Umbrüche: Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren 9783666557484, 3525557485, 9783525557488

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Umbrüche: Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren
 9783666557484, 3525557485, 9783525557488

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Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte von Siegfried Hermle und Harry Oelke

Reihe B: Darstellungen Band 47

Vandenhoeck & Ruprecht

Umbrüche Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren Herausgegeben von Siegfried Hermle Claudia Lepp Harry Oelke

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 10: 3-525-55748-5 ISBN 13: 978-3-525-55748-8

© 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Daniela Weiland, Göttingen Druck und Bindung: g Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abstracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Harry Oelke Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Historischer Rahmen und methodische Grundlagen Hugh McLeod European Religion in the 1960s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolf-Dieter Hauschild Evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1961 und 1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dieter Rucht Soziale Bewegungen der 1960er und 70er Jahre in der Bundesrepublik . . .

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Beziehungsfelder 1. Protestantismus, Studentenbewegung und osteuropäische Reformbewegung Angela Hager Westdeutscher Protestantismus und Studentenbewegung . . . . . . . . . . . . . 111 Marc-Dietrich Ohse Ostdeutscher Protestantismus und Prager Frühling . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Protestantismus und Frauenbewegung Helga Kuhlmann Protestantismus, Frauenbewegung und Frauenordination . . . . . . . . . . . . . 147

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Inhalt

Simone Mantei Protestantismus und sexuelle Revolution in Westdeutschland – ein Schlaglicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 3. Protestantismus und „Dritte Welt“-Bewegung Reinhard Frieling Die Aufbrüche von Uppsala 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Roland Spliesgart Theologie und „Dritte Welt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Institutionen und Personen Harald Schroeter-Wittke Der Deutsche Evangelische Kirchentag in den 1960er und 70er Jahren – eine soziale Bewegung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Claudia Lepp Helmut Gollwitzer als Dialogpartner der sozialen Bewegungen . . . . . . . . 226 Norbert Friedrich Helmut Thielicke als Antipode der sozialen Bewegungen . . . . . . . . . . . . . 247 Strukturen und Frömmigkeitsformen Peter Cornehl Dorothee Sölle, das „Politische Nachtgebet“ und die Folgen . . . . . . . . . . . 265 Jan Hermelink Einige Dimensionen der Strukturveränderung der deutschen evangelischen Landeskirchen in den 1960er und 70er Jahren . . . . . . . . . . 285 Peter Bubmann Wandlungen in der kirchlichen Musik in den 1960er und 70er Jahren . . . 303 Siegfried Hermle Die Evangelikalen als Gegenbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Schlussdiskussion mit Tagungsberichten von Hartmut Lehmann und Detlef Pollack (bearbeitet von Tim Lorentzen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

Inhalt

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Festvortrag Wolfgang Huber Demokratie wagen. Der Protestantismus im politischen Wandel 1965–1985 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402

Vorwort

Die 1960er und 70er Jahre gelten unbestritten – zumindest für den westlichen deutschen Teilstaat – als die wirkmächtigste gesellschaftliche Reformphase in der deutschen Geschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Aus christentumsgeschichtlicher Perspektive stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Kirchen sowie der ihnen nah- oder ferner stehenden Milieus innerhalb dieser turbulenten gesellschaftlichen Umbruchsphase. Das Erkenntnisinteresse der Beiträge des hier vorliegenden Bandes ist an den Wechselwirkungen zwischen dem deutschen Protestantismus und den neuen sozialen Bewegungen während dieser zwei dynamischen Jahrzehnte orientiert. Dabei stehen diejenigen Beziehungen im Zentrum, wie sie sich zwischen christlich geprägten Institutionen, Personen und Aktionsformen im deutschen und internationalen Zusammenhang mit den neuen sozialen Bewegungen entwickelt haben. Damit öffnet sich der zeitliche Horizont der Kirchlichen Zeitgeschichtsforschung nach vorn und ein Panorama möglicher zukünftiger Forschungsfelder zeichnet sich erstmals ab. Den in diesem Band vereinigten Beiträgen liegen Referate zugrunde, die im Rahmen der von der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte anlässlich ihres 50jährigen Gründungsjubiläums vom 24. bis 26. Oktober 2005 in der Evangelischen Akademie Tutzing durchgeführten Tagung zum gleichnamigen Thema gehalten wurden. Die Tagung wollte ausdrücklich zukünftige Forschungsfelder abschreiten und war entsprechend strukturiert. Ihr Aufbau hat sich für die publizierte Form als pragmatisch erwiesen und ist weitgehend beibehalten worden. Die Tagung zeichnete sich durch ein hohes Maß an Interdisziplinarität unter den Teilnehmenden aus. Neben der Kirchengeschichte waren nicht nur die Allgemeingeschichte und die Sozialwissenschaften personell präsent, sondern darüber hinaus vereinigte das Thema Vertreterinnen und Vertreter der Praktischen und der Systematischen Theologie, der Konfessionskunde und der Ökumene sowie der Religions- und Kultursoziologie, die neben dem wissenschaftlichen Bereich auch aus dem Kirchen- und Archivbereich kamen, zu einer effektiven Tagungsgemeinschaft. Das hier behandelte Spektrum von Themen erhebt freilich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Der Band möchte einen ersten Impuls für die zeitliche und sachliche Öffnung der Kirchlichen Zeitgeschichte gegenüber der zur Diskussion stehenden Themenstellung geben. Erst auf der Grund-

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Vorwort

lage dieser zu erarbeitenden Forschungsergebnisse wird sich zu einem späteren Zeitpunkt eine sachgemäße und tiefgreifende Beschreibung des Protestantismus mit seinen gegenwärtigen Potentialen und Gefährdungen vornehmen lassen. Wir haben den Mitautoren und Mitautorinnen zu danken, die mit hohem Engagement ihre Beiträge erarbeitet und diese in kooperativer und zügiger Weise geliefert haben. Darüber hinaus danken wir auch den Mitgliedern der wissenschaftlichen Kommission der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte, die das Tagungsprojekt effektiv unterstützt und mitgetragen haben, sowie Stefan Roßteuscher für die Registerarbeiten. Ein besonderer Dank gilt Jens Holger Schjørring für seinen Jubiläumsvortrag über 50 Jahre Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte*. Köln/München im Sommer 2006 Siegfried Hermle, Claudia Lepp und Harry Oelke

* Abdruck in: Mitteilungen der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte 24, 2006, S. 7–27.

Abstracts Hugh McLeod European Religion in the 1960s Die 1960er Jahre waren die Sattelzeit zwischen den christlich geprägten 1940er und 50er Jahren und der zunehmenden Säkularisierung der 1970er Jahren. Das Interesse an den religiösen Fragen war intensiv, aber auch kritisch, und oft konfliktfähig. Sozialer Wandel, theologische Radikalisierung und politische Radikalisierung trugen alle zur Krisenatmosphäre der späten 1960er Jahren bei. Viele Kirchenreformer haben die Kirchen aus Enttäuschung verlassen. In einer Gesellschaft, in der die Freiheit des Individuums ein Hauptwert war, konnte man einen zunehmenden Pluralismus des Glaubens und besonders einen Rückgang der christlichen Sozialisierung der Kinder beobachten. Wolf-Dieter Hauschild Evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1961 und 1979 Comprehensive research on the time between 1961 and 1979 has not been conducted so far; therefore single elements will be presented instead of giving an overall view. The period concerned is of particular importance in West German church history, since it was an “incubation period” for the later change of general mentality in which the “new social movements” played only a marginal and partial role (which means they just influenced marginal groups and subareas). The time span covered here is affected by the relationship between continuity and modernisation in many areas of ecclesiastical work, as the following subjects demonstrate: the specific community (“Besondere Gemeinschaft”) with the protestant churches in the German Democratic Republic, the church congresses (“Kirchentage”), the Leuenberger Konkordie, the ordination of women to ministry, the economical prosperity and the thereby enabled expansion of structures, the conflict with evangelical groups, the political activities of ministers of religion and the memorandums on political and social problems. Dieter Rucht Soziale Bewegungen der 1960er und 70er Jahre in der Bundesrepublik In the second half of the 1960s, the rise of the extra-parliamentary opposition marked a qualitative break in West German history. Although this movement

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initiated a large number of protests, quantitative protest event analysis reveals that it did not mobilize masses of people. While unable to fundamentally change the political institutions, the extra-parliamentary opposition had a deep and lasting impact on political culture in West Germany: the liberalisation of values and social norms; the spread and “normalisation” of protest as a widely tolerated political instrument; inspiration for the subsequent wave of new social movements (NSMs). The movement of the 1960s shared an anti-capitalist revolutionary zeal with the radical branch of the Old Left, but dissociated from the Old Left by means of its leaning towards the new middle class, its focus on quality of living beyond the sphere of labour, as well as its anti-authoritarian style. In this respect, it paved the way for the subsequent NSMs, which from the mid-seventies onward dominated the West German protest sector. Angela Hager Westdeutscher Protestantismus und Studentenbewegung In order to describe the multi-faceted relationship of the two complex entities “West German Protestantism” and “student movement”, the author presents a phenomenologically oriented overview of aspects related to both. She assigns her observations to four possible interrelational zones, named by her (1) indifference and lack of understanding, (2) antipathy, (3) attempts at a synthesis and (4) adaptation. This overview, based on a series of examples, conveys an impression of the scope of different relations between protestantism and the student movement and vice versa. As there is a regrettable lack of detailed analyses of single aspects of this topic, the present time offers, in the author’s opinion, a great opportunity to combine the research of source documents with methods of oral history. Marc-Dietrich Ohse Ostdeutscher Protestantismus und Prager Frühling The paper begins by outlining the general conditions which influenced the perception of the program of a “socialism with a human face” during the Prague Spring by East German protestants. The generational change among theologians and the search for theological concepts which suited the role of a minority church inside an atheistic society, inter alia, led to a basic, critical acceptance of Marxist ideas. The discussion about the concept of a “better form of a fair human living-together” was carried on after (and although) the Prague Spring had been suppressed. These debates fundamentally influenced the self-positioning of the East German churches and of its social mission. But phrases like “Kirche im Sozialismus” (“Church in Socialism”) or “Mitwirkung an einem verbesserlichen

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Sozialismus” (“participation in an improvable socialism”) were suitable only as formulas of coexistence and conflict but not of distance. Helga Kuhlmann Protestantismus, Frauenbewegung und Frauenordination Female theologians within German Protestantism have struggled for female ordination since the 1920s. During the 1960s and the 70s all German protestant churches (Landeskirchen) introduced women’s ordination in a process of giving more rights to women in leading the service and the church. In each Landeskirche this process followed different lines. In the beginning, the Women’s Movement did not take notice of this immense change of 2000 years of Christian tradition. Likewise, for a long time women within the churches did not proclaim this new interpretation of Christian theology reaching at the core of Trinitarian and biblical theology. Up to now neither the institutional change within the German Churches nor the theological debates, the significance of the theological change or the interrelations between women’s lib and the changes in the role of women in the protestant churches have been researched. In addition it would be interesting to compare women’s ordination debates between several confessions and different parts of the world. Simone Mantei Protestantismus und sexuelle Revolution in Westdeutschland – ein Schlaglicht The paper outlines the main aspects of the so-called ‘sexual revolution’ in the Federal Republic of Germany. In this context the author distinguishes the demands of the vanguard of sexual emancipation (free love, abolition of the institution of marriage and of the nuclear family) from those of wider circles of society (sexual education, penal reforms). Furthermore, the paper stresses that sexual emancipation is not to be regarded as a specifically female topic, but that it rather should be seen in its historical context as a political issue concerning society as a whole. As to the Churches’ position in this controversy, the paper argues that the German Protestant Church – other than the Catholic Church – was able to react more openly to the demands for moderate reforms. The author suggests that, amongst other things, this attitude of the Protestant Church helped to turn the revolution into a reform. Reinhard Frieling Die Aufbrüche von Uppsala 1968 From the plenary meeting at Uppsala 1968 onwards, the World Council of Churches (WCC) began – in the context of the the “Theologies of Revolution”

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and “Liberation” – to view the salvific and the secular history as one (“the universal kingship of Christ”) and to develop so-called “Contextual Theologies”. “Sin” and “sinful structures in society” were exposed and were to be confronted. In content this was – in all commisions and programs of the WCC – linked to the method of recognzing the injustices in the world from the viewpoint of the “Poor”, “Underprivileged” and “Oppressed” and to going beyond former common guidelines like “middle Axioms”, “responsible society” and other ordering patterns. Rather, the churches were called to directly engage in social and political struggles in society. The basic problems of oecumenical theology and social ethics become especially apparent in the WCC’s Anti-Racism Program and in the Theologies of Liberation. Roland Spliesgart Theologie und „Dritte Welt“ The term “Third World” is originated in the countries which had formerly been under the control of Western colonial powers and has been used to mobilize social movements since the 1960s. Under theoretical aspects it was supported by the dependency-theory which had been developed in Latin America. First examples of solidarity with the liberation movements in the Third World came up in the context of the student movement in the industrialized countries. The Third World Movement in church circles, which has been strongly supported, continued this activities. Theologically the topic was comprehensively dealt with by the Ecumenical Association of Third World Theologians (EATWOT). Despite initial dialogue between theologians from the West and the South in connection with the efforts for a Political Theology and a Theology of Revolution, Third World Theologies did not receive a nameable reception in the First World, which led to their practical and theoretical isolation. The end of the East-West-Conflict eventually put an end to the use of the Third World terminology. Harald Schroeter-Wittke Der Deutsche Evangelische Kirchentag in den 1960er und 70er Jahren – eine soziale Bewegung? The author investigates if the “Deutsche Evangelische Kirchentag” in the 1960s and 1970s can be interpreted as a social movement. A summary of the WestGerman Kirchentag’s major internal changes indicates that during these years new structures were pursued and developed. In the 1950s the Kirchentag had been a social movement and since the 1980s it has become a new social movement. This development has been successful because structures of participa-

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tion and forms from popular culture were integrated. These are still influential today. Claudia Lepp Helmut Gollwitzer als Dialogpartner der sozialen Bewegungen The author uses four topics to show points of consensus and conflict between Gollwitzer and the social movements. Being both a socialist and a radical democrat himself, the theologian regarded Democracy and Socialism as insufficiently associated in the new Left. Applying strict theological criteria Gollwitzer agreed to taking part in a socialist revolution whereas he denied the legitimacy of the use of revolutionary force in the Federal Republic of Germany. In the discourse on violence within the student movement he voted on moral and strategic grounds against a change from violence against property to violence against people. Pushing the Christian-Jewish dialogue and defending Israel’s right to exist, which he advocated for theological, historic-moral and political reasons, he strongly opposed a left Anti-Zionism. Gollwitzer responded to the “sexual revolution” with the draft of a sexual ethics that offered Christian advice to couples in times of cultural change. Norbert Friedrich Helmut Thielicke als Antipode der sozialen Bewegungen The author describes life and work of the german theologian Helmut Thielicke (1908–1986). Despite of his very extensive theological work, he today is largley forgotten in Germany. His ethical statements, his political views and his critical opinions of the protestant churches made him well known in the time after World War II. The conservative lutheran theologian formed a contrast to the social movements of 1960s’ Germany. He strongly critizes the student movement. As a defender of the oldfashioned universities (Ordinarienuniversität) he compared the revolts of the sixties in church and university with the time of the National Socialists. Peter Cornehl Dorothee Sölle, das „Politische Nachtgebet“ und die Folgen The “Political Night Prayers“ were the most important contribution of the churches to the 1968 Movement. They were disputed from the outset, and therefore found an unusually great public resonance. This paper is a plea to finally examine this matter in a thoroughly scholarly manner. It investigates the initial conflict with the Catholic and Protestant church leaders, as well as the ecumenical character, the liturgical form, and the topics of this worship service. It also

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discusses its rapid spread into West Germany, Holland, and Switzerland, the time limitations, the outer and inner limits of the model and its after-effects. Finally it explores the special significance of Dorothee Sölle for the political worship service, for the renewal of the Christian language of prayer, and her vision of an authentic binding together of prayer and committed involvement. Jan Hermelink Einige Dimensionen der Strukturveränderung der deutschen evangelischen Landeskirchen in den 1960er und 70er Jahren At first sight, the widespread debate on ‘church reform’ in this period did not have much impact on the churches’ organisational structure: It is, until today, dominated by the parish and by the central position of the minister. But seen in more detail, there have – in western and also in eastern Germany – been a lot of structural changes, which are due to the enormous rise in church finances, and which have ambivalent effects until today. As fields for future research, the article names four aspects: regionalisation, which adds specialised church services to the parish’s work; professionalisation, which supports a wide range of nontheological professions in church, but also deeply changes the minister’s postacademic training; democratization, which strengthens the synods and other lay committees; bureaucratization, which allows – through organisational coherence – a high degree of theological difference. All these changes refer to deeply different, even competing ecclesiologies, which in this period led to mainly additive structures, but which must be mediated in a time of organisational reduction. Peter Bubmann Wandlungen in der kirchlichen Musik in den 1960er und 70er Jahren The author reconstructs the history of German Church music in the 20th century as a history of diversification and locates the decisive turning point in the 1960s and 70s. The transformation in this time is interpreted first as a reaction to the challenge of Avandegarde-Music, which led to the “Neue Geistliche Musik”, and of popular music especially from the USA, which led to Christian Popmusic. Secondly it is seen as a conflict between two generations in Germany. The third part is pointing out the place where the discourse occured. This observed transformation of church-music proves the internal diversification of the church. The interpretive predominance of one single style – as provided once by the “Kirchenmusikalische Erneuerungsbewegung” (KE) – is therewith lost. The majority of church-music has adjusted itself to the new situation: for example by integration.

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Siegfried Hermle Die Evangelikalen als Gegenbewegung The term ‘evangelical’ was first used in Germany in the late 1960s in connection with the discussion about a new understanding of mission which was centered on dialogue and propagated by the World Council of Churches. Already in the 1950s, however, “bible believing” Christians rejected a theology which they regarded as too modern and protested against Bultmann’s program of demythologisation. This led – initially in Württemberg, followed by Westfalen and finally nearly in all of the German Landeskirchen – to the foundation of groups which expressed their opposition to the new theology with petitions and open letters to church leaders. The “Bekenntnisbewegung ‘Kein anderes Evangelium’” – founded in 1966 – organized protests and especially rejected the church congresses (“Kirchentage”) which aimed to be an open platform for the diversity of the church so far. From 1967 onwards, its members even called for the boycott of those meetings. In the 70s topics like mission and sexual ethics became new controversial issues. As soon as the protest did not seem to have much impact the conservative groups established their own organisations for journalism, academic education of theology, mission and world wide charity. Wolfgang Huber Demokratie wagen. Der Protestantismus im politischen Wandel 1965–1985 In accordance with Willy Brandt’s famous dictum “Daring more Democracy“ the Evangelical Church in Germany (EKD) has gained a deeply grounded positive relationship to the open society in general and to modern democracy as a form of government in particular. This was not self-evident since German Protestantism had shown in its history during the 20th century a strong affinity to a totalitarian system, namely the Nazi regime. In fact the aim of the EKD was more modest than Brandt’s goal; therefore “Daring Democracy“ would be a sufficient title for it. The EKD “Memorandum on Democracy“ (1985) is an important document illustrating the new relationship between German Protestantism and democracy. It is, however, striking that the strong effort for a sustainable strengthening of democracy was also the most meritorious contribution of the so-called “generation of 68“ to German history. The central message of the 68‘s generation consists of four elements. They pleaded for innovation and reforms, peace and non-violence, democracy as increasing participation in decision making and lastly, veracity concerning one’s own history. These four elements are also central for the teachings and the life of the church and belong to Christian identity not only within the past century but in the whole run of its history.

Harry Oelke

Einleitung

1. Vom „Kirchenkampf“ zur Studentenbewegung der „68er“ Mit der Tagung zum Thema „Protestantismus und soziale Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren“, die vom 24. bis 26. Oktober 2005 in der Evangelischen Akademie Tutzing stattfand, öffnen sich für die Kirchliche Zeitgeschichtsforschung unter zeitlichen und sachlichen Gesichtspunkten neue Horizonte. Dieser Sachverhalt bedeutet für eine Wissenschaftsinstitution, wie sie die Veranstalterin der Tagung, die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte (EvAKiZ) darstellt, dass sich damit auch ein neuer Abschnitt ihrer Forschungsarbeit verbindet. Der Zugang der EvAKiZ zum Tagungsthema gewinnt eine gewisse Plausibiliät im Kontext ihrer eigenen Forschungsgeschichte. Die Tutzinger Tagung war eine Jubiläumstagung, denn exakt 50 Jahre zuvor wurde die EvAKiZ, damals noch unter der Bezeichnung „Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der Nationalsozialistischen Zeit“, vom Rat der EKD, namentlich durch den Präsidenten von deren Kirchenkanzlei Heinz Brunotte und dem Hamburger Kirchenhistoriker Kurt Dietrich Schmidt, gegründet1. Der Initialakt verdankt sich der von der EKD nach 1945 mit Blick auf die nationalsozialistische Zeit wahrgenommenen Verantwortung für die geschichtliche Dimension des eigenen Handelns. Daneben war es ein komplexes Bündel von aktuellen Herausforderungen der westdeutschen Innenpolitik mit einem starken Abgrenzungsdruck gegenüber dem sozialistischen Osten und damit verknüpften geschichts- und theologiepolitischen Interessen2, die damals diesen wissenschaftspolitischen Gründungsakt notwendig erscheinen ließ. Schnell wuchsen der Arbeitsgemeinschaft in ihrer Anfangsphase zwei dezidierte Aufgaben zu: Gesamtkirchlich fungierte sie als Brücke zwischen Mitgliedern der „radikalen“ und „gemäßigten“ Bekennenden Kirche. Gleichzeitig legte man hier durch die Sammlung von Aktenbeständen, den Aufbau einer Bibliothek und die Herausgabe der „Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes“ eine erste, wissenschaftliche Basis für die Erforschung der Zeitspanne, die von 1

Vgl. dazu die historische Skizze in EVANGELISCHE A RBEITSGEMEINSCHAFT FÜR K IRCHLICHE ZEITGEArbeitsgemeinschaft, S. 7–9 und www.kirchliche-zeitgeschichte.info. Vgl. dazu J.-C. K AISER, Wissenschaftspolitik.

SCHICHTE, 2

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hier aus terminologisch, forschungsstrategisch und substantiell als Epoche des „Kirchenkampfes“ geprägt wurde3. Schon bald erweiterte sich der zeitliche Forschungshorizont der Kommission auf die Zeit der Weimarer Republik und die Rolle des Protestantismus in der Nachkriegszeit. Das führte 1971, begleitet von einem Generationswechsel unter den Forschenden, zur Umbenennung der Kommission in „Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte“. Mit diesem neuen Selbstverständnis veränderten sich in den 1970er und 80er Jahren Arbeitsweisen und Fragestellungen der Arbeitsgemeinschaft. Die Aufnahme von Allgemeinhistorikern ermöglichte nicht nur den Anschluss der Kirchlichen Zeitgeschichte an die inhaltlichen und methodischen Diskussionen der modernen Geschichtswissenschaft, sondern bekräftigte auch ihren Anspruch, interdisziplinär die konfessionellen Prägungen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu beleuchten. 1989 legte der damalige Vorsitzende Joachim Mehlhausen ein Forschungsprogramm für die Arbeitsgemeinschaft mit dem Titel „Evangelische Kirche nach 1945“ vor. Der historische Gegenstand der Erinnerungsarbeit der Arbeitsgemeinschaft weitete sich nunmehr in die Nachkriegszeit hinein aus. Das Programm regte eine Debatte über Methode, Auftrag und Arbeitsgebiet der Kirchlichen Zeitgeschichtsforschung an4. Die sich zeitgleich vollziehende Vereinigung der beiden deutschen Staaten bedeutete, dass die Kirche im vormaligen sozialistischen Teilstaat in den Fokus der Arbeitsgemeinschaft rückte. Dabei war es der Arbeitsgemeinschaft wichtig, Erinnerung nicht als „verdoppelte Geschichte“ des Protestantismus in Ost und West nach 1945 zu fokussieren, sondern die kirchliche Doppelstruktur mittels eines komparatistischen Ansatzes am Leitkriterium von Gemeinsamkeit und Differenz zu untersuchen. Im Zusammenhang mit einem allgemeinen forschungsgeschichtlichen Strukturwandel in der Zeitgeschichtsforschung hat inzwischen auch für die Arbeitsgemeinschaft eine neue Phase ihrer Geschichte eingesetzt. Die Zeitzeugen der NS-Zeit und damit für einen wesentlichen Teil der Kirchlichen Zeitgeschichtsforschung stehen aus Altersgründen kaum noch zur Verfügung: Das Ende der Zeitzeugenschaft bedeutet, dass „lebendige Geschichtserfahrung“ allein zu „wissenschaftlicher Geschichtsforschung“ (Reinhart Koselleck) wird. Damit ändern sich für die NS-Zeit die Bedingungen der Kirchlichen Zeitgeschichtsforschung. Die Sperrfristen für Akten in den Archiven verschieben sich weiter nach vor3

Vgl. dazu insbesondere die 30 Bde. der Monographie-Reihe A RBEITEN ZUR GESCHICHTE DES K IRForschungs- und begriffsgeschichtlich aufschlussreich J. MEHLHAUSEN, Nationalsozialismus, S. 43–46. 4 Vgl. dazu in Auswahl J. MEHLHAUSEN, Methode; C. NICOLAISEN, Theologie; J. MEHLHAUSEN, Nationalsozialismus; A. DOERING-MANTEUFFEL /K. NOWAK (Hg.), Kirchliche Zeitgeschichte; W.-D. H AUSCHILD, Konfliktgemeinschaft, S. 15–72.; DERS., Zeitgeschichte.

CHENKAMPFES.

Einleitung

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ne. Bisher verschlossenes Aktenmaterial der 1960er Jahre ist der Forschung zugänglich. Der Vorhang „1945“ ist im historischen Forschungszusammenhang längst aufgezogen5. Die Arbeitsgemeinschaft ist dabei, ihr Forschungsfeld entsprechend den neuen Gegebenheiten anzupassen. Einerseits wird sie ihre traditionellen Forschungsgegenstände weiter im Blick behalten. Gleichzeitig soll sich der Blick für Neues öffnen. Mit der Tagung in Tutzing deutet sich ein zukünftiger Forschungsschwerpunkt konturenhaft an. Inhaltlich geht es um die Frage, wie und in welchem Maße sich Protestantismus und die wechselvolle gesellschaftliche Entwicklung gegenseitig bedingen. Die Frage nach dem Beziehungsgefüge von Protestantismus und Gesellschaft in den 1960er und 70er Jahren als Zeitspanne der Umbrüche bietet den Vorzug einer interdisziplinären Gesprächsmöglichkeit mit der Allgemeingeschichte, die sich diesem Thema ebenfalls mit Interesse zugewendet hat6. Der Themenkomplex bietet zudem jungen Nachwuchswissenschaftlern/ innen ein breites unbearbeitetes Potential zu erschließender Quellen und die Chance, die entstehende Forschungslandschaft mitzugestalten. Die Position der Kirchlichen Zeitgeschichte an den Theologischen Fakultäten könnte auf diese Weise gestärkt werden.

2. Evangelisches Christentum und Reform Die 1960er und 70er Jahre bedeuteten für die Geschichte zumindest des westlichen deutschen Teilstaats die wirkungsvollste Reformepoche seit dem Zweiten Weltkrieg. Es gehörte mit zu den vorrangigen Zielen der Tagung in Tutzing, die Rückwirkung der innovativen neuen sozialen Bewegungen dieser Zeitspanne auf die evangelische Kirche und die zu ihr in einer Nah- oder Fernbeziehung stehenden Milieus zu untersuchen und zu beschreiben. Die in den gesellschaftlichen Aufbrüchen manifest werdenden neuen sozialen Bewegungen stellten für die Kirchen eine massive Herausforderung dar. Da sozialen Bewegungen ein Ausgreifen in den gesellschaftlichen Raum immanent ist, kann kein gesellschaftliches Subsystem sich von ihrem programmatischen Anspruch, der immer auch die Identität anderer gesellschaftlicher Gruppierungen berührt, gänzlich freihalten. Die evangelische Kirche musste sich zu 5 Vgl. dazu den Forschungsbericht von S. HERMLE, Tendenzen; eine vergleichsweise frühe Perspektive für den Zeitraum nach 1945 entwickelten V. CONZEMIUS /M. GRESCHAT/H. KOCHER (Hg.), Zeit. 6 Die hohe interdisziplinäre Anschlussfähigkeit des Themas erweist sich vorbildlich in der neu eingerichteten interdisziplinären Forschergruppe an der Universität Bochum zum Thema „Transformationen von Religion in der Moderne“.

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ihnen verhalten, zumal wenn diese sich auf christliches Gedankengut beriefen oder sich von diesem herleiteten. Insbesondere galt dies im Hinblick auf den Reformanspruch der sozialen Bewegungen. Damit stand der Protestantismus in der ganzen Breite seiner kirchlichen und gesellschaftlichen Präsenz vor der akuten Herausforderung, analoge Reformprozesse einzuleiten – oder abzuwehren. Reformaufbrüche hat es in der Geschichte des evangelisch geprägten Christentums immer wieder gegeben. Die evangelische Kirche ist selbst einem der größten Reformaufbrüche der Kirchengeschichte geschuldet, in der Folgezeit ist ihre Geschichte immer wieder von Reformprozessen gekennzeichnet. Erst im stetigen Wechselspiel der Konstituierung tragfähiger theologischer Lehrbestände und effizienter kirchlicher Strukturen einerseits sowie des fortwährenden Abschmelzens unzeitgemäßer Theologumena sowie sich als untauglich erweisender kirchlicher Organisationsformen vollzieht sich im engeren Sinne das wechselvolle prozessuale kirchengeschichtliche Geschehen. Ein gewisses Maß an innerer und äußerer Anpassungsfähigkeit gewährleistet einer Institution, wie sie die beiden Großkirchen in ihrer jeweils gegebenen konfessionellen Spezifität darstellen, ein langfristiges Bestehen. Ein Blick in die Geschichte evangelisch bestimmter Reformaufbrüche kann den Blick für basale Strukturelemente einer protestantischen Kirchenreform womöglich schärfen. Blickt man einmal zurück, dann wäre neben dem grundlegenden kirchenbildenden Reformationsprozess des 16. Jahrhunderts auf die großen Reformaufbrüche des Protestantismus zu verweisen, wie sie sich mit dem Pietismus des 17. Jahrhunderts und mit den innovativen Zügen der Erweckungsbewegung des 18./19. Jahrhunderts verbinden. Angesichts der Herausforderung, die die 1960er und 70er Jahre als grundlegende Reformepoche der deutschen Nachkriegsgeschichte für die Kirchliche Zeitgeschichte darstellen, mag es hilfreich sein, nach gemeinsamen Konstituenten dieser kirchlichen – oder im Falle der Erweckungsbewegung zunächst gesamtchristlichen – Reformbewegung Ausschau zu halten. Gibt es konstitutive, epochenübergreifende Elemente für Reformen im Bereich der evangelischen Kirche und des protestantischen Christentums? Zumindest drei Elemente kennzeichnen scheinbar alle genannten Reformprozesse: (1) Bibel Maßgeblich für Luthers Reformationsansinnen war die Bibel, die als „Heilige Schrift“ autoritative Größe und Richtschnur der Reformation wurde. Mit dem ausschließlichen Rückgriff auf die Bibel (sola scriptura) wurden konkurrierende Autoritäten (Papst und Tradition) ausgegrenzt und der Reformation eine unabhängige Legitimationsbasis für kirchenerneuerndes Verhalten verschafft. Anderthalb Jahrhunderte später hat Philipp Jakob Spener in seiner für den Pietis-

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mus grundlegenden Programmschrift, den Pia Desideria7, ebenfalls explizit auf die Macht der Bibel gesetzt. Der direkte Zugriff auf das Wort Gottes gab dieser jungen Sammlungsbewegung der Frommen die Stärke, sich gegenüber den Vertretern der orthodoxen Theologie und dessen Kirchenregiment zu behaupten. Die aus dem Selbststudium der Bibel gewonnenen ethischen Handlungsmaximen für die praxis pietatis vermittelten der Bewegung ihr unverwechselbares Profil. Die nachaufklärerische europäische Erweckungsbewegung hat diesen Zusammenhang von Bibel und Ethik weiter systematisiert und verstärkt. Alle drei Reformaufbrüche beziehen Ihre Durchsetzungsfähigkeit und Dynamik für ihre kirchen- und frömmigkeitsprägende Wirkung aus einem elementaren Bibelbezug. (2) Allgemeines Priestertum Ein zweites signifikantes Merkmal der drei Reformaufbrüche ist die exponierte Bedeutung, die darin jeweils den Laien beigemessen wird. Die junge Reformation hatte sich einen Weg jenseits der kirchenamtlichen römischen Hierarchie als legitimierende und reformtragende Instanz der angestrebten theologischen Innovationen zu suchen. Luther setzte früh auf die Laien und machte in dieser Phase, wie etwa in der ‚Adelsschrift‘ von 1520 vorgeführt, das sog. Allgemeine Priestertum aller Gläubigen stark8. In diesen Zusammenhang gehörte der Gebrauch der deutschen Sprache, die eine emanzipatorische Wirkung auf die Gemeinde hatte, indem erstmals eine umfassende Kommunikation über kirchliche und theologische Inhalte auch für nichttheologische Zeitgenossen ermöglicht wurde. Die reformatorische Bewegung hatte eine schichten- und ständeübergreifende Wirkung, soziale Barrieren nivellierten sich im Dienste des neuen gemeinsamen Anliegens. Der Pietismus war seinerseits eine Bewegung, die erneut ganz auf die Bedeutung der Laien setzte. Es waren die laikalen Kräfte, die dem theologischen und kirchlichen Establishment der altlutherischen Orthodoxie die Stirn boten und deren Einfluss zurückdrängten. In dem spenerschen Konventikel der Frankfurter Saalhofpietisten wurde – maßgeblich getragen von Laien – eine deutschsprachige Frömmigkeitskultur unter Umgehung der traditionellen kirchlichen Autoritäten generiert. Bezeichnenderweise gab der Pietismus auch gerade den Frauen die Möglichkeit, in Gestalt markanter Persönlichkeiten reformerischen Einfluss auszuüben9. Seit der Zeit der Mystikerinnen im hohen Mittelsalter hatte es größeren Gestaltungsraum für Frauen in der Kirchengeschichte nicht gegeben. 7

P. J. SPENER, Pia Desideria. M. LUTHER, Adel. 9 M. H. JUNG, Frauen. 8

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Auch im Zentrum der Erweckungsbewegung stehen die Laien. Stärker noch als im kirchlichen Pietismus eines Spener werden sie zunächst als individuelle Fromme adressiert, das Kriterium der Kirchenzugehörigkeit rückt, erleichtert durch neue Organisationsformen im Bereich der Frömmigkeitskultur, in den Hintergrund. Die Erweckungsbewegung zeugt davon, dass grundlegende Reformprozesse in der Kirchengeschichte im Stand der unprofessionellen Theologinnen und Theologen stets eine notwendige und gleichermaßen verlässliche Basis hatten. (3) Mediale Ausdrucksformen Kennzeichnend für die evangelischen Reformaufbrüche scheint auch jeweils der konsequente Rückgriff auf zeitgemäße Medien zu sein. Dass Luthers Reformation in Gutenbergs beweglichen Drucklettern eine unabdingbare Voraussetzung hatte, ist weithin bekannt. Der massenhaft verbreitete Druck von Reformschriften ermöglichte erst das Zustandekommen einer „reformatorischen Öffentlichkeit“ in ihrer spezifischen, ständeübergreifenden Form. Dazu gab es nun erstmals so etwas wie eine Lesergemeinde, die sich translokal, d. h. überall dort, wo die Schriften der Reformation gelesen wurden, konstituieren konnte; es war die Geburtsstunde der Lesergemeinde als ortsunabhängiger „Überzeugungsgemeinschaft“. Auch für den Pietismus war das gedruckte Wort elementar, signifikanter scheint indes für die pietistische Reformbewegung noch die Versammlung der Frommen. Speners Idee von der ecclesiola in ecclesia, der frommen Kerngemeinde im Gesamtgemeindeverband, markiert die bezeichnende Ausdrucksform dieser Reformbewegung. Beides, der Erfolg des Pietismus als Reformbewegung, aber auch der sie häufig begleitende obrigkeitliche Verdacht einer konspirativen Vereinigung sind wesentlich von diesem Medium der laikalen Versammlung bedingt. Die dem Räsonnieren dienenden halböffentlichen Diskurszirkel der Aufklärung mögen hier Pate gestanden haben. Die deutsche Sprache, die laikale Verständigung über theologische Inhalte, eine individuelle Frömmigkeitspraxis sowie die Aufwertung des zeitlichen und örtlichen Raumes außerhalb des Gottesdienstes manifestieren sich in dem hohen Stellenwert der Versammlungen, wie sie Spener bereits im ersten Reformpostulat in den Pia Desideria festgeschrieben hat10. Schließlich hat die Erweckungsbewegung ihre spezifische Ausdrucksform in den internationalen Verbindungen gefunden. Bereits Zinzendorf hatte als Pietist wesentliche Impulse für sein spezifisches Wirken aus seinen internationalen Kontakten gezogen. Im Kontext der Erweckungsbewegung verdichteten sich Kontakte zwischen den „Stillen im Lande“ zu einer europäischen, unter Ein10

Vgl. J. P. SPENER, Pia Desideria, S. 53.

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schluss Nord- und ansatzweise Südamerikas sogar zur globalen unsichtbaren Gemeinde der Erweckten. Der Bezug auf die Bibel, die Laien und der Einsatz neuer medialer Ausdruckformen sind drei verlässliche Konstituenten, die großen Reformbewegungen der evangelischen Christentumsgeschichte kennzeichnen. Angesichts der großen Reformdynamik, die die 1960er und 70er Jahre kennzeichnete, stellt sich die Frage, welche Relevanz den drei genannten Konstituenten einer evangelischen Reform in diesem Geschehen zukommt. Erhält die Bibel in den produktiven Auseinandersetzungen mit dem programmatischen Gehalt der sozialen Bewegungen erneut eine Relevanz als legitimierende Instanz für eine Reform der Kirche und anderen christlichen Organisationsformen? Welche Rolle spielt der Gedanke vom Allgemeinen Priestertum aller Gläubigen für die komplexen Entwicklungen, die sich mit dem Schlagwort von der Demokratisierung der Kirche beschreiben lassen? Und inwiefern finden die medialen Ausdrucksformen der gesellschaftlichen Reformbewegungen (Flugblätter, sit-ins, Musik etc.) dieser Zeit in assimilierter Form Eingang in den kirchlichen Reformprozess? Antworten auf diese Fragen ermöglichen es, das spezifische Profil kirchlicher Erneuerung innerhalb der gesellschaftlichen Reformprozesse näher zu bestimmen. Auch dürfte sich das Wechselverhältnis zwischen Protestantismus und Gesellschaft, wie es sich in dem Beziehungsgefüge zwischen den sozialen Bewegungen dieser Zeitspanne einerseits und den Entwicklungen im protestantischen kirchlichen Binnenraum und assoziierten Milieus andererseits manifestiert, anhand dieser drei strukturellen evangelischen Reformelemente veranschaulichen lassen.

3. Das Tagungsprojekt 3.1 Zur Entstehung im Forschungszusammenhang der EvAKiZ Zwei Forschungsschwerpunkte haben die Forschungsdynamik der Arbeitsgemeinschaft seit ihrer Gründung maßgeblich bestimmt. Für die frühe Phase war, wie eingangs beschrieben, das Kirchenkampfparadigma erkenntnisleitend. Nach der deutschen Wiedervereinigung rückte der Protestantismus im Osten Deutschlands in das Zentrum des Interesses. Damit öffnete sich die Forschungsperspektive allgemein für die deutsche Nachkriegsentwicklung. Fragen nach der je eigenen Entwicklung, nach kirchengeschichtlichen Gemeinsamkeiten und den Gründen für diese deutsche Zweistaatlichkeit, in der der evangelischen Kirche gewissermaßen als „Klammer“ (Lepp) eine besondere Bedeutung zufiel11, 11

Vgl. C. LEPP, Kirche, bes. S. 67; und noch detaillierter DIES., Tabu.

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bestimmten das Forschungsgeschehen. Zeitgleich mit der von der EvAKiZ stimulierten Methoden- und Sachdiskussion über das Selbstverständnis der Kirchlichen Zeitgeschichte öffnete sich für die EvAKiZ der zeitliche Horizont ihres Arbeitsfeldes. Die mit der Tagung fokussierte Problemstellung setzt den eingeschlagenen Kurs in die Zeit nach 1945 konsequent fort. Die beschriebenen Forschungsschwerpunkte der EvAKiZ markieren zu weiten Teilen die Forschungssituation der Kirchlichen Zeitgeschichtsforschung insgesamt, die sich seit geraumer Zeit der Phase der deutschen Zweistaatlichkeit zuwendet. Aus der Feder Martin Greschats liegt längst eine erste geschlossene Darstellung zur deutschen Nachkriegsgeschichte des Christentums (bis 1949) vor12, die erste Gesamtdarstellung zur Christentumsgeschichte über dieses Datum hinaus steht, davon ist sicher auszugehen, bevor. Die Tendenz in der Kirchlichen Zeitgeschichtsforschung ist evident: die Öffnung des zeitlichen Horizonts über die Zäsuren von 1945 und jetzt auch 1949 hinaus. 3.2 Zur Relevanz der Themenstellung Die Bedeutung der Themenstellung dieser Tagung für die Kirchliche Zeitgeschichte im einzelnen ergibt sich aus folgenden forschungspragmatischen Gesichtspunkten, die dem Thema Gewicht verleihen können: (1) Zunächst verspricht die Frage nach den Rückwirkungen der sozialen Bewegungen auf den Protestantismus einiges an Aufschluss über die aktuelle Beschaffenheit des Gegenwartsprotestantismus. In welcher Weise öffnen sich protestantische Milieus, in welchem Maß auch die institutionelle Kirche der Programmatik sozialer Bewegungen? Kommt es zu einer Rezeption der sozialen Bewegungen und ihrer Programmatik im Bereich der wissenschaftlichen Theologie? Stärken die sozialen Bewegungen womöglich die Tendenz zu einer Entkirchlichung der Gesellschaft? Zu fragen wäre nach dem Einfluss sozialer Bewegungen auf das sukzessive Nachlassen der gesellschaftlichen Bindungskraft beider Großkirchen, wobei die evangelische in dieser Hinsicht nachweislich stärker betroffen ist als die katholische Kirche. Hypothetisch wäre die Annahme zu formulieren, dass das Interesse an der Institution Kirche für diejenigen Kirchenmitglieder nachlässt, die sich als Teil sozialer Bewegungen begreifen und ihre darin verankerten Ziele im Leben der Kirche nicht angemessen repräsentiert finden. (2) Andersherum ist aus kirchengeschichtlicher Sicht auch die Frage von hohem Interesse, welchen Einfluss der Protestantismus seinerseits auf die großen sozialen Bewegungen der 1960er und 70er Jahre ausübt. Fließt christliches 12

M. GRESCHAT, Christenheit.

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Ideengut in die aufbrechenden sozialen Bewegungen ein? Leisten protestantische Milieus personell oder programmatisch einen die sozialen Bewegungen dynamisierenden Beitrag? Welche historischen, theologischen, politischen oder gesellschaftlichen Gründe lassen sich für diese Affinitäten geltend machen? Und dann auch: Welche sozialen Bewegungen entfalten keinen großen Reiz für protestantische Milieus, und warum tun sie dies nicht? (3) Das Thema ermöglicht einen aussagekräftigen Vergleich der evangelischen Kirche im Osten und im Westen Deutschlands. Das von der EvAKiZ vormals kultivierte komparatistische Vorgehen scheint auch hier ein adäquates methodisches Verfahren zu sein. Zu fragen wäre also vor dem Hintergrund der unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Kontextualisierung von Ost- und Westkirche nach Gemeinsamkeiten und Differenzen im Hinblick auf das Verhältnis zu den sozialen Bewegungen. (4) Die Themenstellung ermöglicht die Kooperation zwischen einzelnen theologischen Disziplinen. Hier ist zunächst an die Praktische Theologie zu denken, deren genuines Erkenntnisinteresse sich in vielen thematischen Aspekten mit dem auf der Tagung entworfenen thematischen Profil decken dürfte. Sodann scheint insbesondere die eingeforderte Zusammenarbeit der Kirchlichen Zeitgeschichte und der Theologiegeschichte13 eine aussichtsreiche Perspektive abzugeben. In diesem Zusammenhang wäre von Interesse, einmal den Zusammenhang von sozialen Bewegungen und theologischen Schulbildungen zu untersuchen. Welche Bedeutung kommt der Barth-Rezeption im Untersuchungszeitraum zu, welche Interpretationen der sog. Zwei-Reiche-Lehre Luthers bestimmt das staatsethische Denken zu Zeiten der außerparlamentarischen Opposition? (5) Darüber hinaus bietet die Themenstellung mit dem Fokus auf die großen gesellschaftlichen Umbrüche der 1960er und 70er Jahre eine hohe interdisziplinäre Anschlussfähigkeit, die die immer wieder postulierte Kooperation mit der Allgemeingeschichte in vorbildlicher Weise ermöglichen würde. Auch die konstruktive Zusammenarbeit mit Teilen der religionssoziologischen Forschung, insbesondere wenn es um Fragen der Transformation traditionell kirchlich gebundener Religiosität in neue soziologische Aggregatzustände des Religiösen geht, scheint verheißungsvoll14. (6) Die mit der Studentenbewegung einsetzenden sozialen Bewegungen und gesellschaftlichen Umbrüche sind ein europäisches, eingedenk der Verhältnisse in den Vereinigten Staaten von Amerika sogar ein globales Ereignis. Das Thema bietet die exzellente Möglichkeit, einen zeithistorischen Prozess über die je eige13 Besonders herausgestellt W.-D. H AUSCHILD, Konfliktgemeinschaft, S. 44; und schichte, S. 560. 14 Vgl. dazu wie oben Anm. 6.

DERS.,

Zeitge-

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nen, nationalen Entwicklungstendenzen hinweg in verschiedenen Teilen Europas, ja der Welt vergleichend in Beziehung zu setzen. Zu fragen wäre also hier auch nach der Bedeutung und Funktion von Religion im Kontext dieses europäischen Prozesses in den 1960er und 70er Jahren. Gibt es auch Rückwirkungen auf die gesellschaftliche Bedeutung der Religion in Europa und in den USA? Dieser im Hinblick auf zukünftige Forschungen verheißungsvolle Prospekt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich damit auch methodische Risiken und Gefahren verbinden können. Auf zwei sei hier hingewiesen: (1) Der zeitgeschichtliche Fokus auf die bewegten 1960er und 70er Jahre darf nicht die Historizität der neuen sozialen Bewegungen vergessen machen. Für alle sozialen Bewegungen, wie etwa für die Frauen-, Ökologie-, Friedens- oder „Dritte-Welt“-Bewegung gilt, dass sie historische Wurzeln haben, die weit ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Diese Historizität der sozialen Bewegungen hat komplexe kirchen- und theologiegeschichtliche Implikationen. Insofern wird man sich vor einer historischen Entwurzelung der sozialen Bewegung zu hüten haben. (2) Der Themenstellung kann etwas Reduktionistisches anhaften, wenn sie dazu verleitet, den historischen Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Subsystemen der sozialen Bewegungen und dem der evangelischen Kirche (im weitesten Sinn) in eindimensionaler Weise zum Untersuchungsgegenstand zu erheben. Bei allem Erkenntnisgewinn für den protestantisch bestimmten Gesellschaftszusammenhang kann dieser Untersuchungsperspektive eine gewisse soziale Engführung anhaften, die der gesellschaftlichen Komplexität nicht gerecht zu werden vermag. Forschungen zur modernen Christentumsgeschichte, zumal wenn sie sich auf die hochdifferenzierten Gesellschaftszusammenhänge der deutschen Geschichte nach 1945 beziehen, dürfen daher einen übergeordneten, allgemeingeschichtlichen Referenzrahmen nicht aus den Augen verlieren. 3.3 Zur Anlage der Tagung Die Anlage des vorliegenden Tagungsbandes entspricht derjenigen, wie sie für die Tutzinger Tagung maßgeblich gewesen ist. Mit der Tagung verband sich das vorrangige Interesse, die Anschlußfähigkeit des gewählten Themas an den Forschungszusammenhang der Kirchlichen Zeitgeschichte aufzuzeigen. Eine erste Sichtung des Forschungsfeldes wurde vorgenommen und die Themenstellung in ihrer Breite ausgelotet; ein weites Panorama zukünftiger Forschungsmöglichkeiten aus der Perspektive kirchlicher Zeitgeschichte wurde aufgezeigt. Für die Struktur der Tagung bedeutete dies: die Aspektvielfalt des Themas auszuleuchten und dabei immer wieder retardierende Momente der Reflexion zu

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ermöglichen. Zu diesem Zweck ist eine dreigliedrige Struktur gewählt worden. In einer ersten Sektion werden der „Historische Rahmen und die methodischen Grundlagen“ hinsichtlich der Religion, der evangelischen Kirche und der Theologie sowie die sozialen Bewegungen selbst forschungsgeschichtlich vermessen und inhaltlich ausgelotet. Auch terminologische Grundlegungen werden, wie im Falle der „sozialen Bewegungen“, in diesem Abschnitt geleistet. Damit ist ein Fundament gelegt, auf dem sich die Sektionsarbeit der Tagung – zunächst unter der Überschrift „Beziehungsfelder“ – entfalten konnte. Der Protestantismus findet sich hier zu sozialen Größen in Beziehung gesetzt, die für den kirchlichen Untersuchungsbereich besonders aussagekräftig erscheinen: die Studentenbewegung und die Reformbewegung in der ČSSR 1968, die Frauenbewegung sowie die „Dritte-Welt“-Bewegung. Eine zweite Sektion wendet sich „Institutionen und Personen“ zu. Dabei wird einmal die exponierte Funktion des Deutschen Evangelischen Kirchentags untersucht. Die personelle Perspektive mag von der bipolaren Spannung, wie sie sich im Sympathisanten der sozialen Bewegungen Helmut Gollwitzer einerseits und dem ihnen distanziert gegenüberstehenden Helmut Thielicke manifestiert, einen gewissen Reiz und Erkenntnisgewinn erhalten. Eine dritte Sektion ist dem Themenfeld „Strukturen und Frömmigkeitsformen“ gewidmet. Hier werden so unterschiedliche Aspekte wie die durch Dorothee Sölle maßgeblich mitbestimmte Frömmigkeitsform des Politischen Nachtgebets, landeskirchliche Strukturwandlungen, wie sie sich unter dem Einfluss der gesellschaftlichen Dynamik jener Zeit einstellten, sowie Wandlungsprozesse im Bereich der Kirchenmusik einer Untersuchung unterzogen. Schließlich markiert der Beitrag über die sich zeitgleich konstituierende Gruppe der Evangelikalen, die als Gegenbewegung der sozialen Bewegungen verstanden werden, einen aufreizenden Schlussbeitrag, der durch seine inhaltlich konträre Ausrichtung die vorausgehend behandelten Themen noch einmal profilierter ins Bild setzen kann. Um die einzelnen Beiträge möglichst vergleichbar zu gestalten sind die Autorinnen und Autoren vor der Abfassung der Texte um eine Berücksichtigung folgender übergeordneter Aspekte bei der Gestaltung ihrer Stoffpräsentation gebeten worden: (1) Geschichte des jeweiligen Problemaspekts, (2) Internationalität des Problems, (3) Ost-West(deutschland)-Perspektive, (4) Katholische Kirche, (5) Forschungsperspektiven. Nicht für alle Beiträge waren diese Problemaspekte in gleicher Intensität zu berücksichtigen. Dennoch gibt die Lektüre der Beiträge zu erkennen, dass die Vor-

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gabe gemeinsamer Fragehorizonte die thematisch pluralen Beiträge inhaltlich vergleichbarer ausfallen lässt. Die aspektreich angelegte Sektionsarbeit machte zudem eine finale Bündelung der Themenstellung erforderlich. Zu diesem Zweck konnten mit Detlef Pollack (Frankfurt/O.) und Hartmut Lehmann (Göttingen) zwei ausgewiesene Experten gewonnen werden, denen auf der Tagung die Funktion des Beobachters zufiel. Ihre Eindrücke vom Tagungsverlauf formulierten sie zu Eingang der Schlussdiskussion, der in diesem Zusammenhang eine exponierte Bedeutung zukam. Der Tagung unmittelbar voraus ging ein Festakt, der einen Vortrag des Ratsvorsitzenden der EKD, Wolfgang Huber, im Zentrum hatte. Der sich verändernde Protestantismus dieser Jahre wird hier im Zeichen einer zunehmenden Politisierung, die als Demokratisierung beschrieben wird, abgebildet. Möglicherweise wird mit den Leitbegriffen Politisierung und Demokratisierung die nachhaltigste und bedeutsamste Veränderung des Protestantismus unter dem Einfluss der gesellschaftlichen Dynamik jener Jahre greifbar.

4. Aussicht Es ist das zweifellos ehrgeizige Anliegen der Tagung und des hier vorliegenden Bandes, einen neuen Impuls in die einschlägige Forschungsdebatte zu tragen. Die Veranstalter waren sich der Tatsache bewusst, mit dieser dichten Programmfolge und der thematischen Breite, die von allen Beteiligten eine große Disziplin schon allein in zeitlicher Hinsicht erforderlich machte, den Terminus der „Arbeitstagung“ sehr ernst genommen zu haben und den Referenten und den Diskutanten viel abzuverlangen. Dass die Tagung im Bewusstsein der Teilnehmenden im Sinne der beschriebenen Intentionen einen erfolgreichen Verlauf nahm, ist der in gleicher Weise engagierten wie professionellen Mitarbeit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer geschuldet. Es bleibt zu hoffen, dass die konstruktive Arbeitsatmosphäre der Tutzinger Tagung sich in dem vorliegenden Band reflektieren kann. Wenn die in den Beiträgen und im Rahmen der Schlussdiskussion aufgezeigten methodologischen und inhaltlichen Forschungshorizonte zukünftig eine forschungspragmatische Konkretisierung finden würden, wäre viel gewonnen. Die aktuelle Verfasstheit und Präsentation der evangelischen Kirche und ihrer protestantisch gefärbten kirchlichen und sie umgebenden gesellschaftlichen Milieus mit ihren Potentialen, aber auch komplexen Problemen wird sich nur dann hinreichend verstehen lassen, wenn insbesondere die auch durch die sozialen Bewegungen angestoßenen Transformationsprozesse traditioneller

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Kirchlichkeit in den gesellschaftlichen Umbrüchen der 1960er und 70er Jahre angemessen transparent gemacht werden. Literaturverzeichnis A RBEITEN ZUR GESCHICHTE DES K IRCHENKAMPFES (AGK). Bde. 1–21 hg. von Karl-Dietrich Schmidt. Göttingen 1958–1968. Bde. 22–29 hg. von Heinz Brunotte und Ernst Wolf. Göttingen 1928–1972. Bd. 30 (Register), Göttingen 1984. CONZEMIUS, Victor/GRESCHAT, Martin/KOCHER, Hermann (Hg.): Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte. Referate der internationalen Tagung in Hüningen/ Bern (Schweiz) 1985. Göttingen 1985. DOERING-M ANTEUFFEL, Anselm/NOWAK, Kurt (Hg.): Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden (KoGe. 8). Stuttgart/Berlin/Köln 1996. EVANGELISCHE A RBEITSGEMEINSCHAFT FÜR K IRCHLICHE ZEITGESCHICHTE (Hg.): Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Geschichte – Aufgaben – Perspektiven. München 2005 [Selbstverlag]. GRESCHAT, Martin: Die evangelische Christenheit und die Geschichte nach 1945. Weichenstellungen in der Nachkriegszeit. Stuttgart 2003. HAUSCHILD, Wolf-Dieter: Konfliktgemeinschaft Kirche. Aufsätze zur Geschichte der Evangelischen Kirche in Deutschland (AKIZ. B 40). Göttingen 2004. –, Art. Zeitgeschichte, kirchliche. In: Theologische Realenzyklopädie 36, 2004, S. 554–561. HERMLE, Siegfried: Tendenzen Kirchlicher Zeitgeschichte. In: Verkündigung und Forschung 50, 2005, S. 69–88. JUNG, Martin H.: Frauen des Pietismus. Gütersloh 1998. K AISER, Jochen-Christoph: Wissenschaftspolitik in der Kirche. Zur Entstehung der „Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit“. In: A. DOERING-M ANTEUFFEL/K. NOWAK (Hg.), Kirchliche Zeitgeschichte, S. 125–163. LEPP, Claudia: Die evangelische Kirche als „Klammer“ im geteilten Deutschland. Rollenerwartung und Rollenwandel 1948 bis 1969. In: Mehlhausen, Joachim/Siegele-Wenschkewitz, Leonore (Hg.): Zwei Staaten – zwei Kirchen? Evangelische Kirche im geteilten Deutschland. Ergebnisse und Tendenzen der Forschung. Leipzig 2000, S. 66–84. –, Tabu der Einheit? Die Ost-West-Gemeinschaft der evangelischen Christen und die deutsche Teilung (1945–1969) (AKiZ. B 42). Göttingen 2005. LUTHER, Martin: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung. In: WA 6, S. 404–469. MEHLHAUSEN, Joachim: Zur Methode kirchlicher Zeitgeschichtsforschung. In: Evangelische Theologie 48, 1988, S. 508–521. –, Art. Nationalsozialismus und Kirchen. In: Theologische Realenzyklopädie 24, 1994, S. 43–78. NICOLAISEN, Carsten: Zwischen Theologie und Geschichte. Zur „kirchlichen Zeitgeschichte“ heute. In: Der Evangelische Erzieher 42, 1990, S. 410–419. SPENER, Philipp Jakob: Pia Desideria (Kl. Texte f. Vorlesungen und Übungen. 170). 3. durchges. Aufl. Berlin 1964.

Historischer Rahmen und methodische Grundlagen

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European Religion in the 1960s

In many parts of western Europe, the generation coming to maturity in the 1960s was the last in which the great majority had received a Christian upbringing. In eastern Europe (outside the Soviet Union) it was the first to have no memory of pre-Communist times. Here I will concentrate mainly on western Europe, where a growing body of historical literature has focused on this decade. In the general historical literature religious changes are often mentioned briefly – usually with an emphasis on rapid secularisation1. However, there are also a number of more specialised studies of the religious history of the decade. The writers generally agree that the 1960s were a period of decisive change. But they differ widely in their approach and their conclusions. For instance one can distinguish between narrative accounts, sociological accounts, works of social and economic history, and works of cultural history. The narrative accounts, of which the histories of French religion by Cholvy and Hilaire2 and by Pelletier3 would be a good example, focus on movements, personalities and dramatic events – and the 1960s provided these in abundance. Here Vatican II and ‘1968’ are at the centre of the story, and the battles between radicals, conservatives and moderates are recorded, blow by blow, while bishops, theologians and grass-root activists receive their measure of praise or blame for the achievements and failures of these years. For Cholvy and Hilaire the 1960s were on balance a tragedy, and so it is the failures of leadership and the halfbaked experiments that predominate in their account. The accounts in terms of social and economic history lay more stress on changes in social structure and living standards, and less on the role of church leaders or other personalities. Here the classic example would be Yves Lambert’s study of the Breton village of Limerzel which, as far as I know, is unique in its vivid and highly detailed analysis of religious change in a small community between about 1900 and 1980. Potentially this is the most revealing of all the approaches. Lambert is in fact a

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For example E. HOBSBAWM, Age of Extremes, p. 337, devotes a paragraph to the churches, stating that they ‘collapsed dramatically’ in the last third of the century. 2 G. CHOLVY/Y.-M. HILAIRE, Histoire religieuse. 3 D. PELLETIER, La crise catholique.

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sociologist, but in this book his approach is closer to that of the historian4. Those accounts that I have termed sociological include the many writings on the theme of secularisation by the Belgian sociologist Karel Dobbelaere as well as the work on German Catholicism by Benjamin Ziemann5. Here the emphasis is again on social and economic factors, as well as, in Ziemann’s case, on intellectual developments, but more weight is given to theory. Dobbelaere is in the tradition of Max Weber, and is also strongly influenced by the British sociologist Bryan Wilson. In Ziemann’s case the key influence is Niklas Luhmann. Among the cultural historians I would place Callum Brown and Peter van Rooden6, both of whom have focused on changes in individual self-understanding. In Brown’s case, this means especially changes in feminine identity. In his widely read and hotly debated book, The Death of Christian Britain, Brown argues that women had been the linch-pin of British Christianity in the period 1800–1960, and that a massive withdrawal of women from active involvement in their church during the 1960s led to a collapse of the nation’s religious structure7. If the approaches of these writers differ radically, they also reach very different conclusions. Brown, as the title of his book suggests, is the most emphatic in arguing that the 1960s led to a radically secularised society. In another influential book, Paul Heelas and Linda Woodhead claim that the long-term legacy of the 1960s is not a secular society, but a world in which “spirituality”’ is gradually taking the place of “religion”8. Prophecy is a field where the wish is often father to the thought, and one cannot help feeling that Brown is shedding few tears for the “death” of Christian Britain, whereas Heelas and Woodhead are positively enthused by the predicted triumph of “spirituality”. Meanwhile the liberal Catholic historian, Adrian Hastings, tended to take a positive view of the religious drama of the Sixties: Christianity may have lost ground in the shortterm, but in the longer term it would benefit from the massive shake-up which these years inflicted9. A fourth view was that the 1960s brought about a highly pluralistic society, in which everyone found themselves in a minority10. Here I will be arguing that the 1960s were a hinge decade, sharing aspects both of the more overtly Christian 1940s and ’50s, and of the more secular, or at least pluralistic, 1970s and ’80s. In emphasising that the 1960s cannot be under4 Y. L AMBERT, Dieu change. For an overview of social change in France, including its impact on religion, see H. MENDRAS, La Seconde Révolution française. 5 For example K. DOBBELAERE, Secularization; B. ZIEMANN, Vermessung. 6 P. VAN ROODEN, Oral History. 7 C. G. BROWN, Death, pp. 176–178. 8 P. HEELAS /L. WOODHEAD, Spiritual Revolution. 9 A. H ASTINGS, History, pp. 585–586. 10 J. WOLFFE, The Religions of the silent Majority.

European Religion in the 1960s

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stood without the essential presence of Christianity and the churches I would repeat the point with which I began – namely that the great majority of west Europeans had received some kind of Christian upbringing and that Christianity remained an essential reference point even for those who were reacting against it. Members of the “Sixties” generation had more often than not had an active connection with the church in childhood or adolescence – often because so many had belonged to Christian youth organisations. (Ironically, in view of John Lennon’s outspoken atheism and George Harrison’s conversion to Eastern mysticism, it could be said that the Beatles, the supreme symbol of the 1960s, began in church, when Lennon met Paul McCartney at a church fete in Liverpool one sunny afternoon in July 1957) 11. One can also point to the important public voice which the churches exercised in the 1960s and to the fact that governments often felt obliged to take notice of what the churches were saying – at least with regard to what were seen as “moral” issues. The role of the Church of England in the reform of the divorce laws in the 1960s would be a good example12 . The support of Michael Ramsey, Archbishop of Canterbury from 1961 to 1974, was eagerly sought. Harold Wilson appointed him to chair the new National Council for Commonwealth Immigrants in 1965, though the disputes over Wilson’s anti-immigration legislation in 1968, when Ramsey became a supreme figure of hate for the far Right, also revealed the limits of the influence which the Archbishop was able to exercise13. A second major point in my argument is that a dynamic of change built up during what has been called the “long” 1960s, and that the religious (not to mention political and cultural) atmosphere changed with remarkable rapidity. I would distinguish between an “early” Sixties, between about 1958 and 1962; a “mid” Sixties, between about 1963 and 1966; and a “late” Sixties between about 1967 and 1973. Clearly, the socio-economic, the cultural and the narrative approaches to the history of this period need to be integrated. While the social changes of this period probably affected far more people than the dramatic events and spectacular cultural manifestations for which the decade is remembered, there should be no underestimating the impact of specific events, especially during the later part of the decade. Any history of the 1960s needs at least partly a narrative approach. The “early” Sixties saw fewer dramatic events, but nonetheless important changes in ways of living and of thinking were taking place. Here I will mention the impact of social, political and religious change. The social changes were the 11

D. SANDBROOK, Never had it so good, p. 457. J. LEWIS /P. WALLIS, Fault. 13 O. CHADWICK, Michael Ramsey, pp. 165–176.

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most obvious and the most evidently significant. The most dramatic changes were taking place in the countryside, and here Limerzel may stand as representative for villages in many parts of Europe which saw their way of life transformed between the 1950s and the ’70s, with the 1960s once again the hinge decade. These were years of rural depopulation, but also a time when the lives of those who remained in the countryside saw drastic change: the mechanised and increasingly specialised agriculture; the communications revolution, represented especially by the car, the television and the increasing availability of newspapers and magazines published in Paris; the undermining of the overriding authority once exercised by the clergy, as access to a range of other trained professionals became possible14. But in overwhelmingly urbanised societies, such as Britain, the growing “affluence” of these years also brought significant changes. For instance the later 1950s brought a substantial increase in the earnings available to young factory and office workers, providing a material basis for the expanding “youth culture”, based in the coffee bars and focused on pop music and clothes, which indirectly weakened the influence of the churches, as teenagers were able to afford a range of alternatives to church youth clubs. Meanwhile “affluence”, as well as changing ideas about the ideal relations between men and women, was leading to changes in family life. The “companionate marriage” which was the ideal of most couples in the 1950s and ’60s meant that many young couples were aiming to spend all their free time together. Instead of men going to the pub or a football match with other men, while their wives went to the church or the cinema with other women, young couples were spending their leisure hours in household improvements or watching television15. Attendance at cinemas and football matches declined more drastically in these years than attendance at church. In some countries, including West Germany and the Netherlands, these years saw a decline in the power of the “milieu”. Here the major study is Wilhelm Damberg’s work on the Netherlands and the Catholic diocese of Münster. Damberg argues very strongly that the milieu was already in decline in the 1950s – and that its collapse cannot be blamed, as some conservative Catholics would claim, on the impact of Vatican II. Pastoral innovations, rather than emerging in a fit of reformist euphoria, were practical responses to long-apparent problems. For instance, the “lay apostolate” was a major item on the agenda at the Münster diocesan synod in 1958 because of the shortage both of male and of female vocations. The decline of Catholic youth organisations was well underway by the later 1950s. At this time the willingness of Catholic youth to 14 15

Y. L AMBERT, Dieu change, pp. 241–269. See especially E. ROBERTS, Women.

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receive communion while refusing to go to confession foreshadowed the shift towards greater individual autonomy in the Sixties. Damberg estimates that 30% of Catholics aged 10–25 had belonged to a parish youth organisation in 1953, but that this proportion was already down to 18% in 1963, before dropping further to 11% in 197316. In the Netherlands clerical authoritarianism was under fire, especially from 1954 when the bishops issued a pastoral letter instructing Catholics not to vote for the Labour party. This was bitterly resented by Catholic intellectuals, whose journals were increasingly critical of the Catholic isolationism which the hierarchy was trying to maintain. By about 1960 the bishops were themselves recognising the need for change. In that year two new bishops were appointed, who favoured a new, more relaxed style of leadership, and Archbishop Alfrink of Utrecht was himself undergoing a kind of conversion: in 1954 he had fully supported the disputed pastoral letter, but at Vatican II he would be one of the most prominent of the “progressive” bishops17. The critique of conventional and traditional forms of religiosity fuelled an intense interest in religion of a reforming, or even radical, kind, climaxing in the mid-Sixties18. In Britain, the peak year was 1963, when John Robinson, the Anglican Bishop of Woolwich published Honest to God, said to be the fastest-selling work of theology ever. Robinson believed that the church was failing to communicate with “modern man”, and that Christianity needed to be restated in terms that contemporaries could understand. What he offered was a more popular version of ideas drawn from Bonhoeffer, Bultmann and Tillich, together with a non-legalistic approach to morality of the kind that was to be given fuller statement in Joseph Fletcher’s Situation Ethics (1966). Reactions to Robinson’s book varied enormously. A thousand people wrote to him in the three months following publication19, some hostile, many showing little understanding of what the bishop had written, but most starting from the assumption that Christianity needed to be restated in “modern” terms, and that Robinson had found a way of doing this. The typical correspondent had despaired of Christianity as taught in church or school. A lot of them were worried by the “mythological” aspects of the Bible and by the apparent conflicts between religion and science, as well as by specific doctrines, such as the divinity of Christ, the virgin birth or life 16

W. DAMBERG, Abschied, pp. 188–91, 418–419; W. DAMBERG, Pfarrgemeinden, p. 14. J. A. COLEMAN, Evolution, pp. 48–57, 88–115. 18 C. G. BROWN, Death, p. 168, notes this high level of interest, but suggests that it was confined to “the elderly”. There is no evidence that the interest was greatest among the elderly, and quite a lot of evidence that it was more widespread, including the very large attendances at the open lectures on ‘Fundamental Objections to Christian Belief’ staged by the Cambridge Divinity Faculty in 1963. See K. W. CLEMENTS, Lovers, p. 168. 19 J. A. ROBINSON /D. L. EDWARDS, Honest, p. 9. 17

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after death. For such readers, Robinson’s book seemed to offer the way forward. One compared the present ferment to that at the time of the Reformation20, and Robinson himself believed that a “new reformation” was needed. Interest in religion, together with a demand that it be discussed in new and more critical ways was also reflected in the satirical television programme, That Was The Week That Was (1962/63), which at its peak attracted some 12 million viewers. It quite frequently dealt with religious themes, and indeed managed to provoke a record number of complaints as a result of a Consumer Guide to Religions, broadcast in January 1963, which concluded by recommending “the brand” “Church of England” as the “Best Buy”21. David Frost, who compèred “TW3”, went on later in the decade to host the interview-based Frost Programme, which opened in the autumn of 1966. An interview with Michael Ramsey, Archbishop of Canterbury, attracted a large audience, confounding the sceptics among Frost’s fellow-broadcasters. There was also a great deal of interest in a debate between the Bishop of Kingston and an atheistic academic as to whether Jesus was an historical figure, leading Frost to comment: “The reaction to the programme confirmed a belief I had held, that despite the growth in scepticism – or perhaps because of it – religion and everything that went with it was still a subject of consuming interest to the public, provided that the questions asked were those that the public wanted to hear answered, and not imposed from above by dogma.”22

The mid-Sixties were a time of optimistic hopes, underpinned by a temporary reforming consensus. On the Protestant side, Harvey Cox’s Secular City, with its extraordinary confidence in the potential of ‘man come of age’ reflected a similar mood. More generally, faith in scientists, in planning, and in new, less authoritarian educational methods were at a high point. Vatican II ended in 1965 amid widespread expectations that a new era in the church’s history was dawning. Hans Küng noted perspicaciously at this time that more progress had been made on the “theoretical” than on the “practical” front23. In the years immediately following, Catholic reformers made a determined attempt to turn theory into practice. These efforts went furthest in the Netherlands, where the hierarchy gave most support to the reform movement. During the Council the Dutch bishops had stated that the whole church should be involved in the process of renewal, and in particular Bishop Bekkers of Den Bosch in 1963 initiated well-attended lay-clergy discussion groups, which helped to maintain high 20

IBID., p. 71. See also E. JAMES, Life, pp. 110–129. H. CARPENTER, Satire, pp. 244–247. 22 D. FROST, Autobiography, pp. 222–224. 23 H. KÜNG, Church, p. 123. 21

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levels of interest in and information about the Council proceedings. The Dutch Pastoral Council, which opened in 1966 and closed in 1970, tried to square the circular by combining collective decision-making with acceptance of episcopal leadership. The Council voted overwhelmingly to end compulsory celibacy, and though the bishops insisted that the Dutch church could not go it alone on this issue, they took a relatively tolerant view of priests who married, allowing them, for instance, to continue teaching in Catholic institutions. The Dutch were also leaders in practical ecumenism. For instance numerous local councils of churches were formed from 1967 onwards, a national council was formed in 1968, and there were various experiments in sharing of churches. According to Coleman, the new Catechism, published in 1966 and written in an accessible style, “exudes an atmosphere of ecumenism, respect for human freedom and a collegial church”24. Almost immediately the Dutch reformers found themselves facing an increasing volume of objections from Rome, and by 1967 and 1968 it was evident that consensus was collapsing. The radicals were becoming more radical, while the moderates were rapidly becoming more conservative. The later 1960s had a special atmosphere. It was a time of limitless hopes – “Truly it felt like the Year One”, said the British novelist Angela Carter25. But it was also a time of increasingly bitter conflicts between the visionaries and those who rejected, or at least were sceptical, about these visions. And these differences divided the churches as much as the wider society. The years 1967–1973 were a time of crisis for the churches – and especially for the Roman Catholic Church26. There was a severe drop in church-going; priests and nuns were leaving; there was a fall in ordinations. There were also ominous signs for the future – in many countries a decline in baptisms, in attendance at Sunday Schools and in confirmations. Why was this? Social change continued to have an impact. One aspect of this may have been the “sexual revolution”, which Hera Cook, in her work on the history of contraception in Britain, places in the years 1965–196927. It had long been common for engaged couples to have sex before their weddings, the understanding being that if the woman became pregnant the couple would marry before the child was born. According to Cook, the revolutionary development in the later Sixties, facilitated by the contraceptive pill, was the readiness of young women to have several sexual partners, none of whom they intended to marry. It is possible that the 24

J. A. COLEMAN, Dutch Catholicism, pp. 152–261. A. CARTER, Year One, p. 210. 26 H. MCLEOD, Religion, pp. 137–143. 27 H. COOK, Sexual Revolution, p. 295. 25

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resulting tensions between what the church was teaching and what young people were doing placed a strain on their relationship with the church, which may have led many to break away28. Unfortunately, evidence on such intimate areas of people’s lives is sparse, and some of the evidence suggests that many churchgoers were able to reconcile their religious principles with the new mores. Thus research in England in the early 1970s on the sexual behaviour of young adults found that while regular church-goers were less likely than those who never went to church to have had pre-marital sex, the difference was not dramatic – 59% of the former and 75% of the latter said that they had done this29. While social changes were affecting the mass of the population, including those whose involvement in the church was limited, certain other factors may have had a major impact on those most actively engaged in their parish or in church organisations. In the Catholic church, especially, there was a growing tension between those who hoped for far-reaching reforms and those who wanted to keep aggiornamento to a minimum. Ziemann refers to the years 1966–1972 as a time of “civil war” in the German church. Both sides claimed to be authoritative interpreters of the Council, and both used sharp language. In Germany there was little support for the ultra-conservative French Archbishop Marcel Lefebvre, but there were many more moderate conservatives, who fastened especially on the issue of liturgical reform. For one side, reform of the liturgy was a principal means of bringing back those who had left the church; those on the other side claimed that these reforms were causing further alienation. Dissension reached a high point at the Essen Katholikentag in 1968, when protests focused not only on Humanae Vitae, but on the whole issue of lay responsibility within the church. However, the sharpest conflicts were those that pitted priests against their bishops and vicars-general. In Germany the epochal year of 1968 saw the formation of numerous priests’ “Solidarity” groups, set up to defend the rights of the parish clergy, but also combining radical politics with opposition to the Vatican line on such issues as celibacy and inter-communion30. There were similar developments in France, where the Échanges et Dialogue group of radical priests, formed in 1968, combined attacks on episcopal authoritarianism, with left-wing politics and criticism of the celibacy rule31. Even under the moderate rule of Paul VI, and long before John Paul II’s counter-revolution, radical priests were finding their relationship with the church placed under increasing strain. For those who had enthusiastically embraced 28

M. SCHOFIELD, Behaviour of Young People, p. 254, argues this. M. SCHOFIELD, Sexual Behaviour, p. 169. 30 B. ZIEMANN, Bewegung. 31 D. PELLETIER, Crise, pp. 58–61. 29

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change, the publication in 1968 of Paul VI’s encyclica Humanae Vitae, condemning contraception, was a shattering blow. Many, perhaps most, Catholic couples decided to ignore the pope’s teaching. But the blow was felt most keenly by many of the clergy, who resigned in unprecedented numbers in the years 1969–1975 – one major factor being their unwillingness to enforce Humanae Vitae in the confessional32 . Progressive Catholics experienced further disappointment when the Synod of Bishops in 1971 rejected calls for the ordination of married men33, and in 1970 and 1972 when the pope appointed conservatives to the sees of Rotterdam and Roermond – clearly signalling that the Dutch church had gone too far along the progressive road 34. In France priests in the Échanges et Dialogue group increasingly despaired of reforming the existing church. Some simply immersed themselves in radical politics, while others formed independent parishes outside the official structures. 63% of those attending their assembly in 1971 had a job, and 27% were married or living “as a couple”35. Furthermore, both Catholic and Protestant students felt strongly the pull of “1968” and the revolutionary hopes that inspired so many in that year. In France the “events of May” evoked an enthusiastic response from sections of the churches36. During the summer of that year the World Student Christian Federation met in Turku, and a significant youth contingent attended the conference of the World Council of Churches in Uppsala. In the years immediately following the WSCF was deeply split between revolutionaries and more moderate radicals. The former would have had no trouble in agreeing with Camilo Torres that ‘the Christian who is not a revolutionary is in mortal sin’. Indeed, working for the victory of the international proletariat and the overthrow of imperialism superseded all other tasks and concerns. Marxism was the essential intellectual tool without which any progress in this battle was impossible, and any form of theology that did not advance the revolution was dismissed as useless37. For some of the revolutionary Christians of these years Marxism simply replaced Christianity as a world-view. Some retained a dual loyalty, but in practice political work took precedence, and any kind of communion even with moderately radical Christians was very difficult38. Student Christian groups of a liberal or radical bent were gravely weakened by the conflicts of these years, thus paving the way for the growing ascendancy of more conservative groups. In Britain for instance, 32

D. R ICE, Shattered Vows; M. GAINE, State. D. PELLETIER, Crise, pp. 197–203. 34 J. A. COLEMAN, Dutch Catholicism, pp. 262–276. 35 D. PELLETIER, Crise, pp. 144–155. 36 IBID., pp. 34–39. 37 R. LEHTONEN, Story. 38 IBID., p. 119, and passim. 33

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the liberal and ecumenical Student Christian Movement, which had been the largest and most influential body of its kind for several decades, fell apart in the later 1960s, and its place was taken by the conservative and strictly evangelical Christian Unions39. Then in 1969–1970 the Women’s Liberation movement, with its critique of the religious bases of patriarchy, reached Europe. Many of the pioneers of “second wave” feminism had either come from a non-religious background, or had long before severed their connection with church or synagogue. In two collections of memoirs by this generation of British feminists it is notable that the only avowed believer seems embarrassed to declare her faith40. However, as the movement grew, some women left their churches, finding their feminism in conflict with their religion41. A woman born in 1940 in a small town in northern England, who left the Church of England and now gets her spiritual experiences from climbing mountains, commented: “The ’60s and the start of the ’70s were very powerful. All of a sudden it was something different, the way people thought and reacted. And it was more important for women than for men as well. It was the first time they began to think – I know there were suffragettes, but they didn’t get that far. When men came back from the war the women were still very subservient. But in the ’60s women started thinking ‘We are people’. I had been brought up that men came first and you saw to their needs first. A more powerful thing for women than for men.”42

In predominantly Catholic countries, such as Italy and France, the church faced fierce attack from campaigners for the legalisation of abortion43. The question of women’s ordination moved to the top of the agenda in those Protestant churches where the clergy were still all-male, and in some cases, notably the Church of England, this was the most bitterly contested issue of the following decades44. Meanwhile in eastern Europe the success of Communist attacks on religion and the churches varied dramatically from country to country. The main factor influencing this success or failure seems to have been the pre-Communist history of the country concerned and the extent to which the Communists could build on older traditions of anti-clericalism or atheism. The German Democratic Republic and Estonia were the success stories of dechristianisation, as reflected in 39

IBID., pp. 121–124. A. H ASTINGS, English Christianity, pp. 542–543, 549. A. HENNEGAN, Battles, p. 152. See also M. WANDOR, Feminist. 41 S. M AITLAND, Map, p. 140. 42 An interview conducted 5th of February 2002 as part of the Kendal Project. Transcript at Department of Religious Studies, University of Lancaster. I am grateful to Paul Heelas and Linda Woodhead for permission to consult and quote from these. 43 D. PELLETIER, Crise, pp. 235–242. 44 S. GILL, Women, pp. 246–276. 40

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the growing number who declared themselves without religion. In the GDR, the 1964 census found that 32% were without religion, these being heavily concentrated in the younger age-bands. An important victory for the atheist state was the successful imposition of the Jugendweihe, initially resisted by the Protestant church. In many parts of northern Germany there were long traditions of low church-going, and the many people whose links with their church were already fairly loose often had little desire to insist on a religious loyalty the maintenance of which carried heavy costs, including, for instance, discrimination in education and at work45. Poland was the clearest case of failure. In successive confrontations with a hostile government the Catholic church could rely on the support of a large part of the population. For instance, in 1960 refusal of a permit to build a church in the new town of Nowa Huta touched off a riot in which police were stoned and a Communist party building burnt down. The celebration of a thousand years of Polish Catholicism in 1966 brought further confrontations between faithful Catholics and the police, as pictures of the Black Madonna of Czestochowa were taken from town to town and processed through the streets46. Even within countries there were major differences, which again reflected older traditions. There were big differences between Slovakia and the more secularised Bohemia. In Poland, the great majority of people declared themselves Catholics, but attendance at mass was higher in Upper Silesia than in other industrial regions, notably those which had been part of the Russian Empire during the partition period47. A particularly striking example was Yugoslavia, where sociologists claimed that secularisation went hand in hand with modernisation, but the statistics provided by the 1953 census (the last to include information on religion) told a different story. Admittedly atheists were generally more numerous in towns than in rural areas, but both urban and rural religious practice varied considerably between and to some extent within the various republics. In fact the most backward of the republics, Montenegro, had the highest proportion of atheists (40%) while in the most advanced, Croatia and Slovenia, the proportion was only 10% 48. In other words, religious patterns, however modified by Communist policy, continued to be shaped by a much longer history. The bigger changes in the role of religion and the churches were to come in the 1970s and ’80s, when political dissidence came to be linked with religion – even in countries which in most respects were highly secularised49. 45

M. FULBROOK, Anatomy, pp. 95–97, 103; J. P. BURGESS, East German Church, pp. 48–49. B. SZAJKOWSKI, God, pp. 21–22. 47 J. M AJKA, Poland. 48 A. FIAMENGO, Yugoslavia. 49 M. FULBROOK, Anatomy; J. P. BURGESS, East German Church; B. SZAJKOWSKI, God.

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Returning to western Europe: in the cooler climate of the later 1970s and ’80s the hopes for community, democracy and an end to hierarchies withered away. The years between about 1967 and 1973 were indeed a formative period for west European religion in the later 20th century. But many of the trends that proved most important in the longer term were those that few people noticed at the time, or which at least seemed less significant than other more dramatic developments. One feature of the later 1960s and early ’70s was indeed highly visible, namely the “coming out” of many atheists, agnostics, or those who simply had no religion. The ethos of the time favoured openness, plain speaking and even a deliberate breaking of taboos. The boundaries between what was acceptable in private and what was permitted in public were becoming blurred. As a spokesman for the British Broadcasting Corporation (BBC) wrote in 1970, responding to a complaint by the decency campaigners of the National Listeners’ and Viewers’ Association: “Whether we like it or not, subjects once regarded as taboo are now discussed openly in the presence of members of both sexes and the range of topics thought of as private has shrunk dramatically.”50 A striking example of this tendency was the BBC television comedy serie, Till Death do us part, opening in 1966, which focused on the outrageous behaviour and opinions of an ultra-conservative working-class Londoner called Alf Garnett. The programme provoked frequent complaints because of its ridicule of religion, the royal family and much else. These complaints reached a climax in 1972 after a programme in which Alf and his family had speculated as to whether the Virgin Mary had been on the pill. The writer, Johnny Speight, was indeed mildly reprimanded by the Director-General of the BBC, but came away promising more attacks on religion51. The Beatles, again, can certainly be taken as a symptom, and maybe to some extent a shaper of change. In the 1950s pop singers and other entertainers, whatever their private practice, generally professed in public a respect for religion and orthodox morality. By the later ’60s they felt able to be more openly irreverent. When in 1966 John Lennon claimed that the Beatles were ‘more popular than Jesus Christ’ he may have been at least half-joking52 . But by 1971 there was no mistaking the atheistic message of his song Imagine. Also symptomatic of the times was the Beatles’ decision in 1967 to become disciples of the Maharishi Mahesh Yogi and to travel to India in search of enlightenment. Only George Harrison seems to have retained a lifelong interest in 50

M. TRACEY/D. MORRISON, Whitehouse, p. 99. IBID., pp. 106–116. 52 I. M ACDONALD, Revolution, pp. xvi–xvii, thinks Americans misunderstood remarks by the Beatles as a result of taking them too literally. 51

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eastern religion. However, this was one aspect of a wave of interest in “alternative spirituality” which remained powerful and maybe grew larger during the latter part of the century. Less widely noticed at the time were certain new trends within Christianity, and in particular the emergence of the Charismatic Movement, which in the 1970s became a major influence both on Catholics and on Protestants. In the 1960s it seemed that the running was being made by Christians who were strongly interested in political and social questions, and often modernist in theology. The Charismatics, with their focus on the Pentecostal gifts of speaking in tongues, prophecy and healing, tended to be conservative in theology, and to have little interest in politics or social questions – though like many of the reformers of the ’60s they were critical of Puritanism, and were determined to enjoy many of the good things of life, including food and drink, modern styles of music, dancing, and sex (within heterosexual marriage, of course). In Britain during the last quarter of the century many of the most flourishing churches, and certainly those that were most successfully in attracting younger worshippers were charismatic, including those which remained within the Church of England and other well-established denominations, and those which had broken away and took the form of independent “house churches”53. And there was also the growth of Islam54. Muslims were migrating to Europe in large numbers during these years – North Africans to France, Turks to West Germany, Pakistanis to Britain, Indonesians to the Netherlands. Since the murder of the majority of European Jews in World War II, Muslims were now by far the largest non-Christian religious community in the continent, though few people realised in 1970 how big a challenge they would present both to European Christianity and to European secularism. Perhaps the most important development in these years was the decline in the religious socialisation of children and young people. Three surveys on the religious upbringing and present practice of English students suggest that this decline was rapid and that the years around 1970 were decisive. Among the students born in the early 1940s, 94% claimed to have had some kind of religious upbringing; among those born in the early 1950s it was still 88%; but among those born in the mid-1960s it was only 51% 55. Ian Jones, who interviewed about a hundred Birmingham church-goers from several generations in the later 1990s, noted that older people had often been given a religious upbringing by parents who never went to church themselves, but that this tradition had died 53

A. WALKER, Restoring the Kingdom. J. S. NIELSEN, Muslims. 55 D. BEBBINGTON, Secularization, p. 268.

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out. The youngest interviewee who had been ‘sent’ (as opposed to “taken”) to Sunday School by her parents had been born in 1964 – though as a caution against the tendency to suppose that “the Sixties” can be blamed or praised for all these changes, he found that the youngest one who had been taught prayers by non-church-going parents had been born as early as 194556. By the 1980s and ’90s the religious “market” was “open” to a degree that had not been seen for many centuries. Bibliography BEBBINGTON, David: The Secularization of British Universities since the Mid-Nineteenth Century. In: Marsden, George M./Longfield, Bradley J. (ed.): The Secularization of the Academy (Religion in America series). New York, Oxford 1992, p. 259–277. BROWN, Callum G.: The Death of Christian Britain. Understanding secularisation. 1800–2000 (Christianity and society in the modern world). London 2005. BURGESS, John P.: The East German Church and the End of Communism. New York 1997. CARPENTER, Humphrey: That was Satire that was. The Satire Boom of the 1960s. London 2000. CARTER, Angela: Truly it felt like the Year One. In: Maitland, Sara (ed.): Very Heaven. Looking Back at the 1960s. London 1988, pp. 209–216. CHADWICK, Owen: Michael Ramsey, a Life (Oxford paperbacks: Oxford lives). Oxford 1990. CHOLVY, Gérard/HILAIRE, Yves-Marie: Histoire religieuse de la France contemporaine. Vol. 3: 1930–1988. Toulouse 1988. CLEMENTS, Keith W.: Lovers of Discord: Twentieth Century theological Controversies in England. London 1988. COLEMAN, John A.: The Evolution of Dutch Catholicism 1958–1974. Berkeley 1978. COOK, Hera: The long Sexual Revolution: English Women, Sex and Contraception 1800–1975. Oxford 2004. DAMBERG, Wilhelm: Abschied vom Milieu? Katholizismus im Bistum Münster und in den Niederlanden 1945–1980 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. 79). Paderborn u. a. 1997. –, Pfarrgemeinden und katholische Verbände vor dem Konzil. In: Wassilowsky, Günther (ed.): Zweites Vatikanum – vergessene Anstöße, gegenwärtige Fortschreibungen (Quaestiones Disputatae. 207). Freiburg/Basel/Wien 2003, pp. 9–30. DOBBELAERE, Karel: Secularization, Pillarization, religious Involvement, religious Change in the Low Countries. In: Gannon, Thomas M. (ed.): World Catholicism in Transition. New York 1988, pp. 80–115.

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I. JONES, “mainstream” Churches, p. 122. See also R. SYKES, Popular Religion.

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Evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1961 und 1979

Die Themenstellung verheißt mehr, als tatsächlich eingelöst werden kann. Während es zur evangelischen Kirchengeschichte der Nachkriegszeit 1945–1955 zahlreiche Einzeluntersuchungen und – darauf aufbauend – erste Gesamtdarstellungen gibt, liegen zu den sechziger und siebziger Jahren lediglich einzelne Studien vor, die allenfalls begrenzten Aufschluss für eine Gesamtschau liefern1. So bestehen hier für die Historiographie fundamentale Probleme. Man sieht viele Bäume, doch keinen Wald. Wir haben mancherlei historiographische Bausteine, doch kein Gebäude einer wissenschaftlich zuverlässigen Übersicht. Noch nicht einmal hinsichtlich der Periodisierung bzw. der chronologischen Akzentuierung besteht irgendein Konsens. Und die seit jeher notorische Unbestimmtheit, wer oder was konkret „die evangelische Kirche“ ausmache oder für diese gegenüber der Öffentlichkeit spreche (Institutionen, Organisationen, Gruppen, Führungsgestalten, Einzelpersonen), gilt verstärkt für die Zeit nach 1955, weil seitdem das Pluralismusproblem in der Praxis wie in der deutenden Wahrnehmung zunehmend an Gewicht gewonnen hat. Wir wissen nicht, welche der vielerlei praktischen Probleme, kirchenpolitischen Konflikte und theologischen Diskussionsthemen als repräsentative Teilstücke berücksichtigt und wie sie dann systematisch gewichtet und in ein Gesamtbild eingeordnet werden müssen. Wir wissen darum auch nicht, wie wir die Bedeutung der sog. neuen sozialen Bewegungen in den sechziger und siebziger Jahren für die evangelische Kirche und Theologie bestimmen sollen. Es bleibt insgesamt nur eine vorläufige, stückweise Annäherung möglich. Die folgende Skizze bezieht sich aus methodischen und praktischen Gründen auf die evangelische Kirche in ihren institutionell klar erkennbaren Formen, nicht auf den Protestantismus als eine umfassendere, aber morphologisch schwer exakt erfassbare Größe. (Übrigens darf man den Protestantismus nicht pauschal als ein „Milieu“ bezeichnen, weil er stark unterschiedene Milieus geformt hat, 1

Die einzige Gesamtdarstellung, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, aber nur bis 1949 reicht, ist M. GRESCHAT, Christenheit. Für die evangelische Kirchengeschichte zwischen 1970 und 1990 findet sich eine informative – erheblich auf das Material des KJ gestützte – Übersicht bei E. LOHSE, Erneuern.

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z. B. anders in Berlin und Hamburg als in Franken und Schwaben). Die Skizze beschränkt sich aus denselben Gründen auf die Situation in der Bundesrepublik Deutschland, weil die politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der Deutschen Demokratischen Republik gerade nach 1961 das kirchliche Leben und die Kirchenstrukturen in etlicher Hinsicht anders gestaltet sein ließen. Die wissenschaftliche Theologie unterschied sich in beiden Staaten kaum voneinander, doch es ist hier nicht möglich, eine adäquate Skizze der Theologiegeschichte zu bieten.

1. Versuch einer Charakterisierung: 1961–1979 als Übergangsphase und Inkubationszeit Den im Folgenden skizzierten, bei weitem nicht vollständig eruierten „Bausteinen“ sei provisorisch als chronologischer Rahmen die Zeitangabe „1961–1979“ vorangestellt. Damit soll zunächst deutlich gemacht werden, dass für eine kirchengeschichtliche Übersicht das viel diskutierte Datum 1968 keine markante Bedeutung hat und dass insgesamt die sog. neuen sozialen Bewegungen nur mit einiger Zurückhaltung und Differenzierung als chronologischer Bezugspunkt beansprucht werden können. Wichtiger ist die Tatsache, dass bei allem Wandel in etlichen Bereichen (der durch keine eruptiv-verändernden „Bewegungen“ verursacht war) die Kontinuität zur Zeit vor 1961 überwog. 1.1 Jene Eckdaten ergeben sich aus dem Bezug zur politischen Geschichte Deutschlands2 . Der Berliner Mauerbau vom August 1961 war für die Situation der evangelischen Kirche als gesamtdeutscher Institution von historischer Bedeutung (strukturell wie mental); er leitete eine neue Phase des „Kalten Krieges“ mit gewisser Entspannung und Stabilisierung der Fronten ein. Demgegenüber trat seit Dezember 1979 mit dem Nato-Doppelbeschluss zur Raketennachrüstung und der sowjetischen Afghanistaninvasion der „Kalte Krieg“ in eine neue Phase der Verschärfung ein, die faktisch seine Endphase wurde. Ab 1980 wirkte sich das in der deutschen Innenpolitik durch eine enorm gesteigerte Polarisierung aus; die hier engagierte Friedensbewegung umfasste auch Teile der evan2 Für deren Darstellung bilden sie keine Zäsuren. Vgl. z. B. M. GÖRTEMAKER, Geschichte, S. 271–596; R. MORSEY, Bundesrepublik; A. RÖDDER, Bundesrepublik; E. WOLFRUM, Bundesrepublik, S. 74, 239–242. Unter deutschlandpolitischem Aspekt wird 1961 als Zäsur betont z. B. von H. A. WINKLER, Weg, Bd. 2, S. 206ff. (nicht dagegen 1979, s. S. 356ff.). Unter weltpolitischem Aspekt sind 1961 und 1979 bedeutsame Einschnitte; so z. B. bei G. SCHÖLLGEN, Geschichte, S. 151ff., 357ff.: vgl. auch E. WOLFRUM, Bundesrepublik, S. 249, 482.

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gelischen Kirche, und zwar vor allem die Jugend. Erst jetzt wurde die 1967/68 erweckte Protestkultur zu einer relevanten Bewegung innerhalb des deutschen Protestantismus und sukzessive wurde sie zu einem institutionell prägenden Faktor der evangelischen Kirche, deutlich spürbar seit etwa 1990, angeregt auch durch die Ökumenische Bewegung seit der ÖRK-Vollversammlung von Vancouver 1983. Zwei Indizien seien hier als Beleg für jene chronologische Fixierung erwähnt (sie werden im Folgenden ergänzt durch weitere Hinweise). Die gesamtdeutsche Orientierung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) erlitt seit 1961 Einbußen, was sich unter anderem am signifikanten Rückgang gemeinsamer Verlautbarungen von Ost- und Westteil zeigte, während es erstmals seit 1979 wieder zu einer derartigen Kooperation kam3. Der Berliner Kirchentag 1961 markierte den Beginn eines kirchlichen Bedeutungsrückgangs dieser Institution (sichtbar in der starken Abnahme der Teilnehmerzahlen bis 1973), während seit Nürnberg 1979 eine Entwicklung begann, die den Kirchentag zu einem nachhaltig prägenden Element im kirchlichen Leben machte4. Beide Indizien verweisen auf wesentliche Aspekte der deutschen evangelischen Kirchengeschichte in der Übergangsphase 1961–1979. Sie seien deshalb hier kurz erläutert. 1.2 Ein fundamentales Charakteristikum war die Bemühung um Realisierung eines Postulats: der „besonderen Gemeinschaft“ mit der evangelischen Kirche in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), den Stammlanden der lutherischen Reformation, durch eine bewusst bemühte Pflege persönlicher Kontakte sowie der kirchenpolitischen und theologischen Kooperation5. Es war ein Spezifikum der deutschen Kirchengeschichte zwischen 1945 und 1990, wie der Vergleich mit anderen Ländern zeigt. Es bekundete sich nicht nur auf gesamtkirchlicher Ebene der Institutionen EKD, Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD) und Evangelische Kirche der Union (EKU), sondern auch in den vielfältigen Begegnungen zwischen Gemeinden und kirchlichen Gruppen. In der wissenschaftlichen Theologie blieb man verbunden durch die Europäischen Theologenkongresse (als Ersatz für den Deutschen Theologentag), durch Fachtagungen, durch Gastvorlesungen, durch Kooperation bei Publikationen, durch eine parallele oder sogar kommunikative Bearbeitung fachspezifischer Themen. Die materiellen und finanziellen Hilfen – notgedrungen eine Einbahnstraße – waren nicht unbedeutend6. Nach 1989 hat die öffentliche 3

Vgl. z. B. die Zusammenfassungen bei C. LEPP, Tabu, S. 518, 931. Vgl. z. B. P. STEINACKER, Kirchentage, S. 105f.; R. RUNGE /M. K ÄSSMANN (Hg.), Kirche, S. 54f., 94f., 107, 136 und im vorliegenden Sammelband den Beitrag von Harald Schroeter-Wittke. 5 Einzelheiten zur Formel der „besonderen Gemeinschaft“ bei C. LEPP, Tabu, S. 851–920. 6 Dazu z. B. L. GEISSEL, Unterhändler, S. 236–435. 4

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Meinung in Deutschland kurzfristig diese Kontakte als wichtigen Beitrag zur Bewahrung der inneren Zusammengehörigkeit von Ost- und Westdeutschen gewürdigt. Zwar ist später dies Element aus mancherlei Gründen allgemein in der Beachtung zurückgetreten, aber seine politische Wirkung müsste historiographisch angemessen beachtet werden, weil sie den wichtigsten Beitrag der evangelischen Kirchengeschichte zur allgemeinen Geschichte von Staat und Gesellschaft in Deutschland betraf. Die Jahre 1961–1979 können hier als Übergangsphase gewertet werden, weil vorher die kirchlichen Ost-West-Beziehungen intensiver waren und die Kooperation der EKD-Organe noch annähernd funktionierte; einer gewissen Distanz nach der Gründung des DDR-Kirchenbundes 1969 – dem Ende der Einheit der EKD – folgte seit 1979/80 eine Intensivierung der niemals eingefrorenen Beziehungen7. 1.3 Ein weiteres, anders geartetes Charakteristikum zeigte die Geschichte des Deutschen Evangelischen Kirchentages8. In der ersten Phase 1949–1961, die aus der Praxis der Bibeltagungen im „Kirchenkampf“ erwuchs, war diese rechtlich eigenständige Organisation stark binnenkirchlich-theologisch orientiert und wies eine geringe Beteiligung Jugendlicher auf. Seit 1950 waren die gesamtdeutschen Kirchentage Massenveranstaltungen zwecks geistlicher Zurüstung mit demonstrativer Ost-West-Gemeinschaft9. Auf die Krise von 1961 folgte eine Neuorientierung mit der Öffnung für Reformprobleme in Gesellschaft und Kirche; die Zahl der Dauerteilnehmer sank auf ca. 14.500 (Dortmund 1963 und Hannover 1967) gegenüber ca. 45.000 (Berlin 1961) 10. Nun umfasste der Kirchentag im Wesentlichen eine modernistische, teilweise „linke“ Avantgarde am Rande der etablierten Volkskirchlichkeit und entsprach mit seiner „Politisierung“ der allgemeinen Veränderungsmentalität, die zugespitzt in der sog. „68er-Bewegung“ zutage trat. Als Reaktion darauf erwuchs aus der 1967–1969 kulminierenden Kritik konservativ-biblizistisch-evangelikaler Kreise der „Gemeindetag unter dem Wort“, welcher als programmatische Gegenveranstaltung seit 1973 zunächst wenige, allmählich jedoch beträchtliche Massen mobilisieren konnte und eher die traditionelle Kirchlichkeit der Kirchentage von 1949ff. repräsentierte11. Der Plu-

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Zur Entwicklung 1961–1969 s. C. LEPP, Tabu, S. 379–850. Vgl. außer der in Anm. 4 genannten Literatur den Überblick von H. SCHROETER-WITTKE, Kirchentag. 9 Dazu s. D. PALM, Brüder. 10 Vgl. P. STEINACKER, Kirchentage, S. 105f. Dagegen blieb 1963 die Zahl der Teilnehmer an der Schlussveranstaltung konstant (350.000), sank aber 1965 auf 120.000 und 1967–1977 sogar auf 24–40.000. 11 Vgl. die entsprechenden Erklärungen in: R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 94f., 247–284. 8

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ralismus der evangelischen Kirche fand in diesem Gegeneinander einen signifikanten organisatorischen Ausdruck. Bezeichnend war, dass auf die von den „Bekennenden Gemeinschaften“ kritisierte Verbindung von Kirchentag und EKD (-Gliedkirchen) die Leiter von VELKD und Arnoldshainer Konferenz (AKf) mit einer partiellen Distanzierung reagierten, welche vor allem die Toleranz des Kirchentages gegenüber „Irrlehren“, seine Politisierung und enthusiastischen Elemente meinte12 . Die schon vorher vorbereitete Verbindung von Politik und Frömmigkeit sowie die konstruktive Darstellung des kirchlichen Pluralismus auf dem „Markt der Möglichkeiten“ eröffnete 1979 in Nürnberg eine historisch bedeutsame neue Phase. Seitdem wurde der Kirchentag eine vor allem die Jugend anziehende und motivierende Massenbewegung, die vor und nach den Großveranstaltungen (seit 1981 mit über 100.000 Dauerteilnehmern) stark in das kirchliche Leben der Gemeinden hineinwirkte. Auch an diesem Paradigma erweist sich die Deutung der Jahre 1961–1979 als Inkubationszeit als berechtigt, weil der Kirchentag einen spezifischen Milieuprotestantismus beeinflusste, der seit ca. 1990 zunehmend die Strukturen der Volkskirche veränderte13. 1.4 Als Übergangs- und Inkubationszeit erschienen die Jahre 1961–1979 in eigentümlicher Weise für die differenzierte konfessionelle Binnenstruktur – ein Merkmal des deutschen Protestantismus – und damit für den ekklesiologischen Stellenwert der EKD-Gemeinschaft. Die Diskussion um Abendmahls- und Kirchengemeinschaft bildete ein durchgehendes Kontinuum. Die EKD war 1945–1948 als ein aus konfessionsverschiedenen, durch ihr Bekenntnis getrennten Gliedkirchen lutherischer, reformierter und unierter Prägung bestehender Kirchenbund entstanden, wobei die Gliedkirchen sich mit unterschiedlicher Formation außerdem in konfessionellen Bundeskirchen zusammenschlossen (der VELKD, der EKU [seit 1967 erweitert um die AKf] und dem Reformierten Bund) 14. In der EKD-Grundordnung (Art. 4,4) war nach heftiger Kontroverse fixiert, dass zwischen den Gliedkirchen keine volle Abendmahlsgemeinschaft bestünde. Eine vom Rat der EKD zur Klärung der konfessionellen Differenzen in der Abendmahlslehre 1947/50 gebildete Theologenkommission verständigte

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Schreiben von Bischof Hans-Otto Wölber und Hans-Heinrich Harms vom 31.1.1975 in: E. WILGrundsatzfragen, S. 50ff. Nicht zufällig kamen seit 1992 leitende Geistliche der Landeskirchen aus der Kirchentagsorganisation, z. B. Wolfgang Huber als Bischof von Berlin-Brandenburg, Christian Krause als Landesbischof von Braunschweig, Peter Steinacker als Kirchenpräsident von Hessen-Nassau, Maria Jepsen und Bärbel Wartenberg-Potter als Bischöfinnen in Nordelbien, Margot Käßmann als Landesbischöfin von Hannover. 14 Dazu z. B. W.-D. H AUSCHILD, Kirche, S. 669f.; J. ROGGE, Kirche; W. HÜFFMEIER, Arnoldshainer Konferenz; A. SCHILLBERG, Reformierter Bund, Sp. 184f.

KENS, 13

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sich 1957 auf eine gemeinsame Position, die sog. Arnoldshainer Abendmahlsthesen, die der Rat der EKD 1958 allen Kirchenleitungen und theologischen Fakultäten zur Diskussion zuleitete, woraufhin – vor allem wegen lutherischer Kritik – jene Kommission 1961 zusätzliche Erläuterungen formulierte. Da die meisten lutherischen Landeskirchen bei ihrer Ablehnung verharrten (im Unterschied zu den unierten und reformierten), berief der Rat der EKD 1963 eine Zweite Abendmahlskommission, die – größer und anders zusammengesetzt – den Ertrag der bisherigen Diskussion aufarbeiten sollte und 1965 ihren Bericht vorlegte – ohne durchschlagendes Ergebnis für die Gesamt-EKD15. Immerhin jedoch empfahl die Generalsynode der VELKD 1967 deren Gliedkirchen – bei fortwährender Ablehnung, die Grundordnung der EKD (Art. 4,4) zu ändern – eine differenzierte Offenheit in der Praxis16. Einen grundsätzlichen Neuansatz brachten 1969 der Theologische Ausschuss, die Generalsynode und der Leitende Bischof der VELKD (Hans-Otto Wölber). Sie schlugen vor, die unergiebige Diskussion um die traditionellen Lehrdifferenzen abzulösen durch ein Gespräch über die Grundlagen von Kirchengemeinschaft gemäß Art. 7 der Confessio Augustana17. Die Neuorientierung entsprach den jetzt – nach Verselbständigung der evangelischen Landeskirchen in der DDR – auf breiter Front einsetzenden Vorstößen für eine Reform der EKD (dazu s. u. 2.3). Einen in der Sache historisch folgenreichen, von der kirchlichen Öffentlichkeit jedoch kaum gewürdigten Durchbruch brachte eine Kommission lutherischer, unierter und reformierter Theologen, die 1970 „Thesen zur Kirchengemeinschaft“ publizierte18. Deren Bedeutung bestand nicht so sehr darin, dass sie die EKD-Reformdiskussion förderte, sondern vor allem darin, dass ihr Ansatz in die seit 1964 tagende Arbeitsgruppe der reformatorischen Kirchen Europas eingebracht wurde und dort 1971 zu einem erstaunlichen Ergebnis führte, dem Entwurf einer Lehrübereinkunft, deren endgültiger Text 1973 festgestellt wurde: die sog. Leuenberger Konkordie19. Rasch stimmten die beteiligten Kirchen zu, so dass die Konkordie in Deutschland bereits 1974 als rezipiert galt und in die von der EKD verabschiedete neue Grundordnung (Art. 2,1) aufgenommen wurde mit der gegenüber 1948 veränderten Feststellung: „Es besteht Abend-

15 Zum Ganzen s. z. B. den Bericht von G. NIEMEIER, Lehre. Ein Ergebnis dieses neuen Anlaufs war die oben erwähnte Gründung der Arnoldshainer Konferenz 1967, die sich auf die Arnoldshainer Abendmahlsthesen berief. Vgl. G. NIEMEIER, Kirche (1963), S. 47–55. Vgl. auch DERS., Kirche (1964), S. 22–27. 16 Dokumente in G. NIEMEIER, Kirche (1967), S. 38–48. Vgl. G. NIEMEIER, Kirche (1968), S. 11–15 den Vorstoß der AKf, der auf heftige Kritik in der VELKD stieß. 17 Dazu z. B. G. NIEMEIER, Kirche (1969), S. 7–24. 18 Text und Stellungnahmen dazu in: G. NIEMEIER, Kirche (1970), S. 46–56. 19 Vgl. E. SCHIEFFER, Schauenburg.

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mahlsgemeinschaft“20. Doch die Grundordnung trat nicht in Kraft, die EKDReform scheiterte (vgl. 2.3). Dass die aufwändige theologische Bemühung um Kirchengemeinschaft der Jahre 1961–1974 nicht umsonst war, zeigte sich bald nach 1979. Verschiedene kleinere Anstöße führten zu einer neuen Diskussion, die 1983/84 eine historisch bemerkenswerte Änderung der alten EKD-Grundordnung erbrachte. Nun wurde Kirchengemeinschaft im Sinne der Leuenberger Konkordie konstatiert (Art. 1,2) und dem gemäß deklariert: „Es besteht Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft“ (Art. 4,1 Ziffer 2) 21. Die praktischen Folgen zeigten sich nicht sogleich, sondern längerfristig vor allem darin, dass nunmehr das Unionsprinzip im kirchlichen Bewusstsein dominierte und dass die Existenzberechtigung einer konfessionellen Bundeskirche wie der VELKD seit 1998/2002 wirksam bestritten wurde. 1.5 Zu den folgenreichen Veränderungen seit 1961 gehörte die neue ökumenische Orientierung. Der deutsche Protestantismus beteiligte sich an der sog. Ökumenischen Bewegung – der lockeren Kooperation der nichtrömischen Kirchen – seit 1919, doch das drang lange Zeit kaum bis auf die Gemeindeebene vor, sondern blieb eine etwas abgehobene Sonderbeschäftigung spezieller „Ökumeniker“ (wenngleich führende Kirchenvertreter seit den Anfängen intensiv beteiligt waren) 22 . Im Zeitraum 1961–1979 veränderte sich diese Konstellation allmählich. Die Orientierung an Problemen der afrikanischen und asiatischen Kirchen wurde öffentlichkeits- und breitenwirksamer durch eine bewusste Umerziehung der evangelischen Gemeinden und Gruppen zu einem kirchlichen Thema. Dieser Vorgang korrespondierte der seit etwa 1960 in Politik und Publizistik verstärkten Wahrnehmung der Situation in der damals sog. Dritten Welt. Eine ökumenische Bewusstseinserweiterung, die den traditionellen deutschevangelischen Provinzialismus durchbrach, bahnte sich an und profilierte sich hauptsächlich in den Kontroversen um das ÖRK-Antirassismusprogramm und die Situation im südlichen Afrika sowie in Lateinamerika (dazu s. u. 3.4). Sie hat nach 1980 den deutschen Protestantismus und das evangelische Gemeindeleben nicht unbeträchtlich geprägt. Wesentliche Impulse kamen dabei von der seit Advent/Weihnachten 1959 gestarteten Aktion „Brot für die Welt“, die seitdem Jahr für Jahr große Resonanz fand23. Eine Zäsur markierte die ÖRKVollversammlung in New Delhi 1961 insofern, als – neben der Aufnahme der orthodoxen Kirchen Osteuropas und der trinitarischen Erweiterung der „Basis“, der Lehrgrundlage des ÖRK – fortan der globale Nord-Süd-Konflikt zu einem 20

Dazu s. W. LOHFF, Konkordie; O. LINGNER, Ordnung, S. 147. Dazu s. W.-D. H AUSCHILD, Leben, S. 307. 22 Übersicht bei R. FRIELING, Weg; DERS., Ökumene. 23 Zusammenfassung bei H.-O. H AHN, Brot. 21

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innerkirchlichen Thema auch in Deutschland wurde, was sich vor allem aufgrund der nächsten ÖRK-Vollversammlung von Uppsala 1968 auswirkte, weil deren Impulse mit dem deutschen Reformaufbruch konvergierten24. Allerdings wurde diese ökumenisch-weltweite Orientierung zunächst im Wesentlichen von Pionier- und Initiativgruppen getragen, doch diese beeinflussten zunehmend die Mentalität der jüngeren Pfarrer und Gemeindeglieder. Eine stärkere Identifikation mit der ökumenischen Mentalität ergab sich seit 1979/80 durch die Friedens- und Ökologiebewegung, welche auf der ÖRK-Vollversammlung von Vancouver 1983 dominierte25. 1.6 Der reformerischen Aufbruchstimmung entsprach intensiv und konzentriert die Römisch-Katholische Kirche, eine relativ einheitliche Weltkirche unter dem Papst von Rom, durch einen theologisch fundierten Modernisierungsschub: mit dem von Papst Johannes XXIII. zwecks „aggiornamento“ 1959 einberufenen Zweiten Vatikanischen Konzil, welches 1962–1965 tagte26. Als eine von dessen Wirkungen ergab sich eine scheinbar innovative Gesprächsbereitschaft im Blick auf die reformatorischen Kirchen. Anschließend blühten auf allen Ebenen – von den Kirchenleitungen bis zu den Gemeinden – ökumenische Gespräche, die zwar bis heute keine praktischen Ergebnisse in den dogmatisch fixierten Kontroversfragen erbrachten, die aber in Deutschland zu einer historisch bemerkenswerten Verbesserung des gegenseitigen Verständnisses und somit der gesamtkirchlichen Atmosphäre führten. Für Deutschland markierte das Ökumenische Pfingsttreffen in Augsburg 1971 einen – freilich weithin folgenlosen – Einschnitt, der deutlich machte, dass hier die evangelisch-katholische Annäherung in zwei unterschiedlichen Bereichen und Geschwindigkeiten stattfand: einerseits „an der Basis“ der Gemeinden, andererseits auf den Leitungsebenen z. B. durch gemeinsame kirchenpolitische Erklärungen und durch Lehrgespräche27. 1.7 Wenn man sich nur auf die Frage konzentriert, welchen Einfluss die sog. neuen sozialen Bewegungen auf die evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland gehabt haben, dann erhält man ein stark eingeschränktes Bild der Kirchengeschichte. Man muss vielmehr fragen: Wie sah die gesamte Kirchengeschichte zwischen 1961 und 1979 aus? Dann sieht man in den Quellen eine komplexe und ambivalente Situation: einerseits fundamentale Kontinuitäten in Strukturen und Mentalitäten, andererseits marginale und partielle Ver24

Vgl. R. FRIELING, Ökumene, S. 59–62; H. K RÜGER, Bewegung. Dazu z. B. H. J. HELD, Nairobi. 26 Vgl. O. H. PESCH, Konzil; G. A LBERIGO /K. WITTSTADT (Hg.), Geschichte. 27 Bedeutung auch für Deutschland erlangten die lutherisch-römischen Texte seit dem sog. MaltaBericht 1972; s. H. MEYER u. a. (Hg.), Dokumente, S. 246–357. 25

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änderungen in beiden. Mit „fundamental“ ist gemeint, dass die traditionellen Grundlagen des kirchlichen Lebens (einschließlich der Theologie hinsichtlich ihrer Wirkungen auf die kirchliche Praxis) bestehen blieben, z. B. die Verfassungs- und Gemeindestrukturen, die Ordnungen von Gottesdienst und Kasualien, die Situation als Volkskirche, die üppigen Finanzen, die Beziehungen zwischen Kirche und Staat, die Wahrnehmung gesellschaftlicher und politischer Verantwortung, die Differenz zwischen dem sog. Linksprotestantismus und dem sog. Rechtsprotestantismus bei breiter Dominanz einer kirchlichen Mitte. Mindestens bis 1970 herrschte eine Mentalität zufriedener Saturiertheit nach dem kirchlichen Wiederaufbau von 1945ff. Mit „marginal“ ist gemeint, dass an den Rändern der Volkskirche bzw. der traditionellen Kirchenstrukturen sich Veränderungen bemerkbar machten (die teilweise schon in der Zeit vor 1961 vorhanden waren), und zwar in unterschiedlicher Intensität und Verbreitung. Als „partiell“ werden solche Veränderungen bezeichnet, die nur für Teile der evangelischen Kirche erhebliche Bedeutung besaßen, obwohl sie einen dauerhaften und historisch belangvollen Wandel auf dem betreffenden Teilgebiet darstellten, z. B. die Bekenntnisbewegung für die „rechte“ Seite oder die Evangelische Studentengemeinde für die „linke“ Seite. Die Entwicklung verlief so, dass „marginale“ und „partielle“ Tendenzen sich ab etwa 1970/75 verstärkten und spätestens ab etwa 1990 zu dominierenden oder sogar fundamentalen Strukturen und Mentalitäten führten. Dies legt die Deutung nahe, dass die Jahre zwischen 1961 und 1979 die Inkubationszeit einer langfristigen Transformation der evangelischen Kirche gewesen sind. Doch man muss bei einer solchen Deutung auch beachten, dass z. B. der damals propagierten Politisierung der Religion seit ca. 1975 eine Tendenz zur privatisierten, individualistischen Frömmigkeit gegenüberstand, die nun als „Spiritualität“ (mit einem im deutschen Protestantismus bis dahin unbekannten Begriff) bezeichnet wurde und die gesamtgesellschaftlich ihre Entsprechung hatte in dem Boom von Esoterik, New Age, neureligiösen Bewegungen und anderem28. Auch Derartiges gab es zwischen 1961 und 1979 nur marginal und partiell. 1.8 Die wissenschaftliche Diskussion über die historische Wirkung der sog. „68er-Bewegung“ hat bisher nur wenig eindeutige Ergebnisse erbracht29. Man 28 Vgl. z. B. K IRCHENKANZLEI (Hg.), Spiritualität, dort S. 59f. Empfehlungen des Rates der EKD an die Gliedkirchen, die „Pflege und Einübung evangelischer Spiritualität“ in Ausbildung, Bildungsarbeit etc. zu verstärken. Bezeichnenderweise enthielt die 3. Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart noch kein Stichwort „Spiritualität“ (vgl. Bd. 6, 1962, Sp. 251–258). 29 Neben der Übersicht von I. GILCHER-HOLTEY, 68er Bewegung, vgl. z. B. die differenzierten Untersuchungen in dem Tagungsband: M. FRESE /J. PAULUS /K. TEPPE (Hg.), Demokratisierung. Protestantismus und evangelische Kirche kommen hier nicht vor.

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muss unterscheiden zwischen kurzfristigen (sog. „revolutionären“) Veränderungen und einem mittel- sowie langfristigen Wandel, der sich in der Mentalität und in den Strukturen auswirkte. Man muss dabei beachten, dass den manifesten, von der Publizistik diskutierten Veränderungen in Gesellschaft und Staat nur eingeschränkt Neuorientierungen in Protestantismus und evangelischer Kirche entsprachen. Ein Sektor, der von den „Studentenunruhen“ markant tangiert wurde, war das Hochschulwesen. Der Konzentration des Protestes auf die Universitäten entsprechend ergaben sich nachhaltige Strukturänderungen in den evangelischen Fakultäten und Ausbildungsstätten, die freilich mindestens ebenso stark bedingt waren durch die Regulierungssucht des staatlichen Bürokratismus. „Demokratisierung“ war die Parole, unter welcher Revolutionäre und Politiker die angeblich überholte Universitätswirklichkeit neu gestalten wollten, und dies auf dem Hintergrund einer seit 1963 propagierten Bildungsreform (nach zuvor ausgerufenem angeblichen „Bildungsnotstand“). Außer dem entsprechenden Strukturwandel hin zur Gruppenuniversität veränderte sich kaum etwas an den theologischen Fakultäten. Das zeigte z. B. das intensive, insgesamt jedoch vergebliche Bemühen um eine Studienreform seit 196530. Die nicht selten geforderte grundlegende Veränderung der Theologie fand dagegen insgesamt kaum statt (z. B. nicht die postulierte Ablösung der bis dahin herrschenden „historisch-kritischen Theologie“ durch eine „empirisch-kritische Theologie“) 31. Auch die „politische Theologie“, die Impulse der neuen sozialen Bewegungen und der lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen aufnahm, wurde mehr allgemein diskutiert als wissenschaftlich realisiert32 . Die späteren Veränderungen – vom Schwerpunkt bei einer Offenbarungstheologie hin zu einer Theologie der Subjektivität – ergaben sich aus anderen Impulsen. In den evangelischen Landeskirchen machte sich die „68er-Bewegung“ zunächst nur in Protesten und Provokationen am Rande bemerkbar. Sie stärkte einerseits die Beharrungskraft der Institutionen, provozierte andererseits die Fundamentalopposition der sog. Bekenntnisbewegung. Allerdings wirkte hier das Postulat der Demokratisierung auf die Dauer nachhaltig durch mancherlei Verfassungs- und Strukturänderungen, welche die Landeskirchen seit etwa 1975 vornahmen33. 30

Dokumentation in: R EFORM, Bd. 1–11; W.-D. H AUSCHILD, Reform, S. 125–138. Vgl. dazu z. B. W. HERRMANN, Angst; W.-D. BUKOW, Elend. 32 Informationen zu diesem komplexen Problem z. B. bei: H. PEUKERT (Hg.), Diskussion; J. METZ / W. K ROH, Politische Theologie. 33 Man sieht das z. B. am Vergleich der bayerischen Kirchenverfassungen 1920 und 1971; vgl. F. GIESE /J. HOSEMANN (Hg.), Verfassungen, S. 513–563 mit D. K RAUS (Hg.), Kirchenverfassungen, S. 160–184. Die Verfassung der Nordelbischen Kirche 1976 ist durchgängig von demokratischen Maximen geprägt; s. bei D. K RAUS (Hg.), Kirchenverfassungen, S. 436–476. Besonders deutlich wurde die „Demokratisierung“ in den lutherischen Landeskirchen an den zunehmenden Kompetenzen der Synoden, die nun primär als Vertretung der sog. Laien, d. h. der Nichtpfarrer verstanden wurden, so 31

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1.9 Unter dem Aspekt von Kontinuität und Wandel ist gerade in der Kirche das personale Element wichtig: ihre Repräsentanz einerseits auf den Leitungsebenen durch Bischöfe, Oberkirchenräte etc., andererseits in den Gemeinden durch Pfarrer, Religionslehrer etc. Im Jahre 1961 traten in den Ruhestand die Geburtsjahrgänge um 1893–1898, also häufig wilhelminisch geprägte Weltkriegsteilnehmer. 1979 betraf es die Jahrgänge um 1911–1916, meist Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Wesentliche Teile beider Generationen waren irgendwie durch den Kirchenkampf 1933–1945 geprägt worden. Es waren trotz der Kriegsverluste starke Jahrgänge. Allgemein wusste sich gerade die Generation der an zweiter Stelle genannten Jahrgänge den viel beschworenen „Erfahrungen des Kirchenkampfes“ verpflichtet. Was immer das konkret bedeuten mochte, generell wirkte es sich in einer Grundorientierung aus, die bestimmt war einerseits durch eine Offenbarungs-(Wort-Gottes-)Theologie, andererseits durch eine Betonung des kirchlichen Propriums. Nur partiell engagierten sich einige wenige in den sog. neuen sozialen Bewegungen, vor allem in den diese vorbereitenden Protestbewegungen der fünfziger Jahre. Für die von der „68er-Bewegung“ propagierte Politisierung brachten nur wenige Verständnis auf, noch weniger für eine entsprechende Neuorientierung der Theologie an der Situation, der Praxis o. ä., sofern diese mit einer Begründung durch ein neues Normengefüge – z. B. im Sinne einer „neuen Aufklärung“ – verbunden war34. Man kann das an den dominierenden Führungsfiguren exemplifizieren, am besten wohl an Kurt Scharf (1902–1990), der in eindrucksvoller Weise für die neuen Bewegungen und deren Vertreter aufgeschlossen war, aber theologisch wie kirchlich fest durch das „Erbe des Kirchenkampfes“ geprägt blieb35. Scharf wurde 1961 zum EKD-Ratsvorsitzenden und 1966 zum Bischof von BerlinBrandenburg gewählt (beides in Nachfolge von Otto Dibelius). Bis 1976 übte er letzteres Amt aus. Diese Generation von Kirchenkämpfern der NS-Zeit amtierte in Leitungspositionen während der Jahre 1947/55–196836. Die wichtigsten Vertreter seien hier genannt: Hanns Lilje (1899–1977) als Landesbischof von Hannover 1947–1971, als Leitender Bischof der VELKD 1955–1969, als stellvertretender EKD-Ratsdass demgemäß bei ihrer Zusammensetzung deren Übergewicht verfassungsrechtlich verankert wurde. Der alte lutherische Grundsatz des Gleichgewichts von Amt und Gemeinde wurde damit tangiert. 34 Exemplarisch für die traditionelle theologisch-kirchliche Orientierung sei Martin Niemöller (1892–1984) genannt, 1947–1964 Kirchenpräsident von Hessen-Nassau. Zu ihm s. C. NICOLAISEN, Niemöller. 35 Zu ihm s. z. B. C. NICOLAISEN, Scharf; K. SCHARF, Brücken; W.-D. ZIMMERMANN, Scharf. 36 Zu den folgenden Personalangaben s. die betreffenden Artikel in Religion in Geschichte und Gegenwart3, Religion in Geschichte und Gegenwart4, Theologische Realenzyklopädie, Biographischbibliographisches Kirchenlexikon, Deutsche Biographische Enzyklopädie der Theologie und der Kirchen u. a. sowie die Nekrologie im Kirchlichen Jahrbuch.

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vorsitzender 1949–1967; Hermann Dietzfelbinger (1908–1984) als Landesbischof von Bayern 1955–1975, als EKD-Ratsvorsitzender 1967–1973; Hermann Kunst (1907–1999) als EKD-Bevollmächtigter in Bonn 1949–1977 und Militärbischof 1956–1972; Wilhelm Halfmann (1896–1964) als Bischof von Holstein 1946–1964; Reinhard Wester (1902–1975) als Bischof von Schleswig 1947–1967; Ernst Wilm (1901–1989) als Präses von Westfalen 1949–1968 und Joachim Beckmann (1901–1987) als Präses des Rheinlands 1958–1971. (Auch deren Nachfolger Hans Thimme 1968–1977 und Karl Immer 1971–1981 waren stark durch die „Erfahrungen des Kirchenkampfes“ geprägt.) Analoge Grundorientierungen galten auch für die etwas Jüngeren wie z. B. Hans-Otto Wölber (1913–1989) als Bischof von Hamburg 1964–1983 und Leitenden Bischof der VELKD 1969–1975, Hans-Wolfgang Heidland (1913–1992) als Landesbischof von Baden 1964–1980, Helmut Claß (1913–1998) als Landesbischof von Württemberg 1969–1979 und als EKD-Ratsvorsitzenden 1973–1979, Gerhard Heintze (geb. 1912) als Landesbischof von Braunschweig 1965–1982, Friedrich Hübner (1911–1991) als Bischof von Holstein 1964–1981. Man kann überlegen, ob die Nachfolger der Genannten eine „neue Generation“ repräsentierten: z. B. Eduard Lohse (geb. 1924) als Landesbischof von Hannover 1971–1988 und als EKD-Ratsvorsitzender 1979–1985; Helmut Hild (1921–1999) als Kirchenpräsident von Hessen-Nassau 1969–1985 und stellvertretender EKD-Ratsvorsitzender 1973–1985; Johannes Hanselmann (1927–1999) als Landesbischof von Bayern 1975–1994; Martin Kruse (geb. 1929) als Bischof von Berlin 1976–1994 und EKD-Ratsvorsitzender 1985–1991; Klaus Engelhardt (geb. 1932) als Landesbischof von Baden 1980–1998 und EKD-Ratsvorsitzender 1991–1997; Karlheinz Stoll (1927–1992) als Bischof von Schleswig 1977–1992 und als Leitender Bischof der VELKD 1981–1990. Doch eine derartige Klassifizierung träfe kaum auf die Grundorientierung zu, höchstens auf Schattierungen bei der theologischen und kirchlichen Prägung. Der Überblick zeigt jedenfalls dies, dass die Führungsgestalten der evangelischen Kirche zwischen 1961 und 1979 (und noch lange Jahre darüber hinaus) insgesamt eher eine Kontinuität als einen Wandel der kirchlich-theologischen Mentalität demonstrierten. Hinsichtlich der Akteure auf der Gemeindeebene (Pfarrer, Kirchenvorsteher, Religionslehrer etc.) gilt eine derartige Feststellung kaum. Denn dort wirkte sich aus, dass in die entsprechenden Ämter seit ca. 1975 diejenigen kamen, welche von dem geistigen Umbruch der „68er-Bewegung“ bestimmt worden waren (neben einer großen Schar solcher, für die eine derartige Prägung nicht galt). Nur im Blick auf diesen Kreis stimmt es, dass die Jahre 1961–1979 eine Inkubationszeit bildeten, die sich personalpolitisch auf vielen kirchlichen Ebenen sukzessive ab etwa 1980 – vor allem auch in den Synoden – und bei dem obersten Führungspersonal wohl erst ab etwa 1990 in neuen Grundorientierungen auswirkte.

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2. Kontinuität und Wandel der Volkskirche Der Begriff „Volkskirche“ spielte in dem hier behandelten Zeitraum eine erhebliche Rolle. Er diente im Protestantismus des 19. Jahrhunderts dazu, ekklesiologische Konzepte für Reformvorstellungen zwecks Bekämpfung der um sich greifenden Entkirchlichung zu formulieren. Eine derartige Verwendung steigerte sich im 20. Jahrhundert, doch nun überwog ein positivistisch-deskriptiver Sinn, weil man damit aufgrund der nach 1918 eintretenden Orientierungskrise die institutionelle Selbstbehauptung und die gesellschaftliche Relevanz der evangelischen Kirche herausstellen wollte37. Diese Sicht bestimmte nach 1945 den Wiederaufbau sowohl in West- als auch in Ostdeutschland. Sie setzte faktisch die Kirchenzugehörigkeit fast der ganzen Bevölkerung voraus und leitete daraus eine undiskutierte Plausibilität kirchlicher Existenz ab. Beides wurde allerdings in der DDR seit etwa 1952 fraglich. Aufschlussreich war, dass sich im Westen seit 1960/61 eine Diskussion um die „Volkskirche“ entwickelte und seit 1966/67 mit der Kirchenreformdiskussion (dazu s. u. 2.2) verband38. Die Entwicklung kulminierte 1975–1980 in der Präsentation unterschiedlicher Konzepte durch kirchliche Institutionen39. Man kann vier grundlegende Merkmale von „Volkskirche“ feststellen: die mehrheitliche formale Kirchenzugehörigkeit (mit häufig distanziertem Mitgliedschaftsverhalten); die nicht explizit-religiös artikulierte Verbindung von bürgerlicher Existenz und Kirchenmitgliedschaft (ausgedrückt vor allem in Taufe, Konfirmation, Trauung, Bestattung, Weihnachtsfeier); die privilegierte Stellung in der Öffentlichkeit, als Partnerschaft mit dem Staat definiert; den Pluralismus von Gruppen und Positionen mit entsprechenden Polarisierungen40. Der Begriff „Volkskirche“ soll für den folgenden Abschnitt im positivistischdeskriptiven Sinne jene meist unreflektierte Majoritätsmentalität ausdrücken, welche sich an der scheinbar unveränderten äußeren Situation orientierte, wenngleich es deutliche Anzeichen für einen Wandel der Realität gab, auf die sich 37

Dazu z. B. W.-D. H AUSCHILD, Volkskirche und Demokratie; J. SCHOELL, Volkskirche. Das spiegelt sich auch in den Publikationen wider. Vgl. den Literaturbericht von G. R AU, Volkskirche. Er listet 444 Titel auf (S. 2–22) und periodisiert die Volkskirchendiskussion in die drei Phasen 1945–1960, 1960–1975, ab 1975, „wobei die Übergänge fließend sind“ (S. 23). Für die erste Phase notiert Rau 11, für die Zeit bis einschließlich 1966 ebenfalls 11, für 1967 immerhin auch 11 Veröffentlichungen. Vgl. die von Rau beeinflusste Dissertation von A. LEIPOLD, Volkskirche, S. 77–134. Die Konzentration auf wissenschaftliche Literatur reicht historiographisch insofern nicht aus, als sie die tatsächliche Diskussionslage in der evangelischen Kirche kaum erfasst. 39 Für die EKU s. das Votum des Theologischen Ausschusses: A. BURGSMÜLLER (Hg.), Auftrag; für die VELKD s. die Studie des Theologischen Ausschusses: W. LOHFF /L. MOHAUPT (Hg.), Volkskirche; für die Differenzen innerhalb der EKD s. R. SCHLOZ (Bearb.), Thema. 40 Vgl. dazu W.-D. H AUSCHILD, Volkskirche und Bekenntniskirche. 38

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die literarische Volkskirchendiskussion bezog. Doch dabei spielten die sozialen Bewegungen der sechziger und siebziger Jahre nur eine marginale und partielle Rolle. 2.1 Ein wesentlicher Aspekt volkskirchlicher Existenz war die materielle Ausstattung. In dieser Hinsicht kann die Zeit seit 1961 als „dagobertinische Phase“ der westdeutsch-protestantischen Kirchengeschichte gekennzeichnet werden: Jetzt schwamm die evangelische Kirche im Geld wie nie zuvor dank der explodierenden Kirchensteuereinnahmen aufgrund von Wirtschaftswachstum und beginnender Inflation (und dies mindestens bis zur ersten Krise 1974/75). Dazu einige Zahlen41 : Die Einnahmen aus Kirchensteuern betrugen im Jahre 1953 ca. DM 336 Millionen; sie stiegen bis 1960 auf ca. DM 793 Millionen, d. h. auf mehr als das Doppelte. Doch in dem einen Jahr bis 1961 sprangen sie förmlich hoch, nämlich auf ca. DM 1028 Millionen, was einem Zuwachs von fast 30 Prozent entsprach. Auch in ökonomischer Hinsicht kann man also das Jahr 1961 als eine gewisse kirchengeschichtliche Zäsur gelten lassen, denn seitdem wuchsen die kirchlichen Finanzen kontinuierlich an42 . 1972 lagen die Einnahmen bei ca. DM 3,13 Milliarden, was eine Steigerung um 17,1 Prozent gegenüber dem Jahr 1971 bedeutete. 1975 und 1976 gab es einen rechtlich bzw. strukturell bedingten Rückgang, doch 1979 erreichten die Kirchensteuern die satte Höhe von ca. DM 4,43 Milliarden (mit einer nochmaligen Steigerung um 9,3 Prozent auf ca. DM 4,84 Milliarden im Jahre 1980 und weiteren Zuwächsen von jährlich etwa 2–5 Prozent), so dass man mit 1979 hier keine Zäsur ansetzen kann, sondern erst mit der grundsätzlich veränderten Situation nach 199243. Der ökonomische Faktor wird zwar in der Historiographie meist gar nicht oder jedenfalls unzureichend berücksichtigt, ist aber für das Verständnis der Gesamtsituation wichtig. Die gegenüber den fünfziger Jahren in einer Steilkurve ansteigende Bautätigkeit (Kirchengebäude, Gemeindezentren, Häuser für Spezialdienste, Verwaltungspaläste) war ein Indiz 44. Weniger sichtbar, doch für die weitere Kirchengeschichte relevanter war die enorme Vermehrung der Stellen u. a. für die Gemeinde- und Sonderpfarrdienste, die kirchliche Verwaltung

41

Die folgenden Angaben – ohne die Bewertungen – nach H.-P. BAREIS, Entwicklung, S. 88–91. Beachtenswert ist, dass die gesamten kirchlichen Einnahmen zunehmend diejenigen aus der Kirchensteuer weit überstiegen. Vgl. z. B. D. ROHDE, Statistik (1980), S. 306: Kirchensteuern ergaben DM 4,428 Milliarden, die Gesamteinnahmen lagen aber bei DM 7,456 Milliarden. 43 Vgl. zu den Zahlen auch die KJ-Statistiken und -Berichte, z. B. P. ZIEGER, Kirchensteuer; D. ROHDE, Istaufkommen. Zur Situation nach 1990 vgl. U.-P. HEIDINGSFELD, Dokumente (1994), S. 270–276; DERS., Dokumente (1996), S. 231–261; ENTWICKLUNG, S. 301–458. 44 Vgl. z. B. D. ROHDE, Bauaufwendungen. 42

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und die diakonischen Einrichtungen45. Hinzu kam die sukzessive Strukturveränderung und Anhebung von Vergütung und Besoldung (z. T. mit neuen Berufsbildern und Ämtern). Viele innovatorische Aktivitäten wurden deswegen provoziert und institutionalisiert, weil viel Geld vorhanden war, das irgendwie sinnvoll eingesetzt werden sollte. Man muss im Übrigen beachten, dass die erfreuliche Geldschwemme unter anderem zwei positive kirchengeschichtliche Folgen hatte. Die EKD und ihre Gliedkirchen konnten, wie oben bereits angedeutet, den „Brüdern und Schwestern im Osten“ massive Finanzhilfen zukommen lassen, was bis hinunter auf die Gemeindeebene reichte46. Zu Recht empfand man das als eine selbstverständliche moralische Verpflichtung. Ähnliches zeigte sich im Verhältnis zum Ökumenischen Rat der Kirchen, von dessen Finanzmitteln ein erheblicher Teil aus der EKD kam47. Die skizzierte Ausweitung der kirchlichen Strukturen wirkte spätestens nach 1990 als eine schwere Belastung schrumpfender Haushalte, so dass seitdem die Finanzkrise zum meisterörterten Thema evangelisch-institutioneller Existenz geworden ist und die Jahre 1961–1979 auch in dieser Hinsicht als Inkubationszeit gelten können. Insofern ist der oben eingeführte Begriff „dagobertinische Phase“ nur halb zutreffend: Die Kirche hätte nicht bloß wie Dagobert Duck im Geld schwimmen dürfen, sondern wie er es weitaus stärker horten sollen, als sie es mit Pensionsfonds und Rücklagen praktizierte. Im Übrigen muss beachtet werden, dass seit etwa 1963 von außen her in den öffentlichen Medien die Kritik an der angeblich reichen Kirche wuchs, oft auf dem Hintergrund einer antikirchlichen Einstellung der betreffenden Organe und Autoren48. Eine ebenso kirchlich wie gesamtgesellschaftlich bedeutsame Diskussion um das „Geld der Kirche“, insbesondere um die Beibehaltung der Kirchensteuer, gehörte gut zehn Jahre lang zu den historiographisch wichtigen Themen49. 45 Dazu nur ein knapper Hinweis: Am 31.12.1960 gab es in den westlichen EKD-Gliedkirchen 12.042 Stellen für Pfarrer etc., aber am 31.12.1965 bereits 14.106; s. P. ZIEGER, Gliederung, S. 394f. Vgl. D. ROHDE, Statistik (1980), S. 201: „Der seit längerer Zeit festzustellende Anstieg der Zahl der Pfarrstellen hat sich im Jahre 1979 erstmals erheblich abgeschwächt“. Per 31.12.1979 waren es insgesamt 16.205, was gegenüber 1961 eine Steigerung von ca. 35 Prozent implizierte. Vgl. EBD., S. 309 die Zahlen zu den kirchlichen Ausgaben 1979: 53,2 Prozent Personalkosten, aber nur 8,5 für Baumaßnahmen etc. und 9,4 für Sachausgaben für Gebäude etc. (und 7,4 Prozent „Zuführung an Rücklagen“). 46 Vgl. die Tabelle bei L. GEISSEL, Unterhändler, S. 471–475. 47 Zur komplizierten ÖRK-Finanzstruktur s. K. R AISER, Kirche. Zur Finanzierung der ÖRK-Organisation trug die EKD 1969–1975 etwa 40 Prozent bei; s. EBD., S. 824. 48 So z. B. im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“; vgl. das Gespräch vom 27.5.1964 mit dem rheinischen Präses „Reichtum ist für die Kirche eine große Gefahr“, abgedruckt in: J. BECKMANN, Hoffnung, S. 218–226. 49 Vgl. z. B. W. WILKEN, Geld; S. SCHELZ, Schröpfung.

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2.2 Spätestens seit Beginn der sechziger Jahre wurde „Kirchenreform“ zu einem in der kirchlichen Öffentlichkeit relevanten Thema, was historisch allerdings kaum wirksam wurde, weil die umfangreiche Diskussion nur relativ schmale oder nach außen hin nicht sichtbare Ergebnisse brachte50. Sie war einerseits eine Begleiterscheinung des gesamtgesellschaftlichen Diskurses um vielfältige Strukturreformen, andererseits gab es spezifisch kirchliche Ursachen und Intentionen. Es wäre historiographisch falsch, wollte man diese Reformdiskussion hauptsächlich als eine Folge der „68er-Bewegung“ werten51. Die Diskussion war auf vielfältige Gegenstände bezogen und setzte teilweise Denkprozesse fort, die bereits in den fünfziger Jahren eingesetzt hatten und keineswegs bloß ein Reflex gesellschaftlicher Diskussionen waren, vielmehr teilweise Anstöße aus der Ökumenischen Bewegung aufnahmen (z. B. die differenzierte Aktivierung der Laien in der Gemeindearbeit und in der Volksmission unter Parolen wie „Haushalterschaft“ oder „Missionierende Gemeinde“). Dazu gehörten auch die Ausweitung gruppenbezogener Arbeit und die Schaffung entsprechender Stellen z. B. der Studenten-, Krankenhaus-, Sozial- und Pressepfarrer52 . Hinzu kam u. a. der stattliche personelle Ausbau der Evangelischen Akademien in den sechziger Jahren, die bis auf eine Ausnahme (Bad Segeberg) sämtlich vor 1960 gegründet worden waren. Sie repräsentierten also in ihrer Konzeption von Öffentlichkeitsverantwortung das Element kirchengeschichtlicher Kontinuität auch für die Zeit 1961–1979, wenngleich sich nach 1961 ein praktischer Wandel bemerkbar machte u. a. durch die Bearbeitung der von den sog. neuen sozialen Bewegungen aufgeworfenen Probleme53. 2.3 Um die nächste zu thematisierende Veränderung richtig zu verstehen, muss man sich verdeutlichen, dass – entgegen einer heute verbreiteten Sicht – die evangelische Kirche nicht erst seit dem 16. Jahrhundert existiert, sondern als 50

Vgl. z. B. die instruktive Übersicht von R. SCHLOZ, Kirchenreform, S. 51–58; ferner R. v. THAD(Hg.), Fragen; H. THIELICKE, Leiden; W. JETTER, Kirche; W.-D. M ARSCH, Institution (S. 5: „Bilanz aus einem Jahrzehnt Engagement in Sachen Kirchenreform“). 51 Aufschlussreich waren die Interpretationsparolen, die der KJ-Bearbeiter GOTTFRIED NIEMEIER – Oberkirchenrat der Kirchenkanzlei der EKD seit 1953, sorgfältiger Registrator und zurückhaltender Kommentator der jährlichen Ereignisse – jeweils in der Einleitung zu seinen Berichten brachte, wobei zu beachten ist, dass diese Interpretation gut 1–2 Jahre nach dem Berichtsjahr verfasst wurde: „Das Jahr erschütterter Sicherheiten“ (DERS., Kirche [1962], S. 1f.); für das Jahr 1963 wurde festgestellt, dass einerseits die evangelische Kirche um Erneuerung bemüht war, dass andererseits die Kritik an ihrer „Wirklichkeitsferne und Weltfremdheit“ in der Gesellschaft gewachsen wäre (DERS., Kirche [1963], S. 2). 52 Detaillierte Übersicht z. B. in: Y. SPIEGEL (Hg.), Pfarrer. 53 Vgl. z. B. F. F. M ARTINY, Akademien; R. J. TREIDEL, Akademien; EKD-Denkschrift „Der Dienst der Evangelischen Akademien im Rahmen der kirchlichen Gesamtaufgabe“ (1963). In: DER AUFTRAG EVANGELISCHER A KADEMIEN, S. 109–123.

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durch die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus konstituierte Gemeinschaft seit dem 1./2. Jahrhundert institutionelle Formen bekommen hat. Dabei hat stets das geistliche Amt der Bischöfe und Pastoren eine wesentliche Bedeutung besessen. Die Träger dieses Amtes waren Männer. Angesichts dessen gehörte es zu den revolutionären Strukturänderungen, dass die evangelische Kirche seit etwa 1961 Frauen für das geistliche Amt im Vollsinne ordinierte. Das resultierte aus einer wohlbedachten Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen im 20. Jahrhundert und führte – binnenkirchlich betrachtet, im Vergleich mit der römischen Kirche und mit den orthodoxen Kirchen gewertet – zu dem historisch bemerkenswerten Wandel, der in der hier betrachteten Phase 1961–1979 bewerkstelligt wurde. Der Sache nach ging es um die Frauenordination, d. h. die theologische Gleichstellung von Frau und Mann als Pfarrerin und Pfarrer, ferner um die dienstrechtliche Gleichstellung der Frau, die ziemlich schleppend und zeitlich unterschiedlich von den deutschen Landeskirchen geregelt wurde. Auch dies war ein Beispiel dafür, dass die nach 1961 vollzogenen Veränderungen in einer Entwicklungskontinuität mit den fünfziger Jahren – und der Zeit davor – standen54. Die geschichtliche Entwicklung seit 1919 zeigte, dass in der evangelischen Kirche die gesamtgesellschaftliche und verfassungsrechtliche Statusveränderung der Frau sich nur eingeschränkt auswirkte. Das änderte sich aufgrund der besonderen Einsatzbedingungen während des Krieges. Das Grundgesetz von 1949 und das staatliche Gleichberechtigungsgesetz von 1957 förderten die Entwicklung55. Die kirchenrechtliche Veränderung war ein Reflex einerseits auf die staatliche Gesetzgebung, andererseits auf den gesellschaftlichen Wandel der Frauenrolle, der sich hauptsächlich in zunehmender Berufstätigkeit der Frauen auch in den mittleren und höheren Schichten des Bürgertums bekundete. Historisch wichtig ist, dass dabei in Westdeutschland die theologische Argumentation nur eine marginale Rolle spielte (im Unterschied zu Schweden, wo vorher schon entsprechend diskutiert war, und zu den späteren heftigen Kontroversen in England). Sog. glaubenskonservative Kreise bekundeten zwar starke

54

Zum folgenden s. die Beiträge von Andrea Bieler u. a. in: „DARUM WAGT ES, SCHWESTERN …“ und die Darstellung von C. GLOBIG, Frauenordination. 55 Seit 1958 gab es vereinzelt in manchen Landeskirchen volle Pfarrstellen für Frauen und damit auch die Ordination, zuerst in der Pfalz und in Lübeck. Seit 1961 begann, als die konservative Landeskirche von Hannover einen „revolutionären“ Entwurf zum Pastorinnengesetz (welches 1963 in Kraft trat) vorlegte, im deutschen Luthertum ein dienstrechtlicher Dammbruch; vgl. die Texte in: LM 1, 1962, S. 372–379. Nur in Bayern (bis 1975) und in Schaumburg-Lippe (bis 1991), wo die Landesbischöfe Hermann Dietzfelbinger und Joachim Heubach kraft ihrer verfassungsrechtlichen Stellung mit theologischen Argumenten die Frauenordination blockierten, blieb es bei der alten Lösung eines „besonderen Dienstes“ der Frau (z. B. als Pfarrvikarin). Alle anderen westdeutschen Landeskirchen vollzogen die Gleichstellung bis 1969, wobei dann sukzessive auch die sog. Zölibatsklausel entfiel.

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Widerstände gegen die Frauenordination, aber deren zumeist biblizistische Argumentation konnte sich theologisch nicht durchsetzen. 2.4 Aus der zunehmenden Berufstätigkeit der Frau auch in den sog. Akademikerkreisen resultierte ein allmählicher Wandel der traditionellen Pfarrerrolle bzw. des traditionellen evangelischen Pfarrhauses, wo die Pfarrfrau eine für jede Gemeinde wichtige Funktion besaß56. Der angesprochene Wandel war ein Generationenproblem und machte sich ab etwa 1965 in der innerkirchlichen Diskussion bemerkbar, als die Ehefrauen der jungen Pastoren – zunächst weitgehend, dann zumeist – ihren erlernten Beruf voll oder halb ausübten. Daraus resultierte eine ökonomische Differenz zwischen jüngeren und älteren Pfarrfamilien, zunehmend häufig auch eine Differenz der Kinderzahl (diese u. a. auch bedingt durch den sog. Pillenknick seit 1967/70). Eine Reformdiskussion blieb in den Ansätzen stecken; so hätte vielleicht der Vorschlag, den innerhalb des Pfarrhauses und außerhalb desselben für die Gemeinde tätigen Pfarrfrauen ein ordentliches Gehalt zu zahlen, einige Veränderungen bewirken können oder den Wandel in der öffentlichen Funktion des Pfarrhauses gemildert; die Finanzierung eines solchen Gehalts wäre damals kein Problem gewesen. 2.5 Nach 1970 wurde die „Stabilität der Volkskirche“ zu einem viel diskutierten Thema, wobei sich unterschiedliche oder gegensätzliche theologische Positionen schon bei der Wahrnehmung des Problems, erst recht bei seiner Beurteilung kundtaten. Von der „Krise der Volkskirche“ sprach man inzwischen immer häufiger, und zwar über die positionellen Grenzen hinweg; in mancher Hinsicht bot diese Diskussion eine Fortsetzung der im Abschnitt 2.2 geschilderten Reformdiskussion57. Doch neu war die Berücksichtigung empirisch-sozialwissenschaftlicher Methoden, die dem damals allgemein vorgetragenen und teilweise realisierten Postulat entsprach, dass die Theologie stärker mit den sog. Humanwissenschaften kooperieren müsste. Erste empirische Untersuchungen gab es schon vorher. Erwähnt sei einerseits das 1963 von der Evangelischen Akademie Bad Boll angeregte kirchensoziologische Unternehmen, die Motive der Gottesdienstbesucher und das Beziehungsfeld zwischen Pfarrern und Gemeinden auf statistischer Grundlage zu analysieren, wobei der fortgeschrittene Funktionsverlust des traditionellen Gemeindelebens bei der Mehrzahl der Kirchenmitglieder zutage trat58. Für den weiteren Fortgang empirisch-sozialwissenschaftlicher 56

Vgl. die Beiträge in: M. GREIFFENHAGEN (Hg.), Pfarrhaus. „Die Wandlungen der Volkskirche haben diese offensichtlich in eine Krise geführt […]“, konstatierte z. B. 1959 auf dem Deutschen Pfarrertag J. BECKMANN, Wandlungen, S. 32. 58 J. M. LOHSE, Kirche. Ebenfalls 1967 führte das Magazin „Der Spiegel“ aufgrund einer Umfrage eine Untersuchung durch. Dessen leitender Kulturredakteur Werner Harenberg hatte schon früher 57

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Analysen spielte die Tatsache eine Rolle, dass die Kirchenaustritte in der BRD bedrohlich zunahmen. Zwischen 1950 und 1968 lagen sie im Durchschnitt bei 0,15 Prozent (das waren 1961 ca. 30.000 Menschen); 1969 stiegen die Austritte erstmals signifikant an, nämlich auf 0,42 Prozent, 1974 sogar auf 0,78 Prozent. Im Durchschnitt blieben es bis 1989 ca. 0,5 Prozent. In Zahlen ausgedrückt waren es 1969 fast 110.000 und 1974 gut 216.000 Menschen. Die evangelische Kirche verlor somit zwischen 1961 und 1979 etwa zwei Millionen Mitglieder; angesichts dieser Tatsache sprach man besorgt um 1970 von der „Erosion der Volkskirche“59. Auf diesem Hintergrund gewann die von der EKD im Jahre 1972 veranstaltete Umfrage zur Praxis der Kirchenmitgliedschaft, die anschließend sorgfältig ausgewertet wurde, große Bedeutung und nachhaltige Wirkung60. Die Analyse ergab kein eindeutiges Ergebnis, aber viele Hinweise auf ein differenziertes Mitgliedschaftsverhalten. Es begann ein Streit um die Deutung; etliche sahen ihre vorgefasste Prognose vom baldigen Ende der Volkskirche bestätigt, die meisten allerdings zeigten sich überzeugt von einer relativen Stabilität61. Wichtiger als solche Interpretationen war, dass die EKD und ihre Gliedkirchen sich verstärkt der systematischen Planungsarbeit im Blick auf eine Effektivitätssteigerung kirchlicher Arbeit zuwandten62 . 2.6 Die Krise der Volkskirche manifestierte sich darin, dass es mit der sog. Bekenntnisbewegung seit 1966 zu einer organisatorischen Fixierung seitens konservativer Gläubiger kam, die eine Quasiseparation implizierte, diese jedoch wegen der Partizipation an der Kirchensteuer kaschierte. Es handelt sich um eines der wichtigsten kirchengeschichtlichen Themen der Zeit 1961–1979, weil dadurch die Struktur der evangelischen Kirche nachhaltige Veränderungen erteilweise aufsehenerregende Artikel zu kirchlichen und theologischen Themen publiziert (z. B. die Serie „Jesus und die Kirchen“). Seine Untersuchung galt jetzt der religiösen und moralischen Einstellung evangelischer und katholischer Kirchenmitglieder mit dem Ziel, die vermeintliche Glaubenskrise zu verdeutlichen. Das wurde unter dem Titel „Was glauben die Deutschen“ im Dezember 1967 vom „Spiegel“ veröffentlicht. Vgl. W. H ARENBERG (Hg.), Was glauben die Deutschen. 59 Zu den Zahlen s. die Tabelle bei D. POLLACK, Kirchenaustritt I, und etwas andere Tabellen in: K. V. R ABEN, Äußerungen (1970), S. 400; K. V. R ABEN, Äußerungen (1971), S. 394. Dass ein entscheidender Grund für die Austrittswelle eine breite, durch die Studentenbewegung seit 1968 geförderte Protesthaltung gegenüber traditionellen Bindungen war, ist möglich, jedoch kaum exakt nachweisbar. Die Motive der Austretenden bildeten ein komplexes Bündel, wobei die Kirchensteuer eine wesentliche Rolle spielte, die viele nicht mehr zahlen wollten angesichts des 1970 eingeführten, 1973 erneuerten Zuschlags zur Lohn- und Einkommensteuer. 60 Auswertung in: H. HILD (Hg.), Kirche. 61 Zu letzterer Position s. E. LOHSE, Ballast und G. HEINTZE, Reformwille; zu ersterer Position s. H.-O. WÖLBER, Ende. 62 Vgl. J. M ATTHES (Hg.), Erneuerung. Zu den theologischen Studien s. o. Anm. 39.

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fuhr 63. Das in Abschnitt 1.1 als Zäsur gewertete Jahr 1961 hat auch hier ein spezifisches Gewicht: Der seit ca. 1950 schwelende Konflikt um die sog. moderne Theologie (d. h. die historisch-kritische Bibelwissenschaft, insbesondere die Konzeption Rudolf Bultmanns und seiner Schule) erhielt eine Zuspitzung durch deren Grundsatzkritiker, die im Sommer 1961 den sog. Bethelkreis als erste Sammlungsbewegung bildeten64. Auch hier begegnete ein kirchengeschichtliches Element, welches einerseits eine wesentliche Kontinuität zu den fünfziger Jahren, andererseits einen markanten Wandel – nämlich die organisatorische Separation – aufwies. Die entscheidende Ursache dieser Opposition war wohl, dass sie mit dem modernen Pluralismusproblem in der Kirche nicht anders als durch schroffe Verwerfung umgehen konnte. Sie wollte biblizistische Eindeutigkeit und wörtliche Geltung der Bekenntnisse. Die Kontroverse um den Kirchentag seit 1965 verdeutlichte das besonders, doch die Bekenntnisbewegung erfasste bald fast alle wesentlichen Bereiche kirchlicher Arbeit: Mission und Ökumene, theologische Ausbildung und Fortbildung, Publizistik und Volksmission65. So entstand – maßgeblich gefördert durch die Kooperation mit freikirchlichen Gemeinschaften, seit ca. 1970 mit dem ursprünglich angelsächsischen Begriff der „Evangelikalen“ bezeichnet66 – eine Parallelstruktur zu der verfassten Kirche, zu der immer wieder kritisierten Volkskirche. Die ganze Bewegung war charakteristisch für eine Regression angesichts der verwirrenden Phänomene der „Moderne“ und der „Postmoderne“. Sie war nicht verursacht durch die sog. neuen sozialen Bewegungen, erfuhr durch diese jedoch eine willkommene Bestätigung ihres Ansatzes. Anachronistisch war sie insofern, als sie eine Gestalt von Theologie und Kirche kritisierte, welche damals noch grundsätzlich einen positiven 63 Seit der Dortmunder Großkundgebung vom 6.3.1966 organisierte sich die „Bekenntnisbewegung ‚Kein anderes Evangelium‘“ über Westfalen hinaus auch in anderen Landeskirchen. In lutherischen Landeskirchen formierten sich 1966–68 Arbeitskreise als „Kirchliche Sammlung um Bibel und Bekenntnis“. Die „Notgemeinschaft evangelischer Deutscher“ wurde am 30.9.1966 gegründet (vgl. unten 3.5; seit 1973 mit dem Namen „Evangelische Notgemeinschaft in Deutschland“). Vgl. zu diesen Organisationen die Selbstdarstellungen und Textdokumentationen in: R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg. Vgl. auch die Texte in: G. NIEMEIER, Kirche (1966), S. 77–152 und G. NIEMEIER, Kirche (1967), S. 48–75. 64 Vgl. H. STRATMANN, Evangelium, S. 16–158. In einer Eingabe an alle Kirchenleitungen wandte sich der „Bethelkreis“ gegen die Verfälschung des Evangeliums sowie gegen die Auflösung der Kirche durch den Pluralismus. In Württemberg richteten pietistische Kritiker schon zu Neujahr 1961 einen offenen Brief an die Stuttgarter Kirchenleitung und die Tübinger Fakultät, um damit dem Eindringen von Irrlehrern in das Pfarramt zu wehren; Texte in: G. NIEMEIER, Kirche (1961), S. 60–64 und S. 50–54. 65 Dazu s. z. B. W.-D. H AUSCHILD, Grundsatzfragen (1976/77), S. 78–92; DERS., Grundsatzfragen (1978). 66 Instruktive Darstellung bei: F. JUNG, Bewegung.

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Bezug zu Bibel und Bekenntnis als normative Grundlagen besaß. Die von ihr kritisierte „moderne Theologie“ verlor ab 1968 für viele jüngere Theologinnen und Theologen bemerkenswert an Relevanz und galt diesen schon bald als unmodern. 2.7 Unmittelbar-äußerlich verursacht durch die institutionelle Abtrennung der östlichen EKD-Gliedkirchen 1961–1969, mental-atmosphärisch mitbedingt durch die „Bewegungen“ der sechziger Jahre und theologisch unterfüttert durch Einheitskonzeptionen, welche – analog zu der dogmatisch kritisierten Zersplitterung in Konfessionskirchen – das historisch gewachsene Landeskirchentum in Deutschland als unzulässigen Provinzialismus werteten, begann 1970 ein aufwändiges Unternehmen, die Reform der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 67. Bezeichnend war, dass die ungeklärten ekklesiologischen Probleme vernachlässigt wurden und dass man frohgemut, jedoch illusorisch die Umgestaltung der EKD zu einer „Bundeskirche“ mit beträchtlich gestärkten Kompetenzen anstrebte68. Trotz etlicher Einwände erarbeitete der von dem Tübinger Rechtsprofessor Ludwig Raiser – einem ebenso besonnenen wie an Reformimpulsen interessierten Kirchenpolitiker – geleitete Verfassungsausschuss erfolgreich und rasch bis 1971 einen Entwurf der neuen Grundordnung, der allgemein nur mit der bezeichnenden Abkürzung „EGO“ zitiert wurde (unfreiwilliger Ausdruck für die Tatsache einer hypertrophen Selbstzentrierung) 69. Die Plausibilität des Projekts ergab sich aus der Tatsache, dass infolge der Modernisierung der Kirchenstrukturen viele Arbeitsbereiche nur noch sinnvoll auf gesamtkirchlicher Ebene organisiert werden konnten (z. B. Diakonie, Mission, Entwicklungshilfe, Jugendarbeit, Studentengemeinden, Frauenarbeit, Ausbildungsplanung) und dass infolge des Bedeutungszuwachses der sozialen und politischen Themen auf der BRDEbene die zentrale Außenvertretung gestärkt werden musste. Doch die mit alledem verbundenen Detailprobleme mussten immer wieder in verschiedenen Gremien diskutiert werden. Generell wuchs die Animosität gegen einen Zentralismus, welcher der deutsch-protestantischen Tradition widersprach. Stärker als die theologischen Schwierigkeiten bei der Abendmahlsgemeinschaft und der Bekenntnisbindung wirkten die praktisch-kirchenpolitischen Elemente – voran 67 Die grundsätzlichen und die tagespolitischen Veröffentlichungen dazu schwollen rasch zu einer beachtlichen Flut an; vgl. z. B. den Überblick über die Vorgänge bei W.-D. H AUSCHILD, Kirche, S. 675 und die ausführliche Darstellung von M. A HME, Reformversuch. 68 So die Entschließung der EKD-Synode in Stuttgart vom 15.5.1970: „An die Stelle des Kirchenbundes soll eine engere Gemeinschaft der Kirche (Bundeskirche) treten“, für die ein inhaltsreicher Aufgabenkatalog genannt wurde. Text in: O. LINGNER /R. HENKYS (Hg.), EKD, S. 77ff. 69 Text mit Erläuterungen: EBD., S. 26–67.

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die zentrale Gesetzgebungskompetenz und die direkte Beteiligung der EKD am Kirchensteueraufkommen – hemmend. Das allmähliche Nachlassen der Reformeuphorie spiegelte sich in entsprechenden Grundordnungsentwürfen (EGO I–IV 1971–72) wider und prägte den abschließenden EGO V, welchem sämtliche Gliedkirchen durch ihre Leitungsorgane in der EKD-Kirchenkonferenz und durch ihre Vertreter in der EKD-Synode am 7. November 1974 zustimmten70. Die zunehmende Reformmüdigkeit und Aversion gegen zentralistische Lösungen (die angeblich der Modernisierung des deutschen Protestantismus durch Stärkung seiner gesamtkirchlichen Vertretung dienen sollten) war schon in der letzten Beschlussphase 1974 deutlich erkennbar. Manche Kritiker betonten nun die föderalistische „Provinzialität“ als besonderen Wert. Zwar stimmten die meisten Gliedkirchen der neuen Grundordnung von 1974 zu, aber die evangelikale Opposition der württembergischen Landeskirche verhinderte dort 1976 die entscheidende Ratifizierung. Damit trat ein atmosphärischer Umschwung ein, welcher der gesamtgesellschaftlichen Reformmüdigkeit entsprach. Die Landeskirchen Bayern und Schaumburg-Lippe brauchten ihre Ablehnung gar nicht erst zu beschließen. Ein aufwändiges, die kirchlichen Kräfte erheblich beanspruchendes Reformprojekt war gescheitert71. Das war typisch für die Übergangszeit 1961–1979, in der fundamentale Strukturänderungen nur in kleinen Teilbereichen durchgesetzt werden konnten. Das Scheitern der großen EKDReform wirkte insofern positiv, als sukzessive nach 1980 (verstärkt durch das Wiederaufleben der EKD-Mitgliedschaft der Landeskirchen in der ehemaligen DDR 1991) innerhalb von etwa zwanzig Jahren die Kompetenzen und die Organisation der EKD gestärkt werden konnten.

3. Konflikte um die politische Verantwortung der Kirche Heutzutage gilt es als selbstverständlich, dass die evangelische Kirche – auf allen Ebenen bis hinunter zur Gemeinde, in all ihren Gruppen, Werken und Arbeitsformen – grundlegende politische Probleme als ihr Christentum unmittelbar betreffend betrachtet. Hier ist wiederum einerseits die langfristige Kontinuität seit 1945 zu betonen, andererseits ein nicht unbedeutender Wandel zu konstatieren (auch wenn dieser wegen des Forschungsmangels und wegen der Komplexi70 Zusammenfassung bei O. LINGNER, Ordnung (mit Abdruck von EGO V). Zu den Bedenken des bayerischen Landeskirchenrates s. EBD., S. 138f. 71 Vgl. W.-D. H AUSCHILD, Grundsatzfragen (1976/77), S. 60–73.

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tät der Materie noch nicht exakt beschrieben werden kann). Eine grundlegende Veränderung ergab sich nach 1945 daraus, dass man angesichts der defizitären Stellungnahme der evangelischen Kirche zu den Verbrechen des NS-Staates eine Neuorientierung hinsichtlich der politischen Verantwortung intendierte72 . Das war insofern bemerkenswert, als zuvor die Maxime galt, die Kirche wäre für Politik nicht zuständig, sofern es um konkrete praktische Probleme ging, welche nicht ihre Eigeninteressen – wie z. B. in der Schulpolitik – berührten. Die EKD nahm seit 1945 mit ihren Eingaben an die Besatzungsmächte zu deutschen Lebensfragen und mit ihren entsprechenden Verlautbarungen in neuartiger Weise „öffentliche Verantwortung“ wahr. Die beiden Haupthemen der nach außen gerichteten Kundgebungen waren die deutsche Einheit (bzw. Wiedervereinigung) und die westdeutsche Remilitarisierung (bzw. Wiederbewaffnung und Atomrüstung). Beide Komplexe hingen sachlich zusammen, doch Streit gab es seit 1950/51 nur um den zweiten73. Es war eine so heftige Konfrontation unversöhnlicher Positionen, dass viele damals eine Kirchenspaltung befürchteten und manche sie sogar befürworteten. Zwei unterschiedliche theologische Ansätze (beim Postulat der Königsherrschaft Christi über die Welt bzw. bei der Differenzierung zwischen weltlichem und geistlichem Regiment Gottes) kollidierten: die Behauptung, dass im Sinne eines prophetischen Wächteramtes die Kirche vom Wort Gottes her direkte politische Handlungsanweisungen geltend machen müsste; die Abwehr dieser Position durch die Betonung, dass für die Lösung politischer Probleme zwar grundsätzliche Maximen vom Wort Gottes her zu beachten wären, dass aber die Konkretionen allein der weltlich-praktischen Vernunft unterlägen. 3.1 Dem Streit um Wiederbewaffnung und Atomrüstung kommt auch deswegen historiographische Bedeutung zu, weil er sich bis 1989/90 – bis zum Ende des „Kalten Krieges“ – in mehreren Wellen fortsetzte und weil er einerseits ein inhaltliches Kontinuum westdeutscher Kirchengeschichte bildete, andererseits einen quantitativen Wandel verdeutlichte. Beides zeigte die seit 1980 aufblühende Friedensbewegung74. Sie bot zwar in sachlicher Hinsicht (auch hinsichtlich der theologischen Argumentation) nichts Neues, aber sie machte klar, dass nunmehr innerhalb der evangelischen Kirche zunehmend von einer Mehrheit politische Lebensprobleme durch religiöse Qualifizierung als Glaubensfragen verstanden wurden. Das galt seit 1950 für eine beachtliche Minderheit, und in den Jahren 72 Dazu z. B. W.-D. H AUSCHILD, Bedeutung, S. 323–326; M. GRESCHAT, Christenheit, S. 149–164; H. NOORMANN, Protestantismus; F. SPOTTS, Kirchen, S. 205–248. 73 Dazu s. J. VOGEL, Kirche; C. WALTHER (Hg.), Atomwaffen; U. MÖLLER, Prozess. 74 Allgemein s. R. SCHMITT, Friedensbewegung. Zur evangelischen Kirche vgl. z. B. E. WILKENS, Diskussion; K IRCHE UND FRIEDEN ; H. Z ANDER, Christen.

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1961–1979 verschoben sich die Gewichte nicht wesentlich. Jedoch änderte sich das seit der neuen Friedensdiskussion 1980ff., insbesondere seit der nach 1983 durch die Ökumenische Bewegung angestoßenen Kampagne des „Konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ (nicht nur spöttisch als neue Trinitätslehre der evangelischen Christenheit klassifiziert). Jetzt wandelte sich die frühere Minoritätsposition quantitativ zu einer Hauptströmung. Jetzt überlagerten ethische Fragen die traditionellen dogmatischen Probleme weithin. Auch dafür waren die sechziger und siebziger Jahre eine Inkubationszeit, wofür z. B. die Diskussion um das Phänomen einer „ethischen Häresie“ seit der ÖRK-Vollversammlung von Uppsala 1968 ein Indiz bot75. Auch bei der Lösung der seit 1950 diskutierten Problematik, wer gegenüber der gesellschaftlichen Öffentlichkeit für „die evangelische Kirche“ spreche, ergaben sich beachtliche Veränderungen. Nach 1961–1965 verlor der Grundsatz, dass Kirchenleitungen und Synoden hier eine besondere Kompetenz als reguläre Vertretungsorgane besäßen, an Relevanz76. Denn die kritischen Gruppen des „linken“/„progressiven“ wie des „rechten“/„konservativen“ Spektrums bestritten ausdrücklich oder faktisch, um ihre Proteste und Positionen öffentlich zur Geltung bringen zu können, eine höhere Legitimation der Organe der verfassten Kirche, deren Kundgebungen sie in der Sache widersprachen. So verstärkte sich die nach 1945 angebahnte bzw. fortgesetzte Fraktionierung der evangelischen Kirche zusammen mit dem Pluralismus der Positionen. Doch in der Zeit nach 1980 trat hier – abgesehen von der organisierten Separation auf der rechten Seite (s. Abschnitt 2.6) – in zweierlei Hinsicht eine Veränderung ein: a) Die institutionenkritischen Gruppen konnten den immer stärker von Jugendlichen dominierten Kirchentag seitdem viel massiver und breitenwirksamer als institutionelles Forum für ihre Selbstdarstellung sowie für den öffentlichen wie für den kircheninternen Einfluss nutzen als noch 1973 und 197577. b) Vertreter/Ver75

Vgl. W. A. VISSER ’T HOOFT, Welt, S. 438f.; W. HUBER, Häresie, S. 346f.; W. LIENEMANN, Pro-

zess. 76

Das lag u. a. an der starken Beteiligung evangelischer Pfarrer an den Protestaktionen gegen die Atomrüstung seit 1957 und zumal seit 1960 (s. Anm. 73). Der Rat der EKD sprach im Januar 1963 das Problem an, „dass sich häufig kirchliche Stellen, kirchliche Werke und auch einzelne Personen des kirchlichen Lebens zu wichtigen Fragen der Gesetzgebung und der Politik äußern und dabei, wenn auch meist ohne Absicht, den Anschein erwecken, als verträten sie eine offizielle Meinung der evangelischen Kirche“. Seine Bitte an die Landeskirchen und kirchlichen Werke, sich nur über die EKD-Dienststellen an „Organe der Bundesrepublik zu wenden“, fruchtete wenig. Das galt auch für die differenzierte Erörterung des Problems in der EKD-Denkschrift AUFGABEN UND GRENZEN KIRCHLICHER ÄUSSERUNGEN ZU GESELLSCHAFTLICHEN FRAGEN, S. 17–25; vgl. K IRCHENKANZLEI DER EKD (Hg.), Denkschriften, Bd. 1/1, S. 57–62 („Wer redet?“). 77 Die Friedensbewegung prägte die Kirchentage von Hamburg 1981 und Hannover 1983; dazu s. z. B. R. RUNGE /M. K ÄSSMANN (Hg.), Kirche, S. 161ff. Vgl. H. H. WALZ, Angst; H. N. JANOWSKI, Herzen.

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treterinnen der entsprechenden Positionen – jetzt zumeist von den sog. neuen sozialen Bewegungen geprägt – erhielten sukzessive Mandate in den Organen der verfassten Kirche (von Gemeindevorständen über Kreissynoden bis zu Landessynoden); bzw. die neuen Prägungen der einstmals Jugendlichen zogen mit deren Älterwerden und kirchlicher Karrierebewegung zunehmend auch in die Leitungsorgane ein. 3.2 Die Protestkultur, die den sog. neuen sozialen Bewegungen eine spezifische Erscheinungsform gab, wuchs im deutschen Protestantismus und an den Rändern der evangelischen Kirche als Folge der Polarisierung, welche im Streit um die deutsche Wiederbewaffnung 1950–1956 und um die deutsche Atomrüstung 1957–1962 zutage trat. Schon die sog. Paulskirchenbewegung von 1955 vereinte evangelische Kritiker (an ihrer Spitze Martin Niemöller, Gustav Heinemann, Helmut Gollwitzer) mit Gleichgesinnten aus den Gewerkschaften und aus der SPD. Insofern stellte sie ein Novum dar. Noch ausgeprägter und langfristig effektiver zeigte sich das in der seit 1960 organisierten, international vernetzten Kampagne „Kampf dem Atomtod“ mit dem alljährlichen „Ostermarsch“ (1960 mit ca. 1.000 Teilnehmern, bis 1968 mit 300.000 zu einer Massenbewegung entwickelt) 78. Hier entstand eine Keimzelle der späteren „Außerparlamentarischen Opposition (APO)“ neben bzw. zusammen mit der Protestbewegung, die aus der sog. SPIEGEL-Affäre sowie aus dem Kampf gegen die parlamentarische Vorbereitung der Notstandsgesetze seit Ende Oktober 1962 erwuchs79. Massendemonstrationen waren seitdem das Zeichen einer neuen Zeit, verstärkt durch die Protestaktionen gegen den Vietnamkrieg der USA seit 1966/67 und durch die „Studentenbewegung“ seit 1967/68. In kirchengeschichtlicher Hinsicht sind hier wiederum Kontinuität und Wandel zu betonen. 3.3 Das gilt auch für das in diesem Zusammenhang virulent werdende Problem der parteipolitischen Betätigung von Pfarrern. Die kirchlichen Verlautbarungen dazu durchzog seit der entsprechenden Verlautbarung von Rat und Kirchenkonferenz der EKD aus den Jahren 1949 und 1950 wie ein cantus firmus die Mahnung zur Zurückhaltung80. Faktisch galt diese im Blick auf ein – vorerst noch 78 Dazu s. K. A. OTTO, Ostermarsch. Der Ostermarschaufruf wurde 1963 von über 600 evangelischen Geistlichen unterschrieben (EBD., S. 119), d. h. von etwa vier Prozent der gesamten Pfarrerschaft. Führende Theologen waren hier u. a. Martin Niemöller, Helmut Gollwitzer, Heinrich Vogel, Ernst Wolf, Heinz Kloppenburg (EBD., S. 107, 119). 79 Einzelheiten außer bei K. A. OTTO, Ostermarsch, bei H. K. RUPP, Opposition; R. SEELIGER, Opposition. 80 Wörtlich hieß es in der von Kirchenkonferenz und Rat herausgegebenen Entschließung vom 17.11.1950: „Der Rat erneuert seine Bitte an alle Amtsträger der Kirche, in ihren politischen Äuße-

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seltenes – Engagement in der SPD, weniger jedoch in der CDU und CSU, was häufiger vorkam und als eher unproblematisch galt, weil diese ja „christliche“ Parteien waren. Mit dem Bundestagswahlkampf 1961 spitzte sich jenes Problem insofern zu, als jetzt nicht nur etliche Geistliche öffentlich für die SPD votierten, sondern auch einige als Kandidaten der im Dezember 1960 gegründeten Partei „Deutsche Friedensunion (DFU)“ fungierten oder deren Wahlaufrufe mit ausdrücklicher Amtsbezeichnung als Pfarrer unterschrieben81. Die DFU sollte der Antiatomwaffen-Protestbewegung eine parlamentarische Organisation bieten; sie definierte sich in ihrem Parteiprogramm als „Bündnis von Christen, Sozialisten, Konservativen und Liberalen“, schloss aber von vornherein bewusst auch Kommunisten ein, denen seit dem KPD-Verbot 1956 eine parteipolitische Betätigung verwehrt war82 . Sie errang 1961 nur 1,9 Prozent (= 609.918) Wählerstimmen, kandidierte bis 1966 bei Landtagswahlen und verlor danach an Bedeutung. Sie war ein Paradigma für die Marginalität der „linken“ Protestbewegung im deutschen Protestantismus. Im Kontrast zu ihr zeigte der Erfolg der 1980 auf Bundesebene gegründeten Partei „Die Grünen“, dass mittlerweile die sog. neuen sozialen Bewegungen nach 1979 im Protestantismus einen viel breiteren Rückhalt gefunden hatten83. Zwischen diesen beiden Punkten lag der Einfluss von „Studentenunruhen“ und „68er-Bewegung“, der vor allem bei Theologiestudierenden und Vikaren sowie in den jüngeren Teilen der Pfarrerschaft diejenige Einstellung förderte, welche seitdem als „Politisierung“ einerseits kritisiert, andererseits ausdrücklich gefordert wurde84. Dieses Phänomen beeinflusste zwar die öffentliche Wahrneh-

rungen um ihres Dienstes willen am Evangelium, der allen gilt, möglichste Zurückhaltung zu üben“. Zitiert nach: J. BECKMANN, Zeitgeschichte, S. 224. Vgl. EBD., S. 94 das bayerische „Kirchengesetz über die politische Betätigung der Pfarrer, Kandidaten und Vikarinnen“ vom 23.9.1950. 81 In allgemeinen Formulierungen wandten sich dagegen u. a. Kirchenleitungsorgane der Pfalz und Hessen-Nassaus; s. G. NIEMEIER, Kirche (1961), S. 94; vgl. auch DERS., Kirche (1962), S. 88–91. 82 Dazu s. R. SCHÖNFELDT, Friedens-Union, S. 852 das Zitat aus dem Gründungsaufruf mit folgender Erläuterung: „Christen, denen ihr Glaubensgehorsam befiehlt, die Atomwaffen als Sünde wider Gott und seine Schöpfung zu erklären“. Dahinter standen – neben „Linksprotestanten/Linksprotestantinnen“ wie der Vorsitzenden Prof. Renate Riemeck – u. a. Pfarrer vom „linken Flügel der kirchlichen Bruderschaften“ (S. 854) wie z. B. Herbert Mochalski und Herbert Werner. Vgl. auch M. K LEIN, Protestantismus, S. 354–357. 83 Dazu s. J. R ASCHKE, Die Grünen; F. MÜLLER-ROMMEL /T. POGUNTKE, Die Grünen. 84 Zur Kritik vgl. H.-O. WÖLBER, Politisierung; zur Gegenposition s. den Beitrag auf der EKD-Synode von H. Gollwitzer (AUS BERICHTEN); Vermittlungsversuch bei E. STAMMLER, Politisierung. Bezeichnend für die Diskussionslage war, dass die „Evangelischen Kommentare“ in den Jahrgängen 1, 1968 bis 5, 1972 in ihrem Register das Stichwort „Politisierung der Kirche“ zu entsprechenden Beiträgen anführten, danach jedoch nicht mehr. Vgl. auch die Sendereihe des Norddeutschen Rundfunks: M. LINZ (Hg.), Politisierung.

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mung der evangelischen Kirche in den Massenmedien, es war aber insgesamt kein zentrales Problem, auch wenn es besonders intensiv und beispielhaft im Jahre 1974 die Westberliner Kirche bewegte85. Das galt entsprechend für die 1975/76 kulminierende Diskussion um die These, dass zwischen Christentum und Sozialismus eine inhaltliche Affinität bestünde86. Ein spezieller Konflikt erregte 1972–1977 zunächst die Evangelische Kirche von Hessen und Nassau (EKHN), dann die gesamte Evangelische Kirche in Deutschland: die Mitgliedschaft einiger Pfarrvikarinnen und -vikare in der 1968/69 gegründeten „Deutschen Kommunistischen Partei (DKP)“87. Deren religiöses Motiv war die Überzeugung, dass sie damit im Sinne der Bergpredigt den Einsatz für die Ausgebeuteten praktizieren könnten; hinzu kam der durch die „Studentenbewegung“ geförderte Protest gegen das kapitalistische System und das kirchliche Establishment. Als die Pfarrvikarin Ute Knobloch sich 1972 bei der Kommunalwahl in Frankfurt/Main als DKP-Kandidatin aufstellen ließ, begann der Konflikt. Kirchenleitung und Landessynode der EKHN fassten Beschlüsse, dass schon die DKP-Mitgliedschaft von Geistlichen nicht zu tolerieren sei, weil das Parteiprogramm zur Vertretung des Atheismus verpflichte. Dem gemäß wurde der Pfarrvikar Rolf Trommershäuser aus seinem vorläufigen Dienstverhältnis entlassen. (Übrigens gehörten auch in Schleswig-Holstein mindestens zwei Pastoren der DKP an, ohne Sanktionen auf sich zu ziehen.) 88 Das Problem entschärfte sich bis 1977 quasi von selber, weil die Pfarrvikare aus der DKP austraten oder durch politische Zurückhaltung in ihren Gemeinden keinen Ärger erregten. Es war insofern ein für jene Zeit symptomatisches Ereignis, als es zugespitzt den Einfluss der mit der „Neuen Linken“ und der „Studentenbewegung“ verbundenen Linkspolitisierung im Protestantismus zeigte. Doch es betraf nur eine kleine radikale Minderheit. 3.4 Auf breiterer Basis stellte sich das Problem der Politisierung bei den seit 1967/68 aufbrechenden Kontroversen um die Aktivitäten der Evangelischen Studentengemeinde (ESG), welche sich seit etwa 1970 an vielen Orten von bisher frommen Arbeitsgemeinschaften zu politischen Agitationszentren entwickelte89. Signifikant war der scharfe Konflikt um die ESG in Hannover, die 85

Dazu s. E. WILKENS, Staat, S. 119–126. Vgl. dazu W.-D. H AUSCHILD, Grundsatzfragen (1976/77), S. 92–98. 87 Zum folgenden s. E. WILKENS, Grundsatzfragen (1974), S. 24–29; W.-D. H AUSCHILD, Grundsatzfragen (1976/77), S. 98–104. 88 Der Rat der EKD gab am 28. Mai 1973 eine Stellungnahme ab, wonach eine derartige Parteimitgliedschaft für Geistliche von der Sache her unmöglich sei; Text in: G. NIEMEIER, Kirche (1973), S. 121. 89 Vgl. die Dokumentation in: G. NIEMEIER, Kirche (1967), S. 166–177. 86

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1977 ihr Domizil – einer bei „Linken“ beliebten Identifizierung folgend – programmatisch in „Thomas Müntzer-Haus“ umbenannte, nachdem das Landeskirchenamt gegen ihren Willen drei neue Studentenpastoren eingesetzt hatte90. Derartige personalpolitische Eingriffe von Kirchenleitungen hatte es schon vorher an anderen Orten gegeben. Für „rechte“ Kritiker wurde die ESG zu einem bevorzugten Demonstrationsobjekt, um vor dem Einfluss marxistischer Kräfte in der evangelischen Kirche zu warnen und darüber hinaus in fast allen kirchlichen Arbeitsbereichen sozialistische Machenschaften zu entlarven, um so die gesamte EKD als „linkslastig“ anzuprangern91. Der jahrelange, in der Öffentlichkeit heftig ausgetragene Konflikt um die Haltung der EKD und ihrer Gliedkirchen zum Antirassismusprogramm des ÖRK und zu den Verhältnissen in Südafrika und Namibia machte deutlich, dass über die Kreise der sog. Linken hinaus die Vermischung von politischen und theologischen Positionen seit 1970 zu einem kirchlichen Grundproblem wurde. Das „Programm zur Bekämpfung des Rassismus“ (PBR bzw. PCR) war – aufgrund eines Votums der ÖRK-Vollversammlung in Uppsala 1968 – vom Zentralausschuss 1969 beschlossen worden. Es bezog sich keineswegs nur auf Afrika, sondern sah – in der Tradition der ökumenischen Diskussion seit 1954 – den Rassismus als weltweites Problem mit vielfältigen politischen, ökonomischen, kulturellen und religiösen Aspekten92 . Praktisch handelte es sich um ein Aufklärungs-, Bildungs- und Hilfsprogramm. In Deutschland gewann es dadurch ungewöhnliche Brisanz, dass der ÖRK-Exekutivausschuss 1970 mit ihm einen „Sonderfonds“ zur materiellen Unterstützung verschiedener Befreiungsorganisationen, insbesondere im südlichen Afrika (einschließlich Angola), verknüpfte. Konservative Kreise, aber auch die meisten Kirchenleitungen und Synoden kritisierten, dass hier mit kirchlichen Geldern militärische Gewaltaktionen finanziert werden sollten93. Kritik gab es darüber hinaus auch an den politischen Pressionsversuchen, mit denen der ÖRK das Apartheidsystem in Südafrika bekämpfen wollte. In diesem Zusammenhang bekam das Südafrikaproblem für die EKD einen besonderen Akzent, weil große deutsche Firmen dort mit Produktionsstätten und etliche Banken mit Filialen engagiert waren. Sie sah sich seit etwa 1970 zunehmend mit schärferen Forderungen von progres90

Vgl. W.-D. H AUSCHILD, Grundsatzfragen (1976/77), S. 105ff. So v. a. bei J. MOTSCHMANN /H. M ATTHIES (Hg.), Rotbuch. Die Herausgeber betonten, der Antichrist wäre „von der linken Seite“ fast unerkannt eingedrungen und könnte nun „mit Unterstützung der offiziellen Kirche ungehemmt seine Position ausbauen“ (S. 9). Vgl. EBD., S. 145–166 den Beitrag über die ESG von H. Matthies. 92 Dazu s. z. B. die Dokumentation von K.-M. BECKMANN, Anti-Rassismus Programm; E. A DLER, Oekumene; L. COENEN, Kirchen; H. K RÜGER, Bewegung, S. 316–362. 93 Dokumentation dazu von G. NIEMEIER, Kirche (1970), S. 133–155. 91

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siven Protestantengruppen konfrontiert, die deutschen Kirchen sollten politisch darauf hinwirken, dass z. B. die Auslandsinvestitionen aus Südafrika abgezogen und ein Waffenembargo sowie ein Wirtschaftsboykott verhängt werden sollten94. Seit 1980 etwa entspannte sich die innerdeutsche Diskussionslage. Diese Kontroversen um die Bekämpfung des Rassismus zeigten exemplarisch, dass die Menschenrechtsthematik im Zusammenhang der Ökumenischen Bewegung für den deutschen Protestantismus ein zentrales religiöses Problem geworden war und dass dies zunehmend auch die kirchlichen Institutionen prägte95. Zusammen mit der aufkeimenden Ökologiebewegung (manifest seit 1976 in den Kämpfen um Kernenergie und Atomkraftwerke, an denen viele Geistliche und Gemeindeglieder beteiligt waren) zeigte sich hier, wie die Relevanz der Schöpfungstheologie in Verbindung mit politischen Grundfragen in der Kirche über partielles Engagement und marginale Vertretung hinaus zunahm – auch das ein Hinweis auf die Inkubationszeit eines späteren generellen Mentalitätswandels. 3.5 Die Wahrnehmung politischer Verantwortung gegenüber Staat und Gesellschaft erhielt in der hier behandelten Periode eine neuartige, für eine gewisse Modernisierung der Kirche charakteristische Ausdrucksform: die Denkschriften der EKD96. Man hat – übertreibend – von einem „Zeitalter der Denkschriften“ gesprochen97. Es begann im April 1962 mit der Veröffentlichung einer „Denkschrift zur Eigentumsfrage in der Bundesrepublik Deutschland“98. Hier begegnete ein neues Genus kirchlicher Kundgebung. Bisher hatten die EKD und die Landeskirchen sich zu politischen und gesellschaftlichen Fragen in mehr oder weniger kurzen „Worten“ geäußert, deren Allgemeinheit und Ausgewogenheit eine generelle Wirkungslosigkeit mitbedingte. Aus dem Stil der Akademiearbeit erwuchs die formelle und inhaltliche Eigenart der Denkschriften. Diese beschrieben in möglichst präziser Analyse den Problemstand und zielten auf einen „Kompromiss der Sachverhalte“ (wie Eberhard Müller, einer der maßgeblichen 94

Vgl. z. B. K. K REMKAU, EKD; R. HINZ, Kirche. Vgl. z. B. den „Beitrag“ der EKD-Öffentlichkeitskammer „Die Menschenrechte im ökumenischen Gespräch“ (1975). Abdruck in: K IRCHENKANZLEI DER EKD (Hg.), Denkschriften, Bd. 1/2, 1978, S. 87–103. 96 Thematisch gegliederte Sammelausgabe: K IRCHENKANZLEI DER EKD (Hg.), Denkschriften. 97 So z. B. H. SCHRÖER, Denkschriften, S. 494; L. R AISER, Denkschriften, S. 11. 98 „Eigentumsbildung in sozialer Verantwortung“ (1962). Abdruck in: K IRCHENKANZLEI DER EKD (Hg.), Denkschriften, Bd. 2, S. 21–32. Sie basierte auf entsprechenden Expertentagungen, welche die Evangelische Akademie Bad Boll zum Problem der ungerechten Vermögensverteilung nach 1949 abhielt. Am 7. November 1961 – also in dem hier insgesamt als Zäsur gewählten Jahr – beauftragte der Rat der EKD seine „Kammer für Soziale Ordnung“ unter Vorsitz von Eberhard Müller damit, eine Denkschrift zu der genannten Problematik auszuarbeiten; s. E. MÜLLER, Entstehung, S. 8–17. 95

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Initiatoren des neuen Genus, formulierte). Sie wollten die meist konträren Sichtweisen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, z. B. der Arbeitsgeber und der Gewerkschaften, auf einer gemeinsamen Plattform zusammenbringen. Bei Vorschlägen zur konkreten Praxisgestaltung übten sie dagegen große Zurückhaltung. Die „Kammer für Soziale Ordnung“ der EKD erarbeitete im Laufe der Jahre weitere Denkschriften zu aktuellen politischen Grundsatzfragen, z. B. zur Landwirtschaft 1965, zur Mitbestimmung 1968, zur sozialen Sicherung 197399. Diese und die weiteren Texte wurden in der Öffentlichkeit meist als EKD-offizielle Äußerungen wahrgenommen, auch wenn sie eine gestufte formale Dignität aufwiesen (von unmittelbarer Verantwortung des Rates der EKD bis zur Eigenverantwortung des jeweiligen Verfassergremiums). Die anderen Kammern und Kommissionen der EKD publizierten zunehmend Denkschriften und Studien, Handreichungen und Empfehlungen, die nach 1979 zu einer schwer überschaubaren Flut anschwollen und dadurch die allgemeine wie die innerkirchliche Wirksamkeit beeinträchtigten100. Die größte historische Bedeutung bekam die sog. Ostdenkschrift, welche die „Kammer für Öffentliche Verantwortung“ der EKD unter dem Vorsitz des Tübinger Juraprofessors Ludwig Raiser 1963–1965 erarbeitete. Hintergrund war eine heftige innerkirchliche Kontroverse, die durch die Veröffentlichung des sog. Tübinger Memorandums vom 6. November 1961 entstand101. Bewusst erst nach der Bundestagswahl publizierte die EKD mit Zustimmung des Rates im Namen des Ratsvorsitzenden Kurt Scharf am 1. Oktober 1965 diese Denkschrift, ein schmales Heft, welches in wenigen Monaten eine hunderttausendfache Verbreitung, eine starke Beachtung in den Medien und bei den Politikern sowie eine heftige Ablehnung bei den Vertriebenenverbänden – innerkirchlich auch beim Ostkirchenausschuss der EKD – und bei Deutschnationalen fand102 . Einzelheiten der Denkschrift und der durch sie ausgelösten Diskussion können hier

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Abdruck in: K IRCHENKANZLEI DER EKD (Hg.), Denkschriften, Bd. 2, S. 55–79, 81–111, 113–159. 100 Etliche behandelten sachkundig und teilweise wegweisend politische und gesellschaftliche Fragen wie z. B. die „Friedensaufgaben der Deutschen“ (1968), den „Friedensdienst der Christen“ (1969), den „Entwicklungsdienst der Kirche“ (1973), „Gewalt und Gewaltanwendung in der Gesellschaft“ (1974). Texte in: K IRCHENKANZLEI DER EKD (Hg.), Denkschriften, Bd. 1/1 und 1/2; 1993 erweitert um Bd. 1/3–4; EBD., Bd. 4/1–2 die bildungspolitischen Texte. Vgl. die instruktive Übersicht von H. BARTH, Denkschriften. 101 Dazu M. GRESCHAT, Wahrheit. 102 „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ (1965). Abdruck in: K IRCHENKANZLEI DER EKD (Hg.), Denkschriften, Bd. 1/1, S. 77–126. Der ursprünglichen Intention entsprach es, wenn GOTTFRIED NIEMEIER sie als „Vertriebenendenkschrift“ bezeichnete (DERS., Kirche [1965], S. 47).

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nicht behandelt werden103. Einige Ergebnisse seien genannt. Viele kirchlich-distanzierte Protestanten sahen hier eine neue Möglichkeit, sich partiell wieder mit der evangelischen Kirche zu identifizieren; zusammen mit dem Wort der katholischen Bischofskonferenz an die polnischen Kollegen trug die Denkschrift dazu bei, das Verhältnis zu Polen langfristig zu verbessern; sie erhielt Zuspruch vor allem in SPD-Kreisen, die sie – wie z. B. Willy Brandt später anerkennend betonte – als Unterstützung für ihre neue Ostpolitik in einer tabuisierten innenpolitischen Situation betrachtete; sie rief bei nationalkonservativen Politikern und Publizisten schärfste Kritik hervor104. Schon damals urteilten kundige Beobachter, dass mit ihr eine neue Phase der kirchlichen Öffentlichkeitsverantwortung eingeleitet worden sei, und bis heute hat sich dies Urteil immer wieder bestätigt. Auf ein weiteres Beispiel für kirchenpolitische Konflikte sei hier kurz hingewiesen. Zur Reform des Strafrechts im Blick auf Schwangerschaftsabbruch und Pornographie sowie zur Reform des Ehescheidungsrechts veröffentlichten im Dezember 1970 der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz und der EKD-Ratsvorsitzende eine kleine Broschüre, die in der äußeren Form exakt den bisherigen Denkschriften entsprach105. Gegen diese konservative Äußerung erhob sich im Jahre 1971 ein Sturm der Entrüstung seitens progressiver Protestanten, die u. a. eine förmliche „Gegendenkschrift“ publizierten106. Abgesehen von dem fortan bis 1976 die evangelische Kirche stark bewegenden Streit um die Abtreibungsproblematik trat hier der oben angesprochene Grunddissensus deutlich zutage, wer für die evangelische Kirche in der Öffentlichkeit spreche; er verdeutlichte die Fraktionierung der Kirche und die inhaltliche Polarisierung als Kennzeichen des öffentlichen Erscheinungsbildes107. Eine bemerkenswerte öffentliche und innerkirchliche Resonanz fanden jenseits des hier behandelten Zeitraums 1981 die sog. Friedensdenkschrift und 1985 die sog. Demokratiedenkschrift, beide durch die Öffentlichkeitskammer

103 Auswahl aus der umfangreichen Literatur dazu: K.-A. ODIN, Denkschriften, S. 161–209 (mit beachtlicher allgemeiner Einleitung „Das politische Wort der Kirche“ S. 5–21); R. HENKYS (Hg.), Deutschland; W. HUBER, Kirche, S. 380–432; E. WILKENS, Vertreibung. 104 Zu der 1966 gegründeten „Notgemeinschaft evangelischer Deutscher“ um den Schriftsteller Bernt von Heiseler und den Dortmunder Pfarrer Alexander Evertz s. o. Anm. 63. 105 J. Kardinal DÖPFNER /H. DIETZFELBINGER (Hg.), Gesetz. Der Entwurf dazu stammte von dem EKD-Oberkirchenrat Erwin Wilkens. 106 K. LEFRINGHAUSEN u. a., Gesetz. 107 Ausführliche Darstellung bei S. M ANTEI, Nein, S. 61–102. Die offiziellen EKD-Denkschriften zur Reform des Ehescheidungsrechts 1969 und zu Fragen der Sexualethik 1971, die sich um Kompromisse bemühten, spielten in den öffentlichen Kontroversen kaum eine Rolle; Texte in: K IRCHENKANZLEI DER EKD (Hg.), Denkschriften, Bd. 3, S. 23–44, 139–209.

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unter dem Vorsitz des Münchner Theologieprofessors Trutz Rendtorff erstellt108. Man kann das „Zeitalter der Denkschriften“ insofern auf die Jahre zwischen 1961/62 und 1981/85 begrenzen, als damals diese Form kirchlicher Partizipation am politischen Diskurs der westdeutschen Gesellschaft noch innovatorische oder regulierende Anstöße hervorbringen konnte. Die genannten Texte zeigten, wie die verfasste Kirche mit den Kontroversen um die politische Verantwortung konstruktiv umzugehen versuchte, ohne damit zu vermeiden, dass sie Anstoß bei dissentierenden Gruppen erregte und neue Konflikte verursachte. Ausgewogenheit und Profilschärfe bestimmten diesen Versuch, die Gesamtkirche angemessen zu Wort kommen zu lassen. Literaturverzeichnis A DLER, Elisabeth: Oekumene im Kampf gegen Rassismus. Ein erster Anfang (epd-Dokumentation. 14). Bielefeld/Frankfurt/M. 1975. A HME, Michael: Der Reformversuch der EKD 1970–1976. Stuttgart u. a. 1990. A LBERIGO, Giuseppe/WITTSTADT, Klaus (Hg.): Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959–1965), Bd. 1. Mainz/Leuven 1997. AUFGABEN UND GRENZEN KIRCHLICHER ÄUSSERUNGEN ZU GESELLSCHAFTLICHEN FRAGEN. Eine Denkschrift. Hg. vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh 1970. DER AUFTRAG EVANGELISCHER A KADEMIEN. Ein Memorandum. Hg. vom Leiterkreis der Evangelischen Akademien in Deutschland. Bad Boll 1979. AUS BERICHTEN UND R EFERATEN DER EKD-SYNODE III. (Prof. D. Gollwitzer). In: Evangelische Kommentare 1, 1968, S. 653ff. BAREIS, Hans-Peter: Entwicklung und Bestimmungsfaktoren der Kirchensteuer-Einnahmen der Gliedkirchen der EKD. In: Lienemann, Wolfgang (Hg.): Die Finanzen der Kirche (FBESG. 43). München 1989, S. 33–107. BARTH, Hermann: Art. Denkschriften. In: Evangelisches Soziallexikon. Hg. von Martin Honecker. Neuausgabe 8. Aufl. Stuttgart u. a. 2001, Sp. 260–265. BÄUMER, Rudolf/BEYERHAUS, Peter/GRÜNZWEIG, Fritz (Hg.): Weg und Zeugnis. Bekennende Gemeinschaften im gegenwärtigen Kirchenkampf 1965–1980 (Veröffentlichungen des Theologischen Konventes der Konferenz Bekennender Gemeinschaften. Edition C 47). Bad Liebenzell/Bielefeld 1980. BECKMANN, Joachim: Kirchliche Zeitgeschichte. In: Kirchliches Jahrbuch 77, 1951, S. 1–227. –, Wandlungen der Volkskirche. In: Schimmelpfeng, Hans (Hg.): Die Kirche und ihre Dienste. Deutscher Pfarrertag in Mülheim/Ruhr, 15. bis 18. Sept. 1959. Essen [1959], S. 16–36. –, Hoffnung für die Kirche in dieser Zeit (AKIZ. B 10). Göttingen 1981. 108 FRIEDEN WAHREN, FÖRDERN UND ERNEUERN; Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe [1985]. Abdruck in: K IRCHENKANZLEI DER EKD (Hg.), Denkschriften, Bd. 1/3, S. 15–87. Vgl. dazu auch den Beitrag von Wolfgang Huber in diesem Band.

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Wolf-Dieter Hauschild

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Dieter Rucht

Soziale Bewegungen der 1960er und 70er Jahre in der Bundesrepublik

Soziale Bewegungen stellen sich ihrer Umwelt in erster Linie als Protestbewegungen dar. Sie markieren Probleme und Gegner; sie kritisieren gesellschaftliche Verhältnisse; sie leisten Widerstand. Anders als Parteien sind sie nicht auf den Erwerb politischer Ämter aus. Anders als viele Interessengruppen orientieren sie sich kaum an einer klar abgrenzbaren Klientel. Zudem sind ihre Ziele breiter und tiefer angesetzt als im Falle einer politischen Kampagne, die sich auf die Korrektur eines Gesetzes oder die Abstrafung eines Politikers beschränken mag. Soziale Bewegungen sind vielmehr mobilisierte Netzwerke von Gruppen und Organisationen, die, gestützt auf eine kollektive Identität, einen tief greifenden sozialen Wandel herbeiführen oder verhindern wollen und dabei vorrangig auf das Mittel des öffentlichen Protests zurückgreifen1. Den Prototyp einer sozialen Bewegung verkörpert die historische Arbeiterbewegung mit all ihren ideologischen und organisatorischen Verzweigungen. Ob in der heutigen Bundesrepublik noch von einer Arbeiterbewegung die Rede sein kann, darüber gehen – nicht zuletzt abhängig von der zugrunde gelegten Definition sozialer Bewegungen – die Meinungen auseinander. Manche Beobachter sehen in den heutigen Gewerkschaften nur noch eine klientelistische Interessenvertretung der Arbeitnehmer, die den Anspruch auf grundlegenden gesellschaftlichen Wandel preisgegeben hat. Dies war auch der Vorwurf, den die so genannte außerparlamentarische Opposition (ApO) der 1960er Jahre gegen die Gewerkschaften und die gesamte Alte Linke erhoben hatte. Dagegen positionierte sich die Neue Linke als treibende Kraft der ApO. Sie ist, so die These dieses Beitrags, die soziale Bewegung, die ab Mitte der 1960er Jahre das Bewegungsgeschehen in der Bundesrepublik geprägt und den nachfolgenden, die Neue Linke überlagernden neuen sozialen Bewegungen (NSB) 2 wesentliche Impulse gegeben hat. Reduziert 1 Näher dazu vgl. D. RUCHT, Neue soziale Bewegungen, S. 76f. Speziell zur Rolle des Straßenprotests in der Bundesrepublik vgl. T. BALISTIER, Straßenprotest; und R. ROTH, Die Macht. 2 Damit sind Bewegungen gemeint, die ab Ende der 1960er Jahre aufkommen und sich insbesondere auf die Themenbereiche Menschen- und Bürgerrechte, Frauenemanzipation, Frieden, Ökologie, alternative Formen des Arbeitens und Lebens sowie die Dritte Welt konzentrieren. Themenübergreifend wird von diesen überwiegend links orientierten Bewegungen eine Demokratisierung und Ausweitung politischer Partizipation gefordert.

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man 1968 nicht auf die politischen Turbulenzen während dieses Kalenderjahrs, sondern begreift die Zahl als Chiffre für einen gesellschaftspolitischen Fundamentalkonflikt, der in dieser Phase seinen Kulminationspunkt erreichte, so bilden die mit 1968 konnotierten Ereignisse die zentrale Orientierungsmarke, um wichtige vorausgehende und vor allem nachfolgende Entwicklungen zu „entschlüsseln“. Damit soll keineswegs gesagt werden, der gesamte Bewegungssektor und das facettenreiche Protestgeschehen ließen sich auf „1968“ beziehen. Um das sehr differenzierte Feld sozialer Bewegungen in diesen beiden Jahrzehnten nicht nur in engen Ausschnitten oder gar anekdotisch zu beschreiben, wähle ich in einem ersten Schritt eine systematische und quantifizierende Perspektive auf Basis einer Protestereignisanalyse (dazu weiter unten). Zwar sind Protestgeschehen und Bewegungsgeschehen nicht identisch. Zum einen bestehen die Aktivitäten sozialer Bewegungen nicht nur im Protest. Zum anderen greifen zuweilen auch etablierte Verbände, politische Parteien und selbst hohe Repräsentanten des Staates zum Mittel des Protests. Doch gibt es zwischen sozialen Bewegungen und Protestakteuren eine hohe Schnittmenge – zumal dann, wenn mobilisierungsstarke Protestthemen betrachtet werden. In einem zweiten Schritt wende ich mich der qualitativen Analyse des Bewegungs- und Protestsektors dieser beiden Jahrzehnte zu, um einzelne Phasen und Themenstränge hervorzuheben. Abschließend werden einige Hauptbefunde resümiert.

1. Ein quantitativer Überblick zu kollektiven Protesten in den 1960er und 70er Jahren Die Protestereignisanalyse3 ist ein systematisiertes Verfahren der Dokumentation und Analyse von Protesten. Als Proteste gelten hier kollektive, öffentliche Aktionen nicht-staatlicher Akteure, mit denen Kritik und Widerspruch zum Ausdruck gebracht und ein gesellschaftliches und/oder politisches Anliegen formuliert wird. Sofern sich die Analyse auf größere geografische Räume und längere Zeitphasen erstreckt und damit eine Vielzahl von Protesten einschließt, werden bereits vorhandene Berichtsquellen – vorzugsweise Zeitungen, gelegentlich auch Archive von Polizei- und Ordnungsbehörden – genutzt, da es einzelnen Wissenschaftlern nicht möglich ist, all diese Proteste als Augenzeugen zu beobachten. Für zeitlich weit in der Vergangenheit liegende Proteste muss ohnehin auf bereits existierende Daten zurückgegriffen werden. 3

Zu den methodischen Grundlagen und Problemen vgl. D. RUCHT/T. OHLEMACHER, Protest Event Data; und R. KOOPMANS /D. RUCHT, Protest Event Analysis.

Soziale Bewegungen der 1960er und 70er Jahre

93

Die nachfolgend vorgestellten Analysen beruhen auf Informationen aus dem so genannten Prodat-Projekt4. Es enthält Protestereignisse in der Bundesrepublik im Zeitraum von 1950 bis 1997, über die in zwei bundesweiten Qualitätszeitungen (Süddeutsche Zeitung und/oder Frankfurter Rundschau; ohne die jeweiligen Lokal- und Landesteile) berichtet wurde. Der detaillierten standardisierten Erfassung der Zeitungsberichte liegt eine Stichprobe zugrunde, die alle Montagsausgaben und alle zusätzlichen Werktage jeder vierten Woche umfasst. Damit werden rund 46 Prozent aller „Ereignistage“5 berücksichtigt. Generell gilt es zu bedenken, dass die auf Zeitungsberichten basierende Protestereignisanalyse kein verkleinertes Abbild der Protestwirklichkeit liefern kann. Die Medienberichterstattung orientiert sich vorrangig an Nachrichtenwerten6 ; sie bevorzugt bestimmte Ereignisse aufgrund von deren Merkmalen und vernachlässigt andere Ereignisse. Die zahlreichen Proteste, über die nicht berichtet wird, sind für das große Publikum auch nicht existent. Und es sind sehr viele Proteste, die weitgehend ungehört verhallen. Allein in Berlin fanden amtlichen Angaben zufolge in den letzten Jahren jeweils zwischen 2.200 und 2.500 „Versammlungen und Aufzüge“ statt. Dabei handelt es sich überwiegend um Aktionen, die unter den hier vorgestellten Begriff des Protests fallen. Nur ein Teil dieser Proteste wird in der Lokalpresse7 und ein noch weitaus kleinerer Teil in der bundesweiten Presse für berichtenswert erachtet, wobei die Aufmerksamkeit sehr ungleich auf verschiedene Kategorien von Protesten verteilt ist8. Generell gilt der auch durch Untersuchungen im Ausland bestätigte Befund9, dass Massenproteste sowie Proteste, die Regelbrüche beinhalten, mit originellen Darstellungsformen verknüpft sind und/oder von prominenten Einzelpersonen bzw. reputierlichen Organisationen getragen werden, einen höheren Nachrichtenwert und somit auch eine größere Chance besitzen, Eingang in die Medien 4 Das Kürzel Prodat steht für „Dokumentation und Analyse von Protestereignissen in der Bundesrepublik Deutschland“. Das Projekt wird, nach zweijährigen Vorarbeiten, seit 1993 am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung durchgeführt. Zu Einzelheiten des Projekts und ausgewählten Befunden vgl. D. RUCHT, Protest in der Bundesrepublik. 5 „Ereignistage“ sind im Falle von Montagszeitungen der vorausgehende Samstag und Sonntag, bei den Ausgaben von Dienstag bis Samstag der jeweils vorausgehende Tag. Montagsausgaben wurden aus forschungsökonomischen Gründen stärker berücksichtigt, da sie sich auf zwei Ereignistage beziehen. 6 Vgl. J. GALTUNG /M. RUGE, Structure of Foreign News, S. 64–91; C. EILDERS, Nachrichtenfaktoren. 7 Im Berliner Lokalteil der „tageszeitung“ werden im jährlichen Durchschnitt der Phase von 2000 bis 2003 lediglich rund 190 Proteste berichtet, von denen wiederum nicht alle in die Kategorie „Versammlungen und Aufzüge“ fallen. Zur Medienselektivität in der Berichterstattung von Lokalpresse und bundesweiter Presse zu Protesten am Beispiel Freiburgs vgl. P. HOCKE, Massenmedien. 8 Vgl. EBD. 9 Vgl. O. FILLIEULE, Police Records and National Press; J. D. MCCARTHY/C. MCPHAIL /J. SMITH, Images of Protest.

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zu finden. Und es sind eben diese Proteste und nicht die Vielzahl kleiner und unspektakulärer Aktionen, welche die politisch relevante „soziale Konstruktion“ der Protestrealität bestimmen. Insofern handelt es sich bei den hier genutzten Protestereignisdaten um einen relativ unverzerrten Ausschnitt jener Proteste, die (potenziell) als national bedeutsam erscheinen. Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Anzahl der Proteste und der dabei registrierten Teilnehmer in der gesamten Phase von 1950 bis 1997. Bezogen auf die hier näher betrachteten zwei Jahrzehnte springt die markante Protestwelle zwischen 1964 und 1971 mit ihrem Kulminationspunkt 1967 (und fast gleichauf 1968) ins Auge. Das entspricht dem gängigen Eindruck, dass in dieser Phase die ApO und insbesondere die Studentenbewegung ihren Höhepunkt erlangten. Allerdings wird diese Welle nicht von einer analogen Entwicklung der Teilnehmerzahlen begleitet. Diese sind vielmehr zwischen 1964 bis 1971 rückläufig. Im Durchschnitt handelt es sich also eher um kleine Proteste. Es ist daran zu erinnern, dass selbst die größten Demonstrationen der Studentenbewegung nur eine Größenordnung von wenigen zehntausend Teilnehmern erreichten. Nach dem Abebben der beschriebenen Protestwelle kommt es zu einem erneuten Anstieg der Zahl von Protesten in den 1970er Jahren auf ein Durchschnittsniveau, das weit über dem der 1950er und frühen 60er Jahre liegt. Die Protestbeteiligung liegt allerdings unter dem durchschnittlichen Niveau der vorangegangen Jahrzehnte und steigt erst 1980 sprunghaft an. Welche großen Themenblöcke und zugehörigen Positionen sich hinter den Zahlen der Protestereignisse verbergen, verdeutlicht Abbildung 2. Demnach steht in den beiden Jahrzehnten der weit definierte Themenblock „Demokratie“, 700 600

6000000

Proteste Teilnehmer

5000000 4000000

400 3000000 300 2000000

200

1000000

100 0

50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96

0

Jahr

Abbildung 1: Zahl der Proteste und Protestteilnehmer, Bundesrepublik 1950–1997 Ab 1990 incl. Ostdeutschland; Quelle: Prodat/Rucht.

Teilnehmer

Proteste

500

Soziale Bewegungen der 1960er und 70er Jahre

95

Demokratie Arbeit Bildung Frieden DDR/incl. contra Ostgrenze Soziales Andere pro contra

Infrastruktur Atomkraft Minderheiten/Ethnien Frauen Ökologie Bauern Marktwirtschaft/Kapitalismus Westbindung 0

5

10

15

20

25

30

35

40

Prozentsatz aller Proteste dieser Periode

Abbildung 2: Anteil der Proteste nach Themenbereichen, Bundesrepublik 1960–1979 Quelle: Prodat/Rucht.

der auch Fragen von Menschen- und Bürgerrechten einschließt, mit Abstand an der Spitze. Die schwarzen Balkenabschnitte bezeichnen Proteste mit ContraPositionen. Der Anteil von Protesten mit tendenziell anti-demokratischer Ausrichtung ist relativ gering. Es folgen die Themenblöcke „Arbeit“, „Bildung“ und „Frieden“. Eine zeitlich feinere, hier nicht dokumentierte Aufschlüsselung zeigt, dass das Bildungsthema vor allem im Jahrfünft von 1965 bis 1969 von Bedeutung ist, während es in den Jahren davor fast keine Rolle spielt. Die neuen Themen „Ökologie“ und „Atomkraft“ sind im Gesamtbild der Proteste der beiden Jahrzehnte noch nicht bedeutsam, gewinnen aber im Verlauf der 1970er Jahre und nachfolgend an Gewicht. Ein teilweise deutlich anderes Bild hinsichtlich der Themenblöcke ergibt sich hinsichtlich der mobilisierten Teilnehmer an Protesten (Abbildung 3). Demnach ziehen Proteste gegen die DDR bzw. die Mauer mit großem Abstand am meisten Protestierende an. Es folgen die Bereiche „Demokratie“, „Arbeit“, „Bildung“, „Soziales“ und, bereits den Aufschwung der NSB signalisierend, „Frieden“, „Ökologie“ und „Atomkraft“. Trotz einer aktiven Frauenbewegung bleibt der Themenblock „Frauen“ sowohl nach der Zahl der Proteste als auch der Protestteilnehmerinnen quantitativ unbedeutend. Gleiches gilt für den Themenbereich „Minderheiten/Ethnien“, der erst in den 1990er Jahren einen hohen Rang erlangt.

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96 DDR/incl. contra Ostgrenze Demokratie Arbeit Bildung Soziales Frieden Ökologie

pro contra

Atomkraft Westbindung Andere Infrastruktur Bauern Marktwirtschaft/Kapitalismus Frauen Minderheiten/Ethnien 0

5

10

15

20

25

30

35

40

Prozentsatz aller Teilnehmer dieser Periode

Abbildung 3: Teilnehmerzahlen an Protesten nach Themenbereichen, Bundesrepublik 1960–1979 Quelle: Prodat/Rucht.

Wird das detaillierte Kategorienschema für die Aktionsformen des Protests auf vier grobe Aktionstypen reduziert, so zeigt sich durchgängig ein hoher Anteil moderater und demonstrativer Aktionen (Abbildung 4). Eine Aufschlüsselung nach Jahrfünften ergibt keine spektakulären Verschiebungen. Im Zeitvergleich haben moderate Aktionen in der ersten Hälfte der 1970er Jahre einen geringeren und konfrontative Aktionen einen größeren Anteil als in den übrigen Perioden. In der Phase von 1965 bis 1969, die allgemein als heiße Phase der Studentenbewegung gilt, bleibt der Anteil gewaltförmiger Proteste eher niedrig. Die Aufschlüsselung der Aktionstypen nach Protestthemen bestätigt, dass Proteste zum Bildungsthema als einem wichtigen Anliegen der Studentenbewegung nur einen sehr kleinen Gewaltanteil aufweisen (Abbildung 5). Im Themenfeld „Wirtschaft“ fehlen konfrontative wie auch gewaltförmige Proteste völlig. Deren Anteil ist dagegen relativ hoch in den Themenbereichen „Minderheiten/ Ethnien“, „Infrastruktur“ und „Staatsorganisation/Politiker“. Die Beteiligung an konfrontativen und gewaltförmigen Protesten ist allerdings sehr gering. An konfrontativen Aktionen beteiligten sich 2,36 Prozent und an gewaltförmigen Aktionen 0,34 Prozent10 aller Protestierenden in beiden Jahrzehnten. 10 Allerdings fehlen im Falle von gewaltförmigen Protesten überdurchschnittlich häufig Angaben zur Zahl der Beteiligten, da solche Proteste, zum Beispiel Anschläge auf Asylbewerberheime, zumeist nicht vor den Augen der Öffentlichkeit durchgeführt werden.

Soziale Bewegungen der 1960er und 70er Jahre

97

1975–79

1970–74

moderat demonstrativ konfrontativ Gewalt

1965–69

1960–64

0

20

40

60

80

100

Abbildung 4: Aktionstypen von Protest nach Jahrfünften, Bundesrepublik 1960–1979 Quelle: Prodat/Rucht.

Anderes Frieden Minderheiten/Ethnien Frauen Atomkraft Ökologie Infrastruktur Bildung Soziales Arbeitswelt moderat demonstrativ konfrontativ Gewalt

Bauern Wirtschaft Deutschland/Europa Staatsorganisation/Politiker Demokratie/Autoritarismus 0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Abbildung 5: Aktionstypen von Protest nach Themenbereichen, Bundesrepublik 1960–1979 Quelle: Prodat/Rucht.

Eine grobe Klassifizierung der organisatorischen Träger von Protesten ergibt ein deutliches Übergewicht der Kategorie Gewerkschaften/Verbände/Kirchen gegenüber Initiativen/Netzwerken und Parteien (Abbildung 6). Im Vergleich der beiden Jahrzehnte nimmt dieses Übergewicht deutlich ab. Hier bahnt sich

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1970–79

Initiativen/Gruppen oder Netzwerke Gewerkschaften/Verbände/Kirchen Parteien

1960–69

0

20

40 60 Prozent der Trägerorganisation je Periode

80

100

Abbildung 6: Anteil der organisatorischen Träger von Protesten, Bundesrepublik 1960–1979 Quelle: Prodat/Rucht.

bereits der für die NSB charakteristische Trend zu informellen Gruppen (z. B. Bürgerinitiativen) an, der sich in den 1980er Jahren weiter verstärkt. Die Analyse der Protestteilnehmer nach sozialen bzw. soziodemografischen Merkmalen, soweit es sich nicht um bunt zusammengesetzte oder in keiner Weise klassifizierbare Gruppen handelt, ergibt einen durchgängig hohen Anteil der Arbeitnehmer (Tabelle 1). Die Heimatvertriebenen, die vor allem in den 1950er Jahren eine sehr wichtige Protestgruppe bilden, rücken im Verlauf der folgenden Jahrfünfte zunehmend in den Hintergrund. Der Anteil von Jugendlichen ist im Zeitraum von 1965 bis 1974 besonders hoch. Gleiches gilt für die Studenten, die – erwartungsgemäß – in der Phase von 1965 bis 1969 mit einem von keiner anderen Gruppe erreichten Anteil von 29 Prozent vertreten sind. Der Anteil von religiösen Gruppen steigt von zwei Prozent im ersten Jahrfünft auf 5,5 Prozent im letzten Jahrfünft des Betrachtungszeitraums. Dieses quantitative Bild des Protests bleibt noch immer sehr grobschlächtig und bedürfte in allen seinen Dimensionen einer Verfeinerung. So ist es beispielsweise auf dieser Ebene nicht möglich, die zeitliche und örtliche Lokalisierung einzelner Kampagnen (z. B. gegen die Notstandsgesetze, gegen den Vietnamkrieg) oder konkreterer Protestformen (z. B. Unterschriftensammlungen, ziviler Ungehorsam) zu verdeutlichen. Dies muss umfangreicheren Analysen an anderer Stelle vorbehalten werden. Immerhin zeigen die hier präsentierten Daten, dass das Spektrum des Protests auch in der Hochphase der ApO thematisch, organisatorisch und sozial durchaus breit ist. Zudem drückt sich diese Hochphase vor allem in der Zahl der Proteste, nicht jedoch im Umfang der Protestbeteiligung aus. Auch die in den 1970er Jahren an Konturen gewinnenden NSB sind lediglich ein wichtiger, aber noch nicht alle anderen Akteure überschattender Träger von Protesten. In beiden Fällen ist es wohl so, dass diese Bewegungen durch die primär medial bestimmte Aufmerksamkeit und die selektive Erinnerung der Zeitgenossen übergroß erscheinen und andere Protestgruppen, zum

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Tabelle 1: Anteil der sozialen Träger von Protesten nach Jahrfünften, Bundesrepublik 1960–1979 (Prozent)

Arbeitnehmer Arbeitslose Ausländer, Asyl., ethnische Gruppen Bauern Frauen Jugendliche Heimatvertriebene Rentner Studenten Freiberufler Verbands-/Parteifunktionäre Religiöse Gruppen Intellektuelle Handwerk, Handel Juden Sinti, Roma Anonym Sonstige Keine Angabe Gesamt N (Proteste)

1960–64 1965–69 1970–74 1975–79 1960–79 23 15 23 18 19 0 0 0 0 0 2 4 1 8 6 3 6 2 8 2 1 1 0 0 5 16 11 100 710

2 1 0 12 2 0 29 1 7 4 4 0 0 0 3 9 8 100 1849

2 1 3 12 2 0 12 1 6 5 5 0 0 0 3 9 16 100 1336

4 1 2 6 1 0 7 2 11 5 5 0 0 0 2 14 21 100 1673

3 1 1 9 2 1 15 2 8 4 4 0 0 0 3 12 14 100 5568

Quelle: Prodat/Rucht.

Beispiel die relativ kontinuierlich protestierenden Arbeitnehmer, in den Hintergrund drängen. Im Fall der ApO war es insbesondere das provokative Auftreten und der revolutionäre Gestus der Studenten, der zu einer überproportionalen Aufmerksamkeit führte. Im Falle der NSB ist zu vermuten, dass der Neuigkeitswert einiger ihrer Themen (vor allem „Ökologie“ und „Atomkraft“) und die herausragende Beteiligung gut gebildeter und organisationsfähiger Gruppen dazu beigetragen haben, ihren Anliegen zu großer öffentlicher Beachtung zu verhelfen. Diese Überlegungen leiten bereits über zu einer stärker qualitativen und interpretierenden Betrachtung.

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2. Phasen und Besonderheiten des Bewegungssektors in den 1960er und 70er Jahren Die kalendarische Einteilung in Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte folgt einer Mechanik, der die Realentwicklung nicht entspricht. Aus gutem Grund wählen Historiker deshalb struktur- oder ereignisbezogene Bezugspunkte (Kriege, Revolutionen, Staatsbildungen usw.), um Phasen voneinander abzugrenzen. Mit Blick auf die Bundesrepublik in den hier betrachteten zwei Jahrzehnten erscheint mir eine Periodisierung anhand von gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen sinnvoll, die jeweils eine prägende Hintergrundbedingung für die vorherrschenden Protestthemen und Protestgruppen bilden. Demnach unterscheide ich vier Phasen: 1. Zentrale Bestimmungsfaktoren der ersten Phase, die um das Jahr 1959 beginnt und bis 1966 andauert, sind der bereits lange vorher einsetzende Kalte Krieg, das so genannte Wirtschaftswunder und das Leitbild einer „formierten Gesellschaft“ (Ludwig Erhard). Die Grundstimmung ist konservativ. „Keine Experimente“ lautet ein Wahlslogan der CDU dieser Ära. Im Bewegungssektor sind nur relativ wenige regierungs- und systemkritische Proteste festzustellen. Kommunistische Kräfte sind marginalisiert und weitgehend geächtet; SPD und Gewerkschaften haben ihren Frieden mit dem Kapitalismus geschlossen. Diesen gilt es nicht mehr abzuschaffen, sondern lediglich zu zähmen. In dieser Phase sind, allerdings weniger deutlich als in den Jahren davor, die Großproteste einzelner Verbände (v. a. der Heimatvertriebenen und der Gewerkschaften) bestimmend für das Gesamtbild und namentlich die Zahl der Protestteilnehmer. Die Versammlungen und Kundgebungen der Vertriebenen erreichen Größenordnungen von mehreren hunderttausend Teilnehmern (so z. B. 1963 in Stuttgart). Massenproteste richten sich auch gegen den Mauerbau. Aus heutiger Sicht ungewöhnlich groß sind die überwiegend von Gewerkschaften und Sozialdemokraten getragenen Proteste am 1. Mai, die in den Jahren 1960 und 1962 allein in Westberlin jeweils um 700.000 Menschen versammeln. Jedoch ist für diese Proteste nicht primär der Konflikt von Arbeit versus Kapital, sondern vielmehr der Ost-West-Gegensatz bestimmend, so dass die Großdemonstrationen auch als „Freiheitskundgebungen“ firmieren und staatliche Repräsentanten als Hauptredner auftreten. Das für diese Phase noch typische Muster eines Protests ist die Großkundgebung, bei der eine weitgehend passiv bleibende Menge einem oder mehreren Rednern lauscht. Gegen Ende dieser Phase gewinnen die dann dominant werdenden Themen an Bedeutung: Proteste gegen die geplanten Notstandsgesetze, gegen Atomwaffen, gegen den Vietnamkrieg. Das Thema des Friedens steht auch im Mittelpunkt des Evan-

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gelischen Kirchentages von 1965. Im Schatten dieser Großproteste bleibt eine breite Palette von spezifischeren Aktivitäten. Sie reichen von den Schwabinger Krawallen, die durch einen unverhältnismäßigen Polizeieinsatz gegen Straßenmusikanten ausgelöst werden, bis zu Protesten für eine Erhöhung des Krankengeldes oder gegen die Erhöhung der Milchpreise. 2. Bestimmend für die zweite Phase von 1966 bis 1969 sind mehrere Faktoren: die Konstellation der Großen Koalition auf Bundesebene, die unerwartete wirtschaftliche Rezession mit dem dezidierten Versuch einer antizyklischen Krisenbewältigung, der forcierte Ausbau der Infrastruktur im Bereich des Städtebaus, des Verkehrs, der Energieversorgung und vor allem der Bildung. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten rückten in dieser Phase und dann verstärkt unter dem Druck der anschwellenden ApO, aber auch der Wahlergebnisse der NPD, enger zusammen. Im Bewegungssektor steht nun die ApO im Mittelpunkt. Sie setzt sich aus drei Hauptsträngen zusammen: (1) der Friedensbewegung, die, sichtbar an den bis 1968 durchgeführten Ostermärschen, einen starken Zulauf erlebt; (2) der anfangs von den Gewerkschaften und der linken Sozialdemokratie gestützten Bewegung gegen die Notstandsgesetze; (3) schließlich der Neuen Linken, die in der Studentenbewegung eine Ausweitung und Verdichtung erfährt. Die Studentenbewegung entwickelt sich zum Motor der Protestdynamik. Durch ihre Verknüpfung von kulturkritisch-spontaneistischen und politisch-strategischen Momenten, wie sie phasenweise im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) gelingt, absorbiert und bündelt sie eine Reihe von sehr unterschiedlichen Kritikmomenten (Hochschulreform, Verdrängung der faschistischen Vergangenheit, bürgerliche Doppelmoral, Technokratie, Neo-Imperialismus usw.), um sie in einer Revolutionsrhetorik zuzuspitzen, bei der ein Bündnis zwischen den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt und den progressiven Bewegungen in den kapitalistischen Metropolen beschworen wird. Dies alles erzeugt ungeheure Erregungen und führt zu dramatischen Zuspitzungen. Von der Erschießung Benno Ohnesorgs durch einen Polizeibeamten im Juni 196711 und dem Attentat auf Rudi Dutschke im April des Folgejahres geht eine katalysatorische Wirkung aus. Die Fronten verhärten sich. Die Rhetorik wird maßlos: Auf der einen Seite beschreibt die Bild-Zeitung die Studenten als „langhaarige Affen“, auf der anderen Seite sieht man ein „faschistoides System“ heraufziehen. Im Unterschied etwa zu Frankreich und eher vergleichbar mit den Entwicklungen in den USA und in Italien kommt es in Deutschland zu keiner eruptiven Mobilisierung, 11

Zu diesem Vorgang und den damit verbundenen Reaktionen vgl. F. SACK, Die Reaktion von Gesellschaft.

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wie es die Formel der „68er-Bewegung“ suggeriert, sondern zu einer oppositionellen Bewegung, die sich – zumindest rückblickend gesehen – bereits länger angebahnt hatte. Dazu gehören die Unterstützung des antikolonialen Kampfes in Algerien durch die „Kofferträger“ aus linken Zirkeln in der Bundesrepublik, die allmähliche Radikalisierung des SDS, die Proteste gegen den Staatsbesuch des kongolesischen Ministerpräsidenten Moise Tschombé (1964), das Go-in anlässlich der Berliner Südafrika-Ausstellung (1965), der Protestmarsch des Vereins Deutscher Studentenschaften gegen den Bildungsnotstand (1965), die Plakataktion „Amis raus aus Vietnam“ und der Vietnam-Kongress des SDS (1966) usw. Eine Verstärkerwirkung entfaltet die Visualisierung der Proteste durch das inzwischen zum Massenmedium avancierte Fernsehen12 . Dieses stimuliert die mediengerechte Inszenierung von Protesten und stärkt das vor allem 1968 zum Ausdruck gebrachte Bewusstsein, Teil einer weltweiten Bewegung zu sein. Wiederum sollte der Blick auf das Spektakuläre nicht dazu führen, die übrigen Proteste zu vergessen. Dazu zählen die anhaltenden Kundgebungen der Vertriebenen und der Kriegsopfer, Proteste gegen die deutsche Teilung, gegen den Linksradikalismus, gegen Pornographie, die Bummelstreiks der Postbeamten im Jahr 1968 und die Septemberstreiks von 1969, Rote-Punkt-Aktionen gegen Fahrpreiserhöhungen in einigen Städten sowie Unterschriftensammlungen für die christliche Bekenntnisschule. Zuweilen werden auch mehrere Protestanliegen gebündelt, so auf dem Kirchentag 1969 mit einer Abschlusskundgebung gegen die Bevormundung innerhalb der Kirche, gegen Rüstungspolitik und gegen die Ausbeutung in der Dritten Welt. Was die Teilnehmerzahlen angeht, so stellen etliche dieser Proteste die der ApO in den Schatten. Deren wohl größte Einzelaktion, eine Demonstration gegen die geplanten Notstandsgesetze, versammelte rund 40.000 Menschen im Jahr 1968 in Bonn. 3. Eine dritte Phase reicht von 1969 bis 1973/74. Auf Seiten der etablierten Politik dominiert eine Grundstimmung von Aufbruch und Reform. Das Schlüsselwort dazu ist die Aufforderung von Bundeskanzler Willy Brandt, mehr Demokratie zu wagen. Kennzeichnend für diese Phase sind zudem die Planungseuphorie im Kanzleramt, in Fachministerien und nachgeordneten Behörden, die neue Ostpolitik unter dem Zeichen eines „Wandels durch Annäherung“ sowie ein kultureller Liberalisierungsschub, der – zumindest vermeintlich – einen freieren Umgang mit der Sexualität mit sich brachte.

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Zur Rolle der Massenmedien für die Neue Linke in den USA vgl. T. GITLIN, The Whole World is Watching.

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Im Bewegungssektor vollziehen sich etwa zeitgleich zwei große Trends: Dies ist zum ersten der Niedergang der studentisch geprägten ApO, die in unterschiedliche Strömungen zerfällt. Die Selbstauflösung des SDS, der selbst in seiner Blütezeit nicht mehr als 2.500 Mitglieder hatte, wird bereits im März 1970 vollzogen. Ein Teil der vormals engagierten Studentenschaft zieht sich ganz aus der Politik zurück. Ein quantitativ unbedeutendes, jedoch große Turbulenzen erzeugendes Zerfallsprodukt der Studentenbewegung bilden die linksterroristischen Gruppen. Weitere Produkte sind undogmatische linke Zirkel (teilweise lose assoziiert mit dem 1969 entstandenen „Sozialistischen Büro“), SpontiGruppen sowie sektiererische Gruppen marxistisch-leninistischer, maoistischer, trotzkistischer und sonstiger Prägung, die untereinander ideologische Grabenkriege führen und kaum mehr Außenwirkungen entfalten. Moderatere Teile der vormaligen außerparlamentarischen Gruppen beginnen sich in politischen Parteien und insbesondere in der SPD zu engagieren. So erfahren in diesen Jahren besonders die Jungsozialisten einen erheblichen Zulauf. Der zweite große folgenreiche Trend ist die Entfaltung der NSB, die von der ApO viele Aktivisten aufnehmen, zum Teil aber auch breitere, weit über das linksintellektuelle Milieu hinausgehende Kreise einbinden. Exemplarisch dafür ist die Kampagne zur Liberalisierung der Abtreibung. Ebenso nehmen die NSB wichtige thematische Impulse von der ApO auf, setzen aber auch eigenständige Themen. Insgesamt repräsentieren die NSB ein sehr breites, weitgehend auf Fragen der Reproduktionssphäre bezogenes Themenspektrum. Von der Idee einer revolutionären Umwälzung der Gesellschaft wird weitgehend Abstand genommen. Kennzeichnend ist vielmehr ein radikaler Reformismus, eine Infragestellung der „Stellvertreterpolitik“ durch Parteien und neokorporatistische Arrangements zugunsten einer „Demokratisierung von unten“13. Stilbildend ist in dieser Phase das Auftreten von Bürgerinitiativen, die sich von der lokalen bis hin zur nationalen Ebene aktiv und selbstbewusst in zahlreichen Politikfeldern einmischen. Der Begriff des Bürgers, den die ApO eher denunzierend gebraucht hatte, wird nun aufgewertet und positiv im Sinne des engagierten Citoyens verstanden. Auch viele kirchliche Gruppen werden vom Sog dieser Politisierung erfasst. Ein Blick auf die Großproteste dieser Jahre zeigt wiederum, dass über die bezeichneten Themen hinaus viele weitere Streitfragen mobilisierend wirken. Dazu gehören Lohnerhöhungen, Erhöhungen der Agrarpreise, die Rundfunkfreiheit und Verwaltungsreformen. 4. Die vierte Phase ab 1973/74, deren Beginn man mit der so genannten Ölkrise vom Herbst 1973 oder spätestens mit dem Rücktritt von Bundeskanzler Brandt 13

Vgl. dazu R. ROTH, Demokratie von unten; R. KOOPMANS, Democracy from Below.

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ansetzen kann, erstreckt sich über das Jahrzehnt hinaus bis zur Ablösung der SPD in der Bundesregierung im Herbst 1982. Auf Seiten der etablierten Politik tritt an die Stelle von weit reichenden Reformansprüchen ein pragmatisch orientiertes Krisenmanagement angesichts sinkender Wachstumsraten, einem – noch moderaten – Anstieg der Arbeitslosigkeit, einer behaupteten „Anspruchsinflation“ der Bürgerschaft und der „Unregierbarkeit der Städte“. Auf Seiten der Bewegungen sind drei Entwicklungsstränge hervorzuheben. Zum einen kommt es zu einer Ausweitung der NSB, denen es zunehmend gelingt, die politische Agenda zu beeinflussen und gegen konkrete politisch-administrative Maßnahmen Widerstand zu leisten. Ein Aspekt dieser Entwicklung ist die infrastrukturelle Konsolidierung einer bewegungsnahen Szene, einer „Alternativkultur“14 mit Cafés und Kneipen, Buchläden, Verlagen und Zeitschriften, Handwerkerkollektiven, Frauen- und Jugendzentren usw. Ihren Höhepunkt findet diese Entwicklung in dem Berliner Tunix-Kongress im Januar 1978, bei dem symbolisch der „Auszug aus dem Modell Deutschland“ verkündet wird15. Die etablierte Kultur reagiert auf die Herausforderung durch die Alternativkultur teils abwehrend oder verständnislos, teils mit Kooperations- und Kooptationsangeboten. Eine zweite prägende Erscheinung dieser Jahre ist die Intensivierung des Linksterrorismus und darauf bezogener staatlicher Gegenmaßnahmen – eine Entwicklung, die im „Deutschen Herbst“ von 1977 kulminiert. Das linksradikale Milieu distanziert sich allerdings zunehmend von terroristischen Gruppen und bildet gegen Ende dieser Phase vor allem in Gestalt der „Autonomen“ und der Hausbesetzer neue, netzwerkartige Aktionszusammenhänge. Teile der kommunistischen Gruppen engagieren sich nun auch in den Themenbereichen der NSB und versuchen – zumeist erfolglos – deren Organisationen zu unterwandern. Eine dritte Entwicklungslinie ist die ab 1977/78 einsetzende Parlamentarisierung des Protests zunächst in grünen, bunten und alternativen Listen, dann in der im Januar 1980 gegründeten Bundespartei „Die Grünen“. Ein Blick auf die Großproteste in dieser Phase zeigt den hohen Stellenwert der Auseinandersetzung um Atomkraft, die eng mit dem weiteren Thema der Ökologie verknüpft ist. Für die Gewerkschaften gewinnt die Problematik der Arbeitslosigkeit an Bedeutung, ablesbar vor allem an den Demonstrationen zum 1. Mai. Schließlich wird auch der Rechtsradikalismus zunehmend als ein Problem gesehen, sichtbar etwa an Veranstaltungen „Rock gegen Rechts“ oder einer Frankfurter Demonstration des DGB anlässlich des Deutschlandtreffens der NPD im Jahr 1979. Auch die Kirchentage zeugen von dem Themenspektrum dieser Jahre: Frieden und Abrüstung, negative Folgen von Technik, 14 15

Vgl. P. BRÜCKNER, Autonomie oder Getto? Vgl. D. HOFFMANN-A XTHELM, Zwei Kulturen?

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Energiepolitik und Atomenergie sowie Verjährung von NS-Verbrechen stehen im Mittelpunkt der Abschlusskundgebung des Evangelischen Kirchentages in Nürnberg im Jahr 1979. Die breite gesellschaftliche Politisierung dieser Phase drückt sich, wie schon anhand der quantitativen Daten gezeigt, in einer stetigen Zunahme der Protestereignisse und vor allem ab 1980 in einem steilen Anstieg der Protestbeteiligung aus, welche durch die nun einsetzenden Proteste gegen den NATO-Doppelbeschluss eine weitere Steigerung erfährt.

3. Zusammenfassung Die vielschichtigen und teilweise disparaten Entwicklungen der 1960er und 70er Jahre lassen sich kaum auf einen Nenner bringen. Thesenförmig sollen jedoch die wichtigsten Trends zusammengefasst werden: Die Phase vom Kriegsende bis Mitte der 1960er Jahre war keineswegs frei von größeren Protesten, aber insgesamt doch geprägt von den Überhängen obrigkeitsstaatlicher Tradition, der Verdrängung der Nazi-Vergangenheit, dem Bemühen um den Wiederaufbau sowie der Sorge um wirtschaftliche und politische Stabilität. Vor diesem Hintergrund bedeutete der Aufbruch der Außerparlamentarischen Opposition (ApO) einschließlich der Studentenbewegung eine markante Zäsur. Zwar wurde damit das politisch-institutionelle Gefüge der Bundesrepublik kaum verändert, doch hinterließ dieser Aufbruch tiefe, bis heute nachwirkende Spuren in der politischen Kultur des Landes. Ein wichtiges Resultat war ein kultureller Liberalisierungsschub, der sich auf soziale Normen und Rollen bezog. Ein anderes wichtiges Resultat war die Radikalisierung von Teilen der Protestgruppen, die im Linksterrorismus der 1970er und 80er Jahre gipfelte. Drittens schließlich brachte dieser Aufbruch Impulse für einen „radikalen Reformismus“ anderer politischer Akteure, insbesondere für die neuen sozialen Bewegungen (NSB). Sie schlossen auch kirchliche Gruppen ein oder beflügelten diese. ApO und Neue Linke fungierten in verschiedener Hinsicht als eine Brücke zwischen der Alten Linken und den NSB. Mit der historischen Arbeiterbewegung teilte die ApO den Anspruch einer revolutionären Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft und den anti-bürgerlichen Affekt – Merkmale, die nicht oder nur am Rande auf die NSB zutreffen. Von der historischen Arbeiterbewegung unterschied sich die ApO durch ihre Ausrichtung auf die „neue Mittelklasse“, auf Fragen der Lebensqualität jenseits der Arbeitswelt, ihre antiautoritäre und anti-zentralistische Ausrichtung sowie die Betonung des „subjektiven Faktors“. Darin nahm sie Elemente vorweg, die auch für die nachfol-

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genden NSB kennzeichnend sind. Zugleich entwickelten sich mit den NSB auch Politikformen (z. B. das Engagement in Bürgerinitiativen) und Protesttaktiken (z. B. die Bauplatzbesetzung), die für frühere soziale Bewegungen kaum Bedeutung besaßen. Die Aktivitäten der NSB halten bis heute an (bei deutlichen Unterschieden zwischen West und Ost), werden jedoch in der Öffentlichkeit zumeist unterschätzt, zumal zwei andere Bewegungen in den Vordergrund der medialen Aufmerksamkeit gerückt sind. Dies sind zum einen die globalisierungskritischen Gruppen, die im Wesentlichen aus den NSB hervorgegangen sind, teilweise aber auch einen neuen Bewegungstypus bzw. eine neue Bewegungsgeneration verkörpern und Verbindungen zu den Gewerkschaften aufweisen. Zum anderen haben seit den frühen 1990er Jahren rechtsradikale und ausländerfeindliche Gruppen an Bedeutung gewonnen, allerdings auch relativ starke Gegenkräfte auf den Plan gerufen. Insgesamt hat sich die Bewegungslandschaft seit den 1960er Jahren thematisch und organisatorisch stark ausdifferenziert; Protest hat sich als Mittel der Interessenvertretung „normalisiert“ und wird von immer breiteren sozialen Kreisen praktiziert16. Insofern erhält auch die Rede von der „Protestgesellschaft“17 ihre Berechtigung. Literaturverzeichnis BALISTIER, Thomas: Straßenprotest. Formen oppositioneller Politik in der Bundesrepublik Deutschland. Münster 1996. BRÜCKNER, Peter/K RAUSHAAR, Wolfgang: Autonomie oder Getto? Kontroversen über die Alternativbewegung. Frankfurt/M. 1978. EILDERS, Christiane: Nachrichtenfaktoren und Rezeption. Eine empirische Analyse zur Auswahl und Verarbeitung politischer Informationen (Studien zur Kommunikationswissenschaft. 20). Opladen 1997. FILLIEULE, Olivier: Police Records and National Press in France. Issues in the Methodology of Data-Collections from Newspapers. Working Paper of the Robert Schuman Centre, No. 96/25. Florence 1996. GALTUNG, Johan/RUGE, Mari Holmboe: The Structure of Foreign News. The Presentation of the Congo, Cuba and Cyprus Crises in Four Foreign Newspapers. In: Journal of philosophical research 2, 1964, S. 64–91. GILTIN, Todd: The Whole World is Watching: mass media in the making and unmaking of the new left. Berkeley 1980.

16

Vgl. dazu auch D. RUCHT, Bürgerschaftliches Engagement. Vgl. dazu H. PROSS, Protestgesellschaft. Zur Verwendung des Begriffs „Bewegungsgesellschaft“ vgl. F. NEIDHARDT/D. RUCHT, Auf dem Weg. 17

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HOCKE, Peter: Massenmedien und lokaler Protest. Eine empirische Fallstudie zur Medienselektivität in einer westdeutschen Bewegungshochburg. Wiesbaden 2002. HOFFMANN-A XTHELM, Dieter: Zwei Kulturen? Tunix, Mescalero und die Folgen (Ästhetik und Kommunikation. 2). Berlin o. J. [1978]. KOOPMANS, Ruud: Democracy from Below. New Social Movements and the Political System in West Germany. Boulder 1995. KOOPMANS, Ruud/RUCHT, Dieter: Protest Event Analysis. In: Klandermans, Bert/Staggenborg, Suzanne (Hg.): Methods in Social Movement Research. Minneapolis/London 2002, S. 231–259. MCCARTHY, John D./MCPHAIL, Clark/SMITH, Jackie: Images of Protest: Estimation Selection Bias in Media Coverage in Washington Demonstration, 1982, 1991. In: American Sociological Review 61, 3, 1996, S. 478–499. NEIDTHARDT, Friedhelm/RUCHT, Dieter: Auf dem Weg in die „Bewegungsgesellschaft“? Über die Stabilisierbarkeit sozialer Bewegungen. In: Soziale Welt 44, 3, 1993, S. 305–326. PROSS, Harry: Protestgesellschaft. Von der Wirksamkeit des Widerspruchs. München/Zürich 1992. ROTH, Roland: Demokratie von unten. Neue soziale Bewegungen auf dem Wege zur politischen Institution (Theorie und Gesellschaft. 32). Köln 1994. –, „Die Macht liegt auf der Straße“. Zur Bedeutung des Straßenprotests für die neuen sozialen Bewegungen. In: Hohm, Hans-Jürgen (Hg.): Straße und Straßenkultur. Interdiziplinäre Beobachtungen eines öffentlichen Sozialraumes in der fortgeschrittenen Moderne (Passagen & Transzendenzen. 2). Konstanz 1997, S. 195–214. RUCHT, Dieter/OHLEMACHER, Thomas: Protest Event Data: Collection, Uses and Perspectives. In: Eyerman, Ron/Diani, Mario (Hg.): Issues in Contemporary Social Movement Research. Beverly Hills 1992, S. 76–106. RUCHT, Dieter: Modernisierung und neue soziale Bewegungen. Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich. Frankfurt/M./New York 1994. –, (Hg.): Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen. Frankfurt/M. 2001. –, Bürgerschaftliches Engagement in sozialen Bewegungen und politischen Kampagnen. In: Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“/Deutscher Bundestag (Hg.): Bürgerschaftliches Engagement in Parteien und Bewegungen (Schriftenreihe. B 10). Opladen 2003, S. 17–155. SACK, Fritz: Die Reaktion von Gesellschaft, Politik und Staat auf die Studentenbewegung. In: Bundesminister des Innern (Hg.): Protest und Reaktion. Analysen zum Terrorismus (Schriftenreihe. B 4/2). Opladen 1984, S. 107–226.

Beziehungsfelder

1. Protestantismus, Studentenbewegung und osteuropäische Reformbewegung

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Westdeutscher Protestantismus und Studentenbewegung „Theologieprofessoren ermuntern rebellierende Studenten zu weiteren Provokationen und Krawallen. Studierende der evangelischen Theologie sind besonders eifrige Mitglieder im Sozialistischen Deutschen Studentenbund“1, so Pfarrer Alexander Evertz, Mitbegründer der „Notgemeinschaft evangelischer Deutscher“ im Jahr 1969. „Es hat sich eine völlige Verlagerung des Schwerpunkts vom Religiösen zum Politischen vollzogen. Die Kirche hört damit auf, wirklich Kirche zu sein. […] Sie ist nur noch in der Wolle christlich gefärbt.“2 Westdeutscher Protestantismus und Studentenbewegung – die Geschichte einer innigen Symbiose also? Die hier von Evertz kritisierte Affinität evangelischer Theologen zur Studentenbewegung beleuchtet nur eine Seite der weitaus komplexeren Wirklichkeit: Zwischen westdeutschem Protestantismus und Studentenbewegung ist von einer Haltung der Gleichgültigkeit, der Antipathie in den unterschiedlichsten Nuancen bis hin zu Versuchen der Synthese und offener Sympathie eine facettenreiche Bandbreite an Beziehungen zu beobachten. Dieser Aufsatz ist als Überblick über diesbezügliche Beobachtungen angelegt und trägt mit dem Verzicht auf eine abschließende Bilanz der Tatsache Rechnung, dass der behandelte Untersuchungszeitraum als „Forschungsfeld gerade erst im Werden“3 ist.

1. Hinführung Wertung und Abgrenzung des Phänomens Studentenbewegung sind für die gegenwärtige gesellschaftliche Situation hoch umstritten. Hatte die Studen1

A. EVERTZ, Evangelische Kirche, S. 54. EBD., S. 56. Evertz bezieht sich hier vor allem auf die Ansichten „junger Vertreter der ,Theologie der Revolution‘“. 3 A. RÖDDER, Bundesrepublik, S. 109. 2

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tenbewegung wesentlichen Anteil an der „zweite[n] Geburt der Demokratie in Deutschland“4 oder beruht der „Mythos 68“, so der Bonner Politikwissenschaftler Gerd Langguth in seinem gleichnamigen Buch5, im Wesentlichen auf der von den wenigsten reflektierten „Gewaltphilosophie Rudi Dutschkes“? Die Motive für derart unterschiedliche Bewertungen dieser Zeit sind komplex und entsprechen der Komplexität der Studentenbewegung, über die mittlerweile eine enorme Anzahl an Publikationen existiert.6 Ich beschränke mich auf eine knappe Charakterisierung: Seit Beginn der sechziger Jahre herrschte eine zunehmende Unzufriedenheit westdeutscher Studenten mit der Ordinarienuniversität, die den explosionsartig gestiegenen Studentenzahlen nicht gewachsen war. Die dringend notwendige Hochschulreform ging nur schleppend voran. Welches gesellschaftskritische Potential in dieser Bewegung steckte, wurde dem Großteil der Bundesbürger erstmals angesichts der Proteste anlässlich des Besuchs des persischen Schahs Reza Pahlewi am 2. Juni 1967 in Berlin bewusst. Als während der Demonstrationen der Student Benno Ohnsesorg, Mitglied der Evangelischen Studentengemeinde, erschossen wurde, avancierte dieser Tag zum „Katalysator der Außerparlamentarischen Opposition“7 : Die Hochphase der Studentenbewegung begann, in der der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) zunehmend zum Sprachrohr des akademischen Nachwuchses wurde8. Der Anschlag auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 und die folgenden Osterunruhen führten zu einer weiteren Ausbreitung und Radikalisierung der Bewegung. Spätestens ab Herbst 1968 ist eine zunehmende Zersplitterung der Studentenbewegung, unter anderem bedingt durch Richtungskämpfe zwischen Befürwortern linkssozialistischer Theorien und Vertretern des antiautoritären Flügels, zu beobachten. Die Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler im Oktober 1969 versöhnte zudem einige Protagonisten der Studentenbewegung wieder mit der parlamentarischen Politik. Die Selbstauflösung des SDS-Bundesvorstandes am 21. März 1970 lässt sich somit als konstatierender Akt des de facto schon eingetretenen Endes der Bewegung charakterisieren. In Ausläufern – wie eng auch immer man im Einzelnen ihren Zusammenhang zu der Bewegung sehen möchte – wurden Anliegen der Stu4

K. NEVERMANN, APO, S. 125. G. L ANGGUTH, Mythos ’68. 6 In der großen Zahl der Veröffentlichungen sind persönlich motivierte Ausführungen weit häufiger zu finden als sachliche Gesamtdarstellungen: „Die Erinnerung und Deutung der im Jahr 1968 kulminierenden studentischen Protestbewegung lag von Beginn an vor allem in den Händen der äußerst publikationsfreudigen unmittelbar Beteiligten“ (A. RÖDDER, Bundesrepublik, S. 211). Als Orientierungshilfe für die Literaturrecherche eignet sich vor allem T. BECKER /U. SCHRÖDER (Hg.), Studentenproteste. 7 P. A. R ICHTER, Außerparlamentarische Opposition, S. 46. 8 Vgl. dazu G. BAUSS, Studentenbewegung, S. 44–70. 5

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dentenbewegung weitergeführt oder radikalisiert: Die Gründung der DKP 1968 gehört ebenso dazu wie die terroristischen Aktionen der RAF, die Friedensbewegung oder die Gründung der „Grünen“. Die Studentenbewegung war eine heterogene Bewegung, deren Anliegen mit unterschiedlichster Intensität eklektisch vertreten wurden. Ich fasse sie folgendermaßen zusammen9 : (1) Die Studenten beanstandeten die Zustände an den Universitäten und fühlten sich als Teil der internationalen Studentenbewegung. (2) Sie kritisierten die bürgerliche Gesellschaft, speziell die „Konsumgesellschaft“, und die schleppende Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Moralvorstellungen und traditionelle Werte wurden hinterfragt und negiert. (3) Sie waren fasziniert von marxistischen, existentialistischen, anarchistischen und psychoanalytischen Ideen. Begeistert rezipierten sie die Kritische Theorie der Frankfurter Schule – wie fern oder nah sich die geistigen Väter ihren selbsternannten Töchtern und Söhnen auch immer fühlten. (4) Sie protestierten angesichts internationaler und nationaler Konflikte; genannt seien nur der Vietnamkrieg oder die Notstandsgesetzgebung. (5) Schließlich hatten die Studenten angesichts der Großen Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger ihr Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Parlaments verloren und sahen die Notwendigkeit, sich zu einer Außerparlamentarischen Opposition (APO) zu formieren. Letztgenannter Begriff greift bereits die Schwierigkeit einer klaren Abgrenzung der Studentenbewegung auf: Der Außerparlamentarischen Opposition gehörten nicht nur Frauen und Männer des akademischen Nachwuchses an, sie setzte sich vielmehr aus den unterschiedlichsten oppositionellen Gruppen zusammen10. Die eben aufgeführten Anliegen der Studentenbewegung wurden nicht nur oder gar originär von dieser vertreten, sondern auch von anderen gesellschaftlichen Gruppierungen und generationenübergreifenden Aktionsgemeinschaften, deren Wurzeln bis in die fünfziger Jahre zurückreichen. Wie der Sozialwissenschaftler Dieter Rucht in seinem Aufsatz über die Ereignisse von 1968 als soziale Bewegung ausführt, „konvergierten diese Stränge [erst allmählich] und bildeten in der Hochphase der Bewegung, etwa seit Mitte 1967 bis Mitte 1969, einen dichten Kommunikations- und Aktionszusammenhang“11. Die Studentenbewegung als eine in ihren Zielen und Anliegen eindeutig abgrenzbare Größe gibt es folglich nicht – ebenso wenig, wie es den westdeutschen 9 Ich orientiere mich dabei an den von H. G. LEHMANN, Deutschland-Chronik, S. 165f. genannten Gründe für die Formierung der Außerparlamentarischen Opposition. 10 Vgl. dazu P. A. R ICHTER, Außerparlamentarische Opposition. Richter skizziert in diesem Aufsatz die Entwicklung der Außerparlamentarischen Opposition als sozialer Bewegung, die er als Kulmination von Ostermarschbewegung, Antinotstandsopposition und Studentenbewegung darstellt. 11 D. RUCHT, Soziale Bewegung, S. 123.

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Protestantismus gibt. Aufgrund des Facettenreichtums beider Größen sind verschiedene Annäherungen an ihre Beziehung zueinander denkbar: Interessant wäre beispielsweise eine Untersuchung der Frage, ob das Moment der Institutionenkritik eine stärkere Nähe des Protestantismus zur Studentenbewegung herbeiführte, als dies von Seiten des Katholizismus der Fall war. Reizvoll wäre es auch, die Thomas-Müntzer-Renaissance in christlichen Gruppen innerhalb der Studentenbewegung mit Blick auf die kirchengeschichtliche Tradition dieses Theologen zu untersuchen oder die religiöse Aufladung der Studentenbewegung an sich zu betrachten – nicht ohne Grund trägt ein 1968 erschienenes Buches über die „Neue Linke“ den Titel „Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft“12. Angesichts des eingangs erwähnten Mangels an Gesamtdarstellungen zu diesem Untersuchungszeitraum, der gerade für die kirchliche Zeitgeschichtsforschung gilt, möchte ich an dieser Stelle auf Ausführungen zu diesen und ähnlichen Einzelfragen verzichten. Stattdessen nehme ich eine Sichtung vor, welche Erscheinungen bezüglich des westdeutschen Protestantismus und der Studentenbewegung überhaupt zu beobachten waren, welche leeren Mengen, Schnittund Teilmengen es zwischen den genannten Größen gab. In dem folgenden, eher phänomenologisch orientierten Überblick teile ich die gemachten Beobachtungen in vier Beziehungsfelder ein, die ich 1. Gleichgültigkeit und Verständnislosigkeit, 2. Antipathie, 3. Versuche der Synthese und 4. Adaption nenne. Die Übergänge zwischen diesen Feldern sind zum Teil fließend.

2. Beziehungsfelder 2.1 Gleichgültigkeit und Verständnislosigkeit Ein beträchtlicher Teil der damals engagierten Studenten war nicht an einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem Christentum interessiert. Dies schlägt sich auch in der vorhandenen Literatur über die Studentenbewegung nieder: Das Thema Christentum oder gar eine Beschäftigung mit protestantischen Glaubensgrundlagen kommt hier zum Großteil nicht oder nur am Rande vor13. Dazu passt eine Bemerkung von Gretchen Dutschke-Klotz, der Witwe Rudi Dutschkes, über die christliche Identität ihres Mannes: „Unter Rudis Freunden gab es nur wenige, die das begriffen. Manche lachten hinter seinem Rücken über 12

E. K. SCHEUCH (Hg.), Wiedertäufer. Vgl. etwa das zeitgeschichtliche Dokument F. M AGER /U. SPINNARKE, Studenten. Ebenso wenig spielt eine Auseinandersetzung mit dem Christentum beispielsweise eine Rolle bei G. BAUSS, Studentenbewegung. 13

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ihn, hielten ihn für naiv.“14 Das Engagement christlicher studentischer Gruppierungen stieß nicht immer auf großes Interesse anderer Vertreter der Studentenbewegung. So beklagten sich Mitglieder der Evangelischen Studentengemeinde an der Freien Universität Berlin im Frühjahr 1968, die momentane Führungsspitze der Außerparlamentarischen Opposition sei für sie zur Zeit „mindestens so unansprechbar wie das Schöneberger Rathaus“15. Es gab die Indifferenz auch in umgekehrter Richtung: Betrachtet man eines der zentralen Anliegen christlicher Gruppen innerhalb der Studentenbewegung, die Kirche möge politischer werden, spricht es für sich, wenn 1967 bei der vom Nachrichtenmagazin Der Spiegel in Auftrag gegebenen Emnid-Umfrage „Was glauben die Deutschen?“ 65 Prozent der Befragten aussagten, die Kirchen mischten sich zuviel in die Politik ein, und 85 Prozent gar Politik als ein Gebiet bezeichneten, um das sich die Kirchen nicht zu kümmern hätten16. Gleichgültigkeit und Verständnislosigkeit konnten leicht in Abneigung umschlagen. Das zeigen die Beispiele aus dem zweiten möglichen Beziehungsfeld. 2.2 Antipathie Von einigen Vertretern des westdeutschen Protestantismus wurde eine entschiedene Antipathie gegenüber der Studentenbewegung geäußert. Vor allem aus den Reihen der damals sich formierenden Bekenntnisbewegung verwahrte man sich vehement gegen eine vermeintliche Nähe von protestantischen Glaubensgrundlagen zu Zielen der Studentenbewegung. Als namhafte Vertreter dieser Haltung seien Walter Künneth, Klaus Motschmann und Helmut Thielicke genannt17. Sie zogen zum Teil Parallelen zwischen der Studentenbewegung und den Nationalsozialisten, nahmen an den Universitäten eine „schauerliche[…] Bewusstseinstrübung“18 wahr und plädierten für eine Trennung von kirchlichem Handeln und politischem Engagement. Eine wie auch immer geartete Verbindung zwischen Jesus und den protestierenden Studenten wurde scharf abgelehnt. So schrieb Alexander Evertz in seinem Buch „Die evangelische Kirche und die Revolution von links“: „Jesus erlässt keinen flammenden Aufruf zur Weltrevolution und schickt seine Jünger nicht als revolutionäre Partisanen in alle vier Himmelsrichtungen hinaus. […] Jesus veranstaltet auch keine ,Ostermärsche‘ gegen den Krieg oder gegen staatliche Notstands14

R. DUTSCHKE, Leben, S. 381. K.-B. H ASSELMANN, Politische Gemeinde, S. 98. 16 Vgl. DER SPIEGEL vom 18.12.1967, 21. Jg./Nr. 52, S. 58. 17 Vgl. dazu G. H. M ANN, Widerstand, sowie H. BECKER /S. WINCKLER, Gegenwehr. 18 H. THIELICKE, Zu Gast, S. 405. Vgl. ausführlich zu seiner Position im Jahr 1969 DERS., Kulturkritik. 15

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gesetze. Wir hören von ihm kein Wort der Aufwiegelung gegen die Staatsgewalt. […] Nein, Jesus sieht einfach tiefer und durchdringender als alle politischen Revolutionäre und Umstürzler zusammen.“19

Eine Antipathie bestand nicht nur in dieser Richtung, sie gab es auch von Seiten der Studentenbewegung. Zum einen äußerte sie sich eher undifferenziert als prinzipielle Ablehnung der „bürgerlichen“ Religion, manifestiert in der hierarchisch gegliederten Volkskirche. Der Großteil der mitunter aggressiven Angriffe auf die Kirche geschah jedoch nicht aus einer generellen Ablehnung des Protestantismus heraus, sondern aus einer Kritik seines momentanen Erscheinungsbildes. Viele der schärfsten studentischen Kritiker der Kirche kamen aus den eigenen Reihen. Sie bewegten sich auf dem folgenden dritten Beziehungsfeld. 2.3 Versuche der Synthese: Protestanten als Vertreter der Studentenbewegung Unter diese dritte Gruppe fallen unterschiedliche Personen und Gruppen, die sich als Vertreter der Studentenbewegung ebenso wie als Protestanten verstanden. In verschiedener Weise versuchten sie, theoretische Ansätze der Studentenbewegung mit Grundlagen des Christentums, konkret des Protestantismus, zu verbinden. Gemeinsam ist ihnen – in unterschiedlicher Ausprägung – die Kritik an der bestehenden Volkskirche, die bei einigen bis hin zur Forderung nach deren Auflösung ging. Auch bei dieser Gruppe können nur exemplarisch einige Vertreter genannt werden. Ich beginne mit Rudi Dutschke, der Galionsfigur der Studentenbewegung. Er schrieb Ostern 1963 in sein Tagebuch: „Jesus ist auferstanden, Freude u[nd] Dankbarkeit sind die Begleiter dieses Tages; die Revolution, die entscheidende Revolution der Weltgeschichte ist geschehen, die Revolution der Welt durch die allesüberwindende Liebe. […] Das Wissen bzw. d[er] Glaube vom Ursprung läßt das Ziel offenbar werden – der Weg der Geschichte könnte der Weg der Freiheit, der Weg der Befreiung des Menschen werden – Befreiung des Menschen durch das Innewerden der Gottheit; Befreiung durch die Autorität; Freiheit in der Gebundenheit an die durch Jesus offenbarte Liebe.“20

Rudi Dutschke – Studentenführer und Christ. Letzteres blieb einer breiten Öffentlichkeit zumeist verborgen. Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes spren-

19 20

A. EVERTZ, Evangelische Kirche, S. 22f. R. DUTSCHKE, Leben, S. 17.

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gen, hier ausführlich auf Einzelheiten zu Dutschkes Frömmigkeit und sein Verständnis des Christentums einzugehen21. Kurz sei hierzu angedeutet: Bei der Beschreibung von Rudi Dutschkes christlicher Identität müssen im Laufe seines Lebens verschiedene Phasen berücksichtigt werden. Die Wurzeln für seinen Glauben lagen in seinem Erleben der Kirche in Ostdeutschland, in seiner Jugend in der Jungen Gemeinde. Nach seinem Wechsel nach West-Berlin brachten ihm vor allem die Gespräche mit dem Theologieprofessor Helmut Gollwitzer und die Beziehung zu der Theologiestudentin Gretchen Klotz, seiner späteren Frau, neue Impulse für seine Auseinandersetzung mit dem Christentum. Vor allem Gollwitzers Versuch einer Synthese von Christentum und Sozialismus prägte den Soziologiestudenten. Der westdeutschen Volkskirche, von ihm als „Staatskirche“ betitelt, stand Dutschke sehr skeptisch, aber nicht destruktiv gegenüber; er vermisste an ihr die Eigenschaft, kritisches Korrektiv der Macht zu sein22 . Einzelne ihrer damals exponiertesten Vertreter waren ihm dennoch authentische Vertreter des Christentums, allen voran sein enger Freund Helmut Gollwitzer, aber auch Bischof Kurt Scharf, Martin Niemöller und Pfarrer Heinrich Albertz, ehemals Regierender Bürgermeister von Berlin23. Diese vier Männer galten als Sympathisanten der Studentenbewegung; freilich muss dies in Bezug auf Albertz differenziert gesehen werden. In ihrer Position als hochrangige Vertreter von Kirche und Theologie eigentlich Teil des „Establishments“, hatten sie Vermittlerpositionen zwischen Studenten und deren Kritikern inne und waren in dieser Funktion in der Öffentlichkeit – zum Teil vor allem bezüglich ihres späteren Dialogs mit RAFTerroristen – heftig umstritten24.

21 Vgl. zu Dutschkes Frömmigkeit A. H AGER, Radikal fromm. M. K ARL, Rudi Dutschke, zeigt ausführlich die verschiedenen biographischen Phasen Rudi Dutschkes als Christ. Zum Zusammenhang von Dutschkes christlichem und sozialistischem Hintergrund vgl. vor allem F.-W. M ARQUARDT, Rudi Dutschke. 22 Vgl. dazu die Aussage Dutschkes polnischen Studenten gegenüber mit Blick auf die Oppositionsrolle des osteuropäischen Katholizismus: „Die Herrschenden [in der Bundesrepublik; A. H.] haben dazu beigetragen, daß Katholiken und zum Teil auch Protestanten zur Rechten gezählt werden. Daraus folgte, daß die Linke der demokratisch-sozialistischen Tradition in der BRD kaum Beziehungen zum Christentum hat. […] Im allgemeinen ist bei Euch die Religion eine Art Explosionsmaterial, ein Protest gegen die herrschende Macht. […] Das Christentum stellt bei Euch eine Widerstandsbewegung dar, bei uns nicht.“ Interview mit der polnischen Untergrundzeitschrift Tematy, Ausgabe Januar 1980; zit. nach K. BLOCH /W. SCHRÖTER (Hg.), Lieber Genosse Bloch, S. 160. 23 Vgl. R. DUTSCHKE, Gekrümmt vor dem Herrn, S. 566: „Wie absurd: Was vor langer Zeit einmal für einen geschichtlichen Augenblick progressiv war, nun aber schon seit langem regressiv ist, diese seit Jahrhunderten regressive Staatskirche birgt dennoch solch große Menschen wie Scharf, Niemöller, Gollwitzer und Albertz.“ 24 Vgl. dazu z. B. H. A LBERTZ /H. BÖLL /H. GOLLWITZER u. a., Pfarrer.

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Dutschke verstand gelebtes Christentum als Nachfolge des für die Gerechtigkeit und Befreiung aller Menschen eintretenden Jesus. Das war für ihn der Maßstab, den er an andere Christen und an das Verhalten der Kirche anlegte. Unter anderem inspiriert durch den väterlichen Freund Ernst Bloch25 würden sich viele Aussagen Dutschkes über den christlichen Glauben problemlos in Entwürfe religiöser Sozialisten, in befreiungstheologische Schriften seiner Zeit, etwa in Aufsätze von Dorothee Sölle oder Harvey Cox einfügen lassen. In seiner Rolle als Studentenführer, im Großteil seiner öffentlichen Reden kam der Christ Dutschke selten explizit zum Vorschein. Für den oben genannten angestrebten Weg der Freiheit schien ihm mehr und mehr der Sozialismus das geeignetere Handwerkszeug zu bieten. Mit seiner konsequenten Hinwendung zur Politik und seinem gleichzeitigem Festhalten an seinen christlichen Wurzeln26 schien Rudi Dutschke damit theologische Entwürfe dieser Jahre in einer Art und Weise zu leben, die man vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund als eine Form radikaler Frömmigkeit bezeichnen könnte27. „Die Bergpredigt wörtlich verstanden“ – so titelte Heinrich Albertz seinen Nachruf auf Rudi Dutschke28, als dieser 1979 an den Spätfolgen des elf Jahre zuvor auf ihn verübten Attentats verstarb. Während Dutschkes Christsein in der Öffentlichkeit wenig zum Vorschein kam, versuchten andere Studenten dezidiert, ihr christliches Engagement, ihre theologischen Ansätze mit den Anliegen der Studentenbewegung zu verbinden. Zunächst sind hier die Mitglieder der evangelischen und katholischen Studentengemeinden29 zu nennen, die in diesen Jahren eine entscheidende Wandlung erfuhren: „Die Studentengemeinden fanden sich durch die Studentenbewegung erst einmal vor die Tatsache gestellt, daß nicht mehr sie es waren, die mit einer spezifisch christlichen Praxis und einem spezifisch christlichen Angebot in die Hochschulöffentlichkeit hineinwirkten, sondern es sich ihrerseits gefallen lassen mussten, durch eine von außen auf sie zukommende, spontane politische Bewegung und Bewusstseinsveränderung infragegestellt, verändert, ,missioniert‘ zu werden. Sie machten im Zuge der Studenten25 Vgl. dazu K. BLOCH /W. SCHRÖTER (Hg.), Lieber Genosse Bloch, sowie J. MIERMEISTER, Ernst Bloch und Rudi Dutschke. 26 Vgl. H. GOLLWITZER, Leidenschaft, S. 27: „Am vergangenen Heiligen Abend hat er kurz vor seinem Tod mit Heinz Brandt ein Telefongespräch geführt, bei dem Heinz Brandt ihm richtig sagte: ,Rudi, du hast nie verlassen, wovon du ausgegangen bist, deine Anfänge bei der Jungen Gemeinde in der DDR und bei der Kriegsdienstverweigerung.‘ Rudi bejahte das, und sie grüßten sich gegenseitig mit dem Weihnachtsgruß: ,Friede auf Erden!‘.“ 27 Vgl. dazu A. H AGER, Radikal fromm. 28 Zit. nach R. DUTSCHKE, Langer Marsch, S. 246f. 29 Trotz der zum Teil parallelen Entwicklungen und starken ökumenischen Verbindungen im Untersuchungszeitraum beschränke ich mich im Folgenden auf die evangelischen Studentengemeinden. Zu den katholischen Studentengemeinden vgl. T. GROSSBÖLTING, Zwischen Kontestation und Beharrung.

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bewegung vor allem für ihr Selbstverständnis und ihre Praxis als Gemeinde wichtige Erfahrungen mit neuen Kommunikations- und Arbeitsformen und neuen Zielvorstellungen […].“30

Die hier von dem damaligen Hamburger Studentenpfarrer Wilhelm Pressel genannten Veränderungen lassen sich als der Versuch zahlreicher bundesdeutscher evangelischer Studentengemeinden (ESG) zusammenfassen, Themen und Ziele der Studentenbewegung vor christlichem Hintergrund zu interpretieren und in neuen Formen zu vertreten. Bei einem Großteil der evangelischen Studentengemeinden, vor allem aber bei den überregionalen Gremien der ESG, ist in diesen Jahren eine starke Hinwendung zur politischen Theologie, vor allem zur Befreiungstheologie Lateinamerikas festzustellen31. Ziel war es, alternative kirchliche Handlungsmodelle zu entwickeln, als „politische Gemeinde“ zu leben, wie es der Berliner Studentenpfarrer Karl-Behrnd Hasselmann in seinem 1969 erschienenen Buch, einer Art Tagebuch der ESG an der FU Berlin, beschreibt32 . Zahlreiche, vor allem hochschulbezogene Aktions- und Diskussionsgruppen wurden gegründet, ESG-Räume wurden studentischen Demonstranten zur Verfügung gestellt, Ost-West-Kontakte wurden gepflegt. Kirchliche Traditionen standen auf dem Prüfstand: So trug beispielsweise die Abschlusssitzung der vier Themenabende zur „Sexuellen Revolution“ in der ESG Erlangen die Titelfrage „Muß es immer Ehe sein?“33. Die Studentengemeinden standen in gewisser Weise zwischen den Fronten: Auf der einen Seite mussten sie sich gegenüber anderen, nichtchristlichen Studentengruppen positionieren und ihr eigenes Profil entwickeln. Reinhard Tietz, Studentenpfarrer an der TU Berlin, würdigte 1969 in einem Interview die zahlreichen wertvollen Anstöße, die die ESG durch den SDS erhalten habe, besonders, was die Auseinandersetzung mit dem Marxismus angehe. Jedoch sah Tietz auch Differenzen zwischen ESG und SDS, nämlich „genau an dem Punkt, wo die Studentengemeinde von ihrer Idealismuskritik her nun auch den SDS kritisieren muß, nämlich da, wo der SDS idealistische Relikte in der Marxschen Theorie weiter mitschleppt, ohne sie genügend zu kritisieren. Das betrifft einmal die Geschichtstheorie […], das betrifft zweitens den Punkt der Vorhersehbarkeit und Planbarkeit des Eschatons, und das betrifft drittens den Punkt der Machbarkeit oder […] der Bekehrbarkeit des Menschen. Hier zeigt sich mehr oder weniger eine gemeinsame kritische Linie der Studentengemeinden gegenüber den linksideologischen Studentengruppen.“34 30

W. PRESSEL, ESG-Gemeinde Jesu Christi, S. 183. Vgl. B. D. BELL, Art. Studentengemeinde/Hochschulgemeinde, S. 265. 32 K.-W. H ASSELMANN, Politische Gemeinde. 33 Semesterbericht der ESG Erlangen Sommersemester 1967, LAELKB Bestand Pfarreien III/29, 131. 34 R. TIETZ, Zwischen Kirche und SDS, S. 523. 31

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Auf der anderen Seite kam es häufig zu Auseinandersetzungen mit Landeskirchenleitungen und Vertretern der Ortsgemeinden35. Die Besetzung der Stelle des Studentenpfarrers geriet oft zum Politikum innerhalb einer Landeskirche36. Mancherorts – beispielsweise in Hannover37, vor allem in den siebziger Jahren – eskalierten die Konflikte. In vielen Ortsgemeinden stießen Arbeitsweise und Anliegen der Evangelischen Studentengemeinden auf Unverständnis, etwa, wenn es um Gottesdienstreformen der Studierenden ging38. Einige ESG-Mitglieder versuchten diesen Kontroversen vorzubeugen, indem sie gezielt in Gemeinden und Schulen über die Anliegen der Studenten informierten. So entwickelte die ESG an der FU Berlin die Aktion „Student in der Gemeinde“; ihrem Beispiel folgte auch die Marburger ESG39. Besonders heftig umstritten waren die Studentengemeinden bei Vertretern der Bekenntnisbewegung, die sie als „Wegbereiter der Volksfront“40 kritisierten. Neben den von Mitgliedern aller Fakultäten getragenen Studentengemeinden gab es innerhalb der Studentenbewegung punktuelle wie längerfristige Gruppen und Gemeinschaften, in denen vor allem junge Theologen zusammenkamen. Zwischen diesen Vereinigungen und den Theologischen Fakultäten bzw. Kirchlichen Hochschulen ist oft ein intensives Wechselspiel zu beobachten41. So trafen sich beispielsweise Theologiestudenten, Vikare, Pfarrer und Religionslehrer zu den drei so genannten Celler Konferenzen, deren Name vom

35 Vgl. dazu exemplarisch die Darstellung des Verhältnisses zwischen rheinischen Studentenpfarrern und Kirchenleitung um 1968 in dem Vortrag von Wolfgang Müller „Zwischen Gemeindeleben und Umbruch. Die Evangelischen Studentengemeinden in Bonn, Köln und Saarbrücken um 1968“, gehalten auf der Tagung des Ausschusses für rheinische Kirchengeschichte (Kaub, November 2004). Der erste Teil des Vortrages erscheint in den Monatsheften für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 55, 2006, S. 123–140. 36 Vgl. hier beispielsweise die Besetzung der Stelle des Studentenpfarrers in Erlangen im Jahr 1970: Nachdem der vom Landeskirchenrat berufene Pfarrer nicht den Erwartungen von Mitgliedern der ESG und des AStA entsprach, kam es zu einer zum Teil öffentlich ausgetragenen Kontroverse. Vgl. dazu im Einzelnen LAELKB Bestand Pfarreien III/29, 161. 37 Vgl. dazu die Erinnerungen des Studentenpfarrers H. BERGENGRUEN, Seyt nuirg keck. 38 In Erlangen etwa kam es im Wintersemester 1968/69 zum Konflikt aufgrund der Reformvorschläge des ESG-Gottesdienstteams für die Predigtreihe „Mutmaßungen über Gott“, die unter anderem das Predigen ohne Talar, eine Diskussion als Fortsetzung des Gottesdienstes und die Feier des Abendmahles unter dem verstärktem Aspekt des Gemeinschaftsmahles beinhalteten; vgl. L AELKB Bestand Pfarreien III/29, 22. 39 Vgl. H.-W. KUBITZA, Geschichte, S. 260f. 40 So der gleichnamige Aufsatz von T. LÖWENTHAL, Evangelische Studentengemeinden – Wegbereiter der Volksfront. 41 Vgl. exemplarisch die ausführliche Darstellung über die Zustände an der Ruhr-Universität Bochum bei T. JÄHNICHEN /N. FRIEDRICH, Krisen. Zur Situation an den theologischen Ausbildungsstätten vgl. auch das zeitgenössische Dokument über die Kirchliche Hochschule Wuppertal A. FALKENROTH (Hg.), Theologiestudium.

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Ort der ersten Tagung, dem „Kritischen Theologentag“ vom 29. September bis 3. Oktober 1968 in Celle, herrührt. Diese erste Tagung hatte etwa 60 Teilnehmer zu verzeichnen, bei der zweiten Konferenz im März 1969 in Bochum kamen rund 150 Interessierte zusammen42 . Ausgehend von einer angestrebten Reform des Theologiestudiums entwarfen die Teilnehmer eine am Marxismus orientierte Gesellschaftsanalyse und -kritik und sorgten mit Presseerklärungen wie der folgenden für öffentliches Aufsehen: „Die Konferenzteilnehmer […] stellten […] fest, daß sie die bestehende Institutionsform der Kirche nicht mehr stützen können und eine Mitarbeit an reformistischen Änderungsversuchen für sinnlos halten. Sie sehen sich genötigt, durch Selbstorganisation Modelle zu entwickeln, die möglicherweise eine neue Institutionsform der Kirche sein können.“43

Die Kirche war den Celler Konferenzen zufolge in ihrer momentanen Form der ihr zufallenden sozialtherapeutischen Funktion nicht gewachsen, eine „systemsprengende Kirchen- und theologische Ausbildungsreform“44 wurde angedacht. In einer abschließenden Presseerklärung zur zweiten Celler Konferenz bezeichneten die Teilnehmer ihre Tagung ausdrücklich als „Bestandteil d[ies]er sozialistischen Opposition“45 in der Bundesrepublik. Zu Beginn der dritten Konferenz im September 1969 kam es zum Bruch zwischen einem reformerischen und einem revolutionären Flügel. Die Celler Konferenz löste sich auf. Ihre Ideen und Analysen aber, so die Einschätzung des Soziologen und Theologen Hartmut Przybylski, blieben „in den verschiedenen Basis- und Aktionsgruppen präsent […] und [wurden] von da aus an eine Reihe von Theologiestudenten weiter vermittelt“46. „Verschiedene Basis- und Aktionsgruppen“: Unter diese Kategorie fallen Vereinigungen von jungen Theologen an westdeutschen Universitäten wie etwa die „Basisgruppe Theologie“, das „Kollektiv Thomas Müntzer mit dem Hammer“, das Theologeninfo „Die Rote Kanzel“ oder die Publikation „Lutherische Notstandshefte“47. Ihre Arbeitsformen umfassten Flugblattaktionen, Demonstrationen, die Bildung von Diskussionszirkeln und Arbeitsgruppen sowie – beispielsweise in Heidelberg und Hamburg – die Organisation von Auseinandersetzungen in homiletischen Seminaren und in Universitätsgottesdiensten. 42 Weitere Informationen zu den Celler Konferenzen vgl. H. PRZYBYLSKI, Studentenbewegung, v. a. S. 101–105. Besonders zur 2. Celler Konferenz vgl. T. JÄHNICHEN /N. FRIEDRICH, Krisen, S. 129–133. 43 Presseerklärung Celle vom 3. 10. 1968, zit. nach D. L ANGE /R. LEUDESSDORFF /H. C. ROHRBACH (Hg.), Ad hoc: Kritische Kirche, S. 179. 44 H. PRZYBYSLKI, Studentenbewegung, S. 105. 45 Zit nach D. L ANGE /R. LEUDESSDORFF /H. C. ROHRBACH (Hg.), Ad hoc: Kritische Kirche, S. 182. 46 H. PRZYBYSLKI, Studentenbewegung, S. 105. Besonders zur Bedeutung der 2. Celler Konferenz. 47 Vgl. hierzu EVANGELISCHES VERLAGSWERK STUTTGART (Hg.), Theologiestudenten 69.

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Weiten Teilen dieser Basis- und Aktionsgruppen war mit den Teilnehmern der Celler Konferenzen das Verständnis als sozialistische Opposition gemeinsam. Die Themen dieser bezüglich ihrer theologischen Einstellung und Intention heterogenen Gruppen reichten von der Frage nach dem politischen Stellenwert der Theologie und dem Versuch, anhand der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule neue Kirchenmodelle zu entwickeln, bis hin zu aggressiven Angriffen auf bürgerliche Glaubens- und Lebenspraktiken. In vielen Flugblättern wurde in scharfem Ton eine praktische Nachfolge Jesu angemahnt, die einen revolutionären, kämpferischen Gottessohn zum Vorbild hatte. Das Verhalten der bestehenden Volkskirche lief in den Augen dieser Studenten dem Auftrag Jesu zuwider und veranlasste sie zu der Feststellung, „daß unser morscher Kirchenkahn nicht mehr durch kleine Reparaturen unterhalb der Wasserlinie […] vor dem Untergang gerettet werden kann, sondern daß er von einem revolutionären Neubau abgelöst werden muß“48. Folglich wurde der „autoritären Volkskirche“49 der Krieg erklärt, die Kirche als „ein Verbrechen an Gott“50 bezeichnet, in der „episkopaler Versöhnungsschleim“51 verbreitet werde. Der Schlachtruf eines Theologiestudenten bei seiner Vorstellung für das Studentenparlament „Ceterum censeo ecclesiam esse delendam“52 war kein Einzelfall. Andere Theologen setzten statt des „delendam“ ein „reformandam“ ein, obwohl auch sie sich den von der Studentenbewegung vertretenen Inhalten durchaus nahe fühlten. Sie bewegten sich damit auf dem folgenden letzten Beziehungsfeld. 2.4 Adaption: Veränderung innerhalb der vorhandenen Strukturen: „Studentenbewegte“ in der Volkskirche am Beispiel der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern Den folgenden Ausführungen sei vorausgeschickt, dass besonders hier vor einem holzschnittartigen Ursache-Folge-Modell gewarnt werden muss. Viele Erscheinungen in der bayerischen Landeskirche ab Mitte der sechziger Jahre, die unwillkürlich Assoziationen an Ziele und Arbeitsweisen der Studentenbewegung wecken, haben Wurzeln, die ihre Nährstoffe aus weitaus älterem Boden ziehen. Aber dass daraus erwachsende Knospen zum Blühen kamen, hat zweifellos mit 48

Revolutionstest aus den Lutherischen Notstandsheften, in: EBD., S. 60–63, hier: S. 60. Flugblatt für Kirchgänger zum Reformationsgottesdienst, in: EBD., S. 71f., hier: S. 72. 50 Selbstvorstellung eines Kandidaten zur Wahl in ein Studentenparlament, in: EBD., S. 73f., hier: S. 73. 51 Informationen der Basisgruppe Theologie (Nr. 1) in: EBD., S. 78f., hier: S. 78. 52 Selbstvorstellung eines Kandidaten zur Wahl in ein Studenten-Parlament, in: EBD., S. 73f., hier: S. 74. 49

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der Studentenbewegung zu tun. Dies wurde auch in den qualitativen Interviews, die ich für meine Arbeit über Reformgruppen in der bayerischen Landeskirche dieser Jahre gemacht habe, fast durchgehend – freilich mit Modifikationen – betont53. Die von den Studenten beeinflussten Reformer in der bayerischen Landeskirche unterscheiden sich von vielen christlichen Vereinigungen innerhalb der Studentenbewegung vor allem dadurch, dass sie Reformen innerhalb der vorgegebenen volkskirchlichen Strukturen durchsetzen wollten. Ich nenne im Folgenden nur exemplarisch einige diesbezügliche Erscheinungen in der bayerischen Landeskirche. Wie auch in anderen Landeskirchen ist in Bayern Ende der sechziger Jahre die Bildung kirchenkritischer Gruppierungen zu beobachten: Systemimmanente Kirchenkritik äußerte sich in einer neuen Form. Der Theologe und Religionspädagoge Reinhard Dross kommentiert dies mit folgenden Worten: „[Es] ist nicht zu leugnen, daß die Gruppen ohne das Vorbild der studentischen Linken und der Außerparlamentarischen Opposition nicht denkbar wären. Durchgängig ist einmal das humanitär-gesellschaftliche Engagement. Es führt zu scharfer Kritik an Verfassung, gesellschaftlicher Einordnung, therapeutischer (seelsorgerlicher), sozialer, erzieherischer Tätigkeit der institutionalisierten Kirchen; es zeigt sich zugleich in den Versuchen egalitär-demokratischer Selbstorganisation der Gruppen […]. Von der jungen Linken gelernt haben die Gruppen auch die Arbeits- oder besser Aktionsformen: Erzwingung der Öffentlichkeit kirchlicher Gremien, öffentliche Kritik an kirchlichen Würdenträgern, Flugblatt- und Zeitungsaktionen in Synoden und Gemeinden zu Kritik und Propagierung eigener Ziele.“54

Ab Mitte der sechziger Jahre entstanden in Bayern kleine Gruppen, unter ihnen beispielsweise der „Arbeitskreis Theologie und Praxis“ oder der „Theologische Arbeitskreis“, deren Ziele unter anderem ein verbesserter Theorie-Praxis-Bezug und eine Öffnung der Kirche waren – Anliegen, die auch in der Bayerischen Pfarrbruderschaft heftig diskutiert wurden. Viele ihrer Mitglieder sammelten sich ab März 1968 im „Arbeitskreis Evangelische Erneuerung“ (AEE), der mit bald über 400 Mitgliedern im Reigen der „regionalen Großgruppen“ bundesweit als „zeitlich und an Mitgliederzahl […] allen voran“55 beschrieben wird. Als Vereinigung von Laien und Theologen mit dem Ziel, an einer reformfreudigen „Kirche für andere“ mitzuwirken, gegründet, war der AEE die prägende Gruppe in der bayerischen Landeskirche dieser Jahre56. Untergliedert in thematische und regionale 53 Dissertationsprojekt: Geschichte und Wirkung der Reformgruppen AEE, VBV und LabeT in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (1966–1976). 54 R. DROSS, Vorwort, S. 7. 55 R. LEUDESDORFF, Reformgruppen, S. 14. 56 Vgl. dazu auch H. BLENDINGER, Aufbruch.

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Arbeitsgruppen hatte der Kreis von Anfang an konkrete Zielvorstellungen wie beispielsweise die Durchsetzung der Frauenordination, die Enthierarchisierung der kirchlichen Strukturen, das Einführen neuer Gottesdienstformen oder eine Verstärkung der ökumenischen Kontakte. Einige ihrer Inhalte glichen Anliegen der Studentenbewegung, etwa, wenn es um Stellungnahmen zu internationalen Konflikten oder um das Interesse am Dialog mit Marxisten ging. Mit unterschiedlichem Stellenwert wurden diese Ziele auch von den – mit der formalen Zielvorgabe „Interessensvertretung“ im Frühjahr 1970 ins Leben gerufenen – Gruppen bayerischer Nachwuchstheologen, dem LabeT (Landeskonvent bayerischer evangelischer Theologiestudenten) und der VBV (Vereinigung Bayerischer Vikare) vertreten, in gewisser Weise ein kirchliches Nachbeben der Studentenbewegung. Sie übernahmen zum Teil Impulse und Themen von ihren kleinen Vorgängergruppen. Zu ihren wesentlichen Anliegen zählten die Verbesserung der innerkirchlichen Kommunikationsstrukturen und die Ausbildungsund Examensreform. Ein Beispiel, an dem das Vorbild der studentischen Aktionsformen für kirchliche Reformgruppen besonders gut zu beobachten ist, ist die Kritische Begleitung der Synode, kurz KRIBS genannt, die 1969 und 1970 auf den Synoden in Bayreuth und Coburg aktiv wurde57 und dem Vorbild anderer Kritischen Synoden, beispielsweise in Berlin oder in Württemberg, folgte. Hier handelte es sich um eine aus AEE-Mitgliedern, Theologiestudenten und Vikaren zusammengesetzte Gruppe, die mit Transparenten und Flugblättern bei den Sitzungen erschien, erfolgreich öffentliche Aussprachen mit den Synodalen einforderte und mit ihrem Erscheinen die Umgangsformen auf der Synode revolutionierte. Der Ton der Flugblätter ist als kritisch-fröhlich zu bezeichnen; die Kommentare griffen die bei der Synode verhandelten Themen auf. Gutgelaunt verwahrte man sich im ersten Flugblatt dagegen, eine „außersynodale Opposition“58 zu sein und stellte andererseits in einem als Multiple-Choice-Fragebogen gestalteten Flugblatt mit der Frage „Wer hat KRIBS bezahlt?“ und der möglichen Antwort „die DDR“59 klar, dass man durchaus um Bezüge, die zwischen der eigenen Gruppe und der Studentenbewegung, hier namentlich des seinerzeit von Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit infiltrierten SDS, gezogen wurden, wusste und diese gerne ironisch aufgriff. Die KRIBS war ein Beispiel dafür, wie innerkirchlich Meinungen sichtbar gemacht und mit Gruppen und Personen verbunden wurden. Einen weiteren Schritt auf dem Weg zu einer höheren Transparenz kirchlicher Entscheidungs57

Vgl. zu Flugblättern und Pressemeldungen L AELKB, Bestand Vereine III/20 (AEE), 48. EBD. 59 EBD.

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findung bedeutete die vom AEE initiierte synodale Arbeitsgruppe „Offene Kirche“, die ihre Arbeit 1972 aufnahm. Abschließend noch ein Wort zu denjenigen, die sozusagen die nominelle Schnittmenge zwischen Landeskirche und Studentenbewegung bildeten, nämlich zu den bayerischen Theologiestudenten und Vikaren. Hier ist unter anderem bemerkenswert, dass der Weg ins Pfarramt ab Mitte der sechziger bis Anfang der siebziger Jahre für viele nicht mehr so selbstverständlich war wie für die Generationen zuvor60. Dabei gab es neben denen, die die Promotion anstrebten, eine steigende Zahl derjenigen, die Zusatz- und Ergänzungsausbildungen begannen, um sich für spezielle Dienste innerhalb der Kirche zu qualifizieren oder sich ein zweites berufliches Standbein zu sichern. Andere absolvierten ein Zweitstudium. Ich zitiere einen Vertreter dieser Gruppe, der Theologie und Psychologie studierte: „Bei mir und auch bei Kommilitonen aus dieser kritischen 68er-Zeit war das die Motivation […]: Damit ich besser Seelsorger […], damit ich besser Pfarrer sein kann, brauche ich eine breitere Basis an Humanwissenschaften […]. [Der Grund war,] dass ich besser vererdet sein will, um meinen Beruf besser wahrnehmen zu können. Von daher kam auch die kritische Auseinandersetzung mit der Theologie: Die Anfänge der Kritischen Theorie haben wir sofort versucht, auf unsere eigene Existenz und auf unser eigenes Fach Theologie anzuwenden.“61

An dieser Stelle machte sich der Einfluss der Studentenbewegung direkt auf das Qualifikationsprofil der Pfarrer einer Landeskirche bemerkbar. Der Protest der Studentenbewegung gegen die Ordinarienuniversität scheint von den Nachwuchstheologen auf ein Aufbegehren gegen Strukturen der Kirchenleitung übertragen worden zu sein: Man wollte als Gesprächspartner ernst genommen werden, unabhängig davon, auf welcher Stufe der kirchlichen Hierarchie man stand. Um das zu erreichen, wählte man oft Aufsehen erregende Wege. Hier sei als Beispiel die so genannte Ordinationsverweigerung bayerischer Vikare erwähnt, die unter anderem im Verhalten jungen Genfer Theologen ein Vorbild hatte62 . Im Frühjahr 1969 unterzeichneten 57 bayerische Vikare eine „Resolution zur Frage der Ordination“63 ; ein Großteil von ihnen verweigerte die Ordination unter den vorherrschenden Bedingungen. Im September 1969 erfolgte eine entsprechende Eingabe an die Landessynode, verantwortet von

60 Vgl. dazu H. DIETZFELBINGER, Fünf Jahre, S. 21: „Die Zahl derer, die nach dem Examen nicht in den kirchlichen Ausbildungsweg gehen, erreichte in den letzten Jahren manchmal fast ein Drittel aller Kandidaten.“ 61 Interview mit DR. WIELAND Z ADEMACH am 25.6.2004, S. 2. 62 Vgl. dazu C. HILBIG, Junge Theologen verweigern die Ordination. 63 Vgl. H. V. LIPS /O. A RNDT: Resolution zur Frage der Ordination.

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der „Arbeitsgruppe Ordination“, die als „Arbeitsgruppe Amt und Gemeinde“ die Angelegenheit als thematische Gruppe der VBV weiterverfolgte. Es kam zu weiteren Aktionen sowie Gesprächen mit Vertretern der Kirchenleitung, die in den meisten Fällen zu einer Einigung führten. Ein Teil dieser jungen Theologengeneration ergriff außerkirchliche Berufe oder trat in den Dienst anderer Landeskirchen. 3. Schlussgedanken Der an einzelnen Punkten exemplarisch ausgeführte Überblick vermittelt einen Eindruck von der Bandbreite der verschiedenen Beziehungen, in der Protestanten in und mit der Studentenbewegung sowie umgekehrt standen. Die von mir aufgezeigten Felder Gleichgültigkeit und Verständnislosigkeit, Antipathie, Synthese und Adaption mögen dabei als eine denkbare Orientierungshilfe für eine Sichtung betrachtet werden. Ebenso wie hinsichtlich anderer kirchengeschichtlicher Fragestellungen aus den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts stehen detaillierte Untersuchungen zu einzelnen, gerade auch regionalen Facetten dieses Themas noch weitgehend aus. Das entsprechende Archivmaterial ist zum Teil noch nicht gesichtet oder muss über Privatarchive Beteiligter zusammengetragen werden. Doch ist nicht nur die Erschließung und Sammlung schriftlicher Zeugnisse notwendig64 : Der momentane Zeitpunkt bietet für Forschungen zu dieser Fragestellung die große Chance, die Arbeit an den schriftlichen Quellen mit Methoden der Oral History zu kombinieren. Gerade anhand qualitativer Interviews können – unter Berücksichtigung der speziellen Risiken dieser Arbeitsweise65 – über das Archivmaterial hinausreichende Sachinformationen in die Forschungen einbezogen sowie Erkenntnisse über Motivation und Selbsteinschätzung der Zeitzeugen gewonnen werden. Die Anwendung verschiedener Methoden wird bei der Beantwortung der Fragen helfen, wie groß die Wirkung der Studentenbewegung auf Teile des westdeutschen Protestantismus tatsächlich war, inwieweit der Protestantismus, etwa durch die von ihm getragenen Aktionsgemeinschaften, den Boden für den Protest der Studenten mit bereitet hatte, und wie Aussagen wie 64 Vgl. dazu P. DOHMS, Studentenbewegung und Überlieferungsvielfalt. Als notwendige Schritte hin zu einer Objektivierung der Forschung zur Studentenbewegung sieht Dohms zum einen die Notwendigkeit, dass in den Archiven „dem aus der Studentenbewegung erwachsenen, traditionell etwas stiefmütterlich behandelten Sammlungsgut mit mehr Zuneigung und weniger Misstrauen und Geringschätzung“ (S. 233) begegnet wird. Zum anderen plädiert er dafür, vermehrt systematische Erhebungen und die Befragung von Zeitzeugen durchzuführen. 65 Vgl. R. J. GRELE, Ziellose Bewegung.

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die des 2003 verstorbenen Direktors der Evangelischen Akademie zu Berlin Rolf Hanusch einzuordnen sind, dass, „gemessen an den eigenen Ansprüchen […] die 68er Bewegung in der Gesellschaft und in den Kirchen völlig gescheitert“66 ist. Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen a) archivalische Quellen Landeskirchliches Archiv Nürnberg (LAELKB) Bestand Vereine III/ 20 (AEE), 48. Bestand Pfarreien III/ 29 (Ev. Studentengemeinde Erlangen), 22. Bestand Pfarreien III/ 29 (Ev. Studentengemeinde Erlangen), 131. Bestand Pfarreien III/ 29 (Evang. Studentengemeinde Erlangen) 161.

b) mündliche Auskünfte Interview mit Dr. Wieland Zademach am 25. Juni 2004 in Erlangen (Transkription des Interviews).

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen A LBERTZ, Heinrich/BÖLL, Heinrich/GOLLWITZER, Helmut u. a.: „Pfarrer, die dem Terror dienen“? Bischof Scharf und der Berliner Kirchenstreit 1974. Eine Dokumentation. Reinbek bei Hamburg 1975. BAUSS, Gerhard: Die Studentenbewegung der sechziger Jahre in der Bundesrepublik und Westberlin (Kleine Bibliothek Politik, Wissenschaft, Zukunft. 108). Köln 1977. BECKER, Hartmuth/WINCKLER, Stefan: Gegenwehr in der evangelischen Kirche und an der Freien Universität. Gespräch mit Prof. Dr. Klaus Motschmann (Berlin, 29.1.2002). In: Die 68er und ihre Gegner. Der Widerstand gegen die Kulturrevolution. Hg. von Hartmuth Becker, Felix Dirsch und Stefan Winckler. Graz/Stuttgart 22004, S. 157–182. BECKER, Thomas P./SCHRÖDER, Ute (Hg.): Die Studentenproteste der 60er Jahre. Archivführer – Chronik – Bibliographie. Köln/Weimar/Wien 2000. BELL, B. Desmond: Art. Studentengemeinde/Hochschulgemeinde. In: Theologische Realenzyklopädie 32, 2001, S. 263–268. BERGENGRUEN, Hermann: Seyt nuirg keck! Zwischen Studentenrevolte und Kirchenregiment. Stuttgart 1981. BLENDINGER, Hermann: Aufbruch der Kirche in die Moderne. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern 1945–1990. Stuttgart/Berlin/Köln 2000. BLOCH, Karola/SCHRÖTER, Welf (Hg.): Lieber Genosse Bloch… Briefe von Rudi Dutschke, Gretchen Dutschke-Klotz und Karola Bloch 1968–1979. Im Anhang: Rudi Dutschke antwortet polnischen Studenten (talheimer reihe politische erfahrung. 1). MössingenTalheim 1988. 66

R. H ANUSCH, Aufstand, S. 258.

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„Nach Prag ’68 war klar, wenn eine Reform des Systems überhaupt möglich ist, müsste sie in der Sowjetunion beginnen.“ (Johannes Hamel, Jg. 1911)1 „Ich habe den Prager Frühling damals sehr begrüßt und hatte gehofft, daß von daher eine Veränderung eintreten würde, daß der Sozialismus immer weiter verbessert werden könnte.“ (Gottfried Forck, 1923–1996) 2 „Ich bin politisch zunächst sehr stark durch Prag 68 und durch freundschaftliche Beziehungen zu Havemann, Biermann, Dutschke und anderen beeinflußt worden.“ (Gerd Poppe, Jg. 1941) 3 „[…] einig waren wir uns darüber, daß der Begriff des ‚demokratischen Sozialismus‘, den wir nicht oft gebraucht haben, der aber für uns in etwa die Ziele der 68-er Bewegung und von Prag 68 bezeichnete, wichtig blieb.“ (Werner Fischer, Jg. 1950) 4 „68 ist so ein Datum. Obwohl ich erst 8 Jahre alt war, habe ich doch im Nachhinein den Einmarsch in Prag und die Studentenbewegung in der BRD intensiv wahrgenommen.“ (Edgar Dusdal, Jg. 1959) 5

Diese fünf Zitate sind für die DDR-Bevölkerung insgesamt zwar keineswegs repräsentativ, dennoch könnten ihnen zahlreiche ähnliche hinzugefügt werden. Die wiedergegebenen Erinnerungen stammen von Angehörigen verschiedener Generationen, von fünf Menschen, die – zumindest zeitweilig – in verschiedenen Funktionen in der Kirche oder in deren Umfeld tätig gewesen sind: Johannes Hamel war vor dem Ruhestand zuletzt Dozent für praktische Theologie und Dr. Gottfried Forck Bischof der Berlin-Brandenburgischen Kirche gewesen, Gerd Poppe hatte seit 1984 im Baubüro des Diakonischen Werkes und Werner Fischer während der friedlichen Revolution 1989 im Kontaktbüro der Berliner Gethsemane-Gemeinde gearbeitet, während Edgar Dusdal damals am Theologischen Seminar in Leipzig studiert hatte. So unterschiedlich ihre Erinnerungen an 1968 im Detail sein mögen, gemein ist den zitierten Aussagen, dass sie die Bedeutung dieses Datums für Christen in der DDR – und nicht nur für sie! – zum Ausdruck bringen. 1

30.3.1995, zit.: H. FINDEIS /D. POLLACK, Selbstbewahrung, S. 177. 2.2.1995, zit.: EBD., S. 315. 3 1990/92, zit.: H. FINDEIS /D. POLLACK /M. SCHILLING, Entzauberung, S. 178f. 4 1990/92, zit.: EBD., S. 102. 5 1990/92, zit.: EBD., S. 68. 2

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Anders als im Westen ist „68“ in der DDR vor allem mit den Ereignissen des Prager Frühlings verbunden6. In diesen Kontext gehört – ein Zitat hat das schon angerissen – die Rezeption von Ideen eines „demokratischen Sozialismus“ oder – wie es in der Tschechoslowakei damals hieß – eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Wer die Rezeption der Ereignisse und Ideen von „68“ bzw. eben des Prager Frühlings in der DDR und im Besonderen des hiesigen Protestantismus diskutiert, bewegt sich auf vermintem Gelände, wenngleich einige der Sprengsätze, die hier unmittelbar nach dem Zusammenbruch der DDR gelegt worden waren,7 mittlerweile beseitigt wurden. Darauf wird später zurückzukommen sein, wenn nach langfristigen Folgen der 68er Ereignisse für den ostdeutschen Protestantismus gefragt wird. Doch ist zunächst in der gebotenen Kürze erstens ein Blick auf die Rahmenbedingungen für die Rezeption des Prager Frühlings im DDR-Protestantismus zu werfen, zweitens nach innerkirchlichen Entwicklungen im Vorfeld von „68“ zu fragen, und sind drittens und viertens politische, gesellschaftliche und ökumenische Einflüsse auf die DDR und den dortigen Protestantismus zu skizzieren. In einem fünften und sechsten Punkt werden die Rezeption der Inhalte des Prager Frühlings sowie die Reaktionen der ostdeutschen Kirchen auf seine Niederschlagung umrissen. Abschließend werden – wie angekündigt – ganz kurz die Langzeitfolgen von „68“ und seinen Ideen für die evangelischen Kirchen in der DDR betrachtet. Nur ganz am Rande dieses Beitrages wird die Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR behandelt, da diese nur in geringem Maße von den hier zu erörternden Ereignissen beeinflusst worden sein dürfte. 1. 1968 verharrte die Gesellschaft der DDR im Status einer „geschlossenen Gesellschaft“8. Sieben Jahre, bevor der Prager Frühling von Panzern des Warschauer Paktes niedergewalzt wurde, hatte die Staats- und Parteiführung um Walter Ulbricht die Mauer errichten lassen und damit die letzte Fluchtmöglichkeit in den Westen verschlossen. Diese Maßnahme – so unpopulär, ja brutal sie war – hatte den Machthabern in Ost-Berlin Raum für meist sehr kurzlebige Experimente eröffnet und die Bewohner der DDR bzw. deren „Staatsinsassen“, so Joachim Gauck treffend9, dazu gezwungen, sich in der Ulbricht-Republik einzurichten. Hatte die Abschließung der DDR es der SED ermöglicht, „ihren“ 6

Vgl. dazu u. a. I.-S. KOWALCZUK, Gefahr; S. WOLLE, DDR-Bevölkerung. Vgl. dazu den Überblick bei H. DÄHN, Kirchen, S. 205f. 8 Zur gesellschaftlichen Konstitution der DDR vgl. u. a. K. H. JARAUSCH, Gegengesellschaft; S. MEUSCHEL, Legitimation, S. 10–15; D. POLLACK, Widersprüchlichkeit. 9 Zit.: M.-D. OHSE, Opfer, S. 689. 7

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Staat allmählich weniger repressiv – zumindest weniger offensichtlich repressiv – zu gestalten, so hatte sie die „Staatsinsassen“ dazu genötigt, sich in der „geschlossenen Gesellschaft“ einen Platz zu suchen und sich in ihr einzurichten. Am Ende der Dekade hatte sich der Sozialismus im Bewusstsein und in der Alltagspraxis zunehmend „veralltäglicht“10. Auch die Kirchen in der DDR waren seit dem 13. August 1961 noch stärker als zuvor gezwungen, ihren Standort zu bestimmen – und zwar sowohl organisatorisch – in dieser Hinsicht vor allem mit Blick auf die Gemeinschaft mit den westdeutschen Kirchen im Rahmen der EKD, deren Arbeit durch die Mauer erheblich behindert und zum Teil geradezu verhindert wurde – als auch inhaltlich, mussten und wollten die Kirchen doch weiterhin Stellung nehmen zu den Entwicklungen in der DDR, einschließlich der Zielvorgaben, der Herrschaftsinstrumente und gesellschaftspolitischen Methoden der Staatspartei SED. Dieser Prozess der Selbstverortung wurde begleitet von einem Generationswechsel, auch in den Reihen der Theologen und der leitenden Kirchenämter. In diese Positionen rückten zunehmend Personen auf, die erkannt hatten, dass die DDR-Kirchen sich nicht mehr auf jenen tradierten volkskirchlichen Status berufen konnten, der die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen und auch die theologischen Debatten des vorangegangenen Jahrzehnts mit seiner Kirchenkampf-Atmosphäre noch bestimmt hatte – so etwa im „Obrigkeitsstreit“ 195911. Vor dem Hintergrund der radikalen Säkularisierung suchte die jüngere Generation bzw. suchten die jüngeren Generationen, nach theologischen Entwürfen, die der Minderheitensituation der Kirchen in der DDR angemessener zu sein schienen. Dabei entdeckten sie unter anderem die Theologie Dietrich Bonhoeffers für sich. Was im Rahmen der Kirche eine – fällige – Modernisierung von Theologie und kirchlicher Praxis darstellte, wurde vom SED-Staat mit großer Skepsis betrachtet und als Versuch interpretiert, die sozialistische Gesellschaft subtil zu unterwandern. In diesbezüglichen Berichten findet sich sogar die Behauptung, die Kirchen versuchten, Mittel und Ergebnisse der gesellschaftlichen Umgestaltung für ihre Aufgaben zu instrumentalisieren: „Die Kirche nutzt gegenwärtig einen Stab gut ausgebildeter junger Theologen, die zum Teil bereits die Oberschulen und Universitäten der DDR besuchten. Erfahrungen der sozialistischen Menschenführung, der Kultur, der Soziologie und der Psychologie werden von ihnen genutzt und für ihr Ziel entsprechend eingesetzt, verfälscht, umfunktioniert.“12

10

D. POLLACK, Kirche, S. 253. Vgl. EBD., S. 159–175; R. M AU, Protestantismus, S. 69–72. 12 SED-Kreisleitung Leuna, Abt. Agit-Prop, Einschätzung der kirchlichen Arbeit in einigen Bereichen des VEB Leuna-Werke, 13.3.1967 (LA MERSEBURG, BPA, IV/AB-2/14/4, Bl. 134). 11

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2. Auch die DDR und ihre Gesellschaft blieben nicht von dem Modernisierungsdruck verschont, der in den westlichen Industriegesellschaften bereits Anfang der 1960er Jahre deutlich erkennbar wurde13. Schon im vorangegangenen Jahrzehnt war die ostdeutsche Gesellschaft einem erheblichen Wandel ausgesetzt worden, der durch die gesellschaftlichen Utopien und wirtschaftspolitischen Entwürfe der SED vorgezeichnet war14. Eine wesentliche, durchaus intendierte Folge dieses Wandels war die Entbürgerlichung der DDR, eine andere, die allerdings damit korrelierte und ebenso intendiert war, ihre Entkirchlichung. Zwar war der Anteil von Protestanten an der DDR-Bevölkerung insgesamt laut einer Volkszählung im Jahre 1964 noch relativ stark (59,4 Prozent),15 doch schritt besonders unter den jungen Erwachsenen und mit ihnen unter den nachfolgenden Generationen die Entkirchlichung in hohem Tempo voran. So erklärten in einer repräsentativen Untersuchung des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung 1970 weniger als ein Zehntel aller befragten Studienanfänger, sie seien religiös, und andere Erhebungen unter Jugendlichen bestätigen dieses Resultat16. Das extrem niedrige Niveau der Religiosität unter jungen Ostdeutschen zu diesem Zeitpunkt zeigt, dass der Bruch mit der Volkskirche bereits in der Generation ihrer Eltern erfolgt war. Die evangelischen Landeskirchen hatten ihren volkskirchlichen Status also bereits am Anfang der 1960er Jahre eingebüßt und litten schon zu diesem Zeitpunkt unter einer massiven Tradierungskrise. Die Säkularisierung hatte in der DDR – ungeachtet des relativ hohen Niveaus formeller Kirchenmitgliedschaft zum Zeitpunkt der Volkszählung von 1964 – bereits damals jenen Stand erreicht, der für die ostdeutsche Gesellschaft bis zum Ende des SED-Staates und darüber hinaus gelten sollte. Dem Modernisierungsdruck der 1960er Jahre begegnete die DDR-Führung erneut mit wirtschaftspolitischen Experimenten17, die am Ende des Jahrzehnts allerdings ad acta gelegt werden sollten, einer kurzfristigen kulturpolitischen Liberalisierung, die durch das 11. Plenum des SED-Zentralkomitees, das so genannte „Kahlschlag“-Plenum, im Dezember 196518 abrupt beendet wurde, sowie mit verschiedenen, ambivalenten Gesetzesinitiativen, die zwar teilweise durchaus progressive Elemente bargen (liberales Familienrecht, Bildungs- und

13

Siehe dazu H. MCLEOD im vorliegenden Band. Vgl. u. a. S. MEUSCHEL, Legitimation, S. 29–131, und den Forschungsüberblick von M. LEMKE, Jahre. 15 D. POLLACK, Kirche, S. 373–445, insbes. S. 373f., Tab. 1. 16 ZIJ, Studentenintervallstudie, 1. Welle (SIS 0), 1970 (ZA KÖLN, 6172); vgl. ZIJ, Intervallstudie, 6. Welle (IS I6), 1973 (ZA KÖLN, 6154). Vgl. auch M.-D. OHSE, Jugend, S. 337f., und zum Folgenden EBD., S. 221–235. 17 Vgl. A. STEINER, „Hauptaufgabe“. 18 Vgl. G. AGDE, Kahlschlag. 14

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Hochschulreform),19 aber durch das konstitutive „Weltanschauungsmonopol“ der SED20 ihren bestimmenden Charakter erhielten. Zwar entstanden in der DDR unter dem Modernisierungsdruck der 1960er Jahren keine „neuen sozialen Bewegungen“21, doch geriet auch die „geschlossene Gesellschaft“ der DDR in Bewegung. Generationelle Konflikte waren auch hier nicht zu übersehen; zudem wurden diese durch den totalitären Anspruch der SED auf den ganzen Menschen, voran auf die Jugend, schnell politisch aufgeladen. Im Umfeld des „Kahlschlag“-Plenums entluden sich diese Konflikte auch gewalttätig, und drei Jahre später – nach der Niederschlagung des Prager Frühlings – kam es geradezu zu einer Protestwelle, die vor allem von Jugendlichen getragen wurde; allerdings wurden diese Proteste nicht wie im Westen von Studierenden getragen, sondern vor allem von der Arbeiterjugend 22 . Auch die Kirchen sahen sich diesem Modernisierungsdruck ausgesetzt, und sie gaben ihm vor allem durch die seelsorgerliche und gottesdienstliche Praxis nach. Doch ernteten sie dafür kaum Beifall. Auf der einen Seite sahen Staat und Partei in den Neuerungen, wie „Gottesdienste einmal anders“ oder „Offene Arbeit“, „Versuche, die inhaltliche Thematik kirchlicher Veranstaltungen möglichst weit zu spannen, ‚weltoffen‘ zu sein, um mittels interessanter politischer, gesellschaftlicher, philosophischer, kultureller und ethischer Probleme […] die Jugend anzusprechen und [zwar auch] diejenigen, die sich von der traditionellen Kirche bereits gelöst haben.“23 Und auf der anderen Seite, in den Gemeinden, fanden die liturgischen und inhaltlichen Neuerungen oft nur „bei einem geringen Teil der Kirchenmitglieder Anklang“, wie man in einem Stimmungsbericht aus Leipzig feststellte, der in dieser Frage durchaus als repräsentativ gelten kann24. Das galt im Übrigen für viele Fragen von Sitte und Anstand, in denen die Älteren generell oft mit den (kleinbürgerlichen) Ansichten der Staats- und Parteiführung übereinstimmten. 3. Die neuen sozialen Bewegungen des Westens, voran die Studentenbewegung, wurden in der DDR zwar mit Interesse verfolgt, stießen aber unter der Bevölke19

Vgl. S. MEUSCHEL, Legitimation, S. 207f.; C. K LESSMANN, Zwei Staaten, S. 368ff.; D. STARITZ, Geschichte, S. 241f. 20 K. NOWAK, Protestantismus, S. 212. 21 Vgl. dazu M.-D. OHSE /D. POLLACK, DDR. 22 Vgl. D. WIERLING, Jugend; M.-D. OHSE, Jugend, S. 83–104, 121–137, 190–210. 23 O. Vf. [Staatssekretariat f. Kirchenfragen], Information 4d/68, o. D. [Feb. 1968] (SächsStA LEIPZIG, SED, IV B-2/14/671, Bl. 7). Vgl. als frappierendes Beispiel für die Folgen innovativer Gottesdienstpraxis A. R ADELOFF, Protestanten; zu den Anfängen der Offenen Arbeit vgl. u. a. E. NEUBERT, Geschichte, S. 184ff. 24 Rat d. Stadtbezirkes [Leipzig-]Nordost, Einschätzung, Leipzig 6.6.1966 (SächsStA LEIPZIG, SED, IV A-5/01/258, S. 3). Vgl. – auch zum Folgenden – M.-D. OHSE, Jugend, S. 264–274.

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rung auf wenig Akzeptanz, und das gilt auch für den ostdeutschen Protestantismus. Diese Distanz entsprang vor allem der Marxismusrezeption der westlichen Bewegungen, die den Alltag der realsozialistischen Gesellschaften weitgehend zu ignorieren schien. Die unterschiedlichen Auffassungen in der Reflexion sozialistischer Gesellschaftsentwürfe demonstrierten zugleich, dass sich die Gesellschaften in den beiden deutschen Staaten zunehmend entfremdeten. Dies widerspiegelt sich in einem Bericht der Halleschen Evangelischen Studentengemeinde (ESG) über ein Partnerschaftstreffen mit der Göttinger Studentengemeinde Ende des Jahres 1968, in dessen Verlauf eine „heftige Diskussion über [den] Marxismus“ stattgefunden habe: „w[est]d[eutsche] Partner meinten, daß bei uns [ein] pervertierter Marxismus verwirklicht wird. Unsere Stud[ierenden] widersprachen, weil sie glaubten, daß W[est]d[eutsche] gar nicht viel mitreden könnten.“25 Die Hallenser gründeten ihren Vorwurf nicht nur auf die Alltagserfahrungen in einer mit marxistischer Ideologie fundierten Gesellschaft, sondern auch auf ihre intensive theoretische Auseinandersetzung mit dieser Theorie. Die ging in vielen Studentengemeinden der DDR über das obligatorische marxistisch-leninistische Grundlagenstudium hinaus. So hatte sich die ESG in Halle bereits im Frühjahr intensiv mit derartigen Fragen befasst und sie „mit Hunderten von Studenten“ unter anderem mit dem Prager Philosophen Milan Machovec diskutiert26. Generell erfreute sich der Prager Frühling in der DDR eines regen Interesses, wurden die Entwicklungen in der Tschechoslowakei intensiv verfolgt. Schon die Eingangszitate sind ein deutlicher Beleg dafür. Der Prager Frühling weckte Hoffnungen auf ein neues „Tauwetter“ im Ostblock, vor allem in der DDR. Seit dem Mauerbau, dem „heimlichen Gründungstag der DDR“27, „hätte die DDR beweisen können, was im Sozialismus steckt“ – so der spätere Berliner Generalsuperintendent Günter Krusche28. Nachdem diese Erwartungen jedoch bis zum Frühjahr 1968 nicht eingelöst worden waren, schien „Prag“ nun einen neuen Anlass dafür zu bieten. Man hoffte, dass nun auch in der DDR neue Freiräume für die Bürgerinnen und Bürger, auch für die Christinnen und Christen unter ihnen, und für die Kirchen eröffnet würden, dass sich die SED von ihrem totalitären Gestaltungsanspruch – zumindest ein wenig – lösen würde. Dies wird exemplarisch erkennbar in einem Bericht aus der Hallenser Martin-Luther-Uni25 ESG, Protokoll V-Sitzung, 25.11.1968 (ESG H ALLE (S.), Vertrauenskreisprotokolle, Herbstsem. 1968). 26 Rudolf Schulze [ehem. Studentenpfarrer in Halle], Brief an Vf., Berlin 3.9.1996; vgl. o. Vf. [ESG-Geschäftsstelle], Brief an Konrad Hüttel von Heidenfeld [Studentenpfarrer in Leipzig], Berlin 7.2.1968 (ESG-Geschäftsstelle Ost BERLIN, S. 1). Vgl. auch Heino Falcke, in: H. FINDEIS /D. POLLACK, Selbstbewahrung, S. 440. 27 D. STARITZ, Geschichte, S. 196. 28 H. FINDEIS /D. POLLACK, Selbstbewahrung, S. 567.

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versität, wonach etliche Studierende aus ihren Sympathien mit den Entwicklungen in der ČSSR keinen Hehl machten: „In diesem Zusammenhang wurde von einzelnen Studenten die Ansicht vertreten, daß nach der jetzt erreichten wirtschaftlichen Stabilität in der DDR nunmehr daran gedacht werden sollte, ähnlich wie in anderen sozialistischen Staaten einen größeren ‚Spielraum‘ im ideologisch-künstlerischen Bereich zu ermöglichen. Von einigen Studenten […] wurde darüber hinaus geäußert, auch in der DDR müßte ähnlich wie in der CSSR über eine breitere demokratische Entwicklung bis hin zur Tätigkeit einer Oppositionspartei diskutiert werden.“29

Dass derartige Hoffnungen unberechtigt waren, demonstrierte die SED schon früh mit ihrer radikalen Ablehnung des tschechoslowakischen Reformprozesses30, der in der DDR-Presse bereits im April 1968, also schon in seinen Anfängen, massiv attackiert wurde. Dennoch wäre der Prager Frühling, so er den Sommer überdauert hätte, sicher nicht ohne Auswirkungen auch auf die innere Entwicklung der DDR geblieben. Am 21. August 1968 wurde der Reformprozess in der ČSSR jedoch abrupt beendet, und mit der Invasion der Warschauer Pakt-Armeen erstarb die Hoffnung auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Doch beendete die Intervention nicht die Auseinandersetzung mit sozialistischen Gesellschaftsentwürfen, auch nicht in den ostdeutschen Kirchen. Hier waren es vor allem die Studentengemeinden, die weiterhin sozialistische Ideen diskutierten und damit zugleich den Gesellschaftsentwurf der SED kritisierten. Dessen ideologische Grundlagen wurden hinterfragt und seine Perspektiven einer konstruktiven Kritik unterzogen31. Allerdings – und dies muss betont werden – sind entsprechende Verlautbarungen etwa aus der Geschäftsstelle der Studentengemeinden in der DDR oder einzelner Personen dort nicht ohne weiteres zu generalisieren. Es gab durchaus Studentengemeinden, wie dies etwa der Publizist Ulrich Schacht – damals Theologiestudent – betont hat,32 die das sozialistische Gesellschaftsmodell grundsätzlich ablehnten. Aber auch diese Gruppen dürften wesentlich von den Ereignissen und vor allem vom gewalttätigen Ende des Prager Frühlings geprägt worden sein. 4. Die Diskussion über die Grundlagen und die Perspektiven sozialistischer Gesellschaftsentwürfe wurde durch verschiedene Faktoren forciert. So ist die Auseinandersetzung mit derartigen Fragen vor allem durch entsprechende Debatten in der Ökumene, etwa durch die Beschlüsse der Vollversammlung des ÖRK in 29

SED-Parteileitung MLU, Bericht, 29.5.1968 (LA MERSEBURG, BPA, IV/B-2/9.02/666, Bl. 65f.). Vgl. dazu insges. L. PRIESS /V. KURAL /M. WILKE, SED. 31 Vgl. M.-D. OHSE, Jugend, S. 253–263. 32 U. SCHACHT, Quellen, S. 207ff.; vgl. E. NEUBERT, Geschichte, S. 312.

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Neu Delhi 1961 und durch die Diskussionen auf der ÖRK-Vollversammlung in Uppsala 196833, beeinflusst worden. Aus der Verantwortung für die „Dritte Welt“ und aus der Sympathie mit einigen antikolonialen Befreiungsbewegungen wie auch mit der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King resultierte eine – zuweilen sehr scharfe – Kritik am Kapitalismus, als dessen einzige Alternative der Sozialismus erschien34. Die Vision eines „Dritten Weges“ hingegen hatte sich mit der Niederschlagung des Prager Frühlings erst einmal erledigt. Die Invasion der Warschauer Pakt-Armeen hatte in unmißverständlicher Weise verdeutlicht, dass die Sowjetunion – entsprechend der BreschnewDoktrin – Erosionen innerhalb ihres Imperiums nicht hinnehmen würde35. Theologisch unterfüttert wurden diese Debatten durch neue Entwürfe, sowohl die Anfänge der Befreiungstheologie als auch durch die bereits erwähnte Rezeption Bonhoeffers. Darin widerspiegelt sich – zumindest in der jüngeren Generation – auch ein gewisses Unbehagen mit der tradierten Amtskirche. Dieses besaß allerdings keineswegs die Dimension und die Schärfe, wie sie etwa in der Kirchenkritik der „Kirche von Unten“ oder im „Arbeitskreis Solidarische Kirche“ Ende der 1980er Jahre zu finden waren. Zugleich intendierten diese Debatten auch immer eine Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit und mit deutscher Schuld. Die Nachkriegsordnung – die deutsche Teilung und die Spaltung Europas – wurde immer als Folge des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Verbrechen betrachtet. Dieser Vergangenheitsreflex – das ist hier keineswegs wertend gemeint – findet sich in einigen kirchlichen Verlautbarungen auch des Jahres 1968. So beginnen die evangelischen Bischöfe ihren Brief aus Lehnin, den sie im Kontext der Verfassungsdiskussion des Frühjahres an Staats- und Parteichef Walter Ulbricht sandten, mit dem Blick auf die deutsche Teilung in Folge deutscher Schuld36. Und die wenigen kirchlichen Voten zur Niederschlagung des Prager Frühlings sitzen mit der Betonung dieser Perspektive der staatlichen Propaganda auf, die fälschlicherweise eine unmittelbare, aktive Beteiligung von DDR-Streitkräften an der Invasion in die Tschechoslowakei behauptet und damit Erinnerungen an den Einmarsch der Wehrmacht dreißig Jahre zuvor geweckt hatte37. 33

Vgl. dazu R. FRIELING und R. SPLIESGART im vorliegenden Band. Vgl. o. Vf., Der weltweite Aspekt unserer ESG-Arbeit und der Wandel im Verständnis von Ökumene, 22.1.1970, in: E. GODEL, Standortbestimmung, S. 96–98; Ergebnisse zum Thema „Christliches Selbstverständnis in einer sozialistischen Umwelt“, in: kontakt [Periodikum der ESG/DDR], Juli/Aug. 1970, EBD., S. 104f. 35 Vgl. L. PRIESS /V. KURAL /M. WILKE, SED, S. 18f. 36 Brief evangelischer Bischöfe an Walter Ulbricht, 15.2.1968, dok. u. a. in: F. H ARTWEG (Hg)., SED, Bd. 2, S. 35ff. 37 Vgl. Ev. Kirchenleitung Berlin-Brandenburg, An die im Ökumenischen Rat [der ČSSR] zusammengeschlossenen Kirchen, Berlin 5.9.1968 (EZA BERLIN, 102/15, o. Pag.); so auch die jüngste Gesamt34

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Ideologisch wurde die Diskussion über sozialistische Perspektiven der Gesellschaft durch die Differenzierung des kommunistischen Lagers begünstigt. Neben dem Prager Frühling sind hier die Schriften polnischer Philosophen, Ernst Blochs oder anderer staatsoffiziell als „Renegaten“ gebrandmarkter Autoren zu nennen. Dazu gehörten insbesondere die Eurokommunisten, unter ihnen der Österreicher Ernst Fischer, die die Invasion in Prag scharf ablehnten und die sich zunehmend von Moskau abgrenzten38. 5. Derartige Debatten intendierten allerdings keineswegs eine grundsätzliche Akzeptanz des sozialistischen Gesellschaftsentwurfes an sich, wie Günter Krusche rückblickend erklärt hat: „Wenn es um das Scheitern des Marxismus ging, stand für uns nicht die Sinnfrage auf dem Spiel, weil wir uns […] auf eine bessere Verheißung, als der Marxismus sie gibt, gründen konnten. Aber rein empfindungsmäßig war es doch so, daß wir sagten: Jetzt müssen wir trotz dieses Scheiterns – und das war doch auch ein ziemlicher Schock – etwas aus dieser Situation machen.“39

Dies dürfte aber schon der größte gemeinsame Nenner gewesen sein, auf den sich die evangelischen Kirchenleitungen in der DDR verständigen konnten. So ebneten diese Diskussionen auch keineswegs den Weg zu einer „Gleichschaltung“ der Kirchen oder zu einer „Kirche neuen Typus“, wie dies Gerhard Besier – in Anlehnung an die Selbststilisierung der SED zu einer stalinistischen „Partei neuen Typus“ – unterstellt hat40. Dies war schon allein deswegen nicht der Fall, weil die SED an ihrem Wahrheitsanspruch uneingeschränkt festhielt und Debatten, wie sie in etlichen kirchlichen Kreisen geführt wurden, ohnehin als „Revisionismus“ oder als „Sozialdemokratismus“ prinzipiell ablehnte: „Es gibt noch viele Geistliche, die Anhänger oder Verfechter der Theorie des sogenannten dritten Weges sind, die – besonders bestärkt durch die Ereignisse in der CSSR – von einem angeblich ‚vermenschlichten‘ Sozialismus träumen und die […] ‚Liberalisierung‘ des Sozialismus für einen guten Weg halten. Kirchliche Amtsträger machen sich zu Verfechtern der imperialistischen Konvergenztheorie, die den Klassenkampf leugnet und als längst überholt darstellt.“41

darstellung zu den DDR-Kirchen: R. M AU, Protestantismus, S. 96f. Vgl. dagegen R. WENZKE, NVA, S. 115–159, 188–205. 38 Vgl. dazu insges. L. PRIESS /V. KURAL /M. WILKE, SED, S. 175f. 39 Zit.: H. FINDEIS /D. POLLACK, Selbstbewahrung, S. 568. 40 G. BESIER, SED-Staat, S. 18. 41 Staatssekretariat f. Kirchenfragen, Beschluß, 30.7.1968 (SächsStA LEIPZIG, SED, IV B-2/14/669). Vgl. – auch zum Folgenden – L. PRIESS /V. KURAL /M. WILKE, SED, S. 100.

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Solche Reaktionen lassen in ihrer Schärfe erkennen, welches Bedrohungspotenzial die Staats- und Parteiführung in der tschechoslowakischen Reformbewegung entdeckte. Dem entsprachen die heftigen Reaktionen auf das Wort der Berlin-Brandenburgischen Kirchenleitung an die Gemeinden nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, das – im Kontext der beginnenden „Neuen Ostpolitik“ Bonns – als Bestätigung für eine „vom Sozialdemokratismus bestimmte Grundhaltung“ der evangelischen Kirchen in der DDR gewertet wurde42 . Das Schreiben der Berlin-Brandenburgischen Kirchenleitung an die Kirchen in der ČSSR, das diesem Kanzelwort zugrunde lag, charakterisierte die Arbeitsgruppe für Kirchenfragen beim SED-Zentralkomitee als „einen provokatorischen Brief“43 ; tatsächlich aber kann man es auch als Dokument der Verzagtheit, kirchenpolitischer Zurückhaltung und als Ausdruck der Differenzen in der Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen hinsichtlich einer angemessenen Reaktion auf den 21. August lesen. So ist dort kein Wort von den Hoffnungen zu lesen, die das Projekt eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ in der Tschechoslowakei und in der DDR geweckt hatte. Die Kirchenleitung ergeht sich vielmehr ausschließlich in Trauer in den „so schweren Tagen“ und im Bedauern, „daß noch immer militärische Mittel eingesetzt werden, um politische Fragen zu lösen“44. Diese Zurückhaltung entspringt neben den Kirchenkampf-Erfahrungen der 1950er Jahre sicher auch der soeben durch die Invasion in Prag bestärkten Erkenntnis: „ein Schritt zu weit bedeutete zehn Schritte zurück“ – so Bischof Werner Krusche in der Retrospektive45. 6. Diese Art kirchenpolitischer Springprozession und die Erfahrungen damit hielten die evangelischen Kirchenführungen in der DDR allerdings keineswegs davon ab, sich nun noch stärker als zuvor von systemnahen oder gar systemgestützten Vereinigungen wie dem Weißenseer Arbeitskreis oder der Christlichen Friedenskonferenz (CFK) abzugrenzen. Die Niederschlagung des Prager Frühlings führte vielmehr tatsächlich – so Konsistorialrat Reinhard Steinlein – zu einer „Scheidung der Geister“46. Die CFK wurde angesichts ihrer offenkundigen Prostitution mit dem Staatssozialismus sowjetischer Prägung, der sie von einer klaren Stellungnahme gegen die Invasion der Warschauer Vertrags-Armeen ab42 Protokoll der Dienstbesprechung beim Staatssekretär f. Kirchenfragen, 1.11.1968, zit.: G. BESIER, SED-Staat, S. 691. 43 Arbeitsgruppe Kirchenfragen i. ZK d. SED, Information, 17.10.1968 (SAPMO-BArch Berlin, DY/30, IV A 2/14/5), zit.: F. H ARTWEG (Hg.), SED, S. 67. 44 Ev. Kirchenleitung Berlin-Brandenburg, An die im Ökumenischen Rat [der ČSSR] zusammengeschlossenen Kirchen, Berlin 5.9.1968 (EZA BERLIN, 102/15, o. Pag.). 45 H. FINDEIS /D. POLLACK, Selbstbewahrung, S. 229 46 R. STEINLEIN, Jahre, S. 64f. Vgl. E. NEUBERT, Geschichte, S. 171ff.

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hielt, als „C-FKK“47 betrachtet: Sie hatte sich ebenso entblößt wie der Weißenseer Arbeitskreis, der sich nicht zu einer Reaktion auf den Prager Frühling bzw. auf dessen Niederschlagung durchringen konnte48. Vor diesem Hintergrund erscheint die insgesamt unentschiedene Reaktion der Amtskirchen in der DDR Ende August – zumal angesichts der Reaktionen der Staats- und Parteiführung – in einem geringfügig günstigeren Licht. Diese Einschätzung gewinnt angesichts dessen an Gewicht, dass die Staats- und Parteiführung in Ost-Berlin seit dem Mauerbau erheblichen Druck auf die Kirchen in der DDR ausübte, mit dessen Hilfe sie die ostdeutschen Protestanten stärker an den Staat binden und vor allem die hiesigen Landeskirchen aus der innerdeutschen Gemeinschaft der EKD herauslösen zu können hoffte. Dabei kam ihr die Uneinigkeit der Kirchenführer entgegen, die soeben im Streit um eine angemessene Reaktion auf die Niederschlagung des Prager Frühlings erneut offensichtlich geworden war. Die schnelle Gründung eines Kirchenbundes, wie er mit dem Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) 1969 konstituiert wurde,49 erscheint gleichwohl vor diesem Hintergrund nicht als vorauseilender Gehorsam der ostdeutschen Protestanten gegenüber den Kirchenpolitikern der SED, sondern als gelungener Versuch, die unterschiedlichen Positionen in der Kirchenpolitik hinter die Vorteile einer einheitlichen Institution zurückzustellen. Vor allem schien aus dieser heraus fortan – ungeachtet interner Differenzen – ein geschlossenes Auftreten gegenüber den Verhandlungspartnern im SED-Staat möglich. 7. Ist also die Entwicklung der evangelischen Kirchen in der DDR möglicherweise auch in organisatorischer Hinsicht vom Prager Frühling und dessen Niederschlagung beeinflusst worden, so haben die Ereignisse in der Tschechoslowakei den weiteren Weg des ostdeutschen Protestantismus auf jeden Fall geistig und geistlich mit geprägt. Sie führten tatsächlich zu einer „Entrümpelung unter den Philosophien und Weltweisheiten“, die der damalige Geschäftsführer des Verbandes der ESG/ DDR, Klaus-Peter Hertzsch, in einem Rundbrief im Frühjahr 1968 gefordert hatte50. Noch stärker als bisher wurde nun tatsächlich für den ostdeutschen Protestantismus das „Land, in dem wir leben – die DDR – [,] das Gebiet unserer Aufgaben – innerkirchlich und außerkirchlich.“ Wenn Hertzsch abschließend formulierte: „das sind die Äcker, in denen wir Gottes [W]irklichkeit entdecken“, so blieb er damit wesentlich unbestimmter, als dies die Formel von der „Kirche im Sozialismus“ tat, mit der die evangelischen Kirchen bald darauf ihren Stand47

Heino Falcke in: H. FINDEIS /D. POLLACK, Selbstbewahrung, S. 441. Vgl. G. BESIER, SED-Staat, S. 688f; R. HENKYS, DDR-Kirchen, S. 175ff. 49 Vgl. u. a. D. POLLACK, Kirche, S. 218–232, insbes. S. 221f. 50 Klaus-Peter Hertzsch, Rundbrief, 25.5.1968 (PRIVATA HERTZSCH JENA). Das Folgende EBD.

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ort bezeichneten. Und gänzlich fern lag Hertzsch eine derart einseitige Stellungnahme wie die der ESG-Geschäftsstelle, die unter der Ägide seines Nachfolgers Udo Skladny 1970 ein Thesenpapier vorlegte, das folgende, in ihrer Herleitung allerdings durchaus typische Forderung enthielt: „Die Christen in der DDR sind in exemplarischer Weise der Wirklichkeit beider Systeme […] ausgesetzt und darum zu einer klaren parteilichen Stellungnahme gezwungen. Offenheit für die Probleme der Ökumene, d. h. der Welt, führt angesichts der Weltsituation und in Auseinandersetzung mit dem Evangelium, dessen Ziel die gerechtere Menschengemeinschaft […] ist, zu einer grundsätzlichen Entscheidung für den Sozialismus.“51

Hatten die evangelischen Bischöfe in ihrem Brief aus Lehnin an Ulbricht im Februar 1968 noch relativ mehrdeutig erklärt: „Als Staatsbürger eines sozialistischen Staates sehen wir uns vor die Aufgabe gestellt, den Sozialismus als eine Gestalt gerechteren Zusammenlebens zu verwirklichen“52, so blieb die Formel von der „Kirche im Sozialismus“ zwar ebenso mehrdeutig, barg aber auch ein größeres Potenzial für Fehlinterpretationen. Wenn die Formel auf der Eisenacher Bundessynode gewissermaßen kontextualisiert wurde: „in dieser so geprägten Gesellschaft, nicht neben ihr, nicht gegen sie“53, machte sie das nicht weniger missverständlich. Tatsächlich erfuhren in dieser Formulierung die kirchlichen Diskussionen um den Standort des ostdeutschen Protestantismus und um die gesellschaftlichen Perspektiven ihre Zuspitzung. Doch war die Formel eben immer mehr als eine geografische Standortbestimmung, sie barg vielmehr durchaus eine gesellschaftspolitische Option54. War es aber „nicht die ‚Gesellschaft‘, die sich, sondern die SED, die sie so bezeichnete“55, so war die Formel von der „Kirche im Sozialismus“ untauglich. Sie taugte als Koexistenz- wie auch als Konfliktformel – sowohl innerhalb der Kirchen als auch gegenüber dem SED-Staat, dessen gesellschaftlichen Anspruch man sich ein Stück weit eigensinnig aneignete –, als Distanzformel aber reichte sie nicht aus. Auch wenn dies immer wieder abgestritten worden ist, so ließen sich die Kirchen mit dieser Formel sehr weit auf das sozialistische Projekt ein – und für dieses stand zunächst die Staatspartei SED. Die Formel transportierte – zumal in Heino Falckes Statement einer „engagierten Hoffnung eines verbesserlichen Sozialis-

51 Der weltweite Aspekt unserer ESG-Arbeit und der Wandel im Verständnis von Ökumene, 22.1.1970, o. Vf., zit.: E. GODEL, Standortbestimmung, S. 97 – Hervorheb. i. Orig. 52 Brief ev. Bischöfe an Walter Ulbricht, 15.2.1968, zit.: F. H ARTWEG (Hg.), SED, Bd. 2, S. 35. 53 Konferenz der ev. Kirchenleitungen, Bericht an die Bundessynode, 1971, zit.: R. SCHRÖDER, Versuch, S. 1190 – Hervorheb. i. Orig. 54 U.-P. HEIDINGSFELD, „Kirche“, S. 165ff. 55 R. SCHRÖDER, Versuch, S. 1193 – Hervorheb. i. Orig.

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mus“56 auf der Dresdener Bundessynode 1972, das von der SED scharf angegriffen wurde – auch die Erwartungen, die etliche ostdeutsche Protestanten auf den Prager Frühling gesetzt hatten, wie auch Günter Krusche erinnerte: „Die Rede vom ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘ war von da an in unser aller Munde.“57 Diese Hoffnung hatte also offenkundig, trotz der Niederschlagung des tschechoslowakischen Reformprojektes, im ostdeutschen Protestantismus über 1968 hinaus Bestand. Hingegen waren die ostdeutschen Künstler drei Jahre zuvor durch das „Kahlschlag“-Plenum Ende 1965 desillusioniert worden und hatten sich daher bereits im Vorfeld des Prager Frühlings weitgehend von realsozialistischen Reformhoffnungen getrennt. Ein Grund für diese Differenzen zwischen den beiden Flügeln ostdeutscher Bürgerlichkeit bzw. ostdeutschen Bürgersinns mag neben den skizzierten Einflüssen aus der Ökumene und den euro- oder reformkommunistischen Entwürfen aus dem Westen und aus dem Ostblock darin zu suchen sein, dass weite und vor allem einflussreiche Teile des westdeutschen Protestantismus sich in ihrer Gesellschaftskritik und ihrem Ethos weiterhin an sozialistischen Utopien orientierten58. Die eingangs zitierten Äußerungen prominenter ostdeutscher evangelischer Christen, unter ihnen Vertreter der Bürgerbewegung in der DDR, lassen zudem erkennen, dass die friedliche Revolution vom Herbst 198959 ihre Wurzeln auch in Prag hatte. Auf jeden Fall hat das Prager Frühlingserwachen von 1968 im ostdeutschen Protestantismus einige Blüten getrieben, die auch spätere Frostperioden überstanden, und letztlich auch – wenngleich sehr spät – Früchte getragen. Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Evangelisches Zentralarchiv Berlin 102/15 ESG Halle (S.) Vertrauenskreisprotokolle, Herbstsem. 1968 Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung, Universität zu Köln 6154 6172

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Zit.: EBD., S. 1194. Zit.: H. FINDEIS /D. POLLACK, Selbstbewahrung, S. 599. 58 Vgl. dazu z. B. C. LEPP, Helmut Gollwitzer, im vorliegenden Band. 59 Vgl. zur Frage kirchlicher Einflüsse auf die Herbstrevolution 1989 u. a. den Sammelband von T. R ENDTORFF, Revolution. 57

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Privatarchiv Hertzsch, Jena Klaus-Peter Hertzsch, Rundbrief, 25.5.1968 Sächsisches Staatsarchiv Leipzig SED, IV A-5/01/258 SED, IV B-2/14/669 SED, IV B-2/14/671 Landesarchiv Merseburg BPA, IV/AB-2/14/4 BPA, IV/B-2/9.02/666

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen AGDE, Günter (Hg.): Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente. Berlin 22000. BESIER, Gerhard: Der SED-Staat und die Kirche. Der Weg in die Anpassung. München 1993. DÄHN, Horst: Die Kirchen in der SBZ/DDR (1945–1989). In: Eppelmann, Rainer/Faulenbach, Bernd/Mählert, Ulrich (Hg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Paderborn 2003, S. 205–216. FINDEIS, Hagen/POLLACK, Detlef (Hg.): Selbstbewahrung und Selbstbehauptung. Bischöfe und Repräsentanten der evangelischen Kirchen in der DDR über ihr Leben. 17 Interviews (Forschungen zur DDR-Gesellschaft). Berlin 1999. –/–/SCHILLING, Manfred: Die Entzauberung des Politischen. Was ist aus den politisch alternativen Gruppen der DDR geworden? Interviews mit ehemals führenden Vertretern. Leipzig/Berlin 1994. GODEL, Erika: Theologische Standortbestimmung der Studentengemeinden in der DDR und ihre öffentliche Position in der gegenwärtigen Wirklichkeit der DDR (unveröff. Diplomarb.). Berlin (W.) 1973. HARTWEG, Frédéric (Hg.): SED und Kirche. Eine Dokumentation ihrer Beziehungen (Historisch-Theologische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert. Quellen. 2). 2 Bde. Neukirchen-Vluyn 1995. HEIDINGSFELD, Uwe-Peter: „Kirche im Sozialismus“ zwischen Anpassung und Widerstand. Die Westperspektive. In: Seidel, Thomas A. (Hg.): Gottlose Jahre? Rückblicke auf die Kirche im Sozialismus der DDR (Herbergen der Christenheit. Sonderbd. 7). Leipzig 2002, S. 159–174. HENKYS, Reinhard: Die DDR-Kirchen als ökumenische Partner. In: Ders. (Hg.): Die evangelischen Kirchen in der DDR. Beiträge zu einer Bestandsaufnahme, München 1982, S. 172–212. JARAUSCH, Konrad H.: Die gescheiterte Gegengesellschaft. Überlegungen zu einer Sozialgeschichte der DDR. In: Archiv für Sozialgeschichte 39, 1999, S. 1–17. K LESSMANN, Christoph: Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1950–1970. Göttingen 1988. KOWALCZUK, Ilko-Sascha: „Wer sich nicht in Gefahr begibt …“. Protestaktionen gegen die

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2. Protestantismus und Frauenbewegung

Helga Kuhlmann

Protestantismus, Frauenbewegung und Frauenordination

Bis Frauen in mehreren christlichen Kirchen, und zwar in methodistischen, evangelischen, anglikanischen und altkatholischen Gemeinden als Pfarrerinnen Männern gleichgestellt werden konnten, brauchte die Christenheit knapp zwei Jahrtausende. Nachdem in der Alten Kirche nach mehreren Jahrhunderten der Auseinandersetzung die Frage negativ entschieden worden war, ob Frauen in der Verkündigung, der Sakramentsverwaltung, der Leitung von Gottesdiensten und Gemeinden dieselben Aufgaben wie Männer übernehmen könnten1, gelang es erst im 20. Jahrhundert, Änderungen zunächst zu erproben und schließlich auch durchzusetzen. Zwei Stimmen aus dem letzten Jahrhundert spiegeln die Situation von Theologinnen bis zur Gleichstellung wider. Die Theologin Martha Heinsius beurteilt 1917 ihre Erfahrungen so: „Schwierigkeiten haben sich mir während meines Studiums kaum in den Weg gestellt. Ich fand bei den Heidelberger Professoren ein sehr freundliches Entgegenkommen. Es war damals ohne Zweifel leichter, einen akademischen Grad zu erlangen als nach Ablegung der kirchlichen Prüfungen Schritt für Schritt und unter nicht wenigen Schwierigkeiten und Rückschlägen in das Neuland der Wirksamkeit der theologisch gebildeten Frau im Raum der Kirche vorzudringen.“2

Knapp sechzig Jahre später, 1976, äußert sich der Dekan der Tübinger Theologischen Fakultät, Martin Hengel, in schriftlicher Form: „Das Bild der Studierenden am Fachbereich ist insgesamt bunter geworden. Dazu tragen nicht zuletzt die Theologiestudentinnen bei, deren Zahl langsam, aber ständig ansteigt. Sie hat mit 350 von fast 1192 einen Anteil von 30 Prozent und steht damit 1 Dass diese Auseinandersetzungen stattgefunden haben, kann aus Verboten der Amtsausübung von Frauen in Kirchenordnungen und päpstlichen Dekretalen geschlossen werden. Darüber hinaus belegt Ute Eisen in ihrer Untersuchung von Grabinschriften die Existenz von Amtsträgerinnen in der Alten Kirche. Vgl. U. E. EISEN, Amtsträgerinnen; vgl. auch A. JENSEN, Gottes selbstbewusste Töchter. 2 Zitiert nach E. R EICHLE, Frauenordination, S. 108.

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nicht mehr allzu weit hinter dem Universitätsdurchschnitt von 35 Prozent zurück. Fast möchte man sagen, daß die theologischen Fachbereiche nicht nur die Pfarrer, sondern häufig zugleich auch die Pfarrfrau ausbilden. Für die spätere Arbeit in der Gemeinde schafft das eine gute Basis.“3

Zwischen den beiden Zitaten liegen sechzig Jahre des letzten Jahrhunderts. Inzwischen, weitere vierzig Jahre später klingt die Äußerung Hengels befremdlich. Dies weist darauf hin, wie deutlich sich seit dem zweiten Zitat die Situation geändert hat. Ein weiteres Datum belegt den Wandel: 1965 war die Evangelische Kirche, daran wird vierzig Jahre später erinnert, fähig gewesen, in der so genannten „Ostdenkschrift“4 wegweisend neu über die Kriegsschuld, die Beziehung zu Polen und den anderen Ländern im Osten sowie über die deutschen und polnischen Opfer der Vertreibungen nachzudenken. Dieselbe Synode, die die theologische Stärke und die politische Klugheit bewies, diese Denkschrift zu verabschieden, verweigerte in einem weiteren Punkt ihrer Tagesordnung weiterhin Frauen, die ein volles Theologiestudium absolviert hatten, den gleichberechtigten Zugang zum Pfarramt5.

1. Der Weg zum Frauenpfarramt in Stufen und regional differenziert Die vollständige Gleichstellung der Frau im Pfarramt vollzog sich stufenweise und regional differenziert. In groben Zügen möchte ich den Weg zur Ordination der Frauen in das Amt und zur Gleichheit mit den Männern skizzieren. In Preußen konnten sich seit 1908 Frauen in der Universität einschreiben, auch in der Theologie. Allerdings konnten sie keine kirchlichen, sondern nur universitäre Examen ablegen. Nach ihrem Theologiestudium arbeiteten folglich viele als „Lehrerinnen und Dozentinnen, als Diakonissen, […] als Gemeindeund Pfarramtshelferinnen in Gemeinden, Gefängnissen und Krankenhäusern“ und waren dort zuständig für die Arbeit mit Frauen, Kindern und weiblichen Jugendlichen6. Seit 1919 stieg die Zahl der Theologiestudentinnen. 1925 gründeten Frauen mit einem universitären Abschluss in Evangelischer Theologie den Verband evangelischer Theologinnen. Ihr Ziel war, dass Frauen, die Theologie studiert hatten, auch ein kirchliches Examen machen und später für ein Pfarramt zugelassen wer3

Zitiert nach EBD., S. 109. K IRCHENAMT DER EKD, Lage der Vertriebenen. 5 Darauf hat Robert Leicht in einem Artikel in der Wochenzeitschrift Die Zeit hingewiesen (R. LEICHT, Drei Dinge). 6 D. CUNOW, „Die Pfarrer allein …“, S. 9. 4

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den dürften. Dabei strebten sie ein Amt „sui generis“ an, das Frauen das Recht gab, gottesdienstliche Veranstaltungen für Frauen, Mädchen und Kinder zu leiten. Ein vollständiges Leitungsamt in christlichen Gemeinden, die Leitung von „Hauptgottesdiensten“ sowie die Sakramentsverwaltung allerdings sollten und wollten sie nicht übernehmen. Vier Jahre später wurde die „Vereinigung Evangelischer Theologinnen“ gegründet, die sich vom Theologinnenverband mit dem Programm abspaltete, die volle Gleichstellung von Frauen im Pfarramt zu erreichen. 1927 beschlossen die Kirchen der Altpreußischen Union die „Einsegnung“ voll ausgebildeter Theologinnen, die den Titel der „Vikarin“ trugen, keine Sakramente verwalten, aber Gottesdienste halten konnten und zölibatär leben mussten. Diese Regelung setzte sich auch in vielen anderen Landeskirchen durch7. Nachdem auch im Zweiten Weltkrieg viele Theologinnen die volle Vertretung der Pfarrer übernommen hatten, entschieden sich nach dem Krieg die Landeskirchen ohne Ausnahme erneut gegen eine Zulassung von Frauen zum vollen Gemeindepfarramt. Ende der vierziger Jahre (1948) wurde in vielen Kirchen beschlossen, unverheiratete Frauen zur Mitarbeit im Gemeindedienst und im landeskirchlichen Dienst mit dem Titel „Pfarrvikarin“ zuzulassen und einzusegnen. Im Unterschied zu den früheren Arbeitsfeldern sollte ihnen die Leitung der Abendmahlsfeier im Krankenhausdienst gewährt werden. Statt nur Mädchen- sollte ihnen die gesamte Jugendarbeit übertragen werden; sie sollten auch überregionale Stellen mit diesen Arbeitsschwerpunkten sowie Kirchenverwaltungsstellen übernehmen dürfen. Als Ausnahme sollte auch Kriegerwitwen dieser Dienst gestattet werden8. Zwei Faktoren, so meine ich, ermöglichten dann die vollständige Gleichstellung von Frauen und Männern im Pfarramt: seit den sechziger Jahren stieg die Zahl der Pfarrstellen an und ein erneuter Pfarrermangel setzte ein. Daneben förderte die Gleichstellung der Frau im Grundgesetz seit 1949 und die in mehreren gesellschaftlichen Bereichen erfolgende Emanzipation der Frauen eine allmähliche Wende der theologischen Beurteilung der mit der Frauenordination verbundenen Fragen. Bis 1945 war sich die Mehrheit deutscher Theologinnen und Theologen darin einig gewesen, dass Frauen allenfalls unverheiratet ein volles Pfarramt übernehmen könnten, weil bis dahin die Theorie wesensmäßiger Ungleichheit von Mann und Frau und die in Theologien der Schöpfungsordnungen geforderte Unterordnung der Frau unter den Mann die christlichen Argumentationen dominierten. 7

Vgl. EBD. Die Argumentation zur Frauenordination in der Bekennenden Kirche bearbeitet D. HERBRECHT, Emanzipation; zur Diskussion über die Argumentation in den lutherischen Kirchen: vgl. C. GLOBIG, Frauenordination. 8 Vgl. E. R EICHLE, Frauenordination, S. 136.

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Die Kirchen der Altpreußischen Union auf dem Gebiet der DDR waren die ersten, die 1962 die vollständige Gleichstellung von Frauen im Amt beschlossen. Bisher ist kaum erforscht, warum diese Kirchen Vorreiter waren und welche theologischen Argumentationen zur Begründung angeführt wurden. Dazu beigetragen haben mag der im Vergleich zu mehreren westlichen Kirchen noch größere Pfarrermangel, ebenso die im Vergleich zum Westen fortgeschrittenere Emanzipation der Frauen, die politisch deutlich gefördert wurde und sich vor allem in deren Beteiligung an der Erwerbsarbeit zeigte. Im November 1968 ermöglichte die Württembergische Kirche als erste westliche Gliedkirche der EKD, dass Frauen mit der Eheschließung nicht aus dem Dienst ausscheiden mussten und auch verheiratete Frauen das Amt übernehmen konnten. Allerdings formulierten noch immer mehrere Kirchen die Möglichkeit, dass Kirchenvorstände die Zusammenarbeit mit einer Pfarrerin ablehnen (z. B. Nordelbien) oder dass Kirchengemeinden in den Ausschreibungen auch Angaben zum Geschlecht machen durften. 1975 beschloss die EKU, 1976 die VELKD, ein nicht mehr geschlechtsspezifisches Gesetz zum Pfarramt, 1978 folgte die EKD9. Mit dem 1. Januar 1978 war in allen Gliedkirchen der EKD außer Schaumburg-Lippe die volle Gleichstellung der Frauen im Pfarramt erreicht. 1991 ordinierte auch Schaumburg-Lippe als letzte Landeskirche Pfarrerinnen. Erste Bischöfin einer lutherischen Kirche weltweit wurde 1992 Maria Jepsen in Hamburg, zuvor war bereits 1989 die Methodistin Barbara Harris zur Bischöfin in den USA ernannt worden10. 1999 wurde Margot Käßmann zum ersten Mal die alleinige Leitung einer lutherischen Landeskirche übertragen.

2. Die Gleichstellung von Frauen im Pfarramt im Schatten der Aufmerksamkeit in den Kirchen und in der Frauenbewegung Die Gleichstellung der Frauen im Pfarramt, so ist meine These, vollzog sich für die beteiligten Theologinnen überraschend und von der seit Beginn der siebziger 9 Erika Reichle bietet einen Überblick über die Veränderungen der Gesetze in den einzelnen Landeskirchen, E. R EICHLE, Frauenordination, S. 177f. Demzufolge erfolgte die Ordination ins volle Pfarramt in der EKU: DDR Juli 1962; BRD und Berlin West: März 1975, in der VELKD: Oktober 1976; in Baden Oktober 1976; in Bayern Dezember 1975; in Berlin-Brandenburg (West) Juni 1976; in Braunschweig: Oktober 1977; in Bremen März 1976; in Hamburg Januar 1969; in Hannover Oktober 1976; in Hessen-Nassau Dezember 1970; in Kurhessen-Waldeck März 1973; in Lippe Juli 1966; in Nordelbien wie Schleswig-Holstein November 1970; in der Evangelisch-Reformierten Kirche in Nordwestdeutschland Februar 1969; in Oldenburg Juni 1966; in der Pfalz Juni 1970; im Rheinland März 1974; in Westfalen Mai 1977; in Württemberg Juni 1977. 10 A. BERLIS, Priestertum der Frau, S. 459.

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Jahre wachsenden Frauenbewegung nahezu unbemerkt. Die an die Ansprüche der rechtlichen Gleichstellung von Frauen und Männern anknüpfende Frauenbewegung der späten sechziger und siebziger Jahre mischte sich wenig in die kirchlichen Angelegenheiten ein und nahm den Prozess zur Gleichstellung von Frauen im Pfarramt in dieser Zeit kaum als Errungenschaft von und für Frauen wahr. Sie konzentrierte sich auf andere Themen: auf die Kritik am § 218, an der Doppelbelastung der Frauen in Beruf und Familie, an der rechtlichen Ungleichheit in der Ehe (Ehegattenvorbehalt) sowie auf die Gleichstellung der Löhne und Gehälter. Offensichtlich konnten die Kirchen in der entstehenden Frauenbewegung nicht als Ort möglicher Gleichberechtigung erscheinen. Eine Begegnung zwischen Vertreterinnen der säkularen Frauenbewegung und den wenigen engagierten Frauen in den evangelischen Kirchen ereignete sich auf der von Uwe Gerber in der Akademie Loccum initiierten Tagung über „Emanzipation der Frau“ im Juni 1974. Elisabeth Moltmann-Wendel war als einzige Theologin neben Referentinnen aus der Politik, den Medien, den Gewerkschaften und Hausfrauen eingeladen, um über die Rolle der Kirche im Emanzipationsprozess zu referieren. Von Alice Schwarzer, die auf dieser Tagung über ihr Referat hinaus sehr aktiv mitwirkte, teilt Moltmann-Wendel in ihrer Biographie folgendes in ihren Aufzeichnungen enthaltene Resümee mit: „Loccum ist für mich der Beginn eines Dialogs, von dem ich weiß, daß er weitergeht – in Loccum und anderswo. Ich hoffe sehr, daß wir beim nächsten Frauen-Wochenende auf den bereits gemachten Erfahrungen aufbauen können und freue mich auf das Treffen.“11 Dies Votum enthält keinerlei Vorbehalte gegenüber kirchlich engagierten Frauen. Moltmann-Wendel berichtet allerdings, dass die Kirchen von den Teilnehmerinnen insgesamt sehr negativ eingeschätzt wurden und dass sich die Christinnen, „belastet mit der Schuld ihrer Institutionen an den Frauen“12, stumm und abwartend verhielten. Möglicherweise wurde in der kirchlichen Selbstpräsentation sowie in der kirchlichen Nicht-Rezeption dieser Tagung eine Chance vertan, deren bessere Wahrnehmung nicht nur den Frauen, sondern auch der Evangelischen Kirche genützt hätte: „Die evangelische Kirche hatte eine ausgezeichnete Plattform geliefert, aber daß dieser Freiheitsimpuls von ihr ausging, wurde nicht beachtet, und es fehlte ihr auch jedes Selbstbewußtsein, dies bewußtzumachen.“13 Moltmann-Wendel führt dies u. a. auf deutliche Äußerungen der Enttäuschung durch die Kirche von katholischen Theologinnen zurück, denen offenbar evangelische Christinnen nichts Positives entgegenzusetzen hatten. Nach einer von Moltmann-Wendel zitierten Umfrage 11

E. MOLTMANN-WENDEL, Erde, S. 94. EBD. 13 EBD.

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erwarteten 1974 nur ein Prozent der Frauen „Hilfe von der Kirche für ihre Emanzipation“14. Um ein Bild über die Entwicklung in den Kirchen, insbesondere über die Theologinnen zu gewinnen, sind Einschätzungen Eva Senghaas-Knoblochs15 und Erika Reichles hilfreich, die in den sechziger Jahren Interviews mit Theologinnen führten. Reichle berichtet von einer bedrückenden Stimmung unter den Theologinnen, die sich für die Ordination einsetzten. Sie waren sich in ihren Forderungen nicht einig darüber, ob sie das Amt „sui generis“ oder das volle Pfarramt anstrebten. Die ältere Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg – teils zum zweiten Mal – die Erfahrung gemacht hatte, dass sie zwar im Krieg die volle Tätigkeit von Pfarrern übernommen hatte, nach dem Krieg aber weiterhin nur einen untergeordneten Dienst versehen durfte, schätzte die Möglichkeit der Zulassung zum Pfarramt sehr skeptisch ein. Nachdem 1967 in der Württembergischen Landeskirche für viele völlig überraschend dann die Grundsatzentscheidung der Zulassung von Frauen zum Amt, allerdings einschließlich der Zölibatsklausel, getroffen wurde, konnten sich viele nicht recht freuen und litten in ihrer damit möglich gewordenen Tätigkeit unter der Einsamkeit, dem hohen Erwartungsdruck und der zugleich herrschenden Rollenerwartung. Sie klagten darüber, dass sie die Normen verletzten, wenn sie im Unterschied zu den anderen Frauen abends auf der Straße sowie in der Öffentlichkeit, bei Festen und Veranstaltungen nicht in Begleitung ihrer Männer, sondern allein erschienen16. Unter den Älteren bedauerten sogar manche, dass das Amt sui generis nicht hatte durchgesetzt werden können.

3. Das Erstarken der kirchlichen Frauenbewegung seit Mitte der siebziger Jahre Erst Ende der siebziger Jahre wird die kirchliche Frauenbewegung zur bedeutsamen Größe. Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre werden Themen der Frauenbewegung innerhalb der Ökumene und in der Theologie der USA diskutiert, in Deutschland aber scheinen Frauenbewegung und Theologie erst Ende der siebziger Jahre verbunden worden zu sein. Nachdem sich die Weltkirchenkonferenz des ÖRK 1968 in Uppsala dem Thema „Menschenrechte und Partnerschaft“ gewidmet hatte, fand eine Kon14

E. MOLTMANN-WENDEL, Menschenrechte, S. 9. E. SENGHAAS-K NOBLOCH, Theologin. 16 Vgl. E. R EICHLE, Frauenordination, S. 138f. 15

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sultation des ÖRK über Sexismus 1974 in Hamburg statt. Von Hildegard Zumach berichtet Moltmann-Wendel in ihrer Biographie, dass ihr erst auf der Ökumenischen Konferenz, deren Programm von internationalen Referentinnen bestimmt war, die Bedeutung der Benachteiligung von Frauen in der Kirche, der Familie und der Gesellschaft klar geworden sei17. Auf dieser Tagung regten amerikanische Theologinnen Elisabeth Moltmann-Wendel dazu an, auch in Deutschland feministisch-theologisch zu arbeiten, ein Vorschlag, der diese zunächst nicht begeisterte18. In den folgenden Jahren wird Elisabeth Moltmann-Wendel zur bestimmenden Figur der Frauenbewegung in der evangelischen Theologie und den evangelischen Kirchen. Neben ihr sind Herta Leistner und Eleonore von Rotenhan zu nennen, die an evangelischen Akademien als Studienleiterinnen tätig waren. Nach meiner Einschätzung ist Dorothee Sölle zwar durch das Politische Nachtgebet und durch mehrere ihrer Bücher als die bekanntere Theologin zu betrachten; sie verortet sich selbst aber erst in den achtziger Jahren innerhalb der feministischen Theologie und der Frauenbewegung. 1974 erschien eine Quellensammlung theologischer Texte zur Geschichte des Christentums und der Frauenbewegung in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert mit einem langen einleitenden Text der Herausgeberin Elisabeth Moltmann-Wendel. 1978 wurde das Buch erweitert und überarbeitet unter dem Titel „Frauenbefreiung“ neu veröffentlicht. Der Titelwechsel dokumentiert das veränderte Bewusstsein. Innerhalb dieser vier Jahre hat eine entscheidende Veränderung stattgefunden. Beide Bücher, zusammen mit einem „Kaiser Traktat“ von Moltmann-Wendel, das 1977 unter dem Titel „Gleichheit, Freiheit, Schwesterlichkeit“19 erschien, bildeten die Grundlagenlektüre der inzwischen sich sammelnden Frauengruppen an Universitäten, im Umfeld von Evangelischen Akademien und in den Gemeinden. Das Frauenpfarramt allerdings wird in keinem dieser Bücher thematisiert. An anderer Stelle beginnt schließlich auch die Aufarbeitung der Geschichte des Frauenpfarramts: der 1978 erscheinende dritte Band der Reihe „Kennzeichen“ des Lutherischen Weltbundes, die im Projekt „Frauen als Innovationsgruppen“ herausgegeben wurde, wendet sich in mehreren Beiträgen der Geschichte des Frauenpfarramtes zu. Andere Bände dieser Reihe werden neben Moltmann-Wendels Büchern zur orientierenden Lektüre über feministische Theologie in den zahlreichen Frauengruppen, so z. B. der exegetische Band von Hartwig Thyen und Frank Crüsemann über grundlegende biblisch-

17

Vgl. E. MOLTMANN-WENDEL, Erde, S. 86f. Vgl. EBD., S. 88. 19 E. MOLTMANN-WENDEL, Gleichheit.

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theologische Erkenntnisse zum Geschlechterverhältnis20 und der Beitrag Gerta Scharffenorths über die Position Luthers zur Frage der Geschlechtlichkeit21. In diesem Werk legt Scharffenorth differenziert dar, dass Luthers Ablehnung der Frauenordination durch seine grundlegenden theologischen Positionen nicht gedeckt ist und statt durch theologische Gründe eher durch zeitbedingte Ungleichheiten im Geschlechterverhältnisses zu erklären ist; vorrangig nennt sie die mangelnde Bildung und damit auch die mangelnde theologische Bildung der Frauen. Erste institutionelle Verfestigungen sind seit Ende der siebziger Jahre zu beobachten: 1977/78 ruft Hildegard Zumach als Leiterin der Evangelischen Frauenarbeit die sehr erfolgreiche, Frauenkontexte nutzende Aktion: „Kauft keine Früchte in Südafrika“ ins Leben. 1979 findet, initiiert von Herta Leistner, die in den USA Impulse der feministischen Befreiungstheologie aufgenommen hatte, die erste Frauenwerkstatt in einer Evangelischen Akademie, und zwar in Bad Boll statt. Diese Werkstatt wird seitdem jährlich, zeitweise sogar zweimal jährlich, durchgeführt. Eine ähnliche Frauenwerkstatt, die ebenfalls noch gegenwärtig existiert, entstand 1982 in der nordelbischen Kirche. Seit 1981 findet regelmäßig ein Frauenforum auf dem Kirchentag sowie seit 1985 eine dreitägige Frauenwerkstatt, das Netzwerk Feministische Theologie, statt. In den ersten Jahren waren die Treffen dieser Initiativen u. a. geprägt durch Auseinandersetzungen zwischen evangelikalen und frauenbewegten Frauen22 . Seit 1983 erscheint auch die erste und weiterhin einzige evangelisch-katholische feministische Zeitschrift „Schlangenbrut“, die außerhalb der feministischen Theologie wissenschaftlich aber wenig Beachtung findet. Auch die EKD greift die „Frauenfrage“, allerdings nicht konzentriert auf das Pfarramt, in ihrer Studie 1979 „Die Frau in Familie, Kirche und Gesellschaft“ auf. Die Studie beurteilt zwar die „Frauenbewegung nicht nur negativ“, aber erst in der Synode 1990, die sich dem Thema der „Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Kirche“ widmet, stellt die EKD fest: „Inzwischen ist das Bewußtsein in den Kirchen gewachsen, daß z. B. der Weg von Frauen ins Pfarramt, die feministische Theologie und die Diskussion um die Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Kirche wesentlich auf die Anstrengungen und Ergebnisse der Frauenbewegungen, der alten wie der neuen, zurückgehen. Die neue Frauenbewegung wird zunehmend als Teil und Bündnispartnerin der neuen sozialen Bewegungen anerkannt, die sich für Frieden, Gerechtigkeit, den gewaltfreien und lebenserhaltenden Umgang mit der Schöpfung einsetzen.“23 20

F. CRÜSEMANN /H. THYEN, Als Mann und Frau geschaffen. Vgl. G. SCHARFFENORTH, Freunde in Christus. 22 Vgl. U. K NOLLE, Werkstätten, S. 154f. 23 K IRCHENAMT DER EKD, Gemeinschaft, S. 14. 21

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4. Theologische Argumentationen Zwischen dem Frauenpfarramt und dem gleichen Amt für Männer und Frauen musste ein Wechsel in der theologischen Anthropologie vollzogen werden, demzufolge der Gleichheit im Pfarramt gegenüber einer nicht notwendig damit geleugneten Differenz zwischen den Geschlechtern der Vorrang eingeräumt wurde24. Seit der Alten Kirche wird die theologische Diskussion um die Zulassung der Frau zum Amt durch dieselben biblischen Texte bestimmt: Gen 2f.; 1 Kor 14,34f.; 1 Tim 2,11f.; 1 Kor 11,3–16. Dass die Frauen im Pfarramt aus theologischen Gründen gleich gestellt wurden, indiziert nicht nur eine Veränderung der Interpretation weniger einzelner Bibelstellen, sondern verschiebt den „Kanon im Kanon“ hinsichtlich der theologischen Anthropologie, und zwar schöpfungstheologisch von der Erschaffung von Mann und Frau nach dem zweiten zur Erschaffung beider nach dem ersten Schöpfungsbericht, christologisch von der geforderten Unterordnung der Frau unter den Mann nach Eph 5, 22–33; 1 Tim 2,11f. und 1 Kor 11,3–16 zu Gal 3,28 und pneumatologisch von der Betonung der Differenz der Gaben zur Gleichstellung von Frauen und Männern im Hinblick auf den Gabenempfang (Joel 2/Apg 2) sowie auf die Gleichstellung in der Taufe in den Leib Christi (Gal 3,28). Theologinnen, die sich für das Frauenpfarramt einsetzten – sowie ihre wenigen männlichen Kollegen –, arbeiteten primär an einer Neuinterpretation dieser Bibelstellen und an einer anderen Gewichtung im Rahmen der Gesamttheologie. Dies waren in den fünfziger Jahren Leonore Volz25, Else Kähler26 sowie Heinz-Dietrich Wendland 27. Auch die theologiegeschichtliche Studie Gerta Scharffenorths28, die Luthers Ablehnung des Frauenpfarramts zeithistorisch motiviert deutet und damit bestreitet, dass sie die Abwehr der Frauenordination im 20. Jahrhundert legitimieren könne, bildet einen wichtigen Baustein innerhalb der Argumentation. Diese und andere widersprachen Anna Paulsen29, Peter Brunner30, Wolfgang Trillhaas31 u. a., die weiterhin die Zulassung der Frauen zum Pfarramt theologisch ablehnten.

24 Unter systematisch-theologischen Gesichtspunkten wird die Diskussion bearbeitet von J. C. JANOWSKI, Umstrittene Pfarrerin. 25 L. VOLZ, Frauen. 26 E. K ÄHLER, Frau. 27 H.-D. WENDLAND, Das geistliche Amt. 28 G. SCHARFFENORTH, Freunde in Christus. 29 Vgl. A. PAULSEN, Hirtenamt; vgl. DIES., Vikarin. 30 Vgl. P. BRUNNER, Hirtenamt. 31 Vgl. W. TRILLHAAS, Amt der Theologin.

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Keinesfalls darf die Bedeutung der theologischen und insbesondere der exegetischen Debatten unterschätzt werden. Obwohl sicherlich wie in allen Prozessen des Christentums die Zeitumstände die Entwicklung beeinflussten und begünstigten, konnten und können Kirchen nur durch theologische Argumente zu einer Änderung ihrer Position bewegt werden. Positionen, die in säkularen Kontexten inzwischen selbstverständliche Geltung beanspruchen, wie die Emanzipation der Frauen, können innerhalb der Kirchen nur als theologisch interpretierte wirksam werden. Die Befürworter und Befürworterinnen der Frauenordination konnten eine Änderung des Ausschlusses der Frau vom Pfarramt nur erreichen, indem sie theologisch immanent zeigen konnten, dass diese dem Evangelium Jesu Christi, der Zuwendung des trinitarischen Gottes zu Männern und Frauen, der „Mitte“ der Zeugnisse der Heiligen Schrift und dem theologischen Gehalt der Überlieferungen der Bekenntnisse und der theologischen Tradition entsprachen.

5. Grund zur Hoffnung? Schlaglichter auf die interkonfessionelle, die internationale und die interreligiöse Entwicklung Die Zulassung evangelischer Pfarrerinnen war kein Anlass für eine lehramtliche Äußerung der römisch-katholischen Kirche. Erst auf die Anerkennung von elf Weihen katholischer Priesterinnen 1976 durch die Generalsynode der Episcopal Church in Philadelphia, USA, die 1974 von drei Bischöfen im Ruhestand vollzogen worden war, erfolgte eine Reaktion. Vorher stellte die Frauenordination kein relevantes Thema für die lehramtliche Theologie dar32 . Die vom Katholischen Lehramt in der Schrift „Inter Insignores“ aus dem Jahr 1976 genannten Gründe für die Ablehnung der Frauenordination, die bis heute bei jeder neuen Beratung bestätigt wurden, stellten drei Argumente in den Vordergrund: die Christusrepräsentanz könne nur von Männern geleistet werden, die Berufung zwölf männlicher Jünger in den Kreis Jesu und die Treue zur Kontinuität der Amtstraditionen in der Kirche. Das die protestantische Debatte dominierende Argument der in der Schöpfungsordnung vorgegebenen Unterordnung der Frau tritt demgegenüber zurück. Während in der Schrift „Inter Insigniores“ alle drei Argumente erscheinen, begegnen im 1994 veröffentlichten Apostolischen Schreiben über die den Männern vorbehaltene Priesterweihe 32

Anne Jensen weist darauf hin, dass in offiziellen interkonfessionellen Konsenspapieren von 1931 bis 1990 das Thema Frauenordination 1976 zum ersten Mal auftaucht, dann bis 1982 fünf mal, von 1982–1990 nur auf insgesamt vier Seiten. Vgl. A. JENSEN, Frauenordination, S. 100. Zur lehramtlichen katholischen Position bis 1973 vgl. I. R AMING, Ausschluss.

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„Ordinatio sacerdotalis“, das ein Jahr später von der Kongregation für die Glaubenslehre in „Responsio ad dubium“ bestätigt wurde, nur noch die letzten beiden. Darauf, dass die Tradition der Kirche auch Amtsträgerinnen kennt, weisen schon seit den siebziger Jahren viele katholische Theologinnen und Theologen hin, darunter Karl Rahner. Freilich wird noch im Brief Johannes Paul II. an die Frauen von 1995 betont, dass Frau und Mann entsprechend ihrer unterschiedenen Gaben Gott unterschiedlich, aber gleichwertig dienen − als Beispiel wird die Ordensfrau genannt, nicht aber die Priesterin. Die offiziellen Erklärungen der EKD sowie das Römisch-Katholische Lehramt benennen zwar Differenzen in der Haltung zum Frauenpfarramt, bisher konzentrieren sich die ökumenischen Diskussionen darauf aber kaum. Die Schrift der Kammer für Theologie „Frauenordination und Bischofsamt“ anlässlich der Wahl Maria Jepsens ins Bischofsamt 1992 benennt die Argumente am deutlichsten33. Das Zeugnis der Bibel könne, so die Kammer für Theologie der EKD, nicht anhand einzelner Verse gewonnen werden, sondern nur, indem diese von der „Mitte der Schrift“, von Christus her, interpretiert würden. Die Gottesbildlichkeit von Mann und Frau, die in den Evangelien bezeugte unterschiedslose Zuwendung Jesu zu Männern und zu Frauen, die in der Apostelgeschichte überlieferte pfingstliche Geistausgießung in Männer und Frauen sowie die christologische Tauftheologie des Paulus geben keinen theologischen Grund, Frauen den Zugang zum Amt zu verweigern. Vielmehr gelte es, die Gaben des Geistes in der neuen Freiheit der Kinder Gottes ohne Einschränkung für die „Liebe und Auferbauung der Gemeinde“ zu entfalten. In den neunziger Jahren stimmt die Generalsynode der Anglikanischen Kirche Englands ebenso für die Zulassung von Frauen wie die altkatholische Kirche. Trotz der anschließend vollzogenen Weihen haben weder die orthodoxe noch die römisch-katholische Kirche die Kirchengemeinschaft mit diesen Kirchen aufgekündigt. Allerdings nehmen viele ihrer Repräsentanten an Gottesdiensten nicht teil, die von Frauen geleitet werden. Die orthodoxen Kirchen lehnen wie die Römisch-Katholische Kirche die Frauenordination weiterhin ab. 1993 nimmt die lutherische Kirche Lettlands ihre Zulassung der Frauen zum Pfarramt zurück, weil sie eine Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft mit der Kirche von Missouri eingeht. Sie beruft sich auf die biblischen Schriften sowie auf die kirchliche Einheit und legt die biblischen Texte, die Jahrhunderte lang die Ablehnung der Frauenordination begründeten, wieder so aus wie vor der Zulassung34. Seit vielen Jahren ist weltweit wie in Deutschland ein Erstarken 33 34

K IRCHENAMT DER EKD, Frauenordination. Vgl. D. BALODE, Identität.

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evangelikaler und fundamentalistischer Gruppen zu beobachten, innerhalb und außerhalb der Kirchen. Diese Entwicklung kann, wie der Fall Lettlands dokumentiert, die Frauenordination durchaus wieder prekär werden lassen. Ökumenische Rücksicht und die Einheit der Kirche stellten schon vor der Erlangung der Frauenordination Argumente gegen die Frauenordination dar. Offensichtlich können sie auch nach der Einführung der Frauenordination gegen sie wieder neu ins Feld geführt werden. Die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass ökumenisch, aber auch innerevangelisch das Thema des Frauenpfarramts keineswegs erledigt ist. Der grundsätzlichen theologischen Bedeutung der Frauenordination kann nur entsprochen werden, wenn innerhalb der evangelischen Kirchen sowie im ökumenischen Streitgespräch die theologischen Dissense angesprochen werden, die zur Zulassung oder zur Ablehnung der Frauenordination führen: Fragen der theologischen Anthropologie, der Repräsentation Christi im geistlichen Amt, der Bedeutung der Taufe und des Priestertums aller Glaubenden, Fragen der Geschlechtlichkeit in der Symbolisierung Gottes sowie Fragen des Verhältnisses von Bibel und Tradition. Hier stehen noch viele Auseinandersetzungen aus. Bis heute ist die Zahl der Pfarrerinnen in den Evangelischen Kirchen zwar noch geringer als die der Männer, entscheidender aber ist, dass weitaus mehr Frauen als Männer im eingeschränkten Dienstverhältnis arbeiten und bis auf einzelne Frauen die zentralen Stellen der Kirchenhierarchie weiterhin mit Männern besetzt sind. Die Wuppertaler Theologin Christine Globig kommentiert dies kritisch. Sie meint, dass der „ekklesiologische […] Grundsatz der Gleichheit aller Getauften und das kritische und emanzipative Potential des ‚allgemeinen Priestertums‘ […] nicht die Einbindung von Frauen, sondern die wirkliche Gleichstellung implizier(e, H. K.) und […] jeder noch so subtilen Hierarchie eine Absage“ erteile35. Sie schätzt die Wandlung der Kirche, die u. a. durch die Zulassung von Theologinnen zum Pfarramt und durch deren kirchenrechtliche Gleichstellung ermöglicht wurde, eher skeptisch ein. Solange „Laiinnen und Pfarrerinnen“ noch nicht in allen Bereichen kirchlichen Lebens gleichgestellt sind, „d. h. auch [in] Recht, Finanzen, institutioneller Macht, Medien, hat die viel zitierte, aber oft nur vage definierte Gemeinschaft/communio von Männern und Frauen möglicherweise eher eine Alibi-Funktion.“36 Demgegenüber überwiegen in meiner Beurteilung dieser Entwicklung Erstaunen und Hoffnung. Zwar kann auch ich nicht leugnen, dass noch nicht alles erreicht ist, und dass das Erreichte wieder verloren gehen kann. Ein Blick auf das Geschlechterverhältnis in der zweitausendjährigen Geschichte der christlichen 35 36

C. GLOBIG, Pfarrerin/Vikarin, S. 451. EBD.

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Kirchen macht aber deutlich, dass es mehreren Kirchen in den letzten drei Jahrzehnten dieses Zeitraums gelingt, einer theologischen Erkenntnis Raum zu geben und ihr institutionell zu entsprechen, die zuvor verkannt wurde, nämlich der Gleichstellung von Frauen in der Gottesbeziehung. Der Impuls einiger christlicher Kirchen kann auf andere ausstrahlen. Bisher allerdings lassen die Selbstdarstellungen derjenigen Kirchen, die den Mut hatten, diese Änderungen zuzulassen, darauf schließen, dass auch in ihnen das Gewicht der Veränderungen und das Ausmaß dieser Befreiung von früheren theologischen und institutionellen Engführungen erst langsam adäquat begriffen werden.

6. Forschungsbedarf Der entscheidende Wandel in mehreren christlichen Kirchen zur Gleichstellung von Frauen im Pfarramt, der u. a. dazu geführt hat, dass die „Pfarrfrau“ das Gemeindeleben nicht mehr selbstverständlich mitprägt, weil es sie nicht mehr gibt, bedarf noch weitgehend der Forschung. Sowohl Einzelstudien als auch vergleichende Forschungen stehen aus. Bisher sind über die in jeder Landeskirche unterschiedliche Entwicklung viele Materialien in den Archiven des Theologinnenkonvents sowie im Hannelore-Erhart-Archiv gesammelt. Gesichtet und ausgewertet sind die Materialien kaum. Eine vergleichende ungedruckte Dissertation von Gerda U. Nützel über die Entwicklung der Theologinnenarbeit in den lutherischen Kirchen Bayerns, Mecklenburgs und Brasiliens liegt vor37. Auch die Protokolle der Synoden, in denen die einzelnen Schritte bis zur Gleichstellung von Frauen im Pfarramt durchgesetzt wurden, sind kaum bearbeitet38. Da sich die Entwicklung in jeder Landeskirche anders vollzog, sind hier viele grundlegende Studien möglich. Über die Zulassung von Frauen in anderen Kirchen liegen ebenfalls einzelne Untersuchungen vor, während vergleichende Studien erst in sehr kleiner Zahl erarbeitet worden sind. Unterschiedliche Vergleiche können sinnvoll sein: innerhalb Deutschlands, im europäischen Raum sowie zwischen den Kontinenten, zwischen evangelischen Landeskirchen, zwischen nationalen Kirchen, zwischen Konfessionen39.

37

Vgl. G. U. NÜTZEL, Kontextualität. Nützel hat zahlreiche Synodenprotokolle sowie die Unterlagen des Theologinnenkonvents für die betreffenden Kirchen ihrer Studie ausgewertet, in ihrem Buch findet sich ein ausführliches Quellenund Literaturverzeichnis. 39 Die Debatte um die Ordination in der Kirche von England bearbeiten S. DOWELL und J. WILLIAMS. Einen Vergleich zwischen Südkorea und Deutschland bietet Y.-S. CHUN, Problem. 38

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Für den amerikanischen Raum, in dem ja weit mehr Denominationen als in Deutschland relevant sind, liegen einige religionswissenschaftliche Studien vor 40. Während in den USA bereits 1870 die ersten Frauen ordiniert wurden, beträgt ihr Anteil am Ende des 20. Jahrhunderts erst etwa 50 Prozent. Dies und die Entwicklung in Lettland bestätigen, dass der Protestantismus keineswegs geradlinig auf die Frauenordination zusteuert. Neben Untersuchungen über die Entwicklung zur Gleichstellung von Frauen im Pfarramt sind die Beziehungen zwischen säkularer Frauenbewegung und kirchlicher Frauenbewegung m. E. bisher nicht Gegenstand einer Untersuchung geworden. Auch hier wären Einzelstudien interessant zur Frage der Mitgliedschaft von Theologinnen in den Parteien und Parlamenten, wie z. B. zur Lebensgeschichte von Antje Vollmer. Literaturverzeichnis BALODE, Dace: Eine neue Identität für Frauen in der Kirche Lettlands. Über die Suche nach biblischen Antworten zur Entwicklung der Frauenfrage in Osteuropa. In: Adamiak, Elzbieta u. a. (Hg.): Theologische Frauenforschung in Mittel-Ost-Europa (Jahrbuch der Europäischen Gesellschaft für Theologische Forschung von Frauen. 11). Leuven 2003, S. 71–84. BERLIS, Angela: Art. Priestertum der Frau. Anglikanische, alt-katholische und orthodoxe Kirchen. In: Gössmann, Elisabeth u. a. (Hg.): Wörterbuch der Feministischen Theologie, 2. Auflage. Gütersloh 2002, S. 459–460. BRUNNER, Peter: Das Hirtenamt und die Frau. In: Lutherische Rundschau 9, 1959/60, S. 298–329. CHAVES, Mark: Ordaining Women. Culture and Conflict in Religious Organizations. Cambridge/London 1997. CHUN, Young-Sook: Das Problem der Frauenordination aus ökumenischer Perspektive. Ein Vergleich zwischen den evangelischen Kirchen in Südkorea und denen der Bundesrepublik Deutschland. Bochum 1993. CRÜSEMANN, Frank/THYEN, Hartwig: Als Mann und Frau geschaffen. Exegetische Studien zur Rolle der Frau (Kennzeichen. 2). Gelnhausen/Berlin 1978. CUNOW, Dietlinde: „Die Pfarrer allein können die Arbeit nicht bewältigen. Wer hilft? Was hilft? Frauenarbeit! Nach dir wird gerufen!“. In: Erhart, Hannelore (Hg.): Lexikon früher evangelischer Theologinnen. Biographische Skizzen. Neukirchen-Vluyn 2005, S. 7–10. DOWELL, Susan/WILLIAMS, Jane: Bread, Wine and Women. The Ordination Debate in the Church of England. London 1994.

40

Z. B. M. CHAVES, Ordaining Women; P. D. NESBITT, Feminization of the Clergy. Die katholische Debatte wird untersucht in K. A. R AAB, When Women become Priests.

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Simone Mantei

Protestantismus und sexuelle Revolution in Westdeutschland – ein Schlaglicht

„Petting statt Pershing!“, „Make love not war“ oder „Wer zweimal mit demselben pennt, gehört schon zum Establishment.“ Mehr als diese Parolen braucht es meist nicht, um unsere Erinnerungen und Assoziationen zu aktivieren. Selbst jene, die wie ich die sexuelle Revolution nicht miterlebt haben, kennen ihre Slogans. Und manchen Zeitzeugen und -zeuginnen, die eigene lebensgeschichtliche Bezüge zu den hier verhandelten Sachverhalten haben, mögen die „wilden 68er“ noch so präsent sein, dass sie sich wundern, wie diese Zeit schon Gegenstand der Geschichtsschreibung sein kann. Als Nachgeborene (Jahrgang 1972) stehe ich auf der anderen Seite des ‚garstigen Grabens‘ der Geschichte (Lessing). Ich stelle fest, dass Begriffe wie Kuppelei1, Unzucht2 oder 175er3 sich heute nicht mehr von selbst erschließen, dass sie mit den Reformen des Sexualstrafrechts 1969 und 1973 tatsächlich Geschichte wurden. Mir fällt ferner die Zeitgebundenheit der damals diskutierten Themen auf. Im Kern kreiste die sexuelle Revolution um die heute schwer nachvollziehbare Frage, ob es eine Sexualität vor- bzw. außerhalb der Ehe geben darf. Gegenwärtige sexualethische Themen wie Pädophilie, Vergewaltigung in der Ehe4, die Einführung eines eheähnlichen Rechtsinstituts für gleichgeschlechtliche Paare oder Fragen der Reproduktionsmedizin zeichneten sich damals höchstens am Horizont ab. Insbesondere befremdet mich als Nachgeborene das Ausmaß dessen, was damals an sexualethischen Fragen dem Regelungsbereich von Kirche und Theo1 Danach wurde mit bis zu fünf Jahren Zuchthaus bestraft, wer „durch seine Vermittlung oder durch Gewährung oder Verschaffung von Gelegenheit der Unzucht Vorschub leistet“ (§ 180 RStGB), d. h. Intimität zwischen Nicht-Verheirateten ermöglichte. Das betraf sowohl Hoteliers als auch Vermieter oder Eltern. 2 Im Sexualstrafrecht bis 1973 verwendete Bezeichnung für sexuelle Handlungen, die das Schamund Sittlichkeitsgefühl verletzten. 3 Umgangssprachliche Bezeichnung für Homosexuelle. § 175 a.F. ahndete die sog. Unzucht zwischen Männern mit bis zu 10 Jahren Zuchthaus. 4 § 177 bezeichnete die Vergewaltigung auch als „Nötigung zum außerehelichen Beischlaf“, womit sexuelle Gewalt innerhalb der Ehe kategorisch ausgeschlossen war. Nicht die Sicht des Opfers und dessen sexuelle Selbstbestimmung entschieden somit über den Tatbestand, sondern das rein formale Kriterium des Trauscheins.

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logie zugerechnet wurde5. In der heutigen deutschen Gesellschaft kommt kaum noch jemand auf die Idee, der Theologie in Fragen wie Masturbation, vorehelichem Geschlechtsverkehr oder Empfängnisverhütung eine Richtlinienkompetenz zuzusprechen (auch wenn die katholische Kirche sie nach wie vor einklagt) 6. Hier zeigt sich m. E. eine im Zuge der sexuellen Revolution erfolgte Neuverortung der Kirche in der Gesellschaft, die näher zu erforschen ein lohnenswertes Unterfangen wäre7.

1. Bezugsrahmen Protestantismus und Frauenbewegung, so heißt die Untersektion, der dieser Vortrag zugeordnet wurde. Ich möchte zunächst diese Zuordnung problematisieren. Die sexuelle Revolution ist mehr als eine Facette der Frauenbewegung. Auch die Umkehrung – die Betrachtung der Frauenbewegung als Teil der sexuellen Revolution – wird zwar mitunter propagiert, wurde von feministischer Seite jedoch früh und stichhaltig zurückgewiesen8. Die sexuelle Revolution wurde weder von den Frauen ausgelöst, noch betraf sie allein die weibliche Sexualität und deren Liberalisierung – auch wenn die Antibabypille, die 1962 auf den bundesdeutschen Markt kam, diesen Eindruck befördert haben mag9. Halten wir 5

F. W. MENNE (Sexualethik, S. 258) beschreibt das Phänomen knapp mit den Worten: „Die ‚Reziprozität der Perspektiven‘ (Litt) von Kirche (als normsetzender Instanz) und Handelnden, die ihre Inhaltlichkeit einseitig von der Kirche erhielt, wurde durch die Handelnden aufgelöst, wenngleich zumeist nicht mit Bewusstsein und erklärter Absicht.“ 6 Vgl. dazu G. DENZLER, 2000 Jahre, S. 98f. Denzler verweist dort auf eine Studie von H.-G. LIEGENER, wonach bereits 1978 von 328 befragten katholischen Jugendlichen fast die Hälfte keine oder nur geringe Kenntnis der kirchlichen Sexualvorschriften besaß und 68% ohnehin der Meinung waren, die Kirche könne zu sexuellen Problemen keine hilfreiche Auskunft geben (vgl. DERS., Sexualverhalten). 7 Nicht nur die kirchengeschichtliche auch die profanhistorische Aufarbeitung der sexuellen Revolution steht noch aus. Vgl. „Wie und warum sich die Moral von der Sexualität als Bedeutungsträger und umgekehrt die Sexualität von der religiösen Moral emanzipiert haben – diese Frage müsste Forscher längst auch komparatistisch zu einer Antwort reizen. Tut sie aber wohl deshalb nicht, weil die Liberalisierung der Sexualiät als Voraussetzung ihrer Historisierung einfach noch zu frisch ist. Es fehlt an Methoden und Hypothesen, mit denen eine seriöse Sittengeschichte geschrieben und ihren Platz in der allgemeinen finden könnte.“ (K. RUTSCHKY, Polemik). Rutschky rezensiert in ihrem Artikel den fragwürdigen Versuch einer deutschen Sittengeschichte des 20. Jahrhunderts von D. HERZOG, Politisierung der Lust. 8 Vgl. S. FIRESTONE, Frauenbefreiung. 9 Gegen K. HUTTEN, der meint, u. a. hätten die Emanzipation der Frau und der Frauenüberschuss von zwei Weltkriegen die sexuelle Revolution ausgelöst und geprägt (DERS., Revolution). Auch bei McLeods These, die Frauen seien infolge der sexuellen Revolution nicht mehr in die Kirchen gegangen, stellt sich

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also fest: Die sexuelle Revolution ist kein frauenspezifisches Thema. Auch in der historischen Rückschau sollte sie daher nicht primär als ein solches betrachtet werden, sondern als ein kulturelles und politisches Geschehen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz.

2. Auslöser und Themen der sexuellen Revolution Damit kommen wir zu den Inhalten der sexuellen Revolution. Die durch die Antibabypille beförderte revolutionäre Entdeckung in der ersten Hälfte der sechziger Jahre lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Sexualität und Fortpflanzung sind nicht dasselbe. Der zentrale Inhalt der sexuellen Revolution war die Emanzipation der Sexualität10. Der Sinn des Geschlechtsverkehrs wurde nicht mehr auf die Zeugung von Nachkommenschaft reduziert. Die Sexualität wurde als eigenständiges Lust- und Triebgeschehen anerkannt. Mit der Entkoppelung der Sexualität von der Fortpflanzung wurde auch die moralische und rechtliche Dyade von Sexualität und Ehe aufgelöst11. Wie eng diese Dyade war, zeigt sich daran, dass jede Art von Sexualität außerhalb der Ehe bis 1969 als Unzucht unter Strafe stand. Den wesentlichsten Beitrag zur Neubewertung der Sexualität leistete die Wissenschaft. Prominente Vertreter, die zur Erforschung der Sexualität auf den verschiedensten Gebieten beitrugen, waren u. a. Sigmund Freud, der den Sexualtrieb und dessen Unterdrückung bzw. Sublimierung ausführlich in seinem Werk thematisierte, Magnus Hirschfeld, der sich für die Entkriminalisierung der Homosexualität einsetzte und 1918 das erste Institut für Sexualwissenschaft gründete, sowie Alfred Charles Kinsey, der in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit seiner empirischen Erhebung über das Sexualverhalten der US-Amerikaner und Amerikanerinnen für Furore sorgte12 . Zu den geistigen Wegbereitern der sexuellen Revolution gehörte auch Wilhelm Reich, der Mitte der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts die (klein)bürgerliche

die Frage, warum die sexuelle Revolution in erster Linie das Verhalten der Frauen geändert haben soll (vgl. oben den Beitrag von H. McLeod, S. 41f.). 10 Der Sexualtrieb wurde, so Hutten, in dreifacher Weise emanzipiert: – indem man ihn dem Bereich der Moral entzog und der Biologie zuordnete, – indem man ihn von der Institution der Ehe löste und sein freies Ausleben forderte, – indem man ihn aus dem Naturablauf herauslöste, d. h. die Vereinigung durch Empfängnisverhütung von der Zeugung isolierte (K. HUTTEN, Revolution, S. 110). 11 Vgl. dazu auch den Straftatbestand der Kuppelei (§ 184). 12 Vgl. A. C. K INSEY, Verhalten der Frau; sowie DERS. u. a., Verhalten des Mannes.

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Sexualmoral kritisiert hatte, da sie seiner Ansicht nach die Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen des kapitalistischen Systems stützte. Eine Befreiung der Sexualität, so Reichs These, brächte auch eine friedliche Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen mit sich13. 30 Jahre nach ihrer Veröffentlichung stießen Reichs Ideen in linken, gesellschaftskritischen Kreisen auf großes Interesse, da sie die politischen mit den persönlichen Emanzipationszielen verbanden. Vor dem Hintergrund der Studentenbewegung suchte man sich von der als verlogen empfundenen Prüderie der fünfziger Jahre zu befreien. So gründete sich 1967 z. B. die Kommune I, die die politischen Forderungen nach freier Liebe, Abschaffung der Ehe, Kleinfamilie und Kindererziehung im Alltag umzusetzen suchte14. Nachhaltigere Errungenschaften als diese Avantgarde der sexuellen Revolution erzielte jedoch die gemäßigte oder bürgerliche sexuelle Revolution, die spätestens seit Mitte der sechziger Jahre breite Bevölkerungsschichten erfasste und eine allgemeine Liberalisierung der Sexualmoral mit sich brachte. So stieg in der ersten Hälfte der sechziger Jahre die Zahl der sog. Frühehen deutlich an, wobei ein Drittel der Paare am Tag der Eheschließung ein Kind erwartete bzw. bereits eines hatte15. In diesem Zusammenhang wurden auch Forderungen nach einer angemessenen Sexualerziehung laut. Aufklärung, bis dahin ein Tabu, wurde ein wichtiges emanzipatorisches Ziel der sexuellen Revolution. Und die Bundesregierung kam dieser Forderung nach: Im Auftrage des Bundesgesundheitsministeriums wurde 1967 der Aufklärungsfilm „Helga“ gedreht, der über 6 Millionen Deutsche ins Kino zog. Ferner veröffentlichte das Bundesgesundheitsministerium 1969 erstmals einen Sexualkunde-Atlas, und Sexualkunde wurde im Zuge der sexuellen Revolution schließlich regulärer Bestandteil des schulischen Biologieunterrichts. Ebenfalls zur breiten Sexualaufklärung der Bevölkerung trug die Presse bei16. Ihre Galionsfigur war Oswalt Kolle mit seinen Aufklärungsfilmen und sexual13

W. R EICH, Revolution. Erstmals erschienen unter dem Titel: Sexualität im Kulturkampf. Zur sozialistischen Umstrukturierung des Menschen. Kopenhagen 1936 (2. erw. Aufl. von: DERS., Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral. 1930). 1945 in der englischen Ausgabe erstmals unter dem Titel: The sexual Revolution (New York). Reich ist damit nicht, wie zuweilen behauptet, der Erfinder des Begriffs sexuelle Revolution, da sein Werk erst in der Neuauflage von 1966 diesen Titel trug. Vgl. dazu auch N. T. LIBRA, Revolution. 14 Die Kommune I blieb – auch damals – eine radikale Randerscheinung. Einige der in dieser Zeit entwickelten neuen Lebensformen etablieren sich jedoch wie z. B. Wohngemeinschaften oder Kinderläden. 15 Vgl. E. NOELLE /E. P. NEUMANN, Jahrbuch, S. 173. 16 K. HUTTEN berichtet davon, dass die Kummerkasten-Redaktionen einzelner Illustrierter täglich bis zu 50 Briefe zu Liebes- und Ehefragen erhielten, was die täglichen Anfragen in allen 115 kirchlichen Eheberatungsstellen zusammen genommen überstieg (DERS., Revolution, S. 112).

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kundlichen Artikeln in der Neuen Revue. Zeitgleich mit der sexuellen Revolution verbreitete sich seit Mitte der 1960er Jahre auch die so genannte Sexwelle. Der Begriff Sexwelle beschreibt die Kommerzialisierung der Sexualität in den Medien insbesondere die Verbreitung pornographischen Materials, das sich infolge der Liberalisierung der Gesetzgebung in Dänemark und Schweden in den Augen der Kritiker und Kritikerinnen wie eine Welle über die Bundesrepublik ergoss und die Strafverfolgungsbehörden lahm legte. Eine Reform des Sexualstrafrechts schien immer dringlicher.

3. Ein wichtiger Ertrag der sexuellen Revolution – Die Reform des Sexualstrafrechts Erste Ansätze zur Strafrechtsreform reichten bis an den Anfang der sechziger Jahre zurück17. Das erste Strafrechtsreformgesetz wurde jedoch erst kurz vor Ende der großen Koalition 1969 verabschiedet18. Bis dahin galt das auf das Jahr 1871 zurückgehende Sexualstrafrecht. Ende 1973 führte die sozialliberale Koalition eine weitere umfassende Reform des Sexualstrafrechts durch. Folgende Tatbestände wurden durch die Reformen abgeschafft bzw. entschärft: § 175 (Unzucht zwischen Männern) 19 § 175b (Widernatürliche Unzucht), d. h. Sodomie § 180 (Kuppelei) § 182 (Verführung) § 184 (Verbreitung unzüchtiger Schriften), d. h. Pornographie Die wichtigste Neuerung der Strafrechtsreform bestand jedoch in der Änderung der Überschrift über dem Sexualstrafrecht und damit in der Änderung des schützenswerten Rechtsguts. Der alte Titel: „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ wurde ersetzt durch: „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“. Das Strafrecht schützte somit nicht länger die Sittlichkeit, sondern beschränkte sich auf den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung. Sittenordnung und Rechtsordnung fielen nicht mehr in eins. So wurde auch der moralische Begriff der „Unzucht“ durch den neutralen der „sexuellen Handlungen“ ersetzt. Dass eine Tat als unmoralisch angesehen wurde, genügte nicht mehr für ihre 17

Vgl. den noch unter Adenauer vorgelegten Regierungsentwurf eines Strafgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (E 1962, BT-Drs. IV/650). 18 Vgl. 1. Strafrechtsreformgesetz vom 25. Juni 1969. 19 Homosexuelle Handlungen zwischen Frauen waren nicht gesetzlich verboten.

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Strafverfolgung. Die im Zuge der sexuellen Revolution geforderte Emanzipation der Sexualität mündete auf staatlicher Ebene somit in eine grundlegende Reform des Sexualstrafrechts.

4. Die Kirchen und die sexuelle Revolution Es stellt sich die Frage, wie sich die Kirchen zu den gesellschaftlichen Umbrüchen – oder wie es in der Einladung zu dieser Tagung heißt: zu den gesellschaftlichen Auf brüchen – verhielten. 4.1 Die katholische Kirche 20 Die Enzyklika Humanae Vitae vom Sommer 1968 war die unmissverständliche Antwort der katholischen Kirche auf den gesellschaftlichen Wandel der Sexualmoral21. Die Verlautbarung unterstrich die nach Ansicht des Vatikans unlösbare Verbindung zwischen sexuellem Akt und Fortpflanzung. Entsprechend wurde jede Form der Sexualität, die nicht der Fortpflanzung diente (d. h. Masturbation, Homosexualität sowie vor- und außerehelicher Geschlechtsverkehr) abgelehnt. Auch der Gebrauch empfängnisverhütender Mittel wurde untersagt. Die zentralen Inhalte der sexuellen Revolution, die Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung und die Neuinterpretation der Sexualität als eigenständiges Lust- und Triebgeschehen, wurden damit von offizieller katholischer Seite entschieden zurückgewiesen. Konzilianteren Positionen, wie sie 1973 u. a. von den deutschen Bischöfen formuliert wurden22, erteilte der Vatikan in einer 1975 veröffentlichten „Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre zu einigen Fragen der Sexualethik“ eine deutliche Absage. Die Erklärung stellte klar, dass es sich bei den Normen der katholischen Sexualethik nicht um kulturell abhängige Erkenntnisse handele, sondern um Gottes Gesetz, dem der Mensch zu gehorchen habe23. Die u. a. von evangelischer Seite propagierte Argumentation, wonach das Liebesgebot die 20

Vgl. zur katholischen Kirche die ausführliche Monographie von G. DENZLER, 2000 Jahre. Vgl. ENZYKLIKA HUMANAE VITAE. 22 Der „Hirtenbrief der deutschen Bischöfe zu Fragen der menschlichen Geschlechtlichkeit“ vom Mai 1973 hatte der Sexualität einen gewissen Stellenwert unabhängig ihres Zeugungszweckes zugebilligt. Auch der schweizer Moraltheologe Stephan PFÜRTNER hatte der in Humanae vitae vertretenen sexualethischen Position widersprochen und war dafür zeitweise suspendiert worden (vgl. DERS., Probleme, S. 143–148). 23 ERKLÄRUNG, S. 263. 21

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Richtschnur des Verhaltens sein solle, wurde zurückgewiesen. Stattdessen hob die Erklärung hervor, dass „der Gebrauch der Geschlechtskraft nur in der rechtsgültigen Ehe seinen wahren Sinn und seine sittliche Rechtmäßigkeit erhält.“24 Trotz der anfänglich starren Haltung der katholischen Kirche kam es im Gefolge der sexuellen Revolution auch auf katholischer Seite zu Modifikationen in der Sexualmoral. Die wohl wichtigste Neuerung betraf die sog. Ehezwecklehre. Der Codex Iuris Canonici, das katholische Kirchenrecht von 1918, hatte über die Ehe festgelegt: „Der erste Zweck (finis primarius) ist die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft; der zweite Zweck (finis secundarius) sind gegenseitige Hilfe und Heilmittel gegen die Begierlichkeit“.25 Diese Fixierung und Reduzierung der ehelichen Gemeinschaft wurde 1965 vom 2. Vatikanischen Konzil aufgebrochen. In der Pastoralkonstitution Gaudium et spes erkannten die Konzilsväter „erstmals die gegenseitige personale Liebe der Ehepartner als eigenständigen Sinngehalt der Ehe [an] und würdigten die sexuelle Begegnung als Ausdrucksmedium dieser Liebe. Damit leiteten sie eine Entwicklung ein, in deren Verlauf menschliches Sexualverhalten zusehends in seiner Werthaftigkeit für die Person entdeckt wurde.“26 Der seit 1983 geltende revidierte Codex Iuris Canonici knüpft hier an und verzichtet auf die Wiederaufnahme der Lehre von den Ehezwecken27. Der von katholischer Seite in der ersten Hälfte des zurückliegenden Jahrhunderts propagierte Zirkel, wonach die Sexualität nicht der Lust, sondern allein der Fortpflanzung dienen darf, daher nur in der Ehe ihren legitimen Ort hat und die Ehe somit nicht als umfassende Lebens- sondern verkürzt als „Brutgemeinschaft“ verstanden wird, scheint damit aufgebrochen. Gleichwohl bestehen auf dem Gebiet der Sexualmoral bzw. Sexualethik noch erhebliche Differenzen zwischen den Konfessionen, denn weite Teile der evangelischen Kirche – insbesondere der universitären Theologie – öffneten sich den gemäßigten Reformanliegen, die im Zuge der sexuellen Revolution formuliert wurden, deutlich früher und weitreichender als die katholische Schwesterkirche28.

24 Die Erklärung hielt auch an der unlösbaren Verbindung von Sexualität und Fortpflanzung fest. Vgl.: „Es ist die Beachtung seiner Finalität, die diesem Akt seine Würde gewährleistet.“ (EBD., S. 264). 25 Can. 1013, zitiert nach G. DENZLER, 2000 Jahre, S. 83. 26 H.-G. GRUBER, Sexualmoral, S. 1261. 27 Vgl. G. DENZLER, 2000 Jahre, S. 87. 28 Selbst evangelische Theologen, welche die sexuelle Revolution problematisierten, meinten, ihre maßvollen Vertreter hätten sich Ziele gesetzt, die durchaus positiv zu bewerten seien. Vgl. K. HUTTEN, Revolution, S. 112.

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4.2 Die evangelische Kirche Nach dem Vorbild der Church of England, die 1964 eine sexualethische Kommission eingesetzt hatte, berief auch der Rat der EKD 1966 ein Gremium, das sich mit sexualethischen Fragen befassen und eine kirchliche Verlautbarung erarbeiten sollte. Allerdings vermochten sich die Kirchenleitungen weder in England noch in der BRD den Beratungsergebnissen ihrer ExpertInnenenkommissionen anzuschließen. Zu deutlich vollzogen die Ausarbeitungen die Umorientierung auf dem Gebiet der Sexualmoral. So formulierte die sexualethische Denkschrift in Abgrenzung zur katholischen Position: „[D]ie Begegnung von Männern und Frauen haben ihren Sinn in sich selbst. Deshalb dient die Sexualität nicht in erster Linie der Fortpflanzung.“29 Konsequent wurde auch die Empfängnisverhütung anerkannt. Im Blick auf die vorehelichen Geschlechtsbeziehungen formulierte die Denkschrift m. E. den Schlüsselsatz des neuen Denkens im Bereich der evangelischen Sexualethik. Gegen die katholische Naturrechtslehre argumentierte sie, dass sich aus den Geboten Gottes keine eindeutige Weisung für den Einzelfall ableiten lasse. „Daher“, hieß es weiter, „fällt die Entscheidung in die Verantwortung der Partner, in welchem Abschnitt der Entwicklung ihrer Beziehung zur Ehe hin sie den Geschlechtsverkehr aufnehmen.“30 Die Entscheidung über die Aufnahme einer sexuellen Beziehung wird aus dem Regelungsbereich der kirchlichen Moral und des staatlichen Rechts in die Verantwortung der Partner gelegt – damit vollzieht sich m. E. auf evangelischer Seite der Übergang von einer legalistischkasuistischen Sexualmoral zu einer Ethik der personalen Verantwortung31. Protagonisten dieses Übergangs waren zunächst Vertreter der universitären Theologie wie Siegfried Keil, Hermann Ringeling, Gyula Barczay, Joachim Scharfenberg oder Wolfgang Trillhaas. 29 DENKSCHRIFT ZU FRAGEN DER SEXUALETHIK. Eine historische Aufarbeitung der spannungsreichen Kommissionsberatungen steht noch aus, wäre jedoch gewiss ertragreich. 30 EBD., S. 155. Vgl. dazu einen der Mitverfasser der sexualethischen Denkschrift, den späteren Marburger Sozialethiker Siegfried K EIL : „An welcher Station auf dem Weg zur Ehe die bis dahin erreichte Koexistenz der Liebenden den Koitus als ethisch gerechtfertigt erscheinen lässt, wird auf diese Weise in viel stärkerem Maße als früher in das Ermessen und die Verantwortung der Liebenden selbst gelegt.“ (DERS., Fragen, S. 150). 31 Vgl. dazu auch K. HUTTEN : „Die erotische Begegnung ist eine Begegnung im Intimbereich. […] Sie ist ein Betreten der empfindlichsten, verletzlichsten Innenbereiche des Partners. Darum ist mit dieser Begegnung ein schwerer Ernst und eine große Verantwortung verbunden. […] Jeder Partner trägt die bloße Seele des anderen in seiner Hand. […] Er kann sie vergiften und verwunden, zum bloßen Werkzeug egoistischer Lustgier entwürdigen. Er kann sie aber auch entfalten, erblühen lassen und fruchtbar machen. Gott wird die Partner danach fragen, was sie einander getan haben. Eine rechte Sexualerziehung der Jugend wird diese Verantwortung füreinander in den Mittelpunkt stellen“ (DERS., Revolution, S. 114).

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Dass dieser Übergang – u. a. in den Kirchenleitungen – nicht auf ungeteilte Zustimmung stieß, versteht sich von selbst32 . Die innerkirchlichen Debatten – etwa um die Sexualethische Denkschrift oder die sog. Orange Denkschrift („Das Gesetz des Staates und die sittliche Ordnung“) – hier nachzeichnen zu wollen, würde allerdings den Rahmen dieses Beitrags sprengen33. Ebenso verhält es sich mit der Agitation kirchlicher Kreise und restaurativer Gruppen gegen die weitgehende Freigabe der Pornographie34. Auch hier muss der Hinweis genügen, dass die entschiedenen Gegner und Gegnerinnen der sexuellen Revolution sich von ihrer (evangelischen) Kirche Ende der sechziger Jahre zunehmend unverstanden fühlten und nicht selten in der evangelikalen Bewegung eine neue Heimat fanden oder sogar ihre angestammte Kirche verließen35.

5. Revolution oder Reform? Laut Brockhaus bedeutet Revolution (lat. revolvere: zurückdrehen) die Umwälzung von Bestehendem, z. B. den totalen Bruch mit dem kulturellen Wertesystem. Man denke etwa an die französische, industrielle oder islamische Revolution. Der Begriff schwankt dabei inhaltlich zwischen unaufhaltsamer Veränderung und gewaltsamer Umgestaltung von Staat und Gesellschaft. 32 Im Einflussbereich der Kirchen herrschen z. T. noch immer ‚vorrevolutionäre‘ Zustände. Während die staatlichen Gesetze den Tatbestand der Unzucht nicht mehr kennen, ist es Pfarrern und Pfarrerinnen in vielen Landeskirchen nach wie vor nicht gestattet, unverheiratet mit einem Partner/einer Partnerin im Pfarrhaus zu leben. Auch mit offen homosexuellen Pfarrern oder lesbischen Pfarrerinnen tun sich viele Landeskirchen noch schwer und verlangen von ihnen, ihre Sexualität so zu leben, als gäbe es den § 175 noch. 33 Zur Entstehung und Reaktion auf die Orange Denkschrift vgl. S. M ANTEI, Nein und Ja, S. 61–102. Es bedarf jedoch der weiteren Forschung. Interessante Forschungsfelder wären neben der Entstehung und Wirkung der sexualethischen Denkschrift ferner die Aufarbeitung der innerkirchlichen Diskussion um die weitgehende Freigabe der Pornographie (vgl. dazu z. B. die Kontroverse zwischen M. GOLDSTEIN und W. BECKER in den Lutherischen Monatsheften), sowie die Erforschung des Einflusses der Denkschrift der EKD über die Ehescheidungsreform auf die entsprechende Gesetzgebung (vgl. dazu z. B. D. M ANN, Denkschrift). 34 Vgl. dazu H. R INGELING (Theologie und Sexualität, S. 185ff.), wo die Agitation verschiedener Foren (Saubere Leinwand, Aktion gegen Schmutz und Schund) nachgezeichnet wird. Vgl. dazu auch B. BUSCHE, Sexualethik kontrovers. 35 Prominentes Beispiel für eine Konversion aufgrund der sexualethischen Öffnung der evangelischen Kirche, war die ehemalige EKD-Synodale Christa Meves, die zum Katholizismus konvertierte. Vgl. ferner W. R AU, Widerstand. Eine historische Untersuchung über die Bedeutung der sexualethischen Kontroversen für die Gründung und das Selbstverständnis der Konferenz Bekennender Gemeinschaften, die sich im Herbst 1970 gründete, steht noch aus, wäre m. E. jedoch von Interesse.

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Handelte es sich bei den gesellschaftlichen Veränderungen im Bereich der Sexualmoral in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts ebenfalls um eine Revolution? Diese Frage war in der damaligen sozialethischen Fachdiskussion durchaus umstritten. Ausgelöst wurde die Debatte 1966 durch einen Aufsatz, in dem der Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen Kurt Hutten die Erscheinungen seiner Zeit als sexuelle Revolution interpretierte. „Die sexuelle Revolution“, schrieb er, „ist keine gelenkte oder organisierte Bewegung. Sie ist eher einer Naturerscheinung vergleichbar und verbreitete sich wie ein Präriefeuer. Sie drang durch alle Poren und Ritzen der Gesellschaft. Sie feiert auch in der Kirche und ihren Gemeinden ihre Triumphe“36. Was die Entwicklung als Revolution kennzeichnete war, so Hutten, nicht allein der weit verbreitete Verstoß gegen moralische Normen, denn derartige Verstöße habe es zu allen Zeiten gegeben, sondern die grundsätzliche Hinterfragung der Normen37. Huttens Gegenwartsanalyse stieß auf Widerspruch. „Die sexuelle Revolution findet nicht statt“, konterte der fast 30 Jahre jüngere Joachim Scharfenberg 38. „Statt von einer sexuellen Revolution zu sprechen“, ergänzte der ebenfalls eine Generation jüngere Soziologe und Theologe Siegfried Keil, „sollten wir versuchen die gewandelten Formen des Sexualverhaltens im Zusammenhang eines allgemeinen gesellschaftlichen Wandels von der patriarchalisch, hierarchisch geordneten vorindustriellen Gesellschaft zur liberalisierten und demokratisierten Industriegesellschaft unserer Tage zu verstehen.“39 Keil, der im selben Jahr in die sexualethische Kommission der EKD berufen worden war, warnte davor, die Zeichen der Zeit falsch zu deuten und als „Revolution der Unmoral“ auszugeben, was sich als „Herausbildung personaler Verantwortungsstrukturen“ abzeichnen könnte40. Während Hutten die radikale Hinterfragung der Normen und die Suche nach neuen Verhaltensregeln als Bruch mit der christlichen Sexualmoral betrachtete, wiesen Keil und Scharfenberg auf die Kontinuitäten zwischen Altem und Neuem hin. Ihrer Ansicht nach bildeten Ehe und Familie die Normierungspunkte nicht nur der überholten, sondern auch der neuen sexualethischen Überzeugungen41.

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K. HUTTEN, Revolution, S. 111. „Damals waren die Normen, gegen welche sich die Aufsässigkeit richtete, in ihrer Gültigkeit allgemein anerkannt; heute werden diese Normen selbst bestritten und wird nach neuen Verhaltensregeln gesucht, welche die alten Normen ersetzen sollen. Hier handelt es sich also nicht mehr nur um einen Zustand sittlicher Verderbnis, sondern um einen revolutionären Prozeß.“ (EBD., S. 110). 38 J. SCHARFENBERG, Revolution, S. 353. 39 S. K EIL, Fragen, S. 132; vgl. auch H. LINDINGER, Sexualität. 40 S. K EIL, Fragen, S. 135. 41 S. K EIL meinte, es wäre sogar möglich, dass sich die Strukturänderungen im sexualethischen Bereich festigend auf die Institution von Ehe und Familie auswirkten (EBD., S. 142). 37

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In der historischen Rückschau bleibt festzuhalten, dass die Interpretation des damaligen Zeitgeschehens als sexuelle Revolution bereits eine Wertung darstellte. Wer die Veränderungen auf dem Gebiet der Sexualmoral als Anzeichen einer sexuellen Revolution betrachtete, stand den Entwicklungen tendenziell kritisch gegenüber. Die Befürworter der Entwicklung suchten dagegen nach alternativen Interpretationsansätzen und sprachen etwa von einer „Personalisierung der Sexualität“42 .

6. Fazit Fassen wir zusammen. Auf vielen Gebieten – auch im Bereich der Sexualmoral – ging es zwischen 1965 und 1975 um die Alternative zwischen institutionengebundener vorgegebener Normenstruktur und eigenverantwortlicher Selbstbestimmung43. Die sexuelle Revolution war eine Emanzipationsbewegung von kirchlich vorgegebenen Sexualkodizees, über deren Einhaltung staatliche Gesetze wachten. Sie war ein Rausschmiss und (zumindest was den Staat und die evangelische Kirche betraf) zugleich ein Rückzug aus den Schlafzimmern der Nation. Indem sich die evangelische Kirche den maßvollen Emanzipationszielen der sog. sexuellen Revolution öffnete, trug sie m. E. im Verbund mit der sozialliberalen Regierung, zugleich dazu bei, dass aus der Revolution eine Reform wurde – eine Reform, die ihrerseits wieder Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Kirche hatte44. Literaturverzeichnis BECKER, Walter: Porno setzt neue Normen. Rechtliche Aspekte der Reform des Paragraphen 184. In: Lutherische Monatshefte 10, 1971, S. 139–142. BORSCHEID, Peter (Hg.): Protestantische Positionen: Beiträge zur Sexualethik und Familienpolitik. FS für Siegfried Keil. Marburg 2004. 42

EBD., S. 132. Vgl. STROHM, Scheidungsreform, S. 324. 44 Vgl. dazu exemplarisch K. HUTTEN, der ausgehend von der Frage, wie die evangelische Kirche sich zur sexuellen Revolution verhalten solle, das damalige Verständnis ihres öffentlichen Wächteramtes kritisch hinterfragte. „Es erhebt sich hier die Frage, ob die Kirche das Recht hat, die von ihr vertretenen Grundsätze und ethischen Wertungen dem ganzen Volk als verbindliche Verhaltensordnung aufzunötigen, oder ob sie den ethischen Pluralismus zu respektieren hat und darum ihr öffentliches Wächteramt auf diesem Gebiet in seinen Befugnissen und in der Art seiner Wahrnehmung überprüfen muss.“ (DERS., Revolution, S. 111). 43

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Simone Mantei

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Protestantismus und sexuelle Revolution in Westdeutschland

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3. Protestantismus und „Dritte Welt“-Bewegung

Reinhard Frieling

Die Aufbrüche von Uppsala 1968 1. Vorgeschichte 1.1 Amsterdam 1948 Die Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) und dessen Erste Vollversammlung in Amsterdam 1948 fanden im Kontext der Ost-West-Spannung statt. Die Konferenz „verurteilte beide Ideologien, die des Kommunismus und die des Laissez-faire-Kapitalismus“1. Der globale Nord-Süd-Konflikt kam langsam ins Bewusstsein, und die „Jungen Kirchen“ meldeten sich verstärkt zu Wort. Als sozialethische Konzeption empfahl „Amsterdam“ eine „verantwortliche Gesellschaft“: „Eine verantwortliche Gesellschaft ist eine solche, in der Freiheit die Freiheit von Menschen ist, die sich für Gerechtigkeit und öffentliche Ordnung verantwortlich wissen, und in der jene, die politische Autorität oder wirtschaftliche Macht besitzen, Gott und den Menschen, deren Wohlfahrt davon anhängt, für ihre Ausübung verantwortlich sind.“2

Der Norden der Erde wurde vom Ost-West-Konflikt geprägt, und die Friedensfrage nahm in der Gesellschaft und in den Kirchen breiten Raum ein. Der Süden befasste sich mehr mit den elementaren Problemen von Unterentwicklung und sozialer Gerechtigkeit. Schon in Amsterdam 1948 machte die noch relativ geringe Zahl von Vertretern der Dritten Welt deutlich, dass ihnen das allgemeine Modell einer verantwortlichen Gesellschaft als unzureichend erschien. Sie suchten in ihrem Kontext eine Befreiung von den Ideologien des westlichen Imperialismus. Sie interpretierten ihre nationalen und revolutionären Entwicklungen in Asien und Afrika als Gottes Wirken in der Geschichte und wollten von 1 2

A MSTERDAMER DOKUMENTE, S. 53. EBD., S. 50.

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da her aus der Perspektive der Armen und Unterdrückten sozialethisch eigene Wege gehen3. 1.2 Neu Delhi 1961 In den sechziger Jahren bekamen die sozialen Bewegungen eine neue Dimension. Die Vollversammlungen des ÖRK in Neu Delhi 1961 und Uppsala 1968 sowie die vielbeachtete Weltkonferenz des ÖRK für „Kirche und Gesellschaft“ in Genf 1966 setzten neue sozialethische Massstäbe. „Entwicklung“ wurde zunächst das beherrschende Stichwort. Dabei trat das Bemühen um eine gerechte Weltwirtschaftsordnung in den Vordergrund. Papst Paul VI. verband damit in der Enzyklika „Populorum progressio“ (1967) den Friedensgedanken: „Entwicklung ist der neue Name für Friede“ (Pop.pr. 76). Die westlichen Entwicklungsmodelle gingen zumeist optimistisch davon aus, dass durch Hilfe der Industrienationen die Dritte-Welt-Länder bald aus dem unterentwickelten Zustand herauskämen. Doch die Welt erfuhr im Gegenteil, dass inmitten rascher sozialer Umbrüche die reichen Länder immer reicher und die armen immer ärmer wurden. 1.3 Genf 1966: Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft Die Weltkonferenz in Genf 1966 entwarf daraufhin eine ökumenische Sozialethik, die sowohl die Ursachen dieser Umbrüche (kontrovers) analysierte als auch wirksame Mittel zur Behebung der Ungerechtigkeiten zu konzipieren versuchte. Die ökumenische Sozialethik musste also theologische Kriterien für ideologische Kontroversen artikulieren und sich mitten hineinbegeben in die Debatten um revolutionäre und integrative Gesellschaftsmodelle und politische Entscheidungen. Der Optimismus der Entwicklungskonzeption geriet vor allem bei der sog. 68Generation ins Wanken. Man müsse sich zwischen „Establishment“ und „Revolution“ entscheiden, hieß es. Wobei Revolution nicht einfach einen gewaltsamen Umsturz der Herrschaftsverhältnisse in den einzelnen Staaten meinte, sondern umfassender einen sozialen und kulturellen Umbruch auf allen Lebensgebieten. Der Aufbruch der Jugend basierte auf einer Auflehnung gegen Ungleichheit, Sinnlosigkeit und Konformismus, gegen die anonyme Welt der Produktion und gegen die beiden politisch-ökonomischen Gesellschaftsformen des Sozialismus und bürgerlichen Neo-Kapitalismus. Der Mensch müsse sich dagegen emanzipieren und über seine menschlichen Belange selber bestimmen. 3 DIE

Vgl. z. B. M. M. Thomas (Indien) im dritten Amsterdamer Vorbereitungsband DIE K IRCHE UND AUFLÖSUNG DER GESELLSCHAFTLICHEN ORDNUNG, S. 84–95.

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In diesem Kontext löste die ÖRK-Konferenz in Genf umfangreiche Debatten über eine „Theologie der Revolution“ aus. Heinz-Dietrich Wendland verband die Revolution des Reiches Gottes, die von oben her in Christus in die Menschheitsgeschichte eingegriffen hatte, mit der menschlichen Revolution von unten her, bei der die Christen als Gottes Mitarbeiter in Solidarität mit allen Menschen hineingestellt sind in die revolutionären Veränderungen unserer Zeit mit dem Ziel einer „Humanisierung der menschlichen Gesellschaft“4. Richard Shaull konkretisierte diese allgemeinen Revolutionsideen mit der These, dass „Christus inkognito“ heute „durch die Technik und die Säkularität wirkt“ und so die alten Absolutheiten mancher Ideologien gebrochen und die utopischen Träume von einer vollkommenen Gesellschaft zerstört habe. Shaull folgerte daraus, dass ein ökumenisches Sozialdenken irrelevant geworden sei, welches sich theoretisch mit der Frage befasst, ob es sich in erster Linie Prinzipien, Werten und mittleren Axiome zuwenden oder ob es situationsbezogen werden soll. Shaull rief stattdessen zur revolutionären Tat: „Ich verstehe das so, dass eine ethische Klärung und Zielsetzung nur dann erreicht werden kann, wenn Werte umgesetzt werden in spezifische soziale Ziele, spezifische menschliche Bedürfnisse und spezifische technische Möglichkeiten und Prioritäten.“ Er forderte „Präsenz und Beteiligung an denjenigen Stellen in der Welt, an denen Gott am dynamischsten wirksam ist“. Mit Harvey Cox wies er auf „Gottes Werk der Erneuerung inmitten der sozialen Revolution“ hin5. Dieser theologische Ansatz führte beim ÖRK zu ekklesiologischen und sozialethischen Konsequenzen, indem „die Kirche als Faktor der kommenden Weltgesellschaft“ verstanden und zahlreiche Projekte daraus abgeleitet wurden6.

2. Uppsala 1968: Erneuerung der Welt Die Vollversammlung in Uppsala 1968 sprach moderater als Genf 1966 von einer Theologie der „Erneuerung der Welt“7. Das Grundproblem der Menschheit wurde mit zwei historisch neuen Faktoren benannt: „die Revolution der Technik“ und „die Forderung der Völker nach sozialer Gerechtigkeit“8. 4

In: A PPELL, S. 84–90. EBD., S. 98f. 6 K IRCHE ALS FAKTOR. – Zur weiteren deutschsprachigen Diskussion über die Theologie der Revolution vgl. T. R ENDTORFF /E. TÖDT, Theologie der Revolution; K IRCHEN ALS TRÄGER ; WELTFRIEDEN UND R EVOLUTION ; mehrere Beiträge in: Evangelische Theologie 27, 1967, Heft 12. 7 Vgl. R. FRIELING, Uppsala 1968. 8 Bericht der Sektion III „Wirtschaftliche und soziale Weltentwicklung“. In: BERICHT AUS UPPSALA, S. 39–62, hier S. 56. 5

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Die Wechselwirkung zwischen Technik und sozialer Gerechtigkeit zu klären, sei eine „neue theologische Dringlichkeit“, hieß es. Die Menschheitsprobleme seien nämlich nicht primär ökonomisch zu lösen, vielmehr müssten die Probleme der militärischen Friedenssicherung mit der kostspieligen Aufrüstung und insbesondere auch die Herausforderungen der neuen ökologischen Probleme mitbedacht und das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft auf eine neue Basis gestellt werden. Denn in der Gentechnik und im Umgang mit der Schöpfung überhaupt falle die eigentliche Entscheidung über die Zukunft der Menschheit. Aus dieser Gesellschaftsanalyse heraus ergaben sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten eine Reihe von Projekten und Programmen des ÖRK, die schließlich in den achtziger Jahren im „Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ zusammengefasst wurden. 2.1 „Gott – Kirche – Welt“ und „Gott – Welt – Kirche“ Die ökumenische Bewegung der letzten hundert Jahre hatte von Anfang an sowohl in der Missionsbewegung als auch in der Bewegung für Praktisches Christentum (Life and Work) die Welt mit ihren Problemen im Blick. In Uppsala 1968 zeigte sich nun eine ausgesprochene Extrovertiertheit der Kirchen, indem mit dem Motto „Siehe, ich mache alles neu“ nicht so sehr das aggiornamento der Kirche bedacht wurde als vielmehr die Erneuerung und Einheit der Menschheit, und in diesem Kontext dann auch der Beitrag, den die Kirchen dazu leisten können. Innerhalb dieses Rahmens wurden freilich die Akzente sowohl theologisch-heilsgeschichtlich als auch sozialethisch unterschiedlich gesetzt, was im ÖRK, zwischen den Konfessionen und im Protestantismus zu heftigen Kontroversen führte. 1967 bereitete die Studie „Die Kirche für andere und die Kirche für die Welt im Ringen um Strukturen missionarischer Gemeinden“ den Weg für eine extrovertierte ökumenische Ekklesiologie. In Uppsala 1968 hieß es dann: „Die Kirche wagt es, von sich selbst als dem Zeichen der zukünftigen Einheit der Menschheit zu sprechen.“9 Diese Formulierung erinnert an die Aussage der Kirchenkonstitution des II. Vatikanum (Nr. 1), die Kirche sei „in Christus gleichsam das Sakrament bzw. Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott und für die Einheit des ganzen Menschengeschlechts“10. Diese „sakramentale“ Ekklesiologie, die in Uppsala auch im orthodoxen Beitrag von Metropolit Ignatius von Latakia zum Ausdruck kam, hatte Konse9

Bericht der Sektion I „Der Heilige Geist und die Katholizität der Kirche“. In: BERICHT AUS UPPhier S. 15. H. DENZINGER /D. HÜNERMANN, Kompendium, Nr. 4101. Vgl. auch die Pastoralkonstitution Nr. 40: Die Kirche „ist gewissermassen der Sauerteig und gleichsam die Seele der in Christus zu erneuernden und in die Familie Gottes umzugestaltenden menschlichen Gesellschaft“ (EBD., Nr. 4340).

SALA, 10

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quenzen für das christliche Verhalten gegenüber den säkularen sozialen, kulturellen und politischen Bewegungen. Eine Reihe von Protestanten äußerte sich jedoch kritisch: Die Welt sei nicht auf dem Weg zur Kirche; die Ausrichtung auf das endzeitliche Reich Gottes lasse kein „Heimholen“ der Welt ins Christliche zu. Schon die kurz vor der Konferenz erschienene ÖRK-Studie „Richtschnur und Waage“ warnte nüchtern vor illusorischen Vorstellungen „über die Macht der Kirche als Träger die Sozialreform“11 : „Die Vorstellungen, die wir über die Macht der Kirche als Träger der Sozialreform haben, grenzen an Grössenwahn. Vielleicht neigen wir dazu, das theologische Verständnis der Kirche und ihre potentielle geistige Macht mit ihren beschränkten sozialen Möglichkeiten zu verwechseln. Ob das den Christen nun passt oder nicht, die Kirchen haben nur einen beschränkten Einfluss auf die Staatsangelegenheiten, und dieser Einfluss nimmt vielleicht sogar noch ab […] Statt grandioser ethischer Maximen, die den Christen und den Kirchen Verpflichtungen auferlegen, die zu allen menschlichen und irdischen Möglichkeiten in keinem Verhältnis stehen und eine Siegerpose suggerieren, brauchen wir möglichst konkretes, spezifisches und bescheidenes Denken […] Die Kirchen haben für ihr Handeln keinen Gesamtentwurf und können ihn auch nicht haben; sie können nur im Glauben antworten. Sie sollen nicht vorgeben, dass sie mehr haben, und sie sollen auch nicht so tun, als ob sie das Monopol des Verantwortungsgefühls hätten.“

Diese nüchterne Analyse steht im Zusammenhang mit den nachfolgenden heftigen missionstheologischen Debatten über „Reich Gottes oder Weltgesellschaft?“. Archetypisch auf eine Formel gebracht ging es um das traditionelle Denkschema „Gott – Kirche – Welt“ oder um ein neues geschichtstheologisches Denken in der Reihenfolge „Gott – Welt – Kirche “. Diese Terminologie begegnete zwar in Uppsala so nicht im Wortlaut; ich halte sie jedoch als Tendenzbezeichnung für sachgemäß. Die in der Dickinson-Studie formulierte pragmatische Bescheidenheit ohne theologische Gesamtkonzeption wurde in Uppsala kritisch hinterfragt. Ein Ergebnis dieser Überlegungen war, dass die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung ihre zentrale Frage nach der Einheit der Kirchen zu dem Studienprozess „Einheit der Kirche – Einheit der Menschheit“ erweiterte und in Löwen 1971 zum Gegenstand ihrer Beratungen machte12 . Die hier vorgestellten geschichtstheologischen und anthropologischen Untersuchungen lösten beim ÖRK weitere Studien zum so genannten „Humanum“ aus, die für die anderen sozialethischen, kulturellen und politischen Projekte 11

R. DICKINSON, Richtschnur, S. 72f. EINHEIT DER K IRCHE ; LÖWEN 1971, S. 171–201; vgl. dazu die Studie des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses: ZUM THEMA EINE K IRCHE, EINE MENSCHHEIT; UM EINHEIT UND HEIL DER MENSCHHEIT. 12

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eine hilfreiche theologische Grundlage bedeuteten, ohne sich auf Detailfragen und Handlungsmodelle einzulassen13. Im Zusammenhang mit der orthodox inspirierten „eucharistischen Ekklesiologie“ begannen in Uppsala ferner Untersuchungen zur Frage, welche ethischen Konsequenzen sich aus der Abendmahlsfeier ergeben. „Einheit der Kirche“ bedeute nicht nur Gemeinschaft im Glauben und in der Kirchenverfassung, sondern Gemeinschaft und Teilen zwischen Armen und Reichen, Gesunden und Kranken, Weißen und Farbigen usw. Sehr nachhaltig wirkten Sätze aus dem Referat von W. A. Visser ’t Hooft über den Zusammenhang von vertikaler und horizontaler Orientierung des christlichen Glaubens: „Uns muss klar werden, dass die Kirchenglieder, die ihre Verantwortung für die Bedürftigen in irgendeinem andern Teil der Welt praktisch leugnen, ebenso der Häresie schuldig sind wie die, welche die eine oder andere Glaubenswahrheit verwerfen.“14

In dieser Weise den Häresiebegriff auf ethisches Versagen zu beziehen, provozierte freilich heftige Auseinandersetzungen zwischen Reformierten und Lutheranern. In Uppsala wurden manche Weichenstellungen vorweggenommen, die später bei der „Status-Confessionis“-Debatte über die Apartheid und die atomare Rüstung begegneten. Die archetypisch titulierte Denkweise im Schema „Gott – Welt – Kirche“ war zumeist keine strikte Alternative zu „Gott – Kirche – Welt“, sondern eher ergänzend ein neues Paradigma. Es geht geschichtstheologisch darum, Gottes Handeln in Natur und Geschichte zu erkennen, zu analysieren und daraus dann Folgerungen für das Handeln der Christen und Kirchen abzuleiten. Uppsala übernahm die Sprache der Revolutionstheologie nicht, erst recht nicht Ideen wie „Kirchen als Träger der Revolution“. Aber die in Uppsala entwickelte „Theologie der Erneuerung der Welt“ führte zu dem, was wir im Nachhinein die „Aufbrüche von Uppsala“ nennen. Die Rede vom „integralen Heilswerk“ und von kontextuellen Theologien mündete in einer „Orthopraxis“-Konzeption, welche den ÖRK und seine Mitgliedskirchen ermutigte, die Methode der Studienpapiere zu überschreiten und sich mitten hinein zu begeben in die sozialen und politischen Kämpfe und im Sinne des Evangeliums Partei zu ergreifen. In Uppsala wurde der von den niederländischen reformierten Theologen Willem A. Visser ’t Hooft und Hendrikus Berghof geprägte Begriff „Christozentrischer Universalismus“ eine neue theologische Leitlinie für viele Mitarbeiter

13 14

THE HUMANUM STUDIES. W. A. VISSER ’T HOOFT, Auftrag, S. 337f.

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im Genfer Stab15. Konrad Raiser übernahm diesen Begriff noch 1989 als Bezeichnung für einen Paradigmenwechsel in der ökumenischen Bewegung16. Ein universaler heilsgeschichtlicher Ansatz bei der Königsherrschaft Jesu Christi ermutigte dazu, legitim und verpflichtend Sünde und sündige Strukturen aufzudecken und zu bekämpfen. Heilsgeschichte und Geschichte wurden zusammen gesehen und zur Basis von „Kontexttheologien“. 2.2 Prioritäten und Projekte Inhaltlich verband sich damit bei allen Kommissionen und Programmen des ÖRK die Methode, die Ungerechtigkeit in der Welt vom Standpunkt der „Armen“, „Unterprivilegierten“ und „Unterdrückten“ her zu berücksichtigen und die früheren allgemeinen Leitlinien wie „mittlere Axiome“, „verantwortliche Gesellschaft“ oder andere Ordnungsschemata zu verlassen. Die gleichzeitig auch in der römisch-katholischen Kirche begegnende Rede von einer „vorrangigen Option der Kirche für die Armen“ signalisiert eine universale ökumenische Konvergenz, die in der Bildung eines gemeinsamen ÖRKVatikan-Ausschusses für „Gesellschaft, Entwicklung und Frieden“ (SODEPAX) zum Ausdruck kam. Sobald es freilich zu konkreten Entscheidungen und Handlungsmodellen kam, tauchten grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten auf – nicht bei den Mitgliedern von SODEPAX, wohl aber zwischen SODEPAX und dem Vatikan. Der Ausschuss wurde 1979 wegen der „Unterschiede in den Strukturen, Methodologien und ekklesiologischen Perspektiven der beiden Trägerorganisationen“ aufgelöst. Die römisch-katholische Weltkirche besitzt bei allen Herausforderungen eine lehramtlich relativ klare Position und auf globaler Ebene ihre eigenen Strategien und diplomatischen Nuntiaturen, während der ÖRK als eine Gemeinschaft von Kirchen die klare Position erst im Dialog erarbeiten muss und dann kein klares Mandat hat, für die Mitgliedskirchen autoritativ zu sprechen und zu handeln. Aus der Fülle der Programme und Projekte des ÖRK seien nur einige hervorgehoben, die auch in den deutschen Kirchen besonders aufgegriffen wurden: – das Antirassismusprogramm – die befreiungstheologischen Impulse – der Einsatz für Menschenrechte und der Interessenkonflikt zwischen individuellen und kollektiven Menschenrechten sowie zwischen reichen Ländern im Norden und armen Ländern im Süden

15 16

W. A. VISSER ’T HOOFT, Name, S. 107–118; H. BERKHOF, Endgültigkeit. K. R AISER, Ökumene, bes. S. 61–71.

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– – – – – – –

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die Probleme einer gerechten Weltwirtschaftsordnung die feministische Bewegung und Theologie der Kirchliche Entwicklungsdienst zwischenkirchliche Hilfe, Flüchtlings- und Weltdienst die Probleme von Technik und Ökologie aus ökumenischer Sicht Gewalt, Gewaltfreiheit und der Kampf um soziale Gerechtigkeit die Friedensethik

Mit zwei Beispielen seien die Grundsatzprobleme der ökumenischen Theologie und Sozialethik beleuchtet. 2.3 Das Antirassismus-Programm Das erste Aufsehen erregende Projekt des ÖRK nach Uppsala war das „Antirassismus-Programm“, vor allem die Einrichtung eines „Sonderfonds“ zur humanitären Unterstützung verschiedener politisch revolutionärer und teilweise gewaltbereiter Befreiungsbewegungen insbesondere im südlichen Afrika. Die Kluft zwischen verbaler Verurteilung des Rassismus und passiver Hinnahme der Unterdrückung sollte durch glaubwürdige Taten der Befreiung überwunden werden. Dazu gehörte auch der Boykott der Firmen, die mit dem weissen Apartheidsregime in Südafrika zusammenarbeiteten. Das Programm wurde ferner durch theologische Studienprojekte über die verschiedenen Formen von Rassismus in der Welt und durch die Förderung des Dialogs der Konfliktparteien realisiert. Mit großer Anteilnahme und Zustimmung, aber auch mit harscher Kritik und Ablehnung wurde das Programm beispielsweise in der EKD aufgenommen17. Die Vermischung von theologischen und politischen Positionen führte jeweils zu unterschiedlichem Verhalten. Die Vorbehalte gegen das Antirassismus-Programm waren nicht rassistisch begründet, sondern betrafen theologisch die Frage, ob es Aufgabe der Kirche sei, Befreiungsbewegungen zu unterstützen, die zu blutiger Gewalt bereit sind und ob sich solches Handeln wirklich mit einem christozentrischen Universalismus begründen lasse. Das Beispiel lenkt wieder zu der geschichtstheologischen Frage zurück, ob Gott in revolutionären Handlungen für mehr Gerechtigkeit am Werke ist und ob dabei die jeweilige Gesellschaftsanalyse und die Kriterien für gerechtes Handeln richtig sind, oder ob in solchen Konflikten schlicht mit Nächstenliebe und Vernunft eine adäquate Lösung gefunden werden soll.

17

Vgl. C. MEYERS-HERWATZ, Rezeption.

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2.4 Die Theologien der Befreiung Die revolutionären geschichtstheologischen Entwürfe beim ÖRK wurden bald nach Uppsala 1968 in der Terminologie verschiedener Theologien der „Befreiung“ aufgegriffen. Dazu gehören beispielsweise die feministische Theologie und die Black Theology. Die bekannteste und markanteste ist zweifellos die lateinamerikanischen Befreiungstheologie, die zwar vor allem von römisch-katholischen Theologen konzipiert wurde, aber intensiv (gegen den Protest der lateinamerikanischen Bischofskonferenz) mit zahlreichen Aktionen vom ÖRK initiiert und unterstützt wurde und insgesamt als Teil der ökumenischen Bewegung gelten kann18. Brisant war es, dass in Lateinamerika mit der theologischen Rezeption des politisch „links“ besetzten Begriffs „liberación“ diese Theologie von vornherein sich in die politischen und sozialen Kämpfe begab und Partei ergriff. Angesichts verschiedener soziologischer Analysen über die Ursachen des Elends in Lateinamerika gab es bald verschiedene Befreiungstheologien. Je nach „Dependenz- oder Opressionstheorie“ entstand eine „marxistisch-sozialistische“ oder eine mehr „sozialpopulistische“ Befreiungstheologie „aus der Praxis des Volkes“. Oder die Ursachen des Elends wurden weitaus vielschichtiger ausgemacht, so dass eine traditionelle „evangelisatorische“ Befreiungstheologie entwickelt wurde, die im Rahmen der katholischen Soziallehre auf Entwicklung und auf Integration zwischen Arm und Reich setzte – was von den ursprünglichen Theologen der Befreiung eben nicht Befreiungstheologie genannt und im Gegenteil heftig bekämpft wurde. Aufschlussreich für das Thema „Kirche und soziale Bewegungen“ ist hier folgende beiderseitige Relation: Sage mir welche Gesellschaftsanalyse du wählst, und ich sage dir, welche Theologie du hast. Und umgekehrt: Sage mir, welche Theologie du hast, und ich sage dir, welche Gesellschaftsanalyse du bevorzugst. Die „neue“ Befreiungstheologie verstand sich als eine Befreiung der Theologie vom Konzept, ewige Wahrheiten zu formulieren, die auf eine konkrete Situation angewendet werden sollen und im Rahmen einer harmonischen katholischen Sozial- und Entwicklungslehre den Armen einen angemessenen würdigen Platz in der Gesellschaft einräumen. Vielmehr sei Theologie eine kritische Reflexion der sozial und politisch befreienden Praxis: Das Evangelium für die Armen sei eine schlechte Nachricht für die Reichen. Die Christen und die Kirchen müssten im Befreiungskampf an der Seite der Unterdrückten stehen und mit ihnen kämpfen. Die Theologie entstehe aus der Praxis des Volkes, in der das integrale Heilswerk Gottes erfahren wird. 18

Vgl. ausführlich: R. FRIELING, Befreiungstheologien.

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Zwei Zitate verdeutlichen den hier begegnenden Paradigmenwechsel. Enrique Dussels Zuspitzung von „Wort Gottes“ lautete: „Die reale Epiphanie des Gotteswortes ist das Wort des Armen, der sagt: Ich habe Hunger.“19 Und Gustavo Gutiérrez sagte zur Befreiung von Abhängigkeit und Unterdrückung: „Die Teilnahme am Befreiungsprozess des Menschen ist schon in gewisser Weise Heilswerk.“20 Das römisch-katholische Lehramt in Rom würdigte zwar einige Aspekte der Befreiungstheologie, verurteilte sie aber schließlich in den achtziger Jahren als einseitig horizontalistisch und politisch und in den ekklesiologischen Konsequenzen als kirchenzerstörerisch21. Das Ganze von Kirche und Theologie mit dem neuen Paradigma „Befreiung von Abhängigkeit und Unterdrückung“ neu zu durchdenken und dabei auch die Kirche mit ihrer hierarchischen Struktur, ihrer Macht und ihrer politischen Verquickung mit Unterdrückungsregimen in die radikale Kritik mit einzubeziehen, sprengte offensichtlich das römisch-katholische System. Evangelische Befreiungstheologen in Lateinamerika wie die Methodisten José Miguez Bonino, Rubem Alves und Emilio Castro kamen beim Verhältnis von Rechtfertigung und Befreiung zu dem Ergebnis, dass beides eigentlich dasselbe meine, heute betone man jedoch deutlicher die geschichtliche und dynamische Dimension von Rechtfertigung und nicht nur die frühere individualistische Verengung. Ähnlich urteilten auch Gerhard Gloege und Heinz Eduard Tödt bei den Vollversammlungen des Lutherischen Weltbundes in Helsinki 1963 und Evian 1970. Gloege erklärte: „Die Rechtfertigung meint ursprünglich ein Menschheitsgeschehen […] ein Weltgeschehen, in dem Gott dem einzelnen wie der Menschheit im Rahmen der gesamten Schöpfung seine Gerechtigkeit widerfahren lassen will.“22 Konfessionskundlich ist folgendes zu beobachten: Im Ansatz der lutherischen Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben allein und nicht aufgrund der Werke wird traditionell nicht so vom integralen Heilswerk Gottes und vom Bauen des Reiches Gottes in der Geschichte gesprochen, wie es in der klassischen römisch-katholischen Theologie und in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie der Fall ist. Luthers Satz „Das Reich Gottes wird nicht bereitet, sondern es ist schon bereitet“23 spricht ja den politischen Entscheidungen jegliche Kausalität in Bezug auf den „Aufbau“ des Reiches Gottes ab und ermöglicht den Menschen und der Kirche nur eine „Ausbreitung“ des Gottesreiches gemäß der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre. 19

In: Concilium 10, 1970, S. 403. G. GUTIÉRREZ, Theologie, S. 71. 21 INSTRUKTION. 22 G. GLOEGE, Gnade, S. 76f. Ähnlich H.-E. TÖDT, Schöpferische Nachfolge. 23 WA 18, S. 94, als Auslegung von Mt. 25,34 in: De servo arbitrio von 1525. 20

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Lateinamerikanische Befreiungstheologen wie Juan Luis Segundo haben geurteilt, das Zweite Vatikanische Konzil sei in der Pastoralkonstitution mit der Rede von der „relativen Autonomie irdischer Wirklichkeiten“ auf die reformatorische Position eingeschwenkt; diese Konzeption mache aber die Kirche in Lateinamerika unfähig, im Kampf zwischen Unterdrückern und Befreiern politisch relevant zu handeln, während die Befreiungstheologie an ursprüngliche katholische Positionen anknüpfe. Was in der europäischen Kirche als neuzeitliche Befreiung vom voraufklärerischen Klerikalismus gefeiert werde, lähme die Kirche in Lateinamerika, im Befreiungskampf mit Gott an der Seite Partei zu ergreifen. Umgekehrt wurde tatsächlich von evangelisch-lutherischer Seite kritisch gefragt, ob die lateinamerikanische Befreiungstheologie nicht der Gefahr erliege, wieder in eine neue Art von Klerikalismus oder theologischem Hegemoniestreben zurückzufallen, diesmal mit linkem Vorzeichen. Im Raum der EKD wurden befreiungstheologische Ansätze vor allem bei ökumenisch sozial-politisch engagierten Aktionsgruppen rezipiert, während die Universitätstheologie sich auffallend zurückhielt. So genannte Dritte-Welt-Kreise, Gruppen um das Politische Nachtgebet mit Dorothee Sölle, der Schülerkreis von Jürgen Moltmann und manche Studienleiter Evangelischer Akademien bilden insgesamt eine Minderheit im Vergleich zu den Diskussionen, Rezeptionen und Protesten innerhalb der römisch-katholischen Kirche. Es war offensichtlich schwer, aus der speziell lateinamerikanischen befreiungstheologischen Kontexttheologie eine europäische oder deutsche „Befreiungstheologie für Reiche“ zu entwickeln. Manche Anliegen wurden freilich später im Rahmen des Konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung aufgegriffen. 2.5 „Evangelikale“ gegen „Ökumeniker“: Das Heil oder das Wohl der Welt? Zu den „Aufbrüchen“ von Uppsala 1968 gehört der dort begonnene Protest etlicher Missionstheologen und „Evangelikaler“, die sich seit 1970 in der Lausanner Bewegung sammelten und dem ÖRK mit seinen sozialethischen Aufbrüchen Häresie vorwarfen. In der Sektion II von Uppsala „Erneuerung in der Mission“ traf die traditionelle Definition der Mission als Verkündigung des rettenden Wortes von der Erlösung durch Christus auf das „moderne“ Verständnis der Mission, nämlich Gottes Handeln in der Welt zu erkennen24. Ziemlich unfruchtbare Kontroversen über falsche Alternativen wie „Heil oder Wohl“, „vertikal oder horizontal“, „Reich Gottes oder Weltgesellschaft“, „evangelikal oder ökumenisch“ füllten zwei Jahrzehnte lang nach Uppsala die

24

Vgl. BERICHT AUS UPPSALA, S. 38.

Die Aufbrüche von Uppsala 1968

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ökumenische Tagesordnung und lähmten häufig das eigentlich notwendige und mögliche gemeinsame Zeugnis und den gemeinsamen Dienst. Der theologische Streit über das Verhältnis von „Heil und sozialer Gerechtigkeit“ konnte freilich nie den „Sitz im Leben“ der Kontrahenten vertuschen: Das Heil wird offensichtlich von einem Menschen, der reich ist und an der wirtschaftlichen Macht partizipiert, anders erfahren als von einem Armen und Unterdrückten, der Gottes Liebe in der Umverteilung von Gütern und Macht erlebt. Erst die Weltmissionskonferenzen von Melbourne 1980 und San Antonio 1989 erbrachten den für die ökumenische Sozialethik bedeutsamen Konsens, dass Mission heute am Verhältnis der Kirchen zu den Armen gemessen werden muss. Wie die ökumenische Friedensdebatte und alle Probleme der Globalisierung in der Wirtschaft, der Technologie, der Genforschung und der Bewahrung der Schöpfung sich zu den genannten theologischen Ansätzen verhalten, gehört sicherlich auch zu den Aufbrüchen von Uppsala, kann jedoch hier nicht entfaltet werden. Inwiefern der Dialog und die Zusammenarbeit mit anderen Religionen und Weltanschauungsgruppen der ökumenischen Bewegung neue Impulse verleihen, ist ebenfalls ein eigenes Thema. Als ökumenischer Konsens bleibt das programmatische Wort des früheren ÖRK-Generalsekretärs W. A. Visser ’t Hofft: „Kein horizontaler Fortschritt ohne vertikale Orientierung!“25 Literaturverzeichnis A MSTERDAMER DOKUMENTE : Berichte und Reden auf der Weltkirchenkonferenz in Amsterdam 1948. Hg. von Focko Lüpsen. Bethel bei Bielefeld 1948. A PPELL an die Kirchen der Welt: Dokumente der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft. Hg. von Hanfried Krüger, Ökumenischer Rat der Kirchen. Stuttgart 1967. BERICHT AUS UPPSALA 1968. Offizieller Bericht über die 4. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen. Uppsala, 4.–20. Juli 1968. Hg. von Norman Goodall und Walter Müller-Römheld. Genf 1968. BERKHOF, Hendrikus: Die Endgültigkeit Jesu Christi. In: BERICHT AUS UPPSALA 1968, S. 320–329. DENZINGER, Heinrich/HÜNERMANN, Peter: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Freiburg/Br. 381999. DICKINSON, Richard D.: Richtschnur und Waage: die Kirchen und die sozialökonomische Entwicklung. Genf 1968. EINHEIT DER K IRCHE – Einheit der Menschheit. Studiendokument der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung. In: Ökumenische Rundschau 19, 1970, S. 82–104. UM EINHEIT UND HEIL DER MENSCHHEIT. Festschrift für Willem Adolf Visser ’t Hooft. Hg. von J. Robert Nelson und Wolfhart Pannenberg. Frankfurt/M. 1973. 25

EBD., S. 335.

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Reinhard Frieling

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Roland Spliesgart

Theologie und „Dritte Welt“

1. „Dritte Welt“: Begriff und Bewegung 1.1 Der „Dritte-Welt“-Begriff Der Begriff der „Dritten Welt“ ist ein historischer Begriff. Er stammt aus der Zeit des Kalten Krieges und bezeichnet all diejenigen Länder, die weder der „Ersten Welt“ des Kapitalismus noch der „Zweiten – kommunistischen – Welt“ angehörten. Die Rede von der „Dritten Welt“ verband sich mit der Debatte um den Nord-Süd-Konflikt und wurde seit etwa 1960 zum Ausgangspunkt aller Entwicklungstheorien. Seitdem verbreitete sich das Paradigma der „Dritten Welt“ in der politischen und ökonomischen Diskussion und wurde für die entsprechenden Entwicklungs(-hilfe)praktiken leitend. Sein Ende lässt sich mit dem Mauerfall und dem Zusammenbruch der politischen Großblöcke recht präzise bestimmen. Ulrich Menzel besiegelte spätestens 1992 das begriffliche „Ende der Dritten Welt“1. Als Ersatzbegriff konnte sich die Bezeichnung „die östlichen und die südlichen Länder“2 bislang allerdings noch nicht so sehr im allgemeinen Bewusstsein verankern wie ehemals die „Dritte Welt“. Stattdessen wurde inzwischen der Globalisierungsdiskurs bestimmend. Für die Menschen in den ehemaligen Zentren sind damit Fragen der eigenen Identität wieder stärker in den Mittelpunkt ihres Interesses gerückt. Im universitären Fächerkanon hatte sich die Entwicklungssoziologie als für Fragen der „Dritten Welt“ zuständige Wissenschaft – mit Namen wie Dieter Senghaas, Dieter Nohlen und Franz Nuscheler – etabliert. Die Annahme der strukturellen Einheit der „Dritten Welt“ wurde zum Ausgangspunkt zahlreicher Großtheorien. Die aus heutiger Sicht banal anmutende Erkenntnis ihrer Heterogenität hatte sich in der Forschung nur sehr mühsam seit etwa 1978 durchgesetzt3. Dabei umfasst „Dritte Welt“ ökonomisch ein Spektrum von Bangladesh und Mali bis hin zu Hongkong, Brasilien und Brunei. Politisch findet man 1

U. MENZEL, Ende. D. NOHLEN /P. WALDMANN (Hg.), Länder. Mit diesem Titel wurde der Paradigmenwechsel in der Forschung lexikalisch nachgeholt. Der 1987 erschienene Vorgängerband war noch dem „Dritte-Welt“Begriff verhaftet gewesen. Vgl. D. NOHLEN /P. WALDMANN (Hg.), Dritte Welt. 3 Vgl. D. NOHLEN /F. NUSCHELER, Dritte Welt. 2

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sowohl demokratische Systeme, westlich-liberal oder sozialistisch-kommunitaristisch orientiert, Hoffnungsträger wie Julius Nyerere und Fidel Castro, aber auch Diktatoren jedweder Coleur, von Augusto Pinochet in Chile über Mengistu Haile Mariam in Äthiopien und François „Papa Doc“ Duvalier in Haiti bis hin zu Pol Pot in Kambodscha. Religiös sind in der „Dritten Welt“ alle großen Weltreligionen – Islam, Christentum, Buddhismus, Konfuzianismus – sowie viele lokale religiöse Kulte beheimatet. 1.2 Die „Dritte-Welt“-Theorie Das Bewusstsein, zu einer eigenen, „Dritten Welt“ zu gehören, wurde erstmals 1961 von dem algerischen Psychologen Frantz Fanon in seinem Buch „Die Verdammten dieser Erde“ programmatisch formuliert. Der europäische Kolonialismus – so Fanon – habe nicht nur zu wirtschaftlichem Elend in den ehemaligen Kolonien geführt, sondern auch zu Rassenhass, Versklavung und Ausbeutung innerhalb der gesamten Menschheit. Die pathologischen Konsequenzen, die das „Beiseiteschieben von anderthalb Milliarden Menschen“4 – so viele Menschen umfasste die damalige „Dritte Welt“ – bewirkt habe, könnten nur dadurch gelöst werden, dass die Menschen in der „Dritten Welt“ sich selbst zum Subjekt ihrer Geschichte machten, indem sie „ein neues Denken entwickeln [und] einen neuen Menschen auf die Beine stellen.“5 In Lateinamerika wurde in den folgenden Jahren die zentrale Theorie für die Länder der „Dritten Welt“ formuliert, die deren „Unterentwicklung“ mit der „Abhängigkeit“ von der Ersten Welt erklärte6. Der argentinische Ökonom Raúl Prebisch hatte zunächst auf die ständige Verschlechterung der Austauschrelationen (Terms of Trade) für die Primärgüterproduzenten hingewiesen und daraus die Theorie des ungleichen Tausches entwickelt7. Zusammen mit einer wiederaufgelegten Imperalismustheorie und dem Modell struktureller Gewalt8, der die „abhängigen“ Länder mehr oder weniger hilflos ausgesetzt seien, entstand daraus die so genannte „Dependenztheorie“ – aufgrund ihrer lateinamerikanischen Herkunft auch kurz als Dependencia bezeichnet9. Deren Kernthese lautet,

4

F. FANON, Die Verdammten, S. 242. EBD. 6 Vgl. U. MENZEL, Ende, S. 103–108. 7 Vgl. R. PREBISCH, Zukunft. 8 Vgl. die Werke des Norwegers J. GALTUNG, Gewalt; sowie des Chilenen O. SUNKEL, Integration. 9 Weitere Klassiker der Dependenztheorie sind A. G. FRANK, Kapitalismus; sowie F. H. CARDOSO / E. FALLETO, Abhängigkeit. 5

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„dass in Lateinamerika die Jahrhunderte währende und auf den Beginn der spanischen Kolonisierung zurückgehende Einbindung in das sich ausbreitende kapitalistische Weltsystem nicht nur einen permanenten Ressourcenabfluss, sei es durch Plünderung oder ungleiche Handelsbeziehungen, bewirkt hat, der sich nach der Unabhängigkeit nahtlos fortsetzte, auch wenn die Akteure sich von Spanien über England auf die USA verlagert hatten, sondern auch, daß diese Beziehungen eine strukturelle Transformation im Innern dieser Gesellschaft herbeigeführt haben, die das System externer Ausbeutung und Abhängigkeit nach innen verlängert.“10

Es ist kein Zufall, dass die Dependenztheorie ausgerechnet in Lateinamerika entstanden war, denn die meisten Länder des Kontinents hatten zwar vor mehr als 150 Jahren ihre Unabhängigkeit erlangt, aber trotz Erfahrungen mit unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Konzepten – von einer Exportorientierung bis hin zu Binnenmarktstrategien – keine durchschlagenden Entwicklungserfolge erzielen können. In „Die offenen Adern Lateinamerikas“ stellte der Uruguayer Eduardo Galeano 1971 die Geschichte seines Kontinents nach dem Paradigma der Dependenz zusammenhängend dar11. Sein Buch, das in 18 Auflagen in deutscher Sprache erschien, wurde für alle Dritte-Welt-Interessierten und -Engagierten zu einem Klassiker12 . Die Dependencia als die zentrale Theorie für die „Dritte Welt“ war in der „Dritten Welt“ selbst entstanden. Ihre Vertreter forderten eine radikale Transformation des Internationalen Systems sowie innergesellschaftlicher Strukturen. In den folgenden zehn bis 15 Jahren wurde die Dependenztheorie weltweit rezipiert, und sie entwickelte sich in der Ersten Welt zu dem Alternativparadigma zur bis zu diesem Zeitpunkt vorherrschenden Modernisierungstheorie13. 1.3 „Dritte-Welt“-Bewegungen a) Die Dependenztheorie fand zunächst großen Widerhall bei allen emanzipatorischen Bewegungen in der „Dritten Welt“ selbst und wurde zur theoretischen Basis ihres eigenen Engagements. Drei Gruppen können hier unterschieden werden:

10

U. MENZEL, Ende, S. 106f. E. GALEANO, Adern. 12 In Mexiko erschien 1994 die 67. Auflage der spanischen Originalversion, in Deutschland brachte der Wuppertaler Hammer-Verlag 2005 die 18. Auflage auf den Markt. Die Zahlen belegen die hohe Verbreitung und Bedeutung des Werkes bis heute. 13 Den Versuch der Weiterentwicklung der Dependenztheorie stellt die Weltsystemtheorie von I. WALLERSTEIN, Modern World System, dar. Diese geht davon aus, dass die kapitalistische Akkumulation im Weltmaßstab auch unabhängig von einem politischen Zentrum und über die Grenzen vorhandener Nationalstaaten hinweg funktioniert. 11

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(1.) Befreiungsbewegungen im antikolonialen Kampf, (2.) soziale Bewegungen zugunsten von Demokratisierung, mehr Bürgerrechten und gesellschaftlichen Reformen, zu denen starke Gewerkschaftsbewegungen – wie etwa im Nordosten Brasiliens –, christdemokratische und sozialistische Gruppen sowie die Bewegung der „Volksbildung“ (educaçao popular) nach der Methode des Pädagogen Paulo Freire zählten, und (3.) die Widerstands- und Guerillagruppen im Kampf gegen autoritäre Regimes14. Ein zentraler Faktor der Plausibilisierung der Dependenztheorie waren die Militärregierungen, die sich seit 1964 in vielen Ländern Lateinamerikas – häufig mit Billigung und Unterstützung der USA – an die Macht geputscht hatten. Die Kubanische Revolution 1959 mit dem Sieg der Gruppe um Fidel Castro und Ernesto ,Che‘ Guevara über das Batista-Regime wurde demgegenüber zu einem wichtigen Symbol für den Freiheitskampf der sozialen Bewegungen. Deren Erfahrungen führten dazu, dass – besonders in Chile und darüber hinaus in weiten Teilen Lateinamerikas – „der Marxismus Teil der politischen Kultur des Volkes“15 wurde. b) Die Solidarität mit der „Dritten Welt“ war in der alten Bundesrepublik zunächst Sache der Linken gewesen. Sie stand im Zusammenhang der allgemeinen Autoritäts- und Gesellschaftskritik der Studentenbewegung, des Aufbruchs der Frankfurter Schule, der Kritik am (Neo-)Imperialismus der USA, wie er sich seinerzeit im Vietnamkrieg manifestierte, sowie der Begeisterung für den Sozialismus, besonders in seiner maoistischen Spielart; nicht zuletzt war auch die Suche nach einer gesellschaftlichen „Alternative“ von Bedeutung16. Rudi Dutschke selbst bezeichnete im Rückblick eine Demonstration am 18. Dezember 1964 gegen den Besuch des kongolesischen Ministerpräsidenten Moise Tschombé in Berlin als den Beginn der politischen Initiative der Studentenbewegung17. Der am eigenen Leib erfahrene Widerstand der Herrschenden hatte bei den Berliner Studenten zur Solidarisierung mit revolutionären Gruppen auf der ganzen Welt geführt. Die Freiheit Berlins – so ließe es sich überspitzt sagen – wurde also nicht zuletzt auch in Vietnam verteidigt. Von der politisierten Studentenschaft wurden zahlreiche „Dritte-Welt“-Gruppen gegründet sowie 1974 als zentrale Anlauf14 Einen eindrücklichen Einblick in die Hintergründe und Motive der am militanten Widerstand gegen die brasilianische Militärdiktatur beteiligten Personen gibt der Journalist Fernando Gabeira in seiner Darstellung der Entführung des amerikanischen Botschafters Charles Burke Elbrick im Jahr 1969. Vgl. F. GABEIRA, Guerilleros. 15 F. CASTILLO, Christen, S. 35. 16 Vgl. R. BAHRO, Alternative. 17 Vgl. K.-B. H ASSELMANN, Gemeinde.

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stelle der Bewegung das Informationszentrum Dritte Welt (IZ3W) in Freiburg. Wichtige Medien der Dritte-Welt-Bewegung waren die Freiburger Blätter des IZ3W, die Berliner Lateinamerika-Nachrichten, die Hamburger Entwicklungspolitische Korrespondenz und viele andere Zeitschriften. In den deutschen Kirchen kam es seit etwa 1970 zur Gründung von DritteWelt-Aktionsgruppen18. Damit gab es neben den offiziellen Hilfswerken „Brot für die Welt“ und „Misereor“ erstmals Initiativen von der kirchlichen Basis zugunsten von Menschen der „Dritten Welt“. Zur Verwirklichung gerechterer Handelsbeziehungen zwischen Erster und Dritter Welt wurde 1975 die Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt mbH (GEPA) gegründet. Einer ihrer Hauptgesellschafter war die Arbeitsgemeinschaft Kirchlicher Entwicklungsdienste (AGKED). Eine bislang kaum untersuchte Frage ist, inwieweit die studentische DritteWelt-Bewegung in dieser Zeit auch Einfluss auf den politisch weniger interessierten Teil der Jugend ausgeübt hat. Eine These wäre, dass der „Charme des Revolutionären“, der von der Bewegung ausging, in der Protesthaltung der Beatkultur gegen alles Bürgerliche eine Entsprechung fand und das Lebensgefühl der Jugend in den 1960er und 70er Jahren weithin mit bestimmte. Das Interesse für ferne Länder, das die Dritte-Welt-Bewegung reklamierte, wurde in der Popkultur in der Begeisterung für fremde Kulturen aufgenommen – wenn man etwa an die Indienreisen der Beatles und anderer Pop-Idole seit 1965 denkt. Vereinzelt engagierten sich Pop-Musiker auch zugunsten politischer Bewegungen oder der Opfer von Naturkatastrophen in der „Dritten Welt“ – wie im Concert for Bangla Desh, das auf Veranlassung des bengalischen Musikers Ravi Shankar und von George Harrison am 1. August 1971 in New York stattfand und eine große Aufmerksamkeit unter der Jugend erreichte. Insgesamt kann festgehalten werden, dass die internationale Solidarität in der alten Bundesrepublik einen enormen Aufschwung verzeichnete, so dass sie Anfang der 1990er Jahre – so der Journalist Bernd Pickert in der Berliner tageszeitung – „zum Standardrepertoire bundesdeutscher Demonstrationskultur“19 gezählt werden konnte. c) Solidaritätsbewegungen in der Zweiten Welt stellen insofern einen Spezialfall dar, als in den sozialistischen Ländern die Solidarität zugunsten der Bruderstaaten staatlich verordnet war. Dementsprechend verfolgte auch die kirchliche Aktion „Brot für die Welt“ in der DDR das Ziel der Förderung eines nichtkapitalistischen Entwicklungsweges und engagierte sich – trotz gegenteiliger 18 19

Vgl. B. RÜTHER, Caritas. B. PICKERT, Mittelpunkt.

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Bekundungen – entweder in sozialistischen Staaten (Angola, Haiti, Kuba) oder in Ländern, die man für den Sozialismus gewinnen wollte20. Umgekehrt waren Repräsentanten der politischen Bewegungen der „Dritten Welt“ häufig Verfechter staatssozialistischer Modelle und von daher gern gesehene Gäste in Staaten der Zweiten Welt. Indem Dritte-Welt-Vertreter häufig die Verhältnisse real existierender sozialistischer Staaten lobten, legitimierten sie zugleich deren Machthaber und desavouierten damit alle lokalen oppositionellen Kräfte.

2. Die Entstehung einer „Dritte Welt“-Theologie 2.1 Die Erklärung von 15 Bischöfen In einem 1967 veröffentlichten Plädoyer für die Dritte Welt bezogen sich 15 katholische Bischöfe erstmals positiv auf das Dritte-Welt-Paradigma sowie die Dependenztheorie. In ihrer Erklärung bezeichneten sie „[d]ie Völker der Dritten Welt … [als] das Proletariat der gegenwärtigen Menschheit“21, das zwischen den ersten beiden Welten stehe und von den Großen ausgebeutet werde. Zugleich forderten sie die „Armen“ auf, sich von ihrer Unterdrückung zu befreien. Den Christen schrieben sie die besondere Aufgabe zu, „zu zeigen, welches der wahre Sozialismus ist, nämlich das Christentum im umfassenden Sinne, in der gerechten Teilung aller Güter und fundamentaler Gleichheit“22 . Dabei gebrauchten die 15 Bischöfe, von denen acht aus Lateinamerika stammten, eine marxistische Terminologie. Sie verdammten den „Imperialismus des Geldes“23 und forderten eine Bekehrung aus dem Evangelium als „die erste und radikalste Revolution“24.

20

Vgl. S. K RÜGEL, Dienst. Vgl. Plädoyer für die Dritte Welt. Erklärung von fünfzehn katholischen Bischöfen. Erstmals veröffentlicht in: Témoignage Chrétien No. 1208, 31.8.1967. Zitiert nach: T. R ENDTORFF /H. E. TÖDT (Hg.), Theologie, S. 157–163, hier S. 157. Die Erklärung war unterzeichnet von: Erzbischof Dom Helder Pessoa Camara, Erzbischof Da Mota e Albuquerque, Auxiliaire G. Fernandes, Bischof Antônio Batista Fragoso, Bischof Manuel Pereira da Costa, Bischof Aguiar, Bischof Francisco Austregesilo de Mesquita (Brasilien), Apostolischer Vikar Cuniberti (Kolumbien), Bischof Mercier (Algerien), Bischof Darmancier (Ozeanien), Apostolischer Vikar Hubert (Ägypten), Bischof Franic (Jugoslawien), Bischof Haddad (Libanon), Bischof Melchebeke (China), Bischof Loosdregt (Laos). 22 EBD., S. 161. 23 EBD., S. 159. 24 EBD., S. 158. 21

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2.2 Christliche Befreiungspraxis Das bischöfliche Plädoyer für die Dritte Welt stand unter dem Einfluss des II. Vatikanums und war in erster Linie Ausdruck des Meinungsbildungsprozesses der – seit 1955 in einer eigenen Generalkonferenz organisierten – lateinamerikanischen Bischöfe25. Deren Radikalisierung war Ergebnis der Erfahrungen in ihren Diözesen, v. a. des Engagements der Christen in den Arbeiter- und Jugendbewegungen. Letztere vermochten es, weite Teile der Jugend unter der Obhut der Kirche zu organisieren26. Der argentinische Historiker und Philosoph Enrique Dussel gelangt daher zu dem Urteil, dass sich „im Ausgang der [militanten] Praxis dieser Gruppen, und ihrer Theorie, […] der bedeutendste theologische Bruch der lateinamerikanischen Geschichte seit dem 15. Jh. […] vollzieht.“27 Nachdem die Christen in der Politik zunächst große Hoffnungen auf den christdemokratischen Weg gesetzt hatten, wandten sich breite Teile der Bewegung nach dem Scheitern der christdemokratischen Regierung unter Eduardo Frei in Chile dem Vorbild der kubanischen Revolution zu. Große Erwartungen setzte man auf die sozialistische Regierung unter Salvador Allende in Chile, die 1970 an die Macht gekommen war. Nicht zuletzt hatte sich auch Fidel Castro 1971 bei einem Besuch in Chile für eine strategische Allianz von Christen und Marxisten ausgesprochen28. Eine wichtige Leitfigur der christlichen Bewegung Lateinamerikas war der kolumbianische Priester und Sozialwissenschaftler Camilo Torres (1929–1966). Dieser hatte 1965 sein geistliches Amt aufgegeben, um an die Seite der Guerilla zu wechseln, da er dort bessere Möglichkeiten zur Verwirklichung seiner christlichen Berufung sah. Am 15. Februar 1966 wurde Torres ermordet und damit zu einem Märtyrer der Bewegung. 1965 hatte er sein militantes Engagement als Folge recht verstandener christlicher Praxis beschrieben: „Ich habe die Rechte und Pflichten eines Geistlichen zurückgelassen, aber ich habe nicht die Priesterschaft verlassen. Ich glaube, daß ich mich der Revolution aus Liebe zu meinem Nächsten verschrieben habe. Ich werde keine Messen lesen. Aber ich werde diese Liebe zu meinem Nächsten in zeitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Bereichen 25 Vgl. J. O. BEOZZO, Konzil. Beozzo vertritt hier die These, dass die lateinamerikanischen Bischöfe auf ihrer II. Generalversammlung in Medellín die Impulse des Zweiten Vatikanums zwar treu, aber zugleich kreativ, selektiv und eigenständig rezipierten und sie damit der lateinamerikanischen Wirklichkeit anpassten. Besonders in der Frage der revolutionären Gewalt gelangten die Bischöfe Lateinamerikas zu originären Lösungen. 26 Dementsprechend einflussreich waren in Brasilien die „Katholische Arbeiterjugend“ JOC (Juventude operária católica), die „Katholische Schülerjugend“ JEC (Juventude estudantil católica) und die „Katholische Studentenjugend“ JUC (Juventude universitária católica). 27 E. DUSSEL, Teologia da Libertação (Übersetzung R.S.). 28 Vgl. F. CASTRO, Habla Fidel Castro.

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verwirklichen. Wenn mein Nächster nichts wider mich hat, wenn ich die Revolution verwirklicht habe, dann werde ich wieder die Heilige Messe lesen. So glaube ich dem Gebot zu gehorchen: ‚Wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfere deine Gabe‘“.29

Die Tradition des militanten Aktivismus wurde von der Bewegung „Christen für den Sozialismus“ (Cristianos por el socialismo) seit 1971 fortgesetzt, zunächst in Chile und später in ganz Lateinamerika. Das Engagement linker kirchlicher Gruppen hatte nicht zuletzt auch eine Beeinflussung traditioneller Milieus zur Folge, vor allem, nachdem es seit Ende der 1960er Jahre zu Inhaftierungen und schließlich zu Ermordungen von Priestern kam. Eine weitere – reformistisch gesinnte – Gruppierung mit hoher Wirkung in die Kirchen hinein war die „Bewegung für Basiserziehung“ (Movimento de Educação de Base), die 1961 gegründet worden war. Unter der theoretischen Führung des brasilianischen Pädagogen Paulo Freire strebte man eine „Erziehung als Praxis der Freiheit“30 an. In zahllosen konkreten Projekten, zunächst im Nordosten Brasiliens und später in Chile31, betrieb man eine politische Bewusstseinsbildung des „Volkes“ – d. h. der Massen – im Ausgang ihrer eigenen (Volks-)Kultur. Die hier praktizierte Methode des „Sehens, Urteilens, Handelns“ (ver, julgar, agir) stellte nicht zuletzt einen wichtigen Impuls für den befreiungstheologischen Aufbruch dar. 2.3 Die Formulierung der Befreiungstheologie Das Dritte-Welt-Paradigma wurde schließlich zu einem wesentlichen Element aller akademischen Befreiungstheologien. So begann die 1968 in Princeton von dem brasilianischen Presbyterianer Rubem Alves mit dem Titel „Towards a Theology of Liberation“ eingereichte Dissertation mit einer Erörterung des Bewusstseins der Menschen in der „Dritten Welt“ als „Welt-Proletariat“32 . Ziel sei eine umfassende Befreiung, die mit der Kritikfähigkeit der Menschen beginnen und in ihrer „Freiheit, sich Geschichte selbst zu erschaffen“33, münden sollte. 29

Camilo Torres, zitiert nach: G. C. CÁRDENAS, Christen, S. 144. Vgl. P. FREIRE, Erziehung. Freire war Professor für Geschichte und Theorie der Pädagogik an der Universität Recife (Brasilien). 31 Nachdem sich 1964 in Brasilien die Regierung Medici an die Macht geputscht hatte, wurde Paulo Freire verhaftet und nach Chile ausgewiesen, wo er eine neue Wirkungsstätte fand. 32 R. A LVES, Theology of Human Hope, S. 6 (Übersetzung R.S.). Aufgrund besserer Vermarktungschancen – und unter dem Einfluss Jürgen Moltmanns – hatte man die Arbeit schließlich unter diesem Titel veröffentlicht. 33 EBD., S. 12 (Übersetzung R.S.). 30

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Gustavo Gutiérrez brachte 1972 in seiner „Theologie der Befreiung“ die Dependenztheorie zur Erklärung der Situation sowie der Option der lateinamerikanischen Kirchen explizit in Anschlag34. Damit folgte er dem Prinzip, wonach die Praxis den Ausgangspunkt der Theologiebildung abgeben müsse. Einen Schritt weiter ging Hugo Assmann 1973 in „Teología desde la praxis de la liberación“. Er verstand die Befreiungstheologie ebenfalls als „kritische Reflexion im Ausgang […] der befreienden Praxis“35, forderte jedoch zugleich deren Einordnung in einen konkreten historischen Prozess, dessen Beurteilung allein Aufgabe der Sozialwissenschaften sein könne. Das Verhältnis von Theorie und Praxis, Theologie und Sozialwissenschaften, beschreibt Assman folgendermaßen: „Man könnte sagen, dass die ‚Befreiungstheologie‘ […] sich nicht nur als der ‚zweite Akt‘ in Bezug auf den ‚ersten Akt‘ der Praxis versteht, sondern auch als das ‚zweite Wort‘ in Bezug auf das ‚erste Wort‘ der Sozialwissenschaften. Dies sollte auf keinen Fall als Totalitätsanspruch der Theologie interpretiert werden, so als ob diese sich das ‚letzte Wort‘ anmaßte.“36

Insgesamt bekamen mit der Rezeption der Dependenztheorie und ihrer Forderungen die Soziologie und die Ökonomie einen hohen Stellenwert für die Theologie. Dies war Ausdruck des Sachverhaltes, dass sich die christlichen Gruppierungen als integraler Teil der politischen Bewegungen Lateinamerikas verstanden. 2.4 Die ökumenische Vereinigung der „Dritte-Welt“-Theologen Parallel zur Entwicklung der Befreiungstheologien in Lateinamerika waren in Asien und Afrika eigene theologische Ansätze entstanden. Das Dritte-WeltParadigma und die Annahme, als Welt-Proletariat vereint zu sein, lieferte den Anstoß zur Gründung der „Ökumenischen Vereinigung von Dritte-Welt-Theologen“ EATWOT (Ecumenical Association of Third World Theologians) auf ihrer ersten Konferenz 1976 in Daressalam37. Die dort versammelten Theologen forderten einen Paradigmenwechsel. Sie kritisierten die „europäische Theologie“ als imperialistisch, da diese „durch Verhüllung der Partikularität des Theologie produzierenden Subjektes und seines Standpunktes“38 Herrschaft ausübe. Im Sinne des dependenztheoretischen „Plädoyers für Dissoziation“39 forderten sie 34

Vgl. G. GUTIÉRREZ, Theologie, S. 74–84. H. A SSMANN, Teología, S. 50 (Übersetzung R.S.). Vgl. auch H. A SSMANN, Situation. 36 H. A SSMANN, Teología, S. 50 (Übersetzung R.S.). 37 Vgl. A. CAMPS, Ökumenische Vereinigung. 38 F. CASTILLO, Theologie, S. 30. 39 Vgl. D. SENGHAAS, Weltwirtschaftsordnung. 35

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die Entwicklung kontextueller Theologien mit dem gemeinsamen Ziel einer Befreiung der „Armen“ der „Dritten Welt“ von konkreter Unterdrückung. Damit war der Ansatz lateinamerikanischer (Befreiungs-)Theologen für die Positionen von EATWOT – in ihrer Anfangsphase – bestimmend. Bereits auf den folgenden Konferenzen – 1977 in Accra, 1979 in Colombo und 1980 in São Paulo – wurden jedoch die Differenzen unter den „Dritte-Welt-Theologen“ evident. Während die Lateinamerikaner auf ihrem dogmatischen Klassenstandpunkt beharrten, standen für afrikanische und asiatische Theologen Fragen ihrer eigenen kulturellen Identität sowie der Beziehungen zu anderen Religionen im Vordergrund. Der Konflikt zeigt zugleich ein Grundproblem aller Befreiungstheologien an: während sie einerseits auf der Partikularität ihres Kontextes bestanden, vertraten sie andererseits vehement universale Verhaltensmuster und Positionen.

3. Dialog von Theologen der „Ersten“ und der „Dritten Welt“ Obgleich EATWOT den Bruch mit „europäischer Theologie“ programmatisch forderte, gab es – auf katholischer wie auf protestantischer Seite – stets Kommunikationsspezialisten, die den Dialog zwischen Erster und Dritter Welt vorantrieben. Einer, der die Vermittlung zwischen den Welten mit seiner gesamten Person verkörperte, war der katholische Theologe Ivan Illich. Geboren in Wien, wirkte er nach Studium und Priesterweihe in Rom zunächst in den Slums von New York, bevor er 1960 in Cuernavaca (Mexiko) das „Interkulturelle Dokumentationszentrum“ CIDOC (Centro intercultural de documentación) gründete. Hier sollten im Zuge der Bewegung „Priester für die Dritte Welt“ entsandte Geistliche für ihre Aufgaben in Lateinamerika sensibilisiert werden40. Mit seiner Kultur- und Zivilisationskritik übte Illich nachhaltige Wirkung auf Theologen der „Ersten“ wie der „Dritten Welt“ aus41. Von den in katholischen Diözesen Lateinamerikas wirkenden Priestern stellten sich viele an die Spitze von Befreiungsbewegungen und trugen zur internationalen Verbreitung ihrer Anliegen bei. Beispielhaft genannt werden können in diesem Zusammenhang der Spanier Pedro Casaldaliga, der Österreicher Erwin Kräutler und der Deutsche Paulo Süß, die in Brasilien wirkten und stets eine große Ausstrahlungskraft auf die Dritte-Welt-Bewegung in Europa besaßen.

40 41

Vgl. I. ILLICH, Kehrseite; E. DUSSEL, Geschichte, S. 324f. Vgl. I. ILLICH, Almosen; DERS., Fortschrittsmythen.

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Auf protestantischer Seite hatte Richard Shaull sein Engagement in Lateinamerika als Missionar begonnen. Später wurde er mit seiner „Theologie der Revolution“ zu einem wichtigen Impulsgeber für die Befreiungstheologie und zu einem weltweiten Boten für deren Anliegen42 . Der Berliner Ökonom Franz Hinkelammert hingegen war in Lateinamerika vorwiegend akademisch tätig – zunächst in Chile und später in Costa Rica43. Mit seinen Werken, allen voran „Die ideologischen Waffen des Todes. Zur Metaphysik des Kapitalismus“ wurde er zu einem wichtigen Theoretiker der lateinamerikanischen Linken und ihrer europäischen Sympathisanten44. Umgekehrt hielten sich viele Theologen der „Dritten Welt“ in der „Ersten Welt“ auf, vorwiegend in Europa. Viele von ihnen hatten hier – angesichts der Repressionen in ihren Heimatländern – politisches Asyl erhalten45. Bedeutende Werke von Dritte-Welt-Theologen entstanden somit an Universitäten in Europa. Die Befreiungstheologie etwa wurde theoretisch zu weiten Teilen im Exil formuliert46. Als Orte der Kommunikation von Erster und Dritter Welt etablierten sich bestimmte theologische Lehrstühle und Fakultäten, wie Löwen und Münster auf katholischer sowie Tübingen und Heidelberg auf protestantischer Seite. Des Weiteren fanden fruchtbare Dialoge innerhalb der katholischen Orden sowie internationaler Bewegungen wie „Christen für den Sozialismus“47 statt.

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Vgl. R. SHAULL, Befreiung. Hinkelammert, 1960 an der FU Berlin zum Dr.rer.pol. promoviert, war von 1963 bis 1973 Professor an der Universidad Católica de Chile, seit 1976 ist er in Mittelamerika (Honduras und Costa Rica) tätig, zuletzt auch als Mitarbeiter am Ökumenischen Forschungsinstitut DEI in San José de Costa Rica. 44 F. HINKELAMMERT, Waffen. Zuvor hatte er „Dialética del desarrollo desigiual“ (Santiago de Chile 1970) und weitere Standardwerke verfasst. 45 Neben dem bereits zitierten Rubem Alves hatten auch seine Landsleute Hugo Assmann und José Comblin Brasilien, Gonzalo Arroyo und Franz Hinkelammert Chile sowie Enrique Dussel Argentinien verlassen müssen – um nur einige prominente Namen zu nennen. Der reformierte Brasilianer Zwinglio Dias ist ein typischer protestantischer Exulant: Auf der Flucht vor den Repressionen der brasilianischen Militärs verfasste er Anfang der 1970er Jahre an der Missionsakademie Hamburg eine Dissertation zu dem Thema „Krisen und Aufgaben des brasilianischen Protestantismus: Eine Studie zu den sozialgeschichtlichen Bedeutungen und volkspädagogischen Möglichkeiten der Evangelisation“ (veröffentlicht: Frankfurt 1978) und wurde so zu einem wichtigen Impulsgeber und Gesprächspartner der ökumenischen Bewegung. 46 Vgl. E. DUSSEL, Teologia, S. 79–91. 47 Vgl. G. GIRARDI, Christen. 43

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4. Die Rezeption des „Dritte-Welt“-Paradigmas in Deutschland Blickt man aus heutiger Sicht auf die Debatten um die „Dritte Welt“ und deren Rezeption durch die Theologie zurück, so lässt sich festhalten: 4.1 Engagement der Basis Die Dritte-Welt-Solidaritätsbewegung erfuhr eine überaus breite Rezeption durch die christliche Basis. In vielen Kirchengemeinden begannen Christen sich in vielfältiger Weise zugunsten von Menschen der „Dritten Welt“ zu engagieren – und viele von ihnen setzen dies bis heute fort. Christen fuhren, einzeln oder in Gruppen, in Länder der „Dritten Welt“, um sich zu informieren oder um konkrete Arbeitseinsätze an der Seite oder für „die Armen“ zu leisten. An den evangelisch-theologischen Fakultäten gründeten Studenten seit den 1970er Jahren einschlägige (entwicklungspolitische, „Dritte Welt“-, Lateinamerika- u. ä.) Arbeitskreise. Zahlreiche Studienaufenthalte deutscher Theologiestudierender an Hochschulen in Ländern der „Dritten Welt“ wurden vom Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK), dem Lutherischen Weltbund (LWB), dem Evangelischen Studienwerk Villigst und anderen Organisationen gefördert. Der „Andrang“ war zum Teil so groß, dass in den 1980er Jahren an der Theologischen Hochschule EST (Escola Superior de Teologia) der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien IECLB (Igreja Evangélica de Confissão Luterana no Brasil) in São Leopoldo über eine Beschränkung für Studierende aus der Ersten Welt diskutiert wurde. 4.2 Strukturelle Kompatibilität Der klassenkämpferische Impetus der Dritte-Welt-Theologen fand in den Zentren zunächst bei denjenigen Theologen Anklang, die selbst die Auswüchse der modernen Industriegesellschaft kritisierten und ihr ein eschatologisches Reich des Friedens und der Gerechtigkeit entgegensetzten, das sie in der Gegenwart verwirklicht wissen wollten. Strukturell wies die Befreiungstheologie eine hohe Kompatibilität zur Theologie der Revolution auf 48. So hatte die Gruppe um Richard Shaull eine Imperialismuskritik aus den Erfahrungen in den USA formuliert, und sie strebte nach dem – maoistischen – Modell der permanenten Revolution die Verwirklichung einer gerechteren Welt-Gesellschaft an49. Die 48 Zum Dialog von Theologie der Revolution und Theologie der Befreiung vgl. die Beiträge in: E. FEIL / R. WETH (Hg.), Diskussion. 49 Vgl. H. E. TÖDT, Erwägungen.

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Genfer „Weltstudienkonferenz für Kirche und Gesellschaft“ hatte im Sommer 1966 zur Frage der Revolution getagt, da diese das „meistverhandelte Thema auf annähernd allen Kontinenten“50 und damit zentral für die weltweite protestantische Ökumene war. Die Beiträge in dem von Trutz Rendtorff und Heinz Eduard Tödt herausgegebenen Band dokumentieren die Bemühungen um einen kritischen und zugleich konstruktiven Dialog zwischen Erster und Dritter Welt Ende der 1960er Jahre51. Daneben waren die Politische Theologie, mit Johann Baptist Metz, Norbert Greinacher und Jürgen Moltmann, sowie die Bewegung Christen für den Sozialismus, mit Dorothee Sölle und dem Münsteraner Kreis um Kuno Füssel, wichtige Dialogpartner der Dritte-Welt-Theologen. Darüber hinaus nahmen einzelne Sozialethiker konkrete Forderungen zur Überwindung ökonomischer Dependenz auf, wie etwa Ulrich Duchrow in seinem programmatischen Buch „Weltwirtschaft heute – Ein Feld für bekennende Kirche?“52 . 4.3 Kritische Auseinandersetzung Bei der Mehrheit der akademischen Theologen überwog eine kritische Haltung gegenüber den Befreiungs-Theologien. Wolfhart Pannenberg machte als Haupteinwand geltend, dass jene einen historischen Prozess menschlicher Selbstbefreiung postulieren und mit „vagen Analogien zur soteriologischen Sprache des Christentums“53 zu legitimieren suchten. Dabei werde die nötige Differenz von Endgültigem und Vorläufigem zugunsten der Durchsetzung der Interessen „vermeintlich unterdrückter[r] Teile der Gesellschaft“54 aufgehoben. Eine die Ansprüche der Dritte-Welt-Vertreter legitimierende „Theorie der Gerechtigkeit“ fehle hingegen, sodass deren Forderungen lediglich autoritär aus einer marxistischen Gesellschaftsanalyse abgeleitet würden. De facto mache der befreiungstheologische Diskurs „die christliche Sprache und den christlichen Glauben anderen Anliegen dienstbar […], deren Infragestellung [andererseits] nicht zugelassen wird.“55 Die Position Pannenbergs, vorgetragen 1979 auf einer Tagung in Tutzing zu dem Thema „Theologie in der Dritten Welt – eine Herausforderung für die europäischen Christen“, zeigt zweierlei: Die hohen politischen Forderungen der 50 T. R ENDTORFF /H. E. TÖDT, Vorwort, in: T. R ENDTORFF /H. E. TÖDT (Hg.), Revolution, S. 7ff., hier S. 7. 51 Vgl. T. R ENDTORFF /H. E. TÖDT (Hg.), Revolution. 52 Vgl. U. DUCHROW, Weltwirtschaft. 53 W. PANNENBERG, Heiligung, S. 103. 54 EBD., S. 82. 55 EBD., S. 103.

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Dritte-Welt-Theologen waren theoretisch im Weltmaßstab nur schwer zu begründen, und sie scheiterten praktisch oftmals an ihrer Umsetzung – denkt man etwa an die Differenzierungen innerhalb von Befreiungsbewegungen selbst sowie die zahllosen Widersprüche bei den Realisierungsversuchen ihrer politischen Ideen. Andererseits wurde die fundamentale Kritik europäischer Theologen weder der besonderen Situation noch der Aufbruchstimmung der christlichen Bewegung in der „Dritten Welt“ gerecht. 4.4 Selbstimmunisierung Die Kritik in Europa sowie die politischen Entwicklungen führten seit dem Ende der 1970er Jahre in der Dritte-Welt-Bewegung zu Tendenzen, die mit dem Begriff der Selbstimmunisierung charakterisiert werden können: (1.) Viele EATWOT-Theologen gingen in ihrer Forderung der Abkopplung von Europa so weit, dass sie alle Anfragen europäischer Theologen per se als „Herrschaftstheologie“56 ablehnten und selbst Ansätze mit kompatiblen Anliegen wie die Politische Theologie als zu akademisch und europäisch sowie als der revolutionären Spiritualität des Volkes nicht angemessen kritisierten57. (2.) Nachdem man Ende der 1960er Jahre den Gebrauch der Sozialwissenschaften als ersten Schritt gefordert und die Dependenztheorie zur Grundlage der theologischen Reflexion herangezogen hatte, nahm man den Fortschritt der Entwicklungssoziologie seit Ende der 1970er Jahre kaum noch wahr. Stattdessen wiederholte man alte Argumente. Daher kam es (3.) in der westlichen Dritte-Welt-Bewegung – so das Urteil des Soziologen Ulrich Menzel – allmählich zu einem „Mißverhältnis zwischen theoretischem Anspruch und tatsächlichem Kenntnis- und Erkenntnisstand“58. Besonders für „die so verdienstvolle kirchliche Arbeit“59 konstatiert Menzel eine radikale Mythenbildung sowie die Projektion sozialutopischer und romantischer Vorstellungen auf fremde Kulturen und Gesellschaften, sofern diese nur „die richtige Rhetorik zu bieten haben.“60

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E. DUSSEL, Theologien, S. 80. Vgl. E. DUSSEL, Teologia, S. 66–70. Ansätze zu einer unversöhnlichen Haltung hatten sich bereit 1973 bei Hugo Assman gezeigt, der J. Moltmann und J. B. Metz die „Unfähigkeit, sich an der realen Praxis auszurichten“ (H. A SSMANN, Teologia, S. 44 [Übersetzung R.S.]) und eine zu vage soziopolitische Analyse der Realität vorgeworfen hatte. 58 U. MENZEL, Ende, S. 47. 59 EBD. 60 EBD., S. 55. Vgl. auch den wichtigen Aufsatz von R. PELTZER, Befreiungsmythen. 57

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4.5 Wachsendes Verständnis Gleichwohl, und das muss als positives Ergebnis der Debatten um die „Dritte Welt“ in der Theologie festgehalten werden, hat das Wissen um zahlreiche Aspekte in den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas beträchtlich zugenommen. Ein wichtiger Faktor in Deutschland waren die vielen Dissertations- und Habilitationsarbeiten zu Themen der „Dritten Welt“. So ist es heute unmöglich, eine „Global Map“ des Christentums ohne die vielfältigen Varianten in Afrika, Asien und Lateinamerika zu zeichnen. Eine positive und breite Rezeption von Dritte-Welt-Theologien – dies sei an dieser Stelle nur angedeutet – erfolgte innerhalb der exegetischen Fächer.

5. Ergebnisse, Fragen und Forschungsperspektiven Die Dritte-Welt-Bewegung entstand zunächst in der „Dritten Welt“ selbst und wurde in Lateinamerika mit der Dependenztheorie durch ein entscheidendes Paradigma angereichert. In Europa wurde die Dritte-Welt-Theorie durch die Disziplin der Entwicklungssoziologie weiterentwickelt. Während akademische Theologen das Dritte-Welt-Thema nur vereinzelt bearbeiteten, fand es in der Praxis der Solidaritätsbewegung studentischer und kirchlicher Kreise überaus großen Anklang. Nach dem definitiven „Ende der Dritten Welt“61 wandten sich viele Theologen, die der Dritte-Welt-Bewegung nahe gestanden waren, neuen Themen aus den Bereichen der Kultur, der Ökologie sowie der Spiritualität zu62 . Damit folgten sie den – globalen – Trends des „Cultural Turn“ und des „antiglobalen Partikularismus“63. An dieser Stelle kann die Vermutung geäußert werden, dass einige von ihnen auch eine mehr oder weniger große Enttäuschung darüber verspürten, dass all die Versuche der Errichtung alternativer Gesellschaftsmodelle, für die sie sich lange Zeit eingesetzt hatten, letzten Endes kläglich gescheitert 61

U. MENZEL, Ende. Ein prominentes Beispiel ist der brasilianische Franziskaner Leonardo Boff. Nachdem zunächst die Befreiung des lateinamerikanischen Volkes Anliegen seiner zahlreichen theologischen Werke war, rückte er seit den 1980er Jahren zunehmend die Spiritualität des Individuums in das Zentrum seiner Betrachtung. Vgl. L. BOFF, Leben; DERS., Rand; DERS., Adler; DERS., Logik. Eine ähnliche Verschiebung der Gewichtung von Politik und Spiritualität lässt sich bei Dorothea Sölle feststellen. Nach ihrem Engagement für den Sozialismus, im Besonderen in Nicaragua, publizierte sie nach dessen Scheitern eher zu individuellen Themen. Vgl. D. SÖLLE, Grün; DIES., Eis. Gleichwohl blieb bei beiden Autoren die politische Dimension präsent, jedoch gingen sie zu kollektiven, autoritären Lösungsmodellen auf Distanz. 63 D. DIEDERICHSEN, Gläubigkeit. 62

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waren. Beispielhaft dafür ist Nicaragua, auf dessen sandinistische Revolutionsregierung man große Hoffnungen gesetzt hatte, die aber spätestens 1990 scheiterte. Mit der Rückbesinnung auf Kultur und Spiritualität rückten nicht zuletzt wieder Fragen der eigenen Identität in den Mittelpunkt des Interesses der Theologen in den ehemaligen Zentren und lösten das Engagement für „die Anderen“ in entfernten Welten ab. Dieser Wandel war wohl auch eine Folge der Phänomene, die mit dem Begriff der Globalisierung beschrieben werden und nun die Menschen in Europa zu verunsichern begannen. Da der Dritte-Welt-Begriff aus heutiger Sicht eine abgeschlossene Phase markiert, scheint es möglich und zugleich ein wichtiges und heilsames Unterfangen, eine kritische Aufarbeitung der Dritte-Welt-Bewegung zu betreiben. Einige Fragestellungen möchte ich im Folgenden kurz skizzieren: (1.) Bei der bundesdeutschen Dritte-Welt-Bewegung scheint mir eine Untersuchung der Motivationen von „Dritte-Welt-Bewegten“ lohnend zu sein, ihrer Herkunft und der verschiedenen Einflüsse auf sie: War es schlicht und einfach „en vogue“, sich für die „Dritte Welt“ zu engagieren oder spielten möglicherweise spezifische Faktoren – etwa eine kirchliche Sozialisation – eine besondere Rolle? Darüber hinaus wäre nach konkreten Erfahrungen von Engagierten der Ersten Welt in Ländern der „Dritten Welt“, ihrer persönlichen Verarbeitung und möglichen Rückwirkungen auf das Verhalten in der eigenen Gesellschaft zu fragen: Wurden die eigenen Bilder in Bezug auf Dritte-Welt-Gesellschaften durch Aufenthalte dort eher bestätigt – nach dem Motto „jeder findet genau das, wonach er gerade sucht“ – oder führten die Begegnungen mit fremden Realitäten möglicherweise zu einer Revision von eigenen Vorurteilen und Weltbildern? Wie wurde etwa die Begeisterung für den Sozialismus, wie sie in vielen Bewegungen der „Dritten Welt“ anzutreffen war, angesichts der Verhältnisse in den real existierenden sozialistischen Staaten, die räumlich sehr viel näher lagen, verarbeitet bzw. wurde ein möglicher Widerspruch überhaupt zur Kenntnis genommen? (2.) Ein weiterer Fragestrang könnte die Rezeption entwicklungssoziologischer Erkenntnisse durch Theologen und kirchliche Aktivisten betreffen. Die einschlägigen Publikationsorgane sowie Konferenzdokumente wären hier eine reiche Quelle. Wie wurde der Austausch von Entwicklungssoziologen, Theologen und engagierten Gemeindegliedern geführt? Wer hatte die Initiative und wann ließ der Dialog nach? Welche Folgen hatten die theoretisch gewonnenen Erkenntnisse für die Praxis in den Dritte-Welt-Gruppen? (3.) In Bezug auf die ehemalige DDR wäre die kirchliche Solidaritätsbewegung ein überaus interessantes Forschungsfeld. Welche Konsequenzen hatte die staat-

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liche Bürokratie für einen konkreten Austausch mit Partnern in der „Dritten Welt“? Gab es neben einem Engagement, das den Vorgaben der offiziellen „Solidaritätspolitik“ entsprach, auch eine unabhängige Dritte-Welt-Bewegung? Und wie wurde schließlich in systemkritischen Kreisen die offizielle Solidarität mit oppositionellen Kräften der „Dritten Welt“ empfunden und verarbeitet? Die Fragestellungen dürften an vielen Stellen ein qualitatives empirisches Vorgehen erfordern. (4.) Die sozialen Bewegungen der „östlichen und südlichen Länder“ selbst bieten unbegrenzte Möglichkeiten der Forschung, die durch die Kooperation mit lokalen Wissenschaftlern und Akteuren interessante Perspektiven gewinnen könnten. Mögliche Fragen betreffen die Rolle der Christen in politischen Prozessen, die Spannungen zwischen hohen Idealen und oftmals ernüchternder Wirklichkeit64 sowie die Herkunft und Entwicklung christlich-politischer Utopien. Aber auch das Engagement von Personen und Gruppen aus den Zentren für Befreiungsund soziale Bewegungen in der „Dritten Welt“ könnte Gegenstand kritischer Fragen sein: Entstanden vielleicht an manchen Orten nur deshalb Projekte und Ideen, weil es ein entsprechendes „Angebot“ in der internationalen SolidaritätsSzene gab, das wiederum eine entsprechende Anpassung auf der „Nachfrageseite“ evozierte? (5.) Schließlich wären die zahllosen Fälle des Einflusses so genannter „DritteWelt-Phänomene“ in den Zentren selbst in den Blick zu nehmen. Dazu zählt die Verbreitung von Ideen ebenso wie Einwanderung von Menschen der Peripherien in die Zentren. Ein überaus interessantes Gebiet ist die Ausbreitung außereuropäischer Kirchen und Religionen in Europa 65, die eine überaus hohe Attraktivität nicht nur für Migranten, sondern auch für viele Europäer besitzen und ein in allen Orten rasant wachsendes Phänomen darstellen. Hier könnte der Kontakt mit bereits bestehenden Forschergruppen in Deutschland gesucht werden.

64 Vgl. die eigene Studie zur Realisierung der Kollektiv-Idee in Landreformprojekten, die nicht zuletzt mit breiter Unterstützung der befreiungstheologisch inspirierten Sektoren der Kirchen entstanden waren: R. SPLIESGART, Kollektive. 65 Dabei handelt es sich um die verschiedensten Formen von Kirchen und religiösen Gruppierungen, angefangen von unabhängigen afrikanischen Kirchen wie der Celestial Church of Christ, neopentekostalen Kirchen aus Lateinamerika wie der Igreja Universal do Reino de Deus bis hin zu spiritistischen Gruppen und afrolateinamerikanischen Kulten. Vgl. F. W. GRAF, Flecken.

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6. Zuletzt: – Ein Plädoyer Neben der kritischen Aufarbeitung der Rolle von Christen in politischen Prozessen und damit der Mythen der internationalen Solidaritätsbewegung scheint mir die Forderung nach mehr Lokalstudien in „ehemaligen Dritte-Welt-Ländern“ selbst zentral zu sein. Sie ist in dem immer noch sehr mangelhaften Wissen über die Traditionen und das Funktionieren der Gesellschaften in den Ländern des Südens und des Ostens begründet. Deren weltweite Relevanz erweist sich heute unter anderem in den als Fundamentalismus und internationaler Terrorismus bezeichneten Phänomenen. Längst kann aber auch auf anderen Gebieten eine Globalisierung regionaler, ethnischer Identitäten wahrgenommen werden, wie die bereits angesprochene Verbreitung von Religionen und Kulturen der Peripherien in den Zentren zeigt. Lokalstudien können einerseits kulturelle und religiöse, aber auch ökonomische Besonderheiten aufzeigen, andererseits deren Bedeutung im Kontext politischer Großtheorien diskutieren66. Dabei wäre es lohnend, den – sicher nicht einfacher gewordenen – Dialog von Theologen und Entwicklungssoziologen wieder aufzunehmen. Hier böte sich der Theologie die Chance, „das bestehende konzeptionelle Vakuum zu füllen“67, das derzeit im Blick auf alternative Entwicklungswege besteht. Gerade Theologen sollten in der Lage sein, „neue und differenzierte Denkansätze“68 zu formulieren, die weder das dependenztheoretische Credo wiederholen noch der vorherrschenden Meinung folgen, wonach allein der kapitalistische Markt für die effizienteste Allokation von Ressourcen sorge. Damit könnte nicht zuletzt dem Anliegen ehemaliger Dritte-Welt-Theologen, die Fragen von Freiheit und Gerechtigkeit im internationalen Maßstab konzeptionell weiterzuentwickeln, zu neuer Geltung verholfen werden. All dies zeigt: Die Thematik der „Dritten Welt“ ist in sozialgeschichtlicher Perspektive überaus interessant und im Blick auf aktuelle gesellschaftliche Debatten relevant. Die Theologie, die in den 1960er und 70er Jahren zahlreiche und zum Teil sehr kompetente „Dritte Welt-Experten“ hervorgebracht hat, wäre in der heutigen Situation gut beraten, dieses Feld nicht „fremden Mächten und Gestalten“ zu überlassen.

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Vgl. die dementsprechende Forderung von U. MENZEL, Ende, S. 223f. J. MEYER-STAMER, Mythen, S. 882. 68 EBD. 67

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Institutionen und Personen

Harald Schroeter-Wittke

Der Deutsche Evangelische Kirchentag in den 1960er und 70er Jahren – eine soziale Bewegung?

1. Jüngst erst hat der Protestantismus den deutschen Rekord für die größte Versammlung von Christen in Deutschland an den Katholizismus abgetreten. Denn erst der Weltjugendtag 2005 in Köln mit seiner Heiligkeit Benedikt XVI. vermochte mit ca. 1 Millionen Menschen auf dem Marienfeld mehr Christen an einem Ort zu versammeln als vormals der Protestantismus mit seinen Kirchentagsschlussversammlungen in den 1950er Jahren1. Der Höhepunkt solcher massenhafter Kirchentagserfahrungen war in jeglicher Hinsicht der 6. Deutsche 1 Zur Kirchentagsgeschichte vgl. neben den dicken Dokumente- und Berichtsbänden zu den einzelnen Kirchentagen, die seit 1951 erscheinen, R. RUNGE /M. K ÄSSMANN, Kirche. Zur Einteilung der Kirchentagsgeschichte in mindestens vier Phasen vgl. W. HUBER, Streit, sowie P. STEINACKER, Kirchentage. Zur 1. Kirchentagsphase vgl. H. SCHROETER, Kirchentag, sowie D. PALM, Brüder. Palm weist nach, wie der Kirchentag erst durch die gesamtdeutsche Frage, die er gegen den Willen seiner Veranstalter auf sich zog, zu der großen Öffentlichkeitswirksamkeit kam, die ihm seitdem eigen ist. Palms Arbeit bringt dankenswerterweise das Archiv- und Quellenmaterial zur Geltung, was mir seinerzeit nicht zugänglich war. Jedoch weist seine Arbeit zwei fundamentale methodische Fehler auf: 1. In seiner Darstellung des Anliegens des Kirchentagsgründers Reinold von Thadden-Trieglaff, welches er für den Kirchentag als Organisation und Institution zurecht für wesentlich hält, kommt eine verkürzte volksmissionarische Sichtweise zur Geltung, die sich z. B. darin äußert, dass Palm wesentliche Publikationen Thadden-Trieglaffs nicht berücksichtigt und auch nicht auf die Kirchentagskonzeption bezieht; vgl. dazu H. SCHROETER-WITTKE, Thadden-Trieglaff, Reinold von. Während Palms Literaturverzeichnis mit fünf Titeln Thadden-Trieglaffs auskommt, umfasst meine Bibliographie Thadden-Trieglaffs allein 12 Seiten. 2. Palm bringt die Erlebnisdimension der Institution Kirchentag nicht zur Geltung. In seinen Kirchentagskonzeptionen gibt es nur die drei Richtungen „volksmissionarisch“, „akademisch-problemorientiert“ und „politisch-symbolhaft“. Es fehlt also das, was alle bisherigen Kirchentagstheoretiker mit seinem das Erlebnis von Kirchentag zur Geltung bringenden liturgisch-festlichen Standbein erörtern, welches auch seine Bibelarbeiten und Gottesdienste umfasst. Damit verfehlt Palm das, was Kirchentag auszeichnet, fundamental. Für Palm ist nur das historisch, was in Archiven lagert, alles andere ist Praktische Theologie (17). So verdrängt Palm die Laien als Subjekte des Kirchentags und der Praktischen Theologie; vgl. dazu H. LUTHER, Religion, bes. S. 9–20. Die besten Quellen für das Erlebnis Kirchentag aber sind die journalistischen Berichte und Kommentare, da es deren Aufgabe ist, Stimmungen zur Sprache zu bringen. Palm kritisiert genau diese Quellenauswahl in meiner Arbeit als historisch nicht sachgerecht. Wenn aber der Gegenstand der historischen Untersuchung wie auch in diesem Falle, eine Bewegung ist, so spielt dieses flüchtige Etwas, die Stimmung, in der eine Bewegung je und je Gestalt gewinnt, eine sehr entscheidende Rolle. Ich halte daher auch für die folgende Fragestellung die journalistischen Quellen für historisch adäquates Material. Denn dadurch wird ansatzweise das wahrgenommen, was in den Kulturwissenschaften seit einiger Zeit forschungsmethodisch durch den performative turn wissenschaftlich ausgewiesen ist; vgl. dazu H. SCHROETER-WITTKE, Performance.

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Evangelische Kirchentag in Leipzig vom 7.–11. Juli 1954, dessen Schlussveranstaltung 650.000 Menschen live miterlebten. Nicht umsonst hieß sie Hauptversammlung2 . Dieser Leipziger Kirchentag war in vielfacher Hinsicht Höhepunkt der 1. Kirchentagsphase und des Kirchentagserlebnisses überhaupt. Fast alle, die von ihrer Faszination durch den Kirchentag in jener Zeit berichten, geben diesen Kirchentag als ihr Kirchentagserlebnis schlechthin an. Dieses Erlebnis setzt sich aus vielen Elementen zusammen, die allesamt – popkulturell gesprochen – Event-Charakter haben: – die Semiotik einer durch Kirchentagsfahnen und andere Zeichen im öffentlichen Raum in Beschlag genommenen Stadt, die offiziell einen atheistischen Charakter hat; – das christliche Singen und Musizieren in Straßenbahnen, Bussen, Zügen und auf Plätzen; – eine durch die Losung provozierte Fröhlichkeit und Hoffnung, die die Sehnsüchte nach der deutschen Einheit auf eine Weise zur Geltung brachte, die man im Nachhinein als imaginär und realitätsfern ansehen muss; – das Erlebnis einer nichtfanatischen, friedlichen und freiwillig anwesenden riesigen Menschenmasse während der Schlussversammlung, die durch himmlische Regie ein besonderes Highlight bekam: Während dieser Kirchentag insgesamt völlig verregnet war, riss der Himmel während der Hauptversammlung auf und tauchte die Menschenmenge in strahlenden Sonnenschein. Der Leipziger Kirchentag war, was die Zahlen angeht, beileibe keine Eintagsfliege. Während die Dauerteilnehmendenzahlen in den 1950er Jahren zwischen 40.000 und 70.000 Menschen lagen, war die Hauptversammlung schon in Essen 1950 mit 180.000 Menschen besucht, in Berlin 1951 und in Stuttgart 1952 mit 200.000 Menschen, in Hamburg 1953 mit 350.000 Menschen, in Leipzig 1954 mit 650.000 Menschen, in Frankfurt 1956 mit 600.000 Menschen und in München 1959 mit 350.000 Menschen. Schon der Berliner Kirchentag kurz vor dem Mauerbau 1961 zeigt hier eine Tendenzwende. Mit 42.900 Dauerteilnehmenden ist er im bisherigen Rahmen, aber seine Hauptversammlung besuchen nur noch 82.000 Menschen. Dortmund 1963 sieht es wieder anders aus: Nur noch 14.500 Dauerteilnehmende, dafür aber wieder 350.000 Menschen bei der Hauptversammlung, wobei 500.000 Menschen erwartet wurden. Eine solch hohe Zahl wurde im weiteren Verlauf der Kirchentagsgeschichte auch im Ansatz nie wieder erreicht, wenn man von den 200.000 Menschen beim Schlussgottesdienst des ÖKT in Berlin 2003 einmal absieht.

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Zur Geschichte und Theologie der Schlussveranstaltungen vgl. H. SCHROETER, Massenliturgie.

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Diese Zahlen sind für die Interpretation des Kirchentags der 1960er und 70er Jahre als Voraussetzung wichtig. Denn es stellt sich die Frage, ob und inwiefern der Kirchentag in dieser Zeit überhaupt als eine soziale Bewegung verstanden werden kann. Denn gerade in den 1960er und 70er Jahren macht der Kirchentag eine starke innere und äußere Wandlung durch, die mir für die Frage nach kirchlichen sozialen Bewegungen von großem Interesse zu sein scheint. Meine These lautet: Während der Kirchentag in den 1950er Jahren und seit den 80er Jahren wieder sich als soziale Bewegung des Protestantismus etabliert, muss für die 60er und 70er Jahre hinter diese Etikettierung ein dickes Fragezeichen gesetzt werden. Allerdings vollzieht sich in diesen 20 Jahren innerhalb der Institution Kirchentag der Wechsel von einer Sozialen Bewegung zu einer Neuen sozialen Bewegung3. Wie „die Studentenbewegung eine Art Brücke“ darstellt zwischen der „Arbeiterbewegung als der klassischen ‚alten‘ sozialen Bewegung“4 und den sog. Neuen sozialen Bewegungen, die sich in den 1960er Jahren abzuzeichnen und zu etablieren beginnen, so scheint mir der Kirchentag die protestantische Institution zu sein, die eine Brücke baut zwischen den alten und den neuen sozialen Bewegungen. Der Kirchentag vermittelt aber nicht nur zwischen diesen beiden sozialen Bewegungen innerhalb der evangelischen Kirche, sondern auch zwischen den kirchlichen und weltlichen Spielarten dieser Bewegungen. Damit gehört der Kirchentag zu den nicht sehr zahlreichen Institutionen, die es geschafft haben, die Anliegen einer Neuen sozialen Bewegung auf Dauer zu stellen. 2. Die 1960er und 70er Jahre sind für den Kirchentag durch zwei tiefgreifende Einschnitte gekennzeichnet, die ihn jeweils in seiner Struktur und im Teilnehmendenverhalten radikal verändern. Der 1. große Einschnitt ist der Bau der Berliner Mauer 5. Was sich schon nach dem Leipziger Kirchentag 1954 andeutete und mit dem abgesagten 8. Deutschen Evangelischen Kirchentag Erfurt 19576 deutlich zutage trat, wurde nach dem Mauerbau Gewissheit: Der Kirchentag

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Vgl. H. SCHROETER, Ecclesia. D. RUCHT, Neue soziale Bewegungen. 5 Der damalige EKD-Ratsvorsitzende Präses Kurt Scharf berichtete, dass der Berliner Kirchentag vom 19.–23. Juli 1961 indirekt dafür hatte sorgen können, dass die DDR-Regierung ihren Zeitplan für den Mauerbau verschieben musste, was aber von Palm bestritten wird (D. PALM, Brüder, S. 301). Der Mauerbau am 13. August 1961 geschah am 70. Geburtstag des Kirchentagsgründers Reinold von Thadden-Trieglaff (1891–1976). 6 Statt eines großen Kirchentages fanden unter der Kirchentagslosung „Der Herr ist Gott, der Herr ist Gott“ 17 Landeskirchentage statt, die mit einem Herbsttreffen vom 25.–27. Oktober und einem deutschlandweit gefeierten Kirchentagssonntag am 27. Oktober 1957 abgeschlossen wurden; vgl. dazu D. PALM, Brüder, S. 247–267. 4

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hatte seine ihm zugewachsene gesamtdeutsche Klammerfunktion verloren. Die Kirchentage in Ost und West gingen nun getrennte Wege. Die Entwicklung der ostdeutschen Kirchentage würde im Zusammenhang der Frage nach sozialen Bewegungen eine eigenständige Untersuchung erfordern, die mit sehr anderen Fragen und zeitgeschichtlichen Kontexten zu tun hat7, weshalb ich mich im Folgenden auf die Kirchentagsgeschichte der BRD in den 1960er und 70er Jahren beschränke. Der westdeutsche Kirchentag hatte nach dem Mauerbau zwei Themen verstärkt auf seiner Tagesordnung: zum einen alles das, was mit den Stichworten Kirchenreform8 und moderner Theologie angesprochen ist9 und zum anderen das Reflektieren einer pluralistisch gewordenen demokratischen Gesellschaft, der die Kirche nicht mehr gegenüber treten konnte, sondern als deren Teil sie sich zu verstehen hatte. Sinnenfällig wird dieser Paradigmenwechsel an der neuartigen Losung des 11. Deutschen Evangelischen Kirchentages Dortmund 1963, die nicht mehr ein Bibelzitat darstellte, sondern eine eigenformulierte Zeitansage: „Mit Konflikten leben“. Zwar kamen noch einmal 350.000 Menschen zur Hauptversammlung, aber es waren nur noch 14.500 Dauerteilnehmende zu verzeichnen. Die gewandelte gesellschaftliche Atmosphäre, in der der Kirchentag sich nun zu bewähren hatte, wird deutlich in einem Spiegel-Interview vom 22. Juli 1963 kurz vor dem Kirchentag mit dem Präses der gastgebenden Evangelische Kirche von Westfalen, Ernst Wilm, unter der Überschrift „Kirchentag mit Peter Frankenfeld?“ Der Spiegel insistiert mit seinen Fragen auf der Vermutung, dass der Kirchentag v. a. nach innen wirke und daher ein Treffen von Insidern mit geringer Außenwirkung sei. Er kritisiert die hohen öffentlichen Zuschüsse für diese größte und teuerste Massenveranstaltung des Jahres und fragt, warum dort mit Peter Frankenfeld, dem Schlagersänger Ralf Bendix sowie mit Kabarett, Film, Theater, Dichterlesung und Buntem Abend „professionelle Spaßmacher“ auftreten müssen und ein „kirchlicher Jahrmarkt“ Einzug hält (S. 25). Statt „Mit Konflikten leben“ müsse die Losung für die Kirche realistischerweise heißen: 7

Vgl. dazu O. SCHRÖDER /H.-D. PETER, Vertrauen, sowie P. BEIER, Gemeinde. Vgl. dazu R. VON THADDEN, Sechziger Jahre. Von Thadden war einer der Protagonisten der Kirchenreformdiskussion und führte damit ein zentrales Anliegen seines Vaters weiter; vgl. dazu WARUM KAM SO WENIG HERAUS ? 9 Die Spannweite reicht hier von der Auseinandersetzung mit der Bekenntnisbewegung um die Bedeutung der modernen Theologie, als deren Symbolfigur der Name Rudolf Bultmann galt, auf der einen Seite bis hin zu den Fragen einer progressiven Theologie, als deren Symbolfigur Dorothee Sölle avanciert, auf der anderen Seite. Aber auch die Einrichtung einer ständigen Arbeitsgemeinschaft „Juden und Christen“ ist in diesem Zusammenhang wegweisend; vgl. dazu G. K AMMERER, Haare. Schließlich gehören in dieses Kapitel aber auch blinde Flecken wie z. B. die merkwürdig geringe Rezeption in den 1960er und 70er Jahren von bestimmten Fragen und Formaten, die durch die Frauen theologisch und kirchlich gestellt wurden; vgl. dazu E. GODEL, Gegenreden, bes. S. 187–193. 8

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„Mit Illusionen leben“ (S. 24). Noch im gedruckten Text lässt sich erspüren, wie Präses Wilm bisweilen die Spucke wegbleibt ob solch kritischer Fragen, die ihm links und rechts um die Ohren fliegen und wie er mit seiner Kirchensprache auf verlorenem Posten10 steht. Auf die Frage des Spiegels, ob die Kirche mit diesem Kirchentag ihre eigenen Konflikte nicht eher verdecke, antwortet Wilm: „Über das, was Sie in Ihrer nüchternen Sprache ‚Konflikt‘ nennen und was ich als die tiefe, fast unbeschreibliche Not unserer Kirche bezeichnen möchte, wird in Dortmund gesprochen werden, ganz sicher.“ (S. 24) Ein solche Kirchensprache verfängt Mitte der 1960er Jahre nicht mehr. Die 1960er Jahre markieren mit ihren Losungsstichworten „Konflikte, Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit“ Themenstellungen, die auch explizit gesellschaftspolitisch gelesen werden können: Dortmund 1963: „Mit Konflikten leben“, Köln 1965: „In der Freiheit bestehen“, Hannover 1967: „Der Frieden ist unter uns“, Stuttgart 1969: „Hungern nach Gerechtigkeit“. Gleichzeitig ändern sich die Arbeitsweisen des Kirchentags weg von dem „Frontalunterricht“, wie er in Kundgebungen und Vortragsveranstaltungen vorherrschend war, hin zu unterhaltenderen11 Arbeitsformen wie Podiumsdiskussionen, Beratungsangeboten und bunten Abenden. In den 1960er Jahren bleibt die Dauerteilnehmendenzahl konstant gering bei ca. 15.000, während die Hauptversammlungszahlen kontinuierlich auf 40.000 1967 und 1969 sinken. Konsequenterweise heißt die Schlussveranstaltung 1969 auch nicht mehr Haupt-, sondern Schlussversammlung. Das zentrale Geschehen des Kirchentags verlagert sich zunehmend auf das Ereignis der drei Arbeitstage. Der Wechsel im Präsidentenamt 1964 vom über 70jährigen Gründer Reinold von Thadden-Trieglaff auf den weitgehend unbekannten Mittvierziger Richard von Weizsäcker wird überall als Modernisierungsschub verstanden. Über den Kölner Kirchentag 1965 konstatiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung:

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Reinold von Thadden-Trieglaff hatte seine Erfahrungen mit und in der Nazi-Zeit noch unter dieser Überschrift publizieren können: R. VON THADDEN, Auf verlorenem Posten? Diese Schrift ist bislang wissenschaftlich noch nicht ausgewertet in Bezug auf die Stimmungen, Atmosphären und Mentalitäten, die sie im Zusammenhang der Geschehnisse des Kirchenkampfs aus Laiensicht beschreibt. Von Thadden, von Hause aus Jurist, war an fast allen wesentlichen Entscheidungen des Kirchenkampfes beteiligt. Er war Vorsitzender der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung und Präses der pommerschen Bekenntnissynode. Er hat schon 1934 in Barmen die Laienfrage stark gemacht, war 1936 einer der drei Unterzeichner der Denkschrift an Hitler und gehörte zu den Befürwortern des kirchlichen Einigungswerkes von Theophil Wurm. Von Anfang an hielt er die theologischen Flügelkämpfe der Bekennenden Kirche für völlig unsachgemäß, weil sie den Auftrag der Kirche in der Welt behinderten. 11 Zur Unterhaltung als theologischer Kategorie, die das Ernährende, das Kommunikative und den Spaß miteinander vereint, vgl. H. SCHROETER-WITTKE, Unterhaltung.

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„Der 12. Deutsche Evangelische Kirchentag in Köln hat die Probe bestanden, besser, als es zu hoffen war. Den neuen Weg kennzeichnen Selbstbesinnung, harte geistige Arbeit, Verzicht auf Pathos. Viele evangelische Christen sind bereit, diesen Weg mitzugehen. Das beweisen die großen Zahlen beim Kölner Kirchentag. Es war ein sich erneuernder Kirchentag in einer sich erneuernden Kirche. Der Eindruck dieses Kirchentages ist Nüchternheit, Kraft, Optimismus und geradezu rührender Bildungswille. Das alles ist neu.“12

Auch Die Zeit charakterisierte Köln als „Kirchentag des Dialogs“, der „keine ‚geistliche Mustermesse‘“ gewesen sei, sondern bemüht war, „den ‚Staub von der Bibel‘ zu blasen“13. Dem Kirchentag Hannover 1967 wird bescheinigt, dass er der gelungenste Kirchentag der neuen Phase nach 1961 gewesen sei. Gleichzeitig macht sich Kritik an einer zunehmenden Erlebnisarmut und an dem nun vorherrschenden Diskurskonzept des Kirchentags breit. Es wird gefordert: „Der Kirchentag darf nicht das Abitur voraussetzen.“14 In Stuttgart 1969 schließlich zeigt sich für viele Beobachter die innere Zerrissenheit des Protestantismus. „Die fünf heißen Tage“ von Stuttgart sind „kein christliches Heimattreffen, sondern ein Kirchentag der Kontroverse, der harten Auseinandersetzung“15 : Auf der einen Seite die Kontroversen mit der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“16, die schon für Hannover 1967 zum Kirchentagsboykott aufgerufen hatte und in Stuttgart die Arbeitsgruppe „Streit um Jesus“ zu ihrem Forum machten. Auf der anderen Seite die basisdemokratisch orientierten Kräfte innerhalb von Theologie und Kirche, die die Arbeitsgruppe „Demokratie“ zu ihrer Bühne machten. Ein nicht geplanter Go-In zweier Gruppen aus beiden Lagern während der Schlussversammlung macht die Zerreißprobe deutlich, in der der Kirchentag sich nun befindet. Die Gemeinde – oder sollte es besser heißen: das Publikum? – reagiert nach einiger Zeit auf beide Statements mit Pfiffen. Was für die Beobachter auseinanderliegt, weil es nicht zusammen passen kann und darf, scheint für die Kirchentagsteilnehmenden aber doch zusammen zu gehören. Der Kirchentag ist – von seinen Anfängen bis heute – eine undurchsichtige

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Zit. n. SIEGENER ZEITUNG vom 31.8.1965, S. 2. D. STROTHMANN, Staub. 14 J. DENNERT, Frieden. Eine interessante Hintergrundinformation für diese Entwicklung ist die, dass der Kirchentag 1967 aufgrund der angespannten öffentlichen Haushalte mit erheblichen finanziellen Einsparungen zu Recht kommen musste, die insbesondere den kulturellen Bereich betrafen. Hier zeigte der Kirchentag 1967 keine Eigeninitiative mehr, sondern überließ die Planung kultureller Veranstaltungen den kirchlichen, gesellschaftlichen Kräften und Institutionen der gastgebenden Region; vgl. dazu K. L. TANK, Pausenzeichen. 15 G. GESCHKE, Tage. 16 Die Auseinandersetzungen dieser protestantischen Bewegung mit dem Kirchentag sind gut dokumentiert bei B. A FFELD /L. VON PADBERG, Kirchentag. 13

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Gemengelage für die unterschiedlichsten Mixturen des nicht unexplosiven Gemischs von Frömmigkeit und Politik. 3. In dieser gesellschaftlich heißen Phase Ende der 1960er Jahre setzt der Kirchentag nun mit seinem Zweijahresrhythmus einmal aus und findet erst 1973 wieder statt. 1971 kommt es zum Ökumenischen Pfingsttreffen, welches im Aufbruchsgeist des II. Vaticanums beschlossen worden war, aber nun 1971 in eine Phase der Erkaltung fällt, die sich auch auf die ökumenischen Beziehungen auswirkt. Das nur zweitägige Treffen wurde vorwiegend von Delegierten besucht. Die Diskussionslinien waren deutlich vorgezeichnet, für Gegenpapiere gab es weder Raum noch Zeit. Augsburg statt Frankfurt als Tagungsort war natürlich der ökumenegeschichtlichen Bedeutsamkeit dieses Ortes geschuldet, bot andererseits aber auch nur wenig Infrastruktur für eine Protest- und Demonstrationskultur, wie sie auf dem Katholikentag 1968 in Essen und auf dem Kirchentag in Stuttgart 1969 zutage getreten war. Insgesamt nahmen von den 22 katholischen Bischöfen und 20 evangelischen Kirchenleitern nur 4 Bischöfe an diesem Treffen teil, und auch wichtige politische Prominenz wie der bayrische Ministerpräsident Goppel hielten sich fern. So titelte Die Zeit: „Die Augsburger Konfusion. Das erste Treffen von Katholiken und Protestanten war kein Pfingstwunder.“17 4. Mit Augsburg hatte sich der Kirchentag ins Abseits der gesellschaftlichen Interesselosigkeit manövriert, welches sich nun auf seinem Tief- und zugleich Erneuerungspunkt in Düsseldorf 1973 überdeutlich zeigte. In Düsseldorf gab es nur noch 7.500 Dauerteilnehmende. Sogar die Gegenveranstaltung zum Kirchentag, der „Gemeindetag unter dem Wort“, bot nun mehr Teilnehmende auf. Und auch die Schlussversammlung war mit nur 24.000 Teilnehmenden für Kirchentagsverhältnisse sehr rar besucht. Gleichwohl wurden auf diesem Kirchentag zwei Veranstaltungstypen neu kreiert, die den Kirchentag grundlegend veränderten und dafür sorgten, dass er im kirchlichen Bereich zu einem Aufnahmebecken für das wurde, was in der Soziologie als Neue soziale Bewegungen bezeichnet wird: Dies war zum einen das Kommunikations- und Informationszentrum, das es in Düsseldorf zum erstenmal gab und das ab Frankfurt 1975 „Markt der Möglichkeiten“ hieß. Auf diesem Markt konnten sich Gruppen darstellen, die 17

D. STROTHMANN, Konfussion. Vor diesem Hintergrund wäre zu fragen, warum der 1. ÖKT in Berlin 2003 zu einem derartigen Erfolg werden konnte, obwohl er streckenweise unter ähnlichen Ausgangs- und Strukturbedingungen geplant worden ist wie das Ökumenische Pfingsttreffen Augsburg 1971.

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etwas zur Kirchentagsthematik beizutragen hatten. Mit dem Markt der Möglichkeiten wurde ein Instrument der Partizipation und der Darstellung für die Kirchentagsteilnehmenden geschaffen, der sich immer weiter entwickelte und mittlerweile seit über 30 Jahren ein Herzstück des Kirchentagsgeschehens darstellt. Der Kirchentag wird zur Messe. Der Kirchentag wird zur Messe – dieser Satz gilt aber seit Düsseldorf auch in einem liturgischen, wenngleich nicht hochliturgischen Sinn. Denn mit der Liturgischen Nacht18, die 1973 zum erstenmal stattfand und die von 4.000 Menschen, also über der Hälfte der Dauerteilnehmenden besucht wurde, etablierte sich nach den liturgischen Experimenten auf den Kirchentagen der 1960er Jahre19 eine Form der Lebendigen Liturgie20, die alle Sinne und den ganzen Körper ansprach. Für die Protestanten am eindrucksvollsten und ungewöhnlichsten war hierbei der Liturgische Tanz21, wie sich an dem Bonmot zeigt, das dem damaligen Kirchentagspräsidenten Heinz Zahrnt zugesprochen wird, dass man sich das Reich Gottes letztendlich aber nicht ertanzen könne. Die Liturgische Nacht knüpfte z. B. an das Politische Nachtgebet an, welches im Rheinland entstanden war, und bot damit eine Form und ein Forum für all diejenigen Frömmigkeitsformen, die sich befreiungstheologischen Impulsen verdankten. Beide Formate erreichen in der ersten Hälfte der 1980er Jahre ihren Höhepunkt: Die Friedensdemonstrationen der 1980er Jahre im Rahmen des NATODoppelbeschlusses sowie die Aktionen im Rahmen des Konziliaren Prozesses spiegeln die politische Dimension dieser Frömmigkeitsform Kirchentag, die Etablierung des Feierabendmahls in Nürnberg 1979 sowie die Einführung des Abendmahls im seit Hannover 1983 so genannten Schlussgottesdienst zeigen die aszetische Dimension dieser Bewegung, die sich seitdem unter dem Begriff Lebendige Liturgie ausbreitet und für vielfältige liturgische und hymnologische Innovationen im deutschen Protestantismus gesorgt hat. Alle empirischen Untersuchungen der 1980er Jahre zeigen dies als stabile Erwartung der Kirchentagsteilnehmenden, dass Politik und Frömmigkeit zusammen gehören und zusammen gehören sollen22 .

18 Vgl. dazu die umfassende Dokumentation des Arbeitskreises für Gottesdienst und Kommunikation (Hg.): LITURGISCHE NACHT. 19 Vgl. dazu die liturgischen Bemühungen des Kirchentagspastors Gerhard Schnath, der mehrere Bücher im Auftrag des Kirchentags herausgab: G. SCHNATH, Fantasie; DERS., Fantasie, sowie DERS., Werkbuch. 20 Vgl. dazu H. SCHRÖER, Gottesdienst; S. FRITSCH-OPPERMANN /H. SCHRÖER, Liturgie, sowie DIES., Liturgie 2. 21 Vgl. dazu die Reflexionen eines Gestalters der Liturgischen Nacht A. R. SEQUEIRA, Liturgie. 22 Vgl. dazu T. SCHMIEDER /K. SCHUHMACHER, Jugend, sowie A. FEIGE /I. LUKATIS /W. LUKATIS, Kirchentag.

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Diese neuartigen Partizipationsformen der Mitteilung und Darstellung, die den Kirchentagsteilnehmenden eine Bühne für ihre Anliegen bereit stellen lassen die Dauerteilnehmendenzahlen in den 1970er Jahren kontinuierlich steigen: Frankfurt 1975 15.000 Dauerteilnehmende, Berlin 1977 60.000 Dauerteilnehmende und Nürnberg 1979 80.000 Dauerteilnehmende. Seit den 1980er Jahren bewegt sich die Dauerteilnehmendenzahl stabil um die 100.000, meist darüber, wobei auch die Schlussgottesdienste immer in dieser Größenordnung rangieren, wenn auch meist unter der Dauerteilnehmendenzahl. Seit 1979 werden auch die Mitwirkenden als eine eigenständige Gruppe gezählt. Sie agieren z. B. auf dem Markt der Möglichkeiten, bewerben sich in der Abteilung MTK (Musik, Theater, Kleinkunst) oder sind als Helfer oder Bläserinnen angemeldet. Ihre Zahl stieg kontinuierlich von knapp 16.000 in Nürnberg 1979 auf fast 50.000 in Hannover 2005. Fast die Hälfte aller Kirchentagsteilnehmenden sind heutzutage Mitwirkende und nehmen innerhalb dieser Tage eine spezielle Aufgabe wahr. Das Partizipationsprinzip hat den Kirchentag in den 1980er Jahren zu einer Neuen sozialen Bewegung werden lassen. Diese Entwicklung war u. a. nur dadurch möglich, dass der Kirchentag nicht mehr in der Urlaubshauptsaison stattfand wie noch zumeist in den 1950er und 60er Jahren, sondern ab 1973 kurz nach Pfingsten, in der die meisten Menschen noch nicht im Urlaub sind. 5. Der Durchlauf durch die Kirchentagsgeschichte der 1960er und 70er Jahre zeigt den Kirchentag auf der Suche nach neuen Formen. Er war in den 1950er Jahren eine soziale Bewegung und ist seit den 1980er Jahren eine Neue soziale Bewegung. Er schafft dies dadurch, dass er Beteiligungs- und Gestaltungsformen der Popkultur23 integriert und etabliert und somit selbst eine popkulturelle Form von Kirche wird, mit all den Event-Dimensionen, die dazu gehören24. Was Johannes Paul II. popkulturell für den Katholizismus bedeutete, etablierte der Deutsche Evangelische Kirchentag als Neue soziale Bewegung für den Protestantismus strukturanalog. Für eine Erforschung des Kirchentags in den 1960er und 70er Jahren ergeben sich mehrere Fragen: 1. Wie ist die Entwicklung dieser Phase im Rahmen der allgemeinen Popkulturforschung zu beschreiben und einzuordnen? Welche methodischen Hilfestellungen kann die Popkulturforschung sowohl für die Kirchentagserforschung 23

Die Popkultur hat in Deutschland eine lange Geschichte, deren Anfänge bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts nachweisbar sind, vgl. dazu z. B. K. M AASE, Massenkultur. 24 Vgl. dazu E. WILLEMS, Events; M. STAHL, Event; B. A BESSER, Woodstock, sowie J. KUNSTMANN, Fest/Feiern/Event.

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als auch für die Erforschung anderer protestantischer Erscheinungsformen im Rahmen der Neuen sozialen Bewegungen bieten? 2. Warum gab es auch auf den Kirchentagen bestimmte blinde Flecken, z. B. in der Nichtthematisierung der Frauenordination? Wie lässt sich die These WolfDieter Hauschilds, die 1960er und 70er Jahre seien protestantismusgeschichtlich in Deutschland eine Inkubationszeit, am Kirchentag verifizieren? 3. Warum ist der Kirchentag mit seinem protestantischen Bildungsanspruch in den 1960er Jahren gescheitert? Was bedeutet dies für eine religionspädagogische Verortung des Kirchentags? 4. Wie lassen sich die Partizipationsstrukturen, die sich seit den 1970er Jahren im thematischen wie im liturgischen Bereich entwickeln, präziser beschreiben? Dabei ist insbesondere auch der Zusammenhang dieser Entwicklung in beiden Bereichen in den Blick zu nehmen. 5. Wie lassen sich im Rahmen des performative turn in den Kulturwissenschaften diejenigen Quellen integrieren, die seine Erlebnisdimension zu erkennen geben? Dazu wären neben den gedruckten journalistischen Quellen auch Fernseh- und Rundfunksendungen sowie die Tonaufzeichnungen des Kirchentags zu den Veranstaltungen selber hinzu zu ziehen. Eine angemessene Archivierung dieses Materials steht noch aus. Es wäre in diesem Zusammenhang auch darauf zu achten, dass hier zwischen kirchlichem und nichtkirchlichem Journalismus deutlich zu differenzieren ist. 6. Wie sieht die Entwicklung der ostdeutschen Kirchentage seit 1961 aus? Kann deren Erforschung Hilfestellungen erbringen für die Frage, warum sich bestimmte Phänomene nach 1989 in der Zusammenführung so schwierig gestalten? Inwiefern haben sich möglicherweise in der DDR und in der BRD andere Mentalitäten entwickelt und wie lassen sich diese am Quellenmaterial verifizieren? 7. Wie lässt sich die Kirchentagsgeschichte der 1960er und 70er Jahre unter ökumenischen Gesichtspunkten beschreiben. Dazu wäre zum einen der Fokus noch einmal auf das Ökumenische Pfingsttreffen zu legen sowie die Auswirkungen, Erwartungen und Enttäuschungen im Gefolge des II. Vaticanum auf evangelischer wie auf römisch-katholischer Seite. Dazu wäre aber zum anderen auf die Ökumenische Bewegung als eine historische Wurzel des Kirchentags zu rekurrieren und zu fragen, wie sie unter veränderten Bedingungen auf Kirchentagen Gestalt gewinnt. In diesen Zusammenhang könnte auch eine Analyse der immer wichtiger werdenden interkulturellen und interreligiösen Lernprozesse auf Kirchentagen stattfinden.

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Der Deutsche Evangelische Kirchentag in den 1960er und 70er Jahren

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VON

Claudia Lepp

Helmut Gollwitzer als Dialogpartner der sozialen Bewegungen

In dem bewegten Jahr 1968, das später zur Chiffre für eine Bewegung wurde, publizierte Helmut Gollwitzer das Buch „Die reichen Christen und der arme Lazarus“. Der Berliner Universitätstheologe verarbeitete darin seine Eindrücke von der Weltkirchenkonferenz in Uppsala im Juli 1968 und seiner Begegnung mit der Theologie der Revolution. Doch Gollwitzer nannte noch weitere Ideengeber für seine Schrift. Gedankenanstöße hatte er auch von jenen erhalten, denen er sein Buch widmete: „Den Berliner Studenten, dankbar für ihr Aufbegehren und Vorwärtsdrängen“1. Im Vorwort schreibt er über sie: Sie sind „mir lieb geworden in ihrer Ehrlichkeit, ihrem Mut, ihrem Freiheitsbewusstsein, ihrem Gefühl der Verantwortung für die Zukunft und ihrer Phantasie für eine Vermenschlichung der Gesellschaft. Ich habe Ermutigung, Belehrung und Anregung zu neuen Gedanken von ihnen empfangen, – sie hoffentlich ebenso einiges, was ich und andere neben mir kritisch und korrigierend ihnen gegenüber zu vertreten haben.“2

„Anregung“ und „Kritik“ – darin sah Gollwitzer selbst die Charakteristika seines Dialogs mit der Studentenbewegung, die eine Art Brückenfunktion zwischen den so genannten alten und neuen sozialen Bewegungen einnimmt. Der in Kirche und Öffentlichkeit stark umstrittene und angefeindete Theologe, der stets auf gesellschaftliche und politische Konkretisierung theologischer Aussagen drängte3, suchte den Dialog mit den Vertretern der neuen sozialen Bewegungen und vielen – insbesondere seinen Kritikern – galt er selbst als ein Vertreter dieser Bewegungen. Obgleich mitunter als Repräsentant des „Establishments“ oder als „Liberaler“ tituliert, wurde er doch in oppositionellen Kreisen als engagierter Gesprächspartner geschätzt und verschaffte dadurch auch anderen evangelischen Christen dort Gehör. Seine Dialogpartner waren u. a. die Aktivisten der Studentenbewegung Ekkehart Krippendorff, Bernd Rabehl, Wolfgang Lefèvre, Jürgen Treulieb sowie vor allem Rudi Dutschke, der ihm zum engen Freund wurde. Auch mit den beiden Terroristinnen Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof stand 1

H. GOLLWITZER, Christen und Lazarus, S. 5. EBD., S. 10f. 3 Vgl. A. PANGRITZ, Einführung zu Bd. 4, S. 7. 2

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Gollwitzer im Gedankenaustausch. Es waren öffentliche und private Dialoge, geführt auf Demonstrationen, in Hörsälen und Gefängniszellen und oft auch in Gollwitzers Haus in Berlin-Dahlem, einer „Zuflucht und Diskussionsstätte zugleich“4, etwa für Christa Ohnesorg oder Rudi und Gretchen Dutschke, die alle zeitweise dort lebten. Die Dialoge wurden mündlich im direkten Gespräch oder schriftlich in Briefen, Zeitungsartikeln oder Buchpublikationen geführt. Thematisch beschränkte sich dieser Austausch keineswegs auf Kapitalismuskritik und Entwicklungspolitik, von denen das oben erwähnte Buch vornehmlich handelt. Im Folgenden werden vier Themenkomplexe herausgegriffen und dabei Konsens- und Konfliktpunkte im Dialog zwischen Helmut Gollwitzer und den sozialen Bewegungen der 1960er und 70er Jahre herausgearbeitet. Ausgangspunkt wird jeweils der lebensgeschichtliche Bezug Gollwitzers zu der Thematik sein, da dieser als Erfahrungsimpuls für seine Theologie eine wichtige Rolle spielte. Bewusst wurden vier Themenbereiche gewählt, die sich auch losgelöst von der Person Gollwitzers, als thematische Ansatzpunkte für weitere historische Untersuchungen zu den Wechselwirkungen von Protestantismus und sozialen Bewegungen während dieser beiden dynamischen Jahrzehnte in der Geschichte der Bundesrepublik anbieten.

1. Sozialismus und Demokratie Der 1908 geborene Helmut Gollwitzer stammte aus einem national-konservativen, lutherischen Pfarrhaus. Als Schüler schloss er sich der Jugendbewegung an und träumte dort „Wandervogelträume von einer neuen Gesellschaft“5. Anfang der 1930er Jahre wechselte Gollwitzer von romantisch-vorkapitalistischen zu marxistisch-antikapitalistischen Vorstellungen. Nun fesselte ihn, nach eigenen Aussagen, „außerhalb der Kirche nichts“ so sehr „wie der Marxismus6. In den Jahren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft stand für ihn dann der „Kirchenkampf“ im Vordergrund. Als Gollwitzer 1950 schließlich aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückkam, hatte er „die Schnauze voll vom Sowjetkommunismus“7 und setzte sich in den Folgejahren kritisch 4

I. DREWITZ, Gollwitzer, S. 1. H. GOLLWITZER, Israel – und wir, S. 89. Seine jugendbewegte Vergangenheit – er gehörte der Freischar Junger Nation an – reflektiert Gollwitzer 1981 in dem Aufsatz „Alte und neue Jugendbewegung“. 6 H. GOLLWITZER, Skizzen, S. 306. In einem Interview mit Jens Müller-Kent erklärte Gollwitzer, er habe als junger Theologe „links von den Kommunisten“ gestanden. Vgl. J. MÜLLER-K ENT, Vermächtnis, S. 96. 7 EBD., S. 122. 5

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mit dem Menschenbild des Marxismus, dem weltanschaulichen Atheismus und der marxistischen Religionskritik auseinander. Politisch optierte er nun für einen Reformkapitalismus, d. h. er forderte eine Demokratisierung des Kapitalismus8. Der intensive Dialog mit der Studentenbewegung über die „Krise des Kapitalismus“ führte Gollwitzer während der 1960er Jahre zu einer neuen Beschäftigung mit dem Marxismus und seiner Entdeckung als analytisches Instrumentarium9. Er entwickelte nun eine radikale Kritik am kapitalistischen Gesellschaftssystem und orientierte sich dabei sowohl an den marxistischen Klassikern als auch an neomarxistischen Autoren aus Westeuropa und den USA, wie dies auch viele Vertreter der Außerparlamentarischen Opposition (APO) taten. Am umfassendsten kam seine Kritik in dem Buch „Die kapitalistische Revolution“ von 1974 zum Tragen, in dem er sich mit dem „Gang der internationalen Klassenkämpfe“ und der Rolle der christlichen Kirchen in ihnen beschäftigte. Gollwitzer äußerte darin die Überzeugung, dass „wir nicht zu wählen haben, ob wir Revolution wollen oder nicht, sondern nur noch welche wir wollen: die schon in Gang befindliche und noch rapid eskalierende Revolution der entfesselten Destruktivkräfte oder die Umkehr von der Destruktion zu einem konstruktiven Entwurf der menschlichen Gesellschaft, der der destruktiven Verwendung ihrer Produktivkräfte ein Ende setzt.“10

Theologisch orientierte sich Gollwitzer in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zu einer „christologisch reflektierten Reich-Gottes-Theologie“ hin11. Der „absoluten Utopie der neuen Gesellschaft im Reiche Gottes“, die nicht durch menschliche Anstrengung, sondern durch Gottes Tat komme, folge eine „irdische, relative Utopie als Leitbild für die Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse mit dem Maßstab größtmöglichen Abbaus aller Ungerechtigkeit, Unfreiheit und Vergewaltigung“12 . Gollwitzer war der Überzeugung, dass das Evangelium die Christen zu einer Veränderung zu einer besseren Gesellschaft, zu einer „nichtkapitalistischen, solidarischen Gesellschaft“ aufforderte, ja dass das Evangelium „eine Tendenz auf den Sozialismus hin“ hatte13. Dies führte ihn 1972 zu der These, dass ein Christ hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Zielvorstellung Sozialist sein müsse14.

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H. GOLLWITZER, Skizzen, S. 310 und U. DANNEMANN /M. WEISSINGER, Beitrag, S. 582. Vgl. H. GOLLWITZER, Skizzen, S. 310; J. R EHMANN, Marxismus, S. 16. 10 H. GOLLWITZER, Revolution, S. 25. 11 U. DANNEMANN /M. WEISSINGER, Beitrag, S. 587. 12 H. GOLLWITZER, Die Revolution des Reiches Gottes und die Gesellschaft, S. 119. 13 H. GOLLWITZER, Skizzen, S. 311. 14 H. GOLLWITZER, Muß ein Christ Sozialist sein?, S. 18. 9

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Der Sozialist Gollwitzer war aber auch radikaler Demokrat. Die bürgerliche Demokratie galt ihm als wichtige Errungenschaft in der Geschichte der Freiheit. Zugleich sah er in ihr jedoch nur eine historische Vorstufe zu der erstrebten „sozialistischen Demokratie“15, in der Gerechtigkeit, Menschenwürde und Selbstbestimmung verwirklicht waren16. Er forderte eine „dynamische Demokratisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens“ und sah sich darin durch die Dokumente von Uppsala bestärkt17. Der Kirche durfte diese Forderung seiner Auffassung nicht fremd sein, war sie doch „die herrschaftsfreie Bruderschaft in der Welt“18. Sie trage vielmehr eine Verantwortung für die Demokratisierung19. Wie die Vertreter der Kritischen Theorie sah auch Gollwitzer die Demokratie durch die technologische Entwicklung und die zunehmende Kapitalkonzentration bedroht. Die junge Generation habe, so Gollwitzer, die Entscheidungsfrage der Gegenwart, ob die Entwicklung hin zur Technokratie oder zur realen Demokratie gehe, erkannt20. Diese Erkenntnis hielt er für eines der wichtigsten Motive ihres Aufstandes21. In Gollwitzers ethischen Reflexionen finden sich sowohl Anleitungen zur allmählichen Überwindung der von ihm so genannten „formalen Demokratie“ hin zu einer sozialen Demokratisierung der Gesellschaft, als auch immer wieder ein streitbares Engagement zur Verteidigung der bürgerlichen Demokratie und des Rechtsstaates gegen Versuche ihrer Aushöhlung22 . Beispiele hierfür sind seine Proteste gegen die Notstandgesetze und gegen den so genannten „Radikalenerlass“. Im Juli 1967 sah Gollwitzer die reale Gefahr einer „Machtergreifung der Exekutive“, falls der Entwurf für eine Notstandsverfassung der Bundesrepublik in Kraft treten sollte23. Seiner Auffassung nach handelte es sich bei dieser Gesetzgebung für die Demokratie in der Bundesrepublik um eine „Frage von Leben und Tod“24. Daher forderte er in einem Vortrag in der Münchner Universität die Studierenden dazu auf, sich gegen die Notstandsgesetze zu wehren, zu demonstrieren und zu protestieren. Zwei Tage vor der Verabschiedung der Gesetze hielt er am 28. Mai 1968 provokativ eine „Leichenrede auf das Grundgesetz“. Nicht eine „autoritäre Notverfassung“, sondern nur eine „permanente Demokratisierung“ könne vor einer künftigen Bedrohung der Demokratie schützen, davon 15

H. GOLLWITZER, Der Sozialist und die demokratische Verfassung, S. 192. EBD., S. 195. 17 H. GOLLWITZER, Christen und Lazarus, S. 81. 18 EBD., S. 96. 19 H. GOLLWITZER, Weltverantwortung, S. 84. 20 EBD., S. 87. 21 EBD. 22 Vgl. W. STIEBER-WESTERMANN, Provokation, S. 335. 23 epd ZA Nr. 164 vom 21. Juli 1967, S. 2. 24 EBD. 16

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war Gollwitzer überzeugt25. Die APO aber erlebte mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze ihre entscheidende Niederlage. Da er eine linksradikale Einstellung für verfassungskonform hielt26, lehnte Gollwitzer auch den so genannten Radikalenerlass entschieden ab. Die „Grundsätze über die Mitgliedschaft von Beamten in extremen Organisationen“ waren von den Regierungschefs der Länder auf dem Höhepunkt der Fahndung nach der Roten Armee Fraktion im Januar 1972 beschlossen worden. In der Praxis wurde der Erlass vor allem gegen Mitglieder der 1969 gegründeten Deutschen Kommunisten Partei (DKP) sowie linksradikaler Gruppen angewandt, die aus der zerfallenden Studentenbewegung hervorgegangen waren. Das Grundgesetz aber gebe, so argumentierte Gollwitzer, „dem radikalen Revolutionär die gleichen Rechte wie dem skeptischen Konservativen“27. Es „verbietet nicht die Revolution, es legalisiert sie.“28 Es sei das Grundgesetz einer „kämpferischen Radikaldemokratie“ und „von den Grundrechtsartikeln als Realisierungsauftrag progressiv-dynamisch zu verstehen“29. Als die evangelische Kirche sich Anfang 1973 anschickte, die Mitgliedschaft in der DKP und die Ausübung des pfarramtlichen Dienstes für unvereinbar zu erklären30, protestierte Gollwitzer auch dagegen. Er riet zwar Pfarrern aufgrund ihrer zentralen Stellung in den Gemeinden von jeglicher Parteimitgliedschaft ab und hielt es zudem für ausgeschlossen, dass ein Pfarrer Atheismus und die Überzeugung des christlichen Glaubens gleichzeitig vertreten konnte. Was er jedoch ablehnte, waren die in den kirchlichen Stellungnahmen zu diesem Thema implizite „Gleichsetzung von Christlichkeit und Bürgerlichkeit“ sowie die ängstliche „Abgrenzungspolitik statt missionarischer Invasion“ gegenüber den Kommunisten31. Gollwitzers Engagement gegen Berufsverbote zog sich durch die gesamten 1970er Jahre. Einen Kulminationspunkt erreichte es im Frühjahr 1978 mit seiner Ansprache zum Abschluss des Dritten Internationalen Russel-Tribunals. Das Russell-Tribunal verstand sich als „nichtinstitutionalisiertes Organ der Weltmeinung“ zu Fragen der wirtschaftlichen und politischen Menschenrechte32. Es wurde getragen von der „Bertrand Russel Peace Foundation“, die der britische Philosoph und Nobelpreisträgers Bertrand Russel 1963 gegründet hatte. Das erste 25

H. GOLLWITZER, Leichenrede, S. 174. H. GOLLWITZER, Der Sozialist und die demokratische Verfassung, S. 194. 27 EBD., S. 198. 28 EBD., S. 197. 29 H. GOLLWITZER, Verfassungsfeinde, S. 246, 249. 30 Vgl. die Textsammlung in G. NIEMEIER, Kirche, S. 120–123. 31 H. GOLLWITZER, Zur Frage der DKP-Pfarrer, S. 253. 32 3. Internationales RUSSELL-TRIBUNAL, Bd. 1, S. 12. 26

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Tribunal 1967 behandelte die Kriegsverbrechen der US-Regierung in Vietnam und beeinflusste die nachfolgenden studentischen Proteste gegen den VietnamKrieg. Das zweite Russell-Tribunal beschäftigte sich zwischen 1974 und 1976 mit den Militärdiktaturen in Lateinamerika. Gollwitzer war Mitglied von Jury und Beirat des Dritten Russell-Tribunals „Zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland“, das zu dem Schluss kam, dass die „Praxis der Berufsverbote ohne jede Einschränkung zu verurteilen“ sei33. In seiner Schlussrede kritisierte Gollwitzer den „Unwille[n] der Verantwortlichen in Staat und Parteien, eine schlechte Verfassungswirklichkeit mit unserer guten Verfassung zur Deckung zu bringen“ und warnte vor „dem Vormarsch des bürokratisierten, technokratisierten, autoritären Staates“34. Er erhoffte sich vom Russell-Tribunal einen Impuls für ein zivilgesellschaftliches Engagement für die Demokratie in der Bundesrepublik. Diese Hoffnung teilte auch Rudi Dutschke35. Kein Konsens herrschte zwischen den beiden jedoch in der Frage, ob das Russell-Tribunal auch die Menschenrechtsverletzungen in der DDR behandeln sollte. Dutschke bejahte diese Frage, da er die deutschen Menschenrechtsverletzungen für unteilbar hielt und es für ihn wichtig erschien herauszustellen, dass sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR Berufsverbote für Oppositionelle verhängt wurden36. Der „Versöhner“ Gollwitzer sprach sich dagegen aus, da ein solches Tribunal von der westlichen Propaganda instrumentalisiert würde, die Entspannungspolitik störe und den Opfern der Menschenrechtsverletzungen in der DDR nicht helfe37. Unabhängig von diesem Dissens schätzte Rudi Dutschke rückblickend Gollwitzers Beteiligung am Kampf gegen den „Radikalenerlass“ als bedeutend ein. Insbesondere bewunderte er dessen „antisektiererische Grundhaltung“38. So hatte Gollwitzer die Gegner des „Radikalenerlasses“ zur Bündnispolitik aufgefordert: „Keine Abkapselung! Statt dessen Bündnis mit allen Bürgerlichen, Liberalen und anständigen Konservativen – ich kenne solche! –, die ebenfalls nicht wollen, dass die Demokratie ein Opfer ihrer falschen Beschützer wird.“39 Gollwitzer kämpfte aber nicht nur gegen staatliche Einschränkungen demokratischer Rechte und Freiheiten, sondern auch gegen deren „Verachtung“ seitens der radikalen Linken40. 1967 glaubte er noch hoffnungsfroh, dass die Studenten diesmal nicht „für die Abschaffung der Demokratie auf die Straße“ gingen, wie 33

3. Internationales RUSSEL-TRIBUNAL, Bd. 2, S. 22. EBD., Bd. 1, S. 184f. 35 Zu Dutschkes Einschätzung des Russell-Tribunals vgl. M. K ARL, Dutschke, S. 440. 36 M. K ARL, Dutschke, S. 441. 37 H. GOLLWITZER, Argumente, S. 209ff. 38 R. DUTSCHKE, Gekrümmt, S. 101. 39 Zitiert nach EBD. 40 Vgl. Vorwort Gollwitzers zu: H. GOLLWITZER, Christentum, Demokratie, Sozialismus II, S. 3.

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in seiner Jugendzeit, sondern „für ihre Erhaltung und Weiterentwicklung.“ Er hielt die politischen Studentengruppen für „zumeist radikal-demokratisch“41. Dutschke zeigte sich rückblickend diesbezüglich skeptischer: „Gollwitzer auf der anderen Seite nahm jene radikale Demokratie sehr ernst, ernster und konsequenter, als auch wir das damals konnten. Sozialistischer und demokratischer Standpunkt waren nicht genug vermittelt.“42 Aber auch Gollwitzer selbst sah dieses Defizit. Im Jahr 1972 forderte er von der jungen Generation und ihrem „erneuerten Marxismus“, dass ihr die „Einheit von Sozialismus, Demokratie und Freiheit wieder zur Selbstverständlichkeit“ werde, nachdem Sozialismus und Demokratie infolge der leninistisch-stalinistischen Periode der Sowjetunion im öffentlichen Bewusstsein in einen Gegensatz geraten seien43. Sozialisten hätten die bürgerliche, „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ als diejenige Staatsverfassung zu schätzen, die den Kampf für eine freiheitlich-demokratische Verfassungswirklichkeit ermögliche und legalisiere, den Kampf „um die Realisierung derjenigen Versprechungen, die die bürgerlicher Demokratie uns gibt, die aber erst eine sozialistische Demokratie einlösen kann“: das „Versprechen von Freiheit und Demokratie“44. Er kritisierte den „Mangel an nüchterner politischer Theorie“, wie er bei vielen Linken zu finden sei: „Der verschwommene, altmodische, und durch die Entwicklung diskreditierte Begriff der Diktatur des Proletariats wird als Polit-Hasch zur Selbstberauschung gebraucht, Guerilla-Begeisterung weckt putschistische Ideen, Ungeduld verträgt nicht den Gedanken an den langen Weg der für die Revolution nötigen Bewusstseinsbildung. Darum können die Linken den Verdacht undemokratischer Gesinnung so schwer beseitigen, obwohl doch die Entstehung der Studentenrevolte, der APO und der Neuen Linken aus keinen anderen als aus demokratischen Impulsen jedem Sehenden klar ist“45.

Die Linke könne ihr Demokratieverständnis anderen nur verdeutlichen, wenn sie sich selbst darüber klar sei, dass Sozialismus nicht durch die Vergewaltigung der Mehrheit durch eine elitäre Minderheit aufgebaut werden könne. Die Verwirklichung des Sozialismus könne nicht erfolgen ohne den Erhalt der Errungenschaften der bürgerlichen Revolution: den Minderheitenschutz, den Schutz der Individualrechte, die Rechtsgleichheit, die Gleichberechtigung aller Bürger, die Rechtsstaatlichkeit46. Die emphatische Parteinahme für Rechtsstaatlichkeit durch Die Grünen seit den 1980er Jahren musste Gollwitzer mit Genugtuung erfüllt haben. 41

Vgl. R. DUTSCHKE, Gekrümmt, S. 73. Vgl. EBD., S. 76. 43 H. GOLLWITZER, Der Sozialist und die demokratische Verfassung, S. 191. 44 EBD., S. 191f. 45 EBD., S. 195f. 46 EBD., S. 196. 42

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2. Gewalt und Gegengewalt Seit Ende der 1960er Jahre war Gollwitzer von der Notwendigkeit revolutionärer Veränderungen überzeugt: Um des Überlebens der Menschheit willen sei die sozialistische Revolution zur dringlichsten „Forderung der Umkehr“ geworden. Die Einschätzung, dass die herrschenden Klassen nur im Ausnahmefall ihre Macht freiwillig abgeben, nötigte Gollwitzer zur Reflexion über Revolution und Gewalt. Im Jahr 1968 setzte er dem „Verbot der Revolution durch die kirchliche Tradition“ ein Verständnis der christlichen Botschaft entgegen, das die Entscheidung für die Revolution freigab47. Das „‚Reich Gottes‘ ist Inhalt einer Verheißung, die die Gegenwart revolutioniert. Die Revolution, die wir nicht machen, befähigt uns zu der Revolution, die wir zu machen haben“, so der Theologe48. Aus „verantwortlicher Liebe zu den leidenden Menschen“ müsse der Christ „in gegebenen Situationen sich entschließen, an revolutionärer Gewalt teilzunehmen.“49 Laut Gollwitzer konnte die Frage nach der Rechtfertigung der Gewaltanwendung, nach legitimer Gewalt „ernsthaft“ nur im Kontext solcher Revolutionen gestellt werden, die auf Beseitigung unerträglicher Zustände, auf ein besseres Recht und auf menschenwürdigere Verhältnisse zielten, d. h. nur hinsichtlich demokratischer und sozialistischer Revolutionen50. Die Gewalt in einer sozialistischen Revolution charakterisierte er als eine „nachträgliche Gegengewalt gegen die vorausgehende Unterdrückungsgewalt“51. Diese Kausalabfolge der Gewalt übernahm er von dem Befreiungstheologen Hélder Câmara. Das Problem der revolutionären Gewalt löste Gollwitzer durch eine Übertragung der Kriterien des bellum iustum auf die revolutio iusta. In sozialethischen Vorlesungen der Jahre 1968 und 1970 entwickelte er enge Kriterien für die Beurteilung und für die eventuelle Beteiligung an revolutionärer Gewalt52 . Jeder an tötender Gewalt sich Beteiligende habe sich zu fragen: „a) Geht es bei der Revolution wirklich um das Recht des unterdrückten Volkes oder um das Machtstreben einer Gruppe (causa iusta)? b) Hat diese Gewaltanwendung die Bereitwilligkeit der Gegenseite zur Abdankung von der Macht oder ihre Vernichtung zum Ziel (recta intentio)? c) Bewirken die angewandten Mittel unterschiedslose Zerstörung oder unnötiges Leiden (bestialische Tötung) (debitus modus)? 47

H. GOLLWITZER, Christen und Lazarus, S. 74. H. GOLLWITZER, Die Revolution des Reiches Gottes und die Gesellschaft, S. 107. 49 H. GOLLWITZER, Christen und Lazarus, S. 79. 50 EBD., S. 76f. 51 EBD., S. 79. 52 H. GOLLWITZER, Die Revolution des Reiches Gottes, S. 127. Vgl. auch H. GOLLWITZER, Sozialismus und Revolution, S. 137f. 48

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d) Wird die Gewaltanwendung von der ganzen Gruppe rational verantwortet oder ist sie mein Privatunternehmen (legitima potestas)? e) Dient sie dem Kampfziel oder der Rachsucht der Vergeltung, der Befriedigung von Haßgefühlen (subjektive Probabilität)? f) Ist sie zu verantworten bei sorgfältiger Abwägung der Übel (einerseits der Verletzung der Humanität, andererseits der Niederlage im Kampf), ist sie also schlechterdings unvermeidlich (Übelabwägung)?“53

Eine legitime Anwendung revolutionärer Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland war unter Anlegung dieses Kriterienkatalogs nicht möglich. Gollwitzer plädierte daher immer wieder dafür, alle legalen Möglichkeiten auszuschöpfen54. Der Christ, so Gollwitzer, bringe „in die politische Bewegung die Skrupolosität gegen die Methoden der Gewalt ein“55. In den 1960er und 70er Jahren kam es in der Bundesrepublik wiederholt zu Auseinandersetzungen und öffentlichen Diskussionen um die Legitimation von Gewalt. Demonstrationserlebnisse und insbesondere der Tod Benno Ohnesorgs ließen den Gewaltdiskurs unter den Studierenden nicht mehr abbrechen. Gollwitzer mischte sich mehrmals in diesen Diskurs ein und riet aus moralischen und politisch-strategischen Gründen mit unterschiedlichem Erfolg von einer Gewaltanwendung ab. Mitten in den durch das Attentat auf Rudi Dutschke ausgelösten so genannten Osterunruhen 1968 wurde er zur Deeskalation herbeigerufen. In einem „teach-in“ in der Technischen Universität Berlin warnte er eindringlich vor einem Übergang von der Gewalt gegen Sachen zur Gewalt gegen Menschen. Trotz polizeilicher Übergriffe sollten die Studenten diese von ihnen bislang selbst gezogene Grenze nicht überschreiten. Und auch jede Gewalt gegen Sachen stand für Gollwitzer unter der Frage, ob sie sich rational rechtfertigen lasse56. Letztere hielt er folglich nicht für grundsätzlich illegitim. Dass die Neigung zur Gewaltanwendung an diesem Abend gestoppt wurde, rechneten Beteiligten auch „sehr stark de[m] Einfluß von Gollwitzers Redebeitrag“ zu57. Nach einer Demonstration gegen die Berliner Justiz kam es Anfang November 1968 zu schweren und z. T. gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei, der so genannten Schlacht am Tegeler Weg, bei der erstmals mehr Polizisten als Demonstranten verletzt wurden. In einer Diskussion im Auditorium Maximum der Freien Universität Berlin bezeichneten Vertreter des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) die Aktion als 53

EBD., S. 138. EBD., S. 139. 55 H. GOLLWITZER, Die Revolution des Reiches Gottes, S. 103. 56 H. GOLLWITZER, Zur Frage der Gewalt, S. 167f. 57 J. TREULIEB, Golli, S. 156f.

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einen großen Erfolg58. Gollwitzer hielt hingegen den Gewaltbefürwortern vor, dass Gewalt nur für Faschisten kein Problem sei, für Christen und Sozialisten aber, die beide der Humanität verpflichtet seien, gelte, dass sie keine Situation heraufbeschwören dürften, in der Menschenleben gefährdet würde. „In der gegenwärtigen Situation und auf absehbare Zeit gibt es keine Möglichkeit für den Übergang von Gewalt gegen Sachen auf Gewalt gegen Personen“, so seine nüchterne politische Analyse. Die Bereitschaft zur Gewalt fördere nur die Brutalisierung der Polizei, was aus „menschlichen, aus demokratischen, aus strategischen Gründen“ abzulehnen sei59. Im Falle einer gewalttätigen Radikalisierung der Studentenbewegung befürchtete Gollwitzer deren äußere Zerschlagung und inneren Zerfall. An jenem Novemberabend kam die Diskussion in der Gewaltfrage aber zu keinem eindeutigen Ergebnis60. Ein größeres Problem als in vereinzelten Gewalttätigkeiten auf studentischer Seite sah Gollwitzer jedoch in anderen „legalen, aber nicht legitimen Formen“61 von physischer und struktureller Gewalt seitens von Staat und Wirtschaft. So schrieb er in einem privaten Brief, den er im November 1969 im Zusammenhang mit seiner Forderung nach einer gesetzlichen Amnestie für Demonstrationsstraftaten verfasste: „Sorge macht mir natürlich auch das Gewaltproblem, über das ich immer wieder diskutiere. Aber was dies betrifft, meine ich, dass man Mücken und Elefanten durchlässt, solange man die gottseidank immer noch sehr begrenzte Gewalttätigkeiten der Jungen anprangert inmitten einer Gesellschaft, die von Bejahungen brutaler Gewalt erfüllt ist, wie nicht nur das Stichwort Vietnam zeigt, sondern z. B. das Verhalten von Oberstaatsanwalt und Innenminister beim Zusammenprügeln jener Heidelberger Studenten. Nachdem ich die Berliner Fälle, auf Zeitungsberichte mich nicht mehr verlassend, aus der Nähe geprüft habe, soweit es mir möglich war, bin ich nicht mehr in der Lage – abgesehen von meinem direkten Widerspruch in den Diskussionen mit den Studenten – in die allgemeine Verurteilung der studentischen Gewalttätigkeit einzustimmen, solange nicht eine ebensolche Verurteilung der illegalen polizeilichen Gewalttätigkeit erfolgt, die für uns als Bürger eines demokratischen Staats viel anstößiger sein müsste. Im Hintergrund von alldem steht natürlich die ungeheure Umwälzung in unserer Zeit, für die all das nur Symptome sind. Bei ihr wird, damit rechne auch ich, viel zusammenbrechen, was uns als Spitze einer langen kulturellen Tradition kostbar gewesen ist. Die Barbarisierung aber fürchte ich nicht von der Seite unserer lärmenden Studenten, sondern durch viel mächtigere Entwicklungen der technokratischen Gesellschaft, gegen die diese Studenten immerhin wachsamer sind als die meisten anderen Menschen.“62 58

Vgl. EBD., S. 157. „Gollwitzer warnt vor Gewalt“, S. 115. 60 J. TREULIEB, Golli, S. 158. 61 Vgl. H. GOLLWITZER, Sozialismus und Revolution, S. 135f. 62 Gollwitzer an Uvo Hoelscher, 20.11.1969 (EZA BERLIN, 686/816). 59

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Seit Anfang der 1970er Jahre erschütterte die Bundesrepublik der Terror einer kleinen Gruppe Radikaler, die zum Teil aus der Studentenbewegung kamen und das Konzept des Guerillakampfs der Befreiungsbewegungen der „Dritten Welt“ auf die Industriestaaten übertrugen. Die Gewalt der selbsternannten „Stadtguerilla“ löste Anfang der 1970er Jahre Verunsicherung und Angst in der bundesdeutschen Bevölkerung aus. In dieser gesellschaftlichen Atmosphäre kam es zu Auseinandersetzungen von Medienvertretern und Politikern mit linken Intellektuellen, die vor Überreaktionen in Staat und Gesellschaft warnten. Zu ihnen gehörte Heinrich Böll, der im Januar 1972 in einem Spiegel-Artikel die Berichterstattung der Bild-Zeitung kritisierte, zu mehr Objektivität aufrief und um Gnade für Ulrike Meinhof bat. Nach der Veröffentlichung setzte in den Medien eine regelrechte Hetzjagd auf den „Sympathisanten der Terroristen“ ein63. Auch Gollwitzer traf der „Sympathisanten“-Vorwurf. Ihm wurde vorgehalten, 1968 gegenüber den Studenten die Gewalt gegen Sachen gutheißen zu haben und daher für die Entwicklung zur Gewalt gegen Menschen mitverantwortlich zu sein64. Gollwitzer distanzierte sich jedoch von jeglicher Art von linkem „Gegenterror“, wie er die Anschläge der Roten Armee Fraktion (RAF) bezeichnete. Die Verantwortung für die linksterroristische Gewalt lag seiner Ansicht nach bei anderen: „Die intellektuelle Verantwortlichkeit für die Bombenanschläge ist bei denen zu suchen, die seit Jahren den über das vietnamesische Volk herabregnenden Bombenmord rechtfertigen. Sie dürfen sich nicht wundern, wenn dann einige aus der Bahn geratene Leute auch hierzulande meinen Bomben rechtfertigen zu können.“65

Gollwitzers Ziel war aber nicht nur der Dialog über politischen Terrorismus, sondern auch der Dialog mit Terroristen. Ohne Erfolg forderte der Theologe 1972, die Kirchen sollten auf der Grundlage ihres kirchlichen Asylrechts bei den staatlichen Behörden erreichen, dass auf kirchlichem Grund eine Diskussion zwischen flüchtigen Mitgliedern der Baader-Meinhof-Gruppe und Vertretern der demokratischen Linken stattfinden könne66. Mit den verhafteten Gruppenmitgliedern sollte in den Gefängnissen diskutiert werden. Gollwitzer selbst sprach und korrespondierte im Laufe der 1970er Jahre mehrmals mit Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, die beide aus betont christlichen Elternhäusern stammten. Er sah die beiden Vertreterinnen der ersten RAF-Generation „der Motivation wegen für 63

Vgl. hierzu: H. BÖLL, Geleit. Vgl. u. a. den öffentlichen und privaten Briefwechsel mit dem Historiker Arnulf Baring (EZA BERLIN 686/718). 65 Erklärung Gollwitzers vom 29.5.1972 (EZA BERLIN, 686/718). Die Erklärung wurde u. a. in der Frankfurter Rundschau vom 2.6.1972 abgedruckt. 66 H. GOLLWITZER, Gnade und Freistatt, S. 11. 64

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Genossen“ an67 und teilte ihre Kapitalismuskritik. Doch auch im unmittelbaren Gedankenaustausch mit ihnen lehnte er terroristische Gewalt als Mittel des politischen Kampfes in der Bundesrepublik ab. So schrieb er etwa in einem Brief an Ulrike Meinhof aus dem Jahr 1973: „einer sozialistischen Gruppe, die während des Kampfes die Menschlichkeit über Bord wirft, kann ich nicht zutrauen, dass ihr Ziel eine menschlichere Gesellschaft sei“68. In einem Brief aus dem Jahr 1977 versuchte er Gudrun Ensslin von Folgendem zu überzeugen: „Die Guerilla-Strategie auf Länder mit nur anfänglicher Repression zu übertragen, kann nur verhängnisvoll sein, weil es diese Repressionstendenzen verstärkt und die Möglichkeiten des antiimperialistischen Kampfes, die sehr mit den durch die Errungenschaften der bürgerlichen Revolution und durch die Arbeiterbewegung im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft erkämpften Rechten zusammenhängen, gefährdet.“69

Gollwitzer konnte jedoch bei keiner der beiden Terroristinnen eine kritische Selbstreflexion auslösen. Nach dem Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback am 7. April 1977 erklärte er, für die inhaftierten Terroristen solange „keinen Finger [mehr zu, C. L.] rühren“, solange sie nicht die mit ihnen Sympathisierenden außerhalb der Gefängnisse dazu aufforderten, sofort mit der „hundsgemeinen und idiotischen Morderei Schluß zu machen“70. Im September 1977 appellierte er gemeinsam mit Heinrich Böll, Heinrich Albertz und Kurt Scharf über die Medien an die politische Vernunft der Entführer von Hanns Martin Schleyer: „Seien Sie sich klar, dass weiteres Töten alles vernichtet, was Sie erreichen wollen, und unabsehbare Folgen für unser ganzes Land haben wird.“71 In einem Zeitungsartikel kündigte er schließlich den selbsternannten ‚Guerilleros‘ die Genossenschaft und stigmatisierte sie als Werkzeuge der Reaktion72 . Angesichts des Klimas von Hysterie und Panik während des „deutschen Herbstes“ hegte Gollwitzer die historisch motivierte Befürchtung, dass die „zweite deutsche Demokratie“ durch „das Zusammenwirken von Reaktion und Terrorismus“ zerstört werden könnte73. Die Bundesrepublik bestand jedoch die Herausforderung durch die bis dahin schwerste Bedrohung ihrer Demokratie. 67

Gollwitzer an Klaus Croissant, 17.2.1977 (EZA BERLIN, 686/722). Gollwitzer an U. Meinhof, 20.12.1973 (EZA BERLIN, 86/696). 69 Gollwitzer an G. Ensslin, 14.2.1977 (EZA BERLIN, 686/722). 70 Gollwitzer an K. Croissant, 17.4.1977 (EZA BERLIN, 686/722). 71 EZA BERLIN, 686/734. Die Unterzeichner legten gegenüber der Frankfurter Rundschau, die den Appell abdruckte, Wert auf die Feststellung, dass sie sich zu diesem Appell entschlossen hatten ohne Kenntnis der an sie gerichteten unnötigen Aufforderungen der Bundestagsabgeordneten Hermann Schmidt-Vockenhausen und Axel Wernitz. http://213.187.75.204/uebersicht/alle_dossiers/zeitgeschichte/der_deutsche_ herbst/ die_ entfuehrung/ 72 H. GOLLWITZER, Gegen falsche Solidarisierung, S. 283. 73 So Gollwitzer in einem offenen Brief an seinen Patensohn Lukas Ohnesorg vom 20.9.1977. Abgedruckt in: F. DUVE /H. BÖLL /K. STAECK (Hg.), Briefe, S. 50–53, Zitat: S. 52f. 68

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3. Israel und Antizionismus Während der nationalsozialistischen Judenverfolgung beteiligte sich Gollwitzer in Berlin-Dahlem, wo er als Vertreter von Martin Niemöller wirkte, an Hilfsaktionen für Juden. Zuvor hatte er schon als einer von wenigen in einer Bußtagspredigt am 16. November 1938 zur Reichspogromnacht öffentlich Stellung bezogen74. 1951 heiratete Gollwitzer die Gemeindehelferin Brigitte Freudenberg, eine Berliner Christin jüdischer Abstammung, die 1945 aus dem Schweizer Exil nach Deutschland zurückgekehrt war75. Mit ihr reiste er seit 1958 mehrfach nach Israel. Vor diesem Erfahrungshintergrund wurde der Theologe im Nachkriegsdeutschland zu einem unermüdlichen Träger und Förderer des jüdischchristlichen Dialogs. Unter Mitwirkung von Brigitte und Helmut Gollwitzer wurde ab 1961 die Arbeitsgruppe „Juden und Christen“ zu einer beständigen Einrichtung bei den evangelischen Kirchentagen. Zeitlebens blieb die Arbeit an der Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses ein Hauptthema von Gollwitzers Theologie. Sein politisches Engagement galt dem Existenzrecht des Staates Israels, für das er aus theologischen, historisch-moralischen und politischen Motiven eintrat. Der Theologe sah die Staatsgründung Israels im „theologischen Charakter der jüdischen Existenz“ begründet und die Landnahme Israels als bedeutsam für die Exegese der Heiligen Schrift76. Als Staatsbürger forderte er im Eingeständnis deutscher Schuld gegenüber den Juden von der Bundesrepublik ein Bekenntnis zur deutschen Verantwortung für die Existenz des israelischen Staates77. Der Sozialist Gollwitzer hielt Israel im Unterschied zur Bundesrepublik für „das große Exempel eines nicht-restaurativen Gesellschaftsaufbaus“78. Insbesondere in den 1950er Jahren äußerte er sich geradezu euphorisch zu den pionierhaft-sozialistischen Elementen Israels. Gollwitzer setzte sich auch schon früh dezidiert für deutsch-israelische Begegnungen ein und so konstituierte sich mit seiner Unterstützung an der Freien Universität Berlin die erste „Deutsch-Israelische Studiengruppe“. Diese organisierte neben inoffiziellen deutsch-israelischen Begegnungen auch Informationskampagnen zu Israel sowie Proteste gegen antisemitische Ressentiments und antidemokratische Strukturen in der Bundesrepublik, deren Ursache man in einer defizitären gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sah. Die Verbesserung der deutsch-israelischen Beziehungen und 74

Abdruck in: Freiburger Rundbrief XX, 1968, 73/76, S. 25f. Zu B. Gollwitzer vgl. FREI SAGEN. 76 H. GOLLWITZER, Israel, S. 97f. 77 EBD., S. 93f. und H. GOLLWITZER, Vietnam, S. 82. 78 H. GOLLWITZER, Israel, S. 83 und 87. 75

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die bundesdeutsche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit wurden zu einer Gesamtkonzeption verknüpft. Politisch wurde die Studiengruppe von Anfang an durch den SDS dominiert79. Gollwitzer blieb auch dann bei seiner proisraelischen Haltung, als sich in der Neuen Linken ein Antizionismus ausbreitete, der nicht immer frei von Antisemitismus war. Seit Ausbruch des Sechs-Tage-Krieges wurde Israel in linken Organisationen nicht mehr primär als progressiver Pionierstaat der Überlebenden des Holocaust wahrgenommen, sondern als Partei in einem als Kampf zwischen Imperialismus und Antiimperialismus gedeuteten Konflikt80. Im September 1967 gehörte der SDS zu den ersten linken Organisationen, die einen radikal antizionistischen Kurswechsel vornahmen81. Der Verband pflegte nun eine aggressiv antiisraelische Diktion. Trotz seiner sonstigen Sympathie für die rebellierenden Studenten, bekämpfte der „Altlinke“ Gollwitzer geradezu leidenschaftlich den „antiisraelischen Trend in der jungen Linken“82 . Seine mehrfach und eben auch theologisch motivierte proisraelische Haltung ließ ihn den neulinken Perspektivwechsel auf Israel nicht mit vollziehen. Bereits im Winter 1967/68 unterzeichnete er eine gemeinsame Erklärung von 20 namhaften (alt-)linken Persönlichkeiten, in der die israelkritischen Studenten vor einem geschichtslosen und abstrakt-doktrinären „Antiimperialismus“ gewarnt wurden, da dieser in seiner israelfeindlichen Konsequenz zum „Ventil des uneingestandenen Antijudaismus“ zu verkommen drohe83. An anderer Stelle nannte Gollwitzer fünf Ursachen für die proarabische und antizionistische Haltung der Linken: den Antiamerikanismus, der auch das von den USA unterstützte Israel traf; die Selbstdarstellung einer Reihe arabischer Staaten als sozialistisch; die humanitäre Parteinahme für die Not leidenden Palästinenser; die historische Unwissenheit sowie die proisraelische Haltung der Bundesregierung und des Springerkonzerns seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre84. Gollwitzer warb unter den jungen Linken für Verständnis für das Lebens- und Sicherheitsinteresse Israels. Teilweise führte er auch christliche Gründe für seine Argumentation an, obgleich nur die wenigsten seiner studentischen Zuhörer hierzu Zugang fanden85. Eingehend und konfliktfreudig setzte sich Gollwitzer mit den Kritikern Israels auseinander 86, auch wenn er selbst nie unkritisch gegenüber der offiziellen Politik der 79

M. W. K LOKE, Israel, S. 53. Vgl. W. BERGMANN, Antisemitismus, S. 302–311; M. W. K LOKE, Israel; A. LUDWIG, Linke. 81 M. W. K LOKE, Israel, S. 77. 82 Brief Gollwitzers an Uvo Hoelscher, 20.11.1969 (EZA BERLIN, 686/816). 83 Vgl. M. W. K LOKE, Israel, S. 74. 84 WARUM sind Deutschlands linke Studenten antiisraelisch eingestellt?, S. 199f. 85 Vgl. F.-W. M ARQUARDT, Hermeneutik, S. 138f. 86 Vgl. M. W. K LOKE, Israel, S. 115. 80

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israelischen Regierung war87. So verhehlte er Mitte der 1970er Jahre nicht, selbst zunehmend ratlos und enttäuscht zu sein über die Weigerung der israelischen Regierung, mit der PLO in Verhandlungen über die Modalitäten der Gründung eines palästinensischen Staates zu treten88. Und 1978 löste er auf dem internationalen Martin-Buber-Kongress in Beersheba einen Eklat aus, als er das jüdische Volk vor der Einnahme einer „Herrenvolk“-Position warnte89. Insbesondere mit Rudi Dutschke stand Gollwitzer in einem intensiven Dialog über Israel und die Linke. Er kritisierte deren Tendenz zu einem „pauschalen Antizionismus“, der „ununterscheidbar vom Antisemitismus“ sei90. Den Begriff eines „linken Antisemitismus“ vermied Gollwitzer jedoch in der Öffentlichkeit. Gegenüber Dutschke erklärte er in Anspielung auf die Zwischenkriegszeit91 : „Die Juden können wieder einmal der soz. Bewegung zum inneren Schicksal werden.“92 Dutschke verstand Gollwitzers Kritik „als wesentlichen Bestandteil der permanenten Selbstkritik unseres Kurses“93. Auf weniger positive Resonanz stieß Gollwitzers Kritik am linken Antizionismus bei Ulrike Meinhof, die im Herbst 1972 vom „Nazi-Faschismus Israels“ gesprochen hatte94. Während eines Gesprächs nahm er bei ihr ein gravierendes Informationsdefizit über das Judentum wahr und schickte ihr daher mehrere Bücher zum historischen und aktuellen Judentum ins Gefängnis95. Doch Meinhof verharrte in ihrer antizionistischen Weltanschauung und warf Gollwitzer sein „Verhältnis zum Zionismus“ vor96.

4. Sexualität und Liebe Über die so genannte „sexuelle Revolution“97 der antiautoritären Linken zeigte sich Gollwitzer zunächst schockiert: „Es war furchtbar, ich war entsetzt. Aber das war zugleich unaufhaltsam. Sie entdeckten sich, die Jungs und die Mäd87

Vgl. R. R ENDTORFF, Israel-Engagement, S. 157. Vgl. W. K LOKE, Israel, S. 116f. 89 H. GOLLWITZER, Martin Bubers Bedeutung, S. 78. Vgl. auch R. R ENDTORFF, Israel-Engagement. 90 Brief Gollwitzers an Dutschke, Frühjahr 1970. In: R. DUTSCHKE, Revolte, S. 123. 91 Einen knappen Abriss zum linken Antizionismus in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ bietet M. W. K LOKE, Israel, S. 23–28. 92 Brief Gollwitzers an Dutschke, Frühjahr 1970. In: R. DUTSCHKE, Revolte, S. 123. 93 Brief Dutschkes an Gollwitzer, Frühjahr 1970. In: EBD., S. 121. 94 Vgl. G. KOENEN, Vesper, S. 333. 95 Brief Gollwitzers an K. Croissant, 18.9.1973 (EZA BERLIN, 686/722). 96 Brief Gollwitzers an U. Meinhof, 20.12.1973 (EZA BERLIN, 686/696). 97 Zu den „Lesarten der ‚sexuellen Revolution‘“ vgl. K. SCHULZ, 1968. 88

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chen, fanden alle auf einmal einander so unheimlich nett, da ging man natürlich miteinander ins Bett, das war die Entladung der allgemeinen Begeisterung.“98 Zu dieser Zeit vertrat er noch die Auffassung, dass Sexualität in die Ehe gehöre und vor- oder außereheliche Sexualität nicht vertretbar sei. Durch das Zusammenleben mit Studierenden in seinem Haus während der Zeit der Studentenrevolte änderte sich diese Haltung99. Doch erst Mitte der 1970er Jahre beschäftigte sich Gollwitzer auch öffentlich und theologisch mit den Themen Sexualität und Liebe. Dies geschah zunächst in Form einer historisch-materialistischen Kritik an der kirchlichen Sexualmoral. Gollwitzer teilte nun die Position der Neuen Linken, dass es sich bei der Sexualität und ihrer Unterdrückung um gesellschaftlich-ökonomische Faktoren handelte. Diese Einsicht wandte er auf eine Analyse kirchlicher Sexualmoral in der feudalen und bürgerlichen Epoche an. In ihnen sei die Bändigung und Regulierung der Sexualität im Interesse der Erblichkeit von Stand und Eigentum mit Hilfe der „Herrschaftspartnerin Kirche“ erfolgt100. Die Intensität kirchlicher Reglementierungen auf dem Gebiet der Sexualität bei gleichzeitiger Zurückhaltung im Bereich der Ökonomie und der Sozialbeziehungen, zeigte für Gollwitzer die Abhängigkeit der kirchlichen Ethik von gesellschaftlichen Interessen. Unter dem Einfluss der Frauenbewegung sowie angeregt durch den jüdischchristlichen Dialog über das Hohelied der Liebe101 entwickelte Gollwitzer 1977 in Grundzügen eine christliche Sexualethik im Sinne einer neuen Ethik der Liebe. Dabei hatte er die Verfechter der alten kirchlichen Sexualmoral ebenso im Blick, wie die Trägergeneration der „sexuellen Revolution“. Zuvorderst verstand der Theologe das Hohelied als „Aufforderung an die Kirche und die Christen, endlich einmal ein unbefangenes Verhältnis zum Sexus und Eros zu gewinnen, und ‚unbefangen‘ heißt hier: sich freuen, dass es das gibt: diese Lust – eine der mächtigsten und herrlichsten Empfindungen – ist ein wunderbares Geschenk des Schöpfers.“102

Nach Gollwitzers Auslegung handelte das Hohelied der Liebe von der geschlechtlichen Liebe eines unverheirateten Paares zum Zwecke des Lustgewinns103. Als 98

Zitiert nach: H. GOLLWITZER, Skizzen, S. 297. Vgl. J. TREULIEB, Golli, S. 153. 100 Vgl. H. GOLLWITZER, Kirchliche Verkündigung, S. 106. Es handelt sich bei diesem Text um ein Kapitel aus einer Vorlesung über „Kirche im Klassenkampf“, die Gollwitzer im Wintersemester 1974/75 an der Freien Universität Berlin gehalten hat. 101 Auf dem 17. Deutschen Evangelischen Kirchentag hielten am 11.6.1977 Gollwitzer und der israelitische Publizist Dr. Pinchas Lapide eine Bibelarbeit zum Hohelied Salomos. Vgl. P. v. d. OSTENSACKEN /M. STÖHR (Hg.), Wegweisung, S. 24–39. 102 H. GOLLWITZER, Das hohe Lied, S. 21. 103 EBD., S. 24f. 99

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solches sollte es einer jungen Generation Orientierung geben, welche die tradierte kirchliche Sexualmoral mit ihrer Legalisierung und Diskriminierung der Sexualität hinter sich gelassen hatte. Gollwitzer erschien eine solche Orientierungshilfe notwendig, da er die neue sexuelle Freizügigkeit für ambivalent hielt: schon „ins Warenhafte pervertiert“ und doch auch Vorschein „einer befreiten, humanen Kultur“104. So entwickelte der Theologe aus dem Hohelied vier Grundsätze für eine „evangelisch-freie Ordnung“ der geschlechtlichen Liebe: 1. Völlige Gleichberechtigung von Mann und Frau. 2. Ausschluss von physischem und psychischem Zwang. 3. Einheit von sexueller und personaler Liebe. 4. Verantwortung für das Glück des Partners. Gollwitzer verstand alle Ordnungen und Vorschriften im Bereich der sexuellen Liebe als Hilfestellungen, nicht als Bedingungen. Legitim wurde für ihn eine Liebe nicht erst dadurch, dass sie durch Standesamt und Traualtar legal wurde. Aber auf Grund des Agape-Elements in jeder erotischen Beziehung konnte laut Gollwitzer der Frage nach der Institutionalisierung des sexuellen Eros nicht ausgewichen werden. Denn der Theologe sah im Eros die „geschöpfliche Gestalt unserer Liebe“105, zu der die Agape – die selbstlos-hingebende Liebe, die Barmherzigkeit – nicht in einem exklusiven, sondern in einem inklusiven Verhältnis stand106. Die Legalisierung sollte eine Hilfe bedeuten für den Wunsch des eros, dauerhaft, ganzheitlich und bedeutsam für die Gesellschaft zu sein107. Gollwitzer stellte folglich in seinem Buch keinen „Freibrief für sexuellen Libertinismus“ aus108, sondern gab Orientierung für partnerschaftliche Zweierbeziehungen in Zeiten des kulturellen Wandels. Am Beispiel der hier nur kurz ausgeleuchteten vier Themenfelder lassen sich abschließend zwei Befunde festhalten: 1. Gollwitzer war ein dialogisch denkender und lehrender Theologe, wodurch er zur personellen Schnittstelle zwischen Protestantismus und den sozialen Bewegungen werden konnte. 2. Der Dialog mit den sozialen Bewegungen verlief trotz Gollwitzers teilweise zu optimistisch gestimmter Offenheit nicht ausschließlich im Konsens. Insgesamt aber war der Dialog auf Seiten des Berliner Theologen von Sympathie bestimmt. Und auch dort, wo unüberwindbare Gegensätze bestanden, blieb Gollwitzer menschlicher „Sympathisant“ und Seelsorger: So hielt er nicht nur 104

EBD., S. 60, 62. EBD., S. 43. 106 Vgl. R. STIEBER-WESTERMANN, Provokation, S. 319. 107 Vgl. H. GOLLWITZER, Das hohe Lied, S. 55. 108 EBD., S. 58. 105

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die Trauerrede für Benno Ohnesorg und Rudi Dutschke, sondern 1976 auch für Ulrike Meinhof, die zuletzt den Dialog mit ihm verweigert hatte, und deren Freunde Gollwitzer am Grab niederbrüllten109. Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Evangelisches Zentralarchiv Berlin Bestand 686: Nachlass Helmut Gollwitzer 696 Ulrike Meinhof Bd. 1: 1973, 1976–1977 718 Rote Armee Fraktion. Bd. 1: (1968), 1972, (1985) 722 Rote Armee Fraktion. Bd. 5: 1973, 1977 734 Aufruf an die Entführer von Hanns Martin Schleyer 1977–1978 816 Aufruf zur Amnestie für Demonstranten Bd. 1: 1969–1970

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen BAUDIS, Andreas (Hg.): Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens. Helmut Gollwitzer zum 70. Geburtstag. München 1979. BERGMANN, Werner: Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949–1989. Frankfurt/M./New York 1997. BÖLL, Heinrich: Freies Geleit für Ulrike Meinhof. Ein Artikel und seine Folgen. Zusammengestellt von Frank Grützbach. Mit Beiträgen von Helmut Gollwitzer, Hans G. Helms, Otto Köhler. Köln 1972. DANNEMANN, Ulrich/WEISSINGER, Matthias: Helmut Gollwitzers Beitrag zur Theologie der Gesellschaft. In: A. BAUDIS, Richte unsere Füße, S. 578–596. DREWITZ, Ingeborg: Helmut Gollwitzer zum 70. Geburtstag. In: A. BAUDIS, Richte unsere Füße, S. 1ff. DUTSCHKE, Rudi: Gekrümmt vor dem Herrn, aufrecht im politischen Klassenkampf: Helmut Gollwitzer und andere Christen. In: R. DUTSCHKE, Die Revolte, S. 59–115. –, Die Revolte. Wurzeln und Spuren eines Aufbruchs. Hg. von Gretchen Dutschke-Klotz u. a. Reinbek bei Hamburg 1983. DUVE, Freimut/BÖLL, Heinrich/STAECK, Klaus (Hg.): Briefe zur Verteidigung der Republik (rororo aktuell. 4191). Reinbek bei Hamburg 1977. FREI sagen was recht ist. Brigitte Gollwitzer, 1922 bis 1986. Hg. von der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste. Berlin 1986. GOLLWITZER, Helmut: Israel und wir Deutsche. Referat, gehalten auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in München 1959. In: Ders.: Forderungen der Freiheit. Aufsätze und Reden zur politischen Ethik. München 1962, S. 249–254. –, Vietnam, Israel und die Christenheit. München 1967.

109

Vgl. A. PRINZ, Lieber wütend, S. 296.

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–, Die reichen Christen und der arme Lazarus. Die Konsequenzen von Uppsala. München 1968. –, Die Weltverantwortung der Kirche in einem revolutionären Zeitalter. In: Berlin-Spandau 1968. Bericht über die regionale Tagung (West) der 4. Synode der Evangelischen Kirche Deutschland vom 6. bis 11. Oktober 1968: „Die Zukunft der Kirche und die Zukunft der Welt“. Hannover 1969, S. 78–100. –, Muß ein Christ Sozialist sein? In: Weckerling, Rudolf (Hg.): Jenseits vom Nullpunkt? Christsein im westlichen Deutschland. Bischof D. Kurt Scharf zum 70. Geburtstag am 21.10.1972. Stuttgart 1972, S. 151–170. –, Gnade und Freistatt. In: Böll, Heinrich: Freies Geleit für Ulrike Meinhof. Ein Artikel und seine Folgen. Zusammengestellt von Frank Grützbach. Mit Beiträgen von Helmut Gollwitzer, Hans G. Helms, Otto Köhler. Köln 1972, S. 7–12. –, Das hohe Lied der Liebe (Kaiser Traktate. N. F. 8). München 1978 u. ö. –, Christentum, Demokratie, Sozialismus II. Aufsätze zur Politik (Argument Studienhefte. SH 40). Berlin 1980. –, Der Sozialist und die demokratische Verfassung. In: Ders.: Christentum, Demokratie, Sozialismus II. Aufsätze zur Politik (Argument Studienhefte. SH 40). Berlin 1980, S. 188–199. –, Alte und neue Jugendbewegung. Rudi Dutschke (1940–1979). In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 13, 1981, S. 177–185. –, Martin Bubers Bedeutung für die protestantische Theologie. In: Leben als Begegnung. Ein Jahrhundert Martin Buber (1878–1978). Vorträge und Aufsätze (Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum). Hg. von Peter von der Osten-Sacken. Berlin 2. verb. Aufl. 1982, S. 63–79. –, Zur Frage der Gewalt hier und heute. Ansprache im 3. Programm des Senders Freies Berlin am 21.4.1968. In: Ders.: … dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen. Aufsätze zur politischen Ethik. Bd. 2. Hg. v. Andreas Pangritz (Ausgewählte Werke. 5). München 1988, S. 167–170. –, Leichenrede auf das Grundgesetz. In: Ders.: … dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen. Aufsätze zur politischen Ethik. Bd. 2. Hg. v. Andreas Pangritz (Ausgewählte Werke. 5). München 1988, S. 171–174. –, „Verfassungsfeinde über uns!“ Vortrag bei einer Veranstaltung gegen die Berufsverbote in der Freien Universität Berlin am 10. Juni 1975. In: Ders.: … dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen. Aufsätze zur politischen Ethik. Bd. 2. Hg. v. Andreas Pangritz (Ausgewählte Werke. 5). München 1988, S. 244–261. –, Gegen falsche Solidarisierung. In: Ders.: … dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen. Aufsätze zur politischen Ethik. Bd. 2. Hg. v. Andreas Pangritz (Ausgewählte Werke. 5). München 1988, S. 282–284. –, Die Revolution des Reiches Gottes und die Gesellschaft. Thesen zur Diskussion in einer Vorlesung an der Freien Universität Berlin im Sommersemester 1968. In: Ders.: Umkehr und Revolution. Aufsätze zu christlichem Glauben und Marxismus. Bd. 1. Hg. v. Christian Keller (Ausgewählte Werke. 6). München 1988, S. 102–129. –, Sozialismus und Revolution. Thesen innerhalb eine Vorlesung über ‚Die gesellschaftlichen Implikationen des Evangeliums‘, Sommersemester 1970, Freie Universität Berlin.

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In: Ders.: Umkehr und Revolution. Aufsätze zu christlichem Glauben und Marxismus. Bd. 1. Hg. v. Christian Keller (Ausgewählte Werke. 6). München 1988, S. 130–140. –, Kirchliche Verkündigung in den Schranken der Klassengesellschaft. In: Ders.: Umkehr und Revolution. Aufsätze zu christlichem Glauben und Marxismus. Bd. 2. Hg. v. Christian Keller (Ausgewählte Werke. 7). München 1988, S. 92–113. –, Argumente gegen ein Russell-Tribunal über die DDR. In: Ders.: Umkehr und Revolution. Aufsätze zu christlichem Glauben und Marxismus. Bd. 2. Hg. v. Christian Keller (Ausgewählte Werke. 7). München 1988, S. 207–211. –, Zur Frage der DKP-Pfarrer. In: Ders.: Umkehr und Revolution. Aufsätze zu christlichem Glauben und Marxismus. Bd. 2. Hg. v. Christian Keller (Ausgewählte Werke. 7). München 1988, S. 246–255. –, Israel – und wir. In: Ders.: Auch das Denken darf dienen. Aufsätze zu Theologie und Geistesgeschichte. Bd. 2. Hg. v. Friedrich-Wilhelm Marquardt (Ausgewählte Werke. 9). München 1988, S. 82–102. –, Es geht nichts verloren. 1908 bis 1993. Hg. i. A. der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste und der Kirchengemeinde Berlin-Dahlem von Wolfgang Brinkel. Göttingen 1994. –, Die kapitalistische Revolution. Tübingen 1998. –, Skizzen eines Lebens. Aus verstreuten Selbstzeugnissen. Gefunden u. verbunden von Friedrich-Wilhelm Marquardt. Gütersloh 1998. „GOLLWITZER WARNT VOR GEWALT. FU-Diskussion: Widerspruch gegen SDS. Differenzen in der APO“. In: R. DUTSCHKE, Die Revolte, S. 114f. K ARL, Michaela: Rudi Dutschke. Revolutionär ohne Revolution. Frankfurt/M. 2003. K LOKE, Martin W.: Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses (Schriftenreihe des Deutsch-Israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten e.V. 20). Frankfurt/M. 1990. KOENEN, Gerd: Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus. Köln 2003. LUDWIG, Andrea: Neue oder deutsche Linke? Nation und Nationalismus im Denken von Linken und Grünen. Opladen 1995. M ARQUARDT, Friedrich-Wilhelm: Hermeneutik des christlich-jüdischen Verhältnisses. Über Helmut Gollwitzers Arbeit an der ‚Judenfrage‘. In: A. BAUDIS, Richte unsere Füße, S. 138–154. MÜLLER-K ENT, Jens: Vermächtnis für die Zukunft. Gespräche mit Helmut Gollwitzer und Kurt Scharf (Kaiser-Taschenbücher. 65). München 1989. NIEMEIER, Gottfried: Die Evangelische Kirche in Deutschland. In: Kirchliches Jahrbuch 100, 1973, S. 1–158. OSTEN-SACKEN, Peter von der/STÖHR, Martin (Hg.): Wegweisung. Jüdische und christliche Bibelarbeiten und Vorträge. 17. Deutscher Evangelischer Kirchentag Berlin 1977. PANGRITZ, Andreas: Zur Einführung. In: Gollwitzer, Helmut: … dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen. Aufsätze zur politischen Ethik Bd. 1. Hg. von Andreas Pangritz (Ausgewählte Werke. 4). München 1988, S. 7–19. PRINZ, Alois: Lieber wütend als traurig. Die Lebensgeschichte der Ulrike Marie Meinhof. Weinheim u. a. 2003.

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Claudia Lepp

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III. Internetadressen http://213.187.75.204/uebersicht/alle_dossiers/zeitgeschichte/der_deutsche_herbst/die_entfuehrung/

Norbert Friedrich

Helmut Thielicke als Antipode der sozialen Bewegungen

Das Jahr 1968 ist ein bemerkenswertes Jahr, es spielt gerade für eine Betrachtung des Protestantismus als soziale Bewegung durchaus eine wesentliche Rolle, es wird in diesem Beitrag als Chiffre immer wieder eine Rolle spielen1. Das Jahr hat aber auch einen einschneidenden Abschied gebracht. Am 10. Dezember 1968 verstarb Karl Barth (1886–1968), der wohl bedeutendste aber immer auch kontrovers diskutierte Theologe des 20. Jahrhunderts. Der Schweizer Barth war und ist auch für die deutsche Gesellschaftsgeschichte nach 1945 eine wichtige Figur, durch eigene Stellungnahmen besonders aber auch durch seinen Einfluss auf eine neue Generation von Verantwortungsträgern in Kirche und Gesellschaft, wurde er zu einem wichtigen Kronzeugen für manche von denjenigen, die Reformen und Neuaufbrüche forderten. Der Theologe und Publizist Heinz Zahrnt hat 1966 in seiner populären Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts, Karl Barth und Helmut Thielicke als vergleichbar produktive Theologen in eine enge Beziehung gebracht, verband sie doch nicht nur eine „gewichtige“ Buchproduktion, sie können ebenso als Repräsentanten für unterschiedliche Auffassungen der Rolle von Kirche und Theologie in der Gesellschaft angesehen werden. Zahrnt leitet sein Kapitel über Thielicke so ein: „Nach Barths Kirchlicher Dogmatik bildet Thielickes Theologische Ethik das bisher umfangreichste systematisch-theologische Werk in unserem Jahrhundert.“2 Tatsächlich hat diese beiden einerseits sehr unterschiedlichen, andererseits jedoch auch ähnlichen Theologen mehr mit einander verbunden als dies scheinen mag – und dies sind zunächst die öffentliche Wirksamkeit und der große Bekanntheitsgrad, der beide verband. Man kann fragen, welche evangelischen Theologen haben es etwa auf einen Spiegel-Titel geschafft3 ? Auch der Hamburger Theologe Thielicke, der hier ja Thema sein soll, hat Karl Barth einen gründlichen Nachruf gewidmet. In der Zeitung „Christ und 1 Zur Bedeutung des Jahres 1968 für die Kirchen vgl. als exemplarische Studie T. JÄHNICHEN / N. FRIEDRICH, Krisen; zur allgemeinen Bedeutung der sechziger Jahre für Kirche und Gesellschaft M. GRESCHAT, Kirchliche Zeitgeschichte; M. GRESCHAT, Protestantismus. 2 H. Z AHRNT, Sache, S. 255. 3 DER SPIEGEL 9. Jg., Nr. 51, 21.12.1955 (Helmut Thielicke); DER SPIEGEL 13. Jg., Nr. 52, 23.12.1959 (Karl Barth).

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Welt“4 würdigt er ebenso freundlich wie kritisch „den Kirchenvater“. Beide verband persönlich ein distanziertes Verhältnis, auch wenn Thielicke in seiner Autobiographie sich durchaus gern an die persönlichen Begegnungen erinnerte5. Sie hatten sich – streitlustig wie sie waren – öffentliche Kontroversen geliefert, sie fanden kritische Worte über die Theologie des anderen: Barths Theologie war Thielicke „fremd“, Barth wiederum war wohl der Meinung, Thielicke sollte als Professor nun mal eine „anständige Theologie“ treiben6. So liest man einen solchen Nachruf auch mit einem ganz besonderen Interesse, denn er sagt auch ebenso viel über den Rufenden wie über den zu Würdigenden. Zwei Aspekte aus dem Nachruf sollen herausgegriffen werden, sind sie doch für die theologische Existenz Thielickes bedeutsam und führen direkt in die hier zu erörternde Fragestellung. Einerseits reiht sich der Ethiker Thielicke prominent in die Kritik an der Barthschen Ethik ein. Dieser habe, so der oftmals erhobene Vorwurf, durch seine Theologie verhindert, „daß theologische Grundsätze und Methoden der Weltgestaltung entwickelt wurden.“ Durch eine „ethische Indifferenz“ seien durch Barth „alle Normen ins Schwimmen“ geraten7. Dass dies dem – wie wir noch sehen werden – sehr weltzugewandten Theologen Thielicke nicht behagte, leuchtet ein. Doch mit diesem Vorwurf an die Barthsche Theologie verbindet der Nachruf noch einen weiteren, sicher den konkreten Zeitumständen geschuldeten Vorwurf, den des letztlich unpolitischen Karl Barth, dessen Theologie zur heutigen „Soziologisierung und Politisierung“ beigetragen habe: „Darum hat man bei dem, was gerade die unruhige theologische Jugend hier treibt, gleichermaßen den Eindruck erheblichen Sachernstes wie auch einen erschreckenden theologischen Dilettantismus, ja einer Auswanderung aus der Theologie. Wie soll denn auch eine Generation, die ja – keineswegs nur von Barth, sondern ebenso auch von Bultmann her – jahrzehntelang in der Weltlosigkeit der Gott-Existenz-Beziehung gedacht hat, mit der Übermacht aufkommender Weltprobleme fertig werden, ohne daß allenthalben die Sicherungen durchbrennen?“8

Man merkt es sofort, Nachrufe sagen auch eine Menge über den, der sie schreibt, denn dieser Text formuliert sehr klar auch eine eigene Position, macht deutlich, wo Helmut Thielicke die theologischen Aufgaben der Gegenwart sah, wie er sich 4

CHRIST UND WELT, 20.12.1968. H. THIELICKE, Stern, S. 256–259. 6 H. THIELICKE, Stern, S. 257f. 7 Nochmals schärfer: „Die Weltlichkeit des Menschen, seine gesellschaftlichen Bezüge geraten theologisch außer Kontrolle.“; zur Barthschen Ethik vgl. knapp W. E. MÜLLER, Evangelische Ethik, S. 46–51; vgl. dagegen die Interpretation von G. VAN NORDEN, Weltverantwortung. 8 CHRIST UND WELT, 20.12.1968. 5

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zu den gesellschaftlichen Aufbrüchen der Gegenwart stellte. Überspitzt kann man gerade vor dem Hintergrund des umfangreichen Werkes von Thielicke sagen, dass er sich in seiner Selbstsicht fast schon als ein Interpretator und Erklärer sozialer und gesellschaftlicher Wirklichkeiten sah. Im Folgenden soll dieser bekannte Theologe des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt des Interesses stehen, sollen seine Biographie, seine theologischen Grundprämissen und seine sozialethischen Positionen beispielhaft erläutert werden. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf das Thema „Thielicke und 1968“ gelegt werden.

1. Zur Biographie Geboren am 4. Dezember 1908 in Barmen, sein Vater war Schulrektor, studierte Helmut Thielicke seit 1928 Theologie in Greifswald, Marburg, Erlangen und Bonn9. Nach einer philosophischen Doktorarbeit10 promovierte er in Theologie bei dem Systematiker Paul Althaus (1888–1966) in Erlangen. In dieser Arbeit („Geschichte und Existenz“11) stellte sich Thielicke einem Problem, welches er später als „meine ureigenste theologische Lebensfrage“ bezeichnete: „nämlich, wie sich die vertikale Dimension des Offenbarungsgeschehens zu den horizontalen Lebensbereichen verhält, in denen wir natürlicherweise leben.“12 Dieses Problem charakterisiert er als ein primär anthropologisches, als Ausdruck der Beziehung Gott-Mensch13. Der Promotion folgte sofort die Habilitation mit einer Arbeit zur Religionsphilosophie Lessings14.

9 Zur Person allgemein L. MOHAUPT, Helmut Thielicke (dort weitere Literatur); N. FRIEDRICH, Helmut Thielicke – Ein protestantischer „Staatsethiker“, dieser Aufsatz wurden für die vorliegende Arbeit mit herangezogen; weitere Informationen bietet der Nachlass Helmut Thielickes, der, frei zugänglich, in der Universitätsbibliothek Hamburg liegt. 10 H. THIELICKE, Verhältnis. 11 H. THIELICKE, Geschichte und Existenz; die eigentliche Licentiatenarbeit stellt nur einen Teil dieser Schrift dar, sie erschien separat, vgl. DERS., Wesen. 12 H. THIELICKE, Stern, S. 89. 13 EBD., S. 81: „Denn eines war mir immer gewiß: daß der Mensch sich, wenn er sich selber sucht, nicht findet und daß er sich nur dann gewinnt und verwirklicht, wenn er sein Leben an Gott verliert.“ 14 Paul Althaus war für Thielicke, wie auch für andere Systematiker, die ihre große Wirksamkeit in der Bundesrepublik Deutschland entfalten konnten, der entscheidende Lehrer, vgl. zu seinem Verhältnis zu Althaus auch H. THIELICKE, Stern, S. 83–85; vgl. auch die Lebenserinnerungen von Wolfgang Trillhaas (W. TRILLHAAS, Aufgehobene Vergangenheit), und Walther von Loewenich (W. v. LOEWENICH, Erlebte Theologie, S. 131ff., von Loewenich war Thielickes Schwager!); nach dem Krieg äußerte

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Thielickes Karriere verlief unter den Bedingungen des Nationalsozialismus und trotz aller kleinen Schwierigkeiten, die er schon mit dem Regime und mit dem Erlanger Systematiker Werner Elert (1885–1954) hatte, zunächst hoffnungsvoll weiter15 : 1935 übernahm er die Leitung des Erlanger Studienhauses, 1936 erhielt er eine kommissarische Professur an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg, dort wurde er 1940 nach seiner eigenen Darstellung, aus politischen Gründen amtsenthoben16. Auf Initiative des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurms fand er ein neues Betätigungsfeld in Württemberg, zunächst als Pfarrer in Ravensburg, später dann in Stuttgart17. Er profilierte sich in dieser Zeit als wortmächtiger Prediger gegenüber dem nationalsozialistischen Staat, was ihm im Mai 1942 ein Reise- und Redeverbot eintrug. In Stuttgart hatte er den Auftrag, das extra für ihn geschaffene „Theologische Amt“ der Landeskirche zu leiten. Er war für die Weiterbildung der Pfarrer zuständig, zudem sollte er durch Vorträgen und Arbeitsgemeinschaften eine Bildungsarbeit unter gebildeten und interessierten Laien initiieren18. Genannt werden muss noch seine Mitwirkung im „Freiburger Kreis“ des Deutschen Widerstands; als Beauftragter von Theophil Wurm nahm Thielicke an den Sitzungen teil19. Thielicke ist aber nie aktives Mitglied des deutschen Widerstandes gewesen. Nach 1945 nahm er, gerade in der Schulddebatte, eine dezidiert andere Position ein als die Mehrzahl der Mitglieder der Bekennenden Kirche, er kritisierte das Stuttgarter Schuldbekenntnis sowie die vielen öffentlichen Äußerungen zur Schuldfrage, er äußerte öffentlich ein Unbehagen gegen ein für ihn zu umfassend formuliertes öffentliches Schuldeingeständnis20. Gerade diese Auseinandersetzung machte Thielicke öffentlich bekannt, seine Polemik gegen Karl Barth wurde breit rezipiert. In den nächsten Jahrzehnten kam er in Schriften und persönlichen Briefen immer wieder auf die Schuldfrage zurück. Sein VerständThielicke sich im Rahmen der Entnazifizierung positiv zu Althaus und machte ihn quasi zu einem späteren „Widersacher des Regimes“, vgl. R. P. ERICKSEN, Theologen, S. 158f. 15 Von den Konflikten mit Elert berichtet er selbst ausführlich, vgl. H. THIELICKE, Stern, S. 97–107; zu den wissenschaftlichen Karrieren vgl. auch die persönliche Erinnerung von W. V. LOEWENICH, Erlebte Theologie, S. 143. 16 Vgl. dazu auch K. MEIER, Fakultäten, S. 96. 17 Vgl. seinen Brief vom 28.8.1940 an Theophil Wurm in G. SCHÄFER, Landeskirche Bd. 6, S. 1183f.; zum Verhältnis Thielickes zu Wurm vgl. auch T. WURM, Erinnerungen, S. 171f. 18 Text der Dienstanweisung bei G. SCHÄFER, Landeskirche Bd. 6, S. 1184; zu seiner Stuttgarter Zeit auch H. EHMER, Karl Hartenstein. 19 Vgl. dazu EBD., S. 188–193; Thielicke gab später die Denkschrift mit einer eigenen Einleitung heraus, H. THIELICKE (Hg.), In der Stunde Null; vgl. dazu auch G. BRAKELMANN, Aus der Zeit der Diktatur. 20 Vgl. dazu N. FRIEDRICH, Thielicke, S. 27–32; allgemein M. GRESCHAT: Die evangelische Christenheit, S. 150–163.

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nis für Mitläufer und auch Kriegsverbrecher, welches er immer wieder öffentlich kund tat und welches zu Irritation wie Zustimmung führte, ist nur auf dem Hintergrund seiner Interpretation des Nationalsozialismus verständlich. Für ihn war der Nationalsozialismus „das letzte und furchtbarste Produkt der Säkularisation“, er sah einen schroffen Gegensatz zwischen Christentum und Nationalsozialismus. In einer Welt voll Nihilismus und Haltlosigkeit kam der Kirche die zentrale Stellung für den Wiederaufbau zu21. Sein Reden von der „Schuld der Anderen“, etwa in der Flüchtlingsfrage, hatte, wie Andreas Richter-Böhne herausgestellt hat22, eine Entlastungsfunktion; sie kann – wohl auch gegen die verbalisierten Beteuerungen Thielickes, der immer wieder als Kritiker des totalitären NS-Regimes aufgetreten ist – als eine „Form der Verweigerung von Buße und Umkehr“23 interpretiert werden. Es überrascht nicht, dass Thielicke hier auch Unterstützung von der „falschen Seite“ erhielt. So berichtet er in seiner Autobiographie von Zustimmung durch den Schriftsteller Hans Grimm, der freilich Thielickes „Gewissensnot“, seine „geistlichen Motive“24 nicht gesehen habe25. Nach dem Krieg setzte Thielicke seine Universitätslaufbahn fort, zunächst in Tübingen, wo er auch eine zeitlang als Universitätsrektor amtierte. Von Württemberg aus begleitete er die Gründung und Etablierung der Evangelischen Akademien in Deutschland. 1954 suchte Thielicke dann eine neue Herausforderung, er ging an die Universität Hamburg, um dort die neu eingerichtete Theologische Fakultät mit aufzubauen. Hamburg wurde auch seine endgültige Heimat, hier verstarb er 1986 nach einem sicher erfüllten und aufmerksam beobachteten und auch inszenierten Leben. Neben seinem Amt als Theologieprofessor engagierte er sich immer wieder hochschulpolitisch als Rektor der Universitäten in Tübingen und Hamburg. Mehrfach wurde er für andere Ämter gehandelt, u. a. als evangelischer Militärbischof oder auch für den sog. Weltanschauungslehrstuhl der Universität München als protestantischen Gegenpart zu Karl Rahner. 21 H. THIELICKE, Die Kirche inmitten des deutschen Zusammenbruchs. Sein Artikel endet mit dem Satz „Wir haben dem Satan in die Augen geblickt“; vgl. dazu auch H. LUDWIG, Karl Barths Dienst, S. 305. Ludwig konstatiert „Der Dämonismus war damals tatsächlich eine akute Gefahr“, wobei unklar bleibt, worin diese Gefahr bestanden hat. Berühmt geworden ist Karl Barths Reaktion: „Es sieht nicht so aus, als ob ihm das viel Eindruck gemacht hätte“, zitiert nach einem Gespräch von 1960, vgl. K. BARTH, Gesamtausgabe, Gespräche 1959–1962, S. 166. 22 A. R ICHTER-BÖHNE, Unbekannte Schuld. 23 EBD., S. 125. 24 H. THIELICKE, Stern, S. 250. Sehr viel Material bietet in dieser Frage der bisher kaum ausgewertete Nachlass Thielickes. 25 Vgl. auch C. VOLLNHALS, Schatten. Vollnhals sieht Thielicke als ein Beispiel für die in der Debatte entscheidende Entlastungsthese der Säkularisierung (S. 388f.), ja er wirft ihm (S. 406) einen „unbußfertigen Nationalismus“, eine „nationalistische Hetze im seelsorgerlichen Gewand“ vor, dabei greift er besonders auf Thielickes eigene Darstellung in H. THIELICKE, Stern, S. 82 zurück.

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Alle diese Pläne, die entstanden weil man einen Prominenten suchte oder weil man den häufig Kritisierten und in öffentlichen Konflikten Stehenden schützen wollte, zerschlugen sich. Thielicke aber empfand in seiner Hochschultätigkeit die größte Freiheit, seinen vielfältigen Aktivitäten und Interessen nachzugehen, seine eigene Meinung frei und ohne diplomatische Überlegungen äußern zu können.

2. Die Theologie Thielickes theologischer und politischer Einfluss in der Nachkriegszeit auf die Pfarrerschaft darf nicht unterschätzt werden26. Durch sein relativ geschlossenes und umfangreiches Werk (eine Ethik, eine Dogmatik, eine Anthropologie, eine Theologiegeschichte sowie eine kaum zu überschauende Anzahl weiterer größerer und kleinerer Schriften27) und seine öffentliche Rede und Präsenz vermochte er eine große Breitenwirkung zu entfalten. Thielicke entwickelte seine eigene Theologie in kritischer Auseinandersetzung sowohl mit Karl Barth als auch mit Paul Althaus. Sein eigener theologischer Entwurf nimmt seinen Ausgang bei der Wirklichkeit: „Denn sie nötigt uns, die Frage der Ethik nicht nur mit der speziellen Frage zu identifizieren: ,Was sollen wir tun?‘, sondern wir haben sie eingebettet zu sehen in die ungleich umfassendere Frage: ,Wie haben wir die Wirklichkeit zu verstehen, innerhalb der wir zu handeln haben?‘“

Oder anders: “Was bedeutet unser ,In-der-Welt-sein‘ und gerade unser sein in der entbundenen Welt? Das neutestamentliche ,In-der-Welt-aber-nicht-von-der-Welt‘-sein, das en-sarki aber nicht kata-sarka-sein ist uns als dringliches Problem aufgegeben.“28

Grundlage seiner Ethik ist die lutherische Rechtfertigungslehre, wobei sein Wirklichkeitsverständnis zu einem ausgeprägten konkreten Denken führt. Er bedient sich dabei sog. Modellfälle, die die ethischen Entscheidungen möglichst klar dokumentieren sollen. Seine Ethik ist dabei konstruiert als eine sog. Ethik 26 Dennoch wird seine Theologie heute kaum mehr in theologischen Lehrbüchern und Darstellungen ausführlich rezipiert, vgl. dazu z. B. J. ROHLS, Protestantische Theologie, S. 613ff. (sehr knappe Darstellung); F. MILDENBERGER, Geschichte (Thielicke kommt gar nicht vor); eine Ausnahme bildet W. E. MÜLLER: Evangelische Ethik, S. 55–60. 27 Es gibt bisher keine Gesamtbibliographie, vgl. aber die Zusammenstellungen von Veröffentlichungen in: H. THIELICKE, Stern, S. 444f. 28 H. THIELICKE, Theologische Ethik Bd. 1, S. 8 (Nr. 9).

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des Kompromisses. Dieses meint primär: Der Mensch, auch der gerechtfertigte Mensch, muss sein ethisches Handeln in der Weltwirklichkeit auf der Maxime des Kompromisses aufbauen, der weder einem sittlichen Radikalismus huldigt – Thielicke dachte hier besonders an ein destruktives Handeln – noch einem schwächlichen Kompromissgeist huldigt29.

3. Ethik im Vollzug Die von Thielicke vorgelegte Ethik umfasst nicht weniger als 3.000 Seiten und es dürfte schwer fallen, Bereiche zu finden, zu denen er sich nicht geäußert hat, wobei man einen Schwerpunkt bei politischen, wirtschafts- und medizinethischen Fragen sehen kann. Die von Thielicke gebrauchten Beispiele und auch die Themenauswahl können – von einem heutigen Blickwinkel her – als zeitgebunden bezeichnet werden, sie sind eine ethische Kommentierung der Ära-Adenauer, betrachtet aus einem protestantischen Blickwinkel. Seine konkreten ethischen Lösungsvorschläge sind vielfach vom konservativen Geist der Nachkriegszeit geprägt, dies trifft etwa auf seine Fragen der Sexualmoral zu (deren Thematisierung im Bereich der evangelischen Kirche er sehr früh mit vorangetrieben hat) aber auch auf seine ausführlichen Überlegungen zum Themenkreis Krieg und Frieden, der deutlich von der weltpolitischen Konstellation des Kalten Krieges beeinflusst war. Zugleich hat Thielicke aber schon sehr früh in seiner Ethik des Politischen für den demokratischen Rechtsstaat optiert. Früher als andere evangelische Theologen hat er sich nachdrücklich für Demokratie und soziale Marktwirtschaft eingesetzt30. Bei seiner Begründung dieser Position bemüht er sich, praktische Konsequenzen aus den Erfahrungen der Zeit des Nationalsozialismus zu ziehen. Für das Verhältnis von Kirche und Politik stellte Thielicke die Frage: „Wie hat die Kirche zu sprechen, wenn sie auf der einen Seite nicht einer abstrakten Zeit- und Situationslosigkeit verfallen, wenn sie sich also nicht in allgemeinen und dann meist trivialen Gewissensappellen erschöpfen will, und auf der anderen Seite sich nicht in die Situation ,einmengen‘, sie also als eine unvertretbare Situation coram Deo nicht verfälschen will?“31

29

Für ihn wäre dies eine „illegitime Prolongierung der Welt“, vgl. H. THIELICKE, Theologische Ethik Bd. II/1, S. 201 (Nr. 685). 30 M. J. INACKER, Transzendenz; W. HUBER, Protestanten. 31 H. THIELICKE, Theologische Ethik Bd. II/1, Nr. 1960.

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Bei seiner Antwort geht Thielicke von der Unterscheidung der „Kirche über den Zeiten“ („einfach dadurch, daß sie der Zeitlichkeit nicht entstammt“32 ) und einer „Kirche in der Welt“ aus, denn sie „trägt vielmehr auf ihrem Angesichte durchaus Spuren und Runen dessen, was ihre Zeit bewegt“, sie steht immer in einer konkreten „gesellschaftlichen Situation.“33 Wenn nun die Kirche aber in die Welt „hineinreden“ „muß“ – und dies steht für Thielicke außer Frage, da kein „Lebensbereich“ besteht, der „nicht in die Hoheitszone Gottes einbezogen wäre“ und in der Politik, etwa in den Frage von Krieg und Frieden“, um Leben und Tod besonders das „Wächter- und Hirtenamt gefordert“ ist – so „kann sie nicht auf beliebige Art mitreden“34. Konkret, aber nicht beliebig, kein leichtes Unterfangen, welches er umzusetzen versuchte. Dies geschieht dann in konkreter Rede, in durchaus mutiger und streitbarer Positionierung in den Konflikten der damaligen Gegenwart. Als Beispiel soll hier die Sozial- und Wirtschaftsethik Thielickes genannt werden: Ausgehend von der Orientierung an der „Würde des humanum“35 erhebt er den Wert des Menschen als Person zum zentralen christlichen Anliegen in der Wirtschaft und sieht hierin beispielsweise eine „wesentliche und letzte Thematik“36 der Mitbestimmungsfrage begründet. Engagiert beschreibt er die Gefahren einer Degradierung des Menschen zum bloßen Produktions- und Kostenfaktor und plädiert für die Sicherung der Subjektstellung des Menschen auch im Arbeitsprozess. Es geht ihm um die Aufgabe, den Betrieb auch als soziales Gebilde zu verstehen und ihn „zur Heimat des Arbeiters zu machen und damit zum sozialen Frieden beizutragen“37. Dies hindert ihn dann aber nicht, gerade gewerkschaftliche Mitbestimmungsformen strikt abzulehnen und eine sehr unternehmensfreundliche Position zu entwickeln, eine Haltung, die ihm viel Kritik eingebracht hat. Thielicke unterstützt zugleich die Idee der sozialen Marktwirtschaft vorbehaltlos. Er setzt sich für Wettbewerbs- und Kartellregelungen ein, also für eine aktive Ordnungspolitik, er will eine möglichst gerechte Verteilung von Wohlstand und Eigentum, etwa durch Förderung der Partizipation der Arbeitnehmer 32

EBD., Nr. 1964–1973, Zitat 1968. EBD., Nr. 1874–1980, Zitate 1974f. 34 EBD., Nr. 1998–2000. Thielicke wehrt hier besonders einen „falschen Konservatismus“ der Kirche ab, d. h. eine „Verabsolutierung des überzeitlichen Charakters der Kirche“, der sich z. B. in dem Versagen der Kirche vor dem Vierten Stand gezeigt habe (1981–1989), aber auch einen „falschen Revolutionismus“, der versucht, „das Reich Gottes mit seinen radikalen Gesetzen direkt auf diesen Äon zu übertragen“ (Nr. 1990–1996). 35 EBD., S. 541 (Nr. 2019). 36 EBD. 37 Kirche und Mitbestimmungsrecht, in: A. CHRISTMANN /O. KUNZE, Wirtschaftliche Mitbestimmung, S. 6; vgl. auch die Kritik EBD., S. 241f. 33

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am Produktivvermögen, er vertritt die Idee des Wohlfahrtsstaates, um gleichzeitig vor einem Ausufern der Sozialleistungen zu warnen. Seine Position in der Wirtschaftsethik war von dem Ost-West Gegensatz der Nachkriegszeit bestimmt. Bei aller Abwehr einer manchesterlichen Art des Kapitalismus ging es ihm um eine ethische Begründung des überlegenen Modells einer freien und sozialen, christlich geprägten Marktwirtschaft. Dabei sprach er sich immer wieder entschieden gegen zu starke Eingriffe des Staates in die Rechte des Einzelnen aus. Er wandte sich etwa gegen einen sog. radikalen Wohlfahrtsstaat, da dieser zu „Langeweile, Lebensangst und einer hilflosen Verfallenheit an die Außensteuerung des Lebens“ führen könne. Dagegen wollte Thielicke neben einer Grundsicherung die Verantwortung des „Familienverbandes“ stärken38. Der Ethiker Helmut Thielicke stellte sich der somit durch seine Orientierung an der Wirklichkeit und mit seinem Gespür für gesellschaftliche Themen, ganz in die konservative Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik. Er war ein Teil des meinungsbildenden Establishments, er stand damit zugleich, gegen die von den neuen sozialen Bewegungen ausgehenden Reformforderungen.

4. Die Studentenbewegung Für Thielicke selbst war die „Studentenrevolte in Universität und Kirche“ „einer der traurigsten Lebensabschnitte“39 seines Lebens. Die Unruhen und die an Schulen und Hochschulen einsetzenden Reformen waren für ihn „eine historische Zäsur, nach der es zum Niedergang der deutschen Universitäten kam.“40 Sein Lebensraum – die deutsche Universität – veränderte sich nachhaltig, die von ihm so geliebte Öffentlichkeit, die deutsche Gesellschaft, war einem Entwicklungsprozess ausgesetzt, den er weder verstehen noch unterstützen konnte. Es verwundert nicht, dass der konservative Lutheraner Thielicke, der sich immer wieder in öffentliche Debatten eingeschaltet hat, eine Zielscheibe von Angriffen und Kritik wurde41. Zudem nahm er selbst immer wieder in der Öffentlichkeit zu den Entwicklungen Stellung, er mischte sich mit einer eigenen

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Vgl. H. THIELICKE, Rationalisierung, S. 39. H. THIELICKE, Stern, S. 400. 40 EBD. 41 Besonders kritisiert wurde z. B. eine Reise, die er 1959 nach Südafrika gemacht hatte, vgl. zu dieser Reise den durchaus geglätteten Bericht in H. THIELICKE, Stern, S. 353–361 sowie den ausführlichen, erheblich positiveren Bericht in: DERS., Kanzel, S. 157–167; vgl. auch die scharfe und polemische Kritik von R. JANTSCH, Mißbrauchte Religion, S. 24. 39

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Veröffentlichung42 und mit Reden in die Debatte ein, im Grunde war er ein berechenbarer Zeitgenosse, der sich schon sehr früh gegen die Reformbewegung positioniert hat. Ausdrücklich verwiesen werden soll auf einen Höhepunkt der Auseinandersetzung um den Theologen Thielicke: die Ereignisse im Januar 1968 anlässlich eines Gottesdienstes in der Michaeliskirche43. Im Hamburger Michel hielt Thielicke seit 1955 vor einer großen Personalgemeinde regelmäßig Gottesdienste, sie waren in der Hansestadt ein gesellschaftliches Ereignis44. Im Konflikt um die Störung dieses Gottesdienstes wurde auch in konzentrierter Form deutlich, wie sich die Position des Professors und öffentlichen Predigers Thielickes45 seit der Mitte der 1960er Jahre zu ändern begann. Umstritten war er immer gewesen, wegen seiner Theologie und seinen öffentlichen Stellungnahmen, zugleich waren die Auseinandersetzungen – in der Regel mit Kollegen, die der gleichen Generation angehörten und bei durchaus unterschiedlichen Konsequenzen die Erfahrung des Dritten Reiches teilten – auf einer zwar polemischen aber doch letztlich respektvollen intellektuellen Ebene abgelaufen. Nun aber wurden Grundwerte grundsätzlich in Frage gestellt. Im Zusammenhang mit dem Gottesdienst, bei dem von Seiten der Studierenden zu Störungen aufgerufen worden war, warf man Thielicke mit unwahren Behauptungen seine Vergangenheit im Dritten Reich vor, sowie seinen beim Individuum einsetzenden ethischen Ansatz, der keine strukturelle Gesellschaftsveränderung bewirken könne. Eine besondere Note bekam die Auseinandersetzung zudem dadurch, dass man seine vielen politischen Stellungnahmen sowie seine persönlichen Äußerungen bzw. sein Eintreten für ehemalige Kriegsverbrecher und NS-Parteigänger scharf kritisierte46. So wurde etwa die Verteidigung seines Hamburger Kollegen und Freundes Hans Wenke gerade in diesem Zusammenhang öffentlich thematisiert47. 42 Berühmt geworden ist besonders seine publizistische Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung, vgl. H. THIELICKE, Kulturkritik; Thielicke griff den Terminus „Kulturkritik“ auf, den er schon in den Jahren 1944/45 in Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus benutzt hatte. 43 Einen Überblick über die Ereignisse liefert eine von Thielicke selbst publizierte Dokumentation, vgl. H. THIELICKE, Vorfälle; vgl. auch H. THIELICKE, Stern, S. 406–412; vgl. auch die Berichte in: DER SPIEGEL 22. Jg. Nr. 4, 22.1968, S. 27f.; Nr. 5, 29.1.1968, S. 37f.; sehr viel Material in NL Thielicke Bca 16 und 17. Gerade diese Auseinandersetzungen haben Thielicke auch in der Nachschau zu einem der bekanntesten Gegner der „1968er“ innerhalb der Kirche gemacht, vgl. dazu den nicht immer genauen und in seinen Wertungen problematischen Artikel von P. SCHÜTT, Kapitalismus. 44 Vgl. dazu z. B. R. HERING, Thielicke. 45 Wobei man diese Aussage sicherlich für die Mehrzahl der Kollegen aus Thielickes Generation treffen kann. 46 Vgl. dazu allgemein N. FREI, Vergangenheitspolitik. 47 Dem Pädagogikprofessor Hans Wenke war, als er zum Gründungsrektor der Ruhr-Universität Bochum berufen wurde, seine nationalsozialistische Vergangenheit vorgeworfen worden war, vgl. dazu

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Man war in der Polemik nicht zimperlich, Thielicke wurde als der „Lou van Burg der Theologie“ beschimpft, in seiner Ethik benutze er von Micky-Maus bis Kafka fast alles48. Doch in der Öffentlichkeit wurde nicht allein die massive Störung des Gottesdienstes durch die Studierenden diskutiert und auch nicht nur Thielickes „Antwort“ – das kollektive Absingen von Kirchenliedern – darauf, sondern mehr noch die Tatsache, dass eine größere Zahl von Bundeswehrsoldaten in Zivil im Gottesdienst waren. Deren Präsenz, auch gedacht als ein möglicher Schutzeinsatz organisiert von Thielickes Freunden, sorgte, obwohl sie so gar nicht in Erscheinung traten, für große Aufmerksamkeit49. Thielickes Nähe zu allem Militärischen – die Überlegungen, ihn zum Militärbischof zu machen sind bereits genannt worden – bei gleichzeitiger deutlicher Distanz prominenter Teile des Protestantismus zu den Fragen der Wiederaufrüstung und der Bundeswehr, gaben dem Konflikt noch eine besondere Note. Die Öffentlichkeit reagierte zwiespältig, viele unterstützen Thielicke, auch seine Aktion, gegen die demonstrierenden Studierenden mit der Gemeinde „Großer Gott wir loben dich“ zu singen, wurde gutgeheißen. Andere kritisierten ihn scharf; gerade das Einlassen mit der Bundeswehr stieß auf Kritik (übrigens noch 1989), es galt als Beleg für seine reaktionäre Gesinnung. Auch wenn Thielicke nach langen Diskussionen seine Gottesdienste zunächst fortsetzte, kann diese öffentliche Demonstration gegen ein Herzstück der Tätigkeit Thielickes – seinen Predigtdienst – als zeichenhaft für die Veränderungen betrachtet werden, die der Protestantismus in den 1960er Jahren erlebte.

5. Fazit Schaut man vom Jahr 1968 her, so ist der Befund eindeutig; Helmut Thielicke war sicherlich ein Kritiker, ein Antipode der neuen sozialen Bewegungen. Er war ein Verteidiger der alten Ordinarienuniversität. Er fand wenig oder kaum VerN. FRIEDRICH, Thielicke, S. 58; Thielicke verteidigte Wenke gegen diese Vorwürfe, für ihn zählte die Lebensleistung nach 1945 mehr, vgl. H. THIELICKE, Zum „Fall Wenke“; vgl. auch NL Thielicke Bca 18, 1–4, Thielicke versuchte vergeblich gegen ein SDS-Flugblatt, das sich kritisch mit Thielickes und Wenkes Vergangenheit auseinandergesetzt hatte, juristisch vorzugehen. 48 Vgl. einige Zitate aus Flugblättern: „Sein Talent, die eigene Person als grandiose Synthese von enzyklopädischem Wissen (von Kafka bis Mickimaus) und Stellvertreterschaft Gottes ins BILD zu setzen, benützt er im allgemeinen, denen Trost- und Rechtfertigungsgründe zu produzieren, die diese Gesellschaft immer trost- und rechtfertigungsbedürftiger machen“; „der Trostspender der Bemittelten im weißen Jaguar“ (Thielicke fuhr übrigens einen weißen Mercedes); „der Briefkastenonkel Gottes“ u. ä. 49 Die Initiative dazu ging wohl nach den Berichten von einem mit Thielicke befreundeten General aus.

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ständnis für die Forderungen der Studierenden. Er lebte mit dem bundesrepublikanischen Gesellschaftsmodell in Einklang. So konnte er die Proteste auch nur als eine Kulturkritik deuten, weshalb er sich nicht scheute, in seiner Wortwahl an die Ereignisse der Jahre 1933 bis 1945 zu erinnern. Für einen Theologen wie Helmut Thielicke bedeutete die westdeutsche Reformepoche einen „Zeitenwechsel“, der auch seine Position in der Öffentlichkeit nachhaltig veränderte. Er zog sich nun, älter werdend, stärker aus der politischen Öffentlichkeit zurück, konzentrierte sich auf eher missionarische Projekte wie „Projektgruppe Glaubensinformation“, überhaupt kamen im Protestantismus andere Werte- und Normvorstellungen verstärkt zum Tragen. Die konservativen Kräfte, die bisher innerhalb der Diskussionen wichtige Impulse gesetzt hatten, verloren an Einfluss, die Generation, die selbst durch Erfahrungen in der Bekennenden Kirche geprägt und nach 1945 in kirchenleitende und einflussreiche Positionen gekommen war, trat langsam ab. Andere theologische und gesellschaftliche Positionen, ein verändertes Normen- und Wertesystem bestimmte die Diskussion50. War Thielicke überhaupt ein „Antipode“ der sozialen Bewegung? Sicher dominierte bei ihm auch ein größeres Stück „Unverständnis“ gegenüber den Forderungen nach Reformen, auf der anderen Seite war er als Vertreter einer weltzugewandten Theologie mindestens prinzipiell bereit, sich mit Fragen der Sozial- und Gesellschaftspolitik zu befassen. Da aber seine theologische und seine politische Position so konservativ waren, gelang es nicht, zu einem Dialog zu kommen. Obwohl dezidiert als theologische Ethik konstruiert und realisiert, wirkte Thielickes Ethik politisiert und zeitgebunden. Im Vergleich mit anderen ethischen Entwürfen war sie theologisch wenig anschlussfähig. Da sie auf die persönliche Prägung zielte und durch Personen wirkte – quasi als Generationenprojekt – blieb sie auf eine Epoche beschränkt. Die veränderten Bedingungen ab Ende der 1960er Jahre ließen sie in den Hintergrund treten. Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Universitätsbibliothek Hamburg Nachlass Helmut Thielicke Bca 16; 17; 18, 1–4.

50

Vgl. dazu als Überblick M. GRESCHAT, Christentumsgeschichte II, S. 291–295; vgl. auch J. ROHLS, Protestantische Theologie, Bd. II, S. 498ff.

Helmut Thielicke als Antipode der sozialen Bewegungen

259

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen BARTH, Karl: Gesamtausgabe Abt. IV Bd. 25. Gespräche 1959–1962. Hg. von Hinrich Stoevesandt und Hans-Anton Drewes. Zürich 1995. BRAKELMANN, Günter: Aus der Zeit der Diktatur: Die Freiburger Denkschriften. In: Brakelmann, Günter/Jähnichen, Traugott/Friedrich, Norbert (Hg.): Auf dem Weg zum Grundgesetz. Beiträge zum Verfassungsverständnis des neuzeitlichen Protestantismus. Münster 1999, S. 171–182. CHRISTMANN, Alfred/KUNZE, Otto/LEMINSKY, Gerhard: Wirtschaftliche Mitbestimmung im Meinungsstreit. Bd. 1. Köln 1964. EHMER, Hermann: Karl Hartenstein und Helmut Thielicke. Predigt in einer Grenzsituation. In: Lächele, Rainer/Thierfelder, Jörg (Hg.): Das evangelische Württemberg zwischen Weltkrieg und Wiederaufbau. Stuttgart 1995, S. 71–88. ERICKSEN, Robert P.: Theologen unter Hitler. Das Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus. München 1986. FREI, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München 1996. FRIEDRICH, Norbert: Helmut Thielicke. In: Vinzent, Markus (Hg.): Lexikon christlicher Denker. Stuttgart 2000, S. 681. –, Helmut Thielicke – Ein protestantischer „Staatsethiker“ in der Adenauer-Ära oder ein evangelischer „Erweckungsprediger“? In: Brakelmann, Günter/Friedrich, Norbert/ Jähnichen, Traugott (Hg.): Protestanten nach 1945. Biografische Studien. Waltrop 2005, S. 23–60. GEMEINDEBLATT FÜR WÜRTTEMBERG 1945. GRESCHAT, Martin: Die evangelische Christenheit und die deutsche Geschichte nach 1945. Weichenstellungen in der Nachkriegszeit. Stuttgart 2002. –, Christentumsgeschichte II. Von der Reformation bis zur Gegenwart (Grundkurs Theologie. 4). Stuttgart 1997. –, Kirchliche Zeitgeschichte. Versuch einer Orientierung (ThLZ.F 16). Leipzig 2005. –, Protestantismus und Evangelische Kirche in den 60er Jahren. In: Schildt, Axel/Siegfried, Detlef (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte. 37). Hamburg ²2003, S. 544–581. HERING, Rainer: Art. Thielicke, Helmut. In: Hamburg-Lexikon. Hg. von Franklin Kopitsch und Daniel Tilgner. Hamburg 22005, S. 487. HUBER, Wolfgang (Hg.): Protestanten in der Demokratie. Positionen und Profile im Nachkriegsdeutschland. München 1990. INACKER, Michael J.: Zwischen Transzendenz, Totalitarismus und Demokratie. Die Entwicklung des kirchlichen Demokratieverständnisses von der Weimarer Republik bis zu den Anfängen der Bundesrepublik (1918–1959). Neukirchen-Vluyn 1994. JÄHNICHEN, Traugott/FRIEDRICH, Norbert: Krisen, Konflikte und Konsequenzen. Die „68er Bewegung“ und der Protestantismus an der Ruhr-Universität Bochum. In: Westfälische Forschungen 48, 1998, S. 128–154.

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Norbert Friedrich

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Helmut Thielicke als Antipode der sozialen Bewegungen

261

–, Kulturkritik der studentischen Rebellion. Tübingen 1969. –, (Hg.): In der Stunde Null. Die Denkschrift des Freiburger „Bonhoeffer-Kreises“. Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den Nöten unserer Zeit. Tübingen 1979. –, Zu Gast auf einem schönen Stern. Erinnerungen. Hamburg 1984. TRILLHAAS, Wolfgang: Aufgehobene Vergangenheit. Aus meinem Leben. Göttingen 1976. VOLLNHALS, Clemens: Im Schatten der Stuttgarter Schulderklärung. Die Erblast des Nationalprotestantismus. In: Gailus, Manfred/Lehmann, Hartmut (Hg.): Nationalprotestantische Mentalitäten. Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. 214). Göttingen 2005, S. 379–432. WURM, Theophil: Erinnerungen aus meinem Leben. Stuttgart 1953. ZAHRNT, Heinz: Die Sache mit Gott. Die protestantische Theologie im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1966.

Strukturen und Frömmigkeitsformen

Peter Cornehl

Dorothee Sölle, das „Politische Nachtgebet“ und die Folgen

Die Politischen Nachtgebete, die seit Oktober 1968 zunächst in Köln und dann in zahlreichen anderen Städten der Bundesrepublik, Hollands und der Schweiz stattfanden, waren der gottesdienstliche Beitrag der Kirche zur 68er-Bewegung. Zumal das Kölner Politische Nachtgebet kann als das wichtigste, interessanteste und in der Öffentlichkeit am stärksten wahrgenommene Beispiel gelten, an dem die Auswirkungen der 68er auf die Kirchen studiert werden können. Umso unverständlicher ist es, dass weder die Praktische Theologie noch die Kirchliche Zeitgeschichte es bislang für nötig gehalten haben, dem eine gründliche wissenschaftliche Untersuchung zu widmen. Nicht einmal die elementarsten Voraussetzungen, z. B. was Dokumentation und Quellensicherung angeht, existieren1. Der Forschungsstand tendiert gegen Null. Es kann daher im Folgenden nicht darum gehen, ein differenziertes Bild zu zeichnen und Ergebnisse vorzustellen. Ich nenne vor allem Forschungsaufgaben und stelle exemplarisch vier Fragen.

1. Öffentlicher Gottesdienst und politische Protestbewegung Insbesondere das Kölner Politische Nachtgebet hat in erstaunlichem, bis dahin nicht gekanntem Ausmaß über die innerkirchlichen Kreise hinaus öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Woran lag das? Ich glaube, das verdankt sich ganz wesentlich der Verwurzelung in der studentischen Protestbewegung. In deren öffentlicher Phase haben die Politischen 1

Dokumentiert sind die ersten sechs Kölner Politischen Nachtgebete (= PNG) in: D. SÖLLE / F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd.1. Die Texte der nächsten sechs Nachtgebete sind abgedruckt in: D. SÖLLE /F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd. 2. Weitere drei Kölner Nachtgebete finden sich in: U. Seidel/D. Zils, Aktion Politisches Nachtgebet, S. 159–220. Die übrigen Kölner Texte existieren als hektographierte Hefte (Liste der Titel s. u. Anm. 19). Im Band „Aktion Politisches Nachtgebet“ sind Texte und kurze Kommentare aus Augsburg, Berlin, Bonn-Bad Godesberg, Dinslaken, Düsseldorf, Osnabrück, Rheinhausen, Stuttgart, Trier und Utrecht dokumentiert. Dazu kommen fünf Beispiele aus der Schweiz, aus Langnau, Biel, Basel, Bern, Zürich in: K. M ARTI, Politische Gottesdienste. Schon aus diesen Veröffentlichungen und den dort jeweils angegebenen Adressen geht hervor, dass es sich dabei nur um einen Ausschnitt aus einer viel reicheren Produktion handelt. Vieles ist nicht publiziert.

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Peter Cornehl

Nachtgebete die Ziele und teilweise auch Artikulationsformen der Studentenbewegung übernommen, und es gelang ihnen damit zugleich eine überraschende Aktualisierung der elementaren kirchlich-religiösen Lebensäußerungen Gottesdienst und Gebet. Schon der Name „Politisches Nachtgebet“ war eine semantische Provokation, eine ungewohnte, publizistisch reizvolle Verbindung eher privater religiöser Intimität („Hast du zur Nacht gebetet, Desdemona?“) mit radikalen politischtheologischen Geltungsansprüchen. Die starke öffentliche Wirkung dieser Gottesdienste ist die Folge verschiedener, zusammenhängender Faktoren. Einige sollen im Folgenden genannt werden. Dazu gehörten der Initialkonflikt mit den Kirchenleitungen (1.1), die personelle Zusammensetzung der Trägergruppe (1.2), die politische Brisanz der Themen (1.3) und die rasche Multiplikation durch die Vernetzung mit anderen Oppositionsgruppen in und außerhalb der Kirchen (1.4). 1.1 Der Initialkonflikt Charakteristisch und durchaus typisch für die 68er Protestkultur insgesamt war zunächst der Initialkonflikt mit den Leitungen der katholischen und evangelischen Kirchen. Am Anfang stand eine Art Hausverbot durch den Kölner Erzbischof Frings, der per Anordnung untersagte, das erste Nachtgebet – wie eigentlich geplant – am 1. Oktober 1968 in einer katholischen Kirche (St. Peter) durchzuführen. Dieses erste Nachtgebet mit dem Thema „CSSR – Santo Domingo – Vietnam“ war die Wiederholung eines wenige Wochen vorher auf dem Essener Katholikentag gehaltenen Gottesdienstes, der dort Aufsehen erregt hatte. Dies wollte der Kardinal mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln in seiner Diözese verhindern. Stattdessen fand der Ökumenische Arbeitskreis nach einem Beschluss des evangelischen Presbyteriums Aufnahme in der evangelischen Antoniterkirche in der Kölner Altstadt. Zu dem Initialkonflikt gehörte außerdem die affektgeladene Verurteilung des Unternehmens durch den Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland Prof. Joachim Beckmann (nach dem zweiten Nachtgebet im November), der in einem Gespräch mit Journalisten zu Protokoll gab, die theologischen Ansichten des Politischen Nachtgebetes seien glatte Irrlehre, teilweise „reiner Götzendienst“, dagegen seien die Deutschen Christen theologisch eine „ganz harmlose Gruppe“ gewesen, und der hinzugefügt hatte: „Ich beglückwünsche den Kardinal, dass er das Recht hat, so etwas in einer Kirche zu verbieten“2. Dieser

2

Zitate nach Kölner Stadtanzeiger vom 27.11.1968, in: D. SÖLLE /F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd. 1, S. 132f. Vgl. Darstellung und Diskussion EBD., S. 129ff.

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doppelte Konflikt sicherte dem Politischen Nachtgebet ein enormes Echo in den lokalen und überregionalen Medien. In beiden Fällen spielte Dorothee Sölle als Zielperson eine herausragende Rolle. Die Gegner haben den Kampf gegen die neue Form des politischen Gottesdienstes maßgeblich mit der Anstößigkeit ihres „Glaubensbekenntnisses“ (einem zentralen Text aus dem ersten Gottesdienst) 3 begründet, außerdem mit Sölles vorangegangenen Publikationen, die Kardinal und Präses übereinstimmend als theologisch völlig inakzeptabel disqualifizierten4. Diese negative Personalisierung löste umgekehrt eine Welle der Solidarisierung aus. Die Angegriffenen konterten ebenfalls polemisch. Sie suchten die öffentliche Auseinandersetzung5 und nutzten die Skandalisierung – mit der Konsequenz, dass die Antoniter kirche in der ersten Zeit mit 800–1.000 Menschen stets überfüllt war und die Nachtgebete jeweils am nächsten Abend wiederholt werden mussten. Dieser Initialkonflikt mit den kirchlichen Autoritäten wäre in seinen verschiedenen Facetten genauer zu untersuchen. Dabei lassen sich mehrere Konfliktlinien ausmachen, die sich teilweise überschneiden und jeweils eine längere Vor- und Nachgeschichte haben. a) Auf katholischer Seite, das hat Karl Gabriel in einer instruktiven Studie herausgearbeitet6, scheint das Vorgehen von Kardinal Frings (bzw. seinem Nachfolger Kardinal Höffner) verständlich als Reaktion auf den stürmischen Reformprozess, der durch das II. Vatikanische Konzil ausgelöst wurde und in den Augen konservativer Bischöfe außer Kontrolle zu geraten drohte. Man hatte schon auf dem Essener Katholikentag im September 1968 mit Sorge registriert, wie sich, inspiriert durch die „politische Theologie“ von Johann Baptist Metz und im Response auf die Studentenbewegung die Kirchenkritik radikalisierte, die Forderungen nach mehr demokratischer Mitbestimmung immer lauter wurden, das traditionelle Bündnis zwischen rheinischem Katholizismus und CDU und der antikommunistische Konsens der Nachkriegszeit durch die Opposition gegen den Vietnamkrieg der USA aufgekündigt wurde. Das Verbot war ein Versuch, das Übergreifen der Reformdynamik auf die Gemeinden im Bistum Köln zu verhindern, wobei das Generalvikariat bei der administrativen Eindämmung

3 Dort ohne Namensnennung abgedruckt: D. SÖLLE /F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd. 1, S. 26f. 4 Dabei bezog man sich vor allem schlagwortartig auf die programmatischen Titel und identifizierte Sölle umstandslos mit der angelsächsischen „Gott-ist-tot-Theologie“. Vgl. D. SÖLLE, Stellvertretung; DIES., Atheistisch; vgl. ferner die Sammlung von Rundfunkvorträgen: DIES., Wahrheit, sowie: DIES., Phantasie. 5 Explizit im 6. PNG vom 4. März 1969. In: D. SÖLLE /F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd. 1, S. 105–127. Vgl. den Bericht über ein Gespräch mit Präses Beckmann EBD., S. 133ff. 6 K. GABRIEL, Katholische Kirche.

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die Federführung übernahm. Eine der nächsten Maßnahmen war die Disziplinierung der Kölner Katholischen Studentengemeinde und die Versetzung eines unbequemen Priesters. Diese Entwicklungen wurden dann im Februar und Juli 1970 Gegenstand zweier Nachtgebete7. b) Auf evangelischer Seite wären zunächst die Hintergründe der Einstellung und des Verhaltens von Präses Beckmann zu eruieren. Warum hat der Präses so emotional und so schroff reagiert? Ich vermute, dass sich da zwei Motivationen gegenseitig verstärkt haben. Auf der einen Seite ziemlich gegensätzliche Auffassungen vom Gottesdienst. Beckmann war einer der führenden Repräsentanten der Nachkriegsagenden und dürfte die bald nach deren Einführung überall, auch in der rheinischen Kirche sich regenden alternativen Gottesdienstexperimente ähnlich kritisch wie andere Systematiker (z. B. der lutherische Dogmatiker Peter Brunner) als Rückfall in die für alle Zeit überwunden geglaubte Gottesdienstauffassung der Aufklärung und des theologischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts empfunden haben8. Ein zweites Motiv war damit eng verbunden. Es ging um aktuelle Konsequenzen aus dem Kirchenkampf. Für Beckmann folgte die Ablehnung politischer Gottesdienste aus seiner Deutung der Haltung der Bekennenden Kirche und der Barmer Theologischen Erklärung. Er insistierte auf der strikten Trennung von Gottesdienst und Politik und sah in den Deutschen Christen eine verhängnisvolle Spielart politischer Theologie, deren Häresie darin bestand, diese Grenzziehung nivelliert und Gottesdienst wie Verkündigung dadurch dem Diktat der NS-Ideologie ausgeliefert zu haben. Diese Gefahr sei auch in der Gegenwart nicht gebannt. Hier sei daher prinzipieller Widerstand geboten. Politische Folgerungen aus dem Evangelium zu ziehen, so Beckmann, sei Sache der Einzelnen, nicht der Kirche als ganzer. Politische Diskussionen hätten ihren Ort im Gürzenich, nicht im Gottesdienst9. Hinzu kamen massive Bedenken gegen die Theologie Dorothee Sölles, der Beckmann die Preisgabe der Christologie und die Umwandlung des Evangeliums in gesetzliche Ethik vorwarf. Der Präses hat den Vergleich der Nachtgebete mit den Deutschen Christen im direkten Gespräch mit dem Arbeitskreis zwar etwas abgeschwächt, aber die Vorwürfe im Kern aufrechterhalten. Das wiederum hat Dorothee Sölle tief verletzt. Fulbert Steffensky erinnert sich an die Szene, „als die Gruppe des Politischen Nachtgebetes in Köln ihren großen Streit mit den Kirchenleitungen hatte und diese dem Nachtgebet vorwarfen, sie politisierten die Kirche, wie es 7 Vgl. die Darstellung im 15. PNG vom Februar 1970, Textheft S. 3ff. und im 20. PNG vom Juli 1970, D. SÖLLE /F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd. 2, S. 175ff. 8 Vgl. J. BECKMANNN, Entstehung; P. BRUNNER, Theologische Grundlagen. Zum Geschichtsbild der evangelischen Nachkriegsliturgik vgl. P. CORNEHL, Bilder, bes. S. 10ff. 9 Vgl. D. SÖLLE /F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd. 1, S. 132ff., dagegen die Erklärung des Arbeitskreises EBD., S. 113.

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einst die Deutschen Christen getan haben, da hat Dorothee Sölle öffentlich geweint. Sie hat über den bitteren Vorwurf geweint, und sie hat darüber geweint, dass wir die evangelische Kirchenleitung nicht gewinnen konnten, die alle aus dem Kirchenkampf kamen und Männer der Bekennenden Kirche waren.“10 Der Ökumenische Arbeitskreis hat in der Auseinandersetzung mit den Kirchenleitungen Anstrengungen unternommen, seine Ziele, Motive und Methoden gegen Missverständnisse zu verteidigen, sie zu präzisieren, ohne sie zu revozieren. Das lassen die Äußerungen im ersten und sechsten Politischen Nachtgebet, aber auch die Berichte über das Gespräch mit dem Präses und die gruppeninterne Debatte im 2. Band der Dokumentation erkennen11. Dabei zeigten sich auch unterschiedliche Temperamente. Während z. B. Fulbert Steffensky bestrebt war, entschieden, aber verbindlich zu formulieren und verbalradikale Attacken zu vermeiden12, liebte Dorothee Sölle die rhetorische Provokation, formulierte gern in plakativen Alternativen und fegte kritische Einwände, auch von theologischen Freunden, mitunter ziemlich unwirsch vom Tisch13. c) Zur unmittelbaren Nachgeschichte des Initialkonfliktes und zur beginnenden innerkirchlichen Rezeption gehörte auch die differenzierte Auseinandersetzung mit den Kölner Thesen und Texten in den Gremien der Evangelischen Kirche im Rheinland. Die schroffe Verurteilung des Präses wurde im Laufe einer ausführlichen Debatte, die auf der nächsten Tagung der Landessynode im Januar 1969 stattfand, relativiert und korrigiert. Dafür hatte der synodale Öffentlichkeitsausschuss einen Arbeitsbericht vorgelegt, der eine engagierte, kontrovers geführte Aussprache nach sich zog14. Teile der Synodalen (darunter 10

F. STEFFENSKY, Zorn, S. 129. Vgl. D. SÖLLE /F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd. 1, S. 22ff., S. 105ff., außerdem die Presseerklärungen S. 133ff., S. 113; sowie Bd. 2, S. 197ff. 12 Vgl. STEFFENSKYs „Arbeitsanleitung“ (D. SÖLLE /F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd. 1, S. 7ff.), seine Ansprache mit den Thesen zum Gebet im 1. PNG (EBD., S. 23ff.) sowie die Überlegungen „Zur Funktion der religiösen Sprache im politischen Nachtgebet“ (Bd. 2, S. 226ff.). 13 In einer von Sölle stammenden (nicht namentlich gezeichneten) Meditation im 1. PNG findet sich der (später oft zitierte) Satz: „… wir haben nicht gelernt worauf es ankommt / dass ein christliches leben ohne politisches handeln eine heuchelei ist / dass jeder religiöse satz zugleich ein politischer sein muss …“ (D. SÖLLE /F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd. 1, S. 21). Vgl. auch ihr „Nachwort“ zu Bd. 2: „Neutralismus oder Parteilichkeit ist die Alternative, auf die kirchliche Probleme zulaufen“ (S. 234). „Wir haben versucht, den spätbürgerlichen Pilatus in uns zu überwinden […] An diesem Punkt – dem kirchlichen Neutralismus oder der Vorherrschaft des Pilatus – werden in Zukunft Entscheidungen fallen, und unsere Arbeit besteht darin, sie provozierend voranzutreiben“ (S. 235). Zur theologischen Kritik, die das Nachtgebet erfahren hatte, meinte sie lakonisch: „sie hat uns wenig weitergebracht“ (EBD.). Nachdenklicher und selbstkritischer formuliert sie in ihrer „Antwort auf Frage der linken Freunde warum wir beten“: „weil wir nicht ohne angst sind auch vor uns selber / nicht ohne zweifel auch an uns selber und unserem weg / nicht ohne ironie auch für unsere versuche / darum sagen wir manchmal // dein reich komme“ (D. SÖLLE /F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd. 1, S. 123). 14 Vgl. den Kurzbericht EBD., S. 145. 11

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Bundesjustizminister Gustav Heinemann) besuchten in diesem Zusammenhang das vierte Nachtgebet zum Thema „Strafvollzug – noch / zu human“, das aus diesem Anlass im benachbarten Bad Godesberg wiederholt wurde. Diese und andere Veranstaltungen (z. B. eine Tagung im von Eberhard Bethge geleiteten Pastoralkolleg der Rheinischen Kirche sowie eine Konsultation zum politischen Gottesdienst in der Evangelischen Akademie Loccum im Oktober 1970) haben den Prozess der kritischen Rezeption gefördert. Es wäre eine lohnende Aufgabe, die Vorgänge aus den Akten und der Korrespondenz zu rekonstruieren und dabei auch Zeitzeugen zu befragen. 1.2 Trägerkreis und Sympathisanten Zur öffentlichen Wirkung der Politischen Nachtgebete hat zweitens sicher auch die Zusammensetzung der Trägergruppe und ihre Verortung beigetragen. Der Kölner Arbeitskreis war ökumenisch, er war überkonfessionell, und er agierte überparochial. In gewisser Weise handelte es sich hier – zumindest in Köln15 – um erste Anfänge von Citykirchen-Arbeit (allerdings institutionell völlig unabgesichert), für die charakteristisch ist, dass die lokale und milieuspezifische Beschränkung der Parochien durch eine neue gesamtstädtische Handlungsebene ergänzt wurde und dass dabei Gottesdienste mit politischen Themen eine zentrale Rolle spielten16. Die Mitglieder der Gruppe waren evangelische und katholische Theologen und Laien, Frauen und Männer mit unterschiedlichen Berufen, Sozialpädagogen, Lehrerinnen und Lehrer, ein Architekt, eine bekannte Journalistin (Vilma Sturm von der FAZ), evangelische Studentenpfarrer (Klaus Schmidt und Frieder Stichler), katholische Priester (u. a. der Benediktinerpater Fulbert Steffensky aus Maria Laach), Studierende, Oberschüler, überwiegend also Akademiker, alle so oder so durch die Studentenbewegung geprägt. Sie wurden unterstützt durch eine Reihe von Prominenten, wie Heinrich Böll, Max von der Grün, Kurt Marti, die sich öffentlich zu Wort meldeten17. Was Dorothee Sölle angeht, so hatte sie zwar bereits einige Bücher geschrieben, die innerkirchlich ein starkes Echo gefunden hatten, sie ist aber, wenn ich recht 15

Andere Nachtgebetsgruppen, z. B. in Rheinhausen, waren stärker ortsgemeindlich verankert. Vgl. die Andeutungen von F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet. 17 Vgl. Heinrich Bölls Brief an die Mitglieder des „Politischen Nachtgebetes“. In: D. SÖLLE /F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd. 1, S. 155ff.; M. VON DER GRÜN, Himmel; Kurt Martis Vorwort. In: K. M ARTI, Politische Gottesdienste, S. 7–12. Nicht unwichtig für die positive Resonanz in der linken Szene war die Solidaritätserklärung des Republikanischen Clubs Köln vom 18.10.1968 (zit. in D. SÖLLE /F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd. 1, S. 137f.). 16

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sehe, erst durch die Auseinandersetzungen um das Politische Nachtgebet wirklich öffentlich bekannt und prominent geworden18. 1.3 Die öffentliche Brisanz der Themen Entscheidend für die nachhaltige Wirkung der Kölner Politischen Nachtgebete war drittens die Brisanz der Themen, ihre parteiliche Präsentation und die einfache, auf Wiederholung angelegte liturgische Struktur: Information, Meditation, Diskussion/Aktion. Die Nachtgebete waren problemorientierte, streng thematisch konzipierte Gottesdienste. Nahezu alle brisanten Themen, die damals den gesellschaftlichpolitischen Diskurs und die Debatte in den Kirchen nach der Weltkirchenkonferenz in Uppsala 1968 sowie später im Umfeld des Antirassismusprogramms des ÖRK beherrschten, wurden behandelt: CSSR/Vietnam, Strafvollzug, Entwicklungshilfe, Mitbestimmung, Studenten und Studentengemeinden (Konflikte in der Kölner KSG und ESG), Schüler/Lehrlinge, Kapitalistischer Städtebau, Kriegsdienst/Friedensdienst, Fürsorgeerziehung, Obdachlosigkeit, das Antirassismusprogramm des ÖRK und der Sonderfond („Kirchensteuer für Revolutionäre?“ – am Beispiel des Staudammbaus Cabora Bassa/Mozambique), Mischehen, Emanzipation der Frauen, § 218, Polen und die Ostverträge – und immer wieder der Vietnamkrieg19. 18

Vgl. die Titel der Bücher und Rundfunkbeiträge oben Anm. 4. Ein wichtiges Datum war ihr Fernsehinterview mit Günter Gaus in der ARD am 13.7.1969. Wieder abgedruckt in: D. SÖLLE, Recht, und T. CHRISTIANSEN /J. THIELE, Dorothee Sölle, S. 9–20. 19 Die genaue Liste der Themen und Termine lautet: Nr. 1: CSSR – Santo Domingo – Vietnam (1.10.1968). Nr. 2: Diskriminierungen (5.11.1968). Nr. 3: Wir – schuldige Christen – Buße 1968 (3.12.1968). Nr. 4: Strafvollzug – noch / zu human? (7.1.1969). Nr. 5: Teufelskreis Entwicklungshilfe (4.2.1969). Nr. 6: Glaube und Politik (4.3.1969) [Nr. 1–6 = D. SÖLLE /F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd. 1]. Nr. 6a: Wo kreuzigen wir Christus heute? Schweigemarsch am Karfreitag durch die Kölner Innenstadt (4.4.1969). Nr. 7: Alarmzeichen Griechenland (6.5.1969). Nr. 8: Mitbestimmung (3.6.1969). Nr. 9: Studenten (1.7.1969). Nr. 10: Politisches Nachtgebet vor den Wahlen (2.9.1969) [=D. SÖLLE /F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd. 2, S. 9ff.]. Nr. 11: Schüler – Lehrlinge (7.8.10.1969) [= EBD., S. 107ff.]. Nr. 12: Diktatur des Kapitals (Kapitalistischer Städtebau) 4.11.1969 [= EBD., S. 39ff.]. Nr. 13: Weihnacht, Weihnacht über alles! (2.12.1969). Nr. 14: Indonesien – Massenmorde im Paradies (13.1.1970) [= EBD., S. 147ff.].

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Jedes Mal gab es ein umfängliches hektographiertes Textheft, das man schon in der Kirche erhalten konnte. Es enthielt (wenn man wollte zum Mitlesen) die vollständigen Informationen und Meditationen, außerdem Literaturhinweise, Adressen, Konkretionen der Praxisvorschläge. Das Ganze wurde in einer hohen Auflage (1.000–2.000 Exemplare) vervielfältigt und an einen wachsenden Stamm von Abonnenten im In- und Ausland verschickt. 1.4 Verbreitung, Multiplikation, Vernetzung All das förderte die schnelle Verbreitung und Multiplikation. An vielen Orten der Bundesrepublik, in Holland und in der Schweiz entstanden Gruppen, die – nach Kölner Vorbild – eigene Nachtgebete veranstalteten (u. a. in Rheinhausen, Düsseldorf, Osnabrück, Berlin, Trier, Utrecht, Basel, Bern, Biel, Zürich

Nr. 15: Demokratie in der Kirche (3.2.1970). Nr. 16: Scandalum crucis – es ist nicht vollbracht (3.3.1970) [= EBD., S. 83ff.]. Nr. 17: Kriegsdienst – Friedensdienst (7.4.1970). Nr. 18: Trautes Heim – Fürsorgeerziehung in der BRD (5.5.1970) [= U. SEIDEL /D. ZILS, Aktion, S. 155ff.]. Nr. 19: Kinder klagen an. Sie schlagen und sie küssen es (2.6.1970). Nr. 20: Konflikte von morgen – Modelle für heute? Studentengemeinden in Köln (7.7.1970) [= D. SÖLLE /F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd. 2, S. 175ff.]. Nr. 21: Vereint lieben – getrennt glauben. Mischehe – Chance oder Unglück? (8.9.1970). Nr. 22: Obdachlosigkeit. Eine Stadt aus der Randperspektive (6.10.1970) [= U. SEIDEL /D. ZILS, Aktion, S. 187ff.]. Nr. 23: Evangelium und Wirtschaftliche Mitbestimmung (3.11.1970). Nr. 24: Kirchensteuer für Revolutionäre – Kirchensteuer für Kolonialherrschaft? (Cabora Bassa) (1.12.1970). Nr. 25: Emanzipation der Frauen (5.1.1971). Nr. 26: Das ungerechte Gericht (Angela Davis, Leningrad, Kapstadt, Burgos, My Lai) (2.2.1971). Nr. 27: Nationalismus [mit einer Extra-Dokumentation] (4.5.1971). Nr. 28: „Ausschuss“. Zur Situation jugendlicher Strafgefangener in der BRD (Politisches Nachtgebet in der Bundesgartenschau] (1.6.1971). Nr. 29: Ja zum Leben – Nein zu § 218 (5.10.1971). Nr. 30: Schule der Nation (7.12.1971). Nr. 31: Bangladesh – Ende oder Anfang? (11.1.1972). Nr. 32: Der manipulierte Jesus. Mehr über Jesus und die „Jesus-People“ (7.3.1972). Nr. 33: Kinder im Krieg. Wir morden und wir brennen sie (2.5.1972). Nr. 34: Polen (6.6.1972). Nr. 35: Z. B. Baader – Meinhof: Eskalation der Gewalt (Juli 1972). (Nr. 36): Vietnam und die Komplizen (6.2.1973). (Nr. 37): Der Glaube links – Die Ordnung rechts – Die Kirche in der Mitte [Politisches Nachtgebet auf dem Kirchentag in Düsseldorf zusammen mit dem Politischen Nachtgebet aus Rheinhausen] (28.06.1973). (Nr. 38): „Ein feste Burg ist unsre Angst“ (Politisches Nachtgebet auf dem Kirchentag in Frankfurt 1975 [verantwortlich: Ökumenischer AK – Christen für den Sozialismus, Regionalgruppe Köln].

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und anderswo). Es gab regen Austausch, Kontakte und Besuche sowie personelle Verflechtungen (z. B. mit dem Bensheimer Kreis) 20. Es entstand – ein weiteres Element der öffentlichen Wirkung – ein Netzwerk kritischer Gruppen und Personen. Auf diese Weise bildete sich in wenigen Jahren – jenseits der Kirchlichen Bruderschaften und weit über die Studentengemeinden hinaus – so etwas wie eine neue dezidiert linke christliche Tradition. Dass die „politische Theologie“ hierzulande mehr war als eine Variante im theologischen Literatur- und Lehrbetrieb, verdankte sie ganz wesentlich den Politischen Nachtgebeten. Durch diese Gottesdienste hat das, was kritischer Glaube sein kann, einen öffentlichen, liturgischen Ausdruck gefunden und eine durchaus beachtliche Resonanz im Kirchenvolk. Diese Zusammenhänge sind bislang kaum erforscht. Eine genauere Untersuchung könnte Aufschluss geben, in welchem Umfang es sich hier um eine soziale Bewegung handelte und in welchen Kontexten sie sich artikulierte.

2. Äußere und innere Grenzen des Modells Trotzdem fällt auf, dass das Politische Nachtgebet in Köln als regelmäßige Veranstaltung einmal im Monat nur relativ kurze Zeit Bestand gehabt hat – immerhin dreieinhalb Jahre, vom Oktober 1968 bis Juli 1972. Lassen sich dafür Gründe namhaft machen? Offenbar gab es für die Aktualität des Modells und seine Rezeption innere und äußere Grenzen. a) Die äußeren Grenzen sind vor allem politisch bedingt. Der Beginn war am 1. Oktober 196821 – in Reaktion auf die Zerschlagung des reformsozialistischen Experiments in der CSSR, auf dem Höhepunkt der Außerparlamentarischen Opposition. Das Ende der monatlichen Reihe kam im Juli 1972, also nach dem gescheiterten Misstrauensvotum im Bundestag gegen Willy Brandt, noch vor dem Bundestagswahlkampf im September. Beide Ereignisse finden übrigens keinen Niederschlag in den Gottesdiensten. Auch darin besteht eine gewisse Parallele zur Außerparlamentarischen Opposition. In den Politischen Nachtgebeten artikulierte sich eine linke Kritik, für die die Auseinandersetzungen um die sozialliberale Koalition, die Debatten im Parlament und zwischen den Parteien nur noch begrenztes Interesse fanden. Das gilt erstaunlicherweise gera20 Im Sommer 1969 besuchte der katholische Priester Don Mazzi mit einer Delegation der Kommunität im Isolotto (Florenz) Köln. Im Mai 1971 gestalteten die reformierte Studentengemeinde Utrecht und die Kölner gemeinsam ein Nachtgebet über „Nationalismus“. Dazu P. CORNEHL, Training. 21 Zur Vorgeschichte der Kölner Gruppe vgl. F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet und ‚neue Gemeinde‘, S. 528f.

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de für die letzte Phase im Sommer und Herbst 1972. Die Aufmerksamkeit der meisten Gruppenmitglieder war damals auf anderes gerichtet. Für das Ende mitverantwortlich waren sicher auch einige äußere Gründe. Ein Teil der hauptverantwortlichen Mitglieder des Arbeitskreises (z. B. Mechthild und Egbert Höflich, Marie Veit) zog weg oder veränderte sich beruflich. Darunter litt die innere Konsistenz der Gruppe. Die monatliche Produktion eines Nachtgebets mit dem aufwändigen Textheften in vielen Untergruppen, deren Arbeit irgendwie inhaltlich koordiniert werden musste, war überaus anstrengend und führte zu einer permanenten Überforderung. Entscheidend aber waren interne Spannungen, wie sie charakteristisch für die 68er-Bewegung insgesamt waren: Die politische Spannung zwischen Diakonie und Revolution, Information und Aktion, zwischen der reformerischgradualistischen Mehrheit des Arbeitskreises, die Veränderungen in kleinen und mittleren Schritten innerhalb der Strukturen anstrebte, und einer Minderheit, die eine radikale revolutionäre Veränderung des Systems forderte. Dazu kamen Spannungen zwischen Christen und Nichtchristen bzw. Nicht-mehr-Christen über die Bedeutung des Christlichen und die Relevanz der Meditationen und Gebete, außerdem Differenzen über das Verständnis von „Sozialismus“22 . Diese Spannungen lassen sich in den Informationsteilen und Praxisvorschlägen fast aller Nachtgebete nachweisen. 22 Diese besonders brisante Thematik wäre eine eigene Spezialuntersuchung wert, bei der eine ganze Reihe von Nachtgebeten einzubeziehen wäre. M. E. ist die Stellung zum „Sozialismus“ ein besonders neuralgischer Punkt – auch im Ost-West-Vergleich. Dazu hier nur einige kurze Hinweise: Im 1. PNG unmittelbar nach der Niederschlagung des Prager Reformexperiments durch die Truppen des Warschauer Paktes erfolgte selbstverständlich eine eindeutige Verurteilung der Intervention (vgl. D. SÖLLE / F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd. 1, S. 15ff.) – mit der gleichen Klarheit wie das Eingreifen der USA in Vietnam und in Mittelamerika. Später tritt die kritische Beschäftigung mit dem „realen Sozialismus“ östlicher Prägung auffallend zurück. Sie bleibt formelhaft und auf wenige Stichworte beschränkt (Ablehnung von Stalinismus und Bürokratismus). Eine konkrete Aufarbeitung der Ereignisse in der CSSR über die ersten Monate hinaus hat nicht stattgefunden. Im Gegensatz zur Haltung der ESG in der DDR ist der Begriff des Sozialismus als solcher dadurch nicht diskreditiert worden, er wurde sogar eher aufgewertet und die revolutionäre Rhetorik gesteigert. Allerdings vollzog sich eine fast völlige Verlagerung der Hoffnungen auf die revolutionären Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Hauptgegner blieb, und zwar in zunehmender Entschiedenheit, der imperialistische Kapitalismus unter Führung der USA, unterstützt durch ihre europäischen Verbündeten. Der Sozialismus, mit dem man sich hinfort identifizierte, war zu finden in Nordvietnam, beim Vietkong, in Chile bei der Unidad Popular, später in Nicaragua bei den Sandinisten, theologisch-kirchlich bei den lateinamerikanischen Basisgemeinden und der Befreiungstheologie. Das Interesse an den Verhältnissen in Osteuropa, in der Sowjetunion, in der DDR trat demgegenüber bei Dorothee Sölle und ihren Freunden mehr und mehr in den Hintergrund, auch in den Jahren nach dem Nachtgebet. Kontakte zu den Oppositionsgruppen in Polen und in der Tschechoslowakei gab es (soweit ich weiß) nicht. Hier teilte die christliche Linke im Umkreis von Nachtgebeten und „Christen für den Sozialismus“ die einseitige Wahrnehmung der Weltlage, wie sie auch bei den meisten politischen Linken (jenseits der SPD) in der Bundesrepublik die Regel war – im deutlichen Unterschied z. B. zu den Intellektuellen in Frankreich.

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Der Arbeitskreis hat die inhaltliche Diskussion seit 1970 sehr offen geführt und ein Jahr später im zweiten Band ausführlich dokumentiert23. Es kam zu Abspaltungen und schließlich 1972/73 zu einer organisatorischen Umwandlung. Aus dem Arbeitskreis „Politisches Nachtgebet“ wurde eine Regionalgruppe Köln der neuen Vereinigung „Christen für den Sozialismus“24. Die, die dabei blieben, setzten andere Schwerpunkte, und die Reihe der regelmäßigen Gottesdienste fand ein Ende25. b) Die inneren Grenzen des Modells sind schon früh notiert worden: Die Politischen Nachtgebete waren insgesamt zu intellektualistisch, zu textlastig, zu verschult. Als problematisch erwies sich die einseitige Dominanz der Informationen, aber auch die ideologiekritische Forcierung der Analysen (der propagierte radikale Antikapitalismus ließ sich auf die Dauer nur schwer mit gradualistischer Reformpraxis verbinden), die Beschränkung der Aktionen auf Diskussionen und Appelle, die Defizite im Bereich Meditation und Gebet, die Sparsamkeit der liturgischen Expression26. Auch dies müsste im Einzelnen genauer untersucht werden. Es wäre die Aufgabe einer differenzierten politischen, theologischen, homiletisch-liturgischen Analyse der betreffenden Texte. Untersucht werden müssten die inhaltlichen Argumentationslinien, Darstellungsformen und Muster sowie die Quellen, auf die man sich jeweils bezog. Doch es müssten methodisch auch Aspekte einbezogen werden, die darüber hinausgehen: charakteristische milieuspezifische Artikulationen, Fronten, Distinktionen. Aufschlussreich wären auch die musikalischen Codes, die gelegentlichen Ansätze visueller Kommunikation, außerdem Atmosphäre, Verhalten, Stimmen, Applaus, Kreativität, Wortwitz, Ironie bzw. Rigidität der Polemik. Voraussetzung wäre die Ergänzung der Dokumentation. Man müsste – soweit vorhanden und auffindbar – Rundfunk- und Fernsehaufnahmen sowie private Tonbandaufzeichnungen hinzuziehen, um die für eine mehrdimensionale Analyse unverzichtbaren homiletisch-liturgischen O-Töne auszuwerten. 23

Vgl. D. SÖLLE /F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd. 2, S. 183ff. Vgl. dazu auch den von D. SÖLLE und K. SCHMIDT hg. Band: Christentum und Sozialismus. Im Engagement für dieses Bündnis trafen sich übrigens D. Sölle und Helmut GOLLWITZER. Vgl. dessen Beitrag: Klassenherrschaft – Klassenkampf, die Einleitung von D. SÖLLE und K. SCHMIDT: Salz und Erde, sowie das Schlussdokument des Ersten Lateinamerikanischen Kongresses „Christen für den Sozialismus“ (vom April 1972) aus Santiago/Chile, in: D. SÖLLE /K. SCHMIDT, Christentum und Sozialismus, S. 27–35. 25 Einige weitere Nachtgebete der Kölner Gruppe sind Folge jeweils besonderer Anlässe und Anfragen auf den evangelischen Kirchentagen 1973 und 1975. 26 Vgl. dazu P. CORNEHL, Öffentlicher Gottesdienst, bes. S. 186ff.; DERS., Training, sowie Artikel von Walter Schmithals, Götz Harbsmeier, Jürgen Tillmanns und Manfred Josuttis, vorgestellt und diskutiert von Vilma Sturm und Eberhard Kerlen in: D. SÖLLE /F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd. 2, S. 197–204. 24

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Ziel der Analysen wäre es, die Stärken und Schwächen, Leistungen und Schwierigkeiten, die Unausgeglichenheiten, Spannungen und Widersprüche des Modells zu benennen. Zu würdigen wären aber auch die Ansätze, flexibel mit der Struktur umzugehen, bzw. – in Aufnahme der Anregungen kritischer Sympathisanten – die Versuche, den „Kältestrom“ der Informationen durch den „Wärmestrom“ (E. Bloch) symbolisch-liturgischer Vergewisserung und Feier zu ergänzen27. So gab es in der Schweiz in Langnau (Emmental) einen hochinteressanten Versuch, in einer „Politischen Pfingstnacht“ zum Thema „Fremde“ nicht mit Informationen zu beginnen, sondern mit einer gemeinsamen Agape mit Brot und Wein zusammen mit der Gruppe ausländischer Gastarbeitern, die man dazu eingeladen hatte28. Vor allem die holländischen Freunde aus Utrecht haben mehrfach geraten, die verbalen Anteile an den Informationen zurückzunehmen und Elemente dramatischer Inszenierung einzufügen. Das ist zumindest einmal, in einem Nachtgebet über „Nationalismus“ geschehen29, hat sich aber nicht durchgesetzt, vermutlich, weil diese Art der Präsentation als zu spielerisch und dem Ernst der Sache nicht angemessen galt. Man blieb im wesentlichen bei den im linken studentischen Milieu üblichen Darstellungsmedien Referat, Appell, Agitation, stets versehen mit dezidiert parteilichen Wertungen, gelegentlich aufgelockert durch Elemente des zeitgenössischen politischen Theaters („Tribunal“30 ). Ein einziges Mal (in einem Nachtgebet zum Thema § 21831) wurde die Zweiteilung von Information und Diskussion aufgegeben und durch ein kontrovers besetztes Podium mit Experten und Betroffenen ersetzt. Persönliche Erzählungen dagegen waren selten. Sie galten nicht nur bei den politischen Gruppen, sondern vermutlich auch bei den linken Christen als zu subjektivistisch. Immerhin gab es im Nachtgebet über „Polen“ einleitend einen (sehr eindrücklichen) Erlebnisbericht einer Teilnehmerin über eine Reise nach Polen, bevor dann die Vorgeschichte der deutsch-polnischen Beziehungen sowie Inhalt und Bedeutung der Warschauer Verträge erörtert wurden32 . Eine gezielte Einbeziehung anderer, eher mündlicher Redegattungen, wie Interviews, Sozialreportagen, autobiographische

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So das wichtige Votum von H.-E. BAHR, Kältestrom, bes. S. 206ff. Vgl. K. M ARTI, Politische Gottesdienste, S. 13–35, und dort bes. die Nachbemerkungen von Gerhard Traxel, S. 33f. 29 Vgl. Nachtgebet Nr. 27 über Nationalismus (im Mai 1971), dazu P. CORNEHL, Training, S. 149. 30 Im Anschluss z. B. an Peter Weiss’ Aufschwitzoratorium. Vgl. eines der letzten Kölner Nachtgebete (Nr. 36) zum Thema „Vietnam“ vom Februar 1973, Textheft, S. 8ff. 31 Vgl. das 29. PNG vom Oktober 1971. Die Änderung der Form wurde eingangs von der Sprecherin des Arbeitskreises Mechthild Höflich begründet (Textheft, S. 2). 32 Vgl. das Textheft zum 34. PNG vom Juni 1972. 28

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Erzählungen, vermisst man. Wenn zitiert wurde – was durchaus häufig geschah –, dann fast immer aus Büchern, Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, Rundfunkmanuskripten. Die Literaturlisten in den einschlägigen Textheften sind nahezu identisch mit denen, die damals in studentischen Seminaren kursierten. Schriftlichkeit war im Übrigen auch das Prinzip für die Gestaltung der Gebete im Politischen Nachtgebet. Die Meditationen waren literarische Gebilde. Die Texte lagen ausformuliert vor und waren ausschließlich auf das jeweilige Thema bezogen. Freie Bitten, Fürbitten oder gar Dank, aus aktuellem Anlass spontan formuliert, auf die die Gemeinde mit gesungenen liturgischen Akklamationen hätte antworten konnten, eine auf Kirchentagen, in Taizé, aber auch in gemeindlichen „Gottesdiensten in neuer Gestalt“ vielfach erprobte Praxis, waren im Politischen Nachtgebet nicht vorgesehen. Es gab offene Mikrophone – für Diskussionsbeiträge, nicht für Gebetsanliegen33 – vielleicht aus tief sitzenden antipietistischen Affekten gegen alles, was (bei einem selbst oder beim Publikum) die Assoziation Gebetsgemeinschaft auslösen könnte. Betrachtet man das Ganze in größeren liturgiegeschichtlichen Zusammenhängen lässt sich feststellen, dass das Programm der „Politisierung der Gewissen“ abgelöst worden ist durch die Wiederentdeckung des Gottesdienstes als Fest und Feier34. Dafür hatten Harvey Cox mit seinem Buch „Das Fest der Narren“ (196935, dt. 1970), aber auch Jürgen Moltmann („Die ersten Freigelassenen der Schöpfung“, 1971) und Gerhard Marcel Martin („Wir wollen hier auf Erden schon …“ Das Recht auf Glück, 1970) 36, wichtige literarische Anstöße gegeben. Und katholische Theologen wie Ronnie Sequeira und Harry Haas hatten die entsprechende Praxis „lebendiger Liturgie“ deutschen Gemeinden und Gruppen vermittelt. Öffentlich erkennbar wurde der Wechsel auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Düsseldorf 1973. Hier gab es zum ersten Mal auf evangelischen Kirchentagen eine eigene große Arbeitsgruppe zum Thema Gottesdienst („Gefeierte Versöhnung“) mit einem umfänglichen Programm, in dem an drei Tagen eine Verbindung von Reflexion und gottesdienstlicher Erfahrung erprobt wurde37. In Düsseldorf folgte auf das von einer Gruppe aus Köln und Rheinhausen gestaltete „Politische Nachtgebet“ unter dem Titel „Der Glaube links – Die 33 Anders 20 Jahre später in den Friedensgebeten zur Zeit der Wende in der DDR. Vgl. K.-U. BRONK, Flug. 34 Vgl. meine Skizze der Entwicklung der Phasen der Gottesdienstreform in der Nachkriegszeit: P. CORNEHL, Evangelischer Gottesdienst, bes. S. 79f. 35 H. COX, Feast of Fools. 36 Ferner G. M. M ARTIN, Genitiv-Theologie, mit Verweis v. a. auf US-amerikanische Literatur. Instruktiv ist das ganze Themenheft WPKG 1971/12; ferner G. M. M ARTIN, Fest. 37 Breit dokumentiert in: DEUTSCHER EVANGELISCHER K IRCHENTAG Düsseldorf 1973, S. 387–468.

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Ordnung rechts – Die Kirche in der Mitte“, verbunden mit einer Plenumsdiskussion am nächsten Vormittag38, einen Tag später die Feier der ersten „Liturgischen Nacht“ – ein überraschender und überwältigender Erfolg39. Auch wenn die „Liturgische Nacht“ nach dem Willen der Veranstalter keineswegs die Zurücknahme der theologisch-politischen Zielsetzungen der Politischen Nachtgebete beabsichtigte, sondern im Gegenteil eine konsequente Fortführung in einem anderen Rahmen40, so signalisierte Düsseldorf doch einen „Klimawechsel“ in der „liturgischen Großwetterlage“41. In historischer Perspektive könnte man von der liturgischen Rezeption des zweiten Strangs der internationalen Jugendbewegung und Alternativkultur (Woodstock!) sprechen42 . Als dominantes gottesdienstliches Leitbild wurde das Modell Politisches Nachtgebet jedenfalls abgelöst.

38 Vgl. die Statements von Rüdiger Altmann und Freimut Duve, die Diskussionsbeiträge von Martin Fischer, Peter Krusche, Fulbert Steffensky und Marie Veit sowie die ausführlichen Voten aus dem Plenum EBD., S. 432–447. Die überwiegend kritische Reaktion auf dieses Nachtgebet – überraschenderweise besonders von dem linken Sozialdemokraten Duve – wäre eine eigene Analyse wert. 39 Allerdings in der Plenumsdiskussion ebenfalls sehr unterschiedlich wahrgenommen und ähnlich kontrovers gewertet. Vgl. EBD., S. 448–466. Vgl. zum Ganzen: A RBEITSKREIS GOTTESDIENST UND KOMMUNIKATION, Liturgische Nacht. 40 Vgl. [P. CORNEHL]: Lehrstück Liturgische Nacht. In: EBD., S. 103–151, bes. S. 106f.: „Die Wiederentdeckung der Feste ist eine Konsequenz politischer Theologie. Noch während das Modell des ‚Politischen Nachtgebets‘ die Praxis der neuen Gottesdienste bestimmte, rührten sich andernorts Gegenbewegungen: Experimente mit Multi-Media-Elementen, Familiengottesdienste mit Spielcharakter, Workshops für ‚Kreativen Gottesdienst‘, für non-verbale Ausdrucksformen. Für die meisten Gruppen bedeutete das keine Verdrängung des Politischen. Selbst unter den Kölner Nachtbetern fragte man sich selbstkritisch: Wo bleibt der ‚Wärmestrom‘? Wo bleibt das ‚Fest der Narren?‘ Gerade die politisch Engagierten entdeckten neu, was in den Jahren der dogmatischen Orthodoxie ebenso wie in der Phase der harten politischen Agitation, der Entlarvungen und Appelle verschüttet war: ein ungeheures Bedürfnis nach Kommunikation, nach Nähe, Wärme, Freude, unverstellter Begegnung, nach der sinnlichen Vergewisserung der Wahrheiten, von denen christlicher Glaube lebt. Hier war ein Defizit, das schmerzhaft erfahren wurde – im normalen Gemeindegottesdienst ebenso wie in den ‚traditionellen‘ Politliturgien.“ 41 EBD., S. 107. 42 Das ist von dem Erziehungswissenschaftler Dieter BAACKE in seinem Düsseldorfer Kommentar zur „Liturgischen Nacht“ m. R. hervorgehoben und in der Diskussion gegen allzu einfache politische Verdächtigungen verteidigt worden (vgl. DEUTSCHER EVANGELISCHER K IRCHENTAG Düsseldorf 1973, S. 455). Wie schwer sich übrigens die meisten Mitglieder der Kölner Nachtgebetsgruppe mit der Wahrnehmung und einigermaßen fairen Einschätzung der popkulturellen Ausdrucksformen der Beat- und Rockmusik taten, lässt sich an der (hochkulturell-linkspolitischen) Abkanzelung der Jesus-PeopleBewegung, des Rock-Oratoriums „Jesus Christ Superstar“ und an der Verurteilung jeder „eskapistischen“ Musikrezeption im 32. PNG vom März 1972 studieren. Im vorrangigen Musikgeschmack der Kölner Nachtbeter (Brecht/Weill, Biermann, Protestsongs) zeigt sich auch ein charakteristischer Milieukonflikt innerhalb der 68er-Bewegung. Vgl. dazu auch A. DOERING-M ANTEUFFEL, Stufe, sowie D. SIEGFRIED, Teenager.

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3. Dorothee Sölles Beitrag zum Politischen Nachtgebet Welche Rolle spielte Dorothee Sölle im und für das Politische Nachtgebet? Diese Gottesdienste waren die Aktion einer Gruppe, in den Textheften wurden die einzelnen Beiträge (wie in einschlägigen Veröffentlichungen damals üblich) bewusst nicht namentlich gekennzeichnet. In dieser Gruppe war Dorothee Sölle also zunächst nur ein Mitglied unter vielen. Und doch ist sie mit Recht zur Symbolfigur und Repräsentantin der neuen politischen Gottesdienste geworden. Lässt sich genauer beschreiben wodurch? Ich denke, es war ihre eindrucksvolle prophetische Radikalität, ihre religiöse Ernsthaftigkeit, ihre Fähigkeit zur Zuspitzung und ihre rhetorische Brillanz, die den Politischen Nachtgebeten intellektuellen Glanz und theologisches Gewicht gegeben haben. Ihre theologischen Äußerungen waren umstritten. Und das blieb so. Aber sie fanden zunehmend Gehör. Martin Greschat hat im Blick auf die 1960er Jahre davon gesprochen, dass es damals im deutschen Protestantismus zu einer neuen „Stimmführerschaft“ kam43. Neue Personen traten ins Licht der Öffentlichkeit, sie brachten neue Themen auf die Tagesordnung und setzten neue Akzente. Dorothee Sölle war eine solche neue Stimme. Und sie brachte auch eine andere theologische Tradition ins Spiel der politischen Theologie: die von Rudolf Bultmann und Friedrich Gogarten vertretene Existenztheologie mit ihren von dem Interesse an Aufklärung, Entmythologisierung und historischer Exegese geleiteten dogmen- und kirchenkritischen Impulsen, die sich auch gegen die Neoorthodoxie der Barthschule richtete. Das führte zu einer – in vieler Hinsicht produktiven – Verwirrung der Fronten, im Lager der Konservativen ebenso wie bei den an Barmen orientierten Kirchenkämpfern, aber auch innerhalb der hermeneutischen Theologie der Bultmannschule selbst. Auch das erklärt die heftige Abwehr, die Affekte und Missverständnisse, denen sie sich aussetzte44. Sölles Vorstoß, die individualistische Beschränkung der Bultmannschen Theologie zu überwinden mit der Stoßrichtung „Von der existenzialen zur politischen Theologie“45 war un43

M. GRESCHAT, Protestantismus, S. 548. Symptomatisch für diese Irritation war die leidenschaftliche Auseinandersetzung, die Helmut Gollwitzer vom Standpunkt Barthscher Offenbarungstheologie schon 1967 mit Dorothee Sölle und ihrer Konzeption von Stellvertretung her geführt hat: H. GOLLWITZER, Stellvertretung. 45 Vgl. D. SÖLLE, Politische Theologie, S. 9. Das Buch ist hervorgegangen aus einem Vortrag vor dem Arbeitskreis Alter Marburger im Oktober 1970. Die kritische Rezeption der Bultmannschen Hermeneutik verbindet sich für die Autorin mit einer Reflexion auf die Erfahrungen im Politischen Nachtgebet. Den ersten Zugang zu Bultmanns Theologie hatte Sölle übrigens bereits als Schülerin erhalten durch das Engagement ihrer Religionslehrerin Marie Veit, die bei Bultmann promoviert hatte und später eine der wichtigsten Mitstreiterinnen im Kölner Nachtgebetskreis wurde. Vgl. das liebevolle Porträt in D. SÖLLEs Autobiographie: Gegenwind, S. 38ff. 44

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gewohnt, aber auch aufregend und mitreißend. Dorothee Sölle war eine neue, unverwechselbare theologische Stimme. Und sie war eine Frau! Auch das war in der deutschen Theologie und Kirche damals eine Sensation. Ihre Vision dessen, was sie das „entprivatisierte Gebet“ nannte46, inspirierte viele Gruppen und Gemeinden nicht nur zu neuen politischen Gottesdiensten, sondern auch zu einer neuen Form persönlicher Frömmigkeit. Christliches Gebet – das hat sie immer wieder betont – ist nicht nur Beten auf der Basis genauer Information, sondern ein Beten, das uns „selber formuliert“, „und in diesem Sinne verfehlt das schlechte, das abstrakte, das harmlose politische Gebet eine Grundbestimmung allen Betens, nämlich die, dass wir selber vorkommen im Gebet“47. Dorothee Sölles spezifischer Beitrag zu den Politischen Nachtgebeten lag nicht im Bereich Information und Analyse, sondern bei Meditation und Gebet. Sie hat in der Gruppe immer wieder darauf gedrängt, das Gebet nicht zu marginalisieren. Und sie hat durch ihre eigenen Texte die christliche Gebetssprache in großartiger Weise erweitert. Man müsste auch das im Einzelnen untersuchen, formal und inhaltlich, etwa am Beispiel ihrer Neuformulierung des Glaubensbekenntnisses (mit dem charakteristischen Beginn: „Ich glaube an Gott / der die Welt nicht geschaffen hat wie ein Ding …“) 48, ihrer Paraphrase des Vaterunsers („Antwort auf die Frage der linken Freunde, warum wir beten“49 ), ihrer Transformationen biblischer Psalmen und Lieder (z. B. „Song auf dem Weg nach Emmaus“50, ihrer Aktualisierung des Magnifikat51). Dorothee Sölles einzigartige Sprachkraft, die Intensität der figurativen Vergegenwärtigung biblischer Texte – das alles hat die politischen Gottesdienste tief geprägt. Ihre meditativen Texte sind für mehr als eine Generation christlicher Beter und Beterinnen stilbildend geworden52 . Sie haben das Modell des Politischen Nachtgebets überdauert und haben in anderen Formationen, z. B. in den feministisch-theologischen Liturgien der 1980er Jahre, in 46

D. SÖLLE, Gebet. EBD., S. 22. 48 D. SÖLLE /F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd. 1, S. 26f.; wieder abgedruckt in: D. SÖLLE, meditationen, S. 24f. 49 D. SÖLLE /F. STEFFENSKY, Politisches Nachtgebet, Bd. 1, S. 122ff. = D. SÖLLE, meditationen, S. 26f. 50 Aus dem 34. PNG zum Thema Polen vom Juni 1972: „So lange gehen wir schon / auf der staubigen Straße / weg von der Stadt unsrer Hoffnung / in ein Dorf, wo es besser sein soll / von Jerusalem nach Emmaus / weg von der Stadt unsrer Hoffnung“ = D. SÖLLE, geduld, S. 10f. 51 Aus dem 25. PNG zum Thema Emanzipation der Frauen vom Januar 1971 = D. SÖLLE, geduld, S. 14f. 52 Man kann Dorothee Sölles Einfluss auf die Frömmigkeitspraxis progressiver Gruppen und Gemeinden in den 1970er Jahren ganz gut studieren an der Rezeption ihrer Texte in anderen neuen Gottesdiensten (einschließlich bestimmter Überarbeitungen, Glättungen und Abschwächungen). Vgl. die Beispiele in der Einleitung und Texten der Sammlung P. CORNEHL, Gebete. 47

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ihren oft gemeinsam mit Luise Schottroff gehaltenen Kirchentags-Bibelarbeiten, in ihren Predigten, aber auch in ihren Gedichten weitergewirkt. So kann man sagen: Dorothee Sölle verkörpert in ihrer Person und in ihren Texten von Anfang an und verstärkt in ihren späteren Arbeiten die Zusammengehörigkeit von Gebet und Engagement, Theologie und Poesie, „Mystik und Widerstand“53.

4. Nachwirkungen Die Politischen Nachtgebete sind als gottesdienstliches Leitmodell abgelöst worden. Sind die Impulse folgenlos geblieben? Keineswegs. Es gibt vielfältige Nachwirkungen, die zu verfolgen wären. Nicht zu bestreiten ist zunächst: Die Politischen Nachtgebete haben generell dazu beigetragen, dass die politische Dimension von Gottesdienst, Liturgie und Verkündigung neu erkannt und von vielen (keineswegs von allen) anerkannt worden ist. Eine spezifische Weiterführung gab es in der Abendmahlsbewegung Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre, im „Forum Abendmahl“ auf den Kirchentagen Nürnberg und Hamburg und im Modell des „Feierabendmahls“, wo zumindest anfangs die unlösliche Zusammengehörigkeit von Eucharistie und Weltverantwortung von evangelischen wie von katholischen Theologen programmatisch vertreten wurde54. Das sind keine ungefährdeten Einsichten. Sie mussten und müssen sich gegen mächtige Tendenzen zur Entpolitisierung behaupten. Und doch scheint die Einsicht, dass Gottesdienst und Gebet eine politische Dimension haben, etwas, 53 Eine Zäsur bedeutet sicher ihr Buch: Die Hinreise, wo D. SÖLLE sich – wenn ich recht sehe – zum erstenmal auch zur spirituellen Praxis der Meditation geäußert hat, was den Begriff „Meditation“ in entscheidender Weise konkretisiert und erweitert (vgl. das Kapitel: Die Übung der Meditation, S. 91ff.). Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur „Theopoesie“ war ihre literaturwissenschaftliche Habilitationsschrift (1971), die unter dem Titel: Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung, veröffentlicht wurde. Das Buch ist vergriffen. Die meisten Texte sind aufgenommen worden in den Sammelband: D. SÖLLE, Eis, erstaunlicher Weise allerdings nicht das bedeutende Kapitel über Jean Paul („Transzendenz und Weltveränderung bei Jean Paul“, D. SÖLLE, Rea lisation. S. 168–280), wo sich Sölle wesentliche Momente auch der affirmativen theologischen Poesie Jean Pauls zu Eigen gemacht hat. Vgl. außerdem ihr großes Spätwerk: D. SÖLLE, Mystik. – Weithin unentdeckt für die Fortentwicklung dessen, was in den Politischen Nachtgebeten „Information“ hieß, sind die Reisenotizen, Erzählungen und Beobachtungen, die sie 1992 unter dem Titel: Gott im Müll. Eine andere Entdeckung Lateinamerikas, veröffentlicht hat. 54 Vgl. G. KUGLER, Forum Abendmahl; R. CHRISTIANSEN /P. CORNEHL, Tisch; ferner G. KUGLER, Feierabendmahl. Zur Abendmahlstradition des Deutschen Evangelischen Kirchentages jetzt auch meine Überlegungen P. CORNEHL, Gemeinschaft, bes. S. 209ff.

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was sich gerade in jüngster Zeit aus aktuellem Anlass neu zur Geltung gebracht hat. Die Gottesdienste, Gedenkfeiern, Gebete bei besonderen Katastrophen, nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 in New York, im Irakkrieg, nach dem Tsunami in Südostasien, stehen alle bewusst oder unbewusst in der Tradition der Politischen Nachtgebete. Diese Einsicht verlangt heute nach einer angemessenen gottesdienstlichen Gestalt. Ein direkterer Einfluss lässt sich schließlich in den „Friedensgebeten“ in der DDR in der Zeit der Wende 1989/90 ausmachen, wobei dort – auch auf Grund der anderen Situation und neuerer theologischer Erkenntnisse – die Einseitigkeiten des alten Modells weitgehend überwunden werden konnten. Das lässt sich auch als eine Frucht ökumenischer liturgischer Lernprozesse angesichts neuer Herausforderungen verstehen. Die Erforschung der „Friedensgebete“ und der „Gebete um Erneuerung“ hat erfreulicherweise begonnen55. Die Erforschung der Politischen Nachtgebete selbst steht noch aus. Es ist an der Zeit, endlich die Geschichte der Politischen Nachtgebete zu schreiben, sie in die Geschichte der Gottesdienstreformen seit Anfang der 1960er Jahre einzuordnen und dabei den Kontext der sozialen Bewegungen in Kirche und Gesellschaft umfassend zu berücksichtigen. Gottesdienstgeschichte ist nicht nur Agendengeschichte. Wann wird die Liturgiegeschichtsschreibung das endlich realisieren? Wenn die Praktische Theologie, wenn die Kirchliche Zeitgeschichte die Ergebnisse der Tutzinger Tagung ernst nimmt, steht sie vor neuen Aufgaben. Literaturverzeichnis A RBEITSKREIS GOTTESDIENST UND KOMMUNIKATION (Hg.): Liturgische Nacht. Ein Werkbuch. Wuppertal 1974. BAHR, Hans-Eckehard: Kältestrom und Wärmestrom bei der Vermittlung des Christlichen. In: Cornehl, Peter/Bahr, Hans-Eckehard (Hg): Gottesdienst und Öffentlichkeit. Theorie und Didaktik neuer Kommunikation (Konkretionen. 8). Hamburg 1970, S. 197–216. BECKMANNN, Joachim: Die Entstehung der Agenden der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche und der Evangelischen Kirche der Union. In: Ders.: Im Kampf für die Kirche des Evangeliums. Gesammelte Aufsätze. Gütersloh 1961, S. 380–387. BRONK, Kay-Ulrich: Der Flug der Taube und der Fall der Mauer. Die Wittenberger Gebete um Erneuerung im Herbst 1989 (Arbeiten zur Praktischen Theologie. 16). Leipzig 1999. 55

Vgl. K.-U. BRONK, Flug, zur Vorgeschichte und zum Traditionshintergrund in der Politischen Theologie sowie in den Politischen Gottesdiensten der 1960er Jahre, S. 33ff; ferner das vor dem Abschluss stehende Leipziger Habilitationsprojekt von Hermann Geyer: Der politische Gottesdienst der Wendezeit in Leipzig 1986/87–1991.

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Einige Dimensionen der Strukturveränderung der deutschen evangelischen Landeskirchen in den 1960er und 70er Jahren

1. Die Kirchenreform: Strukturkritik ohne Folgen? Die Kirchenreformbewegung, von der auf dieser Tagung schon viel die Rede war, hat ihre Kritik an den kirchlichen Verhältnissen im Nachkriegsdeutschland nicht zuletzt als Kritik an den Strukturen, an der erfahrbaren „Gestalt der Kirche“ formuliert1. Diese Strukturkritik betraf vor allem drei überkommene Eigenarten der evangelischen Landeskirchen: ihren volkskirchlichen Charakter, die strukturelle Priorität der Parochie sowie die zentrale Stellung des Pfarramtes. Der „volkskirchliche“ Charakter der Landeskirchen wurde vor allem Anfang der 1970er Jahre zum Gegenstand einer breiten, auch theologisch auf hohem Niveau geführten Diskussion2 . Schon in den 1960er Jahren jedoch wurden verschiedene strukturelle Aspekte des staatskirchlichen Erbes vehement kritisiert, so etwa der selbstverständlich erhobene Anspruch der Kirche, den gesellschaftlichen Gruppen und Verbänden gegenüber zu treten, gleichsam auf einer Ebene mit den staatlichen Instanzen; sodann die bürokratische, bis ins Einzelne der politischen Verwaltung entsprechende Administration; die Finanzierung der kirchlichen Arbeit durch eine seitens des Staates erhobene Kirchensteuer; und nicht zuletzt eine insgesamt bürokratisch-hoheitliche Sicht der Kirchenmitglieder, die diese nicht als selbständige Christen, sondern primär als Glieder einer öffentlich-rechtlichen Institution behandelt. Auf Grund dieser Fixierung auf staatsanaloge Strukturen erschien die Kirche unfähig, den gesellschaftlichen Wandel, auch die gewandelten ökonomischen und sozialen Lebensverhältnisse der Einzelnen angemessen wahrzunehmen. Diese Kritik an konservativen Strukturen oder, wie es in der einschlägigen ökumenischen Diskussion hieß, am „morphologischen Fundamentalismus“

1

Vgl. als instruktiven Überblick R. SCHLOZ, Kirchenreform, das Zitat EBD., S. 52. Die inhaltlichen Kontexte der einschlägigen Reformvorhaben reflektiert etwa W. JETTER, Was wird aus der Kirche?. 2 Vgl. etwa K.-F. DAIBER, Volkskirche; R. SCHLOZ, Arbeitsbuch Volkskirche; W. LOHFF /L. MOHAUPT, Volkskirche; einen gründlichen Überblick gibt A. L EIPOLD, Volkskirche.

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der Großkirchen, konkretisierte sich als Kritik an der Dominanz der Parochie 3 : Konzentriert sich kirchliche Arbeit auf die herkömmlichen Strukturen, Handlungs- und Beteiligungsformen der Ortsgemeinde, so nimmt sie immer größere gesellschaftliche Gruppen nicht (mehr) wahr. Sowohl die Unterprivilegierten als auch die Eliten sind im parochialen Leben selten oder gar nicht zu finden. Auch für andere, ja für die meisten Kirchenmitglieder sei, so argumentierten die Kirchenreformer, inzwischen die Region diejenige Ebene, auf welcher sich ihr soziales Handeln vornehmlich abspiele. Eine Kirche, die der Parochie finanzielle und theologische Priorität einräumte, schien ihre gesellschaftsdiakonische Aufgabe, wie sie nach dem II. Weltkrieg neu und energisch formuliert worden war, nur höchst eingeschränkt erfüllen zu können. Die Parochie – das ist schließlich eine in besonderer Weise vom Pfarramt dominierte Organisationsform. Gegen diese „Pastorenkirche“ wurde eingewandt, sie ignoriere die gestiegene Bedeutung anderer kirchlicher Mitarbeitender. Vor allem pädagogisch und diakonisch Berufstätige erschienen – rechtsstrukturell, aber auch in der Sicht der Mitglieder – lediglich als „Hilfstruppe“ des Pfarrers. Erst recht verhindere die zentrale Stellung des Pfarrers eine selbständige, eigenverantwortliche Mitarbeit von Laien. Auch hier stehen ökumenische Einsichten im Hintergrund, vor allem die in den 1950er Jahren entfaltete Theologie des Laienapostolats. Blickt man auf die gegenwärtigen Organisationsverhältnisse der evangelischen Landeskirchen, so drängt sich zunächst der Eindruck auf, jene vehement und eloquent vorgetragene Strukturkritik sei praktisch erfolglos gewesen – auch die Kirchenreform-Gruppen selbst haben nicht selten eine solche Bilanz gezogen. Nach wie vor sind die Landeskirchen nach innen wie in ihren Außenbeziehungen staatsanalog verfasst; nach wie vor wird die christliche Gemeinde hier vor allem als Ortsgemeinde verstanden – andere Gemeindeformen sind sowohl finanziell wie rechtlich deutlich schlechter gestellt. Und das Pfarramt erscheint nach wie vor als zentrales Amt der Kirche, mit einem erheblichen Bedeutungs-, Gehalts- und Gestaltungsvorsprung vor allen anderen Formen der Mitarbeit. Hat das Ansinnen einer umfassenden Strukturreform, das die 1960er Jahre in der Wahrnehmung der kirchlichen Öffentlichkeit geprägt hat, also keine Auswirkungen gehabt? Die folgenden Ausführungen wollen zeigen, in welche Richtung weiter zu forschen ist, wenn diese Frage angemessen beantwortet werden soll.

3

Vgl. etwa den Vortrag von Ernst Lange: Ein anderes Gemeindebild. Erwägungen zum Problem „Kirche und Gesellschaft“ (1967), in: E. L ANGE, Kirche, S. 177–194., das Zitat EBD. S. 178.

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2. Gescheiterte Versuche, Amt und Gemeinde neu zu definieren Genauerer Betrachtung wert ist zunächst das Schicksal der konstruktiven Vorschläge, die die Kirchenreformbewegung im Blick auf die kirchliche Organisation gemacht und auch praktisch erprobt hat. Hier sind vor allem das Konzept des funktional gegliederten „Teampfarramts“ sowie der Ausbau von „Paragemeinden“ zu nennen. Was das Teampfarramt betrifft, so gingen die ambitioniertesten Vorschläge in eine Richtung, wie sie etwa in der Rheinischen Kirche formuliert wurde: Ein von der Kirchenleitung eingesetzter Ausschuss schlug Mitte der 1960er Jahre vor, „beim Dienst der Gemeindepfarrer zwischen Grund- und Spezialfunktionen zu unterscheiden. […] Als Grundfunktionen bezeichnete der Ausschuss solche Dienste der Pfarrer, die vor allem auf persönliche Begegnung gerichtet sind: Besuche, Amtshandlungen, Gemeindegottesdienste, […] personenbezogenen Gruppenarbeit. Davon unterschieden wurden Spezialfunktionen, sowohl auf bestimmte Sachgebiete als auch auf bestimmte Zielgruppen ausgerichtet […]. Es war geplant, sowohl in der Ausbildung der Pfarrer entsprechende Schwerpunkte auszuprägen als auch die einzelnen Pfarrstellen in größeren Gemeinden entsprechend zu profilieren. In jeder Pfarrstelle sollten sowohl bestimmte Grund- als auch bestimmte Spezialfunktionen wahrgenommen werden, […] so dass in einer Gemeinde von drei bis fünf Pfarrstellen Kirche mit ihren Diensten differenzierter und qualifizierter präsent sein könnte. […] Die Pläne sahen sogar vor, dass […] auch Fachkräfte anderer Fakultäten, gedacht war u. a. an Pädagogen, Soziologen und Psychologen, gleichberechtigt mit Pfarrern in größeren Gemeinden würden mitarbeiten können.“4

Ganz ähnliche Vorschläge sind im Übrigen auch im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR diskutiert worden. Hier wurde – auf Grund der Wahrnehmung immer kleiner werdender Gemeinden – Mitte der 1970er Jahre ein Ausbildungskonzept erarbeitet, das davon ausging, jeder kirchliche Berufstätige solle „pastorale Elementarfunktionen“ in einer Einzelgemeinde mit der Wahrnehmung spezieller Dienste, etwa musikalischer oder pädagogischer Ausprägung, in der Region verbinden5. Auch auf diese Weise sollte eine kirchliche Grundversorgung mit der professionellen Wahrnehmung der ausdifferenzierten Anforderungen an das Handeln der Kirche verbunden werden. Hier war ebenfalls vorgesehen, in größerem Umfang nicht-theologische Kompetenzen in die Ausbildung einzubeziehen. 4

J. SCHROER, Ortsgemeinde, S. 274f. Dieses Ausbildungskonzept wurde auf der Bundessynode 1975 in Eisenach verabschiedet; die Papiere sind gut zugänglich in: D. A SCHENBRENNER /K. FOITZIK, Plädoyer, S. 187–218, das Zitat EBD., S. 216. 5

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Solche Reformvorschläge gehen zwar (z. T. ausdrücklich) auf bestimmte, vor allem reformierte Vorstellungen eines gegliederten kirchlichen Amtes zurück. Gleichwohl ist deutlich, dass sie die überkommene Struktur des Pfarramtes sehr prinzipiell und umfassend in Frage stellen: Der einzelne Pfarrer ist demnach nicht mehr – als „parochus“ – für das gesamte kirchliche Handeln in einem Bereich allein- oder doch letztzuständig, sondern er spezialisiert sich. Das heißt, er muss seine Verantwortung auch vor Ort mit anderen Spezialisten teilen und ist nicht nur am Rand, sondern im Kern seiner Berufstätigkeit angewiesen auf die Kooperation mit anderen Pfarrern, aber auch mit anderen Berufsgruppen. Diese Reformideen haben sich bekanntlich weder im Westen noch im Osten durchgesetzt, und es lohnt zu fragen, woran jene Restrukturierung des Pfarramtes gescheitert ist. Ist das Pfarramt letztlich nicht differenzierungsfähig, weil es von seinen generalistischen Grundfunktionen her konzipiert und legitimiert ist, auch seitens der Mitglieder? Sind die akademischen Ausbildungsstrukturen zu widerständig, wie in der DDR vermutet wurde? Oder war der pastorale Berufsstand schlicht und einfach nicht bereit, Status- und Gestaltungsmacht abzugeben? Eine differenzierte Antwort auf solche Fragen dürfte nicht zuletzt praktisch-theologisch aufschlussreich sein, um so die vielfältigen Bedingungen für Stabilität und Wandlungsfähigkeit des kirchlichen Amtes in den Blick zu bekommen. Auch der Kritik an der Dominanz der Parochie trat eine Reihe konstruktiver Vorschläge zur Seite, die alle darauf hinausliefen, andere Gemeindeformen zu etablieren bzw. zu stärken. Hier wurde an sehr unterschiedliche Sozialformen gedacht: einerseits, aus eher konservativer Sicht, an eine Konzentration des kirchlichen Lebens auf engagierte, bekenntnistreue Kerngemeinden, andererseits an die Gründung von „Dienstgruppen“, die die diakonischen und politischen Anliegen des Glaubens außerhalb der etablierten Strukturen sichtbar machen sollten. Als Vorbild solcher „Paragemeinden“ erschienen vor allem die Studentengemeinden sowie die Gruppen, die sich um die Arbeit der Evangelischen Akademien gebildet hatten. Auch hier wird man – in struktureller Hinsicht – ein Scheitern der Reformbemühungen konstatieren müssen. Der Versuch, den ekklesiologisch tief verwurzelten, aber auch dementsprechend unklaren Begriff der „Gemeinde“ nicht nur theologisch, sondern auch organisatorisch neu und umfassender zu definieren, ist seit den 1960er Jahren vielfach unternommen worden – weder verfassungsrechtlich noch im innerkirchlichen Streit um Stellen und Finanzen ist es aber gelungen, der Ortsgemeinde andere Sozialformen des Glaubens gleichberechtigt zur Seite zu stellen. Auch hier wäre weiter zu fragen, ob dies „nur“ in einem generellen Strukturkonservativismus begründet ist, wie er allen Großorganisationen eigen ist – oder ob es für diese Beharrungskraft der Parochie auch genuin theologische

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Ursachen gibt: Verlöre die evangelische Kirche ihr eigentliches Profil, ihre spezifische Struktur der Selbstwahrnehmung, wenn sie sich in einem Nebeneinander verschiedener Sozialformen organisieren und präsentieren würde?

3. Regionalisierung als neues Strukturelement Wendet man den Blick von den basalen, gleichsam „urevangelischen“ und entsprechend stabilen Strukturen von Amt und Gemeinde ab, so zeigen sich, auf einer konkreteren Ebene, doch nicht wenige Veränderungen. Paradigmatisch für die gewandelten Rahmenbedingungen wie für die organisatorische Reaktion der Kirche erscheint die Miniatur pastoraler Erfahrung, die Johannes Degen am Ende des hier thematischen Zeitraums formulierte: „Irgendwann Anfang 1978, Samstagabend. Aus dem gemeinsamen Gemeindebüro im benachbarten Pfarrbezirk hole ich die Materialien für den Gottesdienst am Sonntag. Das Büro liegt im ‚Kirchenforum‘, einer baulichen Einheit von vier Gemeinden (evangelische und katholische Ortsgemeinde, evangelische und katholische Studierendengemeinde, verschiedene kirchliche Dienste) inmitten einer hoch aufragenden Betonlandschaft für 15000 Menschen, Platz für fünfzig Geschäfte und Lokale, Tiefgaragen und Busstationen: ein glitzerndes, helles, verglastes Gewinn-Büro-Kirch-Wohn-Konglomerat, verführerische Leblosigkeit, attraktiv und abstoßend zugleich, durch brutale Betonwannen ‚begrünt‘; Familienbildungsstätte, Schwimmbad, Beratungsstelle, Säle, zwei Kirchen – die notwendigen oder als solche erachteten ‚Grundfunktionen‘ menschlichen Lebens sind ‚abgedeckt‘; zwischendrin erzählt Dorothee Sölle über christlichen Anarchismus in Amerika, ich höre es nicht, sehe nur durch die Scheiben. In meinem Fach im Gemeindebüro liegt die landeskirchliche Vorlage ‚Fromm-sein heute‘, wir sollen darüber nachdenken, überall in Westfalen.“6

Aufschlussreich ist zunächst der soziale Kontext, in dem Degen die kirchlichpastorale Lage am Ende der 1970er Jahre sieht: Es sind die Neubaugebiete Westwie auch Ostdeutschlands, in denen die veränderten sozialen Bedingungen auch neue Handlungs- und Organisationsformen der Kirche nahe gelegt haben7. Gemeinwesenarbeit, Verbindung von Diakonie und Erwachsenenbildung, selbstverständliche ökumenische Kooperation vor Ort wie im Welthorizont (Dorothee Sölle erzählt aus Amerika!) – das sind einige Formen kirchlicher Arbeit, die in den Neubaugebieten zuerst entwickelt wurden und inzwischen weite Verbreitung gefunden haben. 6

J. DEGEN, Herausforderungen, S. 49f. Zur Bedeutung der pastoralen Arbeit in Neubaugebieten für die Kirchenreform vgl. auch W. SIMPFENDÖRFER, Offene Kirche, S. 74. 7

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Der architektonische Kontext hat nicht zuletzt auf die Bautätigkeit der Kirchen selbst zurückgewirkt. Die „dagobertinische Phase“ der Kirchengeschichte, wie Wolf-Dieter Hauschild die 1960er und 70er Jahre genannt hat, also der – weder vorher noch nachher erreichte – hohe Stand kirchlicher Einnahmen erlaubte es den Gemeinden, neben den vorhandenen oder anstatt von neuen Kirchen eine Vielzahl von Gemeindehäusern zu bauen – multifunktionale Gebäude, die die verschiedensten religiösen und sozialen „Grundfunktionen“ des Gemeindelebens „abdecken“ sollten (Degen). Die kirchlichen Neubauprogramme bildeten für alle nun zu betrachtenden Strukturveränderungen ein nicht zu unterschätzendes materiales Fundament, das bis heute wirksam ist. Jedenfalls im städtischen Kontext, und erst recht in den städtischen Neubaugebieten, hat sich die kirchenreformerische Forderung nach einer Regionalisierung kirchlicher Arbeit in den 1970er Jahren durchgesetzt. Auch wenn die Ortsgemeinde zentrales Strukturelement bleibt, so wird sie doch mehr und mehr eingebunden in regionale Kooperationsstrukturen. Die von Degen skizzierte, typische Gemeinde der 1970er Jahre teilt ihr „Kirchenforum“ nicht nur mit den Katholiken, sondern auch mit Studierendengemeinden, deren Klientel den räumlichen und den sozialen Horizont der Parochie überschreitet. Dazu kommen „verschiedene kirchliche Dienste“; Degen nennt Familienbildung und Beratung. In nuce wird hier erkennbar, wie das parochiale Handeln in den 1960er und 70er Jahren immer stärker durch weitere Zusammenhänge ergänzt und mitgestaltet wird: Die „übergemeindliche“ Arbeit der Kirche erfährt einen enormen Aufschwung8 ; dies ist in organisatorischer Hinsicht wohl die wichtigste Veränderung des kirchlichen Lebens. Der in dieser Zeit erfolgte Ausbau regionaler und überregionaler „Dienste“ lässt sich in seinen Intentionen wie in seinen Auswirkungen paradigmatisch erkennen am Organigramm des „Hauses kirchlicher Dienste“ der Evang.-luth. Landeskirche Hannovers. Das Organigramm zeigt den im Jahre 2004 erreichten Stand der Organisation; die hier genannten „Dienste“ sind aber zum größten Teil zwischen 1960 und 1980 entstanden oder doch erheblich ausgebaut worden – in Hannover ebenso wie in den meisten anderen größeren Landeskirchen. Dabei ist zu bedenken, dass zu den hier aufgeführten, schon mehr als 25 Diensten nicht wenige dazukommen, die in Hannover nicht unter einem gemeinsamen Dach hausieren – vor allem die Dienststellen, die übergemeindliche Seelsorge etwa im Krankenhaus oder im Gefängnis koordinieren oder dafür ausbilden, sowie die religionspädagogischen Arbeitsstellen bzw. Institute. Schon das hier sichtbare Spektrum der Dienste lässt jedoch wesentliche Anlässe und Absichten der 8

Vgl. dazu den Überblick bei U. POHL-PATALONG, Ortsgemeinde, S. 110ff.

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Organigramm des „Hauses für Kirchliche Dienste“ Haus kirchlicher Dienste

Arbeitsstelle Kindergottesdienst

Arbeitsstelle Arbeitsstelle Umweltschutz

Bildung

Beauftragte für Diakone/ innen, Pfarramts-/

Kirche im Tourismus

Kirchenkreissekretäre/innen Besuchsdienstarbeit

Ev. Buch- und Büchereiarbeit

Frauenwerk

entwicklungsbezogene

Arbeitsstelle Islam und Migration

Kirchlicher Dienst auf dem

Arbeitsstelle Kirche und

Lande

Judentum

Kirchlicher Dienst für

Arbeitsstelle Ökumene

Handwerk und Handel

(DOV)

Kirchlicher Dienst in der

Arbeitsstelle

Arbeitswelt

Weltanschauungsfragen

Kirchenvorstands-/

Ev. Messedienst (Kirche und

Kirchenkreistagsarbeit

Sport)

Arbeitsstelle Friedensarbeit

Landesjugendpfarramt (Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in

Missionarische Dienste

Kunst und Kultur - Spiel und Theater

Kirchengemeinden/-kreisen) Landesjugendpfarramt

Ostkirchen- und

(Verbände eigener Prägung)

Aussiedlerarbeit

Landesjugendpfarramt (Schulen- und Schüler/ innenarbeit) Männerarbeit (einschl. Küsterarbeit) Gemeindeberatung/ Organisationsentwicklung

292

Jan Hermelink

regionalen Arbeit jenseits der Ortsgemeinde erkennen, und es zeigt auch: Mit den verschiedenen Formen dieser Regionalisierung verbinden sich unterschiedliche, z. T. durchaus konkurrierende Ekklesiologien. Die historisch älteste Schicht bilden die verschiedenen „Werke“ oder „Dienste“, etwa das Frauenwerk, die Jugendverbände oder auch die missionarischen Dienste, die alle ursprünglich dem freien Vereinsprotestantismus entstammen. Auch die vielfältigen diakonischen Organisationen gehören natürlich hierher. Vor allem in der Zeit des Nationalsozialismus‘ wurden diese eigenständigen Sozial- und Arbeitsformen in die landeskirchliche Organisation integriert – ohne jedoch in deren parochialer Grundstruktur aufzugehen. Sie lassen sich, ihrer Herkunft entsprechend, nicht selten auf die Vorstellung einer Kirche für bestimmte Stände oder gesellschaftliche Schichten zurückführen; sie sind – vom Ursprung her – einer patriachalen Ekklesiologie verpflichtet. Zugleich haben viele dieser Werke oder Dienste eigenständige Sozialformen ausgebildet, die nicht selten selbst den Status der Gemeinde oder gar einer eigenen Form von Kirche beanspruchen. Auch und gerade diese Tendenz, diakonische oder missionarische Gemeinden jenseits der Parochie, ja eine eigene Kirche als „Frauenkirche“ oder „Jugendkirche“ zu entwickeln, wird vor allem seit den 1960er und 70er Jahren strukturbestimmend. Neben diese ständisch orientierte kirchliche Arbeit treten seit den späten 1960er Jahren verschiedene „Dienste“, die Kirche in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen präsent machen oder halten wollen. Der „Kirchliche Dienst auf dem Lande“ oder „in der Arbeitswelt“, die „Kirche im Tourismus“ oder auf Messen und in der Welt des Sportes – alle diese Stellen versuchen, der zunehmenden gesamtgesellschaftlichen Differenzierung zu begegnen, indem je eigene Arbeits-, Veranstaltungs- und Organisationsformen aufgebaut werden. Zu dieser dezidiert an der modernen Gesellschaftsstruktur orientierten Kirche gehört auch der Versuch, bestimmte gesellschaftliche Themen überregional zu bearbeiten, etwa die „Friedensarbeit“ oder die „entwicklungsbezogene Bildung“. Eine dritte Ekklesiologie spiegelt sich in den „Arbeitsstellen“, mit denen die Landeskirche anderen Kirchen oder Religionen gegenüber tritt, etwa dem Judentum oder dem Islam. Hier versteht sich Kirche als eine bestimmte religiöse Organisation, die mit spezifisch eingerichteten „Arbeitsstellen“ (ein Wort aus der Sprache der Großorganisationen) zu anderen Organisationen oder doch Phänomenen des gleichen Typs Kontakt aufnimmt. Implizit relativiert die kirchliche Organisation damit ihren Monopolanspruch auf die gesellschaftliche Repräsentation von Religion; sie wird zu einer weltanschaulichen Organisation unter anderen. Indem die Landeskirchen, verstärkt seit den späten 1960er Jahren, ihre regionale und überregionale Arbeit ausbauen, reagieren sie nicht allein pragmatisch auf veränderte soziale Verhältnisse. Sondern sie geben damit, mitunter sehr ge-

Dimensionen der Strukturveränderung der Landeskirchen

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zielt, neben der Ortsgemeinde auch „anderen Gemeindebildern“ (Ernst Lange) greifbare, erfahrbare Wirklichkeit. Die Landeskirchen der 1960er und 1970er Jahre bilden – nicht selten explizit – konkurrierende Kirchenverständnisse aus; sie geben Raum (und Geld!) für einander ergänzende, aber durchaus auch in Spannung stehende Ekklesiologien. Diese ekklesiologische Diversifizierung bildet sich schließlich auch im Ausbau derjenigen Organisationsform ab, mit der die Kirche sich schon immer auf die regionale Ebene des gesellschaftlichen Lebens bezogen hat: Der Kirchenkreis (bzw. das Dekanat) wird, vor allem seit den 1970er Jahren, nicht nur zur Projektionsfläche fast aller kirchenreformerischen Wünsche und Ideen9, auch nicht nur zum realen Träger vieler überregionaler Arbeitsformen, etwa der Diakonie, der Erwachsenenbildung oder der Jugendarbeit – sondern der Kirchenkreis wird auch zunehmend selbst als eigenständige Form kirchlichen Lebens, ja als Gemeinde in der Region verstanden. Es ist dann der Kirchenkreis, der etwa die Kirche als Bildungsinstitution repräsentiert, oder der sie als eine öffentliche, das städtische Leben prägende Institution erscheinen lässt. Auch die beginnende City-Kirchen-Arbeit wird nicht selten vom Kirchenkreis (mit-)getragen. An der – überaus komplexen – Strukturgeschichte dieser „mittleren Ebene“ ließe sich daher das wechselvolle und vielschichtige kirchliche Selbstverständnis jenseits der Parochie sehr präzise rekonstruieren – das wäre ein überaus lohnendes Forschungsprojekt10.

4. Professionalisierung als neues Strukturelement Profil und Gestalt der evangelischen Kirchen sind, stärker noch als im römischen Katholizismus, durch die Personen bestimmt, die diese Kirchen repräsentieren. Die jeweilige Struktur der kirchlichen Mitarbeit, vor allem der Berufstätigkeit, erscheint darum für die Frage nach kirchlichen Strukturveränderungen im Ganzen besonders bedeutsam. Auch in dieser Hinsicht lassen sich, ungeachtet der bleibenden Dominanz des pastoralen Amtes, in den 1960er und 70er Jahren entscheidende, die Gegenwart wesentlich prägende Veränderungen erkennen. Die kirchliche Berufstätigkeit ist in dieser Zeit – im Pfarramt und weit darüber hinaus – gekennzeichnet von einem vielschichtigen Professionalisierungsschub. Diese Professionalisierung kirchlicher Arbeit zeigt sich zunächst und besonders deutlich bei den kirchlichen Berufen neben dem Pfarramt11 : In den frag9

Vgl. dazu die detaillierte Arbeit von W. L ÄWEN, Kirchenkreis. Erste Vorarbeiten finden sich etwa in dem Band V. WEYMANN/U. HAHN (Hg.), Superintendentur. 11 Vgl. zum Folgenden G. BUTTLER, Kirchliche Berufe.

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lichen Jahrzehnten werden aus Kindergärtnerinnen Erzieherinnen, aus Gemeindehelfern kirchliche Sozialarbeiter; aus Katecheten werden Gemeindepädagogen. Eine Vielzahl von Ausbildungsreformen, und zwar wiederum in Ost- und Westdeutschland bemerkenswert parallel, zielen auf die Anhebung und Systematisierung der beruflichen Standards. Diese Entwicklung hat ihren Hintergrund in dem Bestreben, sich den staatlichen Ausbildungsgängen anzupassen und damit (vor allem in Westdeutschland) den beruflichen Wechsel aus der Kirche heraus oder in sie hinein zu erleichtern; sie gründet aber für viele Berufe auch in der Überzeugung, die gewandelten sozialen Verhältnisse erforderten eine differenziertere, auch wissenschaftlich anspruchsvolle Ausbildung, etwa an Fachhochschulen. Mit dieser Professionalisierung erhöht sich der Status und auch die Besoldung der nicht pastoralen Berufe in der Kirche. Damit gehen veränderte Beschäftigungsverhältnisse einher – nicht wenige Diakone, Beraterinnen oder Pädagogen werden nun beim Kirchenkreis angestellt; auch damit wird die parochiale Ekklesiologie an einem wichtigen Punkt relativiert. Dazu geht die Statusverbesserung beruflicher Arbeit in der Kirche mit einer Verbesserung ihrer Vertretungs- und Mitbestimmungsrechte einher. Die Mitte der 1970er Jahre einsetzende Diskussion über den sog. „dritten Weg“, zwischen einseitig gesetztem und gewerkschaftlich ausgehandelten Arbeitsrecht, markiert hier einen wichtigen Einschnitt. Die Veränderungen der pastoralen Berufsstruktur scheinen weniger auffällig. Die Rechtsverhältnisse und Dienstaufgaben des Pfarrers wandeln sich nur wenig; und auch die (nahezu) flächendeckende Einführung der Frauenordination hat die Struktur des Pfarramtes weniger verändert als viele gehofft und andere befürchtet hatten. Gleichwohl lassen sich bei näherem Hinsehen zwei wesentliche Änderungen ausmachen. Zum einen hat sich durch die Stärkung übergemeindlicher Arbeit auch die Zahl der Pfarrstellen erhöht, die außerhalb der Parochie angesiedelt sind. Schon 1971 rechnete Yorick Spiegel in seiner einschlägigen, bisher nicht systematisch weitergeführten Untersuchung über „Pfarrer ohne Ortsgemeinde“ mit einem Anteil von 20–25% 12 ; diese Zahl hat sich seither, etwa durch den Ausbau der Krankenhausseelsorge, noch weiter erhöht. 1971 arbeitete das Gros dieser Pfarrerinnen und Pfarrer in allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen, in der Seelsorge, in der kirchlichen Ausbildung sowie – immerhin 15% – in der kirchlichen Leitung und Verwaltung. Bis in die Gegenwart hinein hat sich diese Ausweitung der pastoralen Berufsfelder erstaunlich wenig auf das Berufsbild ausgewirkt; nach wie vor erscheint für Kirchenleitungen wie auch in der Praktischer Theologie der/die Gemeindepfarrer/in als Paradigma des pastoralen Amtes – 12

Y. SPIEGEL, Pfarrer, S. 14–19.

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obwohl ein Wechsel von der Ortsgemeinde zur Funktionsstelle von den Pfarrer/ innen selbst deutlich mehr gewünscht wird als umgekehrt13. Zum anderen hat sich die Struktur pastoraler Berufstätigkeit insofern gewandelt, als ihr – wiederum seit Anfang der 1970er Jahre – eine erheblich veränderte Ausbildung zu Grunde liegt. Auch diese Veränderung wird vielfach übersehen, weil man sich auf den universitären Ausbildungsabschnitt konzentriert, dessen innerer Aufbau und dessen Ziele in der Tat seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts höchst stabil geblieben sind. Ganz anders verhält es sich jedoch mit der zweiten Ausbildungsphase. In den landeskirchlichen Predigerseminaren vollzog sich, relativ zeitgleich, um 1972 eine tief greifende Reform der Ausbildungsinhalte sowie – vielleicht noch wichtiger – auch der Ausbildungsformen. Im Zuge des erhöhten Interesses an den gesamtgesellschaftlichen Bedingungen kirchlichen Handelns, aber auch im Zusammenhang der Seelsorgebewegung erhielten vor allem humanwissenschaftliche Theorien und Themen im Lehrplan der Seminare ein größeres Gewicht. Dazu kamen die Ausweitung des ökumenischen Horizontes sowie das gestiegene Interesse an kirchlichen Bildungsbemühungen, und damit auch an der pädagogischen Theorie. Schließlich wurden seit dieser Zeit auch Fragen des Kirchen- und des Berufsbildes, also pastoraltheologische Fragen im engeren Sinne verstärkt zum Thema. Vielleicht noch bedeutsamer für die Form pastoraler Berufsarbeit sind die in jenen Zeitraum dramatisch, und oft unter erheblichen Konflikten veränderten Lernformen. An die Stelle akademischer Tradition – Vorlesung und individuelle Studienarbeit – trat seminaristisches Arbeiten in kleinen Gruppen; dazu kamen vermehrte Exkursionen, überhaupt eine stärkere Verknüpfung mit der Praxis, auch durch die Einbeziehung externer Referenten und Arbeitsgebiete. Insgesamt wurde die zweite Ausbildungsphase nun erheblich mehr von den Auszubildenden selbst verantwortet und gestaltet – und damit wurde implizit auch ein anderes, stärker selbstbestimmtes Bild des (künftigen) Berufes eingeübt. Auch wenn das „Teampfarramt“ und ähnliche Formen sich nicht durchgesetzt haben – dass auch das Pfarramt auf die Kooperation mit anderen Berufstätigen, mit Ehrenamtlichen und auch mit Kolleginnen und Kollegen angelegt ist, diese Einsicht ist durch die veränderte Struktur der Ausbildung bei den Pfarrerinnen und Pfarrern doch zunehmend selbstverständlich geworden. Wiederum sei die damit verbundene Forschungsperspektive markiert: Die Geschichte der pastoralen Ausbildung seit 1945 ist m. W. noch kaum bearbeitet. Die geänderten Ausbildungsordnungen und Lehrpläne sowie die einschlägigen, höchst umfang- und aufschlussreichen Debatten wären zu sichern und zu sichten. Nochmals: Geht man davon aus, dass die erfahrbare Gestalt, und damit auch die 13

Vgl. C. GRETHLEIN, Pfarrer(in)sein, S. 383f.

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Wirkung namentlich der evangelischen Kirchen wesentlich durch ihr professionelles geistliches Personal geprägt wird, dann ist die Frage, wie dieses Personal aus (und weiter-) gebildet wurde, von nicht zu überschätzender Bedeutung.

5. Demokratisierung als neues Strukturelement Strukturfragen sind in einer Kirche, die bis vor wenigen Jahrzehnten als Staatskirche existiert hat, immer auch Verfassungsfragen. Die – nicht wenigen – Veränderungen, die sich auf der Ebene der Kirchenordnungen gerade zwischen 1960 und 1980 ergeben haben14, sind zwar im Einzelnen nur mühsam zu rekonstruieren. Ihre wesentlichen Tendenzen sind aber insofern recht leicht greifbar, als Mitte der 1970er Jahre die bisher selbständigen Landeskirchen in Hamburg und Schleswig-Holstein sich zur Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche vereinigten und dafür eine neue Verfassung ausgearbeitet wurde, die deutlich von der „Reformeuphorie“ der Zeit geprägt erscheint15. Unter den Neuerungen dieser Verfassung gegenüber ihren Vorgängern finden sich zunächst viele der oben schon skizzierten Aspekte: eine Stärkung des Kirchenkreises als eigener Verwaltungs- und Handlungsebene, der auch die Finanzmittel der Gemeinden zugewiesen werden; der Versuch einer Neuordnung des Amtsbegriffs, der nun ausdrücklich verschiedene „Dienste“ einschließt – damit wird das Gewicht der Mitarbeitenden, auch ihre Repräsentanz in den Entscheidungsgremien gestärkt; schließlich die verfassungsrechtliche Verankerung der übergemeindlichen „Dienste und Werke“ auf allen Ebenen des kirchlichen Aufbaus. Dazu kommen in Nordelbien nun Verfassungselemente, die eine Demokratisierung des kirchlichen Lebens markieren und die sich ähnlich auch in vielen anderen Verfassungsrevisionen der Zeit finden. Hier ist zunächst die Besetzung der geistlichen Leitungsämter durch eine Wahl auf Zeit zu nennen. Die zeitliche Begrenzung namentlich des bischöflichen Amtes, und die Wahl (nicht Ernennung) auch der Pröpste, also der episkolapen Leitung des Kirchenkreises, sind Neuerungen, die in Nordelbien wie in vielen anderen Landeskirchen bis heute umstritten sind. Befürchtet wird einerseits ein Autoritätsverlust der leitenden Ämter sowie ein „Verschleiß von Personen“16, die 14 Ein erster Überblick über die Revisionen der Kirchenverfassungen legt die Vermutung nahe, auch diese Strukturdimension sei etwa um 1970 in erheblich stärkerem Maße und durchgreifender bearbeitet worden als in den Jahrzehnten davor und danach. Aber diese Vermutung müsste durch vergleichende Detailstudien überprüft werden. 15 E. SCHWARZ /K. BLASCHKE, Entwicklungstendenzen, S. 3; zum Folgenden vgl. EBD., S. 6ff. 16 EBD., S. 7, Anm. 4.

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sich nicht beliebig oft zur Wahl stellen wollen. Auf der anderen Seite wird die erhöhte Transparenz der Wahlvorgänge und auch der Leitungstätigkeit selbst hervorgehoben. – Dass Verfahren und Ergebnisse von Stellenbesetzungen für die Kirche von überaus hoher Bedeutung sind, das zeigen die einschlägigen Konflikte um Bischofswahlen, ESG-Pfarrstellen und andere hervorgehobene Posten, wie sie auf der Tutzinger Tagung mehrmals thematisiert wurden. Paradigmatisch, auch in seiner Problematik, ist weiterhin das komplizierte Wahlrecht für die nordelbischen Kreissynoden – hier bilden sich auf der Ebene der Verfassung viele, vielleicht zu viele Reformwünsche der Zeit ab. Die Synode wird auf fünf (!) verschiedenen Wegen gebildet: durch Wahl der Kirchenvorstände, also als Repräsentanz der Gemeinden, durch Wahl der Pastor/innen sowie der hauptamtlichen Mitarbeitenden. Auch die übergemeindlichen Dienste und Werke stellen eigene Synodale. Dazu kommen von der Kirchenkreisleitung berufene Mitglieder; das Repräsentativprinzip wird also durch ein episkopales Verfahren relativiert. Nicht überall gibt es eine derartige Fülle von (tendenziell dann fehlergefährdeten) Wahlverfahren; das Bestreben, sowohl Gemeinden als auch übergemeindlichen Diensten, sowohl Pfarrer/innen als auch bestimmten Berufsgruppen ein Mitspracherecht einzuräumen, ist aber an vielen Stellen spürbar – es stellt ein genuines Erbe der Kirchenreformbestrebungen der 1960er Jahre dar. Den gleichen Ursprung hat das erkennbare Bemühen, Effektivität und Gewicht der Synoden generell zu steigern. Was der württembergische Akademiepfarrer Werner Simpfendörfer anfangs der 1970er Jahre noch zögernd forderte, nämlich eine eigene administrative Ausstattung der Synoden und ihrer Leitung17, das ist inzwischen ebenso selbstverständlich wie eine Gruppen- oder Fraktionsbildung, die intensivere Information und demokratische Meinungsbildung erleichtert, wenn nicht sogar ermöglicht. Auch die Tendenz der Synoden, sich zu politischen und sozialen Fragen in „öffentlichen Worten“ zu äußern, hat seither stark zugenommen.

6. Bürokratisierung als neues Strukturelement In einem aufschlussreichen Artikel zu den strukturellen Intentionen und Folgen der Kirchenreform hat Gerhard Rau darauf hingewiesen, dass die durchgreifende Demokratisierung der kirchlichen Ordnungen, wie sie für die 1970er Jahre typisch ist, mit innerer Notwendigkeit einhergeht mit einer Rationalisierung 17

W. SIMPFENDÖRFER, Offene Kirche, S. 98f.

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und einem Ausbau der Verwaltung, also mit einer erhöhten kirchlichen Bürokratisierung18. Man kann diesen Zusammenhang kritisch sehen, wie etwa Helmut Hild, der 1969 bis 1985 Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau war. Im Rückblick beschreibt er die Folgen einer „radikal demokratischen Interpretation der Kirchenordnung“: „Nicht nur in der Synode, sondern in allen Bereichen wucherten nun die Mitbestimmungs- und Mitsprachegremien. Die Zahl der Sitzungen wurde Legion. […] Man wollte den Apparat durch mehr ‚Basis‘-Bezug beweglicher machen, aber man hat die Bürokratie verstärkt. Weil sie keine Ungerechtigkeiten, keine Willkür, keine Präzedenzen zulassen wollten, unterwarfen sich die Mitsprachegremien formalistischen Regeln. Für individuell ausgerichtete Entscheidungen […] bestanden kaum Chancen. Ausnahmen wurden nicht zugelassen, selbst wenn sie seelsorgerlich begründet waren. […] Die Bürokratie wurde zusätzlich noch durch die Angst der Mitarbeiter in der Verwaltung bestärkt, an den Pranger irgendeines Gremiums gestellt zu werden. Die Demokratisierung sollte mehr Transparenz bringen. Entstanden ist dabei ein Dschungel von Zuständigkeiten, in dem nicht einmal mehr Insider durchblicken.“19

Man kann den funktionalen Zusammenhang von stärkerer Beteiligung und bürokratischer Struktur aber durchaus auch positiver sehen. In diesem Sinne weist etwa Gerhard Rau darauf hin, dass die rationale, auf formale Gleichbehandlung ausgerichtete Kirchenverwaltung eine Art „bürokratischer Integration“ von verschiedenen Berufsgruppen, von ganz unterschiedlichen regionalen Verhältnissen und – nicht zuletzt – von höchst pluralen religiösen und theologischen Einstellungen ermöglichte. Die Mitglieder und die (immer differenzierter professionalisierten) Mitarbeiter/innen konnten, so meint Rau, die Landeskirchen als „soziale Einheit“ nur deshalb erleben, weil sie – ungeachtet erheblicher inhaltlicher Differenzen – doch formal gleich behandelt wurden: „[D]ie zentrale Gehaltsabrechnungsstelle ist gleichsam zum Funktionsäquivalent für das rechte Bekenntnis im 16./17. Jahrhundert geworden!“20 Nochmals wird deutlich, dass die Kirchen der 1960er und 70er Jahre vor der Aufgabe standen, mit pluraler Theologie und Frömmigkeit, oder genauer: mit konkurrierenden Ekklesiologien umzugehen, und dass sie diese Aufgabe vor allem durch erhöhte finanzielle und eben auch bürokratische Aufwendungen zu lösen suchten21. Als weiterer Funktionsvorteil der bürokratischen Struktur erwies sich die Möglichkeit, mit anderen gesellschaftlichen Organisationen auf gleicher Ebene zu kommunizieren, eben durch „Arbeitsstellen“, durch eigene „Büros“ von 18

Vgl. G. R AU, Demokratisierung, S. 389f., 404f. H. HILD, Erfahrungen mit der Kirchenordnung, S. 6f. 20 G. R AU, Demokratisierung, S. 405. 21 „Die eigentliche Problematik dieser Kirchenreform würde also weniger an deren Konzeption liegen als vielmehr an deren Finanzierbarkeit auf Dauer“ (EBD., S. 401). 19

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„Beauftragten“ u. ä. Auch die Fort- und Weiterbildung der Mitarbeitenden, also ihre weitere Professionalisierung, setzte einen starken Apparat voraus: Ende der 1970er Jahre findet der westfälische Pfarrer Johannes Degen landeskirchliche „Materialien“ vor, wenn er seinen Gottesdienst vorbereiten oder seine Gemeindearbeit reflektieren will – und er nutzt sie gerne. Gerhard Rau formuliert eine der Fragen, die die weitere Forschung beschäftigen sollte: „Wie hat dieses Zusammenspiel von Demokratisierung und Bürokratisierung innerhalb der Kirche deren ekklesiologisches Selbstverständnis geprägt und unter Umständen verändert?“22 Und er steuert eine weit reichende These bei, die ebenfalls nähere Untersuchung verdient: Könnte es sein, dass gerade das Wechselspiel jener beiden Entwicklungen die empirische Kirche so stark als säkulare, mit anderen vergleichbare Organisation erscheinen lässt, dass die an religiöser Gemeinschaft, an geistlicher Intensität Interessierten „geradezu gezwungen [wären], dieser Kirche den Rücken zu kehren“?

7. Ein praktisch-theologisches Resumé Fasst man die Beobachtungen zu den kirchlichen Strukturveränderungen zusammen, so ist zunächst nochmals auf die erstaunliche Parallelität der Entwicklung in West- und Ostdeutschland hinzuweisen: Das Scheitern von Teamkonzepten und „Paragemeinden“; die Stärkung der überregionalen Arbeit und besonders der „mittleren Ebene“; die Differenzierung und Professionalisierung kirchlicher, auch pastoraler Berufstätigkeit; schließlich auch das Wechselspiel von stärkerer Mitsprache und erhöhtem Verwaltungs- und Sitzungsaufwand – alle diese (oben vor allem westdeutsch skizzierten) Wandlungen lassen sich auch in den Kirchen der DDR wahrnehmen; sie wurden hier wie dort intensiv und oft mit den gleichen Argumenten diskutiert, erprobt oder verworfen. Die Geschichte der kirchlichen Strukturveränderungen bietet insofern ein aussichtsreiches Feld, um den – offenbar begrenzten – Einfluss der aktuellen politischen und sozialen Situation auf Gestalt und Profil einer Großkirche präziser zu korrelieren mit anderen, die innerdeutliche Grenze offenbar überschreitenden Einflussfaktoren, nicht zuletzt struktur- und mentalitätsgeschichtlicher Art. Abschließend sei, in eher praktisch-theologischer als historischer Perspektive, auf drei Problemfelder hingewiesen, die die Kirchengeschichte jener beiden Jahrzehnte hinterlassen hat.

22

EBD., S. 406; vgl. dort auch das folgende Zitat.

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Zum einen hat sich in den verschiedenen Dimensionen ein gleichartiges Reformprinzip gezeigt, das man als Prinzip struktureller Addition bezeichnen könnte. Vor allem auf Grund der „dagobertinischen“ Finanzverhältnisse jener Zeit (W.-D. Hauschild) wurden Arbeitsformen, Berufsbilder und Organisationsstrukturen nur selten transformiert, um neuen Anforderungen zu genügen. Stattdessen wurden neben die parochiale Arbeit nun verstärkt übergemeindliche Arbeitsstellen gesetzt, durchaus auch für Besuchsdienst, Konfirmandenarbeit oder Kindergottesdienst, also für genuin lokalgemeindliche Handlungsformen. Neben das Pfarramt traten Gemeindepädagogen und Sozialarbeiterinnen – was den Pfarrer/innen eine Auseinandersetzung mit neuen Aufgaben oder gar eine Reform ihres Berufsbildes über lange Jahre ersparte. Und warum es in einem „Haus der Kirche“ nun neben der Landesjugendpfarrerin noch Spitzenvertreter gleich drei verschiedener Jugendverbände geben muss, das ist wirklich nur noch „historisch“ zu erklären. – Damit ist nichts gegen den Sinn vieler dieser Arbeitsformen und inhaltlichen Prägungen gesagt – wohl aber muss gefragt werden, ob die Auseinandersetzung über die theologisch-inhaltlichen Differenzen, die jeweils hinter der strukturellen Pluralität liegen, nicht energischer zu führen ist – und schon länger zu führen gewesen wäre. Zum Zweiten: Der für die 1960er und 70er typische Ausbau einer an den differenzierten „Bedürfnissen“ der Mitglieder bzw. der Gesellschaft orientierten Arbeit, auch die damit einhergehende Rationalisierung der Verwaltung haben dazu geführt, dass viele kirchliche Arbeitsbereiche nun vor allem nach ihrer Funktionalität beurteilt werden. Auch die seit etwa fünfzehn Jahren zu beobachtende Verbreitung von Leitbildern und Zielvereinbarungen geht in die gleiche Richtung. So sinnvoll die Frage nach der erkennbaren Wirkung kirchlicher Arbeit jedoch ist, etwa um überhaupt Prioritäten setzen zu können, so sehr ist hier auch eine Gefahr zu notieren: Die kirchliche Arbeit wird damit – gegen ihr Selbstverständnis und gegen ihren Auftrag – mit innerer Notwendigkeit verwechselbar. Denn auch andere Organisationen bieten ähnliche Funktionserfüllung an: Bildungsarbeit und soziale Beratung, Geselligkeit und religiöse Begleitung, etwa im Trauerprozess – das alles sind schon längst keine kirchlichen „Monopole“ mehr. Die Frage nach der Funktion wird das kirchliche Handeln daher nicht so klar bestimmen und orientieren können, wie man vor dreißig Jahren dachte. Schließlich sei auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass die oben skizzierten Strukturreformen von den meisten Kirchenmitgliedern überhaupt nicht wahrgenommen werden. Ausweislich aller Mitgliedschaftsbefragungen23 fühlt man sich der Kirche – in unterschiedlicher Distanz – vor allem hinsichtlich der 23

Vgl. etwa H. HILD, Kirche; K. ENGELHARDT/H. V. LOEWENICH /P. STEINACKER, Fremde Heimat.

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Ortsgemeinde verbunden, Kirchengebäude und Pfarramt sind hier Identifikationsmerkmale. Auch Bischof oder Bischöfin, vielleicht die EKD oder der Kirchentag sind als öffentliche Größen bekannt; und in vielen Biographien gibt es eine Phase intensiver kirchlicher Gemeinschaftserfahrung. Die Regionalisierung und Professionalisierung, die Demokratisierung und Bürokratisierung der Kirche jedoch ist für die meisten In- wie Outsider wenig bedeutsam – obwohl die kirchliche Organisation selbst dadurch eine recht andere geworden ist. Wie mit dieser Differenz zwischen Innen- und Außenperspektiven umzugehen ist, das gehört zu den nicht wenigen Fragen der praktisch-theologischen Kirchentheorie, die seit mehr als dreißig Jahren auf der Tagesordnung stehen. Gerhard Rau hat die hier anstehende theologische Aufgabe formuliert – und führt uns damit in die Gegenwart zurück: „Es ist uns noch immer nicht gelungen“, schreibt er 1995, „eine adäquate Ekklesiologie für die faktischen Veränderungen zu entwickeln. Genau diese Ekklesiologie fehlt aber nun, wenn es darum geht, verantwortliche Entscheidungen im Blick auf die Reduktion kirchlichen Engagements zu treffen“24. Literaturverzeichnis ASCHENBRENNER, Dietrich/FOITZIK, Karl (Hg.): Plädoyer für theologisch-pädagogische Mitarbeiter in der Kirche. München 1981. BUTTLER, Gottfried: Art. Kirchliche Berufe. In: Theologische Realenzyklopädie 19, 1990, S. 191–213. CORNEHL, Peter: Theorie und Praxis kirchlichen Handelns als Horizont einer praktischtheologischen Zeitschrift. In: Pastoraltheologie 70, 1981, S. 28–49. DAIBER, Karl-Fritz: Volkskirche im Wandel. Organisationsplanung der Kirche als Aufgabe der Praktischen Theologie. Methodik und Ergebnisse der Projektstudie Hohenlohe. Stuttgart 1973. DEGEN, Johannes: Herausforderungen für eine Kirche von morgen. In: Pastoraltheologie 70, 1981, S. 49–61. DEGEN, Roland: Gemeindeerneuerung als gemeindepädagogische Aufgabe. Entwicklungen in den evangelischen Kirchen Ostdeutschlands. Münster/Berlin 1992. ENGELHARDT, Klaus/LOEWENICH, Hermann v./STEINACKER, Peter (Hg.): Fremde Heimat Kirche. Die dritte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 1997. GRETHLEIN, Christian: Pfarrer(in)sein als christlicher Beruf. Hinweise zu den veränderten Rahmenbedingungen einer traditionellen Tätigkeit. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 98, 2001, S. 372–398. HAUS KIRCHLICHER DIENSTE DER EV.-LUTH. L ANDESKIRCHE HANNOVERS: Organigramm. Hannover Mai 2004.

24

G. R AU, Demokratisierung, S. 403, Anm. 74.

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HILD, Helmut (Hg.): Wie stabil ist die Kirche? Bestand und Erneuerung. Ergebnisse einer Umfrage. Gelnhausen 1974. –, Erfahrungen mit der Kirchenordnung der EKHN und ihren Leitungsgremien. MS Darmstadt 1996. JETTER, Werner: Was wird aus der Kirche? Beobachtungen – Fragen – Vorschläge. Stuttgart 1968. L ÄWEN, Werner: Der Kirchenkreis als Handlungsebene. Praktisch-theologische Feldstudie zur Erprobung neuer Arbeits- und Organisationsformen im Kirchenkreis Celle. Dissertation Göttingen 1982. L ANGE, Ernst: Kirche für die Welt. Aufsätze zur Theorie kirchlichen Handelns. München 1986 LEIPOLD, Andreas: Volkskirche. Die Funktionalität einer spezifischen Ekklesiologie in Deutschland nach 1945 (APTh. 31). Göttingen 1997. LOHFF, Wenzel/MOHAUPT, Lutz (Hg.): Volkskirche – Kirche der Zukunft? Leitlinien der Augsburgischen Konfession für das Kirchenverständnis heute. Eine Studie des Theologischen Ausschusses der VELKD. Hamburg 1977. M ARSCH, Wolf-Dieter: Institution im Übergang. Evangelische Kirche zwischen Tradition und Reform. Göttingen 1970. POHL-PATALONG, Uta: Ortsgemeinde und übergemeindliche Arbeit im Konflikt. Eine Analyse der Argumentationen und ein alternatives Modell. Göttingen 2003. R AU, Gerhard: Demokratisierung und Bürokratisierung. Zwei Programmbegriffe der Kirchenreform nach 1960. In: Das Recht der Kirche. Bd. 2: Zur Geschichte des Kirchenrechts. Hg. von Dems./Hans-Richard Reuter/Klaus Schlaich. Gütersloh 1995, S. 377–407. SCHLOZ, Rüdiger (Hg.): Thema: Volkskirche. Ein Arbeitsbuch für die Gemeinde, im Auftrag des Präsidiums der EKD hg. von der Kirchenkanzlei. Gelnhausen 1978. –, Art. Kirchenreform. In: Theologische Realenzyklopädie 19, 1989, S. 51–58. SCHROER, Jürgen: Ortsgemeinde und gesamtkirchliche Dienste in der Prioritätendiskussion einer Kirchenleitung. In: Theologia practica 22, 1987, S. 271–279. SCHWARZ, Eberhard/BLASCHKE, Klaus: Entwicklungstendenzen in Nordelbien. Entstehung, Aufbau und Probleme einer neuen Landeskirche. In: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 38, 1993, S. 1–26. SIMPFENDÖRFER, Werner: Offene Kirche – kritische Kirche. Kirchenreform am Scheideweg. Stuttgart 1969. SPIEGEL, Yorick (Hg.): Pfarrer ohne Ortsgemeinde. Berichte, Analysen und Beratung. München 1971. WEYMANN, Volker/HAHN, Udo (Hg.): Die Superintendentur ist anders. Strukturwandel und Profil des ephoralen Amtes. Hannover 2005.

Peter Bubmann

Wandlungen in der kirchlichen Musik in den 1960er und 70er Jahren

Protestantische Frömmigkeit und Musik sind seit der Reformation eng verbunden. Veränderungen der Frömmigkeit spiegeln sich in der Kirchenmusik. Und allgemeine musikalische Entwicklungen wirken zurück auf die Struktur musikalischer Frömmigkeit. Dies wird besonders deutlich in den Veränderungen von Religiosität und musikalischem Verhalten in den 1960er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts.

1. Die Wandlungen in der Kirchenmusik seit den 1960er Jahren Die Wandlungen in der kirchlichen Musik (jedenfalls in Deutschland) in den 1960er und 70er Jahren stellen einen epochalen Bruch im kirchenmusikalischen Verhalten, System und Repertoire dar, der in seiner Bedeutung schon damals heftig diskutiert wurde. Um diese Umbrüche zu erfassen, sind verschiedenartige Quellen und Formen wissenschaftlicher Literatur zu berücksichtigen: – Musikalische Produkte: Lieder aus dieser Zeit, die in hoher Zahl gedruckt vorliegen, Partituren von Musikwerken, Schallplatten mit Einspielungen von Liedern oder Werken der Kirchenmusik; – Reflexionen und (teils unveröffentlichte) Berichte von Beteiligten und Kritikern der Aufbruchsbewegungen: Bald schon entstanden Analysen und Prognosen in Vorworten von Liederheften, in Aufsätzen in kirchenmusikalischen Fachzeitschriften und eigenständigen Publikationen, die der Rechtfertigung wie Kritik der Veränderungen dienten1 ; – Kirchenamtliche Dokumente (Verbote von Jazz-Musik in der kath. Liturgie, Bestimmungen zur Musik bei Kasualien etc.); 1

Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei W. KÖRNER, Kirchenmusik, S. 64–95; als eigenständige Publikationen: G. HEGELE (Hg.), Lieder; H. HUCKE U. A. (Hg.), Musik; A. JUHRE, Singen; A. M ALESSA, Sound; G. SCHNATH, Fantasie; L. ZENETTI, (W)Eisen; NEUE MUSIK IN DER K IRCHE ; K. RÖHRING, Neue Musik.

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Peter Bubmann

– Wissenschaftliche Untersuchungen, die zeitnah die Aufbrüche in der (Pop-)Kultur insgesamt wie in der Kirchenmusik bzw. im Kirchenlied analysierten2 . Hinzu kommen Sekundärquellen, in denen die Umbrüche ab den 1960er Jahren rückblickend charakterisiert werden: – Kirchenmusikgeschichtliche Überblicke, die am Ende des 20. Jahrhunderts auf den Epochenumbruch der 1960er Jahre eingehen. Hier wird neben den Hinweisen auf die Neue geistliche Musik der Avantgarde insbesondere das Auftauchen von Phänomenen beschrieben, die unter den Bezeichnungen „Neues (geistliches) Lied“ (auch: NGL), „Sacropop“, „Gospelrock“, „Populäre christliche Musik“, thematisiert werden3 ; – Musikwissenschaftliche, kulturwissenschaftliche und musiktheologische Studien ab den 1990er Jahren, die im Rückblick die Umbrüche der 1960er und 70er Jahre darstellen und deuten4. Die Veränderungen in der deutschen Kirchenmusik seit den 1960er Jahren sind einerseits allgemein-kulturellen Entwicklungen geschuldet, andererseits als Reaktionen auf die vorangegangene „Kirchenmusikalische Erneuerungsbewegung“ (= KE) zu erklären. Diese KE entwickelte sich innerhalb der liturgischen Erneuerungsbewegungen nach dem Ersten Weltkrieg neben der Singbewegung, der Orgelbewegung und der jüngeren liturgischen Bewegung5. Sie wurde zur prägenden Hauptströmung der evangelischen Kirchenmusik bis in die 1950er Jahre hinein. Gegen die auf fromme Innerlichkeit zielende Kirchenmusik der Romantik wollte die KE eine gottesdienstliche Musik setzen, die christuszentriert unter dem Wirken des Heiligen Geistes die Verkündigung des Evangeliums betreibt und den Glauben weckt. Kirchenmusik wurde so – programmatisch bei Oskar Söhngen – zur liturgischen Musik6. Gleichzeitig postulierte Söhngen für die KE, die Kirchenmusik müsse stilistisch aktuell sein – auch wenn die alte Musik weiterhin möglich und erwünscht sei – und es gebe die Möglichkeit einer geistlich-weltlichen Stileinheit. Denn die gegenwärtige neue Musik der Avantgarde sei wegen ihrer 2 Vgl. U. ECO, Apokalyptiker; S. FIRTH, Sociology; H. J. GANS, Culture; K. C. THUST, KirchenLied. 3 Vgl. A. WILSON-DICKSON, Musik, S. 234–244; J. STALMANN, Kompendium, S. 140–143; R. MORATH, Kirchenlied, S. 119f.; E. JASCHINSKI, Geschichte, S. 121–128. 4 P. BUBMANN, Sound; W. DAHLFERTH, Popularmusik; DERS., Entstehung; R. FLENDER /H. R AUHE, Popmusik; P. H AHNEN, ‚Neue Geistliche Lied‘; A. JERRENTRUP, Rock-/Popmusik; W. KÖRNER, Kirchenmusik; B. SCHWARZE, Religion, S. 123–131. 5 Vgl. F. GANSLANDT, Jugendmusikbewegung; W. KÖRNER, Kirchenmusik, S. 9–42; G. A. K RIEG, Gottesdienstliche Musik; O. SÖHNGEN, Wiedergeburt, S. 77–96. 6 Vgl. O. SÖHNGEN, Wiedergeburt, S. 79; DERS., Theologie, S. 171f.

Wandlungen in der kirchlichen Musik in den 1960er und 70er Jahren

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Abwendung von der Romantik und ihrem Bemühen um eine ‚objektivere‘ Musiksprache für die Kirchenmusik geeignet. Eine Sternstunde der Kirchenmusik habe sich neuerdings ergeben, als sich die Musiksprache der (von Söhngen ‚Erste Moderne‘ genannten) Komponisten Igor Strawinsky, Bela Bartók, Paul Hindemith und Carl Orff als geeignet für gottesdienstliches Komponieren erwies7. Die KE wirkte aber nicht nur in der Erneuerung der Formen der gottesdienstlichen Kunstmusik, sondern auch durch die Sammlung und Erneuerung des Kirchengesangs. Im Evangelischen Kirchengesangbuch (EKG, ab 1950) dokumentiert sich dieser starke Einfluss im Wiederanknüpfen am reformatorischen Choral und in der Reinigung von sentimentaler Gefühlsreligiosität8. Gerade als mit der Einführung des EKG der kirchliche Einfluss der KE einen Höhepunkt erreichte, begann auch die Hinterfragung der KE. Seit dem „Ersten Deutschen Kirchenmusikertag“ 19599 wurde der Mainstream der Evangelischen Kirchenmusik, der der KE zuzurechnen war, von zwei Phänomenen herausgefordert: von den Neuentwicklungen der Avantgardemusik sowie der Popularmusik – in Gestalt von Jazz, Schlager, Beat, Rock und Pop. Bereits zahlreiche Kommentatoren der 1960er und 70er Jahre sahen daher die „Neue Musik im Zwiespalt“10 und diagnostizierten eine „Krise der evangelischen Kirchenmusik“11 bzw. eine Aufspaltung der Kirchenmusik in drei Bereiche: Neben der in den Gemeinden vorwiegend gepflegten Tradition (primär von Heinrich Schütz bis Johann Sebastian Bach, dazu gelegentlich etwas neue Musik der KE) entwickelte sich eine Avantgarde-Szene der ‚Neuen Geistlichen Musik‘ sowie eine eigene Bewegung christlicher Popularmusik („Jazz“, „SacroPop“, „Neues Lied“ etc.)12 . Der Titel eines Aufsatzes von Herbert Gadsch aus dem Jahr 1976 bringt dies deutlich zum Ausdruck: „Kirchenmusik zwischen Experiment, Sacro-Pop und Nostalgie“.

7 In der evangelischen Kirchenmusik zählen zur KE oder zu ihrem Umfeld die Komponisten Ernst Pepping, Hugo Distler, Hans Friedrich Micheelsen, Helmut Bornefeld, Kurt Hessenberg, Siegfried Reda u. a. deren Tonsprache ist erweitert bis frei tonal (teils auf kirchentonale Modi zurückgreifend), mit komplizierter Rhythmik und herber Harmonik unter Rückgriff auf Techniken der klassischen Vokalpolyphonie der Renaissance. Dieser Kompositionsstil setzte sich weithin durch und eroberte neben der weiterhin gepflegten und empfohlenen alten (vorromantischen) Musik einen Platz im kirchenmusikalischen Repertoire seit 1945. 8 Als zeitgenössische Melodisten sind im EKG vertreten: Christian Lahusen, Hans Friedrich Micheelsen, Johannes Petzold, Gerhard Schwarz und Fritz Werner. 9 Hierzu: W. KÖRNER, Kirchenmusik, S. 43. 10 H. W. ZIMMERNMANN, Musik. 11 W. BLANKENBURG, Kirchenmusik, S. 7. 12 Auch noch im Kulturbericht der EKD von 1996 spiegelt sich diese Aufteilung, vgl. H. DONNER, Kirche, S. 36–84.

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1.1 Die Neue Geistliche Musik (Avantgarde) Schon 1957 hatte der Komponist Wolfgang Fortner in einem Beitrag in der Fachzeitschrift ‚Musik und Kirche‘ festgestellt, dass die Stilistik der KE durch die neueren Kompositionsbemühungen der Avantgarde überholt worden sei13. Die an Paul Hindemith orientierte neoklassische Epoche mit Hugo Distler, Ernst Pepping, Siegfried Reda u. a. im Bereich der Kirche habe den Anschluss an die Musikentwicklung verpasst14. Die tonale Kirchenmusik als Gebrauchsmusik habe zwar ihr Recht, sei aber von der notwendigerweise außerhalb des Gottesdienstes sich entwickelnden neuesten Avantgardemusik klar zu trennen. Es besteht weithin Übereinstimmung bei den Beobachtern der Modernen Musik, dass nach 1960 starke Wandlungen in den Entwicklungen der Avantgarde-Musik einsetzten15. War in den 1950er Jahren in Deutschland die serielle (d. h. von festen Tonreihen und Festlegungen von musikalischen Parametern geprägte) Musik etwa von Anton Webern ins Zentrum der Neuen Musik gerückt, so entstanden ab Mitte/Ende der 1950er Jahre Gegenbewegungen gegen die serielle Musik (Postserialismus). Spielerisch-offene Formen verbanden sich mit einer Entgrenzung des Musikbegriffs, der zunehmend die Hörer zu Mitspielern der Komposition machte (etwa bei John Cage). Die einsetzbaren Stilmittel vervielfältigten sich, auch Rückgriffe auf alte Formen wurden möglich wie im Requiem (1963–65) von György Ligeti und der Lukas-Passion (1965/66) von Krzysztof Penderecki. Die Elektronische Musik von Karlheinz Stockhausen („Gesang der Jünglinge“ 1956) erweiterte schon seit Mitte der 1950er Jahre die Klangmöglichkeiten durch den Einsatz von Tonbändern (später auch mittels Computer). Die Sprache wurde zum Klangmaterial und dabei zergliedert, gedehnt etc., etwa in „glossolalie 61“ (1959–61) oder „dt 31,6“ (1956–58/65) von Dieter Schnebel. Einzelton, Geräusche, Ton-Cluster wurden zu wichtigen Kompositionselementen (etwa in Pendereckis Lukas-Passion). Der Determinismus der seriellen Kompositionstechniken wurde durch eine neue Klangkunst überwunden (z. B. in György Ligetis „Atmosphères“ 1961 und „Lux aeterna“ [1966]). Im Kontext der politischen Unruhen entstanden politisch engagierte Werke am Ende der 13

Vgl. W. FORTNER, Geistliche Musik. Vgl. auch die Diagnose eines der Vordenker der Kirchenmusikalischen Erneuerung, Walter Blankenburg: „Die neue protestantische Kirchenmusik ist letzten Endes eben doch nur eine geschichtliche Randerscheinung geblieben, die sich in ihrem stilistischen Gepräge und ihrer historischen Auswirkung trotz ihrer Originalität etwa mit der Wiener Schule nicht messen kann. So stehen wir heute vor der Situation, daß die Wege der kirchlich-gottesdienstlichen und der säkularen Musik, die sich in unserem Jahrhundert so verheißungsvoll vereinigt zu haben schienen, tatsächlich nach wie vor im wesentlichen getrennt sind“ (W. BLANKENBURG, Kirchenmusik, S. 2). 15 Zum Folgenden vgl.: H. DANUSER, Musik, S. 284–415; U. DIBELIUS, Musik; W. KÖRNER, Kirchenmusik, S. 54–64. 14

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1960er Jahre, etwa von Luigi Nono und Hans Werner Henze. Eher esoterischmeditativ angelegt waren hingegen zunehmend die Werke Karlheinz Stockhausens. Die Minimal music (Steve Reich, Philip Glass, La Monte Young, Terry Mitchell Riley) kultivierte Klangströme und -ereignisse, die sich aus der ständigen Wiederholung und Evolution musikalischer Einheiten ergaben. Rückgriffe auf die Tradition der Musikgeschichte fanden sich u. a. bei Wolfgang Rihm und Alfred Schnittke. Ende der 1970er Jahre hatten die früheren Ideologien einer linearen Entwicklungslogik des musikalischen Materials ihre Überzeugungskraft endgültig verloren. Die Postmoderne hielt Einzug in die Musik. Allerdings: Von all diesen Entwicklungen war innerhalb der Kirchenmusik nur sehr wenig zu spüren. Die Verbindung zwischen der aktuellen Avantgardemusik und der Kirche wollte hingegen eine Gruppe von Komponisten und Theologen halten, die unter dem Begriff der „Neuen Geistlichen Musik“ zusammengefasst werden kann16. Es handelt sich um eine überschaubare Anzahl von Komponisten und Interpreten (Dieter Schnebel, Hans Darmstadt, Klaus Martin Ziegler, Jens Rohwer, Clytus Gottwald, Klaus Huber, Werner Jacob u. a.), zu deren Sprachrohr sich der Theologe Klaus Röhring mit seiner Schrift „Neue Musik in der Welt des Christentums“ (1975) machte. Ihnen ging und geht es um eine programmatische Emanzipation von der Institution Kirche und von der Verpflichtung auf die Liturgie17. Deshalb ist auch – etwa bei Dieter Schnebel – von „geistlicher Musik“ statt von „Kirchenmusik“ die Rede. Die solcherart gemeinte ‚geistliche‘ Musik wird auf den die säkulare Welt von innen her erneuernden messianischen Geist bezogen18. Schon darin liegt eine programmatische Gegenbewegung zur Ästhetik der KE. Dabei legt insbesondere Klaus Röhring die Ästhetik dieser Neuen Geistlichen Musik fest auf ein Verständnis von Musik als Infragestellung der Welt, als Anklage und Kritik. Dazu rekurriert er auf die negative Ästhetik Theodor W. Adornos. Die Neue Musik müsse vom inneren Datum des Schmerzes angesichts von Auschwitz ausgehen, dürfe also nicht mehr positiv-affirmativ Versöhnung darstellen19. Genuss und Konsum seien damit in der Kirchenmusik tabu. Kreuzestheologisch wird von Röhring und Schnebel begründet, warum die säkulare 16

Vgl. W. KÖRNER, Kirchenmusik, S. 64ff.; NEUE MUSIK IN DER K IRCHE. Vgl. K. RÖHRING, Christentum, S. 29f. 18 Vgl. D. SCHNEBEL, Musik, S. 115f. 19 Vgl. K. RÖHRING, Christentum, S. 7–9. „Neue Musik ist nicht Bestätigung, eher Frage, Anklage, Kritik und Appell. Darum sperrt sich das Klangmaterial gegen den schönen Klang, gegen das Stimmige, Eingängige. Sie kann nicht Schlager sein, leicht versteh- und konsumierbar. Sie fordert heraus, ruft zum Widerspruch und zur Distanz. Sie verweigert sich, als background gehört zu werden, zur besseren Stimmung, zum stimulierenden Einkauf, zur geselligen Unterhaltung.“ (EBD., S. 8f.) 17

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neueste Musiksprache aufzugreifen sei, religiös-sakrale Idiome (in Anlehnung an Bonhoeffers Forderung eines religionslosen Redens von Gott) hingegen zu meiden seien und das Komponieren nicht am Leiden vorbei geschehen könne, ja „insgesamt sozusagen Passionsmusik sei“20. Stilistisch habe sich die Neue Musik nicht an irgendwelchen schöpfungsgegebenen Strukturen zu orientieren21. Neue Musik transzendiere die Welt und lasse somit menschliche Freiheit erfahren. „Neue Musik dergestalt versteht sich als Exponent menschlicher Freiheit. Damit hält sie gerade durch diese ihre neue Gestalt auf ihre Weise die Zukunft offen, schließt die Welt nicht ab in ein geschlossenes System.“22 Solche emanzipatorischen Töne verbinden sich bei Röhring allerdings mit weitgehenden normativen Festlegungen auf die Stilistik der neuesten Avantgarde. Scharf abgelehnt werden von ihm etwa Schlager und Sacropop in der Kirche23. Auch der Komponist Jens Rohwer fordert radikal, alle Musik im Gottesdienst müsse Neue Musik sein24. Solche hochfliegenden Ansprüche scheiterten jedoch an der Realität: Die Gemeinden und ihre Kirchenmusiker nahmen die Neue Geistliche Musik fast überhaupt nicht an. Ernüchtert konstatierte auch einer der Vorreiter der Neuen Geistlichen Musik, der Kasseler Kirchenmusiker Klaus Martin Ziegler: „Die Hörfähigkeit der Gemeinden ist ganz offensichtlich geringer ausdifferenziert als die Sprachmöglichkeiten der Komponisten.“25 Die Vertreter der Avantgardemusik in der Kirche reagierten mit Aufforderungen, die traditionellen Hörgewohnheiten seien erzieherisch aufzubrechen und zu entwickeln26. ‚Informelle Gottesdienste‘ seien von der Musik her als anti-autoritäre Kommunikationsräume mit ständig wechselnden Elementen als komplexes Kunstwerk zu entwickeln, in denen die Avantgarde-Musik ihren Ort finden könne27. Diese Avantgarde-Szene fand denn auch primär ihren Ort in bestimmten Zentren und Treffen wie den 1965 bis 1983 von Klaus Martin Ziegler in St. Martin in Kassel veranstalteten Wochen „neue musik in der Kirche“ oder der „Internationalen Orgelwoche Nürnberg – Musica sacra“ (ION), bei der Werner Jacob als künstlerischer Leiter Auftragskompositionen zur Aufführung brachte und eigene Werke beisteuerte. Die kirchliche bzw. geistliche Avantgarde-Bewegung institutionalisierte sich also primär in Projektformen. Sozial blieb sie getragen 20

D. SCHNEBEL, Musik, S. 117. Vgl. K. RÖHRING, Christentum, S. 36f. 22 EBD., S. 43. 23 Vgl. EBD., S. 13. 24 Vgl. J. ROHWER, Neue Musik, S. 67ff. 25 K. M. ZIEGLER, Funktion, S. 57. 26 Vgl. EBD., S. 56. 27 Vgl. C. GOTTWALD, Musik, S. 126ff. 21

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von einer kleinen Gruppe von hauptamtlichen Kirchenmusikern, freien Komponisten und wenigen Theologen. Die reale Wirkung dieser Bewegung darf auch nicht an der Quantität ihrer publizistischen Offensiven bemessen werden – was im Übrigen ähnlich für die noch zu behandelnden Szenen kirchlicher Popularmusik gilt28. Wolfgang Körner hält in seiner Analyse der Kirchenmusik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wohl zutreffend fest: „Die Avantgarde ist zum Ende des 20. Jahrhunderts keine raumgreifende Bewegung geworden, sondern eine gruppenspezifische Angelegenheit – nach eigenen Worten.“29 1.2 Der Einzug der Popularmusik in die Kirche und die Veränderungen im kirchlichen Singen Mitte der 1950er Jahre schwappte die erste revolutionäre Jugendkultur aus den USA, der Rock’n’Roll, auch nach Deutschland herüber. Erste Experimente mit Elementen der Popularmusik wurden schon in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre gewagt, sie blieben auf bestimmte Orte und Personen begrenzt. Noch fanden in den 1950er Jahren keine Elemente der Popularmusik den Weg in offizielle Liederhefte oder Dokumentationen. Bis Anfang der 1960er Jahre bestanden z. B. die Kirchentagsliederhefte aus EKG-Liedern und einigen wenigen Kanones. Doch wuchs schon mit dem Erscheinen des Evangelischen Kirchengesangbuchs ab 1950 die Kritik an dem darin tradierten Liedgut. Karl Christian Thust fasst in seiner umfangreichen Studie zum Kirchen-Lied der Gegenwart (gemeint sind die Neuaufbrüche von 1950 bis Mitte der 1970er Jahre) die Kritik am EKG-Liedgut zusammen: Dieses sei „zu einseitig reformatorischem und barockem Erbe verhaftet, auch in den neuesten Liedern, die einen viel zu kleinen Prozentsatz bilden. Theologie, Themen, Sprache und Form sind von daher weitgehend überholt, zu schwer verständlich, zu dogmatisch und objektivistisch, ohne missionarische Kraft. Auch die Weisen sind teils zu schwierig, steril und unpersönlich. Alles ist zu stark vom Verstand her bestimmt, zu gefühlsarm und ausdruckslos, zu sehr wissenschaftlicher Forschungsarbeit statt gemeindlicher Praxis erwachsen.“30 28 Immerhin wurde Klaus Röhring in den 1990er Jahren in die Position des Schriftleiters der früher von einem der Vorreiter der KE (Walter Blankenburg) geführten Zeitschrift ‚Musik und Kirche‘ berufen und konnte so für eine intensive Berichterstattung über Neue Geistliche Musik sorgen. Vgl. auch Klaus Röhrings Beitrag im Kulturbericht der EKD (K. RÖHRING, Neue Musik in der Kirche), der eine Reihe normativer Postulate zur Berechtigung der Avantgardemusik in der Kirche auflistet, ohne allerdings auf ihre tatsächliche Verbreitung und Wirkung einzugehen. 29 W. KÖRNER, Kirchenmusik, S. 82. 30 K. C. THUST, Kirchen-Lied, S. 18.

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Auf dieses Unbehagen am offiziellen kirchlichen Liedgut reagierten verschiedene Bewegungen und Stränge neuen kirchlichen Singens und Musizierens, die ab ca. 1955 zur Bildung einer Reihe neuer Szenen kirchlichen Singens bzw. des Neuen geistlichen Liedes und der populären christlichen Musik führten31. „In einem noch nicht erlebten Tempo löst eine ganz neue Zeit die alte ab, die selbst die jüngsten Lieder, ehe sie weiter bekannt werden konnten, als bereits überholt, einer fremden Zeit zugehörig erscheinen läßt. Das bahnt sich in den Fünfziger Jahren an und tritt im folgenden Jahrzehnt voll zutage, das wiederum von einer ganz neuen Situation geprägt ist.“32

a) Spirituals und Jazz Nachdem das von Lutz Nagel gegründete „Spiritual Quintett Düsseldorf“ 1956 in Kirchen und im Fernsehen aufgetreten war, und der junge Kirchenmusiker Helmut Barbe Jazz-Elemente für sein Musical „Halleluja Billy“ nach Texten von Ernst Lange, das beim Kirchentag 1956 in Frankfurt uraufgeführt wurde, verwendet hatte, fassten Anfang der 1960er Jahre so genannte „Jazz“-Gottesdienste in einigen Gemeinden Fuß. 1962 fanden in der Kanaankapelle der Marienschwestern in Darmstadt-Eberstadt missionarische Gottesdienste mit einer Studentenjazzband statt, Pfarrer Otto Friedrich und die von ihm gegründete (lutherische) „Christusträger“-Gemeinschaft stellten den Jazz in den Dienst der Evangelisation und wurden so zu Vorreitern des missionarischen Einsatzes von Popmusik. 1963 schrieb eine der Hauptpersonen des späteren Sacropop, der Katholik Peter Janssens eine Messe mit Jazz-Elementen, es folgten weitere Werke, auch anderer Komponisten, darunter anerkannter Kirchenmusiker wie Heinz Werner Zimmermann und Rolf Schweizer33. Authentischer Jazz in Kirchenräumen blieb allerdings die Ausnahme. Die Katholische Kirche reagierte 1965 und 1966 mit Erlassen gegen schlagerund jazzähnliche Musik in der hl. Messe. So verbot Kardinal Frings in Köln zehn Tage nach dem Auftritt einer Amateur-Bigband der Steyler Missionare am 13. Juni 1965 rhythmische Musik in der Messe: „Spirituals und ähnliche 31

Vgl. P. BUBMANN, Sound, S. 20–41; P. BUBMANN /H. MÜLLER /H. R IEHM, 20. Jahrhundert; W. DAHLFERTH, Popularmusik, S. 156–239; P. H AHNEN, ‚Neue Geistliche Lied‘, S. 233–263; K. C. THUST, Kirchen-Lied, S. 20–43; A. WILSON-DICKSON, Musik, S. 234–244; L. ZENETTI, (W)Eisen, S. 144–157. 32 K. C. THUST, Kirchen-Lied, S. 19; Hervorhebung im Original gesperrt. 33 Vor allem durch Rolf Schweizer ist dieser Jazz-Impuls in Verbindung mit einer neuen Sensibilität für Sprache, insbesondere bei Psalm-Vertonungen, in das kirchliche Singen eingegangen. Zwei seiner typischen jazzorientierten Lieder sind über die kirchlichen Anhänge zum EKG der 1970er Jahre bis ins Evangelische Gesangbuch (EG, ab 1990) vorgedrungen: „Es ist ein köstlich Ding, dem Herren danken“ (EG 285, entstanden 1966) und „Singet dem Herrn ein neues Lied“ (EG 287; entstanden 1963).

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Gesänge sowie schlager- und jazzähnliche Musik, wie sie heute vorliegen, erfüllen nicht die Forderungen, die an die Kirchenmusik zu stellen sind, und passen nicht zur hl. Messe.“34 Die Bischöfe von Freiburg und Paderborn wie Würzburg folgten mit ähnlichen Verlautbarungen35, nur Augsburg hielt sich ausdrücklich die stilistischen Optionen offen. Im Mai 1966 untersagte die deutsche Bischofkonferenz Experimente mit Jazz in der heiligen Messe36. Aber auch Jazz-Spezialisten waren skeptisch. Zenetti zitiert aus einem Manuskript die deutliche Kritik von Joachim-Ernst Berendt an den Versuchen mit Jazz in der Kirche: „Die faulste Begrüdung [sic!] für ‚Jazz in der Kirche‘ hat ein anerkannter protestantischer Theologe gleich mitgeliefert: ‚Wir müssen schließlich etwas tun, damit die Jugend wieder zu uns kommt.‘ […] Ich habe den Pfarrer Hegele immer gern gemocht. Aber – das Niveau senken? Für den lieben Gott? […] Nichts ist wichtiger, für Gott und die Musik, als das Niveau zu heben. […] Ich bin der Sohn eines protestantischen Pfarrers. Und ich bin Jazz-Kritiker. Aber ich bin entsetzt, wenn der Jazz dazu herhalten soll, damit die Kirche ‚überhaupt einen Kontakt herbeiführen‘ kann. Ich bin noch entsetzter, wenn sich herausstellt, daß sich schlechter Jazz für diesen Zweck besser eigenen soll als guter.“37

Neben der Integration von Jazz-Tönen in neue geistliche Lieder wurde häufig auf die Spirituals der Schwarzen in Nordamerika zurückgegriffen. Sie wurden 34 Kirchlicher Anzeiger für die Erzdiözese Köln, Nr. 233 vom 1.7.1965, zit. bei L. ZENETTI, (W)Eisen, S. 150f. 35 Vgl. L. ZENETTI, (W)Eisen, S. 151. 36 Vgl. Amtsblatt der Erzdiözese München und Freising, Nr. 9, 66, zit. bei L. ZENETTI, (W)Eisen, S. 68f. Die heutige offizielle Haltung der röm.-kath. Kirche ist fixiert innerhalb der Kirchenkonstitution Sacrosanctum Concilium des II. Vaticanums und in einer eigenen Instruktion über die Musik in der Liturgie aus dem Jahr 1967. Dort heißt es: „Die Kirche verschließt ihre liturgischen Handlungen keiner Art von Kirchenmusik, sofern sie dem Geist der betreffenden liturgischen Handlung und dem Wesen ihrer einzelnen Teile entspricht und die gebührende tätige Teilnahme des Volkes nicht behindert.“ (Art. 9) Bei der Auswahl der Musik zur Feier der Sakramente „möge aber darauf geachtet werden, daß nicht unter dem Vorwand der Feierlichkeit rein Profanes oder dem Gottesdienst weniger Entsprechendes in die Feiern eindringe; das gilt besonders für Trauungen.“ (INSTRUKTION Art. 43, S. 35) Neue Singweisen für muttersprachliche liturgische Texte sollen entwickelt werden. „Die neuen Singweisen muttersprachlicher Texte bedürfen ohne Zweifel der Erprobung, damit sie hinreichend ausreifen können und vervollkommnet werden. Es darf jedoch in der Kirche nichts geschehen, auch nicht aus Gründen der Erprobung, was zur Heiligkeit des Ortes, zur Würde der liturgischen Handlungen und zur Frömmigkeit der Gläubigen nicht paßt.“ (INSTRUKTION Art. 60, S. 45) „Instrumente jedoch, die sich nach allgemeinem Empfinden und Gebrauch nur für profane Musik eignen, sollen von jeder liturgischen Handlung, den Andachtsübungen und den gottesdienstlichen Feiern der Teilkirchen gänzlich ferngehalten werden.“ (INSTRUKTION Art. 63, S. 48f.) 37 J.-E. Berendt, Manuskriptbeitrag, o. O., o. S., zit. bei: L. ZENETTI, (W)Eisen, S. 184f.; im Orginal kursiv.

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verdeutscht und im Jazz-Stil arrangiert und dabei mit Dixieland-Begleitung auf Schlagerniveau herabgesenkt. Vor allem der bayerische Pfarrer Friedrich Walz war ein begeisterter Spiritual-Fan und verdeutschte viele dieser Gesänge38. Diese Lieder fanden breite Resonanz, weil sie als ich-Lieder Grunderfahrungen des Lebens thematisieren, affektorientiert und dogmenfern sind, rhythmisch-körperlich ansprechen sowie rasche kommunikative Singpraxis ermöglichen39. Hier brach sich das Bedürfnis nach erlebnisintensiver rhythmischer Musik in der Kirche Bahn und setzte sich von der spröden Melodik der neuen Lied-Weisen der KE ab. b) Chanson, Religiöser Schlager und Sacropop Schon 1957 fand in Assisi ein „Festival des neuen Gesangs“ mit (italienischen) religiösen Schlagern statt, im selben Jahr waren Platten mit deutschen Fassungen amerikanischer religiöser Schlager erhältlich. Der Jesuit Aimé Duval, der Dominikaner Maurice Jean Cocagnac und die Nonne Soeur Sourire traten mit französischen religiösen Chansons auf. Auf diversen Tagungen Evangelischer Akademien wurde sofort die Brauchbarkeit religiöser Schlager und Chansons diskutiert, die Akademie Tutzing entschloss sich daraufhin auf Initiative von Pfarrer Günter Hegele 1960 zu einem Preisausschreiben mit der Aufforderung zur Einsendung neuer religiöser Lieder, die dem auch von Jazz und Unterhaltungsmusik geprägten musikalischen Resonanzvermögen der Jugend entsprechen sollten40. Dabei war zunächst nicht an gottesdienstliche Lieder gedacht, sondern an Lieder von Christen in der und für die Welt. Das Siegerlied „Danke“ des Kirchenmusikers Martin G. Schneider geriet schließlich in die Hitparaden. Insgesamt fanden vier Wettbewerbe in Tutzing statt41, bevor der Deutsche Evangelische Kirchentag das Preisausschreiben fortsetzte und die Ergebnisse in einem Liederheft veröffentlichte42 . Stilistisch weniger am Schlager orientiert waren gesellschaftskritische Songs, die eher aus der Traditionslinie der deutschen Chansons von Berthold Brecht/ Kurt Weill stammten, etwa einige Songs aus dem Musical „Halleluja Billy“ von 38

Beispiele für Spirituals, die in verdeutschten Fassungen Eingang ins EG gefunden haben sind: „Go tell it to the mountains/Komm, sag es allen weiter“ (EG 225); „Singing with a sword in my hands, Lord/Erd und Himmel sollen singen“ (EG 499). Weit verbreitet war auch die Übertragung des Spirituals „Michael row the boat ashore“ in „Hört, wen Jesus glücklich preist“ (heute nur noch im EG-West 670). 39 Vgl. K. C. THUST, Kirchen-Lied, S. 26ff. 40 Die Preisträger der drei ersten Tutzinger Liederwettbewerbe, ein Verzeichnis der im Kontext der Preisausschreiben erschienenen Schallplatten sowie eine Reihe von kritischen wie zustimmenden Beiträgen zur Frage neuer Lieder und des Jazz in der Kirche finden sich in: G. HEGELE (Hg.), Lieder. 41 Vgl. G. HEGELE, Neue Lieder. 42 Vgl. W. DALFERTH, Popularmusik, S. 170.

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Ernst Lange und Helmut Barbe (1956), z. B. „Diesen Weg Herr, diesen Weg laß uns gehen“. Diese Linie wurde ab den 1970er Jahren von Peter Janssens u. a. aufgegriffen und zu einem eigenen populären Musikstil entwickelt, der seit Janssens Musical „Menschensohn“ (1972) als ‚Sacropop‘ bezeichnet wurde. Dieser Stil tauchte auch beim Kirchentag 1973 in Düsseldorf in einer Beatmesse auf und verbreitete sich von dort aus weiter. Charakteristisch für den Sacro-Pop ist die Verbindung von ethischem Engagement und Fest-Freude. Lieder wie „Wenn das rote Meer grüne Welle hat“ (Willms/Janssens 1972) oder „Liebe ist nicht nur ein Wort“ (Bücken/Geerken 1973) fanden rasch Verbreitung. c) Liederwerkstätten Ein dritter wichtiger Strang des neuen kirchlichen Singens der 1960er und 70er Jahre liegt in einigen „Liedwerkstätten“. Sie versuchten im Kontext der Bemühungen um „Gottesdienste in neuer Gestalt“43 in den sechziger Jahren einerseits, an die Tradition des reformatorischen Gemeindeliedes anzuknüpfen. Andererseits wollten sie das Bedürfnis nach stärkerer Rhythmik und bewegterer Melodieführung aufgreifen und boten mit Kanons und kurzen Singsprüchen neue Formen des Gemeindegesangs an. Bekannter wurden die Lieder der Liedwerkstätten des Evangelischen Stadtjugendpfarramtes in Frankfurt/M. (Dieter Trautwein zusammen mit Gerd Watkinson u. a. ab 1963), in Stuttgart-Bad Cannstatt (Kurt Rommel u. a. ab 1962) und in Ottweiler/Saar (Martin Ohly und Hans-Helmut Knipping). Andere Autoren und Autoren-Teams kamen später hinzu. Aus diesem Umfeld sind eine Reihe neuer geistlicher Lieder, Kanons und anderer Singformen in die Gemeinden gelangt und in den landeskirchlichen „Anhängen“ (= offizielle Liederhefte der Landeskirchen neben dem EKG) ab 1970 abgedruckt worden44. d) Taizé Seit 1949 bei Cluny in Frankreich die Kommunität von Taizé gegründet wurde, wurde dort viel gesungen: einfache liturgische Weisen und Kanones, teils von ostkirchlicher Liturgie beeinflusst. Als 1970 der Prior der Kommunität, Frère Roger Schutz, ein ‚Konzil der Jugend‘ ausrief, wurde Taizé zunehmend zum Wallfahrtsort von Jugendlichen unterschiedlicher Konfessionen. Dort lernten sie die von Bruder Jacques Berthier (1923–1995) komponierten Gesänge kennen 43

Vgl. G. SCHNATH, Fantasie. Beispiele sind die Lieder „Weil Gott in tiefster Nacht erschienen“ (1963; EG 56) und „Komm, Herr, segne uns“ (1978; EG 170) von Dieter Trautwein sowie „Uns wird erzählt von Jesus Christ“ (1967; EG 57) und „Du hast uns Herr gerufen“ (1967; EG 168) von Kurt Rommel. 44

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und brachten sie mit nach Hause. 1976 erschien im eigenen Taizé-Verlag das erste Notenheft mit den typischen Kanones („Jubilate Deo“). Ab 1978 folgen weitere Hefte. Ein neuer populär-meditativer Kirchenmusikstil breitete sich seither von dort aus auch in Deutschland aus. e) Ökumenische Impulse Kennzeichnend für die Kirchenliedentwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind auch die Bemühungen um ökumenische Annäherung und gemeinsame Textfassungen. Nach ihrer Gründung im Jahr 1969 hat die Arbeitsgemeinschaft für ökumenisches Liedgut (AÖL) zunächst 130 Lieder bearbeitet und aus dieser Sammlung 1973 die erste Veröffentlichung „Gemeinsame Kirchenlieder“ mit 102 Liednummern herausgegeben. Es folgten „Gesänge zur Bestattung“ und 1983 das Kinderliederbuch „Leuchte, bunter Regenbogen“. Einen Teil dieser Lieder haben das 1975 erschienene Katholische Einheitsgesangbuch „Gotteslob“ und weitere altkatholische und reformierte Gesangbücher übernommen und wie im späteren EG mit einem „Ö“ gekennzeichnet. Aber nicht nur aus der innerdeutschen, sondern auch der weltweiten Ökumene fanden Lieder ihren Weg in die deutschen Gemeinden – oft durch die Deutschen Evangelischen Kirchentage vermittelt. f) Geistliche Kinderlieder Im Leben der Gemeinden haben sich insbesondere auch neue Kinderlieder durchgesetzt. Vorreiterfunktion übernahm der von Gerd Watkinson herausgegebene Band „111 Kinderlieder zur Bibel“ (1. Aufl. 1968), dem weitere Bände folgten. Mit dieser Gattung ist eine stärker zielgruppenorientierte kirchenmusikalische Arbeit mit Kindern initiiert worden, die sich als eigenständiger Arbeitsbereich in Singgruppen und Kinderchören – ergänzt durch instrumentales Musizieren vor allem mit dem Orff-Instrumentarium – vielerorts etablieren konnte. Kinderliteratur und -tonträger gab es aber auch im Sacropop-Bereich schon seit den 1970er Jahren. Neben Peter Janssens haben sich Ludger Edelkötter und Detlev Jöcker von der Gruppe „Menschenkinder“ darauf spezialisiert. g) Freikirchliche Jugendchorbewegung Die Missionsbewegung „Jugend für Christus“ führte in Rehe/Westerwald Ende der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts Sommerfreizeiten durch, auf denen viel gesungen wurde. Dort entstand etwa ab 1958 der „Jugend-für-Christus-Chor“ als eine der wichtigsten Keimzellen der späteren vor allem freikirchlichen Jugendchorbewegung. Ende der 1960er Jahre folgten eine Reihe weiterer Jugendchöre (Schalom-Chor, Christussänger). Entscheidend für den Durchbruch der Jugendchorbewegung wurde die EURO 70-Evangelisation Billy Grahams in der

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Dortmunder Westfalenhalle, in der Klaus Heizmann und der Jugend-für-Christus-Chor – statt wie bisher die traditionellen christlichen Sängerbünde – die musikalische Ausgestaltung übernahm. Ab 1973 erschienen im Hänssler-Verlag spezielle Jugendchorliederhefte mit popmusikalisch arrangierten Liedern. Hier wurden stilistische Idiome der gefälligen Mainstream-Popmusik ins kirchliche Singen eingeschmolzen. h) Evangelistische und missionarische Rock-/Popmusik Seit den 1960er Jahren integrierten verschiedene Solisten und Gruppen innerhalb der christlichen Kirchen und Freikirchen in Deutschland bewusst massenkulturell-populäre neue Musik in ihre Frömmigkeit und benutzen sie als Teil ihrer missionarischen Verkündigungsstrategien. Die Wurzeln liegen in der Begegnung mit amerikanischen Spirituals und religiöser Beatmusik sowie dem Engagement einiger missionarischer Bands wie den „Christusträgern“ oder dem „Fietz-Team“. Die neuentstehende evangelistische Popmusik griff in den 1960er Jahren auf Elemente der jugendkulturellen Subkulturen, Beat oder Jazz, zurück. Dabei kam es allerdings zu kulturellen Ungleichzeitigkeiten: Während die Großstadtjugend längst zum Rock-Beat der Rolling Stones und der Beatles tanzte und rebellierte, gab man sich gleichzeitig in „progressiven“ Jugendgottesdiensten oder Evangelisationen meist mit harmloseren Pseudojazz- und Beat-Verschnitten zufrieden. Erst Ende der siebziger Jahre veränderte sich die Lage in Deutschland durch einen starken Professionalisierungs-Schub. Man gewann Anschluss an die je aktuelle Mainstream-Popmusik und diverse Rockstile aus den USA, die durch Tonträger auch in Deutschland präsent waren. Eine eigene Szene christlicher Rock/Popmusik (auch „Gospelrock“ genannt, was nicht auf die musikalische Gattung des Gospelsongs eingeengt werden darf) entstand mit eigenem Musikmarkt, Konzertwesen, Festivals und Szene-Zeitschriften. Viele der Gruppen bzw. Interpreten dieser Musikszene und ein Großteil ihres Publikums haben ihre geistliche Heimat im CVJM, in den Jugendbünden für Entschiedenes Christentum, in landeskirchlichen Gemeinschaften, Freikirchen und charismatischen Kreisen.

2. Die kulturellen Hintergründe der Kontroverse um die Rezeption von Popularmusik in die Kirche Die Infragestellung der tradierten Kirchenmusik wie der Ästhetik der Kirchenmusikalischen Erneuerungsbewegung trägt auch Züge eines Generationenkampfes. Die körperbetonte, identitätsstiftende Beat- und Rockmusik wird zum Symbol der Sehnsucht nach einer anderen Kirche und Frömmigkeit. Die Re-

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zeption amerikanischer und britischer Pop-/Rockmusik verbündet sich mit dem Wunsch nach mehr Körperlichkeit und Lockerheit in der Kirche. Man kann von einer „Body & Soul“-Bewegung mit dogmen- und theologiekritischen Zügen sprechen. Aufgrund ihrer spezifischen Merkmale (Rhythmusbetonung, Körperlichkeit, Lautstärke) musste die Rock- und Popmusik notwendigerweise in Konflikt mit tradierten Vorstellungen von Kirchenmusik geraten: Denn die Kirchenmusik sollte ja – jedenfalls nach den Vorstellungen der KE – gerade nicht zur kulturellen Grenzziehung einer Subkultur oder für den Generationenkampf dienen, ebenso wenig sollten sie primär auf somatische und psychische Stimulierung abheben oder das Zeitempfinden ausschalten. Die bewusste Integration solcher Popularmusik in Gottesdienste und Evangelisationsveranstaltungen lässt sich daher auch als kultureller Aufstand gegen die bisherige kirchliche Frömmigkeitskultur interpretieren. Zwar wurden die typischen Merkmale der Rock- und Popmusik bei ihrer Transferierung in kirchliche Kontexte stark abgedämpft (Lautstärke, sexualisierende und aggressive Elemente). Doch blieb auch in kirchlich gezähmtem Jazz, Beat, Rock oder Pop genügend Anstößiges, um als Symbol für einen innerkirchlichen Kulturkampf unterschiedlicher Milieus – zunächst als Generationenkampf – dienen zu können. Die Emanzipation der kirchlichen Jugend fand ab den 1960er Jahren im Kampf um die eigene neue geistliche Popularmusik ihr ästhetisches Spielfeld. Ob auf diesem Wege die Aufgaben und Traditionen der Kirchenmusik wie auch die Qualitätsstandards der Popularmusik zu Schaden kamen, ist bis heute strittig45.

3. Zentrale Orte und soziale Träger der musikalischen Bewegungen ab den 1960er Jahren Die Kirchen- und Katholikentage waren und sind ein zentraler Ort für alle genannten musikalischen Aufbruchsbewegungen, für die Taizé-Musik und die missionarische und evangelikale Popmusik allerdings verstärkt erst seit der 2. Hälfte der 1980er Jahre. In Tagesveranstaltungen/Foren zur Musik, Werkstätten und Konzerten wurden bei den Kirchentagen Bühnen zur Präsentation und Reflexion der unterschiedlichsten Stile geboten46. Die „Arbeitsgemeinschaft Musik in der evangelischen Jugend“ (AGM, inzwischen „AG für christliche Jugendkultur“) wurde 1950 als „AG für evan45 46

Vgl. W. K ABUS (Hg.), Popularmusik. Vgl. H. SCHROETER, Kirchentag.

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gelische Jugendmusik“ gegründet, stellte in den 1960er Jahren Notenmaterial für Singkreise, Chöre, offenes Singen, auch für Bläser und Instrumentalisten bereit47 und veranstaltete Studien- bzw. Werkstatttagungen für Textautoren und Komponisten, die der Fortbildung und dem Austausch von ehren-, neben- und hauptamtlichen Musikern und Textern dienten48. Auch die evangelischen Arbeitsstellen für Gottesdienst in Hannover und Frankfurt/M. förderten das neue geistliche Lied. Auf katholischer Seite wurde 1971 beim BDKJ im Erzbistum Köln der Arbeitskreis SINGLES gegründet, dem es um Förderung neuer geistlicher Lieder durch Tagungen und seit 1977 durch Notenveröffentlichungen ging – und bis heute geht. Seit Ende der 1970er Jahre haben sich die christlichen Bands in einer institutionell gestützten Bewegung formiert: 1978 fand das erste offizielle Bandtreffen württembergischer Gruppen statt, man schloss sich anschließend zum Landesarbeitskreis Band in Württemberg (LaBiW) zusammen und gliederte sich beim Landesjugendpfarramt in Stuttgart an. 1981 folgte die Gründung der Arbeitsgemeinschaft Musik in der Evangelischen Jugend in Württemberg (AGMW). Andere Landeskirchen zogen in den 1980er Jahren mit ähnlichen Einrichtungen nach. Evangelisationen wie die EURO-70-Evangelisation mit Billy Graham in Dortmund und evangelistische Kongresse wie das „Christival“ (Mitarbeiterkongress) 1976 in Essen und die „Jubila“ (Böblingen 1975) stärkten die evangelistische Popmusikszene. Der Evangeliumsrundfunk Wetzlar (erf) sendete seit 1969 eigene Formate mit christlicher Popmusik. In Greenbelt (Großbritannien) fand ab 1974 ein Festival der Evangelikalen statt, das zum Treffpunkt der Christlichen Stars der Popmusik wurde. Das holländische Flevo-Festival ab 1978 bot Konzerte mit den Top-Gruppen aus Übersee und Europa, während sich ab 1980 die „Christmas Rock Night Ennepetal“ zur jährlichen Zusammenkunft von progressiven Gospelrock-Gruppen und -Solisten aus den USA und Deutschland entwickelte. Ein eigenes Verlagswesen hat sich um die Aufbruchsbewegungen der Kirchenmusik herum entwickelt. Zu Beginn der 1960er Jahre bis 1968 engagierte sich vor allem der Bosse-Verlag, Regensburg (dann von Bärenreiter, Kassel, übernommen) durch die Veröffentlichung der Liedhefte der Tutzinger Preisausschreiben und anderer Liedersammlungen mit neuen geistlichen Liedern. Die Verlage Eichenkreuz (Kassel; CVJM) und Singende Gemeinde (Wupper47 Etwa die Reihe „Bausteine für den Gottesdienst“ oder das Liederbuch „Schalom“ mit 200 neuen Liedern und Texten (zusammen mit der kath. Werkgemeinschaft Lied und Musik). 48 Zu den Aktivitäten der AGM vgl. E. BÜCKEN /E. SCHRIEVER (Hg.), Kulturarbeit, S. 345f. u. 348f.; J. SCHWARZ (Hg.), Beiträge. Bis Ende der 1970er Jahre wurden diese Tagungen in Zusammenarbeit mit der katholischen Werkgemeinschaft Lied und Musik durchgeführt.

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tal; Christlicher Sängerbund der Freikirchen) verlegten Notenausgaben der AG Musik, später dann der Hänssler Verlag, Stuttgart, der auch ab 1973 spezielle Jugendchorliederhefte mit poppiger Klavierbegleitung anbot (hg. von Klaus Heizmann; ab 1976 eine Notenblattserie „Der junge Sound“). Der Abakus-Verlag vertrieb ab 1975 insbesondere die Noten und Tonträger von Siegfried Fietz, der Christopherus-Verlag Tonträger und besonders die Taizé-Musik; Verlage wie Peter Janssens Musik Verlag, Kontakte Musikverlag, Impulse-Verlag oder tvdVerlag widmeten sich ab den 1970er Jahren der Verbreitung des Sacropop mit Noten und Tonträgern; 1978 wurde die Pila Music GmbH in Dettenhausen gegründet, die rasch zum bedeutendsten Importeur und Vertrieb christlicher Pop- und Rockmusik wurde. In der DDR ist die Entwicklung innerhalb der Kirchenmusik wie der landeskirchlichen und missionarischen Jugendarbeit anders als in der BRD verlaufen49. Schon die Begriffe wie „Sacro-Pop“ oder „Neues geistliches Lied“ waren in Ostdeutschland nicht üblich. Stattdessen war von „Jugendliedern“ oder „Mitsingliedern“ die Rede. Eine freie kommerzielle Gospelrock-Szene außerhalb kirchlicher Veranstaltungen konnte sich bedingt durch wirtschaftliche und politische Beschränkungen nicht entwickeln. Allerdings hatten die Jugendevangelisationen des Chemnitzer (Karl-Marx-Städter) Pfarrers Theo Lehmann, in denen Musik erklang, die an Folk und Gospel orientiert war, einen weit reichenden Einfluss in den 1970er Jahren. Anstoß zur Gründung einiger Musikgruppen hatten bereits die „Gottesdienste einmal anders“ in Karl-Marx-Stadt, die monatlich seit 1963/64 stattfanden und in denen Jazz- bzw. Dixielandtöne erklangen. Ab Ende der 1960er Jahre veranstaltete die katholische Jugendseelsorge im Bereich Dresden Fortbildungsseminare und Tagungen, die auch von Angehörigen anderer Konfessionen genutzt wurden. Einen Sprung nach vorne bedeutete die Einrichtung zweier Planstellen für Jugendmusik in den lutherischen Landeskirchen Mecklenburg (1973) und Sachsen (1975). Die christlichen Musikgruppen gestalteten seit den 1970er Jahren zunehmend eigene Konzertveranstaltungen und trieben die nötige Technik auf. Zur Professionalität reichte es jedoch mangels guter (West-) Technik und wegen der fehlenden Auftrittsgenehmigung in der Regel nicht.

49

Vgl. P. BUBMANN, Sound, S. 39f.

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4. Die Deutung der Wandlungen in der kirchlichen Musik Die beschriebenen Wandlungen der kirchlichen Musik stürzten die Vordenker und Leitfiguren der Kirchenmusikalischen Erneuerungsbewegung, die ja in den 1960er und bis in die 70er Jahre hinein noch die Schlüsselpositionen in der institutionalisierten Kirchenmusik innehatten50, in eine Krise. Oskar Söhngen bekennt melancholisch: „Es ist schmerzlich, aber ehrlich, sich einzugestehen, daß die Wiedergeburt der Kirchenmusik in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts Episode geblieben ist. Wenn auch heute noch immer beachtliche neue Werke gottesdienstlicher Musik geschrieben werden, so ist doch die Sternstunde der Kirchenmusik vorüber und hat sich die Konstellation gleichsam über Nacht wieder geändert. Aufs neue ist die außerliturgische Geistliche Musik dabei, die Kirchenmusik abzulösen. Ihr Partner und Gegenüber ist nicht die Gemeinde, sondern die Gesellschaft.“51

Kritisiert wird vor allem die Rückkehr zur persönlichen emotionalen Expressivität in der Tonsprache52 . Auch wird die Spannung, die sich für die Kirchenmusik durch die Forderung nach Kunst- und Gemeindeorientierung, ergeben, deutlich gesehen: „Die soziale Manifestation der Kirchenmusik gilt im Grunde allen Menschen, die der Frohbotschaft des Evangeliums bedürfen. Wie sollen sich die jungen Komponisten der Kirche heute verhalten? Sollen sie sich an der neuen Musikentwicklung orientieren? Aber werden sie dann noch das Ohr derer erreichen, an die sie gewiesen sind? Oder sollen sie sich an der Gemeinde, ihren musikalischen Bedürfnissen und Aufnahmemöglichkeiten orientieren? Aber wird dann die Kirchenmusik nicht hoffnungslos hinter der Zeit zurückbleiben?“53

In dieser Situation der Ungleichzeitigkeit von allgemeiner Musikentwicklung und der kirchenmusikalischen Stilistik hofft Söhngen darauf, dass die Kirche sich als Gruppe mit eigenem Ethos erweise („ein schichtenspezifisches Gruppenethos“54) und eigene kulturelle Sprach- und Lebensformen finden möge. Dass diese Hoffnung auf eine eigene einheitliche Kultur des kirchlichen Milieus nicht in Erfüllung gehen konnte, weil bereits ab den 1960er Jahren die kirchlichen Milieus auseinander fielen, konnte von Söhngen nicht mehr erfasst werden. 50 Walter Blankenburg war bis 1986 verantwortlicher Herausgeber der maßgeblichen Fachzeitschrift „Musik und Kirche“, Oskar Söhngen bis Mitte der 60er Jahre Mitglied des Konsistoriums in Berlin. 51 O. SÖHNGEN, Musica Sacra, S. 75f. 52 Vgl. EBD., S. 87. 53 EBD., S. 65; mit diesen Fragen endet der Beitrag! 54 EBD., S. 183; kursiv von Söhngen.

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Deutlich realitätsnäher und im Blick auf die tatsächliche Entwicklung in den letzten Jahrzehnten des 20. Jh. von geradezu prognostischer Kraft fiel hingegen das Urteil des katholischen Kirchenmusikers und Liturgiewissenschaftlers Johannes Aengenvoort im Jahr 1970 aus: So wie die „Pluralität im Denken und Empfinden“ heute „verschiedene Typen von Gottesdienst für verschiedene Gruppen“ notwendig mache, so bedeute dies auch für die Musik: „Ausschöpfung aller entsprechenden Möglichkeiten musikalischen Ausdrucks und musikalischer Formen; in ihrer Spannweite vom Schlager bis zur avantgardistischen Experimentalmusik sind keine grundsätzlichen Grenzen zu setzen. Grenzen setzt nur der Blick auf die konkrete Gemeinde, auf ihre personellen Voraussetzungen und technischen Möglichkeiten.“55

Und der französische Jesuit, Theologe und Komponist Joseph Gelineau sah 1974 klar, dass die Homogenität der Gemeinden meist verloren war: „Homogene Gemeinden sind selten (beispielsweise in einer religiösen Kommunität, in einer Jugendgruppe, manchmal in einer Gemeinde mit bürgerlichem Milieu, einer neuen Missionsstelle). In solchen Gemeinden ist es verhältnismäßig einfach, die der Mehrheit entsprechenden Ausdrucksmittel zu wählen.“56 Das sei anders in normalen liturgischen Versammlungen, die sozial gemischt sind. Denn da treffen „Minderheiten verschiedener Art“ aufeinander: „ethnische, sprachliche, kulturelle, aber auch nach Alter, Geschlecht, Milieu, Wohnviertel“57. Gelineau plädiert dafür, die verschiedenen Gruppen musikalisch im Gottesdienst durch verschiedenartige Gesänge anzusprechen. Hier wird also eine Empfehlung für stilistische Pluralität in der Musik des Gottesdienstes gegeben. Dies sei besser, als „alles miteinander auf den kleinsten Nenner musikalischer Ausdrucksweise zu bringen“58. Mit diesen Voten sind die Herausforderungen, die die Wandlungen der kirchlichen Musik in den 1960er und 70er Jahren mit sich brachten, deutlich benannt. Sie begleiten die Kirchenmusik bis heute. Was Ende des 20. Jahrhunderts durch Studien zu den Milieus und Lebensstilen in der Kirche soziologisch beschreibbar wird59, ist daher ansatzweise bereits in den 1960er und 70er Jahren erkennbar. Die Wandlungen der kirchlichen Musik sind ein deutlicher Beleg für die innere Pluralisierung der Großkirchen in Deutschland.

55

J. A ENGENVOORT, Jazz, S. 124. J. GELINEAU, Musik, S. 48. 57 EBD. 58 J. GELINEAU, Musik, S. 49. 59 Vgl. W. VÖGELE /H. BREMER /M. VESTER (Hg.), Milieus.

56

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5. Zusammenfassung und Ausblick Seit den 1960er Jahren haben sich die kirchenmusikalischen Szenen differenziert und der Stil der Kirchenmusik pluralisiert – mit weitreichenden Folgen bis heute. Die Wahrer der kirchenmusikalischen Tradition haben ihr kirchenmusikalisches Deutungsmonopol verloren. Der Einfluss der musikalischen Unterhaltungsindustrie auf die Kirchenmusik ist stetig gewachsen, die Wirkung künstlerischintellektueller Eliten hingegen gesunken. „Will man die Zonen, in denen sich die evangelische Kirchenmusik in Deutschland seit den Sechziger Jahren bewegte, betrachten, steht kein einheitlicher Gegenstand mehr zur Verfügung. Musik und Kirche stehen unter dem Phänomen der Pluralisierung. Die Zeit einer uniformen Ästhetik und Hermeneutik der Kirchenmusik, von der die kirchenmusikalischen Erneuerer sprachen, ist vorüber, wenn es denn seit 1918 überhaupt eine solche Einheit gegeben hatte.“60

Die Diskussionen in den Fachzeitschriften aber auch Berichte von konkreten kirchenmusikalischen Experimenten zeigen, dass mit dem Verlust der Deutungshoheit der KE über die Kirchenmusik Machtfragen virulent werden. Wieviel Einfluss und natürlich auch Geld soll innerkirchlich den popularmusikalischen Bewegungen und Szenen zugestanden werden? Wer entscheidet über die Musik bei Gottesdiensten und Missionsveranstaltungen? Erst in den 1980er und 90er Jahren konnte sich die Popularmusikbewegung in der Kirche institutionell stärker formieren. Bandarbeitsgemeinschaften oder Verbände für christliche Popularmusik haben seither selbstbewusst ihre Ansprüche in der kirchlichen Öffentlichkeit artikuliert. Der wachsende Einfluss der Musikindustrie auf das Alltagsverhalten hat dieser Fraktion dabei in die Hände gespielt. Gleichzeitig ist eine zunehmende Gettoisierung der musikalischen Avantgarde in kleine Zirkel zu verzeichnen. Das Gros der institutionalisierten Kirchenmusik hat sich hingegen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts mit dem gewachsenen Markt musikalischer Möglichkeiten arrangiert: sei es durch Profilierung einer speziellen Stilistik, sei es durch integrative Versuche, die eigene Arbeit stilistisch möglichst plural zu gestalten. Im Rückblick wird deutlich, dass ein Großteil der heutigen kirchenmusikalischen Phänomene und Szenen seine Wurzeln in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts hat. Es dürfte daher gerechtfertigt sein, diese Jahrzehnte als eine Zeit epochaler Umbrüche in der Kirchenmusik zu betrachten.

60

W. KÖRNER, Kirchenmusik, S. 48.

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Die Evangelikalen als Gegenbewegung

Die Themenstellung macht es erforderlich, dass zunächst geklärt wird, was mit „evangelikaler Bewegung“ gemeint ist. Der Begriff „evangelikal“ taucht in Deutschland Ende der 1960er Jahre auf 1. Die mit ihm bezeichnete Bewegung weist eine „sehr breite Fächerung“ auf 2 und bietet Menschen eine Identifikationsmöglichkeit, die aus dem Pietismus stammen, sich der Erweckungsbewegung zugehörig wissen, die einem konservativen Luthertum zuneigen oder der Gemeinschaftsbewegung angehören3. Auf eine Kurzform gebracht, formulierte der Programmdirektor des Lausanner Kongresses Paul Little: „Evangelikale glauben, daß das Evangelium auf der Offenbarung Gottes beruht, auf seinem Wort und der Inkarnation in seinem Sohne Jesus Christus.“4 Wird mit dieser Definition vornehmlich die Bindung an die traditionellen Bekenntnisse betont, so ergibt sich ein weiterer Aspekt in einer 1973 von Rolf Scheffbuch vorgelegten Erklärung: „evangelikal“ bringe die „neue Sache“ zum Ausdruck, „daß sich plötzlich Christen aus den verschiedensten Lagern von Freikirchen, Gemeinschaften und Jugendgruppierungen zusammenfinden, um gemeinsam mit neuem Elan und neuen Methoden in die Welt von heute vorzustoßen mit dem Ziel, Menschen für den Glauben an Jesus Christus zu werben“5. Mit dieser missionarisch-evangelistischen Zielrichtung ist der zweite Strang gekennzeichnet, der innerhalb der evangelikalen Bewegung von entscheidender Bedeutung ist. Gemeinsam ist den Evangelikalen die Anerkennung einer unbedingten Autorität der Heiligen Schrift, die Forderung nach einem persönlichen Glauben an den Erlöser Jesus Christus, der Glaube an die Wiederkunft Christi sowie der Einsatz für Evangelisation und weltweite Mission6. Es ist bezeichnend, dass der Begriff „evangelikal“

1 Vgl. eine frühe Verwendung dieses Begriffes bei dem von der Erweckungsbewegung geprägten Theologen, Publizisten und „Reich Gottes Manager“ Christian Gottlob Barth (1799–1862) (K. F. WERNER, Barth, Bd. 3, S. 70). Ich bedanke mich für diesen Hinweis bei Herrn Prälat i. R. Rolf Scheffbuch. 2 W. KÜNNETH /P. BEYERHAUS, Reich Gottes, S. 294. 3 Vgl. E. FAHLENBUSCH, Evangelikal, Evangelikale Bewegung, S. 56. 4 W. KÜNNETH /P. BEYERHAUS, Reich Gottes, S. 303. 5 R. SCHEFFBUCH, Evangelikal, S. 141. 6 Vgl. M. M ARQUARDT, Strukturen, S. 87; INFORMATIONSBRIEF 27 vom Dezember 1970, S. 6f.; oder LEBENDIGE GEMEINDE 23, Mai 1978, S. 18–23.

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als Kennzeichen einer Organisation in Deutschland erstmals 1969 auftaucht7, als eine „Konferenz Evangelikaler Missionen“8 ins Leben gerufen wurde. Die Bezeichnung „evangelikal“, die im Umfeld der Auseinandersetzung um die rechte Weise der Mission Einzug in Deutschland genommen hat, wurde allerdings bald in einem weiteren Sinne rezipiert und diente als Signet für all jene Christinnen und Christen bzw. jene Organisationen, die sich der so genannten „modernen Theologie“ und deren vielfältigen Folgen entgegenstellten. Mit dieser Entwicklung wurde „evangelikal“ zu einem kirchenpolitischen Kampfbegriff, der bald in vielfältiger Weise Verwendung fand. Angemerkt sei, dass der Fundamentalismus nicht Gegenstand dieser Untersuchung ist. Zwar berühren sich fundamentalistische und konservativ-evangelikale Vorstellungen beispielsweise im Blick auf die Betonung der Irrtumslosigkeit der Bibel oder der persönlichen Frömmigkeit durchaus, aber zugleich ist die Differenz unübersehbar: Der in Nordamerika entstandene Fundamentalismus vertritt zumeist einen so genannten Kreationismus, der in der konservativ-evangelikalen Bewegung ebenso wenig allgemein anzutreffen ist9 wie die trotz entschiedenem Engagement für die Durchsetzung der eigenen Vorstellungen im politischen Bereich einher gehende Distanz zur modernen Welt10. Im Gegenteil, konservativ-evangelikale Kreise bedienen sich gezielt und phantasievoll z. B. aller neuer Kommunikationstechniken und -methoden, um die dem Evangelium entfremdete Welt zu evangelisieren11. Allerdings, auch wenn der Neologismus „evangelikal“ erst Ende der 1960er Jahre in Deutschland auftauchte, so waren wesentliche Elemente der durch ihn bezeichneten Sache in Deutschland längst vor Einführung des Begriffes viru7 Laut Beyerhaus wurde er in Deutschland erstmals 1966 verwendet – vgl. DEUTSCHE ZEITUNG vom 26.5.1978, S. 22; vgl. aber F. JUNG, Bewegung, S. 23–26, der ein erstes Vorkommen dieses Begriffes 1965 erheben konnte (EBD., S. 25). 8 Ab 1974: „Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen“ – vgl. F. JUNG, Bewegung, S. 62. 9 Vgl. jedoch die 1979 gegründete und in Baiersbronn ansässige „Studiengemeinschaft Wort und Wissen“, die den „Fragen bezüglich des Ursprungs des Lebens (Schöpfung/Evolution) und des Verlaufs biblisch relevanter historischer Ereignisse“ nachgeht (www.wort-und-wissen.de). 10 K. K IENZLER, Art. Fundamentalismus; M. H AMILTON, Fundamentalismus; oder F. JUNG, Bewegung, S. 28–38, wobei Jung die Abgrenzung nicht deutlich genug herausarbeitet, beispielsweise fehlt der Kreationismus. 11 Auch nicht näher eingegangen werden kann auf die Beziehung der Pfingstbewegung und der charismatischen Bewegung zum konservativ-evangelikalen Flügel der evangelischen Kirche; zu ersterer verhielt sich beispielsweise der Gnadauer Verband aber auch die „Bekenntnisbewegung ‚Kein anderes Evangelium‘“ „kritisch bis ablehnend“ (F. JUNG, Bewegung, S. 162); charismatische Gruppen erlangten erst nach dem Zeitraum, der in dieser Studie näher betrachtet werden soll, größere Beachtung und Wirksamkeit: 1976 bildete sich ein „Koordinierungsausschuss der Charismatischen GemeindeErneuerung in der evangelischen Kirche“ (vgl. EBD, S. 157–166; vgl. auch J. S. O’M ALLEY, Pfingstkirchen/Charismatische Bewegung).

Die Evangelikalen als Gegenbewegung

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lent. Ich denke, der Anfang der „evangelikalen Bewegung“ im Sinne eines engagierten Eintretens für die „absolute […] Verbindlichkeit der Heiligen Schrift für Lehre und Leben“12 fällt in das Jahr 1950 und wird durch zwei Ereignisse markiert, die in Westfalen und Württemberg zu verorten sind – im Folgenden sollen primär diese beiden Landeskirchen betrachtet werden, da in ihnen die entscheidenden Aktivitäten hin zu einer organisatorischen Sammlung der später „evangelikal“ genannten Bewegung stattfanden. Da der Begriff „evangelikal“ zunächst noch nicht gebräuchlich war, benutze ich im Folgenden die Bezeichnung „konservativ“, um jene Christen zu bezeichnen, die im Namen einer so genannten „Gemeindefrömmigkeit“ Einspruch gegen eine ihnen nicht tragbar erscheinende Entwicklung der Theologie und Kirche einlegten.

1. Protest gegen Bultmanns Theologie Am 8. April 1950 wandte sich der Pfarrer und Dozent an der Theologischen Schule Bethel Hellmuth Frey13 an die Kirchenleitungen der Landeskirchen sowie an die EKD und trug seine tiefe Besorgnis vor, „daß die von Prof. Bultmann und seinen Schülern vorgetragene Auffassung von der Auferstehung und den Wundern unseres Herrn nicht mehr ein Diskussionsthema der Akademiker geblieben ist, sondern beginnt, in die breite Öffentlichkeit unserer Gemeinden einzudringen“14. Er bat das „oberste Hirtenamt“ „um eine von allen Kanzeln zu verlesende Erklärung, die ‚ohne Hörner und Zähne‘, so daß es dem schlichtesten Laien verständlich ist, bezeugt, daß das Apostolikum in vollem Umfang in Geltung ist und jeder, der über die Auferstehung anders lehrt, sich in Widerspruch zur Kirche setzt.“ Während nach Freys Auskunft ein Teil der Kirchenleitungen überhaupt nicht reagierte und andere die Angelegenheit hinaus schoben, lehnte der Rat der EKD das Ansinnen Freys auf seiner Sitzung am 28. August 1950 ab. Der theologische Referent in der Kirchenkanzlei Edo Osterloh beschied Frey, dass das von ihm „aufgeworfene Problem […] auf einer anderen Ebene und wahrscheinlich auch mit anderen Mitteln“ zu bearbeiten sein wird15. Auch in Württemberg hatte sich 1950 im Kreise des dort lebendigen landeskirchlichen Pietismus der Eindruck verstärkt, dass von der Theologie Bultmanns 12

F. JUNG, Bewegung, S. 25. Vgl. H. FREY, Geschichte. 14 EZA BERLIN 2/1792 – Ich danke Frau PD Dr. Anke Silomon, dass Sie mir diesen Text zur Verfügung gestellt hat, der in Kürze in dem von ihr bearbeiteten Band der Protokolle des Rates der EKD des Jahres 1950 zum Abdruck kommen wird. 15 EZA BERLIN 2/978. 13

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zunehmend eine Gefahr für die Gemeinden ausgehe. Leiter landeskirchlicher Gemeinschaftsverbände berieten sich am 6. November 1950 in Stuttgart über die bedrohliche Lage. In einer schriftlichen Entschließung wandten sich die Versammelten an den Stuttgarter Oberkirchenrat und verliehen ihrer „schwere[n] Sorge“ Ausdruck, „daß von dieser Theologie [Bultmanns, S. H.] nicht wenige, besonders unter den jungen Theologen, angesteckt sind, denen über kurz oder lang unsere Gemeinden anvertraut werden“16. Der Oberkirchenrat wurde gebeten, „alles zu tun, was irgend möglich ist, damit der einbrechenden Verwirrung gewehrt werde.“ Landesbischof Martin Haug griff diese Eingabe nicht nur in einem Hirtenbrief an alle württembergischen Pfarrer auf, in welchem er offen Kritik an Bultmanns theologischer Arbeit äußerte17, sondern er widmete sich auch in seinem Jahresbericht vor dem Landeskirchentag am 29. Januar 1951 ausführlich diesem Thema18. Bestärkt durch diese Unterstützung seitens des Landesbischofs ergriff Mittelschulrektor Julius Beck aus Calw, Leiter einer Hahn’schen Gemeinschaft, die Initiative und rief zu Beginn des Jahres 1951 Gleichgesinnte zur Gründung einer „Evangelisch-Kirchliche[n] Arbeitsgemeinschaft für Biblisches Christentum“19 zusammen. Erstes Resultat dieser Arbeitsgemeinschaft war ein von 29 Personen – vornehmlich Leitern von Gemeinschaftskreisen – unterzeichnetes Flugblatt, das holzschnittartig die Kritik an Bultmann formulierte 20. In zehn knappen Sätzen wurde all dies angeführt, was von Bultmann als „Mythe oder Legende“ und damit als „erledigt“ herausgestellt worden sei: Jungfrauengeburt, Wunder, Geister- und Dämonenglaube, Höllenfahrt Jesu, Auferstehung als „wirkliches und historisches Ereignis“, Himmelfahrt und „die Tatsache von der Wiederkunft Christi“21. Bibelgläubige Christen müssten das klare „Entweder-Oder“ sehen: Entweder sei die Bibel Gottes Wort oder sie enthalte es nur. Die weiteren Ereignisse in Württemberg können im Rahmen dieser Darstellung nicht entfaltet werden, doch sei noch auf das unter dem Titel „Für und Wider die Theologie Bultmanns“ von der Tübinger Evangelisch-theologischen Fakultät vorgelegte Gutachten hingewiesen,

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VERHANDLUNGEN DES 4. EVANGELISCHEN L ANDESKIRCHENTAGS, S. 788. Vgl. J. BECKMANN, Kirchliche Zeitgeschichte (1951), S. 199–209. 18 Vgl. VERHANDLUNGEN DES 4. EVANGELISCHEN L ANDESKIRCHENTAGS, S. 788. 19 So der Kopf eines Flugblattes von 1952, das einen von 42 Personen, zumeist Laien, unterzeichneten „Offenen Brief“ an die Abgeordneten des 4. Evang. Landeskirchentags wiedergibt, in dem die Stellungnahme der Tübinger Fakultät vom 11.3.1952 zur Theologie Bultmanns scharf kritisiert wurde (Kopie im Besitz des Verfassers). 20 J. BECKMANN, Kirchliche Zeitgeschichte (1951), S. 210; dieser Text findet sich auch in R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 127–129. 21 J. BECKMANN, Kirchliche Zeitgeschichte (1951), S. 210. 17

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das allerdings im Landeskirchentag zum Teil auf entschiedenen Widerspruch stieß22 . Deutlich ist, dass sich in Württemberg im Gegensatz zu Westfalen, wo der Protest zunächst Sache einzelner Theologen blieb23, sehr rasch Laien, vor allem „Stundenleiter“, zusammenschlossen, um gemeinsam in der Notsituation, die ihnen angesichts der Gefahr einer Verleugnung der Verkündigung des Evangeliums gegeben schien, die Stimme zu erheben. Während in Westfalen nach diesen ersten Auseinandersetzungen der Kampf „versackte“ – so Helmut Frey24 – blieben in Württemberg zwar spektakuläre Aktionen weitgehend aus, doch die „Arbeitsgemeinschaft“ wirkte engagiert und in aller Bescheidenheit, freilich sehr zielgerichtet weiter. In Württemberg kam 1956 eine Aktionsform auf, die eine neue Zielrichtung der Arbeit hervortreten ließ. Neben den Monatsstunden der pietistischen Kreise Württembergs und der Teerstegen-Ruh-Konferenz, die er im Rheinland kennen gelernt hatte, mögen die Auftritte Billy Grahams in Düsseldorf und Berlin im August 195425 den Leiter des Jungmännerwerkes der württembergischen Landeskirche, Pfarrer Walter Tlach, angeregt haben, jeweils an Fronleichnam eine zentrale Veranstaltung zur Glaubensstärkung durchzuführen26. Diese später „Ludwig-Hofacker-Konferenz“ genannten Treffen erfreuten sich bald so großen Zuspruches, dass die Messehalle 6 auf dem Stuttgarter Killesberg als zentraler Veranstaltungsort Tradition wurde. Die württembergische „Evangelisch-Kirchliche Arbeitsgemeinschaft für Biblisches Christentum“ wartete demnach ab 1956 nicht nur mit kirchenpolitisch-theologischen Voten auf, sie suchte auch gezielt die eigene Klientel zu sammeln, zu stützen, zu stärken und für den tagtäglichen „Kampf“ zu rüsten.

2. Sorge um Gemeinde und theologischen Nachwuchs Erst mit dem Jahr 1960 brach der schwelende Konflikt wieder aus und wieder erhoben zunächst westfälische Theologen ihre Stimme. Auf Initiative von Rudolf Bäumer, Mitarbeiter des westfälischen Mädchenwerkes, bildete sich Ende 1960 ein Kreis von Theologen – neben Bäumer der schon erwähnte Hell22 Vgl. VERHANDLUNGEN DES 4. EVANGELISCHEN L ANDESKIRCHENTAGS, S. 1087–1104; vgl. auch oben Anm. 19. 23 Vgl. auch einen Hirtenbrief, den Pastor Paul Deitenbeck Ostern 1950 an alle Glieder des Kirchenkreises Lüdenscheid richtete – H. FREY, Geschichte, S. 4. 24 H. FREY, Geschichte, S. 5. 25 Vgl. F. L AUBACH, Aufbruch, S. 84. 26 Vgl. R. SCHEFFBUCH, Wie kam’s dazu? Teil 2.

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muth Frey sowie Paul Deitenbeck, Karl Sundermeier und Käthe Kreling –, der nach seinem Tagungsort bald als „Bethel-Kreis“ bekannt wurde27. Nach Aussage von Beteiligten war die Berufung des Bultmann-Schülers Willi Marxsen in den kirchlichen Prüfungsausschuss der Evangelischen Kirche von Westfalen unmittelbarer Anlass für das Zusammenfinden dieser Personen. Der „BethelKreis“ tagte erstmals vom 17. bis 18. Dezember 1961 in Bad-Salzuflen; 32 Theologen mit durchaus verschiedener Prägung hatten sich zusammengefunden: Mitglieder der Pfarrergebetsbruderschaft, des Gnadauer Verbandes, der Evangelischen Gesellschaft, von Freikirchen und Pietisten28. Eine erste Aktion zielte darauf, Marxsen zum Rücktritt aus der Prüfungskommission zu bewegen. Als persönliche Gespräche nicht fruchteten, wurde eine entsprechende Forderung der westfälischen Kirchenleitung vorgelegt29. Allerdings sah sich die Kirchenleitung nicht zum Handeln veranlasst. Der Kreis wandte sich im Folgenden der theologischen Arbeit zu, aber er verfolgte auch kirchenpolitische Initiativen. Im Juli 1961 entschloss man sich zu einer Eingabe an alle evangelischen Kirchenleitungen sowie an die EKD mit der Bitte, „der Irrlehre auf den Kanzeln zu wehren“30. Die mit 32 Unterschriften versehene Eingabe brachte die schwere Sorge um die „Gemeinden, den theologischen Nachwuchs, um die Gemeindeund Schuljugend“ angesichts der „Aushöhlung“ und „Umdeutung der Christusbotschaft“ zum Ausdruck 31. Zusammenfassend war formuliert: „Wir sehen, daß der status confessionis eingetreten ist.“ In Wahrnehmung der den Unterzeichneten „mit dem Predigt- und Lehramt auferlegten Mitverantwortung“ für die Kirche, erhebe man die Stimme. Ein erbetenes Gespräch fand statt32, doch das Ergebnis vermochte die Intervenierenden nicht zufrieden zu stellen. Daraufhin beschloss der „Bethel-Kreis“ am 11. Februar 1963 in die Öffentlichkeit zu treten. Ab Juni 1963 wurde ein von Pastor Paul Tegtmeyer unterzeichneter, freilich zuvor im „Bethel-Kreis“ beratener „Hirtenbrief“ in 70.000 Exemplaren verbreitet33. In seinem mehrseitigen Schreiben charakterisierte Tegtmeyer die Lage als „eine immer schneller 27 Vgl. H. STRATMANN, Evangelium, S. 38f.; R. SCHEERER, Christen, S. 23; H. FREY, Geschichte, S. 5f. 28 Vgl. H. STRATMANN, Evangelium, S. 42f. 29 Vgl. R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 37; und H. STRATMANN, Evangelium, S. 38. 30 R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 37. – Vgl. auch das beigefügte erläuternde Schreiben der drei Theologen Frey, Theodor Brand und Paul Tegtmeyer (in: G. NIEMEIER, Die Evangelische Kirche in Deutschland [1961], S. 60ff.). 31 EBD., S. 63. 32 Vgl. H. STRATMANN, Evangelium, S. 49 und G. NIEMEIER, Die Evangelische Kirche in Deutschland (1961), S. 30f. 33 Vgl. H. STRATMANN, Evangelium, S. 51f.

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zunehmende Glaubensverwirrung“34, doch habe Christus die evangelische Kirche noch nicht verlassen, er sei als guter Hirte „mitten unter uns“. Diese erste größere öffentlichkeitswirksame Aktion des „Bethel-Kreises“ brachte zahlreiche zustimmende Briefe, aber auch eine interne Trennung: Mitglieder der Pfarrergebetsbruderschaft distanzierten sich von jedem „Handeln in der Öffentlichkeit“ und kündigten ihre Mitarbeit in dem ihnen zu aktivistischen Kreis auf 35. Aufgrund der Bewertung der prekären Lage der Kirche als Gericht Gottes reifte im „Bethel-Kreis“ „die Erkenntnis, daß die Wende nicht von Menschen, sondern allein von Gott kommen“ könne36. Tegtmeyer regte daher Bitt- und Bußgottesdienste an, „die den Notstand und die Schuld der Kirche vor Gott bringen sollten.“ Ein erster Gottesdienst fand am 3. Januar 1965 im niedersächsischen Ahlden statt, weitere folgten in Adelshofen (Baden), Lüdenscheid, Darmstadt und Backnang – auf letztere Veranstaltung wird noch einzugehen sein. Mit diesen Gottesdiensten hatte die Arbeit des „Bethel-Kreises“ eine wichtige Neuerung erfahren: Nicht mehr nur Protestnoten, Eingaben, Gespräche mit Theologen37 oder Hirtenbriefe an die Gemeinde sollten die Kirche aufrütteln und zur Umkehr bringen, vielmehr begann man, die „Sammlung der zerstörten Gemeinde“ zu betreiben38. Parallel zu dieser Entwicklung in Westfalen erfolgte auch in Württemberg eine weitere Aufsehen erregende Protestaktion seitens des Pietismus. Am 1. Januar 1961 wurde ein „Offener Brief“ mit 50 Unterschriften an die Evangelischtheologische Fakultät Tübingen und an die Leitung der württembergischen Landeskirche gerichtet. Die Unterzeichner, unter denen sich neben elf Lehrern, zehn Handwerkern und Angestellten, acht Predigern und Missionaren auch vier Fabrikanten, aber lediglich sechs Theologen befanden, brachten in Aufnahme einer Einschätzung von Wilhelm Busch zum Ausdruck, dass „der Grundschaden unserer Kirche die Ausbildung der Theologen auf der Universität“ sei39. Da zwischenzeitlich „gläubige Eltern ihren Kindern das Theologiestudium nicht [mehr] gestatten, weil sie diese aus Gewissensgründen nicht der ‚Philosophie und loser Verführung‘ preisgeben“ wollten, müsse nun „die Gemeinde des Herren auf den Plan […] treten“. Die Theologen müssten Rechenschaft über die Grundlage ihrer Arbeit ablegen, beispielsweise darüber, ob für sie die Theologie eine Wis34

R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 104. H. STRATMANN, Evangelium, S. 54. 36 H. FREY, Geschichte, S. 8. 37 Vgl. u. a. Sittenser Disputation vom 12.10.1964 zwischen Künneth und Ernst Fuchs über die Auferstehung Jesu (H. STRATMANN, Evangelium, S. 58). 38 H. FREY, Geschichte, S. 8. 39 G. NIEMEIER, Die Evangelische Kirche in Deutschland (1961), S. 50f.; vgl. auch R. BÄUMER / P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 135ff. 35

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senschaft wie jede andere sein solle, die von vorneherein Gott ausklammere. Die Kirchenleitung wurde kritisch auf ihre seelsorgerliche Begleitung und geistliche Zurüstung der Studierenden befragt und gebeten, klare Wege aufzuzeigen, wie der „brennenden Not“ abgeholfen werden könne, „da es hier um die Existenz und besonders um den Nachwuchs unserer Kirche“ gehe40. Das von Landesbischof Haug unterzeichnete Antwortschreiben des Oberkirchenrats vom 31. März 1961 verwies auf die Unverfügbarkeit des Heiligen Geistes. Es stehe in keines Menschen Macht, „den Zugang zur Heiligen Schrift als dem Werkzeug des Heiligen Geistes sich selber zu erzwingen oder ihn anderen aufzutun.“41 Im Übrigen bekannte sich die Kirchenleitung zur universitären Ausbildung der Theologen42 . Die theologische Fakultät Tübingen begnügte sich mit einer äußerst knappen Erklärung, in der sie sich den Ausführungen des Oberkirchenrats anschloss und mit Bedauern feststellte, dass der „Offene Brief“ keine Gesprächsgrundlage darstelle, da „die Unterstellung, die theologischen Fakultäten seien Stätten, ‚in denen das Fundament des Glaubens planmäßig zerstört werden darf‘, […] eine Verständigung“ ausschließe43. Die Kontroverse zwischen Pietismus und Landeskirche, insbesondere im Blick auf die Theologenausbildung, fand in der Landessynode eine ausführliche Fortsetzung. In seinem Arbeitsbericht ging Haug am 1. Oktober 1961 eingehend auf die Ereignisse ein und bekräftigte das Bekenntnis der Kirchenleitung zur universitären Ausbildung. Freilich fügte er einerseits kritische Rückfragen an die Theologen an, andererseits appellierte er aber auch an die Gemeinden, sich dem „kritischen Dienst der Theologie an der Kirche, […], durch sie [die Universitätstheologie, S. H.] nicht zu entziehen“44. Die folgende Aussprache machte die Spannungen zwischen Theologie und Pietismus offenkundig45, die trotz verschiedener Gespräche zwischen Pietismus und Kirchenleitung bzw. Fakultät virulent blieben und auch weiterhin die Synode beschäftigten46. Interessant ist, dass in dieser Phase eine erste Berührung zwischen württembergischen Pietisten und den Initiativen des „Bethel-Kreises“ erkennbar wird. 40

G. NIEMEIER, Die Evangelische Kirche in Deutschland (1961), S. 53. EBD., S. 55. 42 EBD., S. 54. 43 UM DIE BIBEL, S. 18. – Erklärung der Fakultät vom 8.6.1961. 44 VERHANDLUNGEN DER 6. EVANGELISCHEN L ANDESSYNODE Protokollband I, S. 214–219; Zitat: EBD., S. 218; diese Ausführungen Haugs sind auch wiedergegeben in: G. NIEMEIER, Die Evangelische Kirche in Deutschland (1961), S. 69ff. 45 Vgl. z. B. das Votum des Synodalen Hans-Karl Riedel und die Stellungnahmen der Professoren Hermann Diem und Friedrich Lang sowie die kritische Äußerung von Hans Lachenmann (VERHANDLUNGEN DER 6. EVANGELISCHEN L ANDESSYNODE Protokollband I, S. 226, 228, 232). 46 Vgl. z. B. die Sitzung vom 14.4.1964, VERHANDLUNGEN DER 6. EVANGELISCHEN L ANDESSYNODE Protokollband II, S. 693–700. 41

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Wie in Westfalen, so wurden 1965 auch in Württemberg Bekenntnisgottesdienste durchgeführt. Der erste dieser Art fand auf Anregung des mit dem Gnadauer Verband in Beziehung stehenden Leiters der Bahnauer-Missions-Bruderschaft, Pfarrer Max Fischer, in Backnang statt, wobei für die Situation in Württemberg kennzeichnend war, dass an diesem am 7. März durchgeführten Gottesdienst auch der für diese Region zuständige Prälat Dr. Albrecht Hege teilnahm47. Ein weiterer Gottesdienst fand wenig später sogar unter Beteiligung von Landesbischof Erich Eichele in Stuttgart statt. In der Herbstsitzung der Landessynode 1965 kritisierte Hermann Diem diese Gottesdienste, da es beunruhigend sei, „wenn in der Kirche Bittgottesdienste gegen die ungläubige Kirche und ihre Theologen gehalten werden und wenn Bischof und Prälaten sich daran sogar noch beteiligen“48. Zu Beginn der 1960er Jahre findet sich eine wegweisende Umgestaltung der Struktur und der Aktionsformen der gegen die „moderne“ Theologie Opponierenden: Im Bereich von Westfalen bildet sich ein fester Kreis, der „Bethel-Kreis“, der eine Koordination und Intensivierung der Arbeit ermöglichte. Gezielt wird mit „Offenen Briefen“ und Hirtenworten der Weg in die Öffentlichkeit beschritten und mit Eingaben Kirchenleitungen zu Stellungnahmen gegen die Theologie Bultmanns und auch seiner Schüler aufgefordert. Auffallend ist, dass der Protest in Westfalen in der überwiegenden Mehrzahl von Theologen, in Württemberg jedoch weitgehend von Laien getragen war. Wichtig werden Bekenntnisgottesdienste, die deutlich machen sollen, dass eine Änderung der kirchlichen und theologischen Verhältnisse allein aus menschlicher Kraft nicht zu erwarten sein würde. Die in Württemberg praktizierte Direktwahl der Landessynodalen, die regelmäßig eine nicht unerhebliche Anzahl von Synodalmitgliedern erbrachte, die dem Pietismus entstammten, ermöglichte es, die „moderne“ Theologie immer wieder zum Beratungsgegenstand der Synodaldebatten zu machen.

3. Die Gründung der „Bekenntnisbewegung ‚Kein anderes Evangelium‘“ Die „Enttäuschung“49 ob der Wirkungslosigkeit des Einspruches gegenüber der Universitätstheologie und der Untätigkeit der Kirchenleitungen führte im Verbund mit einigen von Seiten der Konservativen als besonders signifikant für den Fehlweg der aktuellen Theologie empfundenen Ereignisse Mitte der 1960er Jah47

VERHANDLUNGSBUCH BACKNANG, Sitzung des Kirchengemeinderates vom 2.3.1965, S. 42. VERHANDLUNGEN DER 6. EVANGELISCHEN L ANDESSYNODE Protokollband II, S. 1006f. 49 R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 36.

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re zu einer Fortentwicklung des bislang von Einzelnen oder Gruppen geleisteten Protestes hin zu einer „Bewegung“, die bis Ende des Jahrzehnts Ableger oder Kooperationspartner in allen Landeskirchen haben sollte. Einer der auslösenden Faktoren war der Kölner Kirchentag von 1965, der in konservativen Kreisen wegen „Brecht-Abenden“ und Vorträgen von Dorothee Sölle und Günther Klein eine regelrechte „Schockwirkung“50 auslöste. Zum anderen erregte ein Artikel in der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 31. Dezember 1965 Aufsehen, der von Prof. Hans-Werner Bartsch verfasst war und aufgrund der Legendenhaftigkeit der biblischen Weihnachtsgeschichte die Abschaffung von Weihnachten als kirchlichem Fest forderte51. Weitere Kennzeichen einer von konservativer Seite als Krise von Kirche und Theologie empfunden Lage war das 1963 in Deutschland erschienene Buch „Gott ist anders“ des englischen Bischofs John A. T. Robinson52 oder der Abdruck von Joel Carmichaels „Leben und Tod des Jesus von Nazareth“ im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ 196653. Angesichts dieser bedrohlichen Situation hatten sich die westfälischen Mitglieder des „Bethel-Kreises“ im April 1965 zu einer eigenständigen Untergliederung zusammengeschlossen, um die Arbeit in ihrer Landeskirche besser koordinieren und gezielter durchführen zu können. Auf Anregung von Pfarrer Paul Deitenbeck gab sich diese Gruppierung auf einer Sitzung in Hamm am 12. Januar 1966 den Namen „Bekenntnisbewegung ‚Kein anderes Evangelium‘“54 ; die ca. 30 Versammelten kamen zudem überein, eine schon länger in Aussicht genommene Kundgebung, die in eher bescheidenem Rahmen in der RuhrlandHalle in Bochum stattfinden sollte, in die weitaus größere und vor allem auch repräsentativere Westfalenhalle nach Dortmund zu verlegen55. Die am 6. März 1966 durchgeführte Großkundgebung fand einen enormen Zuspruch: Nicht nur die 19.000 Sitzplätze waren belegt, auch in den Rundgängen folgten Besucher der dreistündigen Veranstaltung56. In seinem Eröffnungswort wies Rudolf Bäumer darauf hin, dass diese Kundgebung nötig geworden sei, da eine Prüfung der Geister angesichts der gegenwärtig weit verbreiteten Theologie unabdingbar sei, werde z. B. Jesus doch oft nur noch als Mensch und „nicht länger als […] Gott an[ge]sehen“57. Nach einem biblischen Wort des Prä50 So H. FREY, Geschichte, S. 10; vgl. zu Sölle: DEUTSCHER EVANGELISCHER K IRCHENTAG Köln, S. 295–303; und die Exegese Kleins EBD., S. 157–174. 51 Vgl.: DIE ZEIT vom 31.12.1965; H. STRATMANN, Evangelium, S. 64f. 52 J. A. T. ROBINSON, Gott. 53 J. CARMICHAELS, Leben. 54 Vgl. H. FREY, Geschichte, S. 10; H. STRATMANN, Evangelium, S. 66; und F. JUNG, Bewegung, S. 98f. 55 Vgl. H. STRATMANN, Evangelium, S. 66f. 56 Vgl. EBD., S. 69–74 und „K EIN ANDERES EVANGELIUM“ Bericht. 57 EBD., S. 7.

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ses der westfälischen Landeskirche Ernst Wilm58, zwei Grußworten von Repräsentanten, die die „Bekenntnisbewegung“ mit trugen59 und einem auffallend kurzen Votum von Pastor Wilhelm Busch60, folgte das Hauptreferat des Erlanger Professors für Systematische Theologie Walter Künneth. Unter der Überschrift „Kreuz und Auferstehung Jesu“ stellte er seine Auffassung der modernen, von philosophischen Prinzipien bestimmten Theologie gegenüber; insbesondere verwies er darauf, dass die „Auferstehung Jesu […] das fundamentum christianum“ sei, das vor ein klares „Entweder-Oder“ stelle61. Einer Kurzansprache von Paul Deitenbeck, in der die Veranstaltung als Bußruf Gottes qualifiziert wurde62, folgte noch ein Schlusswort Bäumers. Unter dem Eindruck der Dortmunder Versammlung übernahm der „BethelKreis“ am 21. März 1966 auch für sich die Bezeichnung „Bekenntnisbewegung ‚Kein anderes Evangelium‘“ und strebte durch die Gründung weiterer Landesgruppen eine Intensivierung der Arbeit an. Und in der Tat, in sehr rascher Folge bildeten sich neue Gruppierungen: im Rheinland63, in Baden64, in KurhessenWaldeck65, in Hohenlohe66, in Nordelbien67, in Hannover68, in Ostfriesland69, in der Grafschaft Bentheim70 und in Hessen-Nassau71 entstanden Arbeitskreise der „Bekenntnisbewegung“72 . Im Übrigen fand die Gründung der „Bekenntnisbewegung“ entschiedene Kritik: Beispielsweise gaben 31 Theologieprofessoren in einer im westfälischen 58

Vgl. EBD., S. 9–17. Westdeutscher Jungmännerbund CVJM, Karl Sundermeier, und Gnadauer Verband, Kurt Heimbucher. 60 „K EIN ANDERES EVANGELIUM“ Bericht, S. 23. 61 EBD., S. 40. 62 Vgl. EBD., S. 44. 63 4.5.1966: R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 48; vgl. den Aufruf dieser Bewegung EBD., S. 109f. 64 April 1966: EBD., S. 52f. – In Baden wählte man die Bezeichnung „Evangelische Vereinigung um Bibel und Bekenntnis“. 65 2.5.1966: EBD., S. 43. 66 Vgl. die von dieser Gruppierung am 16.10.1966 in Künzelsau durchgeführte Kundgebung (KUNDGEBUNG KÜNZELSAU) und das Schreiben an die Dekane und Pfarrer der württembergischen Landeskirche vom Dezember 1966 (INFORMATIONSBRIEF 5, S. 11f.). 67 17.10.1966: R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 46. 68 Vgl. EBD., S. 45. – Die zunächst als Zusammenschluss verschiedener Bruderschaften organisierte Gruppe erlebte bereits im September 1967 eine Umstrukturierung: der Landesarbeitskreis konstituierte sich neu als Kreis einzelner Pfarrer und Gemeindeglieder (INFORMATIONSBRIEF 10, S. 18). 69 Dezember 1966: R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 47. 70 1.1.1967: EBD., S. 41. 71 5.12.1969: EBD., S. 42. 72 Vgl. die am 10.4.1967 verabschiedete Ordnung der „Bekenntnisbewegung“ (H. STRATMANN, Evangelium, S. 12f.; vgl. auch INFORMATIONSBRIEF 7, S. 2f.; oder „K EIN ANDERES EVANGELIUM“ Broschüre, S. 27f.). 59

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Sonntagsblatt veröffentlichten Erklärung zu bedenken, dass der gewählte Name die „falsche Vorstellung“ erwecke, „als verfügten wir über das Evangelium in festen Formeln“73. Das „Evangelium [könne nicht] nur durch neue Auslegung verfälscht werden“, sondern auch durch das Nachsprechen von Formeln, „die heute nicht mehr dasselbe sagen wie gestern“. Vor allem aber wurde die Gefahr einer „Entmündigung der Gemeinden“ gesehen, da man offensichtlich meine, diese „gegen neue Erkenntnisse abschirmen zu müssen“74. Neben den in vornehmlich unierten oder reformierten Gebieten entstandenen Gruppen der „Bekenntnisbewegung“ bildeten sich in lutherischen Kreisen „Kirchliche“ bzw. „Evangelische Sammlungen“, die sich mit der „Bekenntnisbewegung“ eng verbunden wussten, doch eine gewisse Eigenständigkeit wahrten. Am 25. April 1966 wurde in Braunschweig die „Kirchliche Sammlung. Aktionsgemeinschaft für Bibel und Bekenntnis“ gegründet75, weitere „Kirchliche Sammlungen“ entstanden in Hannover76, Bayern77 und Nordelbien78. „Evangelische Sammlungen“ wurden in Württemberg79, in Berlin80 und im Rheinland81 ins Leben gerufen. Durch diese Expansion ergab sich bald die Notwendigkeit einer Koordination und Planung der Arbeit der Gruppierungen. Am 10. Oktober 1970 wurde da73

G. NIEMEIER, Die Evangelische Kirche in Deutschland (1966), S. 79. EBD., S. 80. – Vgl. weitere kritische Stellungnahmen: W. FÜRST, Bekenntnis, S. 449–461, bes. S. 450–455; oder das Rundschreiben des Bischofs der Evangelischen Landeskirche von KurhessenWaldeck, D. Erich Karl Wilhelm Vellmer, an die Geistlichen seiner Landeskirche: G. NIEMEIER, Die Evangelische Kirche in Deutschland (1966), S. 95–100. Vgl. hierzu auch H. STRATMANN, Evangelium, S. 78–85. Angefügt sei noch, dass auch Ernst Käsemann im Vorwort seiner Schrift „Der Ruf der Freiheit“ auf die Gründung der „Bekenntnisbewegung“ äußerst kritisch einging und voll Ironie bemerkte: „Die Erde hat sich in Dortmund nicht bewegt. Sonst hätte ich als Westfale es mitgespürt, wenn auch mit Entsetzen.“ (E. K ÄSEMANN, Ruf, S. 15; vgl. EBD, S. 7–20; Herrn Dr. Rainer Stuhlmann danke ich herzlich für diesen Hinweis!). 75 Vgl. H. STRATMANN, Evangelium, S. 92; und R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 69–72; die „Braunschweiger Thesen zu Leben und Auftrag der Kirche“ vom 26.1.1966 finden sich EBD., S. 146–155 und G. NIEMEIER, Die Evangelische Kirche in Deutschland (1966), S. 81–88. Vgl. die Stellungnahme des braunschweigischen Landesbischofs Gerhard Heinze zu diesen Thesen, in: EBD., S. 88–91. 76 Vgl. H. STRATMANN, Evangelium, S. 93; und R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 71. 77 Januar 1967: R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 73, vgl. die Rummelsberger Erklärung dieses Kreises: EBD., S. 156–159. 78 11.10.1967: EBD., S. 77f.; vgl. die theologische Erklärung vom 11.3.1968: EBD., S. 171–174. 79 Januar 1967: EBD., S. 63; vgl. die „Drei-Punkte-Erklärung“ dieses Kreises: EBD., S. 121f. – Im Übrigen erfolgte diese Gründung nach einer Vikarsversammlung, die in einer Resolution festgehalten hatte, die Bibel sei nur „ein Gesprächspartner unter anderen“. 80 4.7.1967: EBD., S. 57; vgl. das „Wort zur gegenwärtigen theologischen Lage“ vom 29.8.1967: EBD., S. 163–166. 81 1970: EBD., S. 60f. 74

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her eine „Konferenz der bekennenden Gemeinschaften in Deutschland“ als lose Arbeitsgemeinschaft gegründet82, zu der im Übrigen dann auch die sich Mitte der 1960er Jahre auf Anregung ihres Vorsitzenden Fritz Grünzweig in „LudwigHofacker-Vereinigung“ umbenannte „Kirchlich-theologischen Arbeitsgemeinschaft für Bibel und Bekenntnis“ in Württemberg gehörte. Angefügt sei noch, dass es in den Landeskirchen der ehemaligen DDR wohl lediglich in Sachsen zur Gründung einer der „Bekenntnisbewegung“ nahe stehenden Gruppe kam, ohne dass diese jedoch Mitglied der „Konferenz der bekennenden Gemeinschaften“ hätte werden können. Im November 1970 formierte sich aus bereits bestehenden Gruppen pietistischer oder konfessionell lutherischer Prägung eine „Arbeitsgemeinschaft Bibel und Bekenntnis“. Diese trat am 9. Januar 1971 „mit einer programmatischen gottesdienstlichen Veranstaltung“ in der Petri-Kirche in Karl-Marx-Stadt an die Öffentlichkeit83. Ziel auch dieses Zusammenschlusses war es, der „kirchlichen und theologischen Krise“ der Gegenwart entgegenzutreten. Mit der raschen Ausbreitung der „Bekenntnisbewegung“ und der nach Dortmund ungleich größeren öffentlichen Aufmerksamkeit zeigte sich die Notwendigkeit, ein eigenes Kommunikationsmittel ins Leben zu rufen. Anfang Juli 1966 erschien der Informationsbrief Nr. 1 der „Bekenntnisbewegung“, der nach einem Beschluss des geschäftsführenden Ausschusses am 20. Juni die von den Gemeinden nachgesuchten Informationen liefern sollte84. In rascher Folge erschienen diese Informationsbriefe und boten neben Nachrichten aus den angeschlossenen Gruppierungen Berichte über Veranstaltungen, auch Texte und Briefe, mit denen sich Glieder der „Bekenntnisbewegung“ zu Wort meldeten, und grundsätzliche Stellungnahmen zu strittigen und offenen Fragen. Im Übrigen gab auch die Ludwig-Hofacker-Vereinigung ab Januar 1967 einen „Freundesbrief“ unter dem Titel „Lebendige Gemeinde“ heraus, der Wegweisung geben, Informationen vermitteln und Statements bzw. Vorgänge bekannt machen sollte. Zur Mobilisierung und Aufklärung, aber auch zur Glaubensstärkung und Sammlung der Verunsicherten wurden im Gefolge der Dortmunder Veranstaltung weitere, zumeist gut besuchte Versammlungen durchgeführt, so am

82

EBD., S. 25. INFORMATIONSBRIEF 28, S. 26. – In einer der vorgehenden Ausgaben des Informationsbriefes wurde eine am 28.11.1968 in der DDR entstandene Ausarbeitung wiedergegeben, in der angesichts einer „die Kirche des Evangeliums gefährdende(n) Verwirrung oder gar Irreführung“ in sieben Punkten, die sich auf Bibel und Bekenntnisse bezogen, zu zentralen Fragen des Glaubens Stellung genommen worden war (vgl. INFORMATIONSBRIEF 20, S. 4–7; der selbe Text ist ohne weitere Begründung nochmals abgedruckt in: INFORMATIONSBRIEF 26, S. 15–18). Vgl. zur Entwicklung insbesondere nach der „Wende“ von 1989 die Greifswalder Dissertation von Sabine Schröder, Konfessionslose erreichen! 84 Vgl. INFORMATIONSBRIEF 1, S. 1. 83

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4. Oktober 1966 in Kassel mit ca. 4.000 Teilnehmern85, am 9. Oktober 1966 in Siegen mit 10.000 Besuchern86 und am 16. Oktober in Künzelsau mit 1.000 Besuchern87. Aus der ansehnlichen Zahl weiterer Versammlungen88 ist jene, die am 22. November 1967, dem Buß- und Bettag, in Düsseldorf stattfand, herauszuheben. Der Bundesarbeitskreis hatte sich entschlossen, in Düsseldorf ein bekenntnisartiges Wort zu verlautbaren, da – so die Begründung – „immer mehr Gemeindeglieder nach einer eindeutigen Gegenüberstellung verlangten, um zwischen der biblischen Wahrheit und den Irrlehren der heutigen ZeitgeistTheologie unterscheiden zu können“89. Der auf die geltenden Bekenntnisse Bezug nehmende und wie die Barmer Theologische Erklärung aufgebaute Text90 richtete sich „gegen die Ergebnisse der historisch-kritischen Bibelexegese“ und stellte den Heiligen Geist als Erkenntnisprinzip gegen „[d]en Objektivitätsanspruch der historischen Kritik“ heraus91. Mit diesem Text, der gewissermaßen die theologische Basis der Arbeit der „Bekenntnisbewegung“ bildete, erhob die „Bekenntnisbewegung“ den Anspruch in der Tradition der Bekennenden Kirche zu stehen, zumal in der Zeitschrift „Licht und Leben“ ganz unverblümt gesagt werden konnte, man halte die Düsseldorfer Erklärung „für bedeutsamer als die seinerzeitige ‚Barmer Erklärung‘.“92 Zugleich war mit der „Düsseldorfer Erklärung“ unübersehbar der Anspruch formuliert, dass sich die „Bekenntnisbewegung“ als Wächterin des in der evangelischen Kirche vorgeblich in Gefahr befindlichen Bekenntnisses sah und sich damit als Gegenbewegung etablierte, der die Aufgabe zufallen sollte, den Irrwegen und Fehllehren zu widersprechen.

4. Der Streit um die Kirchentage Ein Ort, wo dieser Widerspruch exemplarisch und bei weitem nicht nur kirchenintern, sondern öffentlichkeitswirksam laut wurde, war die Haltung zu den Kirchentagen. Nachdem der Kölner Kirchentag auf entschiedene Ablehnung durch die „Bekenntnisbewegung“ gestoßen war93, wandten sich führende Persönlich85

H. STRATMANN, Evangelium, S. 97. EBD., S. 100f. 87 EBD., S. 101 und „KUNDGEBUNG KÜNZELSAU“. 88 Vgl. H. STRATMANN, Evangelium, S. 133. 89 R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 167. 90 Vgl. EBD., S. 168ff. 91 F. JUNG, Bewegung, S. 104. 92 Nach: H. STRATMANN, Evangelium, S. 136. 93 Keiner der Protagonisten der „Bekenntnisbewegung“ hatte im Übrigen an ihm teilgenommen (vgl. EBD., S. 115, 116–128). 86

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keiten der „Bekenntnisbewegung“ am 29. April 1966 an das Kirchentagspräsidium und die gastgebende Kirche des nächsten Kirchentages, die Evangelischlutherische Landeskirche Hannovers. Nachdem die „beiden letzten Kirchentage […] weitgehend […] dem Geist des ‚modernen Menschen‘ gerecht“ wurden, müssten wieder „Bibelarbeit und biblische Themen […] zur Mitte des Kirchentages werden“94. Ein Kompromiss zwischen „neuem“ und traditionellem Kirchentag sei nicht möglich, dadurch wäre die nötige „Scheidung verleugnet“ und die Menschen „in die Irre“ geführt95. Sollte der Kirchentag hierzu nicht bereit sein, sehe man sich genötigt, „dem Weg des Kirchentages zu widerstehen, und solche Veranstaltungen zu halten, die dem Bekenntnis der Kirche entsprechen. Gespräche zwischen „Bekenntnisbewegung“ und Kirchentagspräsidium am 5. Oktober und 13. Dezember 1966 erbrachten keine Verständigung96, wie ein Schreiben der „Bekenntnisbewegung“ vom 5. Januar 1967 an Kirchentagspräsident Richard von Weizsäcker deutlich macht.97 Gedankt wurde in diesem Schreiben für den Einblick in das Programm in einem Frühstadium der Planungen, doch zugleich der Besorgnis Ausdruck verliehen, „daß auch solche Männer als Referenten vorgesehen sind, deren theologische Aussagen im Widerspruch zu Schrift und Bekenntnis stehen“98. Wenn die Referenten Ernst Käsemann, Willi Marxsen und Heinz Zahrnt nicht durch „bibel- und bekenntnisgebundene“ ersetzt würden, könne man am Kirchentag 1967 weder mitwirken noch für ihn werben99. Ein nachfolgender Briefwechsel zwischen von Weizsäcker100 und Bäumer101 brachte keine Verständigung und führte zu einem expliziten „Nein“ der „Bekenntnisbewegung“ zum Kirchentag in Hannover102 . Ehe auf den Stuttgarter Kirchentag von 1969 eingegangen wird, soll kurz die zwischenzeitliche Entwicklung in Württemberg in den Blick genommen werden. Wie groß die Verunsicherung bei den Kirchengliedern in Württemberg war, zeigt schlaglichtartig das Wahlergebnis des Jahres 1965. Die Synodalwahl im Dezember brachte bei einer Wahlbeteiligung von 35% 103 einen völligen Um94

G. NIEMEIER, Die Evangelische Kirche in Deutschland (1966), S. 145. – Vgl. hierzu H. Z AHRNT, Wahrheit, S. 18f. 95 G. NIEMEIER, Die Evangelische Kirche in Deutschland (1966), S. 146. 96 Vgl. auch einen Hirtenbrief von Landesbischof Hanns Lilje vom 9.6. (G. NIEMEIER, Die Evangelische Kirche in Deutschland [1966], S. 147). 97 Vgl. INFORMATIONSBRIEF 5, S. 4; und H. STRATMANN, Evangelium, S. 118–121. 98 INFORMATIONSBRIEF 5, S. 4. 99 EBD., S. 5. 100 Vgl. G. NIEMEIER, Die Evangelische Kirche in Deutschland (1967), S. 73. 101 Vgl. EBD., S. 74. 102 Vgl. auch das Schreiben Bäumers an den Pfarrer des Kirchentags Gerhard Schnath vom 13.6.1967 – vgl. Sonderdruck des Informationsbriefes; und H. STRATMANN, Evangelium, S. 124. 103 VERHANDLUNGEN DER 7. EVANGELISCHEN L ANDESSYNODE, Beilagenband IV, S. 12.

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bruch: Von den bisherigen 76 Synodalen wurden lediglich zwölf wiedergewählt; unter den Neulingen befanden sich zahlreiche Vertreter des württembergischen Pietismus104, während Vertreter der „modernen“ Theologie kaum zum Zuge kamen105. Ausgehend von der Präsenz der theologisch-konservativen Stimme in Württemberg auf allen Ebenen kirchlichen Lebens, von der Gemeinde über die Pfarrer und Dekane bis hin zum Oberkirchenrat und der Synode verwundert es nicht, dass im Vorfeld des für 1969 in Stuttgart geplanten Kirchentages intensive Anstrengungen unternommen wurden, den Pietismus und die „Bekenntnisbewegung“ wieder zur Mitarbeit zu bewegen106. Da man seitens der Ludwig-Hofacker-Vereinigung und der „Bekenntnisbewegung“ nicht durchzusetzen vermochte, dass im Vorfeld des Kirchentages die „erforderlichen Abgrenzungen“ durchgeführt wurden107, kam man überein, die Auseinandersetzung auf dem Kirchentag selbst auszutragen. Bereits im Herbst wurde dem Präsidenten des Kirchentages signalisiert, eine Teilnahme pietistischer Gruppierungen sei denkbar, wenn die heute „kontroversen […] theologischen Standpunkte offen und unter gleichen äußeren Bedingungen dargelegt werden können.“ Man kam überein, eine schließlich „Streit um Jesus“ genannte zusätzliche Arbeitsgruppe zu bilden, in der Theologen der „modernen“ Theologie und der konservativen Seite über die Bergpredigt diskutieren sollten. Auf die schwierigen, mühsamen und schmerzvollen Verhandlungen im Vorfeld des Kirchentages108 kann hier ebenso wenig eingegangen werden wie auf den Verlauf der drei Vormittagsveranstaltungen, auf denen jeweils zwei Referate – eines aus konservativer, eines aus „moderner“ Sicht – gehalten wurden. Das Resümee von konservativer Seite fiel eindeutig negativ aus: schon in der Schlussdiskussion in Stuttgart hatte Bäumer den die „moderne“ Theologie vertretenden Referenten Alfred Suhl, Günther Klein und Manfred Mezger bescheinigt, sie würden „Irrlehren“ vertreten und gefolgert, sie könnten ihr kirchliches Lehramt „nicht behalten“. 104

Vgl. eine Unterschriftenliste vom September 1967, die 26 Namen aufweist – LEBENDIGE GEMEIN2 vom Januar 1968. – Die Aktivitäten der „Bekenntnisbewegung“ fanden in der Württembergischen Landessynode folglich auch weiterhin große Beachtung: vgl. z. B. Bischofsbericht vom 7.11.1966 (VERHANDLUNGEN 7. EVANGELISCHEN L ANDESSYNODE, Protokollband 1, S. 53ff.). 105 Vgl. H. STRATMANN, Evangelium, S. 65. – Vgl. die zweite Sitzung dieser Landessynode, in der bekannt gegeben wurde, dass sich drei Gruppen gebildet hätten, „Evangelium und Kirche“, „Evangelische Erneuerung“ und „Bibel und Bekenntnis“ – wobei sich in letzterer die Konservativen, oft im Pietismus verwurzelten Glieder der Synode sammelten (VERHANDLUNGEN 7. EVANGELISCHEN L ANDESSYNODE, Protokollband 1, S. 30). 106 Vgl. H. STRATMANN, Evangelium, S. 159–168. 107 LEBENDIGE GEMEINDE 4 vom März 1969, S. 2. 108 Vgl. den Rücktritt des württembergischen Synodalpräsident Oskar Klumpp (H. STRATMANN, Evangelium, S. 160). DE

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Zu den nachfolgenden Kirchentagen der 1970er Jahre hielt die „Bekenntnisbewegung“ Distanz und auch ein Verständigungsversuch im Vorfeld des Nürnberger Kirchentags von 1979 scheiterte: In einem Schreiben vom 24. März 1979 erklärte die „Bekenntnisbewegung“, alle „Hoffnung auf einen eindeutig biblisch orientierten Kirchentag“ sei auch für Nürnberg nicht zu erwarten109 ; im Anschluss an diesen Kirchentag hieß es dann, der Kirchentag sei ein Ort geworden, „an dem versucht werde, aus einer Quelle ‚Süßes und Bitteres fließen‘ zu lassen“110, es werde „nicht nur offene Kritik an biblischen Grundaussagen geübt“, es komme auch zu „lästerlichen Darstellungen und zu einer unglaublichen Entstellung des Heiligen Abendmahls“111. Über die Kritik ging die „Bekenntnisbewegung“ Anfang der 1970er Jahre einen entscheidenden Schritt weiter: sie war nunmehr soweit organisatorisch gefestigt, dass sie – wie bereits 1966 angedeutet – dem Kirchentag eine eigene Veranstaltung vergleichbaren Zuschnittes – wenn auch nur eintägig – entgegenstellen konnte. Im Herbst 1972 gründeten auf Vorschlag von Paul Deitenbeck 18 „Brüder“ den Verein „Gemeindetag unter dem Wort“, der eine Großveranstaltung organisierte, die am Himmelfahrtstag 1973 in Dortmund stattfand. Mit der Bezeichnung dieser Veranstaltung wurde an die während des „Dritten Reiches“ von der Bekennenden Kirche durchgeführten „Gemeindetage“ angeknüpft112 . Unter der Losung „Welch ein Herr! – Welch ein Auftrag!“ war der „Gemeindetag“ vom 31. Mai 1973 auf Erweckung „und theologische Profilierung im weltanschaulichen Wirrwarr der Zeit“ ausgerichtet113. Die große Resonanz ermutigte die Organisatoren, zwei Jahre später im Stuttgarter Neckarstadion einen zweiten Gemeindetag durchzuführen, der nach den Eindrücken, die die Initiatoren bei der 1974 in Lausanne durchgeführten Weltevangelisationskonferenz empfangen hatten, kurzfristig zu einem – so einer der Beteiligten – „strahlende[n] Tag voll Einladung zum Glauben an Jesus und voll Ermutigung zu einem Leben mit Jesus“ umorganisiert wurde114. 1977 gab es den dritten „Gemeindetag unter dem Wort“ erneut in Dortmund – nunmehr mit mehrtägigem Programm. Ab 1978

109

EBD., S. 285. EBD., S. 286; vgl. Jak 3,11. 111 Erklärung vom 26.6.1979 (EBD., S. 286). 112 Vgl. z. B. den rheinischen „Gemeindetag unter dem Wort“, der am 7. und 8.12.1935 in Köln stattfand (Junge Kirche 4, 1936, S. 42). – Für den aktuellen Anlass mag die groß angelegte, von der Deutschen Evangelischen Allianz unter Mitwirkung von Billy Graham durchgeführte europaweite Evangelisation „Euro 70“ ebenso Pate gestanden haben, wie der Europäische Kongress für Evangelisation vom September 1971 in Amsterdam (vgl. F. L AUBACH, Aufbruch, S. 85f.). 113 R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 94. 114 Interview mit R. Scheffbuch, in: L AUSANNER INFORMATIONEN 1/1989, S. 1. 110

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fand der Gemeindetag jeweils in ‚geraden‘ Jahren statt, um dem Rhythmus des Kirchentages auszuweichen115.

5. Organisatorische Diversität und die Frage der Mission Das Jahr 1969 markiert für die konservative Bewegung einen entscheidenden Einschnitt. Zum einen war in diesem Jahr am 31. März ein „Theologischer Konvent Bekennender Gemeinschaften“ ins Leben gerufenen worden, dessen herausragende Protagonisten der schon erwähnte Erlanger Systematiker Walter Künneth sowie der Tübinger Missionswissenschaftlers Peter Beyerhaus waren. Zum andern war die Präsenz der „Bekenntnisbewegung“ auf dem Stuttgarter Kirchentag ein eindeutiges Anzeichen dafür, dass diese Gruppierung nunmehr große Aufmerksamkeit gefunden hatte. Die Ausbildung eigener Strukturen machen erste Ansätze erkennbar, die die „Bekenntnisbewegung“ Ende der 1960er Jahre über die Rolle einer Protestbewegung hinaus zu einer Gruppierung werden ließ, die sich als „Gegenbewegung“ etablierte und sich der Sammlung der verunsicherten Gemeindeglieder verschrieb. Parallel zu dieser Entwicklung setzten 1969 mit der bereits eingangs erwähnten Gründung einer „Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen“ zwei Neuerungen ein. Die Bezeichnung „evangelikal“ sollte sich im Folgenden zunehmend als Sammelbezeichnung für jene Gruppen einbürgern, die sich als theologisch konservativ verstanden und gegen die „Zeitgeist-Theologie“ ihre Stimme erhoben. Zudem wies die Gründung der „Arbeitsgemeinschaft“ auf ein neues Feld, auf dem die konservativ-evangelikale Seite die Notwendigkeit sah, ihr Wächteramt wahrzunehmen: die Mission. Auf der Weltkirchenkonferenz von Neu-Delhi 1961 war der Internationale Missionsrat in den ÖRK integriert worden; das im folgenden entwickelte „Dialog-Programm“ setzte, sehr verkürzt formuliert, auf einen Austausch mit Vertretern anderer Religionen und nicht mehr primär auf Konversion zum Christentum116. Dieser Entwicklung wurde von Seiten der „Bekenntnisbewegung“ eine grundlegende Erklärung entgegengesetzt. Auf seiner dritten Sitzung am 3. und 4. März 1970 verabschiedete der „Theologische Konvent Bekennender Gemeinschaften“ eine „Frankfurter Erklä-

115

Der 11. Gemeindetag fand 2002 im Rahmen des „Christustages“ der württembergischen „LudwigHofacker-Konferenz“ statt; der ursprüngliche Träger dieses Großereignisses scheint nicht mehr in der Lage zu sein, eine solche Veranstaltung durchzuführen. 116 Vgl. H. BÜRKLE, Mission.

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rung zur Grundlagenkrise der Mission“117. Die von Beyerhaus entworfene Erklärung, die „ein weltweites Echo auslösen sollte“118, hielt sieben „unaufgebbare Grundelemente der Mission“ fest. Beispielsweise wurde in Punkt 6 als Irrlehre die Ansicht bezeichnet, „als ob die Religionen und Weltanschauungen auch Heilswege neben dem Christusglauben seien.“119 Zuletzt wandte man sich gegen die „schwärmerische Ideologie“, als ob „unter der anonymen Wirksamkeit Christi in der Weltgeschichte die gesamte Menschheit schon in dieser Weltzeit einem Zustand allgemeinen Friedens und Gerechtigkeit zugehe“ und verwarf nachdrücklich „die Ineinssetzung von Fortschritt, Entwicklung und sozialem Wandel mit dem messianischen Heil und ihre fatale Konsequenz, dass Beteiligung an der Entwicklungshilfe und revolutionärer Einsatz in den Spannungsfeldern der Gesellschaft die zeitgenössischen Formen christlicher Mission seien“120. Die in dieser Erklärung deutlich werdende Position der Evangelikalen zur Mission sollte in den nachfolgenden Jahren einen wichtigen und zentralen Bereich des Engagements abgeben: Insbesondere nach der vom 29. Dezember 1972 bis 12. Januar 1973 in Bangkok durchgeführten Weltmissionskonferenz erhob unter maßgeblicher Federführung von Beyerhaus der Theologische Konvent wiederholt seine Stimme121, und dieses Thema nahm auch in Publikationen evangelikaler Kreise einen breiten Raum ein122 . Eine von Seiten der Ökumene im Vorfeld der für 1975 in Nairobi geplanten fünften Vollversammlung des Ökumenischen Rates nach Berlin einberufene Zentralausschusssitzung nahm die „Konferenz Bekennender Gemeinschaften“ zum Anlass, auf den Himmelfahrtstag 1974 zu einem europäischen Bekenntniskonvent ebenfalls nach Berlin einzuladen. Wiederum legte Beyerhaus einen Text vor, der am 22. Mai als „Berliner Ökumene-Erklärung, Freiheit und Gemeinschaft in Christus“ angenommen und in einem feierlichen Gottesdienst verlesen wurde123. Nur erwähnt seien noch der leidenschaftliche Protest evangelikaler Kreise gegen das vom Ökumenischen Rat im September 1970 aufgelegte „Anti-Rassismus-Programm“ mit seinem Sonderfonds zur finanziellen Unterstützung der Opfer der Rassen-

117

Vgl. Text: R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 203–208 und G. NIEMEIER, Die Evangelische Kirche in Deutschland (1970), S. 81–85. 118 R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 30. 119 EBD., S. 206. 120 EBD., S. 207. 121 Vgl. Frankfurter Stellungnahme zur Weltmissionskonferenz von Bangkok 1973 in: EBD., S. 216f. 122 Vgl. beispielsweise LEBENDIGE GEMEINDE 15 vom Juni 1969 oder auch – um nur ein Beispiel aus der großen Zahl kleiner Schriften zu erwähnen – R. SCHEFFBUCH, Ökumene. 123 Vgl. auch die von Künneth und Beyerhaus am 1.7.1974 erstellte Langfassung (R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 231–254; vgl. zudem W. KÜNNETH /P. BEYERHAUS, Reich Gottes oder R. SCHEFFBUCH, FRAG-würdige Ökumene).

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diskriminierung124 und zwei weitere Themen, die seit Beginn der 1970er Jahre die konservativen Christen zunehmend herausforderten: die geplante Liberalisierung des § 218 sowie die teilweise Freigabe der Pornographie125.

6. „Parallelstrukturen“ Angeführt wurde bereits die 1969 erfolgte Gründung der „Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen“ und die Installierung eines „Theologischen Konvents“, der 1970 vollzogene Zusammenschluss der verschiedenen Gruppierungen in der „Konferenz der Bekennenden Gemeinschaften Deutschlands“ sowie die Einführung eines „Gemeindetages unter dem Wort“ 1973. Doch damit nicht genug! Die 1970er Jahre brachten eine Vielzahl von neuen Organisationen, die im Umfeld der konservativen Gruppierungen ins Leben gerufen wurden und die jeweils an die Seite von bestehenden Einrichtungen der EKD traten – es entstand der Eindruck, als ob von Seiten der Evangelikalen vielfältigste Parallelstrukturen aufgebaut würden. Häufig waren es die pietistisch-konservativen Kreise der württembergischen Landeskirche, die im Übrigen mit der Synodalwahl von 1971 die absolute Mehrheit der Synodalen stellten126, die aktiv wurden und Zeichen setzten. Drei Bereiche seien herausgehoben: Öffentlichkeitsarbeit, Ausbildung und weltweite Diakonie. a) Am 1. August 1971 erschien die erste Auflage eines Informationsdienstes der evangelischen Allianz (idea), dessen Träger neben der evangelischen Allianz der seit 1959 in Wetzlar angesiedelte Evangeliumsrundfunk127 und die Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen war. Idea erschien zunächst unregelmäßig, ab 1972 jedoch wurde eine wöchentliche Ausgabe produziert, die bald zu einem viel beachteten und gelesenen Organ der konservativen Christen wurde. Es war nicht zuletzt dieser „Informationsdienst“, durch den der Begriff „evangelikal“ planmäßig protegiert und in Deutschland bekannt gemacht wurde. b) Führende Vertreter des württembergischen Pietismus und der Evangelischen Sammlung gründeten am 27. Dezember 1969 in Stuttgart einen „Verein 124 Vgl. C. WALTHER, Rassismus; H.-W. HESSLER, Anti-Rassismus; H. ZILLESSEN, Kampf; H.-W. HESSLER, Oekumene; Widerspruch in: R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 226. 125 Vgl. „Diktatur der Schamlosigkeit“ gegen die „Sexwelle“: INFORMATIONSBRIEF 27 vom Dezember 1970, S. 9–12; Einspruch gegen die Freigabe der Pornographie: INFORMATIONSBRIEF 28 vom Februar 1971; vgl. ebenso Schreiben an Politiker wegen Änderung des Strafrechtes: R. BÄUMER /P. BEYERHAUS / F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 297–309; vgl. zudem S. M ANTEI, Nein und Ja, hier bes. z. B. S. 132ff., 247ff. 126 Vgl. R. SCHEFFBUCH, Wie kam’s dazu? 127 Vgl. hierzu F. L AUBACH, Aufbruch, S. 87–90; und F. JUNG, Bewegung, S. 58–60.

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Albrecht-Bengel-Haus“ mit Sitz in Tübingen, der die an der Theologischen Fakultät in Tübingen Studierenden geistlich begleiten und ihnen ein ergänzendes eigenständiges Lehrangebot anbieten sollte. Bereits zum Wintersemester 1970/71 konnte die Arbeit in einem angemieteten und umgebauten Studienhaus mit zunächst elf Zimmern für Studierende aufgenommen werden128. Neben diesen studienbegleitenden Einrichtungen entstanden zwei Institutionen, die eine Alternative zum universitären Theologiestudium bieten sollten: Am 4. Oktober 1970 wurde in Basel die „Freie Evangelisch-Theologische Akademie“ eröffnet129 und 1974 nahm in Seeheim die von dem amerikanischen Missionar Cleon Rogers initiierte „Freie Theologische Akademie“ ihre Arbeit auf, die 1981 nach Gießen verlegt wurde130. c) Hingewiesen sei zuletzt auf die 1977 in Stuttgart erfolgte Gründung der Organisation „Hilfe für Brüder“, die ab 1980 gezielt die Förderung „evangelistischer Projekte einheimischer Kirchen in der Dritten Welt“ übernahm und damit eine Aufgabe, die nicht den Förderrichtlinien der Aktion „Brot für die Welt“ entsprach131. Wie „Brot für die Welt“ zielte „Hilfe für Brüder“ auf „Hilfe zur Selbsthilfe“ und fand 1985 eine Ergänzung durch den Verein „Christliche Fachkräfte International“, der „beruflich qualifizierte Christen als Entwicklungshelfer in Einrichtungen von Kirchen und Missionen im Bereich der weltweiten Evangelischen Allianz“ entsenden wollte132 .

7. Resümee Die konservativen Kräfte und insbesondere die „Bekenntnisbewegung“ sahen sich in der Tradition der Bekennenden Kirche133. Dies wird nicht nur durch die Wahl der Bezeichnungen „Bekenntnisbewegung“ oder „Gemeindetag unter dem Wort“ deutlich, auch Texte wie die Düsseldorfer Erklärung134 weisen Parallelen zur Barmer Theologischen Erklärung auf. Bereits Frey hatte in seinem Schreiben 128 Vgl. LEBENDIGE GEMEINDE 7 vom Februar 1970, S. 7f., LEBENDIGE GEMEINDE 11 vom November 1971, S. 7; und F. JUNG, Bewegung, S. 142. – Weitere Studienhäuser entstanden 1982 in Heidelberg, Friedrich-Hauß-Zentrum, und Mainz, Spener-Haus (vgl. F. JUNG, Bewegung, S. 143). 129 INFORMATIONSBRIEF 27 vom Februar 1971, S. 15; vgl. auch EBD. 24 vom April/Mai 1970, S. 7f.; und www.sthbasel.ch. 130 Vgl. R. SCHERER, Christen, S. 30f. und www.fta.de. 131 R. SCHERER, Christen, S. 65. 132 EBD., S. 66. 133 Ernst Käsemann sah in dieser Inanspruchnahme des Erbes der Bekennenden Kirche „eine ungewöhnliche Provokation“ (E. K ÄSEMANN, Ruf, S. 9). 134 Vgl. oben S. 338, Text: R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 167–170; oder auch das Wuppertaler Bekenntnis: EBD., S. 138–143.

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an die Kirchenleitungen von 1950 darauf verwiesen, dass wenn der „hinter uns liegende Kampf der Kirche gegen das Deutsch-Christentum […] ein wirklicher Glaubens- und Bekenntniskampf gewesen sein soll, dann ist die Kirche […] doch am Zentralpunkt ihres Bekenntnisses zum Widerspruch und Bekennen gerufen – nämlich wenn die Person unseres Herrn Jesus Christus, seine Auferstehung angetastet wird“135 und in seiner Geschichte der „Bekenntnisbewegung“ sah er vom Kölner Kirchentag 1965 dieselbe Wirkung ausgehen wie von der „Sportpalastkundgebung“ im November 1933136. In einer „Vom ersten zum zweiten Kirchenkampf“ betitelten Einführung zu einer 1980 erschienen Dokumentensammlung zum Weg der „Bekenntnisbewegung“ unterstrich Rudolf Bäumer bibel- und bekenntnistreue Christen hätten „Deiche gegen die fremdgeistige Überflutung der Kirche“ errichtet und wie 1934 in Barmen die Irrlehren der Deutschen Christen „auf der Grundlage der Schrift […] unter ausdrücklicher Benennung verworfen“ wurden, so galt es die Lehre und Theologie Bultmanns und seiner Schüler zurückzuweisen137. Trotz einem in der Osterzeit 1970 von der „Bekenntnisbewegung“ veröffentlichten emphatischen Aufruf zur „Sammlung aller Christen […], welche den Ernst dieses Kirchenkampfes erkennen und die Losung des ersten Kirchenkampfes der Dreißiger Jahre […]: ‚Kirche muß Kirche bleiben!‘“ aufnehmen wollen und trotz der Aufforderung, „Widerstandszentren“ und „eine Angriffsfront gegen die Entstellung der christlichen Botschaft und der christlichen Lebensformen zu bilden“138, kam es weder zur Installierung einer Gegenkirchenleitung139 noch zur Separation von der verfassten Kirche140. Durch die Sammlung der Gemeindeglieder und Theologen entwickelte sich die evangelikale Bewegung in den 1970er Jahren allerdings zu einer Gegenbewegung zur vorgeblich verderbten Kirche141. Unterstrichen wurde das Bewusstsein, in einem zweiten Kirchenkampf zu stehen durch die Qualifizierung der theologischen Auseinandersetzung als Gefährdung des Bekenntnisses der Kirche. Insbesondere die Christologie sah man durch die „moderne“ Theologie entleert: Wenn Jesus „bloßer Mensch“ sein sollte, der sich „nicht bewusst“ für die Menschen „geopfert“ hatte, und wenn „die 135

EZA BERLIN, 2/1792. H. FREY, Geschichte, S. 10 – vgl. zur Sportpalastkundgebung: K. SCHOLDER, Kirchen Bd. 1, S. 702–706. – Vgl. auch Äußerungen Künneths („K EIN ANDERES EVANGELIUM“ Broschüre, S. 19) oder den Beitrag von H. JOCHUMS, Barmen, S. 55–64. 137 R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 15–22; Zitate: EBD., S. 16, 19. 138 EBD., S. 125. 139 Etwa in Analogie zur „Vorläufigen Kirchenleitung“ unter Landesbischof August Marahrens (vgl. G. BESIER, Kirchen, bes. S. 38ff.). 140 Vgl. F. JUNG, Bewegung, S. 22f., 148–151, 206. 141 Lediglich in Hamburg kam es zur Gründung einer Freikirche, der von Pastor Wolfram Kopfermann 1988 ins Leben gerufenen „Anskar-Kirche“ (vgl. www.anskar.de/; und F. JUNG, Bewegung, 158f.). 136

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Verkündigung vom Sühnetod als eine zeitgebundene Einkleidung der Heilsbotschaft verstanden“ werde, dann stehe das Zentrum des christlichen Glaubens auf dem Spiel142 . Wenn sich Christus zudem auch noch „anonym […] in den Fremdreligionen“ offenbare und deshalb Menschen ihm auch „ohne die direkte Kunde des Evangeliums hier begegnen“ können143, dann war das reformatorische „solus Christus“ preisgegeben. Durch die Entmythologisierung bleibe, so ein zweiter Argumentationsstrang, nur noch ein „Trümmerhaufen menschlicher Philosophie“ übrig144. Wo gelehrt werde, dass „das Wort der Bibel […] Gottes Wort mit Menschenwort vermischt“ enthalte, werde der „Offenbarungsglaube der Heiligen Schrift als der alleinigen Autorität geleugnet“145. Die Preisgabe des „sola scriptura“ bewirke eine „Aushöhlung der Kirche“, die festzustellende „Akzentsetzung auf ‚politische Bildung‘ sowie auf ‚Probleme der Gesellschaft‘ und einer weltumspannenden Humanität“ führe zu einer „Ersetzung der evangelischen Botschaft“146. Die Vertreter der konservativen Kreise, die für sich entschieden ein „Wächteramt“ reklamierten147, betonten immer wieder, man sehe sich einem klaren „Entweder-Oder“ gegenüber148. Bereits 1961 konnte daher der „Bethel-Kreis“ in einer Eingabe an die Synode der EKD davon sprechen, „dass der status confessionis eingetreten“ sei149. Die Opponierenden forderten zunächst die Kirchenleitungen auf, den ausufernden Pluralismus in der Kirche in die Schranken zu weisen und klare Abgrenzungen vorzunehmen. Da „die Kirche kein Sprechsaal für die verschiedensten Meinungen“ sei150, müssten Grenzlinien gezogen werden, wo die Christusbotschaft umgedeutet und ein „mit Hilfe autonom gehandhabter wissenschaftlicher Methoden erarbeiteter ‚rechter Christus‘ an die Stelle des biblisch bezeugten Christus treten“ solle151. Die als halbherzig und vage erachteten Stellungnahmen der Landeskirchen152 wurden als nicht ausreichend angesehen, um die als bedrohlich empfundene Entwicklung aufzuhalten. Die Konservativen lehnten 142

R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 169. EBD., S. 205. 144 EBD., S. 128. 145 EBD., S. 129; vgl. auch G. NIEMEIER, Die Evangelische Kirche in Deutschland (1961), S. 211. 146 R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 123f. 147 Vgl. G. NIEMEIER, Die Evangelische Kirche in Deutschland (1961), S. 61. 148 Vgl.: „Entweder unsere Glaubensgewißheit ruht auf dem Wort …[o]der wir müssen heute erst einmal feststellen, was nun eigentlich in der Bibel vom Heiligen Geist geschrieben ist und was nicht“ (R. BÄUMER /P. BEYERHAUS /F. GRÜNZWEIG (Hg.), Weg, S. 128); vgl. auch Künneth in der Dortmunder Großveranstaltung, in: „K EIN ANDERES EVANGELIUM“ Bericht, S. 40. 149 G. NIEMEIER, Die Evangelische Kirche in Deutschland (1961), S. 64. 150 EBD., S. 60. 151 EBD., S. 63. 152 Vgl. z. B. ein Votum der lippischen Synode vom 25.11.1963 (G. NIEMEIER, Die Evangelische Kirche in Deutschland [1963], S. 41). 143

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den Pluralismus in der Kirche mit aller Entschiedenheit ab153, dennoch ist zu beobachten, dass diese Haltung mit der Zeit insoweit konterkariert wurde, als dass die Evangelikalen selbst zu einem Teil der pluralen Kirche wurden. In den Aktivitäten der konservativen Kreise ist eine deutliche Entwicklung erkennbar: Stand zunächst der Einspruch von Einzelpersonen oder kleiner lokal begrenzter Gruppierungen gegen die vorgeblich irreführende Theologie Bultmanns und seiner Schüler im Mittelpunkt und appellierte man daher an die Kirchenleitungen, so suchte man in der zweiten Phase ab 1960 – nunmehr auch unter zunehmendem Einfluss der von Billy Graham in Europa durchgeführten Evangelisationen – nicht nur die „richtige“ Lehre öffentlichkeitswirksam und pointiert herauszustellen, sondern man begann damit, verunsicherte Menschen zu sammeln. In einer dritten Phase schließlich bildeten sich ab 1966 in praktisch allen Landeskirchen vielfach miteinander vernetzte Organisationen, die neben dem Protest nun vor allem die „bibelgläubige“ Gemeinde sammelten und in Großveranstaltungen glaubensstärkend und Orientierung vermittelnd wirken wollten. Als Arbeitsfelder der verfassten Kirche als „verderbt“ erschienen, wurden ab 1969 Organisationen etabliert, die parallel zu vorfindlichen Einrichtungen arbeiteten: Im Bereich der Mission, des Pressewesens, des Studiums, der weltweiten Diakonie und des Kirchentages markierten evangelikale Projekte einen Gegenpol. Dass die evangelikale Bewegung nur temporär und partiell eine „Gegenbewegung“ werden konnte, hängt mit ihrer Disparität zusammen: Einerseits auf die Wahrung des Bekenntnisses bedachte, andererseits vornehmlich missionarischevangelistische Gruppen, einerseits in deutlicher Distanz zu den Landeskirchen stehende Kritiker, andererseits fest in die Landeskirchen eingebundene zumeist dem Pietismus zugehörende Persönlichkeiten. Gemeinsam bildeten sie eine „Abwehrbewegung“ und erlangten „durch gemeinsame Gegner [… eine] geschlossene Schlagkraft“154. Um jedoch den Weg in die Freikirche zu gehen, fehlte eine tiefere Einheit. Da sich die Evangelikalen der „Relevanz der tiefreichenden Fragestellungen der Neuzeit“ weitgehend verschlossen und meinten, weiterhin an „einem angeblich unwandelbaren Kernbestand dogmatischer Sätze“ festhalten zu sollen155, und zudem die Bibel als Wort Gottes dem historisch-kritischen Zugriff entzogen sehen wollten, verloren sie mit dem Rückgang des traditionellen protestantischen Milieus im Zuge des gesellschaftlichen Wandels zunehmend an Bedeutung. 153

Vgl. z. B. „Der Irrweg des kirchlichen Pluralismus“ in: LEBENDIGE GEMEINDE 21 vom September 1976, S. 2–6. 154 So Erich Geldbach nach: F. JUNG, Bewegung, S. 207. 155 M. M ARQUARDT, Strukturen, S. 96.

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Schlussdiskussion mit Tagungsberichten von Hartmut Lehmann und Detlef Pollack bearbeitet von Tim Lorentzen

Bereits die Anlage der Tagung ließ einen Aspektreichtum erwarten, der an ihrem Ende klug gebündelt werden müsste, um die Erträge für künftige Projekte sinnvoll auswerten zu können. Von Anfang an bestand deshalb der Plan, zwei Beobachter einzuladen, die auf der Grundlage ihrer Eindrücke einen Schlussbericht geben könnten. Für diese Aufgabe war im Vorfeld bewusst auf konkrete Absprachen verzichtet worden, wie Herr Oelke zu Beginn der Sektion erläuterte: „Es sollte nicht darum gehen, Ihnen zu sagen, woran uns liegt – das hätte ohnehin keinen Zweck bei zwei so selbständigen Denkern.“ Mit Hartmut Lehmann (Göttingen) und Detlef Pollack (Frankfurt/Oder) waren zwei interdisziplinär kompetente Tagungsbeobachter gewonnen worden, die mit ihren Berichten nicht nur eine lebhafte Diskussion anzuregen vermochten, sondern darüber hinausgreifend für die künftige Weiterarbeit am Thema forschungsleitende Grundbegriffe, Interpretamente und Periodisierungsvorschläge bereitstellten. Umso hilfreicher war dies, als der Aspektreichtum der Tagung nach Bekunden etlicher Teilnehmer die Erwartungen noch weit übertraf. Herr Lehmann gab als erster seinen Bericht. HARTMUT LEHMANN: Wie immer man den Begriff Säkularisierung definiert, als Privatisierung und Individualisierung von Religion oder auch als Marginalisierung von Kirche, Frömmigkeit und Theologie, und wie immer man den Prozess der Säkularisierung im Kontext der politischen, sozialen, kulturellen und geistigen Transformationen seit dem 18. Jahrhundert begreift, kaum ein Zweifel kann daran bestehen, dass im Rahmen der Geschichte des neueren Protestantismus in Deutschland die Jahrzehnte von etwa 1960 bis etwa 1980 als die Phase des Durchbruchs einer akzelerierten Säkularisierung angesehen werden müssen. Trotz Kirchenkampf, totalem Krieg und Nachkriegsrestauration waren die protestantischen Kirchen

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in den Jahrzehnten vorher noch ein starker Akteur im öffentlichen Leben. In den Jahrzehnten seither, von den 1980er Jahren bis ins neue Jahrtausend, klafft dagegen ein immer größerer Widerspruch zwischen dem Anspruch der Kirchen auf öffentliche Anerkennung und deren tatsächlichem Einfluss. Diese Beobachtung soll von drei Aspekten aus weiter erläutert werden. 1. Entkirchlichung: Seit den 1960er Jahren häufen sich im deutschen Protestantismus die Krisenzeichen. Der Kirchgang ist rückläufig und der Besuch des Abendmahls ebenso. Das Interesse am Pfarrerberuf lässt ebenso nach wie das Interesse junger Menschen am CVJM und an den Studentengemeinden in den Universitäten. Selbst die Zahl der Kinder, die von ihren Eltern getauft werden und die Zahl der Eheschließungen, die in der Kirche gefeiert werden, begannen damals zurückzugehen. Stabil blieb zunächst nur die Zahl der kirchlichen Beerdigungen. Die entsprechenden Zahlen sind weitgehend bekannt. Es gilt jedoch, diese Zahlen noch viel genauer zu interpretieren, als dies bisher geschehen ist. So wäre es höchst aufschlussreich, wenn man das Zahlenmaterial aus dem kirchlichen Bereich korrelieren würde mit Informationen über den tief greifenden Wandel der Lebensverhältnisse in jenen Jahren: Mit dem Besitz von Automobilen beispielsweise und der Zunahme der Zahl und der Entfernung von Ausflugszielen an Wochenenden und speziell mit der Zahl der Ausflüge, die am Sonntagvormittag zur Zeit des Gottesdienstes unternommen wurden; mit dem damals rapide ansteigenden Besitz von Fernsehgeräten und mit den Programmen, die zur Zeit der Gottesdienste ausgestrahlt wurden; mit der Organisation von Sportveranstaltungen an Sonntagen, auch am Sonntagvormittag, wobei Sportveranstaltungen für Jugendliche besonders berücksichtigt werden sollten; mit der Zunahme der Zahl von Fernreisen und Urlaubsreisen in andere Länder und damit mit der längeren Abwesenheit vom kirchlichen Leben zu Hause; schließlich auch mit der Zunahme von Wochenendarbeit nicht nur bei der Bahn und anderen notwendigen öffentlichen Diensten, sondern auch in der Industrie, im Fremdenverkehr und im Tourismus. Wenn ich mich nicht täusche, entstand in den 1960er und 70er Jahren ein neues Lebensgefühl, das Lebensgefühl einer zunehmend von Affluenz geprägten Freizeitgesellschaft, in der das Wochenende zu allen möglichen Aktivitäten benützt wurde, nur nicht zum Kirchgang und damit zur Teilnahme am kirchlichen Leben in der Gemeinde am Ort, an dem man lebt. Während die nominelle Kirchenzugehörigkeit in den 1960er Jahren vergleichsweise langsam zurückging, verzeichnete das aktive Gemeindeleben dramatische Einbrüche. Diese Einbrüche gilt es zu verstehen. Die Folgen gilt es zu erklären. Kirchenleitungen und Pastoren reagierten schon in den 1960er Jahren auf vielerlei Weise auf die Veränderungen. Von den Kirchenleitungen, die damals noch über vergleichsweise gute Finanzen verfügen konnten, wurden neue Stellen

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für neue Dienste geschaffen, durch die gezielt Defizite im kirchlichen Angebot ausgeglichen werden sollten. Pastoren experimentierten in Gottesdiensten mit neuen Liedern und mit moderner Musik, um auf diese Weise die Jugendlichen zurückzugewinnen. Das führte freilich dazu, dass, wenn solche Experimente erfolgreich waren, ältere Gemeindemitglieder den Gottesdiensten fern blieben. Die Reaktionen auf die zu Recht als Krise verstandene Entkirchlichung verstärkten auf diese Weise ihrerseits die Krise. 2. Polarisierung: Von der Pluralisierung des kirchlichen Lebens führte in den 1960er und 70er Jahren in vielen Gemeinden ein direkter Weg hin zur Polarisierung und nicht selten bis hin zur Entzweiung. Ganz unterschiedliche Themen erhitzten die Gemüter. Die Mitglieder der Vertriebenenverbände, zu denen viele evangelische Christen gehörten, fühlten sich von der 1965 publizierten Ostdenkschrift der EKD betrogen. Sie wollten das Recht auf ihre alte Heimat nicht aufgeben und lehnten deshalb den Versuch der EKD, Wege zum Frieden mit den östlichen Nachbarn Deutschlands zu finden, strikt ab. Aus den Kreisen der Vertriebenenverbände kamen auch die entschiedensten Gegner der neuen Ostpolitik von Willy Brandt. Konservative Kirchenmitglieder lehnten die Frauenemanzipation und die Pläne zur Einführung der Frauenordination strikt ab. Sie hielten auch nichts von der neuen Kirchenmusik. Die neue Sexualmoral, die von einigen evangelischen Pastoren gutgeheißen wurde, war für sie ein Greuel. Schuld an den neuen Entwicklungen war für viele der konservativen evangelischen Christen aber vor allem die neue kritische Theologie. Schon in den 1960er Jahren machten konservative Kirchenvorstände an vielen Orten jungen Pastoren, die an Universitäten wie Tübingen und Marburg in die neue kritische Theologie eingeführt worden waren, das Leben schwer. Dazu kam, dass sich der Generationenkonflikt über die Frage, wie sich die Älteren denn in den Jahren vor 1945 verhalten hatten, schon im Jahrzehnt vor 1968 immer mehr verschärfte. Drei eng miteinander zusammenhängende Folgen der Polarisierung gilt es festzuhalten: (1.) Mitte der 1960er Jahre etablierten sich die Evangelikalen als eine innerkirchliche Sammelpartei für alle, die die neuen Formen und die neuen Wege im kirchlichen Leben strikt ablehnten. (2.) Es gelang sowohl auf Gemeindeebene, aber auch auf kirchenleitender Ebene in den 1960er Jahren immer weniger, Brücken, haltbare und belastbare Brücken zwischen den divergierenden Gruppen zu bauen. (3.) Die Polarisierung wirkte somit direkt auf den Prozess der Entkirchlichung zurück: Denn diejenigen, die sich nicht mehr verstanden und nicht mehr angemessen vertreten fühlten, blieben zu Hause oder suchten eine neue religiöse Heimat.

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In diesem Zusammenhang gilt es, die Wanderung von evangelischen Christen aus den etablierten Kirchen nicht nur in die Kirchenferne, sondern hin zu den Freikirchen im Einzelnen zu untersuchen. Zu klären wäre dabei zunächst, ob und auf welche Weise die Probleme, die den etablierten Kirchen Schwierigkeiten machten, auch die auf dem Prinzip der Freiwilligkeit aufgebauten Freikirchen belasteten, also etwa die Frage der Frauenordination, die neue Kirchenmusik und die neue Sexualmoral. Zu klären wäre ferner, ob die älteren Freikirchen wie die Methodisten, Baptisten und Adventisten Zulauf aus den Landeskirchen erhielten, oder ob im freikirchlichen Bereich in jenen Jahren attraktive neue religiöse Gruppierungen entstanden. Ob und auf welche Weise bereits in den 1960er und 70er Jahren von Seiten einiger Freikirchen bewusst Missionsarbeit zu Lasten der etablierten Kirchen organisiert wurde und ob diese Bemühungen Erfolg hatten, wäre schließlich ebenfalls zu untersuchen. 3. Entkonfessionalisierung: Schon in den 1950er Jahren wurde in ganz Deutschland die traditionelle kirchliche Landschaft, so wie sie mit wenigen Verschiebungen seit 1555 und dann seit 1648 bestanden hatte, durch die Aufnahme von Flüchtlingen aus den Ostgebieten drastisch verändert. Im Bereich des kirchlichen Lebens war die Zunahme von so genannten Mischehen die wohl gravierendste Folge. „Ökumenische“ Eheschließungen waren in den 1960er Jahren aber noch nicht möglich, auch wenn die Ehepartner gerne eine „ökumenische“ Hochzeitsfeier gehabt hätten. Wer kirchlich heiraten wollte, musste dies also in der katholischen Kirche tun, verbunden mit dem Versprechen, die Kinder dann im katholischen Glauben zu erziehen. Dass die steigende Zahl von Mischehen auch zur Entkirchlichung beitrug, scheint mir unbestritten. Entsprechende Untersuchungen sind mir aber nicht bekannt. Wenn sich beispielsweise der evangelische Teil einer Mischehe in der katholischen Kirche nicht wohl fühlte und wenn der katholische Teil in einer Mischehe mit Kirchenstrafen bedroht wurde, wenn er regelmäßig in den evangelischen Gottesdienst ging, dann lag es nahe, dass sich beide Partner, wenn sie nicht ihre eigene und persönliche Form des Ökumenismus praktizierten und abwechselnd die Gottesdienste beider Kirchen besuchten, auf ein Leben in Distanz zu beiden Großkirchen einigten. Von beiden Kirchen, vor allem aber von der katholischen Kirche wurde in jenen Jahren – und mit wenigen Ausnahmen bis heute – versäumt, den christlich gesinnten Partnern in einer Mischehe Mut zu machen mit dem Hinweis, sie praktizierten die Form der Ökumene, die die großen Kirchen ihrerseits anstrebten. Die Bezeichnung einer Mischehe als „konfessionsverbindende Ehe“ kam erst sehr viel später auf. Umfassende Untersuchungen, wie viele dieser Ehen in den 1960er Jahren geschlossen wurden und wie sich die Partner kirchlich orientierten, wären dringend notwendig.

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Speziell im akademischen Bereich wurde die Entkonfessionalisierung in den 1960er und 70er Jahren und auch seither durch einen weiteren Faktor nachhaltig verstärkt: durch Austauschprogramme, die junge Leute in fremde Länder führten, in denen sie, wenn sie es denn wollten, mit anderen Kirchen in eine enge Verbindung kommen konnten. Mir ist kein Austauschschüler und kein Austauschstudent, der in die USA ging, bekannt, der nicht den Gottesdienst in einer der amerikanischen Denominationen besuchte: bei Baptisten oder Methodisten, bei Presbyterianern oder Kongregationalisten, bei Episkopalisten oder Quäkern, bei Unitariern oder auch bei den auf ihre eigene Weise von Rom durchaus selbständigen amerikanischen Katholiken. Diese Erfahrungen führten zu einer Horizonterweiterung, auch und gerade in konfessioneller Hinsicht und in der Regel mit dem Ergebnis einer Relativierung enger konfessioneller Bindungen und Sichtweisen. Wer in jenen Jahren ins Ausland ging, wurde fast ohne Ausnahme auch noch auf eine andere Weise gefordert: Junge Deutsche mussten sich der Frage nach der deutschen Schuld stellen. Dadurch entstanden, wenn ich mich nicht täusche, zumindest im Hinblick auf moralische Fragen und möglicherweise auch im Hinblick auf kirchliche Bindungen, neue Prioritäten. Für die meisten, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzten, dürfte dadurch ihre primäre konfessionelle Bindung relativiert worden sein. In diesem Zusammenhang wäre es interessant zu wissen, wie viele Mitglieder der Politischen Nachtgebete entsprechende Erfahrungen im Ausland gemacht hatten. 4. Forschungsperspektiven: Wenn sich die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte in den kommenden Jahren der Erforschung der Veränderungen im deutschen Protestantismus unter dem Einfluss neuer sozialer Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren zuwendet, dann ist eine Konzentration auf solche Themen notwendig, die besondere Einblicke in Ursachen, Art und Umfang der religiösen Transformationen in jener Epoche gewähren. Anders formuliert: Es kommt dann darauf an, sich auf jene Vorgänge zu konzentrieren, durch die Zeittypisches erkannt werden kann. Außerdem dürfte es sinnvoll sein, zwischen solchen Themen zu unterscheiden, die sinnvollerweise auf Tagungen erhellt und vertieft werden sollten und anderen Themenbereichen, bei denen die Erschließung des Quellenmaterials im Vordergrund steht. Zur ersten Kategorie eignen sich, wie mir scheint, die von mir oben genannten Stichworte als Leitthemen: So könnte es sich lohnen, die Prozesse der Entkirchlichung, der innerkirchlichen Polarisierung sowie auch der Entkonfessionalisierung in längerfristiger Perspektive zu untersuchen. Denn wenn auch klar zu sein scheint, dass sich diese Prozesse in den 1960er und 70er Jahren mit gravierenden Folgen für den deutschen Protestantismus zuspitzten, so ist ebenso klar, dass es für

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alle drei Problembereiche eine lange Vorgeschichte gibt, die teilweise über das 19. Jahrhundert zurück in das 18. Jahrhundert reicht. Es versteht sich von selbst, dass der Blick dabei über die deutschen Verhältnisse hinaus gerichtet werden sollte, da Entkirchlichung, innerkirchliche Pluralisierung mit der Tendenz zur Polarisierung und auch die Entkonfessionalisierung keinesfalls ausschließlich deutsche Phänomene waren. Gezielt angesetzte Vergleichsstudien würden helfen, dass die spezifischen deutschen Vorgänge besser eingeordnet werden können. Neben Beiträgen aus dem Bereich der allgemeinen Geschichtswissenschaft dürften auch Beiträge aus der Philosophie-, der Literatur- und der Kunstgeschichte besonders aufschlussreich sein. Auf diese Weise könnten die Transformationen, die den Protestantismus betrafen, mit den Veränderungen in der allgemeinen Kultur- und Sozialgeschichte in eine sinnvolle Verbindung gebracht werden. Die Frage, welche Quellenbestände für ein besseres Verständnis der Lage des deutschen Protestantismus in den 1960er und 70er Jahren besondere Aufschlüsse geben, ist nicht einfach zu entscheiden. Denn auf viele Veränderungen (und deren archivalischen Niederschlag) könnte man mit guten Argumenten den Blick richten. Vier Vorgänge scheinen mir aus unterschiedlichen Gründen aber besonderes Interesse zu verdienen: Erstens die Akten, die den langen, kontroversen und in den einzelnen Landeskirchen sehr unterschiedlich verlaufenden Weg hin zur Gleichberechtigung von Frauen im Pfarramt betreffen. Das ist ein Vorgang von elementarer Bedeutung, von einer Bedeutung zudem, die weit über den deutschen Protestantismus hinausreicht. Zweitens würde es sich lohnen, die Akten zur Geschichte der Politischen Nachtgebete zu sammeln und zu erschließen. Denn bei dieser außergewöhnlichen Unternehmung kann auf exemplarische Weise der Zusammenhang zwischen neuen sozialen Bewegungen, politischen Veränderungen und religiösem Engagement demonstriert werden, bei dem konfessionelle Bindungen relativiert wurden und politischmoralische Themen eine übergeordnete Priorität erhielten. Drittens könnte es sinnvoll sein, auch das Material zu den Kirchentagen jener beiden Jahrzehnte zu sichten, zu sammeln und, wenn schon nicht komplett, so doch in einer Auswahl zu publizieren. Denn im Zusammenhang mit den Kirchentagen entstand ein neuer Typ des protestantischen Christen: der Kirchentagschrist beziehungsweise die Kirchentagschristin, wenn ich sie so bezeichnen darf. Kirchentagschristen waren für soziale Probleme ebenso aufgeschlossen wie für neue Formen der Spiritualität, sie hatten häufig aber nur eine eher lose Bindung an ihre Heimatgemeinde, deren Gottesdienste sie nur sporadisch besuchten, während sie keinen Kirchentag versäumten. Viertens schließlich verdienen die Aktenbestände, die das Verhältnis der deutschen Kirchen in den 1960er und 70er Jahren zu den Jungen Kirchen in Afrika, Lateinamerika und Asien betreffen, besonderes In-

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teresse. Ganz abgesehen davon, dass Christen aus diesen Kontinenten seit den 1980er Jahren in zunehmender Zahl nach Deutschland gekommen sind und es sinnvoll und notwendig ist, mehr über ihre Geschichte zu wissen, können diese Materialien in das elementare Spannungsverhältnis zwischen notwendiger Entwicklungshilfe für die Jungen Kirchen auf der einen Seite und die bis in die 1960er Jahre im alten und, wie man glaubte, bewährten Sinne fortgeführten Missionsbemühungen auf der anderen Seite Einblick gewähren. Dass in den 1980er und 90er Jahren und dann seit der Jahrhundertwende auch für den deutschen Protestantismus neue Problemkonstellationen in den Vordergrund traten, ist unbestritten. Die Erforschung dieser Vorgänge ist zu gegebener Zeit in Angriff zu nehmen. Eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg dieser Bemühungen ist aber der erfolgreiche Abschluss jener Projekte, die Einblick in die tief greifenden Veränderungen in den 1960er und 70er Jahren gewähren können. DETLEF POLLACK1 : Meine Damen und Herren, ich möchte zunächst meinen tiefen Respekt vor dem, was die Historiker hier vorgetragen haben, Ausdruck verleihen. Wir haben differenzierte, detailgetreue und materialreiche Studien gehört, und ich habe viel daraus gelernt. Ich werde meine Bemerkungen aus der Sicht eines Soziologen formulieren, der seine historische Kompetenz mehr in den ostdeutschen Gliedkirchen der EKD hat und nicht so sehr vertraut ist mit der westdeutschen Kirchengeschichte. Ich denke, es war eine kluge Idee der Organisatoren dieser Tagung, Fachkompetenz aus unterschiedlichen Disziplinen einzukaufen, und ich fand es auch recht pfiffig, zugleich zwei Beobachter zu bestellen, die dann versuchen sollen, die verschiedenen Perspektiven zu bündeln und zu strukturieren und danach zu fragen, wie, ausgehend von den vorgetragenen Papieren, ein Forschungsprogramm zu dem uns hier interessierenden Thema aussehen kann. Ich verstehe meine Bemerkungen jetzt genau in diesem Sinne. Insgesamt würde ich sagen, dass man – wie auch Herr Lehmann formuliert hat – ein stärker problemorientiertes Herangehen wählen sollte. Was sind in meinen Augen die zentralen Probleme, um die es gehen sollte? Ich sehe vier Problemfelder. Erstens: Was wenig zur Sprache kam, sind methodologische Fragen. Zweitens: Ich glaube, dass es wichtig ist, forschungsleitende Fragestellungen zu entwickeln. Drittens spielte in einzelnen Vorträgen zwar die Frage eine Rolle, wie man die infrage stehende Zeitspanne eigentlich periodisieren kann. Sie wur1

Eine erweiterte Fassung des Diskussionsbeitrages ist abgedruckt in: Mitteilungen der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte 24, 2006, S. 103–125.

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de dann aber nicht eigens thematisiert. Probleme der Periodisierung müssen den Historiker indes zentral beschäftigen. Viertens: Was sind denkbare theoretische Leitannahmen, die die Arbeit bestimmen können? Herr Lehmann hat mögliche Themen der wissenschaftlichen Arbeit formuliert. Aber was sind eigentlich die Interpretamente, die theoretischen Leitideen, mit denen wir arbeiten können? Ich werde nicht alles hier vortragen können, was ich auf meinem Stichwortzettel notiert habe. 1. Zunächst zwei Bemerkungen zu den methodologischen Fragen: Erstens denke ich, dass der Zeitzeugenbefragung ein größeres Gewicht gegeben werden sollte. Das wurde ja von Herrn Schultze bereits angemahnt in Bezug auf die DDR-Verhältnisse. Da ist es ohnehin unumgänglich, aber auch in Bezug auf die Verhältnisse im Westen Deutschlands könnten Zeitzeugenbefragungen hilfreich sein, um wertvolle Informationen einzuholen, atmosphärische und biographische Hintergründe zu erhellen, Weltdeutungs-, Diskurs- und Argumentationsmuster herauszufinden usw. Wir haben diese Zeitzeugen noch, und es wäre eigentlich eine verschenkte Gelegenheit, wenn wir sie nicht befragten. Zweiter Punkt, auch schon von Herrn Lehmann benannt: Zentral bei der Beschäftigung mit diesem Thema, denke ich, sollte sein, dass man die Studien und Analysen vergleichend anlegt, international vergleichend, aber auch innerhalb Deutschlands regionale Vergleiche anstrebt oder Ost-West-Vergleiche oder Vergleiche zwischen Stadt und Land. Gewöhnlich bietet der Vergleich die Möglichkeit, die Spezifik des infrage stehenden Phänomens genauer herauszuarbeiten, aber zugleich auch zu zeigen, wo übergreifende Entwicklungstendenzen die unterschiedlichen Phänomene gleichermaßen bestimmen. So kann man etwa sehen, dass die Kirchenaustrittsbewegung in der katholischen und der evangelischen Kirche in Deutschland vollkommen parallel verläuft. Anscheinend sind hier gesamtgesellschaftliche Prozesse dafür ausschlaggebend, dass es zu dieser Parallelität in den Entwicklungsverläufen kommt. Zugleich gibt es aber auch konfessionsspezifische Unterschiede in der Reaktion auf den Entkirchlichungstrend. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf das verweisen, was Herr Maier gestern gesagt hat: die stärkere Gesellschaftsoffenheit bei den Protestanten sowie die stärkere Institutionenorientierung bei den Katholiken – das führt zu unterschiedlichen Strategien im Umgang mit Prozessen des Mitgliederrückgangs. In meinen Augen wäre es in jedem Falle interessant, komparatistisch zu arbeiten, um die Besonderheit eines Phänomens, aber auch seine Einbettung in allgemeine Trends zu erfassen. 2. Was könnten zentrale leitende Fragestellungen für solche komparativ angelegten Untersuchungen sein? Ganz gewiss ist der Prozess der Modernisierung, der Säkularisierung, der Entkirchlichung in dem in Frage stehenden Zeitraum

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der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts dominant. Die verschiedenen kirchlichen Handlungsweisen kann man als Reaktionen auf diesen dominanten Prozess der Modernisierung und Entkirchlichung interpretieren. Andere Fragen könnte ich mir auch vorstellen. Zum Beispiel: In welchem Verhältnis stehen kirchliche Wandlungsprozesse zu allgemeinen, etwa zu kulturellen, ökonomischen oder sozialstrukturellen Veränderungsprozessen? Herr McLeod hatte in seinem Vortrag über Religion in Europa genau diese Zusammenhänge im Blick, und er hat dargestellt, wie Familienstrukturen sich verändern oder wie es zu Prozessen der Urbanisierung kommt und wie dies einen Einfluss ausübt auf die Stabilität der Kirchen, auf die Bereitschaft, sich kirchlich zu engagieren und am kirchlichen Leben zu beteiligen. Wichtig in diesem Zusammenhang und in der gesamten Tagung ein bisschen zu kurz gekommen ist, dass wir in den 1950er, 60er und 70er Jahren eine enorme Wohlstandsentwicklung zu verzeichnen haben. Das verändert die Handlungsbedingung der Kirche fundamental. Darauf müsste man eingehen. Mein Vorschlag wäre hier, unterschiedliche gesellschaftliche Felder zueinander in Beziehung zu setzen: Ökonomie und Kultur, Sozialstruktur und Religion, Erziehung und Religion und nach dem Zusammenhang etwa zwischen ökonomischer Wohlstandsanhebung und dem Bedarf für Religion oder zwischen sozialstrukturellen Veränderungen und Veränderungen im kirchlichen Teilnahmeverhalten oder zwischen Wertewandlungsprozessen und Kirchenbindung zu fragen. Darüber hinaus könnte ich mir auch vorstellen, Diskurse, die in Kirche und Öffentlichkeit geführt werden, zu analysieren. Es ist an vielen Stellen der Tagung deutlich geworden, dass unterschiedliche kirchliche und theologische Gruppierungen aufeinander allergisch reagieren und dass es in den ausgetragenen Auseinandersetzungen manchmal zu einer gewissen Verstärkung der Konflikte kommt, oft ganz unnötig: Auf einmal vergleicht man zum Beispiel das Politische Nachtgebet mit Veranstaltungen der Deutschen Christen (Beckmann) oder die Studentenbewegung mit den Braunen Horden (Thielicke) oder den Kölner Kirchentag mit der Sportpalastkundgebung von 1933 (Frey), also mit bestimmten Erscheinungen im Nationalsozialismus. Das ist eine Form, den Kontrahenten zu stigmatisieren und ihm die Chance zu rauben, in dieser Diskurs-Arena noch eine Rolle zu spielen. Ich fände es interessant, solche Diskurs-Arenen, solche Arenen des Konfliktes, des Kampfes, ausfindig zu machen und die jeweiligen Argumentationsfiguren und Deutungsmuster nachzuzeichnen. Da spielen Machtfragen hinein, strategische Fragen, gesamtgesellschaftliche Problemlagen. Das wäre also eine ganz andere Art des Herangehens, die ich mir vorstellen könnte, mehr eine qualitativ diskurstheoretische oder hermeneutische. 3. Ein drittes Problemfeld bezieht sich auf die Frage nach der Periodisierung. Ich würde gern einen Vorschlag unterbreiten, wie man die Zeit der 1960er und

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70er Jahre unterteilen kann. Die erste Frage, die man stellen müsste, lautet natürlich: Was sind eigentlich die Kriterien für eine Periodisierung? Wir haben beispielsweise bei Herrn Rucht gesehen, dass politische Ereignisse (Welche Regierungskoalitionen werden gebildet?) als Ausgangspunkt für die Periodisierung fungierten. Auch bei Herrn Hauschild bildeten äußere Ereignisse (Bau der Berliner Mauer, NATO-Doppelbeschluss) die Eckpunkte für die vorgenommene Periodisierung. Bei Herrn McLeod waren es stärker soziale Wandlungsprozesse, die die Periodisierung bestimmten, und das wäre auch mein Vorschlag, dass man sich nicht an Ereignissen ausrichtet, sondern fragt: Was sind die typischen sozialen Merkmale, die eine Periode von einer anderen unterscheiden. Ich denke, dass man eine erste Zäsur Anfang der 1960er Jahre ausmachen kann. Die Zeit davor ist gekennzeichnet durch die Stabilität der Volkskirchen, dadurch, dass in den Familien viele Kinder noch immer christlich sozialisiert werden und die Menschen die kirchlichen Angebote in hohem Maße wahrnehmen. In dieser Zeit beansprucht die Kirche auch noch ein gewisses Deutungsmonopol, versucht sie das, was die gesellschaftlichen Zustände ausmacht, theologisch auf den Punkt zu bringen. Zugleich ist eine gewisse sozialmoralische Enge zu beobachten. Sekundärtugenden wie Fleiß, Gehorsam, Ordnung stehen gesamtgesellschaftlich hoch im Kurs. Es gibt Vorbehalte gegenüber der Politik. Das Familienbild, die Aufteilung der Rollen zwischen Mann und Frau sind traditionell geprägt. Die Kirche hat Teil an dieser traditionalen Orientierung. Natürlich laufen auch in den 1950ern bereits Veränderungsprozesse ab. Das wird ja auch breit diskutiert in der Geschichtswissenschaft, inwieweit die 1950er Jahre als bleierne Zeit dargestellt werden können oder ob die Wandlungsprozesse, die wir in den 1960er Jahren wahrnehmen können, nicht in den 1950er Jahren bereits beginnen. Ich denke, dass sich z. B. die Hinwendung zum politischen System und die Akzeptanz der Demokratie bereits in den 1950er Jahren vollziehen, wie übrigens an der in den Akademien gepflegten Einübung in die Diskurs- und die Debattierkultur bereits ersichtlich wird. Trotzdem muss man schauen, wo es zu einer neuen Qualität kommt. Diese Veränderung würde ich dann Anfang der 1960er Jahre wahrnehmen. Ich nenne ein Stichwort: Es scheint mir so zu sein, dass mit Beginn der 1960er Jahre Phänomene der Modernisierung Platz greifen und auch in der Kirche selber an Bedeutung gewinnen. Indikatoren dafür wären: die Diskussionen über die Kirchenreform, über die Laienmobilisierung, das Konzept der missionarischen Gemeinde, dann aber auch das Gefühl, dass man die Kirche selber verändern und in die Gesellschaft hineinwirken kann (in dem Vortrag von Herrn Frieling über die Ökumene etwa wurde das sehr deutlich, Stichwort Richard Shaull, „Christus inkognito wirkt durch die Technik und die Säkularität“). In dieser Zeit stoßen wir auf eine große Akzeptanz der Moderne, einen großen Optimis-

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mus in Bezug auf die Gestaltbarkeit der Gesellschaft. Damals, so wäre meine These, versuchte die Kirche, Anschluss zu gewinnen. Das wird zum Beispiel im Bereich der Kirchenmusik deutlich: Aus der Gesellschaft kommende Bewegungen – Rock, Pop, Jazz – werden aufgenommen und kirchenintern zu verarbeiten gesucht. Man springt auf den Zug der Modernisierung auf und reklamiert gesellschaftliche Relevanz dadurch, dass man sich selber als modern präsentiert. Dagegen gibt es dann natürlich auch Gegenbewegungen, auch schon zu Beginn der 1960er Jahre. Das wurde in dem Vortrag von Herrn Hermle über die Evangelikalen sehr deutlich und kam auch in anderen Vorträgen zum Ausdruck, dass Kräfte der Bewahrung diesen Prozess der Modernisierung – vor allem innerhalb der Theologie (Stichwort: das Entmythologisierungsprogramm Rudolf Bultmanns) – aufzuhalten versuchen. Ich kann das hier nicht weiter vertiefen. Die zweite Zäsur sehe ich in den Jahren 1966–1968, wo es dann in der Tat zu einer Polarisierung zwischen den unterschiedlichen kirchlichen und gesellschaftlichen Gruppierungen kommt. Diesen Begriff von Herrn Lehmann und Herrn McLeod will ich übernehmen. Wir haben also auf der einen Seite die Konservativen und jene, die sich für schrittweise Reformen aussprechen, auf der anderen die Studentenbewegung, die radikale Gesellschaftskritik der jungen Generation, die Imperialismuskritik, die Anti-Vietnam-Proteste usw. Wenn man versucht, die Studentenrevolte auf den Punkt zu bringen, so würde ich sagen: Der Kern besteht in einem Konflikt zwischen einem sich entwickelnden Individualismus und der Beharrungskraft der großen gesellschaftlichen Institutionen. Das Individuum wird von den Vertretern der Studentenbewegung hochgehalten, die Institutionen – nicht nur die Kirche, auch der Staat, die Polizei, das Militär, die Parteien – werden kritisiert. Diese Institutionenkritik ist stark ökonomisch bedingt. Man befindet sich in der Zeit relativer ökonomischer Sicherheit, in einer Periode des Friedens und des steigenden Wohlstandsniveaus, und dieses Gefühl materieller Sicherheit gibt Potenzen frei, nun auch gesellschaftskritische Fragen aufzuwerfen, Fragen der Vergangenheitsaufarbeitung, der Verbesserung politischer Partizipation, der Unterstützung der USA, aber auch der individuellen Selbstverwirklichung und des Geschlechterverhältnisses. Von Ronald Inglehart2 stammt der Vorschlag, die Veränderungen dieser Zeit mit dem Begriff des Wertewandels von materialistischen hin zu postmaterialistischen Wertorientierungen zu belegen. Indem ich einen Zusammenhang zwischen ökonomischen und kulturellen Veränderungen behaupte, greife ich seine These auf. Die Kirche ist von diesen ökonomischen und kulturellen Wandlungsprozessen wiederum tief betroffen. Ende der 1960er Jahre setzt, ziemlich überraschend für die Kirchen, die Austrittsbewegung ein, die 1974 2

Vgl. Ronald INGLEHART: Modernisierung und Postmodernisierung: Kultureller, wirtschaftlicher und politischer Wandel in 43 Gesellschaften. Frankfurt/M. 1997.

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ihren Höhepunkt erreicht, und die Kirchen fühlen sich herausgefordert, darauf zu reagieren. Ich will noch ein letztes Stichwort nennen: Mir ist aufgefallen, dass Ende der 1960er Jahre nicht nur das Individuum zunehmend ins Zentrum gerückt und von den bürgerlichen, den bürokratischen, verkrusteten Strukturen des Staates, der Parteien, aber auch der Kirche abgehoben wird; es gewinnen auch Werte des Universalismus wie Solidarität, Frieden, Gerechtigkeit, Ökumene an Bedeutung. Wenn man sich fragt, wie in dieser Zeit eine stärkere Orientierung an universalistischen oder kollektiven Werten und eine stärkere Betonung des Individualismus zusammengehen, würde ich sagen: Beide gehören insofern zusammen, als die zwischen dem Individuum und den kollektiven Zielen liegenden Institutionen von beiden Haltungen negativ betroffen sind. Der Kern des Wertewandels liegt also in der Institutionenkritik. Die letzte Zäsur in dem uns interessierenden Zeitraum sehe ich Mitte der 1970er Jahre: Der Modernisierungsoptimismus schwächt sich ab (Stichworte wären: Ölschock, Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums, Kritik am westlichen Kolonialismus). In dieser Zeit vollzieht sich weltweit eine Aufschwungsbewegung fundamentalistischer religiöser Gruppierungen. Der Fundamentalismus, den es im 20. Jahrhundert immer gegeben hat, der aber seine Netzwerkstrukturen in den 1950er und 60er Jahren abseits von der großen Politik entwickelt hat, kehrt Ende der 1970er Jahre in die Öffentlichkeit zurück. Es ist erklärungsbedürftig, warum die charismatischen Gruppierungen in Deutschland von diesem weltweiten Trend nicht profitieren. Ich will dazu hier keine These formulieren, aber es handelt sich um einen auffälligen Befund. Gleichwohl gibt es gerade in dieser Zeit in Deutschland so etwas wie einen Aufbau von evangelikalen Parallelstrukturen. Die Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ wird gegründet, der zur Informationspolitik der EKD parallel laufende Pressedienst idea wird gegründet, es werden evangelikale Ausbildungsstätten geschaffen. Aber es kommt nicht zum Bruch mit der evangelischen Kirche. Die Polarisierung, die typisch ist für die späten 1960er Jahre, schwächt sich irgendwie ab. Meine Frage wäre, woran das liegt. Man könnte vermuten, dass im Gegensatz zu anderen Gesellschaften die Großkirchen in Deutschland nicht profiliert genug sind, um zuzulassen, dass man sich von ihnen scharf absetzt und dass das der Bekenntnisgemeinschaft dann den Schwung nimmt. Zugleich ist diese Zeit charakterisiert durch Prozesse der Pluralisierung. Das wurde sehr eindrucksvoll dargestellt in dem Referat von Herrn Schroeter-Wittke: Der Kirchentag wird zu einem Markt der Möglichkeiten. Jeder sucht auf ihm die Gelegenheit zur Selbstdarstellung, aber es entsteht die Frage, ob die Kirche noch eine Klammer bieten kann für diese unterschiedlichen Bestrebungen. Pluralisierung scheint das Stichwort zu sein, unter dem sich vielleicht die divergierenden Tendenzen ab Mitte der 1970er Jahre zusammenfassen lassen.

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4. Ich komme jetzt zum letzten Punkt: Was könnten Interpretamente sein, von denen her das Feld auch theoretisch in Blick genommen werden kann? Ich mache drei Vorschläge: Einmal denke ich mit Herrn Lehmann, dass Prozesse der Modernisierung, der Säkularisierung, der Entkirchlichung zentral sind. Ich würde hier das Theorem der funktionalen Differenzierung vorschlagen, um die ablaufenden Prozesse der Modernisierung auf den Begriff zu bringen. In den 1950er Jahren kann die Kirche noch so etwas wie ein Deutungsmonopol für die Gesellschaft beanspruchen, aber schon im Laufe der 1950er Jahre und dann vor allem in den 1960er und 70er Jahren wird deutlich, dass dieses Deutungsmonopol verloren geht und dass man aus dem Evangelium nicht mehr ableiten kann, welche politischen und moralischen Entscheidungen zu treffen sind. Das wurde sehr schön deutlich in dem Vortrag von Frau Mantei: Aus den Geboten Gottes folgt nicht mehr zwingend, wie sich der Einzelne in seinem Sexualverhalten zu entscheiden hat. Die Theologie verliert mehr und mehr ihre steuernde Funktion und muss zunehmend akzeptieren, dass es unterschiedliche Lebensstile, sexuelle Orientierungen, alltagsweltliche Präferenzen gibt, die theologisch gleichermaßen legitim sind. Auch die so genannte „Ohnmachtsformel“ der EKD-Synode in Berlin-Spandau 1958 zeigt, dass das Evangelium nicht mehr die Leitlinie dafür bereitstellen kann, wie eine politische Frage, in diesem Falle die Frage nach der Friedenssicherung durch Atombewaffnung zu beantworten ist. Theologisch muss man vielmehr akzeptieren, dass es verschiedene politische Positionen gibt, die sich auf das Evangelium berufen können. Und wenn am Ende steht „Wir bleiben unter dem Evangelium zusammen“, ergibt sich daraus natürlich die Frage: Welche über den unmittelbar religiösen Bereich hinausreichende Steuerungskraft hat das Evangelium dann noch? Zweiter Interpretationsvorschlag: Individualisierung. Damit scheint doch ein genereller Trend, der für den betrachteten Zeitraum charakteristisch ist, bezeichnet zu sein. Die traditionellen Milieus lösen sich auf. Der Einzelne ist nicht mehr so stark wie früher durch Herkunftsbindungen, durch Nachbarschaft, durch Region, Stand und Klasse geprägt. Nicht nur im politischen, sondern auch im religiösen Bereich entscheidet das Individuum zunehmend selbst darüber, welche Position es einzunehmen gedenkt. In diesen Prozess spielt auch hinein, was Herr McLeod deutlich gemacht hat, dass das Individuum zunehmend darauf Wert legt, seine Entscheidungen authentisch zu treffen. Das Insistieren des Individuums auf Authentizität muss soziologisch und historisch sehr ernst genommen werden, denn die kulturelle und religiöse Pluralisierung nimmt unter anderem gerade deshalb zu, weil das Individuum nicht mehr so einfach Kompromisse eingehen oder sich unterordnen kann, sondern darauf besteht, dasjenige, was es tut, selbstverantwortlich, selbstbestimmt, authentisch zu tun. Ein höheres Maß an individueller Selbstbestimmtheit bringt dann geradezu zwangsläufig auch

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ein höheres Maß an Pluralismus hervor, aber die Wirkungen verlaufen selbstverständlich auch in umgekehrter Richtung. Als letzten Punkt will ich ein merkwürdiges Paradox benennen, das mir aufgefallen ist: Auf der einen Seite ist die traditionsbestimmte Institution Kirche in der Lage, viele von diesen von der Gesellschaft ausgehenden Impulsen, Tendenzen zur Individualisierung, Selbstbestimmung, Modernisierung usw. aufzunehmen und intern zu verarbeiten. Eine enorme Lernfähigkeit muss man der Kirche bescheinigen! Tatsächlich, die Kirche ist ein lernendes System und das bereits in den 1960er Jahren, später ohnehin. Wir haben von Herrn Hermelink vorgeführt bekommen, wie sich die einzelnen übergemeindlichen Dienste ausdifferenzieren, wie die Kirche immer wieder neue Stellen und Ämter schafft und zu einem immer komplexeren System wird. Das ist natürlich eine Reaktion auf die gesellschaftlich ablaufenden Prozesse der funktionalen Differenzierung, also darauf, dass die einzelnen Bereiche der Gesellschaft – Arbeitswelt, Tourismus, Stadtentwicklung, Bildung usw. – zunehmend ihre eigene Sachlogik entwickeln und die Kirche in diese sich ausdifferenzierenden Bereiche hineinwirken muss. Das kann sie nur, indem die parochialen Strukturen durch funktionale Differenzierung auch innerhalb der Kirche ergänzt werden. Wie stark die Kirche fähig und bereit ist zu lernen, wird auch an einem Nebenaspekt deutlich: dass Stellenbesetzungen zunehmend auf Zeit vorgenommen werden, d. h. selbst in der Kirche rechnet man damit, dass man vielleicht eine falsche Entscheidung getroffen hat und diese Entscheidung möglicherweise revidieren muss. Auch hier wird wieder deutlich: Die Kirche ist eigentlich eine enorm flexible Institution. Zugleich wird sie in der Öffentlichkeit als verkrustet, erstarrt, altmodisch, bürokratisch und hierarchisch angesehen. Man traut der Kirche wenig Innovationskraft zu. Wenn dann etwa überraschenderweise die Frauenordination eingeführt wird, nimmt die Öffentlichkeit das nicht einmal wahr. Dieses Beispiel brachte Frau Kuhlmann. Offenbar besteht hier eine merkwürdige Diskrepanz zwischen der Veränderungsfähigkeit der Institution Kirche auf der einen Seite und – so die Formulierung von Frau Hager – der Indifferenz weiter Teile der Bevölkerung gegenüber dieser Kirche auf der anderen. Ich denke, die Kirche ist in den 1960er und 70er Jahren durch eine enorme Fähigkeit zum Dialog, zum flexiblen Reagieren auf ablaufende Veränderungen in der gesellschaftlichen Umwelt, durch Kontextsensibilität charakterisiert. Es wäre interessant zu untersuchen, wie das in der Kirche im Einzelnen organisiert wird, welches die Mechanismen sind, über die die Kirche auf ablaufende Umweltveränderungen zu reagieren vermag. Zugleich aber dominiert in der Öffentlichkeit die Kritik an der Kirche, die Indifferenz gegenüber der Institution, die Skepsis. Man nimmt die Kirche in Anspruch, in der Diakonie, im Bereich der Bildung, auch wenn es um Auftrittsmöglichkeiten von Künstlern geht. Die institutionellen Möglich-

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keiten, die die Kirche bietet, das Geld, das sie zu vergeben hat, will man haben, aber zugleich geht man zu ihrem Selbstverständnis als Institution auf Distanz. Langfristig muss eine solche Diskrepanz negative Konsequenzen für die Arbeitsfähigkeit und Stabilität der Institution haben. Die heute auch in finanzieller und personeller Hinsicht offensichtlichen Erosionsprozesse sind insofern bereits in den 1960er und 70er Jahren angelegt. Diskussion HARRY OELKE : Vielen Dank. Die Themenstellung unserer Tagung lautet „Protestantismus und soziale Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren“. Das Und in der Themenstellung deutet gewisse strukturelle Probleme im Beziehungsgefüge der beiden Größen des Themas an, die Sie beide benannt haben: Es gibt einerseits soziale Bewegungen mit programmatischen und inhaltlichen Anteilen, daneben steht der Protestantismus. Und nun findet erstens eine Art von Vernetzung der beiden Größen statt, sie verbinden sich in einer je eigenen Weise, die zu ermitteln wäre. Zweitens müssen die Inhalte, die die sozialen Bewegungen ausmachen, selbst beobachtet werden. Auch darauf sind Sie beide dankenswerterweise eingegangen. Die Inhalte der sozialen Bewegungen und des Protestantismus müssen in Relation gesetzt werden. Das verläuft nicht spannungsfrei, sondern kann zu Konflikten führen. Das ist der dritte Aspekt, den Sie beide berührt haben. Sie haben dieses spannungsgeladene Geschehen „Polarisierung“ genannt. Es stellte sich die Frage: Was macht der Protestantismus mit den neuen Inhalten, wie sie die sozialen Bewegungen mit sich brachten? Von Herrn Bubmann haben wir anschaulich hören können, sie würden im kirchlichen Kontext moderater, er nannte es „handhabbar“, gemacht. Was passiert mit den Inhalten, und wie wird der Konflikt gelöst? Offenbar existieren verschiedene Konfliktlösungsmodelle, Sie haben das beide auf Ihre Weise nachvollziehbar dargestellt. „Entkirchlichung“, sagte Herr Lehmann, „Polarisierung“ und „Entkonfessionalisierung“, das waren demnach die Leitthemen jener Zeitspanne. Herr Pollack hat ein problemorientiertes Vorgehen entwickelt, ein Periodisierungsschema vorgelegt, Interpretamente geliefert sowie theoretische Leitlinien angedeutet. Beide Beobachtungen waren kompakt und anspruchsvoll, daher rege ich an, zu den konkreten Vorschlägen, die beide gemacht haben, Rückmeldungen zu geben. Ich könnte mir vorstellen, dass wir anhand der von Ihnen gelieferten Stichworte einerseits darüber reden, was die Bewegungen ausmacht, und danach separat das Periodisierungsproblem und die genaue Abfolge von Prozessen reflektieren. Mir scheint es zuerst einmal sinnvoll, zu fragen: Was sind die konstitutiven Elemente des Geschehens, was kennzeichnet das prozessuale Geschehen? Die Beobachter haben jeweils Vorschläge gemacht, die unseren Blick sicher geschärft haben.

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ROLAND LÖFFLER: Herzlichen Dank für diese Zusammenfassung. Mir sind drei Punkte in den Sinn gekommen. Was ich persönlich auch etwas vermisst habe, ist, dass es gar keinen Rückblick auf die 1950er Jahre gab. Es wurde gleich in die 1960er Jahre gesprungen. Wir hatten am 22. Juni in Marburg den Vortrag eines jungen amerikanischen Historikers, Benjamin Pearson aus Chapel Hill, der sich im Blick auf die 1950er und 60er Jahre damit beschäftigt hat, in welcher Form der Protestantismus, besonders die Kirchentage, zur Erneuerung des Staatsverständnisses beigetragen haben. Er hat gezeigt, dass direkt nach dem Krieg (bei Dibelius und anderen) das Verständnis eines christlichen Staates bestand und der Kirche eine sehr große Autorität zugesprochen wurde für die Erneuerung des Staates. Doch schon nach wenigen Jahren war das Thema passé. Es entstand eine gewisse Frustration oder Ernüchterung – oder auch ein Ankommen in der bundesrepublikanischen Demokratie, die diesen hohen Anspruch für die moralische Regeneration Deutschlands nicht mehr so einlösen konnte. Genau das könnte ja ein Frustrationsmoment sein, das die Rolle der Kirche verändert hat. Damit könnte man eine Sache verbinden, die Herr Schjørring gestern Abend ausgeführt hat: In welcher Hinsicht spielen denn eigentlich die BK-Leute in den Kirchenleitungen eine Rolle und deren Kirchengeschichtsschreibung zum Kirchenkampf? Damit wird natürlich auch Politik gemacht. Es könnte sein, dass damit auch kirchenleitende Funktionäre da sind, die ein hohes moralisches Recht auf ihrer Seite haben, aber vielleicht gewisse Modernisierungsprozesse auch verschlafen. Und drittens noch einmal vielen Dank für den Hinweis auf die Säkularisierung. Ich merke auch selbst: Wenn man kirchliche Akten liest, denkt man häufig, das ist ja doch eine heile Welt, weil auf jedes Problem eine Reaktion da ist. Ob diese aber überhaupt in der Gesellschaft jemanden interessiert, ist noch einmal eine ganz andere Frage. Da möchte ich anmahnen, dass man im methodischen Vorgehen sehr selbstkritisch ist, dass nicht die Fülle an kirchlichen Publikationen die eigentlichen Prozesse verdeckt. HARALD SCHULTZE : Herr Pollack hat den Vorschlag gemacht, dass eine solche Studie komparativ angelegt sein müsste, um Vergleiche zu ziehen. Ich möchte das noch einmal reflektieren im Hinblick auf die Anlage dieser Tagung. Mir als ostdeutschem Beobachter ist natürlich aufgefallen, dass das Schwergewicht der Fragestellungen, der Beobachtungen und Vorträge sich ganz stark auf die alte Bundesrepublik bezog und der Blick hinüber in die Situation der DDR von damals sich sehr auf einzelne Beiträge beschränkte. Das war bei dem Beitrag über den Prager Frühling, das war bei der Wirkung von Uppsala und der Ökumene, das war bei den Kirchenstrukturen und der Gemeindeaufbaufrage von Herrn

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Hermelink deutlich zu spüren. Das Thema „Entkirchlichung“ macht ja noch einmal deutlich, dass bestimmte Phänomene, die hier möglicherweise eskalieren, sich im Osten noch stärker ausgewirkt haben als im Westen, vielleicht aus unterschiedlichen Gründen. Gerade deshalb die Bitte, die Untersuchung komparativ anzulegen. Das Interdisziplinäre, denke ich, führt auch dazu, das Komparative noch zu verstärken. Wenn ich daran denke, dass gerade die Bewegung der Individualisierung in der Musik sehr schnell hinübertransportiert worden ist aus dem Westen in die östliche Gemeindepraxis und die Kirchentagspraxis, so ist hier wirklich ein Arbeitsfeld, das einer historischen Beobachtung ausdrücklich wert ist. HANS MAIER: Drei Stichworte: Einmal könnte man „Säkularisierung“ ja zuspitzen auf die Frage der Volkskirche: Wird die Volkskirche weiter existieren? Wird sie nicht überleben? Diese Diskussion beginnt in der Tat in den 1960er und 70er Jahren. Aber sie beginnt vor dem Horizont der Tatsache, dass es noch zwei Drittel bis drei Viertel Angehörige der christlichen Kirchen in Deutschland gibt. Die Frage, die damals aufgeworfen wird, spitzt sich dann erst nach der Wiedervereinigung zu, und wir stehen ja heute wirklich vor der Frage: Werden eines Tages die Ungetauften die Mehrheit gegenüber den Getauften haben? Das wäre noch nicht das Ende der Volkskirche, aber doch eine tiefe Zäsur. Denn in einem war die Reformation, zumindest die lutherische, mit den katholischen Gegnern einig – in der Kindertaufe. Beide Konfessionen haben sich im 16. Jahrhundert programmatisch gegen die täuferischen Strömungen gestellt. Dem verdankt eigentlich die deutsche Geschichte vom 16. bis ins 20. Jahrhundert ihren Charakter als eine Geschichte der überwiegend in den christlichen Kirchen Beheimateten. Das könnte sich ändern. Wie gesagt: Die Diskussion darüber beginnt unter dem Gesichtspunkt: Volkskirche – Entscheidungskirche. Diese Formulierungen tauchen auf in den 1960er Jahren. Mein zweiter Punkt geht nun in die Gegenrichtung, Staat-Kirche-Verhältnis. Darüber haben wir wenig gesprochen in den letzten Tagen. Da ist das Erstaunliche, dass sich in den 1960er Jahren die vom Grundgesetz vorgegebenen und eingespielten Beziehungen von Staat und Kirche eher verfestigten. Im Referat von Herrn Hauschild ist ja darauf hingewiesen worden, dass die FDP-Thesen, die in die Gegenrichtung gehen, kein Echo gefunden haben, dass die großen Volksparteien sich sofort dagegen erklärt haben, von den Kirchen nicht zu reden. Das hat sich also eher stabilisiert, wobei man in den 1960er und 70er Jahren davon ausging, dass es sich im Wesentlichen um das Verhältnis des Staates zu den christlichen Kirchen handelt, noch nicht zu den Religionen. Das Thema „Zusammenleben der Religionen“ wird auch erst relevant in den 1990er Jahren, und heute natürlich mit drei, dreieinhalb Millionen muslimischer Mitbürger ist es auf eine

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ganz neue Basis gestellt. In den 1960er Jahren werden die Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche gegründet – ich war selber unter den Mitgründern –, um diese Fragen zu diskutieren. Von Anfang an war das eine ökumenische Unternehmung. Der erste Vorsitzende war Ulrich Scheuner, ein Protestant, dann kam mit Ernst Friesenhahn ein Katholik, das wechselt also immer. In den gleichen Jahren wurde auch die Stiftung Bibel und Kultur gegründet. Das ist der dritte Punkt. Man könnte vielleicht in aller Vorsicht sagen (ich glaube, in den 1970er Jahren wurde aus der Documenta die Abteilung für religiöse Kunst ausgeschlossen): das Zurücktreten der christlichen Symbolik in der Öffentlichkeit und die Marginalisierung christlicher Künstler. Das beginnt auch in dieser Zeit und hängt natürlich mit dem ersten und zweiten Punkt zusammen. Ich war in den letzten Jahren Vorsitzender dieser Stiftung Bibel und Kultur, die ja auch eine ökumenische Gründung ist, zurückgehend auf Bischof Lohse und andere. Da bin ich mit vielen Künstlern in Beziehung gekommen. Die Einsamkeit, in der die Künstler stehen, die sich einem biblischen Programm verpflichtet sehen und nicht nur einem diffus religiösen, kann man sich gar nicht heftig und intensiv genug vorstellen. Ob es sich nun um Johannes Schreiter im evangelischen oder um Emil Wachter im katholischen Bereich handelt – es sind erschreckende Isolierungen. Darüber müsste man also auch sprechen, wie dieses zunächst noch allgemein vorfindliche biblische, christliche Programm zumindest aus der bildenden Kunst verschwindet. In der Literatur ist es wieder etwas anderes. Da ist es gemischt. Und in der Musik bestehen bis heute eigentlich die engsten Verbindungen. Das löst sich nicht so schnell auf. Aber in der bildenden Kunst wird das religiöse Bild wirklich auf das Kircheninnere verengt, und selbst dort verschwindet es: Wo finden Sie in Neubauten katholischer Kirchen noch Altarbilder? Ich deute das nur an. Es ist ein Riesenthema. HARRY OELKE : Vielen Dank. Sie haben damit, Herr Maier, ein Thema angesprochen, das ursprünglich für die Tagung selbst vorgesehen war: die Kunst, die im Konnex mit der Musik hätte verhandelt werden sollen. Wenn wir dann auf die Kunst als Thema verzichtet haben, dann um der Musik schwerpunktmäßig Raum geben zu können. Insofern waren Ihre Ausführungen besonders hilfreich, einen vernachlässigten Aspekt des Themas nicht gänzlich zu vergessen. K ARL-JOSEPH HUMMEL: Ich bin ein bisschen erschreckt von der Fülle der Aspekte, die wir in diesen Tagen berührt haben, weil man bei den meisten Aspekten dazusagen muss: Hier ist ein weites Feld, und es ist noch nicht erforscht. Auf der anderen Seite beobachte ich, dass an verschiedenen Stellen genau diese Themen in den Mittelpunkt rücken. In diesen Tagen erscheint z. B. das Archiv für Sozialgeschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Rahmenthema: „West-Ost-Ver-

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ständigung im Spannungsfeld von Gesellschaft und Staat seit den 1960er Jahren“. Hier ist in europäischer Perspektive eine ganze Reihe von Themen berührt, die uns hier auch beschäftigt haben. Ich will zu zwei Aspekten etwas sagen, nämlich zur internationalen und zur vergleichenden Perspektive. Zur internationalen Perspektive aus Sicht der Kommission für Zeitgeschichte: Wir haben durch die Öffnung der Vatikanischen Archive für die Zeit der 1930er Jahre nochmals deutlich die internationale Perspektive in den Blick genommen und jetzt aufgrund der Jubiläen (z. B. 40 Jahre Briefwechsel zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen) die deutsch-polnische Perspektive. Völlig vernachlässigt ist auch die deutsch-französische Perspektive. Wenn man also internationale Vergleichsstudien machen will, wäre z. B. zu überlegen: Wie geht denn die deutsch-französische, die deutsch-polnische Versöhnung der beiden Kirchen nach 1945 bis in die 1960er Jahre voran, und welche Studien gibt es dazu? Wir haben auch zusammen mit Mitgliedern Ihrer Arbeitsgemeinschaft die Tagung „Kirche im Krieg 1939–1945“ durchgeführt, im europäischen Vergleich. Mir ist aufgefallen, dass das „Dritte Reich“ bei dieser Tagung keine Rolle spielt, während wir die Erfahrung gemacht haben, dass diese Themen uns immer wieder einholen und direkt verbunden sind mit den Themen, die wir in den 1960er und 70er Jahren noch einmal in anderem Gewand haben. Wir stellen fest, dass die Diskussion, die im Katholizismus aufbricht im Zusammenhang mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil genau die Stützpfeiler des katholischen Milieus betrifft, die man in den 1930er Jahren gegen den Nationalsozialismus verteidigt hat (Jugend, pastorale Fragen, Schule, Familie, Presse und viele andere Dinge), und dass die Auseinandersetzung in den 1960er Jahren häufig verdeckt geführt wird im Gewand der Auseinandersetzung um die Frage „Drittes Reich“. Hier vermischen sich also Aktualität und der Kampf um die Deutung der Vergangenheit in offensichtlicher Weise. Deswegen glaube ich, man kann auf dieses Thema, auch wenn man über die 1960er und 70er Jahre spricht, nicht ganz verzichten. Wir haben gerade in den letzten Wochen (zur Rezeptionsgeschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils und zur Würzburger Synode) genau diese Veränderungsprozesse der 1960er und 70er Jahre in den Blick genommen und sind dabei, die Quellen zu sichern, damit man in diesen Fragen ein Stück vorankommt. Hier kann man die Kooperation auch ausdehnen bis hin in die allgemeine Geschichtsforschung. Das Problem ist gar nicht so groß, denn wir sind dort willkommen; die Kompetenz, die wir mitbringen, ist in der allgemeinen Geschichte häufig nicht vorhanden, so dass hier ein sehr fruchtbares Gespräch möglich ist. WALTER FLEISCHMANN-BISTEN: Ich bin Herrn Lehmann sehr dankbar, dass er noch einmal auf die große Bedeutung der evangelikalen Bewegung in ihren vielfältigen Schattierungen für diese Veränderungsprozesse in den 1960er und 70er

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Jahren hingewiesen hat. Sie haben die historischen Freikirchen genannt. Es ist eine besondere Aufgabe, diesen Bogen zwischen der evangelikalen Bekenntnisbewegung, der älteren Evangelischen Allianz und den historischen Freikirchen aufzuzeigen, und zwar sowohl unter dem Aspekt des Pressewesens (idea) wie auch vor dem Hintergrund der parallel geführten ökumenischen Dialoge zwischen den evangelischen Landeskirchen und den Freikirchen in Deutschland. Es gibt erst seit etwa 15 Jahren den Verein für Freikirchenforschung, den Erich Geldbach (Bochum) leitet. Daher weiß ich, dass die Archive dieser Freikirchen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, im Entstehen begriffen sind. Ich würde der Arbeitsgemeinschaft empfehlen, gerade in diesem Hinblick sehr stark auf die Kontakte zum Verein für Freikirchenforschung und die dort im Entstehen begriffenen Archivnutzungsmöglichkeiten zu setzen. DETLEF POLLACK: Mir ist aufgegangen: Die Fülle der Aspekte ist geradezu überwältigend, und man weiß gar nicht, wie man das auf den Punkt bringen und wo man jetzt weiterarbeiten soll. Ich greife einfach drei Punkte heraus: Ich will zunächst den Gesichtspunkt der funktionalen Differenzierung stark machen. Herr Löffler sagte, dass nach dem Krieg Vorstellungen von einem christlichen Staat entwickelt werden, die schon nach wenigen Jahren passé sind. Das zeigt, dass der Versuch, Politik christlich zu fundieren, ab einer bestimmten Zeit nicht mehr überzeugend ist. Auch das Beispiel, das von Herrn Maier gebracht wurde, dass religiöse Kunst ausgegliedert wird aus der Documenta, ist in Beziehung zu den Prozessen der funktionalen Differenzierung zu sehen. Meine Frage wäre hier: Wie kommt es eigentlich, dass die Impulse zu Veränderungen so stark von den Bereichen außerhalb der Kirche ausgehen? Sie haben das benannt: Man nimmt den Jazz, die Rock- und Popmusik von außerhalb auf, sie wird ein bisschen verdünnt innerhalb der Kirche – aber in den 1930er und 40er Jahren gingen noch Impulse von der Kirchenmusik aus: Hugo Distler und Ernst Pepping waren eigenständige Entwicklungen innerhalb der Kirchenmusik. Meine Frage wäre, allgemein theoretisch gesprochen: Wieso ist Kirche so schlecht kompatibel mit Prozessen der funktionalen Differenzierung, während Ökonomie und Wissenschaft damit umgehen können, sie sogar betreiben, antreiben? Zweiter Punkt: Herr Schultze hat darauf hingewiesen, dass man den Vergleich zwischen Ost und West stärken sollte. Diesen Gesichtspunkt würde ich insofern unterstützen, als zwischen beiden Seiten auch übergreifende Prozesse abgelaufen sind. Die Bundesrepublik war immer eine Referenzgesellschaft für die Menschen in der DDR. Immer hat man sich darauf bezogen. Es war die These von Herrn Ohse, dass es nach 1968, trotz der Niederschlagung des Prager Frühlings, weiterhin ein Interesse an einem verbesserlichen, einem menschenfreundlichen, einem demokratischen Sozialismus gab. Das ist eigentlich klärungsbedürftig.

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Es hat sehr viel damit zu tun, dass man auf den Westen schaute: Wenn es dort Intellektuelle gibt, die den Sozialismus von links kritisieren, dann kann man das übernehmen. Es gibt nicht nur ein Vergleichen, es geht auch um Prozesse der wechselseitigen Beeinflussung, wobei natürlich die Einflussrichtung von West nach Ost verläuft. Letzter Punkt: Herr Maier hat das Ende der Volkskirche angesprochen und damit in Zusammenhang gebracht, dass die Zahl der Kindertaufen zurückgeht. In der Tat, immer mehr lassen sich als Erwachsene taufen. Da würde ich wieder den Bezug herstellen zum Stichwort „Individualisierung“. In dem Augenblick, wo man das Kind taufen lässt, treffen ja andere eine Entscheidung über die Kirchenzugehörigkeit des Individuums. Da laufen Prozesse der zunehmenden Selbstbestimmung des Einzelnen über die eigene Glaubenshaltung, die eigene Weltanschauung ab. Es scheint aber doch so zu sein – das wäre auch ein Spannungsverhältnis –, dass innerhalb der Großkirchen das Kirchenverhältnis nicht einfach umgestellt werden kann von Tradition, von Konvention, von zugeschriebener Mitgliedschaft einerseits auf selbstbestimmte, selbsterworbene Mitgliedschaft andererseits. Da gibt es doch so etwas wie ein konventionelles Mitgliedschaftsverständnis. Darüber müsste man auch nachdenken: In welchem Verhältnis stehen hier Selbstbestimmung und das Weiterwirken von Traditionen? HARTMUT LEHMANN: Herr Löffler, was Sie gesagt haben über die Erwartungen an die Kirchen in den späten 1940er und frühen 50er Jahren, ist völlig richtig, und dass diese Erwartungen zum Teil enttäuscht wurden. Wichtig im protestantischen Bereich war dann die Gewissensentscheidung von Gustav Heinemann, das Kabinett Adenauer zu verlassen, die Gesamtdeutsche Volkspartei zu gründen (Rau, Eppler usw. – alle kommen aus diesem Bereich). Da wird der Protestantismus in der Mitte der 1950er Jahre politisch sehr wichtig in der Bundesrepublik. Zu den christlichen Künstlern: Ich denke, wenn man den Begriff eng fasst, haben Sie Recht, Herr Maier. Aber wenn man das ein bisschen weiter sieht, etwa als Mitarbeit an der Gestaltung der Kriegerdenkmäler, an den Zeichen, die mit Schuld und Sühne zu tun haben im weiteren und weitesten Sinne, dann spielt das Religiöse in der Bearbeitung der Vergangenheit eine außerordentlich große Rolle. Nun kenne ich sicherlich viel weniger Künstler als Sie, aber die paar, die ich kenne, die an solchen Zeichen mitgearbeitet haben, haben alle eine religiöse Bindung. Für sie ist das nicht nur irgendein Auftrag, sondern einer, der zutiefst mit ihrer religiösen Bindung zusammenhängt. Insofern müsste man vielleicht die Gruppe der religiös orientierten Künstler sehr viel weiter fassen. Wenn ich Sie recht verstanden habe, Herr Oelke, haben Sie gesagt: Die Konflikte, die so entstanden sind, wurden gelöst in den 1970er Jahren.

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HARRY OELKE : Es gab ein Bemühen um Lösungen. Das war in der Problemstellung vorgegeben. HARTMUT LEHMANN: Ein Bemühen um Lösungen, ich würde aber sagen, dass die Probleme nicht gelöst wurden. Die Probleme, die nun mit der Individualisierung zu tun haben, sind offen geblieben. Möglicherweise konnten sie deshalb nicht gelöst werden, weil es diese besonderen Staat-Kirchen-Beziehungen gab in Deutschland mit einer Privilegierung der großen etablierten Kirchen. Die kleinen blieben immer draußen oder in der Nische. Es entstand, wenn man so will, kein funktionierender religiöser Markt, in dem sich suchende christliche Personen neu verorten konnten, und sie drifteten im Zweifelsfall eher ins Abseits als hinein in eine neue Gruppe. Das heißt: Die Großkirchen verlieren an Substanz, ohne dass der religiöse Markt insgesamt an Vitalität und Kraft gewinnt. Dadurch bleiben viele der Probleme ungelöst. HARRY OELKE : Ich bin vollkommen d’accord. Das scheint mir eine ganz zentrale Frage zu sein. Es ist unter religionssoziologischen Gesichtspunkten ein Konflikt angelegt in diesem Aufeinandertreffen von Ideen gesellschaftlicher und kirchlicher Programmatik. Sie bestreiten, dass tragfähige Lösungen in den spannungsvollen Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Bewegungen und der evangelischen Großkirche gefunden worden seien. Mir ging es ganz allgemein um die Konfrontation zwischen den entstehenden neuen sozialen Bewegungen und der Kirche sowie um die Notwendigkeit einer Lösung. In der Tat haben Sie den Punkt treffend beschrieben: Es ist keine konstruktive Problemlösung, die evangelische Großkirche hat – aus was für Gründen auch immer – die sozialen Bewegungen und ihre Inhalte nicht zu integralen Bestandteilen eines modernen ekklesiologischen Grundverständnisses machen können. Wir haben es heute von Herrn Bubmann am Beispiel der Musik vortrefflich vorgeführt bekommen: sie wird angesichts säkularer Impulse „handhabbar“ gemacht. Das war letztlich in der Tat keine Lösung in dem umfassenden Sinne, wie Sie es zutreffend analysieren, Herr Lehmann. Wir haben bislang sehr stark in die Richtung gedacht, die Herr Pollack so beschrieben hat, dass die Kirche „auf den Zug aufspringt“. Unsere Themenstellung beauftragt uns aber auch, die andere Seite zu bedenken: Wo sehen Sie beide denn (oder nicht) Möglichkeiten, dass der Protestantismus in die sozialen Bewegungen hineinwirkt? Ich erinnere mich an eine Tagesschau-Meldung zur Anti-AKW-Bewegung in Fortsetzung der 68er Bewegung. Die Meldung wurde begleitet von einem Foto, das einen evangelischen Pfarrer im Talar an der Spitze eines solchen Demonstrationszugs zeigte. Wie stellt sich dieser Sachverhalt zu jenem Verlust der Kirche an Einfluss, wie Sie ihn beschreiben,

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Herr Pollack? Wie würden Sie das verorten in dem negativen Bild, das Sie skizziert haben? NORBERT FRIEDRICH: Mich hat die Bemerkung von Herrn Lehmann ermutigt, noch einmal auf Gestern zurückzukommen. Herr Hauschild hat uns ja den Wald nicht gezeigt, aber ganz viele Bäume. Wir haben jetzt sehr viele Bäume „gehört“, ich will aber trotzdem noch einmal nachfragen, ob es nicht doch Wälder gibt, zumindest Ansammlungen von Bäumen. Sie, Herr Lehmann, haben von der Polarisierung gesprochen. Das erinnert an das 19. Jahrhundert, wo es die breite Debatte gibt, ob es im protestantischen Milieu sogar „Ekelschranken“ gab, die zwischen Positiven und Liberalen eine Sprachlosigkeit hervorgerufen haben. Beispiele, die Sie gebracht haben oder auch die Evangelikalen könnten darauf hinweisen, dass es in den 1960er und 70er Jahren auch eine relative Sprachlosigkeit gibt. Trotzdem suche ich immer nach synthetisierenden Elementen. Es wäre spannend, an diesem Punkt weiterzudenken. MARC-DIETRICH OHSE : Ich möchte einige Stichpunkte aufgreifen. Der erste verbindet sich mit dem Begriff „Deutschland“. Es wird hier oft vorausgesetzt, dass damit die Bundesrepublik gemeint ist. Hinter dieser einseitigen Zuweisung steht die Frage nach der nationalen Frage und der Verortung der evangelischen Kirche in dieser Frage und zu dieser Frage. Die Ostdenkschrift ist angesprochen worden. In engem Zusammenhang damit steht der Begriff „Volkskirche“, der ja auch im nationalen Rahmen angesiedelt ist, und der im Osten, in der DDR, ja völlig verloren gegangen ist, aber im Prinzip mit der EKD-Vereinigung 1989/90 wieder virulent geworden ist. Das wäre auch ein Thema, das man aufgreifen könnte. Was zur DDR zu ergänzen wäre (und gestern auch in der Diskussion aufgeworfen wurde), ist die Frage nach bestimmten Gruppen innerhalb der Evangelischen Kirche in der DDR, die möglicherweise als soziale Bewegungen zu definieren wären (Stichwort „Bausoldaten“). Wichtig erscheint mir auch die Frage nach der Beziehung von wissenschaftlicher Theologie und Kirche: Welche Rolle spielt das? Welche Fragen werden dabei aufgeworfen? Inwieweit findet da eine Entflechtung oder Entfernung voneinander statt? Hier spielen auch Themen hinein, die über die 1970er Jahre hinausweisen: Ausbildung, Frauenfrage, Kirche und Schule sind angesprochen worden. BERND HEY: Ich möchte das Thema, das eben angesprochen worden ist, nämlich das Verhältnis von Kirche und sozialem Wandel, noch einmal auf die Kerngruppen der Kirche spezialisieren, die hier etwas wenig zur Sprache kamen, nämlich die Pfarrer und die Presbyterien. Darüber haben wir gar nicht geredet. Ich beginne mit den Presbyterien. Eine der Folgen der 68er Revolution ist ja, dass die

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Bürger allgemein sich ganz anders artikulieren. Es gibt eine Fülle von Bürgerinitiativen, jede Maßnahme wird sofort konterkariert durch Einsprüche, Bildung von Initiativen, Prozesse usw. Ich habe den Eindruck, dass auch die Presbyterien selbstbewusster geworden sind. Man müsste auch einmal schauen, wie sich Presbyterialordnungen und Presbyterialwahlordnungen verändert haben. Sie folgen nicht mehr so willig den Pfarrern, wie wir es zum Teil aus dem Kirchenkampf kennen, aber damals fing es ja schon an, dass es nicht mehr klappte … Allein die Tatsache, dass der Presbyteriumsvorsitzende nicht mehr unbedingt der Pfarrer sein muss, spielt eine Rolle. Auf der anderen Seite ist ja gesagt worden, dass das evangelische Pfarrhaus als Institution praktisch verloren geht, und dass auch Pfarrer ihre Vorbildfunktion verlieren. Es scheint mir auch, dass die Stellung des Pfarrers schwächer geworden ist, gerade weil ihn der Wandel auch erreicht. Und ich beziehe mich bei beidem auf eine Quellengruppe, die mir als Archivar und Chronist einer Landeskirche zur Verfügung steht (Ihnen nicht ohne weiteres), nämlich die zunehmende Fülle von Amtsenthebungs- und Disziplinarverfahren. Wenn ich die Protokolle lese, kriege ich mit, dass in jeder Sitzung unserer Kirchenleitung Pfarrer des Amtes enthoben werden. Das ist mehr geworden. Ich mache das seit 20 Jahren. Wenn man sieht, welche Konflikte dahinter stehen, stellt man fest: Es sind die persönlichen Konflikte in der Pfarrfamilie (Ehescheidungen usw., was früher ja viel seltener war – die Krise der christlichen Ehe hat ja auch den Pfarrerstand erreicht, was auch mit der von Herrn Hauschild erwähnten Veränderung der Pfarrfrau zusammenhängt, die nach klassischem Verständnis nicht mehr so „funktionieren“ will wie früher) – und, dass das Presbyterium einfach eine Gegenposition bezieht und sich nicht mehr ohne weiteres irgendwelchen neuen Ideen öffnet, die der Pfarrer mitbringt. Es kommt immer häufiger zu Konflikten. In diesen Verfahren (Ehescheidung, Disziplinarvergehen, Amtsenthebung) gibt es eine Fülle von Material. Wenn ich mir Studien der Bielefelder Schule über die Pfarrer im 19. Jahrhundert anschaue (Janz über die preußischen Pfarrer am Beispiel Westfalens3 und Kuhlemann über die badischen4), dann meine ich diese Grundlagenforschung: Was ändert sich eigentlich im 20. Jahrhundert bei den Pfarrern, aber eben auch bei den Laien, über die wir blöderweise in den Archiven kaum Material haben (in den Archiven findet man eine Pfarrerkirche, keine Laienkirche). Hier müssten wir also sehen, ob wir mit dem Material, das wir haben, vielleicht auch in 3

Vgl. Oliver JANZ : Bürger besonderer Art. Evangelische Pfarrer in Preußen 1850–1914 (VHK 87). Berlin 1994. 4 Vgl. Frank-Michael KUHLEMANN : Bürgerlichkeit und Religion. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der evangelischen Pfarrer in Baden 1860–1914 (VVKGB. 58). Göttingen 2001.

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exemplarischen und vergleichenden Studien, wie von Herrn Pollack angeregt, etwas machen können. HARRY OELKE : Das waren aus archivpragmatischer Sicht sehr wertvolle Hinweise. Da ist ein Quellenpotential greifbar, wenngleich auch nur anonymisiert. PETER CORNEHL: Ich glaube auch, dass es hilfreich ist, die Eingrenzung auf diese beiden Jahrzehnte (1960er und 70er Jahre) vorzunehmen, und zwar auch aus forschungspraktischen Gründen. Wenn ich zu entscheiden hätte, was für Projekte vorrangig zu bearbeiten wären, dann wären das immer eingegrenzte Projekte, also überschaubare Projekte, an denen man exemplarisch diese ganze Fülle von Aspekten verdeutlichen und zugleich einigermaßen überschaubar bündeln kann. Dafür wäre natürlich mein Kandidat einer solchen exemplarischen Konkretion der Kirchentag bzw. das Politische Nachtgebet. Zweiter Punkt: Ich möchte noch einmal auf das Verhältnis von Protestantismus und Kirche zurück. Ich glaube, dass Phänomene der Pluralisierung, der Polarisierung, der Spaltung und dann doch zurückgenommener Eskalation sehr stark mit dem zu tun haben, was ich „Rekonstruktion des neuzeitlichen Protestantismus“ genannt habe. An dem Punkt wäre noch einmal schön zu sehen, wie das im Verhältnis zur Kirche steht. Daran, was Sie, Herr Pollack gesagt haben, ist dabei zu denken: Es ist doch erstaunlich, was für eine lernfähige, flexible Institution diese westdeutsche Volkskirche doch geblieben ist. Auch im internationalen Vergleich mit anderen aus freikirchlichen Zusammenhängen kommenden Kirchensystemen, wo es doch schnell Abspaltungen gegeben hat, sollte doch berücksichtigt werden, dass dieses System eine erstaunliche Integrationsfähigkeit bewahrt hat. Dritter Punkt: komparatistisches Arbeiten. Herr Ohse, Sie haben das Stichwort „Sozialismus“ nochmals eingebracht. Ich meine, dass es ausgesprochen interessant ist, weiterzuverfolgen in Ost und West, warum und in welcher Form der Begriff des Sozialismus nach 1968, nach Prag, in Westdeutschland noch weitergewirkt hat, und was dahinter steht, womit sich das verbindet. Ich glaube, dass sich das mit dem Thema „Dritte Welt“ sehr gut verbinden lässt. Das kann man bei Dorothee Sölle und dem Nachtgebet sehr deutlich sehen, wo die utopischen Hoffnungen quasi umgeleitet werden auf die „Dritte Welt“, die Befreiungsbewegungen. Was die Ausblendung der Ost-West-Zusammenhänge für Folgen hat, auf die Beziehungen zu Polen, zur DDR, zur Tschechoslowakei, wäre ein ganz interessanter Untersuchungsgegenstand. DETLEF POLLACK: Die Frage, die Sie gestellt haben, Herr Oelke, ist gewissermaßen zu schwer für mich. Aber ich bringe ein paar Stichworte. Es ist ja erstaun-

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lich, dass die Kirche in der Lage ist, auf diesen Prozess der Modernisierung zu reagieren, aber trotzdem nicht in der Lage ist, die Austrittsbewegung gründlich zu stoppen und den Abwärtstrend umzukehren. Das würde dafür sprechen, dass Prozesse, in denen Kirche auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse reagiert, einen höheren Stellenwert haben als Prozesse, in denen Kirche auf die Gesellschaft einwirkt. Es gibt natürlich auch Bereiche, wo die Kirche dazu in der Lage ist: Die Ostdenkschrift 1965, wo wirklich Impulse von der Kirche ausgegangen sind, aber das ist in meinen Augen fast das letzte Mal, wo die Kirche so übergreifend etwas angestoßen hat. Allerdings wird man sagen müssen: Die Kirche ist natürlich die Repräsentantin von Religion. Natürlich gibt es viele Formen außerkirchlicher Religiosität, New Age oder die Hinwendung zum Hinduismus, zum Buddhismus, aber nach wie vor ist die Kirche doch dort präsent und hat dort ihre Kernfunktion. Dann könnte man fragen, inwieweit sich bestimmte andere Funktionen an diese Kernfunktionen anlagern. Zum Vorschlag von Herrn Cornehl, eingegrenzte Projekte zu entwickeln: In der Tat, den Kirchentag hielte ich auch für ein spannendes Projekt, weil sich hier eine Institution über einen langen Zeitraum durchhält und sich zugleich ständig verändert. Da kann man an einem relativ kleinen, an einem bestimmten Phänomen Prozesse der Veränderung deutlich machen, die darüber hinausgreifend eine Signifikanz haben. Man könnte sogar versuchen, parallel laufend verschiedene Phänomene zu betrachten, wie Kirchentag, Kirchenmusik, und dann jedes Mal fragen: Wie spiegeln sich gesamtgesellschaftliche Veränderungen in diesen einzelnen Phänomenen? HARTMUT LEHMANN: Wo wirkt der Protestantismus hinein? Vielfältig: Friedensfrage, Ökologie usw. Aber: Wer sich engagiert, bekommt häufig Schwierigkeiten, wird nicht unterstützt, sondern eher gebremst, bis hin zu Disziplinar- und Amtsenthebungsverfahren. So weit kann das gehen. Da ist sicher ein großes Problem zu sehen. Die „Wald“-Metapher gefällt mir, wenn man sie zum „Mischwald“ erweitert und hin zum „Waldsterben“. Die ganze Sache mit der Volkskirche: Da ist man wirklich am Kern einer großen Illusion, die es zu entmythologisieren gilt und zu reduzieren auf den offenen religiösen Markt. Und dann ist auf einem offenen religiösen Markt auch möglich, dass Gemeinden lokal agieren und Pastoren dann als authentisch Handelnde wahrgenommen werden, und dann ist auch eine Entkoppelung wissenschaftlicher Theologie von solchen Kirchen möglich: Nur wenn man sie zu eng zusammenbindet, entstehen die Zwänge. HARRY OELKE : Diese letzten Bemerkungen geben zu erkennen, dass auch der Protestantismus im Zusammenspiel mit den sozialen Bewegungen der 1960er und 70er Jahre seinen Platz hatte. Insgesamt hat unsere Schlussdiskussion frag-

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los das außerordentliche Potential an Themen, die es aus kirchengeschichtlicher Sicht verdienten, bearbeitet zu werden, deutlich gemacht. Besonders signifikant ist die innertheologische Herausforderung der Themenstellung auch für andere theologische Disziplinen – und da denke ich besonders an die Praktische Theologie – deutlich geworden. Der Reiz der Themenstellung für die Kirchliche Zeitgeschichte, das hat der Diskussionsverlauf der Tagung gezeigt, liegt in ihrer interdisziplinären Anschlussfähigkeit, hier vor allem wäre eine Kooperation mit der Allgemeingeschichte, aber auch mit der Religionssoziologie ein Gewinn. Hinter unserer Themenstellung verbirgt sich der massive Strukturwandel, den das evangelische Christentum in Deutschland seit 1945 durchlaufen hat. Die sozialen Bewegungen, so darf am Ende dieser Tagung mit einem gewissen Recht vermutet werden, sind Katalysatoren des Protestantismus auf dem Weg vom nationalkonservativen Mehrheitsprotestantismus, wie er womöglich bis in die Adenauer-Ära Gültigkeit hatte, zu linksliberalen Einstellungsmustern, wie sie sich in inner-, aber auch außerkirchlichen protestantischen Milieus seit den 1970er Jahren in großem Umfang und starker Intensität einflussreich ausgebildet haben. Der starke Gesellschaftsbezug in Gestalt einer temporär hochgradigen Politisierung lässt die evangelische Kirche und die ihr assoziierten protestantischen Milieus nicht unverändert: die sukzessive Demokratisierung kirchlicher Strukturen dürfte zukünftig ein ergiebiges Untersuchungsfeld abgeben. Meine Damen und Herren, der Punkt, den wir nun erreicht haben, markiert das Ende der Tagung, nicht aber, das ist hinreichend deutlich geworden, das Ende der inhaltlichen Arbeit am Thema. Ich danke im Namen der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte für Ihre intensive Mitarbeit.

Festvortrag

Wolfgang Huber

Demokratie wagen Der Protestantismus im politischen Wandel 1965–19851

1. 1965–1985 Wer auch immer Verantwortung für die Leitung der Kirche trägt, ist auf fundierte Kenntnis der kirchlichen Zeitgeschichte angewiesen. Diese von WolfDieter Hauschild2 neu in Erinnerung gerufene Einsicht Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers3 stand, vielleicht mehr implizit als explizit, im Hintergrund, als der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland vor fünfzig Jahren die heutige Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte ins Leben rief. Das geschah zehn Jahre, nachdem die Evangelische Kirche in Deutschland selbst – mit der Kirchenführerkonferenz in Treysa im August 1945 – ins Leben getreten war. Von Anfang an war im Bewusstsein, dass das ein Anfang mit einer Vorgeschichte war. Deshalb trat als erste Aufgabe die unmittelbare Vorgeschichte der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Gliedkirchen in den Blick. Aus diesem Grund war die ursprüngliche Aufgabe dieses Vorhabens so klar wie der Name, den man zunächst dafür wählte. Sie hieß nämlich in ihrer Anfangszeit Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der NS-Zeit. Der 1971 vollzogene Namenswechsel zeigt eine Erweiterung des Aufgabenbereichs wie eine Veränderung der Perspektive an: Standen am Anfang die Jahre 1933 bis 1945 im Mittelpunkt der Forschung, so kamen nach und nach sowohl die Nachkriegsjahre als auch die Zeit zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Beginn des Dritten Reiches in den Blick. In den 1990er Jahren trat die Erforschung der Rolle der Kirche in der DDR hinzu. Nun hat sich die Arbeitsgemeinschaft für die nächsten Jahre ein neues, ambitioniertes Projekt vorgenommen, das sich den Wechselwirkungen zwischen 1 Der Beitrag wurde in der reinen Vortragsform bereits abgedruckt in: epd Dokumentation Nr. 50, 6.12.2005, S. 13–21. 2 W.-D. H AUSCHILD, Zeitgeschichte. 3 F. D. E. SCHLEIERMACHER, Kurze Darstellung, § 26 (11): „Die Kirchenleitung erfordert aber auch die Kenntnis des zu leitenden Ganzen in seinem jedesmaligen Zustande, welcher, da das Ganze ein geschichtliches ist, nur als Ergebnis der Vergangenheit begriffen werden kann; und diese Auffassung in ihrem ganzen Umfang ist die historische Theologie im weiteren Sinne des Wortes.“

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den sozialen Bewegungen der 1960er und 70er Jahre und dem Protestantismus widmen soll. Im Namen des Rates der EKD gratuliere ich Ihnen von Herzen zu Ihrem Jubiläum. Ich denke dankbar an den großen Kreis von Gelehrten, die in diesem halben Jahrhundert diese Arbeit auf sich genommen, ja, sie zu ihrer eigenen Sache gemacht haben. Stellvertretend für alle will ich wenigstens die Reihe der Vorsitzenden in Erinnerung rufen, die diese Arbeit geleitet haben: Kurt Dietrich Schmidt, Ernst Wolf, Georg Kretschmar, Joachim Mehlhausen, Leonore Siegele-Wenschkewitz, Martin Kramer, Carsten Nicolaisen und jetzt Harry Oelke. Mit dem dankbaren Respekt verbinde ich herzliche und gute Wünsche für die nächste Arbeitsphase mitsamt der Bearbeitung Ihres neuen, höchst spannenden Themas. Genau in dem Augenblick, in dem wichtige, durch das Jahr 1968 geprägte Protagonisten auf der politischen Bühne Deutschlands einen Schritt zurücktreten, beginnt Ihr Projekt. Ein Zeitenwechsel also in doppelter Hinsicht. Für die Evangelische Kirche in Deutschland waren die Jahre zwischen 1965 und 1985 – also ungefähr der Zeitraum, auf den sich dieses neue Vorhaben richtet, – unruhig und durch tief greifende Veränderungen bestimmt. In diesem Fall lässt sich die Bedeutung des Zeitraums am Beispiel von zwei markanten kirchlichen Äußerungen, nämlich an zwei Denkschriften der EKD verdeutlichen. Am Anfang der genannten Ära stand die so genannte Ostdenkschrift, an ihrem Ende die Demokratiedenkschrift. Diese beiden Denkschriften sind in diesem Jahr 2005 wieder verstärkt ins öffentliche Bewusstsein getreten, weil sich auch an sie Jubiläumsdaten knüpfen. Vor vierzig Jahren wurde die Ostdenkschrift, vor zwanzig Jahren die Demokratiedenkschrift veröffentlicht. Diese beiden Jubiläumsdaten bestimmen deshalb auch die Eckpunkte dessen, was ich Ihnen vortragen möchte. Die eine, unter der Leitung des Juristen Ludwig Raiser erarbeitete Denkschrift – „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“4 – eröffnete eine neue Phase in der Wahrnehmung der europäischen Situation; sie trug zu den Voraussetzungen dafür bei, dass die Politik der Entspannung und der Verständigung mit Deutschlands östlichen Nachbarn, insbesondere mit Polen, möglich wurde. Allein die Stuttgarter Schulderklärung von 1945, derer vor wenigen Tagen zu gedenken war, hat eine vergleichbar vehemente öffentliche Reaktion ausgelöst. Außer ihr war keine andere öffentliche Äußerung der Evangelischen Kirche seit 1945 so umstritten wie die Ostdenkschrift; keine weckte ein so vehementes öffentliches Echo. Und zugleich: Keine löste eine vergleichbare politische Wirkung aus.

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Abgedruckt in: DENKSCHRIFTEN, Bd. 1/1, S. 77–126.

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Thematisch behandelte die Denkschrift die Frage danach, wie Frieden, Versöhnung und Neuanfang nach den Schrecken des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkrieges nachhaltig möglich werden konnten. Das Verhältnis Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn blieb wegen der 1945 getroffenen territorialen Entscheidungen, die das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zu Polen betrafen, prekär und gespannt. Hier, also auf dem Boden von Schuld und Scham, von lebensgeschichtlichen Verlusten und erlittenen Verletzungen nach den Bedingungen der Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz zu suchen, hieß friedenspolitisches Neuland zu beschreiten. Aus heutiger Sicht kann man deshalb sagen: Die Ost-Denkschrift war die erste Friedensdenkschrift der EKD. Die polnischen katholischen Bischöfe nahmen einen wichtigen Impuls aus der Denkschrift auf, als sie sechs Wochen nach ihrem Erscheinen jenen Brief an ihre deutschen Kollegen schrieben, der durch den Satz berühmt wurde: „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.“ Die deutschen katholischen Bischöfe reagierten darauf dankbar, traten dabei jedoch der Frage, wie eine dauerhafte Friedensordnung in Europa aussehen könne und was das für Deutschlands Ostgrenze bedeute, nicht näher. Helmut Kohl hat gerade deshalb vor einigen Wochen in Gnesen das herausragende Verdienst der EKD-Denkschrift gewürdigt und zugleich offen hinzugefügt, als junges Präsidiumsmitglied der CDU in jener Zeit habe er sich keineswegs veranlasst oder in der Lage dazu gesehen, den politischen Impuls der Denkschrift aufzunehmen oder zu bejahen. Auch in der SPD herrschten zunächst die Stimmen vor, die es aus Rücksicht auf die große Wählergruppe der Vertriebenen bei der Tabuisierung der Grenzfrage belassen wollten. Willy Brandt jedoch spürte, dass dies für denjenigen unmöglich war, der das Ziel der deutschen Einheit im Auge behalten wollte. Denn dass diese allenfalls dann zu erreichen war, wenn von deutscher Seite Polens Westgrenze nicht in Frage gestellt wurde, stand ihm deutlich vor Augen. Auf diesem Weg sah er in der Denkschrift der EKD eine starke Ermutigung, ja eine Befreiung. Denn dieser kirchliche Vorstoß erweiterte den Spielraum politischen Handelns. Egon Bahr hat diese Analyse vor wenigen Tagen noch einmal öffentlich bestätigt. Zu Recht hat Jürgen Schmude die Ost-Denkschrift unlängst ein prophetisches Wort genannt. Stand also die Ostdenkschrift am Anfang des Zeitraums, dem wir uns heute zuwenden, so die Demokratiedenkschrift – „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“5 – an ihrem Ende. Dass es ein Dokument sein würde, das im Rückblick ganz nah an das Ende der deutschen Teilung und die Vereinigung Deutschlands in einer freiheitlichen Demokratie rücken würde, hat damals niemand vorausgesagt. Nicht 5

epd-Dok. 44/1985.

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ohne Grund erschien die Demokratiedenkschrift manchen als ein spätes Dokument, als Resümee einer allmählichen Befreundung von Kirche und Demokratie. Doch darüber hinaus bildete diese Denkschrift, neben der Friedens- und der Wirtschaftsdenkschrift, einen wichtigen Baustein für eine evangelische Soziallehre; deren Entfaltung war für die Kammer für öffentliche Verantwortung, die in dieser Zeit unter dem Vorsitz des Münchener Theologen Trutz Rendtorff stand, ein gemeinsames wichtiges Anliegen. Was heute so alternativlos und unstrittig wirkt, nämlich die Bejahung der demokratischen Staatsform durch die evangelische Kirche, war das Resultat eines langen und komplizierten Prozesses. Bevor Protestantismus und Demokratie gleichsam Freundschaft schlossen, waren sie einander lange Zeit fremd, ja geradezu feindlich gewesen. Sich der Demokratie anzunähern, kostete Mut und war aus der Sicht vieler Protestanten und Protestantinnen ein Wagnis. Bei dem Versuch, das Ergebnis dieses Prozesses zusammenzufassen, erschlossen sich bei der Erarbeitung der Demokratiedenkschrift zugleich neue Einsichten. Ich sehe diese insbesondere in der markanten Anerkennung von Menschenwürde und Menschenrechten als den Ecksteinen der freiheitlichen Demokratie, in der sehr pointierten Beschreibung des Berufs zur Politik als einer allen Bürgerinnen und Bürgern gemeinsamen Aufgabe sowie schließlich in der wohl überlegten ethischen Einbeziehung der Grenzsituation des zivilen Ungehorsams in die Entfaltung des bürgerschaftlichen Verhaltens in der Demokratie. Ostdenkschrift und Demokratiedenkschrift bilden die beiden Eckpunkte der folgenden Überlegungen. Das Verhältnis von Protestantismus und Demokratie bildet ihre Leitfrage. Dabei werde ich auch versuchen, die Rolle der so genannten Achtundsechziger Bewegung, wie ich hier abkürzend sage, um die Generation des Aufbruchs und des politischen Wandels der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts zu kennzeichnen, im Spannungsfeld von EKD und Demokratie zu beleuchten. Meine These lautet dabei, dass die Achtundsechziger Bewegung auf ihre Weise dazu beigetragen hat, das Wagnis Demokratie für Kirche und Gesellschaft zu einem zukunftsfähigen Projekt zu machen.

2. Das Verhältnis der evangelischen Kirche zur Demokratie vor und nach 1945 Gewiss verdankt die moderne Demokratie den Impulsen aus evangelischen Kirchen viel. Die Forderung nach Gewissens- und Religionsfreiheit in den englischen Kolonien, die Ausgestaltung des modernen Menschenrechtsgedankens und der Einfluss presbyterial-synodaler Verfassungsformen sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Doch in Deutschland taten sich die evangelischen Landeskirchen auf Grund ihrer in der Epoche der Reformation entstandenen Nähe zum

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monarchischen Staat gegenüber allen demokratischen Verfassungstendenzen schwer. Für die Zeit des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts mag man sogar den Eindruck gewinnen, dass sie es mit der Bejahung der demokratischen Staatsform in mancher Hinsicht schwerer hatten als der römische Katholizismus, der sich mit der Zentrumspartei einen durchaus demokratiefreundlichen politischen Aktionskörper geschaffen hatte. Als das seit der Reformationszeit zur Praxis gewordene, durch den jeweiligen evangelischen Landesherren ausgeübte Kirchenregiment mit dem Ende der Monarchie im November 1918 und ihm folgend durch die Aufhebung des Staatskirchentums in der Weimarer Reichsverfassung 6 juristisch beendet wurde, lebte bei vielen Protestanten der Summepiskopat noch lange Zeit als Bewusstseinsrelikt fort. Das trug dazu bei, dass es bis 1945 und sogar später noch in freilich kleiner werdenden protestantischen Kreisen Vorbehalte gegenüber der Staatsform der Demokratie gab. Selbst Mitglieder der Bekennenden Kirche oder christlich motivierte Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 waren keineswegs in jedem Fall demokratisch gesonnen – erst recht nicht in dem Sinn, in dem wir das aus heutiger Perspektive verstehen. Und doch: Ansätze für einen positiven Bezug zur demokratischen Tradition gab es auch schon vor 1945. Man kann dies exemplarisch an Personen festmachen. Bedeutende evangelische Theologen waren überzeugte Demokraten, allen voran Adolf von Harnack, Friedrich Naumann, Martin Rade, Ernst Troeltsch, Karl Barth, Paul Tillich und Rudolf Bultmann, um nur einige Namen zu nennen, die durchaus unterschiedliche theologische Lager und Schulen repräsentieren. Erst recht waren viele politische Akteure, die aus weltlichen Berufen kamen und den Schritt zur Demokratie aus innerer Überzeugung vollzogen, in ihrer persönlichen Glaubenshaltung evangelisch geprägt. Und auch in dem entscheidenden Dokument des Kirchenkampfes aus dem Jahr 1934, der Barmer Theologischen Erklärung kann man zumindest Ansatzpunkte für demokratisches Denken entdecken. Die 5. Barmer These lautet: „Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen.“ 6

In deren Artikel 137 heißt es lapidar: „Es besteht keine Staatskirche“.

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In diesen Sätzen wird erstens klar gesagt, dass der Staat die ihm eigene funktionale Bestimmung hat, für Recht und Frieden zu sorgen. Damit ist also ein Staat abgewiesen, der für Unrecht und Rechtlosigkeit steht oder aber Unfrieden und Friedlosigkeit verursacht. Zweitens wird im ersten Verwerfungssatz der 5. Barmer These der Gedanke abgelehnt, „es […] solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden […]“. Die besondere Pointe erschließt sich durch die Verwendung des Adjektivs total an dieser Stelle. Denn total wollte das Dritte Reich sein, ja, es ist das Wesen aller totalitären Regime, sich selbst als die einzig gültige, alternativlose Ordnung des menschlichen Zusammenlebens zu verstehen. Schließlich aber wird mit großem Nachdruck die gemeinsame Verantwortung der Regierenden und der Regierten hervorgehoben. Diesen Schritt der 5. Barmer These würdigte die Synode der EKD in ihrer Kundgebung vom 8. November 1985 ausdrücklich. Die evangelische Kirche kommt aus einer Geschichte, in der explizites Thema kirchlichen Nachdenkens – so die Kundgebung – „[…] vor allem die Verantwortung der Regierenden und der Gehorsam der Regierten“ war. Die Barmer Erklärung aber thematisierte die Verantwortung der Regierenden und der Regierten in einem Atemzug. Das war neu, wegweisend und sollte die evangelische Staatsethik nach 1945 prägen. Ich sage hier bewusst: die evangelische Staatsethik, weil ich das gespannte Verhältnis des Protestantismus zur demokratischen Staatsform nicht allein für ein Problem des deutschen Luthertums halte, wie man dies aus Ernst Wolfs Aufsätzen aus den ersten Nachkriegsjahren sowie seiner – ohne Zweifel wichtigen – Deutung der Barmer Theologischen Erklärung vielleicht ableiten könnte7. Die Barmer Theologische Erklärung – gewiss auch umstritten in dem Maß ihrer kirchlichen Geltung – schuf wichtige Voraussetzungen für das veränderte Selbstverständnis der evangelischen Kirche nach 1945. Das neue Verständnis eines kirchlichen Öffentlichkeitsauftrags, das notwendige kritische Wächteramt eingeschlossen, ist vielfach beschrieben worden, auch von mir selbst. Dafür, wie die evangelische Kirche sich in den Aufbau eines demokratischen Staats im Westen unseres Landes einbrachte, war nicht nur das allmählich wachsende Bewusstsein für eine begründete Bejahung der demokratischen Staatsform, sondern ebenso ein neues Bewusstsein für die politische Mitverantwortung evangelischer Christen bestimmend. In den Evangelischen Akademien, im Deutschen Evangelischen Kirchentag und in vielen anderen Formen verschaffte sich dieses Bewusstsein Geltung. Die Bereitschaft zur politischen Mitverantwortung zeigte sich in einer großen Spannweite von evangelischen Gruppierungen, die sich in die politische Diskussion einbrachten, vom Evangelischen Arbeitskreis der CDU/ 7

E. WOLF, Barmen, S. 123.

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CSU bis zu den Kirchlichen Bruderschaften. Die Frage der Verantwortung für den Frieden, das Problem der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und die Auseinandersetzung über die Atomwaffen wurden in besonderer Weise Kristallisationskerne dieser Selbstverständigungsprozesse. Das Tübinger Memorandum führender Protestanten eröffnete eine Diskussion, die der Ostdenkschrift den Boden bereitete. Sie signalisierte aber auch darüber hinaus, dass nun das Motiv kritischer Partizipation bestimmend wurde für die Art und Weise, in der evangelische Christen sich in die politische Diskussion einbrachten. Dieser Gedanke enthielt zwei Momente: Das eine Moment bestand in der Erwartung, dass die demokratischen Partizipationsmöglichkeiten erweitert werden und ausgeschöpft werden sollten. Das andere bestand in der Bereitschaft, Inhalte der Politik kritisch zu begleiten und zu beeinflussen.

3. Die sozialen Bewegungen nach 1968 und die Demokratie Als die EKD 1985 ihre Demokratiedenkschrift veröffentlichte, konnte sie nur für die evangelischen Christen in der Bundesrepublik, nicht für diejenigen in der DDR sprechen. Sie hatte deren Perspektive, die jedenfalls grundsätzlich gegenüber einem demokratischen Gemeinwesen aufgeschlossen war, aber zu berücksichtigen. Die EKD legte mit dieser Denkschrift ein klares Bekenntnis zur Staatsform der Demokratie ab. Sie begründete dies grundlegend mit dem Menschenbild, das einen wesentlichen Konvergenzpunkt darstellt. Dass alle Menschen zum Bild Gottes geschaffen sind und ihnen deshalb eine unantastbare Würde zukommt, dass sie zugleich fehlbar und irrtumsfähig sind und deshalb jeder Machtausübung Grenzen gesetzt werden müssen, erschien nun als so nahe liegend und einsichtig, dass mit einem Mal die frühere Trennung zwischen Christentum und Demokratie als das Unselbstverständliche erschien, nicht ihre Verbindung. Man kann sich allerdings fragen: Warum kam diese Einsicht erst so spät? Warum erst 1985 ein evangelisches Bekenntnis zur Demokratie und nicht schon 1965 oder zumindest 1975? Warum erschienen zahlreiche Friedensdenkschriften (von der Ostdenkschrift bis zu „Frieden wahren, fördern und erneuern“ aus dem Jahre 19818 ), bevor die bis heute einzige Demokratiedenkschrift publiziert wurde? 8 Es sei hier erinnert an: FRIEDENSAUFGABEN DER DEUTSCHEN (1968), DER FRIEDENSDIENST DER CHRISTEN (1969), DER ENTWICKLUNGSDIENST DER K IRCHE – ein Beitrag für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt (1973), GEWALT UND GEWALTANWENDUNG IN DER GESELLSCHAFT (1973).

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Diese Fragen stellen sich noch schärfer, wenn man berücksichtigt, dass sowohl aus der Perspektive der Friedensforschung als auch nach den Erkenntnissen heutiger Demokratietheorien eine konstitutive Interdependenz von Frieden, sozialer Gerechtigkeit und Demokratie besteht. Das von Dieter Senghaas vertretene Modell des Zivilisatorischen Hexagons ist ebenso von diesem Gedanken geprägt9, wie er auf der anderen Seite in demokratietheoretischen Standardwerken wie beispielsweise demjenigen von Manfred G. Schmidt10 leitend ist. Auch die neueren friedensethischen Texte der EKD sind von der Einsicht in den konstitutiven Zusammenklang von Demokratie und Frieden bestimmt. Das Leitbild vom gerechten Frieden, das die Friedensethik der EKD trägt, beruht auf diesem Gedanken. Wer heute Demokratie sagt, der muss auch Frieden sagen, und umgekehrt. Historisch gesehen war es allerdings so, dass die EKD immer wieder Frieden sagte, aber in ausdrücklicher Konzentration nur 1985 von der Demokratie sprach. Vielleicht spiegelt sich darin zum einen eine spezifisch deutsche Befindlichkeit, die mit den Kriegen und Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und noch mehr mit dem im Kalten Krieg zeitweise zerbrechlich wirkenden Frieden in Europa zu tun hat. Claudia Lepp hat in ihrer Studie über das Tabu der nationalen Einheit, in der sie so ausführlich wie subtil das Ineinander des nationalen und des friedenspolitischen Diskurses in der EKD zwischen 1945 und 1969 nachzeichnet, ein weiteres Motiv deutlich gemacht: Im so genannten Friedensstaat DDR konnte man sich, ohne die Machtfrage zu stellen, auf den Frieden berufen, nicht aber auf die Demokratie11. Dachte die EKD somit inklusiv, indem sie die ostdeutschen evangelischen Christen mit einbeziehen wollte, so musste sie das Friedensthema wählen. Über Demokratie zu streiten, hätte die Verständigung schwerer gemacht und den Graben vertieft, den die „besondere Gemeinschaft“ der evangelischen Kirche in Ost und West überbrücken sollte. Ein weiterer Gesichtspunkt war, dass die Staatsform der Demokratie noch lange nach 1945 für den Protestantismus ein Wagnis blieb, für das Argumente gesucht werden mussten. Nichts daran war selbstverständlich. 1956 etwa schrieb Wolfgang Trillhaas, dass „[…] bis zur Stunde die Demokratie für sie [die lutherische Ethik] das eigentlich unbewältigte Thema darstellt.“12 Und noch 1959 konnte sich der Ratsvorsitzende der EKD, Otto Dibelius, eine Obrigkeit nur 9

Vgl. D. SENGHAAS, Vom irdischen Frieden, S. 38f. (u. ö.). M. G. SCHMIDT, Demokratietheorien, S. 527. Demokratien seien friedfertiger als nicht-demokratische Staaten, so die These. Vor allem führten Demokratien untereinander keine Kriege. Jedoch hänge die Friedfertigkeit eines Staates auch von anderen Faktoren ab, etwa dem Wohlstand, den er seinen Bürgern bieten könne. 11 C. LEPP, Tabu, S. 781. 12 Vgl. M. HONECKER, Grundriss, S. 334. 10

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in patriarchalischen Formen denken. Eine demokratisch gewählte Regierung besaß für ihn, da sie prinzipiell abwählbar war, keine wirkliche Autorität13. Es war eben ein weiter Weg bis zur uneingeschränkten Anerkennung der demokratischen Staatsform durch die evangelische Kirche. Es war ein Weg, der erst 1985 zu einem vorläufigen Abschluss kam. Erst in dem Jahr, in dem mit Richard von Weizsäcker erstmals ein deutscher Bundespräsident den 8. Mai 1945 offen als einen „Tag der Befreiung“ bezeichnete, begann die EKD sich ausdrücklich als Herzschrittmacherin der bundesdeutschen Demokratie zu verstehen. Seitdem aber ist sie hinter diese Einsicht nicht mehr zurückgefallen. Was hat die veränderte Einstellung zur Demokratie mit den so genannten „Achtundsechzigern“ zu tun? Wer waren oder sind sie? Und für welche Werte und Ziele standen (stehen) sie ein? Zunächst ist wichtig, dass die Achtundsechziger eine internationale und in sofern auch vielgestaltige Bewegung waren – nicht zentral gesteuert, wie sich versteht, aber doch direkt oder indirekt miteinander vernetzt, voneinander beeindruckt und sich wechselseitig beeinflussend. In den USA engagierten sie sich gegen den Vietnamkrieg und für die Gleichberechtigung der Farbigen, in Frankreich traten sie ein für eine umfassende Universitätsreform, die auch soziale Verbesserungen für die Arbeiterschaft bringen sollte, in der Tschechoslowakei propagierten sie einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. In Deutschland schließlich kämpften sie gegen die Notstandsgesetze, gegen die Mediendominanz des Springerverlags und für einen gesellschaftlichen Aufbruch hin zu mehr Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Friedensbereitschaft. Überall waren die Achtundsechziger eine Erneuerungsbewegung, getragen von einer überdurchschnittlich gebildeten, gärenden Jugend, seltener14 auch unterstützt von der traditionellen Arbeiterschaft. In Deutschland speziell verkörperten sie den Hunger nach Frieden, Freiheit, nach mehr Wahrhaftigkeit im Umgang mit der Geschichte des eigenen Volkes und für mehr Demokratie. Viele der rebellierenden Jugendlichen erhofften sich eine Revolution und strandeten in utopistischen Illusionen, andere hofften auf die Reform dieser Gesellschaft. Die meisten Achtundsechziger waren friedlich und gewaltfrei gesinnt, andere waren bereit, Gewalt nicht nur gegen Sachen, sondern auch gegen Menschen anzuwenden. Der RAF-Terrorismus der 1970er Jahre, in vieler Hinsicht tatsächlich nichts anderes als ein „Linksfaschismus“ (Jürgen Habermas), entstand aus enttäuschten Kombattanten der Achtundsechziger. Als Willy Brandt 1969 Bundeskanzler wurde, trat er nach außen für die Versöhnung mit den östlichen Nachbarn ein. Seine Ostpolitik erfüllte die Friedens13

EBD., S. 335f. Etwa in Frankreich gab es im Mai 1968 kurzzeitig eine Allianz zwischen Studenten- und Arbeiterschaft, als sich bei einem Generalstreik ca. 7,5 bis 9 Millionen Arbeiter beteiligten. 14

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hoffungen vieler Deutscher, vor allem auch – im Sinne der Ostdenkschrift – der an der Versöhnung mit den östlichen Nachbarn interessierten Protestantinnen und Protestanten. Nach innen gerichtet war sein programmatischer Anspruch, mehr Demokratie wagen zu wollen. In seiner Regierungserklärung vom Oktober 196915 sagte er: „Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, dass nicht nur durch Anhörungen im Bundestag, sondern auch durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken.“

„Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Vor allem dieser Satz ist zum Klassiker geworden. Die Rede davon, mehr Demokratie wagen zu wollen, setzt unmissverständlich voraus: Es gibt eine Demokratie, und diese ist bewährt und gesichert. Aber der Satz sagt zugleich: Das erreichte Maß an Demokratie reicht nicht aus. Dass die Demokratie eine zugleich verbesserungsfähige, aber auch verbesserungsbedürftige Staatsform sei, wurde in diesem einen Satz deutlich gemacht. Brandts Rede zielte visionär auf die Zukunft der Gesellschaft. Er wollte mehr Partizipation der Bürgerinnen und Bürger möglich machen. Heute würde man sagen: Er wollte die Zivilgesellschaft aktivieren. Alle sollten eingeladen werden, konstruktiv an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken. In mancher Hinsicht ist das damals gelungen. Brandts Formel bot aber auch Raum für Missverständnisse und Angriffsfläche für Polemik16. Um den Raum möglicher Missverständnisse einzugrenzen, sagte Brandt mit Bedacht: „Wir können nicht die perfekte Demokratie schaffen. Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert. Diese Regierung sucht das Gespräch, sie sucht kritische Partnerschaft mit allen, die Verantwortung tragen, sei es in den Kirchen, der Kunst, der Wissenschaft und der Wirtschaft oder in anderen Bereichen in der Gesellschaft.“

15 Eine der im Internet auffindbaren Quellen für diese klassische Rede Willy Brandts ist: http:// schule.bundestag.de/download/SHOW/reden_und_dokumente/1948_1990/brandt_1969/. Die Suchmaschine Google bietet für die Formel „Mehr Demokratie wagen“ allein 379.000 Fundstellen an. 16 Vgl. etwa die m. E. unzutreffende Auffassung Michael Stürmers, Brandt habe für eine Art „anything goes“ plädiert: „‚Mehr Demokratie wagen‘, die Formel in Willy Brandts Regierungserklärung 1969, von Klaus Harpprecht inspiriert, meinte genau genommen nichts Spezielles, setzte weder Ziele noch Grenzen, aber sie traf den Nerv der Zeit: das Leben als Spiel, Aufbruch um des Aufbruchs willen, Wagnis ohne Risiko. ‚Genuss ohne Reue‘, wie ein Werbeslogan der Tabakbranche lautete.“ (M. STÜRMER, Jahrhundert, S. 212).

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Willy Brandt gab sich somit ersichtlich nicht der Illusion hin, es könne eine perfekte Demokratie geben. Demokratie blieb für ihn eine durch die Mitwirkung und Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger verbesserbare Größe. Dabei waren für ihn auch die Kirchen als Partner gesellschaftlicher Gestaltung von Anfang an im Blick. Brandt schuf mit seiner Reformpolitik neue Möglichkeiten der Partizipation17 sowie einen Freiraum für die Reformer unter den Erneuerern der Republik. Dass es zugleich zum so genannten „Radikalenerlass“ kam, markierte die Grenzziehung nach links, nämlich gegenüber einem Sozialismus, der sich der Demokratie verweigerte. Es scheint so, als würde dieser Radikalenerlass auch von seinen damaligen Kritikern milder beurteilt, seit es die DDR nicht mehr gibt, an deren Herrschaftsform sich diejenigen Radikalen anlehnten, die der Erlass aus dem öffentlichen Dienst fernhalten wollte. Eine neue politische Kultur zeigte sich darin, dass das Streben nach Wahrhaftigkeit im Umgang mit der Geschichte des eigenen Volkes in jenen Jahren zu einem markanten Charakteristikum der demokratischen Entwicklung Deutschlands wurde. Insbesondere die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, die über Jahrzehnte von der „Unfähigkeit zu trauern“ (Alexander Mitscherlich) blockiert worden war, gewann an Intensität. Ein Teil des Programms, das die Achtundsechziger Bewegung vertrat, ging mit der Politik der sozial-liberalen Koalition somit in Erfüllung. Andere Teile dagegen, nämlich der utopistische Überschuss sowie der gewaltbereite Enthusiasmus von Sektierern, konnten nicht integriert werden. Auf der einen Seite wurden daher Hoffnungen erfüllt, auf der anderen Seite gab es auch Enttäuschungen und Zorn. Was den Achtundsechzigern aber durch das Medium der sozial-liberalen Reformpolitik gelang, war die nachhaltige Etablierung der Demokratie selbst durch ihre konsequente, auf Partizipation beruhende Erneuerung. Insofern kann man die Achtundsechziger paradoxerweise als Enkel Konrad Adenauers sehen. Jürgen Busche schrieb deshalb kürzlich in einem Buch über die Achtundsechziger Bewegung: „Deutschland nach Westen zu bringen, eine deutsche Demokratie im Kreis der alten westeuropäischen Demokratien zu verankern, die Jugend des Landes im demokratischen Westen heimisch zu machen, das war für Adenauer, wo er bei der Gründung der Bundesrepublik als Staatsmann wirkte, das wichtigste Ziel gewesen. Und es waren die 68er, die das im Leben des Landes zu einem unumkehrbaren Prozess werden ließe.“18 17 Das Projekt stieß damals auf eine relativ breite gesellschaftliche Zustimmung. Auch in Unternehmerkreisen wurde die Parole „mehr Demokratie wagen“ teilweise als ermutigende Botschaft empfunden. Vgl. etwa die Aussagen von Edzard Reuter und Heinz Dürr, in: S. AUST/C. R ICHTER /G. STEINGART, Fall Deutschland, S. 93, 96. 18 J. BUSCHE, 68er, S. 82.

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Wem dies alles zu optimistisch und zu positiv klingt, dem sei noch einmal zugestanden: 1968 ist ein ambivalentes Symbol19. Selbstverständlich gibt es auch starke Gründe für die Behauptung, diese Bewegung habe für Instabilität gesorgt und die Demokratie erheblich erschüttert, nicht nur durch die terroristischen Irrwege der RAF, sondern – weit subtiler und zugleich nachhaltiger – durch die Infragestellung von so genannten Sekundärtugenden, wogegen zuletzt das EKDRatsmitglied Peter Hahne in seinem Bestseller „Schluss mit lustig“ vehement zu Felde gezogen ist20. Aber dass die Achtundsechziger zugleich zur Stabilisierung und Weiterentwicklung der Demokratie in der Bundesrepublik beitrugen, sollte darüber nicht vergessen werden. Und gerade in diesen Tagen, in denen sich Vertreter dieser Generation von wichtigen politischen Ämtern verabschieden, sollte man die Größe haben, dies zu würdigen.

4. Die EKD und die Achtundsechziger Bewegung Wo gab es Nähen und Affinitäten zwischen der evangelischen Kirche, die hier zugleich als Institution und als soziale Bewegung verstanden wird, und den Achtundsechzigern, denen es selbst nur sehr unzureichend gelang, sich institutionell zu verfestigen?21 Ich gebe nur einige Hinweise auf Überschneidungen und Konvergenzen, die genauer zu untersuchen lohnend sein wird. 4.1 Erneuerung und Reform Dass Reform eine dauernde Aufgabe ist, gilt als eine Grundeinsicht reformatorischer Kirchen, auch wenn diese Grundeinsicht erst spät zu der Formel von der ecclesia semper reformanda geronnen ist. Das Lebensgefühl einer ganzen Gene19 Der amtierende Bundespräsident, HORST KÖHLER, bringt diese Ambivalenz aus seiner Sicht auf den Punkt, wenn er betont, die 68er-Phase sei kein Unglück für die Republik gewesen, und die Fragen der 68er seien berechtigt gewesen. Problematisch seien indes Krawalle und Störungen von Veranstaltungen gewesen. Vgl. DERS./H. MÜLLER-VOGG : Offen, bes. S. 85–88. 20 P. H AHNE, Schluss, S. 35ff., 89. 21 INGRID GILCHER-HOLTEY schreibt in einer monographischen Darstellung (DIES., 68er Bewegung), ohne kontinuierliche Mobilisierung bleibe der Protest einer sozialen Gruppe nur eine Episode (S. 25). Solche Mobilisierung sei indes schwierig für schwach organisierte Kollektive. Daher seien soziale Bewegungen ständig von Auflösung und Zerfall bedroht. Dem könne nur durch Organisation entgegengewirkt werden, die ein Mittel zur Stabilisierung des Bewegungszusammenhangs sei (S. 95). Eben dies sei, so Gilcher-Holtey, der 68er Bewegung nicht gelungen. Sie habe gleichwohl eine wesentliche Veränderung der Mentalitätsstrukturen der bundesrepublikanischen Gesellschaft bewirkt. Frau GilcherHolteys Analyse schließt mit dem Satz: „Der tiefgreifende Mentalitätswandel ist vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte eine politische und kulturelle Strukturveränderung“ (S. 127).

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ration nach 1968 wurde von Willy Brandt sehr treffend in die Formel gefasst: Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen. Die Bereitschaft zur Veränderung und der Wille zur Erneuerung bilden ein gemeinsames Grundmotiv, aus dem sich der große Überschneidungsbereich zwischen dem Protestantismus und den Reformbestrebungen jener Zeit erklärt. Die leitende Grundüberzeugung heißt: Gesellschaft und Kirche müssen immer wieder zu neuen Aufbrüchen bereit sein. 4.2 Frieden und Gewaltfreiheit Diese für große Teile der Achtundsechziger geltende Doppelparole fügte sich zu dem Thema der Ostdenkschrift und der weiteren Friedensdenkschriften, die danach entstanden. Die Friedensbewegung der 1980er Jahre verdankte der vorausgehenden studentischen Protestbewegung ebenso wichtige Anstöße, wie sie tief im protestantischen Milieu verwurzelt und von wichtigen evangelischen Organisationen – wie beispielsweise der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste – getragen war. Das Grundmotiv heißt: Gesellschaft und Kirche müssen sich für den Frieden in der Welt engagieren. Der Friede ist der Ernstfall, und als Mittel zum Frieden hat die Gewaltfreiheit Vorrang vor allen Mitteln der Gewalt. 4.3 Demokratie als Partizipation Diese von Willy Brandt so stark ins Spiel gebrachte Auffassung korrespondiert mit einem wichtigen protestantischen Impuls, der sich ursprünglich im Gedanken des Allgemeinen Priestertums Ausdruck verschafft. Man kann hier auch an den Begriff der Volkskirche in seiner ursprünglichen, von Schleiermacher stammenden Prägung erinnern. Denn bei ihm meint Volkskirche die Kirche durch das Volk, also den freien, demokratischen Zusammenschluss von Gemeinden, die auf dem Priestertum aller Glaubenden und deren voller, gleichberechtigter Partizipation aufbauen. Die Volkskirche verwirklicht sich demnach vor allem in der aktiven Teilnahme mündiger Laien. Kirchenleitung hat ihre Aufgabe und ihren Sinn gerade darin, diese Teilnahme zu ermöglichen und zu ordnen. Das gemeinsame Grundmotiv heißt: Gesellschaft und Kirche brauchen die Beteiligung ihrer Mitglieder. Mündige Bürgerinnen und Bürger gestalten die Gesellschaft, mündige Christinnen und Christen die Kirche. 4.4 Mehr Wahrhaftigkeit im Umgang mit der eigenen Geschichte Damit sind wir bei einem Thema, das im heutigen Zusammenhang besonderes Interesse verdient. War der Umgang mit den Jahren 1933 bis 1945 in der

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Gesellschaft der Bundesrepublik durch einen Zug zum kollektiven Verschweigen bestimmt, so hatte der Umgang der Kirche mit ihrer Geschichte in jenen Jahren eine Tendenz zur Verklärung. Die wachsende Aufmerksamkeit für die Rolle und die Verdienste der Bekennenden Kirche ließ manchmal die Einsicht in den Hintergrund treten, dass es sich bei ihr um eine Minderheit in der Kirche handelte, die zudem in sich selbst keineswegs homogen und in ihren politischen Urteilen keineswegs immer treffsicher war. In der gesellschaftlichen Debatte verbindet sich die Zeit nach 1968 mit der Wendung zu einer selbstkritischen, oft auch schmerzhaften Aufarbeitung der eigenen Geschichte, auch der Geschichte bestimmter Institutionen, wie beispielsweise der Universitäten. Ein spiegelbildlicher Korrekturprozess vollzog sich im kirchlichen Bereich. Die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte wollte gewiss schon von ihren Anfängen her, aber dann doch deutlich verstärkt nach 1968, genauer gesagt: nach 1971, dem Ziel dienen, weniger hagiographisch als vielmehr wahrhaftig und kritisch einen mit Irrtum und Schuld beladenen Teil der Geschichte des eigenen Volkes und der eigenen Kirche wahrzunehmen und zu interpretieren. In diesem Fall heißt also das Grundmotiv: Gesellschaft und Kirche brauchen den Mut, ihrer eigenen Vergangenheit mit kritischem Verstand und ohne Beschönigung gegenüberzutreten. Erneuerung und Reform, Frieden und Gewaltfreiheit, breite Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen sowie Wahrhaftigkeit im Umgang mit der eigenen Vergangenheit – diese vier Motive lassen sich als die Ecksteine eines unfertigen Gebäudes erkennen, das zu bauen für das deutsche Volk und für die evangelische Kirche zunächst lange Zeit unmöglich und später ein Wagnis war. Demokratie musste gewagt werden. Und – Gott sei Dank – sie wurde gewagt! „Demokratie wagen“ – mit dieser Formel habe ich meinen Vortrag überschrieben. Wer Demokratie wagt, muss auch bereit sein, die offene, demokratische Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen. Die Formel ist mit Absicht nicht nur bescheidener, sondern auch grundsätzlicher als Willy Brandts Formulierung: „Mehr Demokratie wagen“. Die nüchterne Einsicht, zu der Christen genauso verpflichtet sind wie zur unverbrüchlichen Hoffnung, lehrt, dass die Demokratie als solche nie ein sicherer Besitz ist. Ihr drohen immer auch Gefahren. Demokratie zu wagen ist deshalb die elementare Voraussetzung dafür, mehr Demokratie wagen zu können.

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5. Herzschrittmacher der modernen Demokratie Beiläufig, aber nicht zufällig habe ich die evangelische Kirche als Herzschrittmacherin der modernen bundesrepublikanischen Demokratie bezeichnet. Gewiss ist sie in dieser Aufgabe nicht allein. Sie nimmt diese Aufgabe nicht nur gemeinsam mit anderen christlichen Kirchen, sondern auch mit anderen intermediären Institutionen der Zivilgesellschaft wahr. Aber auch künftig wird die Kirche an der Aufgabe Anteil haben, das Herz des demokratischen Gemeinwesens zu stärken und am Schlagen zu halten. Dies gilt in besonderer Weise für die evangelischen Landeskirchen in den neuen Bundesländern, denen die Demokratie erst so spät als ein kostbares Geschenk zufiel und die ihren Wert gerade im historischen Vergleich zu der Zeit vor 1989 zu schätzen wissen. Die Demokratie stärken kann nur, wer einen Sinn für die zahlreichen Probleme, Schwächen und Gefährdungen des demokratischen Gemeinwesens hat. Bereits in der Demokratiedenkschrift von 1985 werden solche Gefährdungen genannt. Heute treten uns dabei der Alterswandel unserer Gesellschaft, die dramatisch hohe Arbeitslosigkeit, die prekäre Situation der sozialen Sicherungssysteme und die labile Beteiligungsbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger in den Blick. Staatsverschuldung und bürokratischer Selbstlauf, die Bürgerferne gesetzlicher Regelungen und die Entscheidungsträgheit des politischen Systems stehen vor Augen. Jürgen Habermas hat sich in einem kürzlich erschienenen, autobiographischen Rückblick auf sein philosophisches Wirken22 ausdrücklich zu seinem Engagement, zu seiner Leidenschaft für die Staatsform der Demokratie bekannt. Dieses Engagement habe ihn dazu geführt, sich von der Demokratie weniger freundlich gesonnenen Denkern wie Martin Heidegger, Carl Schmitt oder Arnold Gehlen abzugrenzen. Habermas sagt in diesem Zusammenhang, bis in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein sei das demokratische Staatswesen in der Bundesrepublik Deutschland jederzeit gefährdet gewesen. Er spricht explizit von der Gefahr des „Weimarer Syndroms“ und artikuliert seine „Enttäuschung über den zähen, immer wieder gefährdeten Prozess der Demokratisierung im Nachkriegsdeutschland“23. Darüber hinaus bekennt er an gleicher Stelle: „Meine Befürchtung vor einem politischen Rückfall ist bis in die 1980er Jahre hinein ein Stachel für die wissenschaftliche Arbeit geblieben.“ Das bestätigt auf seine Weise die Überlegung, dass die Demokratie auf Menschen und auf intermediäre Institutionen angewiesen ist, die als Herzschrittmacher der Demokratie dienen können. 22 23

J. H ABERMAS, „Öffentlicher Raum“. EBD., S. 24.

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Um dieser Aufgabe willen nimmt unsere Kirche nicht nur zufällig und nebenbei, sondern wesentlich und zielgerichtet öffentliche Verantwortung wahr. Dazu braucht sie aber nicht nur Forschung, Verkündigung und Lehre, nicht nur Predigten, Kundgebungen und Denkschriften, nicht nur moralische Appelle und exemplarische Initiativen. Sie braucht vor allem Bürgerinnen und Bürger, die ihre politische Existenz als den weltlichen Beruf, als die Berufung aller Christenmenschen verstehen. Sie braucht Menschen, die Demokratie wagen, wo immer dies nötig ist, und dort mehr Demokratie wagen, wo es möglich erscheint. Die Ermutigung dazu gehört zu den Aufgaben kirchenleitenden Handelns. Die Voraussetzungen dafür sind vielfältig. Zu ihnen gehört auch und nicht zuletzt die Erforschung der kirchlichen Zeitgeschichte. Literaturverzeichnis I. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen AUST, Stefan/R ICHTER, Claus/STEINGART, Gabor: Der Fall Deutschland. Abstieg eines Superstars. München 2005. BUSCHE, Jürgen: Die 68er. Biographie einer Generation. Berlin 2003. DIE DENKSCHRIFTEN der Evangelischen Kirche in Deutschland. Bd. 1/1: Frieden, Versöhnung und Menschenrechte. Hg. von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland (Gütersloher Taschenbücher Siebenstern. 413). Gütersloh 1978. DIE DENKSCHRIFTEN der Evangelischen Kirche in Deutschland. Bd. 1/2: Frieden, Versöhnung und Menschenrechte. Hg. von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland (Gütersloher Taschenbücher Siebenstern. 414). Gütersloh 1978. DER ENTWICKLUNGSDIENST DER K IRCHE. Ein Beitrag für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt. In: DENKSCHRIFTEN, Bd. 1/1, S. 135–188. FRIEDENSAUFGABEN DER DEUTSCHEN. Eine Studie. Vorgelegt von der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für öffentliche Verantwortung. In: DENKSCHRIFTEN, Bd. 1/2, S. 15–33. DER FRIEDENSDIENST DER CHRISTEN. Eine Thesenreihe zur christlichen Friedensethik in der gegenwärtigen Weltsituation. Erarbeitet von der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für öffentliche Verantwortung. In: DENKSCHRIFTEN, Bd. 1/2, S. 35–60. GEWALT UND GEWALTANWENDUNG IN DER GESELLSCHAFT. Eine theologische Thesenreihe zu sozialen Konflikten. In: DENKSCHRIFTEN, Bd. 1/2, S. 61–85. GILCHER-HOLTEY, Ingrid: Die 68er Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA (Beck’sche Reihe. 2183). München 2001. HABERMAS, Jürgen: „Öffentlicher Raum und politische Öffentlichkeit“. In: Ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt/M. 2005, S. 15–26. HAHNE, Peter: Schluss mit lustig. Das Ende der Spaßgesellschaft. Lahr 2004. HAUSCHILD, Wolf-Dieter: Art. Zeitgeschichte, kirchliche. In: Theologische Realenzyklopädie 36, 2004, S. 554–561.

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HONECKER, Martin: Grundriss der Sozialethik. Berlin/New York 1995. KÖHLER, Horst/MÜLLER-VOGG, Hugo: „Offen will ich sein – und notfalls unbequem“. Ein Gespräch mit Hugo Müller-Vogg. Hamburg 2004. LEPP, Claudia: Tabu der Einheit? Die Ost-West-Gemeinschaft der evangelischen Christen und die deutsche Teilung (1945–1969) (AKIZ. B 42). Göttingen 2005. SCHLEIERMACHER, Friedrich Daniel Ernst: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1810/11). Hg. von Heinrich Scholz (Quellenschriften zur Geschichte des Protestantismus. 10). Darmstadt 1982. SCHMIDT, Manfred G.: Demokratietheorien: eine Einführung (Uni-Taschenbücher. 1887). Opladen 2000. SENGHAAS, Dieter: Zum irdischen Frieden: Erkenntnisse und Vermutungen. Frankfurt/M. 2004. STÜRMER, Michael: Das Jahrhundert der Deutschen (Goldmann. 15145). München 2002. WOLF, Ernst: Barmen: Kirche zwischen Versuchung und Gnade (BEvTh. 27). München 1984.

II. Internetadressen http://schule.bundestag.de/download/SHOW/reden_und_dokumente/1948_1990/ brandt_1969/

Autorinnen und Autoren Bubmann, Peter Jg. 1962, Dr. theol., Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg. Cornehl, Peter Jg. 1936, Dr. theol., Professor (em.) für Praktische Theologie am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg. Friedrich, Norbert Jg. 1962, Dr. phil., Leiter der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth. Frieling, Reinhard Jg. 1936, Dr. theol., bis 1999 Direktor des Konfessionskundlichen Instituts in Bensheim, Honorarprofessor für Ökumenische Theologie am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Marburg. Hager, Angela Jg. 1976, Diplomtheologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Erlangen. Hauschild, Wolf-Dieter Jg. 1941, Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster (Westfalen), Mitglied der Kommission der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Hermelink, Jan Jg. 1958, Dr. theol., Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen. Hermle, Siegfried Jg. 1955, Dr. theol., Professor für Theologie und ihre Didaktik an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, stellvertretender Vorsitzender der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Huber, Wolfgang Jg. 1942, Dr. theol., Bischof der Evangelischen Kirche Berlin – Brandenburg – schlesische Oberlausitz, Vorsitzender des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland, Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg. Kuhlmann, Helga Jg. 1957, Dr. theol., Professorin für Systematische Theologie und Ökumene an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn.

Autorinnen und Autoren

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Lehmann, Hartmut Jg. 1936, Dr. phil. Dr. h.c., Honorarprofessor an den Universitäten Göttingen und Kiel, bis 2004 Direktor des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen. McLeod, Hugh Jg. 1944, Ph.D. (Theol.), Professor für Kirchengeschichte an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Universität Birmingham. Lepp, Claudia Jg. 1965, Dr. phil., Leiterin der Forschungsstelle der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte München, Privatdozentin für Neuere und Neueste Geschichte an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Karlsruhe. Lorenzen, Tim Jg. 1973, Wissenschaftlicher Assistent an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität München. Mantei, Simone Jg. 1972, Dr. theol., Pfarrerin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Oelke, Harry Jg. 1957, Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität München, Vorsitzender der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Ohse, Marc-Dietrich Jg. 1966, Dr. phil., verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift „Deutschland Archiv“, Hannover. Pollack, Detlef Jg. 1955, Dr. theol., Professor für vergleichende Kultursoziologie an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Frankfurt/O. Rucht, Dieter Jg. 1946, Dr. rer. pol., Professor für Soziologie am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, geschäftsführender Leiter der Forschungsgruppe „Zivilgesellschaft, Citizenship und Politische Mobilisierung in Europa“. Schroeter-Wittke, Harald Jg. 1961, Dr. theol., Professor für Didaktik der Evangelischen Religionslehre mit Kirchengeschichte an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn. Spliesgart, Roland Jg. 1963, Dr. rer. pol., theol. habil., Privatdozent für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität München, Pfarrer im Schuldienst am Ludwigsgymnasium in München.

Personenregister Adenauer, Konrad Hermann Josef 167, 253, 373, 379, 393 Adorno, Theodor W. 307 Aengenvoort, Johannes 320 Aguiar 194 Albertz, Heinrich 117f., 237 Alfrink, Bernard Jan Kardinal 39 Allende Gossens, Salvador 195 Althaus, Paul 249f., 252 Altmann, Rüdiger 278 Alves, Rubem 185, 196, 199 Arroyo SJ, Gonzalo 199 Assmann, Hugo 197, 199, 202 Austregesilio de Mesquita, Francisco 194 Baacke, Dieter 278 Baader, (Bernd) Andreas 236, 272 Bach, Johann Sebastian 305 Bäumer, Rudolf 329, 334f., 339f., 346 Bahr, Egon Karl-Heinz 385 Barbe, Helmut 310, 313 Bárczay, Gyula 170 Barth, Christian Gottlob 325 Barth, Karl 27, 247f., 250ff., 387 Bartók, Béla 305 Bartsch, Hans-Werner 334 Beck, Julius 328 Becker, Walter 171 Beckmann, Joachim Wilhelm 62, 266–269, 361 Bekkers, Willem Marinus 40 Bendix, Ralf (eigtl. Karl Heinz Schwab) 216 Benedikt XVI. (bürgerlich Joseph Alois Ratzinger) 213 Bengel, (Johann) Albrecht 345 Berendt, Joachim-Ernst 311 Berghof, Hendrikus 181

Berthier, Jacques 313 Besier, Gerhard 139 Bethge, Eberhard 270 Beyerhaus, Peter 326, 342f. Biermann, Wolf 131, 278 Blankenburg, Walter 306, 309, 319 Bloch, Ernst 118, 139, 276 Böll, Heinrich 236f., 270 Bonhoeffer, Dietrich 39, 133, 138, 308 Bornefeld, Helmut 305 Brand, Theodor 330 Brandt, Willy (eigtl. Herbert Ernst Karl Frahm) 17, 81, 102f., 112, 273, 355, 385, 391ff., 395f. Brecht, Bertolt (eigtl. Eugen Berthold Friedrich Brecht) 278, 312, 334 Breschnew, Leonid Iljitsch 138 Brown, Callum G. 36, 39 Brunner, Peter 155, 268 Brunotte, Heinz 19 Buback, Siegfried 237 Buber, Martin 240 Bubmann, Peter 16, 367, 374 Bücken, Eckart 313 Bultmann, Rudolf Karl 39, 70, 216, 279, 327f., 333, 346, 348, 363, 387 Burg, Lou van (eigtl. Loetje van Weerdenburg) 257 Busch, Wilhelm 331, 335 Busche, Jürgen 393 Cage, John 306 Câmara, Dom Hélder Pessoa 194, 233 Carmichael, Joel 335 Carter, Angela 41 Casaldaliga, Pedro 198 Castro, Emilio 185 Castro Ruz, Fidel Alejandro 190, 192, 195

Personenregister Cholvy, Gérard 35 Claß, Helmut 62 Cocagnac OP, Auguste-Maurice Jean 312 Coleman, John A. 41 Comblin, José 199 Cook, Hera 41 Cornehl, Peter 15, 377f. Cox, Harvey 40, 118, 178, 277 Crüsemann, Frank 153 Cuniberti 194

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Ensslin, Gudrun 226, 236f. Eppler, Erhard 373 Erhard, Ludwig 100 Evertz, Alexander 111, 115

Damberg, Wilhelm 38f. Da Mota e Albuquerque 194 Darmancier 194 Darmstadt, Hans 307 Davis, Angela Yvonne 272 Degen, Johannes 289f., 299 Deitenbeck, Paul 330f., 334f., 341 Dias, Zwinglio M. 199 Dibelius, Otto 61, 368, 390 Dickinson, Richard D. 180 Diem, Hermann 332f. Dietzfelbinger, Hermann 62 Distler, Hugo 305f., 372 Dobbelaere, Karel 36 Duchrow, Ulrich 201 Dürr, Heinz 393 Dusdal, Edgar 131 Dussel, Enrique 185, 195, 199 Dutschke, (Alfred Willi) Rudi 101, 112, 114, 116ff., 131, 192, 226f., 231f., 234, 240 Dutschke-Klotz, Gretchen 114, 117, 227 Duval SJ, Aimé 312 Duvalier, François „Papa Doc“ 190 Duve, Freimut 278

Falcke, Heino 142 Fanon, Frantz 190 Fernandes, G. 194 Fietz, Siegfried 318 Fischer, Ernst 139 Fischer, Martin 278 Fischer, Max 333 Fischer, Werner 131 Fleischmann-Bisten, Walter 371 Fletcher, Joseph 39 Forck, Gottfried 131 Fortner, Wolfgang 306 Fragoso, Antônio Batista 194 Franic 194 Frankenfeld, Peter (eigtl. Willi Julius August Frankenfeldt) 216 Frei Ruiz-Tagle, Eduardo 195 Freire, Paulo 192, 196 Frère Roger Schutz (bürgerlich Roger Louis Schutz-Marsauche) 313 Freud, Sigmund 165 Freudenberg, Brigitte siehe Gollwitzer, Brigitte Frey, Hellmuth 327, 329f., 345, 361 Friedrich, Norbert 15, 375 Friedrich, Otto 310 Frieling, Reinhard 13, 362 Friesenhahn, Ernst 370 Frings, Joseph Kardinal 266f., 310 Frost, Sir David 40 Fuchs, Ernst 331 Füssel, Kuno 201

Edelkötter, Ludger 314 Eichele, Erich 333 Eisen, Ute E. 147 Elbrick, Charles Burke 192 Elert, Werner 250 Engelhardt, Klaus 62

Gabeira, Fernando 192 Gabriel, Karl 267 Gadsch, Herbert 305 Galeano, Eduardo Hughes 191 Garnett, Alf 46 Gauck, Joachim 132

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Personenregister

Gaus, Günter 271 Geerken, Gerd 313 Gehlen, Arnold 397 Geldbach, Erich 372 Gelineau, Joseph 320 Gerber, Uwe 151 Gilcher-Holtey, Ingrid 394 Glass, Philip 307 Globig, Christine 158 Gloege, Gerhard 185 Gogarten, Friedrich 279 Goldstein, Martin 171 Gollwitzer, Brigitte 238 Gollwitzer, Helmut 15, 29, 75, 117, 227, 229, 231–241, 275, 279 Gottwald, Clytus 306 Graham, Billy (eigtl. William Franklin Graham) 314, 317, 329, 341, 348 Greinacher, Norbert 201 Greschat, Martin 26, 279 Grimm, Hans 251 Grün, Max von der 270 Grünzweig, Fritz 337 Guevara de la Serna, Ernesto „Che“ Rafael 192 Gutenberg, Johannes Gensfleisch zur Laden zum 24 Gutiérrez, Gustavo 185, 197 Haas, Harry 277 Habermas, Jürgen 391, 397 Haddad 194 Hager, Angela 12, 366 Hahne, Peter 394 Halfmann, Wilhelm 62 Hamel, Johannes 131 Hanselmann, Johannes 62 Harnack, Adolf von 387 Harpprecht, Klaus 392 Harris, Barbara 150 Harrison MBE, George 37, 46, 193 Hasselmann, Karl-Behrnd 119 Hastings, Adrian 36 Haug, Martin 328, 332

Hauschild, Wolf-Dieter 11, 222, 290, 300, 362, 369, 375f., 383 Hauß, Friedrich 345 Havemann, Robert 131 Hege, Albrecht 333 Hegele, Günter 311f. Heelas, Paul 36 Heidegger, Martin 397 Heidland, Hans-Wolfgang 62 Heimbucher, Kurt 335 Heinemann, Gustav Walter 75, 270, 373 Heinsius, Martha 147 Heintze, Gerhard Johannes Wilhelm Theodor 62 Heinze, Gerhard 336 Heizmann, Klaus 314, 318 Hengel, Martin 147 Henze, Hans Werner 307 Hermelink, Jan 16, 366, 369 Hermle, Siegfried 17, 363 Hertzsch, Klaus-Peter 141f. Hessenberg, Kurt 305 Hey, Bernd 375 Hilaire 35 Hild, Helmut 62, 298 Hinkelammert, Franz Josef 199 Hirschfeld, Magnus 165 Hindemith, Paul 305f. Hitler, Adolf 217 Höffner, Joseph Kardinal 267 Höflich, Egbert 274 Höflich, Mechthild 274 Hofacker, Ludwig 329, 337, 340 Huber, Klaus 306 Huber, Wolfgang 17, 30 Hubert 194 Hübner, Friedrich 62 Hummel, Karl-Joseph 370 Hutten, Kurt 170, 172 Ignatius von Latakia 179 Illich, Ivan 198 Inglehart, Ronald 363

Personenregister Jacob, Werner 307f. Janssens, Peter 310, 313f. Janz, Oliver 376 Jean Paul (eigtl. Johann Paul Friedrich Richter) 281 Jensen, Anne 156 Jepsen, Maria 150, 157 Jöcker, Detlev 314 Johannes XXIII. (bürgerlich Angelo Giuseppe Roncalli) 58 Johannes Paul II. (bürgerlich Karol Józef Wojtyła) 42, 157, 221 Jones, Ian 47 Jung, Friedhelm 326 Kähler, Else 155 Käsemann, Ernst 336, 339, 345 Käßmann, Margot 150 Kafka, Franz 257 Keil, Siegfried 170, 172 Kiesinger, Kurt Georg 113 King, Martin Luther jr. 138 Kinsey, Alfred Charles 165 Klein, Günther 334, 340 Kloppenburg, Heinz 75 Klumpp, Oskar 340 Knipping, Hans-Helmut 313 Knobloch, Ute 77 Köhler, Horst 394 Körner, Wolfgang 309 Kohl, Helmut Josef Michael 385 Kolle, Oswalt 166 Kopfermann, Wolfram 346 Koselleck, Reinhart 20 Kräutler, Dom Erwin 198 Kramer, Martin 384 Kreling, Käthe 330 Kretschmar, Georg 384 Krippendorff, Ekkehart 226 Krusche, Günter 136, 139f., 143 Krusche, Peter 278 Kruse, Martin 62 Küng, Hans 40 Künneth, Walter 115, 331, 335, 342f.

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Kuhlemann, Frank-Michael 376 Kuhlmann, Helga 13, 366 Kunst, Hermann 62 Lachenmann, Hans 332 Lahusen, Christian 305 Lambert, Yves 35 Lang, Friedrich 332 Lange, Ernst 293, 310, 313 Langguth, Gerd 112 Lefebvre, Marcel 42 Lefèvre, Wolfgang 226 Lehmann, Hartmut 30, 353, 359f., 363, 365, 367, 371, 373ff., 378 Lehmann, Theo(dor) 318 Leicht, Robert 148 Leistner, Herta 153f. Lenin (eigtl. Wladímir Iljítsch Uljánow) 232 (Ono) Lennon, John Winston 37, 46 Lepp, Claudia 15, 25, 390 Lessing, Gotthold Ephraim 249 Ligeti, György Sándor 306 Lilje, Hanns (Johannes) Ernst Richard 61, 339 Little, Paul 325 Löffler, Roland 368, 372f. Lohse, Eduard 62, 370 Loosdregt 194 Lorentzen, Tim 353 Luhmann, Niklas 36 Luther, Martin 22ff., 27, 155, 185 Machovec, Milan 136 Maier, Hans 360, 369f., 372f. Mantei, Simone 13, 365 Maharishi (Mahesh Yogi) 46 Mahrahrens, August 346 Marti, Kurt 270 Martin, Gerhard Marcel 277 Marx, Karl Heinrich 119, 192, 194f., 227f., 232 Marxsen, Willi 330, 339 Mazzi, Don Enzo 273

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Personenregister

McCartney, Sir (James) Paul 37 McLeod, Hugh 11, 361ff., 365 Mehlhausen, Joachim 20, 384 Meinhof, Ulrike 226, 236f., 240, 272 Melchebeke 194 Mengistu Haile Mariam 190 Menzel, Ulrich 202 Mercier 194 Metz, Johann Baptist 201f., 267 Meves, Christa 171 Mezger, Manfred 340 Micheelsen, Hans Friedrich 305 Miguez Bonino, José 185 Mitscherlich, Alexander 393 Moltmann, Jürgen 186, 196, 201f., 277 Moltmann-Wendel, Elisabeth 151, 153 Motschmann, Klaus 115 Müller, Eberhard 79 Müller, Wolfgang 120 Müntzer, Thomas 78 Nagel, Lutz 310 Naumann, Friedrich 387 Nicolaisen, Carsten 384 Niemeier, Gottfried 66, 80 Niemöller, Martin 75, 117, 238 Nohlen, Dieter 189 Nono, Luigi 307 Nützel, Gerda Ursula 159 Nuscheler, Franz 189 Nyerere, Julius 190 Oelke, Harry 353, 367, 370, 373f., 377f., 384 Ohly, Martin 313 Ohse, Marc-Dietrich 12, 372, 375, 377 Ohnesorg, Benno 101, 112, 234 Ohnesorg, Christa 227 Ohnesorg, Lukas 237 Orff, Carl 305, 314 Osterloh, Edo 327 Pahlavi, Mohammad Reza 112 Palm, Dirk 215

Pannenberg, Wolfhart 201 Paul VI. (bürgerlich Giovanni Battista Enrico Antonio Maria Montini) 42f. Paulsen, Anna 155 Pearson, Benjamin 368 Pelletier, Denis 35 Penderecki, Krzysztof 306 Pepping, Ernst 305f., 372 Pereira da Costa, Manuel 194 Petzold, Johannes 305 Pfürtner, Stephan 168 Pinochet Ugarte, Augusto José Ramón 190 Pol Pot (eigtl. Saloth Sar) 190 Pollack, Detlef 30, 353, 359, 367f., 372, 374f., 377 Poppe, Gerd 131 Prebisch, Raúl 190 Pressel, Wilhelm 119 Priesemann, Gerhard 369 Przybylski, Hartmut 121 Rabehl, Bernd 226 Rade, Martin 387 Rahner SJ, Karl 157, 251 Raiser, Konrad 182 Raiser, Ludwig 71, 80, 384 Ramsey, (Arthur) Michael 37, 40 Rau, Gerhard 297ff., 301 Rau, Johannes 373 Ravi Shankar (eigtl. Rabindra Shankar Chowdhur) 193 Reda, Siegfried 305f. Reich, Steve (Steven Michael) 306 Reich, Wilhelm 165f. Reichle, Erika 150, 152 Rendtorff, Trutz 82, 201, 386 Reuter, Edzard 393 Richter-Böhne, Andreas 251 Riedel, Hans-Karl 332 Riemeck, Renate 76 Rihm, Wolfgang 307 Riley, Terry Mitchell 307 Ringeling, Hermann 170

Personenregister Robinson, John Arthur Thomas 39f., 334 Rogers, Cleon Louis jr. 345 Röhring, Klaus 307ff. Rohwer, Jens 307f. Rommel, Kurt 313 Rooden, Peter van 36 Rotenhan, Eleonore von 153 Rucht, Dieter 11, 113, 362 Russell, Bertrand Arthur William 230f. Schacht, Ulrich 137 Scharf, Kurt 61, 80, 117, 215, 237 Scharfenberg, Joachim 170, 172 Scharffenorth, Gerta 155 Scheffbuch, Rolf 325 Scheuner, Ulrich 370 Schjørring, Jens Holger 368 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 383 Schleyer, Hanns-Martin 237 Schmidt, Klaus 270 Schmidt, Kurt Dietrich 19, 384 Schmidt, Manfred G. 390 Schmitt, Carl (eigentlich Karl Schmitt) 397 Schmitt(-Vockenhausen), Hermann 237 Schmude, Jürgen Dieter Paul 385 Schnath, Gerhard 339 Schnebel, Dieter 306f. Schneider, Martin Gotthard 312 Schnittke, Alfred Garrijewitsch 307 Schottroff, Luise 281 Schreiter, Johannes 370 Schroeter-Wittke, Harald Alfred 14, 364 Schütz, Heinrich 305 Schultze, Harald 360, 368, 372 Schwarz, Gerhard 305 Schwarzer, Alice 151 Schweizer, Rolf 310 Segundo, Juan Luis 186 Senghaas, Dieter 189, 390 Senghaas-Knobloch, Eva 152 Sequeira, Ronnie 277 Shaull, Richard 178, 199f., 362

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Siegele-Wenschkewitz, Leonore 384 Silomon, Anke 327 Skladny, Udo 142 Söhngen, Oskar 304f., 319 (Steffensky-)Sölle, Dorothee 15, 29, 118, 153, 186, 201, 265, 267–270, 274f., 279ff., 289, 334, 377 Sœur Sourire (bürgerlich Jeanine Decker) 312 Speight, Johnny 46 Spener, Philip Jakob 22ff., 345 Spiegel, Yorick 294 Spliesgart, Roland 14 Stalin, Josef 232 Steffensky, Fulbert 268ff., 278 Stichler, Fieder 270 Stockhausen, Karlheinz 306f. Stoll, Karlheinz 62 Strawinski, Igor Fjodorowitsch 305 Stürmer, Michael 392 Stuhlmann, Rainer 336 Sturm, Vilma 270 Süß, Paulo 198 Suhl, Alfred 340 Sundermeier, Karl 330, 335 Tegtmeyer, Paul 330f. Thadden-Trieglaff, Reinold Leopold Adolf Ludwig von 215ff. Thielicke, Helmut 15, 29, 115, 247–258, 361 Thust, Karl Christian 309 Tietz, Reinhard 119 Thysen, Hartwig 153 Tillich, Paul Johannes 39, 387 Tlach, Walter 329 Tödt, Heinz Eduard 185, 201 Torres Restrepo, Camillo 43, 195 Trautwein, Dieter 313 Treulieb, Jürgen 226 Trillhaas, Wolfgang 155, 170, 390 Tröltsch, Ernst 387 Trommershäuser, Rolf 77 Tschombé, Moïse Kapenda 102, 192

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Personenregister

Ulbricht, Walter Ernst Paul 132, 138, 142 Veit, Marie 274, 278f. Vellmer, Erich Karl Wilhelm 336 Visser ’t Hooft, Willem Adolf 181, 187 Vogel, Heinrich 75 Vollmer, Antje 160 Vollnhals, Clemens 251 Volz, Leonore 155 Wachter, Emil 370 Wallerstein, Immanuel 191 Walz, Friedrich 312 Watkinson, Gerd 313f. Weber, Max(imilian) Carl Emil 36 Webern, Anton (bis 1918 Anton Friedrich Wilhelm von Webern) 306 Weill, Kurt Julian 278, 312 Weizsäcker, Richard Karl Freiherr von 339, 391 Wendland, Heinz-Dietrich 155, 178 Wenke, Hans 256f.

Werner, Fritz 305 Wernitz, Axel 237 Wester, Reinhard 62 Willms, Wilhelm 313 Wilm, (Julius Ewald) Ernst 62, 216f., 335 Wilson, Bryan 36 Wilson K. G., Harold 37 Wölber, Hans-Otto 56, 62 Wolf, Ernst 75, 384, 388 Woodhead, Linda 36 Wurm, Theophil 217, 250 Young, La Monte 307 Zahrnt, Heinz 220, 247, 339 Zenetti, Lothar 311 Ziegler, Klaus Martin 307f. Ziemann, Benjamin 36, 42 Zimmermann, Heinz Werner 310 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von 24 Zumach, Hildegard 153f.