächst weiterführend ist, weil sie den Inszenierungscharakter des Sozialen zeigt, der sonst verborgen bleibt. Bildung lässt sich hier aber zunächst nur als der Wechsel der Bilder denken, vor denen das Subjekt als So-Gebildetes erscheinen kann. Begegnung ist hier nur denkbar als Erfüllung der Performativität in diesen Bildern. So bleibt der Andere entweder der Unterwerfer, dessen sprachliche Akte als wirklichkeitsbestimmende wiederholt werden, oder der Unterworfene, der sprachlos bleibt.3 Wenn auch das Subjekt in dieser Vorstellung von Performanz nichts Festes ist, sondern erst als durch Performativität generiert erscheint, so ist doch die Bedeutung des Aktes als Wirklichkeit des Sozialen vorgegeben und das Lesen des Aktes führt zu dieser Bedeutung als vorgeschaltetem Sinn zurück. Mit dieser Bedeutung fällt das Subjekt zusammen und wird auch theoretisch zu dem Was, das von ihm gesagt wird. Das Wie des Zeigens und das Was der Bedeutsamkeit werden im Subjekt versöhnt. In kritischer Auseinandersetzung mit Althusser spricht Butler von der Schuld, die im Akt der Subjektivation liegt; Butler: »Ein ›Subjekt‹ werden heißt somit, für schuldig gehalten, vor Gericht gestellt und für unschuldig erklärt worden zu sein. Da dieser Spruch nun kein Einzelakt ist, sondern unaufhörlich reproduzierter Status, heißt ›Subjekt‹ werden, permanent damit beschäftigt zu sein, sich eines Schuldvorwurfs zu entledigen.« 4 3 | Mit Spivak habe ich bereits die Frage aufgeworfen, ob das Sprechen vom unterworfenen Anderen seinen Status reproduziert. Vgl. dazu Buchteil A, Kap. 4.2 Verwaltete Sprache: der 11. August 1968, S. 148ff. 4 | Judith Butler: Psyche der Macht, S. 112. An solchen Stellen sind sich Heidegger und Butler ähnlich, indem der Andere das Dasein in einen Zusammenhang der Schuld (was bei Heidegger die »Uneigentlichkeit« bezeichnet) wirft, wenn auch Butler, wie wir gesehen haben, über eine Analyse der Sprechakte zum Tod

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Doch dieser Schuldbegriff betrifft hier nicht die Bildung des begrifflichen Apparates, der die eigene Wahrnehmung vorstrukturiert. Die Performanz als bezeugte Bewegung des Faktischen fällt mit der Methode zusammen, die sie hervorzuholen sucht – und der auch deswegen ein Ausbruch aus Identität nicht gelingt. Stellen wir diese Kritik einen Moment zurück und erinnern uns daran, dass uns im Dialog mit Jahrestage nicht nur die Macht der Anrufung, sondern auch die »Macht des Blickes« aufgefallen ist – in der Stadt New York, die sich weltoffen zu geben bemüht ist und in der man doch »die Fremden mit Vorsicht« (JT, S. 53) betrachtet und somit Ausgrenzung praktiziert. Wir haben vom fest-stellenden Ton Maries erfahren, wo sie über »Vanishing Americans« (JT, S.  551)5 spricht und in diesem Sprechen nicht nur ihre Blick, sondern ihre Formung durch die Gesellschaft reproduziert. Auch der Soziologe Dmitri Weiszand, ein Überlebender des Holocausts, kann in Gesine nur »die Deutsche« und »die deutsche Geschichte« erkennen und vermag es nicht, sie auf einer anderen Ebene anzusprechen. Er ruft sie so in die Bedeutung der Geschichte, in die »kollektive Schuld«. Gesine kann im Dialog mit ihm nicht anders als vor diesem Hintergrund sprechen (JT, S. 145). Dem performativen Sprechakt gehen also die Blicke voran, die das Subjekt bereits als dieses erkannt haben, als das es sie sprachlich bezeichnen. Gewiss: Die Ordnung, in der dieser Blick diese Macht haben kann, in der er bedeutet, existiert bereits und bietet Möglichkeiten an. Der Blick hat die Kulisse schon erfasst und ausgestaltet, vor der er nun das Subjekt stellt. Er begründet so das Drama, bevor es beginnt.6 Nicht umsonst reden wir ein anderes Verhältnis als Heidegger gewinnt. Damit wird es ihr möglich, diese Schuldzusammenhänge nicht nur auf der strukturellen Ebene des Daseins, sondern auch in soziologischer Perspektive kritisch zu betrachten. Bei Butler geht die Verantwortung über die Sorge hinaus, die bei Heidegger immer zuerst die Sorge des Daseins um sich ist. Siehe zu diesem Aspekt auch meine Auseinandersetzung mit Butler Buchteil A, Kap. 4.6.2 Gegenentwurf, S. 178ff. 5 | Vgl. auch Buchteil A, Kap. 2.5.2 Begegnung, S. 88ff. 6 | Nimmt man das ernst, so muss man auch in der Ästhetik δραματουργε ὶν nicht nur mit dem Verfassen bzw. Ansehen des Dramas übersetzen, sondern auch mit dem Verfassen des Dramas durch den Blick des Zuschauers, was in postmodernen ästhetischen Diskussionen bereits geschieht und in der Performanceart künstlerisch umgesetzt wird.

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von »tödlichen Blicken«, »abwertenden Blicken«, Blicken, die »ausziehen« können und Blicken, die »vielsagend« sind. An-Sehen stellt sich in der Verbindung von Erblickt-Werden und An-Ruf her. Zu An-Sichten vom Anderen gelangen wir vor dem Hintergrund einer An-Sicht der Wirklichkeit, eines Welt-Bildes, in dem der Andere als Teil dieses Bildes erscheint. Die AnSicht wird so zu der Realität, in der die Begegnung geschieht. Sehen muss damit genauso wie Sprechen als performative Praxis beschrieben werden.Eva Schürmann formuliert: »Sehen erschöpft sich so wenig im konstatierenden Sehen-dass wie Sprechen im propositionalen Aussagen. […] Wenn Sehen aber die Welt genauso wenig abbildet wie Sprechen, dann, weil es wie jenes eine Praxis ist, deren performative Vollzugsform Wirklichkeit paradoxerweise vorfindet, indem sie sie konstituiert.«7

Der Blick, der trifft, bewirkt auch, dass das Subjekt nun sich selbst zu betrachten beginnt. Es versteht, dass er in einer »erblickten Welt erblickt [wird]«8, wie Jean-Paul Sartre es formuliert. Es versteht, dass es Objekt der Blicke der Anderen ist. Dieses Angeblickt-Werden macht die eigene Subjektivität bewusst, dergestalt, dass sie durch den Blick in einer Subjekt-Objekt-Relation zu changieren beginnt; Sartre: »Wenn der Objekt-Andere in Verbindung mit der Welt als der Gegenstand definiert ist, der das sieht, was ich sehe, muss meine fundamentale Verbindung mit dem Subjekt-Andern auf meine permanente Möglichkeit zurückgeführt werden können, durch Andere gesehen zu werden. Das heißt, in der Enthüllung meines Objekt-seins für den Andern und durch sie muß ich die Anwesenheit seines Subjekt-seins erfassen können. Denn ebenso wie der Andere für mich-als-Subjekt ein wahrscheinliches Objekt ist, kann ich mich nur für ein gewisses Subjekt als wahrscheinliches Objekt werdend entdecken.« 9

7 | Eva Schürmann: Sehen als Praxis, S. 17 (Auslassung durch Verf., Hervorhebung im Original). 8 | Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Rowohlt: Reinbeck bei Hamburg 1995, S. 485. 9 | Ebd., S. 463f. (Hervorhebung im Original).

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Die Vergewisserung der eigenen Subjektivität liegt also in der Möglichkeit ihres Umschlages in den Objekt-Status durch den Blick des Anderen, weil das Subjekt die Handlung des Sehens an sich selbst zu spüren beginnt. Der Blick des Anderen kann Angst oder Scham erzeugen, durch die sich das Subjekt selbst zu erkennen beginnt. Das Subjekt kann sich als dieses selbst nur durch den Blick des Anderen begreifen.10 Der Blick bestimmt, was es in dieser Situation und damit die Situation für es bedeutet.11 Mit dieser Analyse gelingt es Sartre zwar, die Bildung der Subjektivität als situativ und vom Anderen gegeben her zu bestimmen; doch Schürmann ist zuzustimmen, wenn sie kritisiert, dass »der Mechanismus wechselseitiger Vergegenwärtigung […] ein binäres Entweder-Oder [ist], das kein Drittes zu denken erlaubt.«12 Denn: Die Alterität ist bereits integraler Teil des Selbst, weil sowohl das Selbst als auch der Andere ihre Positionen tauschen können (und so die Position des Anderen verstehen) – so wie das Altgriechische αὐτός13 sowohl das Selbst bestätigt als auch außerhalb des Selbst die Wirklichkeit des Anderen, den Anderen zu benennen vermag: Mittels des Selbst, das in der erfahrenen Freiheit der αυτο-νομία seiner sich vergewissert, die Freiheit erlangt, über den Anderen zu sprechen, den Anderen zu erblicken, befähigt ist, den Anderen in die Rede vom Selbst so zu integrieren, die ihn als Anderen doch aufzulösen beginnt. Selbst-Bestimmung ist so die Bestimmung des Anderen als Auch-einSelbes, was bei Sartre bedeutet, sowohl Subjekt als auch Objekt sein zu 10 | Ebd., S. 473ff. 11 | Diese Bewegung ähnelt der im Gedankenexperiment Erwin Schrödingers, wo der Beobachter durch einen Blick in die Kiste die Wahrscheinlichkeitswellen zusammenbrechen lässt und dadurch eine Identität der Situation hergestellt wird (wobei die in der Kiste gefangene Katze davon wohl kaum Bewusstsein erlangen wird, schon gar nicht, wenn der Blick des Beobachters sie getötet hat). Die Ähnlichkeit zwischen diesen Vorgängen liegt hier in dem Zusammenbruch einer Wahrscheinlichkeit von Bedeutungen und einer sich dann herstellenden Eindeutigkeit. Vgl. zu diesem Gedankenexperiment z.B.: John Gribbin: Auf der Suche nach Schrödingers Katze. Quantenphysik und Wirklichkeit, München: Piper 1998. 12 | Eva Schürmann: Sehen als Praxis, S. 201 (Auslassung durch Verf.). 13 | αὐ τός bedeutet sowohl »ich selbst« als auch »er, sie, es selbst«. Die ÜberSetzung zum Anderen erfolgt in diesem Begriff, der auf der Ebene der αυτο-νομία zugleich die Freiheit des Subjektes zu sichern vermag.

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können. Die αυτο-νομία kennt somit keine Heteronomie, die nicht bereits im Selben versöhnt ist, und sei es durch die Möglichkeit ihrer Bedrohung. Damit vollzieht der Blick bei Sartre das, was bei Butler im Sprechakt zum Ausdruck kommt. Die Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen ist eine Beziehung auf der Ebene eines Tauschverhältnisses des Bedeutens, ist Bedeutungsökonomie: Eine Beziehung der Symmetrie und dadurch eine binäre Option. Die Differenz kann nur vor dem Hintergrund eines Ganzen erscheinen, das entweder schon bedeutet (bei Butler die Strukturen, die die Macht geschaffen hat) oder als Ganzes durch die Erfahrung zu Bedeuten beginnt (bei Sartre die Erfahrung des Blickes).14 Gibt es eine andere Möglichkeit, von Bildung durch den Anderen zu sprechen? Eine Bewegung, die die Ordnung der performativen Identität unterbricht?

2.2 U NTERBRECHUNG Im Blick-Feld der Begegnung möchte ich nun versuchen, eine Bewegung der Bildung zu verorten, die nicht in Identität aufgehen kann. Im Dialog mit Jahrestage sind wir auf das Geheimnis des Anderen gestoßen, das in der Ordnung der Welt niemals vollständig aufgedeckt werden kann, weil es anders bedeutet und bereits damit die Ordnung als Organisierte sichtbar werden lässt. Heinrich Cresspahl begegnet Arthur Semig und erkennt in ihm nicht die Identität, die ihm von Nazis zugeschrieben worden ist. Er hat »das Jüdische« in Semig nicht gesehen. Cresspahl ist blind für die Pseudomerkmale der Rassenideologie; deswegen übersieht er sie nicht bewusst, er sieht nicht von ihnen ab, was ja bedeuten würde, ihnen bloß keine Relevanz für den Einzelfall einzuräumen, er hat die gesellschaftliche An-Sicht nicht geteilt, die Semig bereits internalisiert hat und vor deren Hintergrund er

14 | Siehe zu diesem Aspekt auch Adornos Kritik am Identitätsprinzip in der Negativen Dialektik: »Würde der Dualismus von Subjekt und Objekt als Prinzip zugrunde gelegt, so wäre er, gleich dem Identitätsprinzip, dem er sich weigert, abermals total, monistisch; absolute Zweiheit wäre Einheit.« Vgl. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 176.

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sich nun selbst zu betrachten beginnt (JT, S. 71). Cresspahl ist von Semig jenseits der gesellschaftlichen Bilder und Blicke berührt.15 Hier, im Augen-Blick der Begegnung, scheint sich etwas zu ereignen, was das performative Spiel radikal irritiert. So radikal, dass es auch unser metawissenschaftliches Sprechen betreffen muss. Dies gilt es nun zu konkretisieren. Ich habe bereits in Teil A dieser Auseinandersetzungen einen Dialog zwischen Jahrestage und Lévinas geführt.16 Dort haben wir gesehen, dass durch das Antlitz des Anderen etwas in die Sphäre des Daseins gelangt, das sich nicht auf eine »Bewandtnisganzheit« zurückführen lässt. Wir sind dabei einer besonderen Spur auf der Spur gewesen. Spuren, die wir lesen, verweisen auf etwas und können doch auch auf etwas ganz anderes verweisen. In diesem Sinne funktionieren sie wie jedes Zeichen. Die Spur ist somit die Anwesenheit des Abwesenden, das in der Konstellation von Anund Abwesenheit präsent zu werden beginnt. Doch die Spur, die Gesine in Maries Lächeln erblickt, geht auch darin nicht auf: Mit dieser Spur vergrößert sich die Abwesenheit, weil Jakob – auf den Maries Lächeln für Gesine verweist – nicht präsent wird in einer Vollständigkeit des Bedeutens und weil Maries Lächeln auch zugleich mehr als die Bedeutung einer Verweisung für Gesine ist. Doch wieso ist das Antlitz Maries nicht die Spur, die auf Jakob verweist, der wir folgen können, durch die wir zu Jakob gelangen und von ihm aus wieder zu Marie, sondern etwas anderes: Anders als die Spur und auch anders als die Polysemie der Spur und doch eine Spur? Ist die Polysemie der Spur nicht schon Andersheit genug? Dass die Spur auf vielfältige Weise bedeuten kann, verhindert die schnelle Abgeschlossenheit eines Falls, dessen Bedeutung durch ihre Bedeutung erhellt oder bewiesen werden soll, verhindert aber auch das Ende des Gespräches (deswegen fiel uns in Jahrestage die spurlose Gesellschaft als leblose Gesellschaft auf)17, es verhindert die Ruhe des Gedächtnisses, dessen Organisation der Vergangenheit die Spuren des von ihm Verdrängten nicht verwischen kann, was wir in der spur (Spor, Stachel) als einfallendes »on the spur of the moment« in der Ordnung des Gedächtnisses bezeichneten.18

15 | Vgl. auch Buchteil A, Kap. 2.5.2 Begegnung, S. 88ff. 16 | Ebd. 17 | Vgl. auch Buchteil A, Kap. 3.2 Spurlosigkeit: der 7. September 1967, S. 107ff. 18 | Vgl. auch Buchteil A, Kap. 3.6 Spur/spur, S. 136ff.

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Doch: Wäre das Antlitz aufzulösen in die Logik der Spur, die gelesen werden kann, so erhielte es seine Bedeutung durch den Blick, der es trifft. Polysemie zeigte sich in der Kontroverse an – die sich zu der Polysemie noch hinzugesellt, wo Bedeutung von Zeichen umkämpft bleibt.19 Die Störung durch das Antlitz aber unterbricht diese Ordnung; nicht als Stimme in der kontroversen Diskussion über die Bedeutung einer Spur, sondern leise und doch in voller Radikalität. Lévinas fragt: »Aber die Verwirrung durch diese plötzliche Ankunft, geht sie auf im Lichte der neuen Ordnung, ohne daß etwas hervorträte? […] Wie konnte er sich nähern und mir ins Gesicht sehen, ohne sich zugleich zu einer Bedeutung zu versteinern, die ihr Profil aus dem Kontext gewinnt?« 20

Ich sehe jemanden: Der Andere erscheint. Doch mein Blick kann ihn nicht hervorbringen, kann ihn nicht bedeuten lassen. Sicher: Es gibt diese Macht des Blickes, es gibt das »Bedeuten-Können« der Spur, ihre Wendung ins Zeichen. Doch das, was sich vor meinen Augen abspielt, die Erscheinung, die das Gehirn meldet, das Erwachen des Bewusstseins, ist bereits schon ein Ver-Sehen. Seine An-Erkennung als dieser schon ein Blick, der ihn verkennt.21 Der erblickte Andere ist schon nicht mehr der Andere, sondern Der-vor-meinen-Augen, der durch meine Blicke zu bedeuten beginnt. Um den Anderen als Anderen sehen zu können, kommt der Blick zu spät. Die Spur des Antlitzes zeigt an, dass er bereits vorübergegangen ist. Deswegen ist die Macht des Spuren-Lesens begrenzt. Er ist vorübergegangen, aber uneinholbar für die Ordnung des Blickes, vor der sein Antlitz erscheint, denn das, »[…] was sich zurückgezogen hat,

19 | Man erkennt dies etwa bei gesellschaftlich aufgeladenen Symboldebatten, wie z.B. bei der Diskussion über die Bedeutung des Kopftuches, das inzwischen auch schon auf den Konflikt verweist, der sich an ihm entzündet. 20 | Emanuel Lévinas: Die Spur des Anderen, S. 242f. (Auslassung durch Verf.). 21 | In Auseinandersetzung mit Lévinas formuliert Thomas Bedorf: »Das bedeutet, daß jede Anerkennung den Anderen als Anderen notwendigerweise verkennt, weil sie ihn ›bloß‹ als diesen oder jenen Anderen in das Anerkennungsmedium integrieren kann.« Vgl. Thomas Bedorf: Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 145 (Hervorhebung im Original).

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wird nicht erinnert, kehrt nicht zur Gegenwart, und sei sie zeichenvermittelt zurück«22 . Den Anderen als Anderen denken bedeutet, zuzulassen, eine Bewegung hinzunehmen, die das System nicht braucht, damit sie bedeutet. Der Andere irritiert die Ordnung, weil er unabhängig von dieser Ordnung ist (unabhängig von der Ordnung, in der sich Sprechakte formen, die er irritieren könnte, wenn er sich ihnen verweigert, unabhängig von den Inszenierungen und Blick-Richtungen, in deren Machtspiel er einsteigen kann, um die Blicke, die ihn treffen, zu entmachten). Lévinas: »Der Andere kommt uns nicht nur aus dem Kontext entgegen, sondern unmittelbar, er bedeutet durch sich selbst. Seine kulturelle Bedeutung, die offenbart und sich offenbart, beides in gewisser Weise horizonthaft, die sich offenbart von der historischen Welt her, der sie angehört, und die gemäß der phänomenologischen Redeweise die Horizonte dieser Welt offenbart – diese weltliche Bedeutung wird gestört und umgestoßen […].« 23

Das Erscheinen des Anderen geschieht im Modus des Schon-immer-vorübergegangen-Seins, das Antlitz trägt die »Spur der Spur«24 , des Außer-ordentlichen, ohne dass es auf etablierte Ordnung verweist, und verhindert so die Assimilation ins Selbe, deren Teil sie niemals gewesen ist, wo »das Selbe und das Andere nicht in einer Erkenntnis, die sie umfasst, zusammentreten [können]«25 . Die Korrelation zwischen Unterwerfer und Unterworfenen, die wir bei Butler gesehen haben, die auch der Analyse der performativen Sprechakte vorangeht, die Korrelation zwischen Subjekt und Objekt, die bei Sartre durch den Blick zusammengehalten wird, ist hier bedeutungs-los. Die Be-

22 | Emanuel Lévinas: Die Spur des Anderen, S. 244. 23 | Ebd., S. 221 (Auslassung durch Verf., Hervorhebung im Original). 24 | Lévinas: »Die Spur als Spur führt nicht nur zur Vergangenheit, sondern ist das Übergehen selbst zu einer Vergangenheit, die entfernter ist als alle Vergangenheit und alle Zukunft, welche noch zu meiner Zeit gehören, zur Vergangenheit des Anderen […].« Vgl. ebd., S. 234 (Auslassung durch Verf., Hervorhebung im Original). 25 | Emanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München: Karl Alber 2008, S. 111 (Auslassung durch Verf.).

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gegnung zeigt sich im Geheimnis, aus dem sie kommt und in dem sie verbleibt.26 Hier findet also keine Bildung aufgrund einer Korrelation statt, sondern aus einer Schieflage heraus. Diese Spur ist »die Ungeradheit selbst«27, wie Lévinas formuliert. Wie ereignet sich dann Bildung hier?

2.3 A USSE T ZUNG War es nicht die Korrelation, die die Performanz zum Subjekt geführt hat, die ein Subjekt herausbilden ließ? Wenn der Andere ohne die Ordnung des Selben bedeutet, sich zwar in der Erscheinung herausbildet, mit der er aber nicht zur Deckung kommt – wenn Ich also nicht vermag, ein Du im Gegenüber zu bilden, wie erfolgt dann hier überhaupt Bildung in Bezug zum Subjekt? Das Wie der Begegnung sucht doch, wie wir gesehen haben, die Manifestation zu zerschlagen, die auch im Prozess der Bildung mitzuschwingen beginnt. Das Subjekt, das sich hier bildet, wird nicht deswegen Subjekt, weil es nun etwas zu erkennen vermag und erkannt werden kann, beides verlangte nach einem Objekt. Das aber bedeutet, dass das Subjekt, das durch die Begegnung heraus-gebildet wird, sich bereits schon des Begriffes entledigt, bevor wir ihn hier auf es anwenden.

26 | Vielleicht ist das der entscheidende Punkt, der die Phänomenologie Emanuel Lévinas’ von anderen Phänomenologien und besonders der Soziologie in Hinblick auf die Frage nach dem Subjekt unterscheidet (wenn auch der Unterschied zwischen den Disziplinen aus ihren unterschiedlichen Interessen selbstverständlich sich ergeben muss): Das Geheimnis ist in der Soziologie in erster Linie denkbar als eine Verschleierung der Inszenierung, also als ein Geheimnis, das von der Macht mit hergestellt wird und das zur Logik des Plans gehört, während die Phänomenologie es im Dasein verortet. Das Geheimnis ist hier nicht Effekt einer Macht innerhalb der Ordnung, sondern durch diese gerade bedroht. Für die Soziologie ist also das Geheimnis ein Wie der Macht, dem sie auf der Spur bleiben kann, um es dann aufzudecken, während die Phänomenologie das Dasein nur in seinen Spuren zu erblicken vermag. 27 | Emanuel Lévinas: Humanismus des anderen Menschen, S. 53.

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Verdeutlichen wir uns dies, indem wir das Verhältnis zwischen Performanz und Übersetzung betrachten. Die Performanz ist das Wie der Übersetzungshandlung, sowohl im Sinne ihres Handlungsprozesses als auch in dem Bezug, den die Handlung vorwegnimmt – im »richten auf«. Am Sprechakt und der Blickrichtung haben wir gesehen, wie das Subjekt konstituiert wird, weil es vor dem Hintergrund mehrerer Übersetzungen erscheint, die der Performanz vorrangig sind. Von denen ist der Dualismus von Subjekt-Objekt die allgemeinste, abstrakteste Übersetzung von Identität, die im Situativ-Konkreten Bedeutung ermöglicht. Von ihr ausgehend differenziert der Akt diesen Dualismus aus, indem er aus Möglichkeiten der Benennung wählt, die ihrerseits über Setzungen vermittelt, diskursiv abgesichert sind. So erübrigt das gebildete Subjekt schließlich den Dialog, den der Sprechakt vielleicht noch zu eröffnen beansprucht hat. In diesem Sinne sind performative Akte selbstreferentiell, als Referenz auf das Selbe, deren Bedeutung sie auch im Differenzieren noch einzuholen beginnt: Selbstinszenierung eines Selbstgespräches. Vielleicht deswegen gehen eindrucksvolle Inszenierungen als authentisch durch. Im Selben sind sie genauso authentisch wie die Inauthentizität, die zu kritisieren doch gerade die Einheit des Subjektes als Echtes beschwört und deshalb die Differenz so verstörend empfindet, dass sie sie als Abweichung von der Wahrheit, als bewusste Täuschung beklagt. Einheit ist aber die authentisch gewordene Unwahrheit, damit durch sich selbst nicht mehr als Täuschung zu erkennen. Ent-Täuschung kann nur noch vom radikal Anderen kommen, nicht von der Opposition. Im Inneren der Täuschung bewirkt noch der Schrei der Unterdrückten Irritation, solange er nicht als authentischer klassifiziert verstummt. Der Andere, der unabhängig von dieser Identität des Selben ist, setzt die Bewegung aus, die sich als Erscheinung des Selben im performativen Akt erfüllt. Die Übersetztheit anzeigend dadurch, dass er schon vor ihr der Andere gewesen ist, weist er das Subjekt auf die Übersetzung zurück, ent-täuscht es von der Gewissheit seiner selbst. Lévinas: »Das Verhältnis zum Anderen stellt mich in Frage, entleert mich meiner selbst und hört nicht auf, mich zu entleeren, indem es mir immer neue Ressourcen entdeckt.«28

28 | Ebd., S. 38.

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Das Subjekt wird so einer Bewegung ausgesetzt, die es zurück zur Übersetzung bringt. Dieses Zurück-zur-Übersetzung ist so keine Rückkehr zum Selben, zum authentischen Original, sondern eine Wiederaufnahme des Sprechens, eine Reformulierung, die durch den Bruch mit der Gewissheit beginnt. Wir sind diesem Sprechen schon im Ver-Sprechen auf der Spur gewesen.29 Doch auch in der Reformulierung wird sich die Bedeutung des Sprechens nicht erfüllen können. Der Andere hat das Subjekt in Bewegung versetzt, aber zeigt, dass es nicht am Ziel sein kann, indem er immer wieder seine Gewissheit erschüttert. Der Zusammenhang von Performanz und Bildung, wie ich ihn hier versucht habe herauszustellen, ist damit nicht nur a posteriori zu erkennen, indem Bildung bestimmt wird als »Resultat der performativen Praxis und der Reflexion des Verhältnisses von Subjektivität und Kulturalität«30, wie Christoph Wulff und Jörg Zirfass formulieren. Er geht auch nicht auf in der Inszenierung der Subjektivität im Sinne eines sozial-kulturellen Handelns, das als »mimetisch-performativ«31 bezeichnet werden kann; sondern Bildung zeigt sich hier als das Wie des performativen Handelns in Bezug auf seine Bewegung, die den performativen Akt der Identität überdauert. Bildung haben wir in der Semantik des Performativen zunächst als Bewegungsqualität der performativen Akte gesehen. Doch die Asymmetrie des Anderen in der Begegnung hat zum Bruch mit der Identifikation geführt. Des Bildes vom Anderen entledigt, bildet sich durch die Begegnung das Subjekt, das durch diese Begegnung aufzubrechen beginnt. Wie können wir aber Bildung und Aufbruch denken als etwas, was sich zusammen ereignet? Widersetzt sich dem nicht schon die Dynamik dieser Begrifflichkeiten? Bildung und Aufbruch scheinen sich auf den ersten Blick zu widersprechen. Während der Aufbruch mit etwas zu etwas hin bricht, Abschluss und Neubeginn markiert, stellt sich in Bildung, auch dann, wenn sie prozesshaft gedacht wird, etwas her. Wenn der Aufbruch 29 | Vgl. auch Buchteil A, Kap. 2.5 Vertiefung: das Geheimnis des Anderen, S. 83ff. 30 | Christoph Wulf und Jörg Zirfas: Performative Pädagogik und performative Bildungstheorien. Ein neuer Fokus erziehungswissenschaftlicher Forschung, in: dies.: Pädagogik des Performativen. Theorien, Methoden, Perspektiven, Weinheim und Basel: Beltz 2004, S. 12. 31 | Ebd., S. 31.

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also in einem Zwischen von Vergangenheit und Zukunft steht, so scheint die Bildung in einer eigentümlichen Gegenwart auf, in der sich etwas punktuell, augenblicklich realisiert, auch wenn es materiell nicht greifbar ist. Beginnt die Bildung nicht die Dynamik des Aufbruches zu stoppen und bannt ihn in die Logik des Weges, beendet ihn, indem sie ihn auf ein Etappenziel verweist? Verweist der Andere auf eine uneinholbare Vergangenheit, so eröffnet sich doch dadurch die Zukunft, die nun die Zukunft des Sprechens-zumAnderen ist. Doch was ist dabei die Zukunft des Subjektes, das nun als Subjekt in der Schwebe ist? Die Übernahme des Aufbruches zum Anderen eröffnet die Möglichkeit der Zukunft, auch – wie ich in der weiteren Auseinandersetzung mit Jahrestage beschrieben habe – die Zukunft der eigenen Vergangenheit als andere, die nicht mehr die Ordnung des Gedächtnisses ist, sondern die in diesem Moment singulär, ereignishaft erscheint, nicht nur bloße Reproduktion des Gewesenen ist, nicht nur Vergewisserung des Selbst. Doch wohin geht der Aufbruch des Subjektes? Gibt es, wenn wir nun das Subjekt in die Zeit – und damit in die Zeit des Anderen – stellen, eine konkrete, sich eröffnende Zukunft, eine Ziellinie, die beschrieben werden kann? Wir haben bereits gesehen: Wenn das gebildete Subjekt in Aufbruch versetzt wird, dann kann am Ende dieses Aufbruches nicht seine Identität als letzte Bildung stehen; dann würden Bildung und Aufbruch als Ergebnis zusammenfallen: im zunächst »aufgebrochenen«, dann aber zur Identität gelangten Subjekt. Damit wäre der Aufbruch ein Bruch, der durch die gebildete Identität geheilt wird, und würde die Radikalität, die er ohne Zweifel in sich trägt, verlieren. In einer anderen chronologischen Beziehung könnte man den Aufbruch als Aufbruch zur Bildung (was der Bildungsreise entsprechen würde) oder Bildung als den Weg, den man im Aufbruch nehmen muss (was dem Begriff des Bildungsweges entspricht), betrachten. Aber: Wie eine Kongruenz von Bildung und Aufbruch diese Phänomene ihrer Dynamik berauben, ihres Inhaltes entleeren würde, so kaschiert eine Chronologie den Bruch völlig, der dem Subjekt widerfährt. Bildung ist aber weder Ziel noch Weg des Aufbruches. Wenn der Aufbruch durch den Anderen bedeutet, so ist es dem Subjekt nicht möglich, Weg und Ziel seines Aufbruches zu benennen – was den Aufbruch grundlegend von jeder Reise und möglichen Wegen unterscheidet, die immer eine Bewegung in der Kontinuität der eigenen Zeit markieren. Doch da der Aufbruch durch den Anderen hervorgerufen wird, seine Zeit nicht die Zeit des Eigenen ist, sondern die Zukunft in der Gegenwart des Anderen, fin-

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det sich das Subjekt dort, wo es die radikale Ungewissheit des Aufbruches als Bedingung seines Sprechens übernimmt. Das Subjekt des Aufbruches zeigt sich in der Bejahung der absoluten Ungewissheit seiner selbst. Wenn das gebildete Subjekt das Subjekt des Aufbruches ist, der Aufbruch die Modalität ist, in der es erscheint und Sprache gewinnt, dann ist Bildung das Ereignis des Sinns, der das Subjekt zur Übernahme des Ungewissen bewegt und der sich dann in der aufbrechenden Subjektivität zu zeigen beginnt. Bildung ist das Ereignis des Sinns, der die Erfüllung der Subjektivität im Performativen aussetzen muss, um ihn als Sinn des Aufbruches bejahen zu können. Damit ist der Aufbruch ein »Aufbruch ohne Wiederkehr, der dennoch nicht ins Leere führt«32 , wie Lévinas es beschreibt. Bildung als Ereignis des Sinns befähigt das Subjekt zur Zukunft ohne Plan und gerade zum Sprechen von der Zeit, das wir bereits als das Ver-Sprechen gekennzeichnet haben.33 Hier scheint der Grund für den Entwurf zu liegen, der sich der Ordnung widersetzt. Der Aufbruch kann nicht in Planung überführt werden, ohne den Grund seiner Bejahung zu verlieren und damit Reise und Rückkehr zu sein. Dennoch: Wenn das Subjekt des Aufbruches in der bejahten Unbestimmtheit nicht orientierungslos ist, sondern gerade hier Sinn erfährt, müssen wir noch einmal überlegen, warum es hier zur Bildung als SichEreignens des Sinns kommt, warum der Aufbruch mehr als eine Alternative zur geplanten Reise mit Rückkehr ist. Können wir hier erkennen, warum Bildung grundlegend für eine Gesellschaft ist?

2.4 S INN Noch scheint der sich auftuende Sinn eine Behauptung zu sein und von einer Reihe von Voraussetzungen abzuhängen: Er begegnet uns als Teil eines Systems, das wir als Begegnung gekennzeichnet haben. Können wir diesem Sinn, der sich in der Begegnung gezeigt hat, noch näher kommen und somit zeigen, dass er in der Begegnung mit dem Anderen liegen muss? Das Wie des Erscheinens hat gezeigt, dass er sich ereignet und in diesem Ereignis etwas bewirkt. Das, was sich ereignet, hat das Subjekt für 32 | Emanuel Lévinas: Die Spur des Anderen, S. 216. 33 | Vgl. auch Buchteil A, Kap. 2.5.2 Begegnung, S. 88ff.

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die Zukunft geöffnet, es verweist bereits darauf, dass noch etwas geschehen wird, aber er verweigert die Auskunft über das, was dort sein wird. Wir haben gesehen: Wenn dieser Sinn bewirkt, dass das Subjekt den Aufbruch bejahen und auf sich nehmen kann, so wäre er negiert, wenn er ein Ziel angibt. Ich habe schon davon gesprochen, dass die perfekte Übersetzung genauso wie die eindeutige Interpretation ihre Bedeutung, jede Möglichkeit des Bedeutens verliert.34 Aus dem Ereignis des Sinns die Zukunft herleiten zu wollen, negiert diesen Sinn, weil sich so nicht die Zukunft des Ungewissen öffnet, sondern eine ewige Gegenwart des Status quo, wenn auch das Subjekt angeben wird, sich verändert zu haben. Dies holt den Anderen in die Logik des Für-mich-Bedeutens zurück und lässt ihn auf ein Ziel verweisen. Noch ist nicht klar, was diesen Sinn von Sinn-Konstruktionen unterscheidet, warum der Sinn, den wir hier beschreiben, nicht von einer übergeordneten Instanz abhängt, sondern diese Stelle hier einnehmen muss (in der Spur der Spur, die wir hier als unzugängliche, sich entziehende Instanz ausgemacht haben, die sich gleichwohl in der Begegnung zeigt). Die Bewegung, die wir hier in den Blick nehmen müssen, trägt also bereits in sich, dass sie keine Bewegung unter anderen sein kann, die bloß relational sinnhaft ist, damit nur bestimmten Bedingungen des Diskurses bedeutet. Die Bewegung, die uns hier interessiert, ist die Bedingung der Möglichkeit des Bedeutens, also des Sich-Beziehens auf Sinn, was jedem System innewohnt.35 Ist diese Möglichkeit des Bedeutens nicht nur dann gegeben, wenn die Bewegung, die vom Sinn zur Bedeutung geht, an der Begegnung bereits partizipiert? Lévinas fragt: »Das Verlangen nach dem Anderen, das wir in der banalen sozialen Erfahrung leben, ist die grundlegende Bewegung, der reine Transport, die absolute Orientierung, der Sinn. In allen Analysen der Sprache besteht die zeitgenössische Philosophie, und zwar zu recht, mit Nachdruck auf der hermeneutischen Struktur der Sprache und auf der kulturellen Anstrengung des inkarnierten Seienden, das sich ausdrückt. Hat man nicht eine dritte Dimension vergessen: die Richtung auf den 34 | Vgl. auch Kap A 2.4.4 Der vierte Band: synchron, S. 76ff. 35 | Luhmann formuliert: »Systeme, die an Sinn gebunden sind, können […] nicht sinnfrei erleben oder handeln. Sie können die Verweisung von Sinn auf Sinn nicht sprengen, in der sie selbst unausschließbar impliziert sind.« Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, S. 96 (Auslassung durch Verf.).

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Anderen, der nicht nur Mitarbeiter und der Nachbar unseres kulturellen Werkes des Ausdrucks oder der Käufer unserer künstlerischen Produktion ist, sondern der Gesprächspartner: derjenige, an den sich der Ausdruck richtet, derjenige, für den die feierliche Darbietung zelebriert wird, derjenige, der zugleich Zielpunkt einer Orientierung und erste Bedeutung ist?« 36

Haben wir damit nicht die Figur der Korrelation nur über einen Umweg über den Anderen wieder eingeführt, indem wir ihn an den Beginn aller möglichen Bezüge gesetzt haben, und damit den Bruch der Subjektivität in ihrem Ursprung als Anderen versöhnt? Erinnern wir uns daran, dass wir bei der Analyse des Sprechens über performative Akte von einer Ökonomie des Bedeutens in der Logik des Tausches gesprochen haben, da die Bedeutungen sich dort wechselseitig decken: Dieses System, das Bewegung ermöglicht, zeigt sich im Ursprung stabil, wo bereits die Einheit dessen steht, das sich in der Performanz des Aktes auszudifferenzieren beginnt. Doch bedeutet nicht das Wort an den Anderen zu richten, bedeutet nicht Im- Aufbruch-Sein diese letzte Deckung (auch als Möglichkeit des Rückzuges und Schutzes, des In-Deckung-Gehens) aufgeben zu müssen, weil ich nicht wissen kann, wohin es gelangt und was es dort bedeutet, auch dann nicht, wenn die Inszenierung perfekt zu sein scheint, die dramaturgische Arbeit abgeschlossen ist? Ist nicht deswegen »das Fremde das Lebenselixier von Bildung und Identität ihr Ende«, wie Käte Mayer-Drawe es formuliert,37 deswegen, weil diese letzte Deckung den Ursprung nicht einzuholen vermag, der die Bildung bewegt, und der sich auch nicht mehr in dem Rück-Blick des Analytischen auf den Begriff bringen lässt? Wenn der Andere der radikal Andere ist, so steht an diesem Ursprung, durch den das Subjekt seine Stimme zu erheben beginnt, nicht mehr Differenz vor der Grundlage einer Einheit, sondern das Un-Ein-Nehmbare, das das Un-Vereinbare, damit das Un-Ein-Sichtige ist: das so radikal ist, dass der Sinn deswegen als eine »unnegierbare, eine differenzlose Katego36 | Emanuel Lévinas: Humanismus des anderen Menschen, S. 38f. (Hervorhebung im Original). 37 | Käte Mayer-Drawe: Bildung und Versagung, in: Hans-Christoph Koller, Winfried Marotzki und Olaf Sanders (Hg.): Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Bielefeld: transcript 2006, S. 92 (Auslassung durch Verf.).

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rie«38 erscheint, was die Radikalisierung des Sinnbegriffes von Luhmann ist. Bildung als Ereignis des Sinns zeigt sich in der Ordnung des Gesellschaftlichen als die permanente Fortsetzung eines Gespräches, das vom Un-Ein-Nehmbaren ausgeht – auch dort noch, wo es in der Ordnung des Sozialen zum Tausch, zur Differenzierung, zur Spaltung und Versöhnung kommt, wo jedes Risiko für die Identität des Selben so gering wie möglich gehalten werden, die Ordnung des Hauses nach den Regeln der Symmetrie bewacht werden soll: Die Voraus-Setzung des Sinns setzt die Macht der Ordnung aus. Was aber bedeutet das für die Wirklichkeit der Bildungsinstitution?

2.5 D IE P AR ADOXIE DER B ILDUNGSINSTITUTION Wir sind von der Ordnung der Bildung ausgegangen, und es bleibt nun zu fragen, wie sich diese Ordnung mit dem zusammendenken lässt, was wir hier mit Bildung als Ereignis des Sinns im Erscheinen des Anderen erarbeitet haben. Bis zu diesem Punkt haben wir mit dem Begriff der »Bildungsinstitutionen« in erster Linie die Einrichtungen bezeichnet, die einen Bildungsauftrag haben und mit diesem eine Arbeit zu leisten beanspruchen, die sie als »Bildungsinstitutionen« legitimiert und erkennbar werden lässt. Damit haben wir einen weiten Institutionenbegriff vorausgesetzt, der hier zugleich die Perspektive verengt. Institution, soziologisch verstanden, liegt vor der Einrichtung oder Organisation. Nach soziologischem Verständnis entsteht sie dort, wo aus sozialen, habitualisierten Akten eine Konvention wird, die das Zusammenleben reglementiert.39 Somit ist das Gesetz eine 38 | Niklas Luhmann: Soziale Systeme, S. 96. 39 | Peter L. Berger und Thomas Luckmann formulieren: »Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution. […] Wenn habitualisierte Handlungen Institutionen begründen, so sind die entsprechenden Typisierungen Allgemeingut.« Vgl. Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M.: Fischer 2010, S. 58 (Auslassung durch Verf.).

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Institution. Institutionen sind eine formale Übersetzung der Antwort auf die Frage nach dem Wie des menschlichen Handelns. In ihnen ist damit die Begegnung als Ereignis vorausgesetzt. Die Wirklichkeit der Institution bleibt dadurch, dass sie eine Übersetzung der Antwort auf das Soziale ist, unweigerlich mit dem Erscheinen des Anderen verknüpft. Sie hat aber zugleich die Alterität des Anderen in die Regelhaftigkeit gebannt. Somit kann man zunächst sagen, dass der Aufbruch zwangsläufig endet, wo der »lange Marsch durch die Institutionen« beginnt. Die Institution verlangt immer nach der Anerkennung des Subjektes, ohne die sie bedeutungslos wird. Diese Anerkennung erreicht sie durch die Integration ihres Wissens in den Lebenslauf. Peter L. Berger und Thomas Luckmann formulieren: »Einzelne Personen vollziehen im Kontext ihres Lebenslaufes einzelne institutionalisierte Handlungen.«40 Diese institutionellen Handlungen des Subjektes werden durch die gesellschaftlichen Einrichtungen organisiert. Die gesellschaftlichen Einrichtungen sind durch die Institution gerechtfertigt, aufgrund derer sie sich gegründet haben und auf die sie sich in ihren Handlungen beziehen. Sie übersetzen das Wissen somit in die Alltagswirklichkeit des Handelns zurück. Hinter der Institution des Gesetzes steht die Einrichtung des Gerichtes, das seine Vorgaben in Anwendungen des juristischen Handelns übersetzt und so die Anerkennung der Institution Gesetz überwacht, was sein eigenes Dasein als Institution wiederum legitimiert. Diesen Einrichtungen gegenüber sind die Bildungseinrichtungen in einer besonderen Position, weil sie dazu befähigen sollen, das den Institutionen zugrundeliegende Wissen zugänglich zu machen. Die Einrichtung des Gerichtes legitimiert den Sinn seiner Handlung durch Verweis auf den Sinn der Institution des Gesetzes, dessen institutionellen Charakter sie in der Regel nicht mehr erklärt, sondern durch ihr Handeln beglaubigt. Die Bildungseinrichtung erklärt die Einrichtung des Gerichtes in ihrer Verwiesenheit auf die Institution des Gesetzes; darüber hinaus kann sie das Wissen vermitteln, dass das Gesetz zur Institution werden ließ, sowie den Zusammenhang von beglaubigendem Handeln und Wirklichkeit der Institution erhellen. Bildungseinrichtungen sind also nicht nur Übersetzung einer Antwort, sondern sollen dazu befähigen, die Übersetzungen der anderen Einrichtungen zu verstehen, die die gesellschaftliche Wirklichkeit struk40 | Ebd., S. 69.

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turieren. Sie sollen den »Zugang zu einer Gesprächskultur ermöglichen, an der man teilnehmen kann, ohne hilflos zu wirken«41 , wie Luhmann es formuliert. In Auseinandersetzung mit dem Bildungsplan haben wir gesehen, dass die Bildungseinrichtungen nicht nur in der besonderen Situation der Vermittlung des Wissens und seinen Übersetzungen in der kommunikativen Wirklichkeit stehen, sondern bereits als befähigt gelten, die Zukunft dieser Wirklichkeit vorwegzunehmen und in ihre Ausbildungsabsicht aufzunehmen. So produziert der Bildungsplan Fragen und Antworten zugleich. In dieser Bewegung erhöht sich die Bildungseinrichtung zur Institution und verweist tautologisch auf sich selbst. Müssen wir uns also von dem Gedanken einer Bildungsinstitution trennen, wenn wir den erarbeiteten Begriff von Bildung als Ereignis des Sinns nicht aufgeben wollen? Wenn wir dennoch versuchen, eine Bildungsinstitution zu denken, so kann sie nur eine paradoxe Figur sein, in der allerdings zugleich ihre Stärke liegt. Als paradoxe Figur ist sie die gesellschaftliche Institution, die die Frage nach dem Wie des Menschen nicht mit Wissen, sondern mit Nicht-Wissen beantwortet und diese Unklarheit zugleich als ihr Selbstverständnis versteht, ohne diese Unklarheit in eine partielle Eindeutigkeit, einen festen Bezugspunkt zu übersetzen, wie die Institution des Glaubens es tut. Die Bildungsinstitution ist damit die Erschütterung des Institutionellen, weil sie ein notwendiges Nicht-Wissen innerhalb des gesellschaftlichen Wissens markiert. Notwendig, weil das Wissen sich sonst nicht mehr übersetzen ließe und damit jeden Sinnbezug verliert.42 Das, was die Bildungsinstitution weiß, ist, dass sie sich nicht durch das performative Spiel von Beglaubigung und Anerkennung legitimieren kann und dass sie deswegen der Frage des Anderen immer näher als der Antwort auf das bereits erschlossene Soziale ist. In diesem Nicht-Wissen, mit der Uneinholbarkeit des Sinns, der Andersheit des Anderen, des außer-ordentlichen in einer organisierten Wirk-

41 | Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 100. 42 | Wenn die Institution Gesetz vollständiges Wissen erlangt hat, dann ist nicht vorstellbar, dass es noch eine Gesellschaft gibt, in der sie Institution sein kann.

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lichkeit zu leben, wäre dann das, das zu übersetzen Auftrag der ihr verbundenen Einrichtungen ist.43 Hier vervielfältigt sich die Paradoxie, wo die Bildungseinrichtung neben der Beseitigung des Nicht-Wissens um gesellschaftlich institutionalisiertes Wissen und dessen Verweisungszusammenhängen und Übersetzungen (deren Vermittlung vernünftig und unverzichtbar zur Orientierung innerhalb der Ordnung ist, die den Zugang zu allen Institutionen und Organisationen ermöglichen kann) das Nicht-Wissen nicht als Gefahr der Sinnlosigkeit, sondern als Bedingung von Bildung zeigen muss, das in Wissen und Bedeutungsökonomie zu überführen zugleich das Ende der Bildung bedeutet. Dass die Bildungseinrichtungen damit keinen letzten Bürgen haben, dessen Bedeutung und Herkunft sie verwalten, der sich problemlos herbeizitieren lässt und ihre Pläne legitimieren kann, mag sie in Panik versetzen und eine Reihe von Ausweichmanövern, Ordnungen und Hierarchien produzieren lassen, die aufgrund ihrer Komplexität, des bürokratischen Aufwands, der sprachlichen Codes, der Einsortierung des Wissens suggerieren, irgendwo am Ende stünde schon etwas, das so bedeutend ist, dass man sich diesen Weg durch die Ordnungen nur bahnen muss, will man ihm begegnen können – bis man auf diesem Weg alle Fragen vergisst.44 Eine andere Möglichkeit ist, dass die Bildungseinrichtungen auf die Institution Bildung als Nicht-Wissen verweisen und so Bildung als Ereignis des Sinns in »docta ignorantia«45 übersetzen und zudem darauf verzich43 | Damit wäre die Universität eben der Ort, der »nicht vorweg schon verortet« ist, wie Bernhard Waldenfels es formuliert. Vgl. Bernhard Waldenfels: Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 291. 44 | Bernhard Waldenfels formuliert: »Die Eingemeindung der Universität würde dazu beitragen, daß sich in einer Normaluniversität für ›Normalmenschen‹ der Schlummer des Normalen ausbreitet. Exzellenz – ein letztes Reizwort – stünde am Ende für Effizienz.« Vgl. Ebd.: S. 303. 45 | »Belehrte Unwissenheit« ist ein Begriff von Nicolai de Cusa: »Nihil enim homini etiam studiosissimo in doctrina perfectius adveniet quam in ipsa ignorantia, quae sibi propria est, doctissimus reperiri.« Übersetzung von Paul Wilpert: »Auch der Lernbegierigste wird in der Wissenschaft nichts Vollkommeneres erreichen, als im Nichtwissen, das ihm seinsgemäß ist, für belehrt befunden zu werden.« Vgl. Nicolai de Cusa: De docta ignorantia, in: ders.: Die belehrte Unwissen-

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ten, dies als eine Überlegenheit des »wahren Weisen« zu privilegieren, wie etwa der durch Platon uns zur Übersetzung übersetzte Sokrates es immer wieder tut.46 In dieser Unwissenheit hören sie, wie der Entwurf Geschichte die ganze Zeit schon spricht: In Form der Fragen des Anderen, der Uneindeutigkeit der Texte, der Unklarheit der Übersetzungen. Damit nehmen sie Anteil an dem, das allen kulturellen Symboliken, Sprachen, Institutionen Vorraussetzung ist: der Alterität des Daseins, die sich in der Begegnung mit dem Anderen aktualisiert und dem eigenen Dasein in seinen Sinnfragen unhintergehbar eingeschrieben bleibt. Diese Alterität als gemeinsame Bedingung der unterschiedlichen Entwürfe kann dem Dasein nur unversöhnt, unauflösbar, uneindeutig, in der Wirklichkeit der verschiedenen Übersetzungen, den Narrationen und Metaphern zugänglich sein. Den Sinn ihrer Studien- und Hausordnungen finden die Bildungseinrichtungen vor – dort, wo der Entwurf des Anderen diese Ordnungen heimzusuchen beginnt. Sie antworten darauf in ihrem Versprechen, das die Entscheidung über eine letzte Bedeutung immer wieder vertagt.

heit, lateinisch und deutsch, Hg. und übersetzt v. Paul Wilpert, Band 1, Hamburg: Felix Meiner 1994, S. 8f. 46 | Sokrates in Platons »Apologie des Sokrates: »Πρòς έμαυτòν δ’ οủν ảπιὼν

έλογιζόμην õτι· ›Τούτου μὲν τοũ ἀνθρώπου ἐγὼ σοφώτερός εἰμι· κινδυνεύει μὲν γὰρ ἡμῶν οὐδέτερος οὐδὲν καλὸν κἀγαθὸν εἰδέναι· ἀλλ᾽ οὗτος μὲν οἴεταί τι εἰδέναι οὐκ εἰδώς ·ἐγὼ δέ, ὥσπερ οὖν οὐκ οἶδα, οὐδὲ οἴομαι· ›‘Εοικα γοῦν τούτου γε σμικρῷ τινι, αὐτῷ τούτῳ σοφώτερος εἶναι, ὅτι ἃ μὴ οἶδα οὐδὲ οἴομαι εἰδέναι.‹« Friederich Schleiermacher übersetzt: »Indem ich also fortging, gedachte ich bei mir selbst, als dieser Mann bin ich nun freilich weiser. Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas Tüchtiges oder Sonderbares wissen; allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiß, ich aber, wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht. Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein als er, daß ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen.« Vgl. Platon: Apologia Sokratous, in: ders.: Werke in acht Bänden griechisch und deutsch. Hg. v. Bernd Eigler, Band 2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, S. 14f.

Nachweise/Literaturangaben S IGLEN JT: Jahrestage MJ: Mutmassungen über Jakob

L ITER ATUR VON U WE J OHNSON Johnson, Uwe: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, vier Bände, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. — Jonas zum Beispiel, in: ders: Karsch und andere Prosa, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 82-84. — Mutmassungen über Jakob, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992.

L ITER ATUR IN A USEINANDERSE T ZUNG MIT U WE J OHNSON Auerochs, Bernd: Kalenderforschung. Zu: Thomas Schmidt, Der Kalender und die Folgen, in: Ulrich Fries, Holger Helbig und Irmgard Müller (Hg.): Johnson-Jahrbuch 8/2001, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2008, S. 201-214. Baßler, Moritz: Deutsch-englische Hybridbildungen und die Funktion der Marie in Uwe Johnsons Jahrestagen, in: Michael Hofmann (Hg.): Johnson-Jahrbuch 12/2005, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2005, S. 103-114. Bond, Greg: »Der Brunnen der Vergangenheit«: Historical Narration in Uwe Johnson’s Heute Neunzig Jahr and Thomas Mann’s Joseph und seine Brüder, in: German Life and Letters 52:1 January 1999, S. 67-84.

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E NT WURF UND O RDNUNG

— German History and German Identity. Uwe Johnson’s Jahrestage, Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1993. Dunker, Axel: Gedächtnis-Strukturen. Zur Poetik der Memoria in Uwe Johnsons Roman Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, in: Michael Hofmann (Hg.): Johnson-Jahrbuch 13/2006, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2006, S. 151-167. Elben, Christian: »Ausgeschriebene Schrift«: Uwe Johnsons »Jahrestage«. Erinnern und Erzählen im Zeichen des Traumas, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2002. Fischer-Kania, Sabine: Geschichte entworfen durch Erzählen. Uwe Johnsons »Jahrestage«, Münster: LIT 1995. Goetschel, Willi: »Was wird nun mit der Vergangenheit?« Zum Erinnerungsspiel in den Jahrestagen, Holger Helbig, Bernd Auerochs, Katja Leuchtenberger und Ulrich Fries (Hg.): Johnson-Jahrbuch 17/2010, Göttingen: Wallstein 2011, S. 116-128. Helbig, Holger, Klaus Kokol, Irmgard Müller, Dietrich Spaeth und Ulrich Fries (Hg.): Johnsons »Jahrestage«. Der Kommentar, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1999. Helbig, Holger: In einem anderen Sinn Geschichte. Erzählen und Historie in Uwe Johnsons Jahrestagen, in: Ulrich Fries und Holger Helbig (Hg.): Johnson-Jahrbuch 2/1995, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1995, S. 119-133. Jahn, Kristin: »Vertell, vertell. Du lüchst so schön.« Uwe Johnsons Poetik zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Heidelberg: Winter 2006. Jansen, Odile: Die Wahrheit der Erinnerung. Trauma, Identität und Geschichtskonstruktion bei Uwe Johnson und Christa Wolf, in: Michael Hofmann (Hg.): Johnson-Jahrbuch 12/2005, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2005, S. 145-155. Kaffenberger, Helmut: Die Katze Erinnerung und der Tigersprung ins Vergangene. Uwe Johnson und Walter Benjamin, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Uwe Johnson. Text und Kritik, Zeitschrift für Literatur 65/66, München: Richard Boorberg 2001, S. 104-114. Kleihues, Alexandra: Gräser alias Grese? Die Jahrestage im Kontext des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, in: Michael Hofmann (Hg.): Johnson-Jahrbuch 13/2006, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2006, S. 197-221.

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Krellner, Ulrich: »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk, Würzburg: Königshausen und Neumann 2003. Lämmert, Eberhard: »Geschichte ist ein Entwurf«: Die neue Glaubwürdigkeit des Erzählens in der Geschichtsschreibung und im Roman, German Quarterly Nr. 63/1990, S. 5-19. Lorenczuk, Andreas: Von Melville zur South Ferry. Bemerkungen zum Übersetzen bei Johnson, in: Ulrich Fries, Robert Gilett, Holger Helbig, Astrid Köhler und Irmgard Müller (Hg.): So noch nicht gezeigt. Uwe Johnson zum Gedenken, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2006, S. 144-154. Mardaus, Frank: Fotografische Zeichen, Uwe Johnsons Bildprogramm in den »Jahrestagen«. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2008. Mecklenburg, Norbert: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Michaelis, Rolf: Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. Neumann, Bernd: Utopie und Mimesis. Zum Verhältnis von Ästhetik, Gesellschaftsphilosophie und Politik in den Romanen Uwe Johnsons, Kronberg: Athenäum 1978. Neumann, Uwe: Uwe Johnson und Heinrich von Kleist. Neuigkeiten aus dem Schlußkapitel der Jahrestage, in: Ulrich Fries und Holger Helbig (Hg.): Johnson-Jahrbuch 7/2000, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2000, S. 197-226. Offe, Sabine: Transiträume der Erinnerung in Johnsons Jahrestagen, in: Michael Hofmann (Hg.): Johnson-Jahrbuch 12/2005, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2005, S. 79-90. Paefgen, Elisabeth K: Jakob als biblischer und literarischer Quergänger. Weitere Mutmaßungen über die Mutmassungen, in: Michael Hofmann und Mirjam Springer (Hg.): Johnson-Jahrbuch 15/2008, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2009, S. 86-97. Plocher, Isabel: »Wenigstens mit Kenntnis leben«: Der Medienkurs in Uwe Johnsons »Jahrestage« am Beispiel der »New York Times«, Würzburg: Könighausen und Neumann 2004. Schmidt, Thomas: Der Kalender und die Folgen. Uwe Johnsons Roman »Jahrestage«. Ein Beitrag zum Problem des kollektiven Gedächtnisses, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2000.

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Schulz, Beatrice: Lektüren von Jahrestagen. Studien zu einer Poetik der »Jahrestage« von Uwe Johnson. Tübingen: Niemeyer 1995. Staszak, Heinz-Jürgen: Das Erzählen der Person, in: Michael Hofmann (Hg.): Johnson-Jahrbuch 12/2005, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2005, S. 27-39. Westphal, Nicola: Literarische Kartografie. Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2008. Zschachlitz, Ralf: »Ali Babas Parole«. Uwe Johnsons »Jahrestage« – Ein auratischer Roman?, in: Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Hg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne. Internationales Uwe Johnson Symposium 22.-24.09.1994, Berlin/New York: de Gruyter 1995, S. 170-187.

W EITERE L ITER ATUR Adorno, Theodor W.: mit Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.: Fischer 2001. — Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: ders.: Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Hg. v. Rolf Tiedemann, Band 4, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. — Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, in: ders.: Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Hg.  v. Rolf Tiedemann, Band 6, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. — Soziologische Schriften I. Theorie der Halbbildung, in: ders.: Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Band 8, Hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: Beck 2011. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: Beck 2007. Augé, Marc: Nicht-Orte, München: Beck 2010. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Hamburg: Rowohlt 2006. Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, München: Matthes und Seitz 1991. Bedorf, Thomas: Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik, Berlin: Suhrkamp 2010.

N ACHWEISE /L ITERATURANGABEN

Benjamin, Walter: Das Passagenwerk, in: ders.: Gesammelte Schriften. Hg.  v. Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser, Band 5.1., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. — Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser, Band 4.1., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 9-21. — Über den Begriff der Geschichte, in: ders.: Gesammelte Schriften. Hg.  v. Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser, Band 1.2., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 691-704. Berger, Peter und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M.: Fischer 2010. Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. — Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Böll, Heinrich: Ansichten eines Clowns, in: ders.: Werke, Kölner Ausgabe. Hg. v. Árpád Bernath, Band 13, Köln: Kiepenheuer und Witsch 2004. Bonhoeffer, Dietrich: Was heißt: die Wahrheit sagen?, in: ders.: Ethik. Hg. v. Eberhard Bethge, München: Kaiser 1966, S. 385-395. Brecht, Bertolt: Geschichten vom Herrn Keuner. Wenn Herr K. einen Menschen liebte, in: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg.  v. Werner Hecht und Jan Knopf, Band 18: Prosa 3, Sammlungen und Dialoge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 124. Buden, Boris: Eine Tangente, die den Kreis verrät. Über die Grenzen der Treue in der Übersetzung, in: TRANSLATE/EIPC (Hg.): Borders, Nations, Translations. Übersetzung in einer globalisierten Welt, Wien: Turia und Kant 2008, S. 13-44. Büchner, Georg: Brief an Wilhelmine Jaeglé, 10. März 1834, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar, Hg. v. Werner R. Lehmann, Band 2, Hamburg: Christian Wegner, S. 425-426. — Danton’s Tod, in: ders.: Marburger Ausgabe. Hg. v. Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer, Band 3.2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000. — Lenz, in: ders.: Marburger Ausgabe. Hg. v. Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer, Band 5, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001.

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— Leonce und Lena, in: ders.: Marburger Ausgabe. Hg. v. Burghard Dedner unter Mitarbeit von Arnd Beise und Eva-Maria Vering, Band 6, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003. Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. — Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt a.M./New York: Campus 2010. Celan, Paul: Der Meridian, in: ders.: Der Meridian. Endfassung, Entwürfe, Materialien, Tübinger Ausgabe. Hg. v. Bernhard Böschenstein und Heino Schmull, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. — Sprachgitter, in: ders.: Sprachgitter, historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Holger Gehle, 5. Band 1. Teil, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Cicero, Markus Tullius: De re publica, in: ders.: Der Staat, lateinisch und deutsch. Hg. v. Harald Merklin, übersetzt v. Karl Büchner, Düsseldorf/ Zürich: Artemis und Winkler 1999. de Certau, Michel: Kunst des Handelns, Merve: Berlin 1988. de Cusa, Nicolai: De docta ignorantia, in: ders.: Die belehrte Unwissenheit, lateinisch und deutsch, Hg. u. übersetzt v. Paul Wilpert, Band 1, Hamburg: Felix Meiner 1994. Derrida, Jacques: Apokalypse. Von einem neuerdings erhabenen apokalyptischen Ton in der Philosophie, Wien: Passagen 2000. — Aporien. Sterben – Auf die »Grenzen der Wahrheit« gefasst sein, München: Wilhelm Fink 1998. — Die Einsprachigkeit des Anderen. Oder die ursprüngliche Prothese, München: Wilhelm Fink 2003. — Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin: Merve 2003. — Schibboleth. Für Paul Celan, Wien: Passagen 2007. — Wie nicht sprechen. Verneinungen, Wien: Passagen 1989. Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. Frisch, Max: Andorra. Stück in zwölf Bildern, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970. — Homo Faber. Ein Bericht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. Funke-Wieneke, Jürgen: Sich Bewegen in der Stadt. Eine Besichtigung mit Maurice Merleau-Ponty, in: ders. und Gabriele Klein (Hg.): Bewegungsraum und Stadtkultur. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld: transcript 2008, S. 75-97.

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Gribbin, John: Auf der Suche nach Schrödingers Katze. Quantenphysik und Wirklichkeit, München: Piper 1998. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer 1986. — Über den Humanismus, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2000. Herder, Johann Gottfried: Postscenien zur Geschichte der Menschheit. Nebst einem Anhang. Hg. v. Johann von Müller, Tübingen: J.G. Cotta 1807. Humboldt, Wilhelm von: Einleitung zu »Agamemnon«, in: Hans Gert Störig (Hg.): Das Problem des Übersetzens, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963, S. 71-96. Klein, Gabriele: Das Soziale choreographieren. Tanz im öffentlichen Raum, in: Ästhetik und Kommunikation. Heft 146, 40. Jahrgang, Berlin 2009, S. 25-29. Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater, in: ders.: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Hg. v. Roland Reuß und Peter Staengle, Band 2/7: Berliner Abendblätter 1, Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Roter Stern 1997, S. 317-319. — Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, in: ders.: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Hg. v. Roland Reuß und Peter Staengle, Band 2/9: Sonstige Prosa, Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Roter Stern 1997, S. 25-32. Lepecki, André: Option Tanz. Performance und die Politik der Bewegung, Berlin: Theater der Zeit 2008. Lévinas, Emanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München: Karl Alber 2007. — Die Zeit und der Andere, Hamburg: Felix Meiner 2003. — Humanismus des anderen Menschen, Hamburg: Felix Meiner 2005. — Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München: Karl Alber 1998. — Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/ München: Karl Alber 2008. Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. — Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. Luther, Martin: Sendbrief vom Dolmetschen, in: ders.: Ausgewählte Werke. Band 6: Bibelübersetzung, Schriftauslegung, Predigt. München: Kaiser 1958, S. 9-20.

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Mann, Thomas: Buddenbrooks. Verfall einer Familie, in: ders.: Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe 1/1, Hg. v. Eckhard Heftrich, Frankfurt a.M.: Fischer 2001. — Joseph und seine Brüder. 4 Bände, Band 1: Die Geschichten Jaakobs, in: ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe, Hg. v. Peter de Mendelssohn, Band 9, Frankfurt a.M.: Fischer 1983. Marx, Karl: Die Deutsche Ideologie, in: ders.: Frühe Schriften. Hg. v. Peter Furth und Hans-Joachim Lieber, Band 2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971. Mayer-Drawe, Käte: Bildung und Versagung, in: Hans-Christoph Koller, Winfried Marotzki und Olaf Sanders (Hg.): Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Bielefeld: transcript 2006, S. 83-94. Platon: Apologia Sokratous, in: ders.: Werke in acht Bänden griechisch und deutsch. Hg.  v. Bernd Eigler, Band 2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, S. 2-69. Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, in: ders.: Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Luzius Keller, Band 1, Suhrkamp: Frankfurt a.M. 1994. Ricœur, Paul: Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. Sarrazin, Thilo: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München: Deutsche Verlagsanstalt 2010. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1995. Schürmann, Eva: Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. Soeffner, Hans-Georg: Die Ordnung der Rituale. Die Auslegung des Alltages 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. Sölle, Dorothee: Die Hinreise. Texte zur religiösen Erfahrung, Stuttgart: Kreuz 1975. Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten, Frankfurt a.M.: Fischer 2005. Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1972. Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Mit einer Einleitung von Hito Steyerl, Wien: Turia und Kant 1998.

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Tillich, Paul: Der Mut zum Sein, Berlin/New York: de Gruyter 1991. Virilio, Paul: Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie, Berlin: Merve 1980. Waldenfels, Bernhard: Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. — Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. Wenzler, Ludwig: Menschsein vom Anderen her, in: Emanuel Lévinas: Humanismus des anderen Menschen. Übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Ludwig Wenzler, Hamburg: Felix Meiner 2005, S. VII-XXXII. Wolf, Michaela: Translation – Transkulturation. Vermessung von Perspektiven transkultureller politischer Aktion, in: TRANSLATE/EIPC (Hg.): Borders, Nations, Translations. Übersetzung in einer globalisierten Welt, Wien: Turia und Kant 2008, S. 77-92. Wulff, Christoph und Jörg Zirfas: Performative Pädagogik und performative Bildungstheorien, in: dies. (Hg.): Pädagogik des Performativen. Theorien, Methoden, Praxis, Weinheim und Basel: Beltz 2007, S. 7-40. Ziemer, Gesa: Komplizenschaft. Eine Taktik und Ästhetik der Kritik, in: Jörg Huber, Philipp Stöllger, Gesa Ziemer und Simon Zumsteg (Hg.): Ästhetik der Kritik. Verdeckte Ermittlung. Reihe T: G/05, Zürich/Wien 2007, S. 75-80. Zürcher Bibel nach der Übersetzung Huldrich Zwinglis, Zürich: Genossenschaft Verlag der Zürcher Bibel beim theologischen Verlag Zürich 2007.

I NTERNE TQUELLEN www.bildung-staerkt-menschen.de/schule_2004/fragen_zum_bildungs plan/index.html#ziele, zuletzt aufgerufen am 06.02.2012. http://www.bildung-staerkt-menschen.de/schule_2004/bildungsplan_ kurz, zuletzt aufgerufen am 06.02.2012. www.bistum-essen.de/bistum/bischof/texte-des-bischofs-zum-download/, zuletzt aufgerufen am 06.02.2012.

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Verortungen/Dank

Diese Arbeit mit Jahrestage ist als Dissertation an der Universität Duisburg-Essen im Wintersemester 2011/2012 angenommen worden. Für die vorliegende Fassung nahm ich geringfügige Änderungen vor. Arbeit an und Abschluss der Promotion wären ohne Unterstützung vieler Menschen so nicht möglich gewesen: Besonders den akademischen Betreuern Herbert Kaiser und Norbert Meder danke ich für enge Zusammenarbeit, kontroverse Diskussionen, Geduld und Zuversicht, dass diese Arbeit zumindest einen guten »Verfahrensschlusspunkt« finden wird. Die Friederich-Ebert-Stiftung hat mich mit einem Promotionsstipendium unterstützt und akzeptiert, dass ich neben der Promotion noch »Performance Studies« in Hamburg studiere. Für diese große Solidarität danke ich, denn die Begegnungen in diesem Studium sind wertvoll gewesen und haben diese Arbeit entscheidend beeinflusst. Ich danke meinen Hamburger Lehrenden, ganz besonders Gabriele Klein und Wolfgang Sting für intensiven Austausch über die großen Fragen der Wissenschaft und kleinere Fragen, die nicht weniger bewegend sind. Auch Doerte Bischoff, Peter Fischer-Appelt, Hans-Martin Gutmann, Heike Lüken, Nikolaus Müller-Schöll, Barbara Müller-Wesemann, Sandra Noeth, Silke Petersen, Anselm Steiger, Mica Wirtz danke ich für interessante Seminare und wissenschaftlichen Dialog über Modulbeschränkungen hinaus. Auch den Freundinnen und Freunden, die während dieser Zeit da waren, sich geduldig immer mal wieder Überlegungen zu manchen Themen anhörten, danke ich für ihre Offenheit, ihre Gedanken und Anfragen an mich: Ilona Bents, Birgit Brügge-Lauterjung Askin Djordjevic, Jascha Ebermann, Jule Eicke, Stefan und Anja Fischer, Anne Greis, Christoph Grevels,

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Katrin Hänsel, Ursula Hamacher, Nils Hanke, Tina Herrmann, Nadine von Holdt, Werner Kahl, Hedwig Kaiser, Anne Katrin Klinge, Christiane Krause, Beata Mache, Regina Rossi, Tobias Schmidt, Sören Schneider, Joachim von Soosten, Carola M. C. Straubinger, Gaja von Sychowski, Deva Tamminga, Danail Yankov, Ursula Ziller, um hier nur einige zu nennen. Uto und Claudia Peschel danke ich für ihre Hoffnung, dass in ver-rückter Wirklichkeit noch etwas gestaltet werden kann. Ihre alltägliche Arbeit inmitten gesellschaftlicher Sprachlosigkeit und gegen das Verstummen hat auch mein Arbeiten verändert. Ein besonderer Dank gilt meinen Eltern Werner und Iris Reinhard, die mich auf diesem Weg unterstützt und begleitet haben, auch und gerade da, wo er nicht immer gradlinig erschien. Auch meiner Großmutter Emilie Bertram gilt dieser Dank. Ihr ist diese Arbeit in großer Zuneigung gewidmet.

Lettre Peter Braun, Bernd Stiegler (Hg.) Literatur als Lebensgeschichte Biographisches Erzählen von der Moderne bis zur Gegenwart April 2012, 412 Seiten, kart., mit farb. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2068-9

Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Annette Gilbert (Hg.) Wiederaufgelegt Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern Juli 2012, ca. 424 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1991-1

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Lettre Ursula Hennigfeld (Hg.) Nicht nur Paris Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart August 2012, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1750-4

Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin August 2012, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Jan Wilm, Mark Nixon (Hg.) Samuel Beckett und die deutsche Literatur April 2013, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2067-2

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Lettre Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts

Annabelle Hornung Queere Ritter Geschlecht und Begehren in den Gralsromanen des Mittelalters

November 2012, ca. 290 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1929-4

Oktober 2012, ca. 500 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 48,80 €, ISBN 978-3-8376-2058-0

Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende

Tabea Kretschmann »Höllenmaschine/Wunschapparat« Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes Divina Comedia

August 2012, ca. 364 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9

Andrea Ch. Berger Das intermediale Gemäldezitat Zur literarischen Rezeption von Vermeer und Caravaggio August 2012, ca. 280 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2069-6

Matteo Colombi (Hg.) Stadt – Mord – Ordnung Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa August 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1918-8

Roman Halfmann Nach der Ironie David Foster Wallace, Franz Kafka und der Kampf um Authentizität Juni 2012, 242 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2117-4

Anne-Kathrin Hillenbach Literatur und Fotografie Analysen eines intermedialen Verhältnisses

Mai 2012, 290 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1582-1

Thomas Lischeid Minotaurus im Zeitkristall Die Dichtung Hans Arps und die Malerei des Pariser Surrealismus Juli 2012, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2103-7

Tim Mehigan, Alan Corkhill (Hg.) Raumlektüren Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne Juli 2012, ca. 450 Seiten, kart., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2099-3

Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900 August 2012, ca. 270 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8

April 2012, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1970-6

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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