Sowjetisch-chinesische Beziehungen in den 70er und 80er Jahren: Vom Kalten Krieg zur begrenzten Entspannung

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Sowjetisch-chinesische Beziehungen in den 70er und 80er Jahren: Vom Kalten Krieg zur begrenzten Entspannung

Table of contents :
Kurzfassung 1
1. Die Sowjetunion als erfolgloser Demandeur . . . 5
2. Chinas Entlassung aus dem Geltungsbereich
der "Breshnew-Doktrin" 9
3. Von der "Drei-Welten-Theorie" zur "internationalen
antihegemonistischen Einheitsfront"
12
4. Die ungelöste Grenzproblematik 14
5. 1979: Ein Jahr der Wende? 16
6. Der Entspannungsprozeß 21
7. Klimaverschlechterung seit Frühjahr 1984 . . . 25
a. Von Andropow zu Tschernenko 25
b. Die 4. Konsultationsrunde 27
c. Die Absage des Archipow-Besuchs 29
d. Verhärtung der Fronten 35
8. Ausblick 38
Anmerkungen 41
Summary 49

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Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien Sowjetisch-chinesische Beziehungen in den 70er und 80er Jahren: Vom Kalten Krieg zur begrenzten Entspannung Dieter Heinzig

44-1984

Die Meinungen, die in den vom BUNDESINSTITUT FÜR OSTWISSENSCHAFTLICHE UND INTERNATIONALE STUDIEN herausgegebenen VeröfTentlichungen geäußert werden, geben ausschließlich die Auflassung des Autoren wieder. © 1984 by Bundesinstitut Für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln. Abdruck und sonstige publizistische Nutzung - auch auszugsweise nur mit vorheriger Zustimmung des Bundesinsitut sowie mit Angabe des Verfassers und der Quelle gestattet. Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Lindenbornstraße 22, D-5000 Köln 30, Telefon 0221/522001

INHALT Seite Kurzfassung

1

1. Die Sowjetunion als erfolgloser Demandeur . . .

5

2. Chinas Entlassung aus dem Geltungsbereich der "Breshnew-Doktrin"

9

3. Von der "Drei-Welten-Theorie" zur "internationalen antihegemonistischen Einheitsfront"

12

4. Die ungelöste Grenzproblematik

14

5. 1979: Ein Jahr der Wende?

16

6. Der Entspannungsprozeß

21

7. Klimaverschlechterung seit Frühjahr 1984

...

25

a. Von Andropow zu Tschernenko

25

b. Die 4. Konsultationsrunde c. Die Absage des Archipow-Besuchs d. Verhärtung der Fronten

27 29 35

8. Ausblick

38

Anmerkungen

41

Summary

49

August 1984

Dieter Heinzig Sowjetisch-chinesische Beziehungen in den siebziger und achtziger Jahren: Vom Kalten Krieg zur begrenzten Entspannung Bericht des BlOst Nr. 44 /1984

Kurzfassung Anfang der siebziger Jahre erhielt der Kalte Krieg zwischen Moskau und Peking eine neue Dimension. Die Volksrepublik China sah sich durch die gewachsenen Spannungen zur UdSSR, die die beiden Staaten im Spätsommer 1969 bis hart an den Rand eines heißen Krieges getrieben hatten, und durch die internationale Isolation, in die China durch die Kulturrevolution (1966-1969) geraten war, dazu gedrängt, sich an die Vereinigten Staaten und deren Verbündete anzunähern. Die Doppelkonfrontation mit Moskau und Washington wurde beendet. Dieser Umschwung führte noch vor Präsident Nixons Chinareise vom Februar 1972 zu einem bedeutsamen Ergebnis: zur Aufnahme der VR China in die Vereinten Nationen (Oktober 1971). Damit erzielte Peking einen weiteren entscheidenden außenpolitischen Durchbruch. In dem vorliegenden Bericht wird untersucht, wie sich der sino-sowjetische Konflikt unter diesen neuen, bis heute andauernden Rahmenbedingungen entwickelt hat. Der Verfasser stützt sich vor allem auf die von den Konfliktparteien veröffentlichten offiziellen und sonstigen Stellungnahmen, wertet aber auch Meldungen und Analysen internationaler Medien, westliche Sekundärliteratur sowie Informationen aus diplomatischen Kreisen aus. Ergebnisse 1. Die Sowjetunion wurde durch den amerikanisch-chinesischen Annäherungsprozeß innerhalb des Dreiecks Moskau-PekingWashington in eine vergleichsweise ungünstige Position versetzt. Mehr noch: Das in sowjetischer Sicht bedrohlichste Szenario für Asien, das einer amerikanisch-chinesisch-japanischen Allianz, schien in bedenkliche Nähe zu rücken- Die Kremlführung reagierte hierauf, indem sie zwar die beträchtliche Militärpräsenz an der sino-sowjetischen und sino-mongolischen Grenze unverändert ließ, diese Eindämmungsmaßnahme aber wiederholt durch Gesten der Entspannungsbereitschaft ergänzte.

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2. In Peking empfand man die sowjetischen Avancen im wesentlichen als inhaltsleer und zeigte sich angesichts der fortbestehenden militärischen Bedrohung und des Mangels an konkreten Entspannungsschritten intransigent. Im ideologischen Bereich wurde die Abgrenzung gegenüber Moskau verschärft. Schon zuvor hatte China die UdSSR und die USA als Ausbeuter der übrigen Industriestaaten und der Entwicklungsländer praktisch auf die gleiche Stufe gestellt. 1974 nun verkündete Deng Xiaoping eine Drei-Welten-Theorie, nach der sich die beiden Supermächte im Hinblick auf ihre "hegemonistische" Außenpolitik auch formell in der gleichen Kategorie - der Ersten Welt - wiederfanden. Ab Herbst 1977 gingen die chinesischen Führer noch einen Schritt weiter und drängten auf eine gegen die Sowjetunion gerichtete internationale Einheitsfront unter Einbeziehung der Vereinigten Staaten. 3. Ein konzilianteres Verhalten Chinas deutete sich erst 1979 an. Peking kündigte zwar im Frühjahr dieses Jahres den aus dem Jahre 1950 stammenden sino-sowjetischen Bündnisvertrag, ließ aber gleichzeitig die Bereitschaft zur Aufnahme von "Normalisierungsverhandlungen" erkennen. Die erste Verhandlungsrunde kam im Herbst 1979 zustande, blieb allerdings ohne sachliche Ergebnisse. Nach einer Unterbrechung, die chinesischerseits wegen der sowjetischen Intervention in Afghanistan veranlaßt wurde, nahm man die Kontakte im Herbst 1982 in Form von halbjährlich stattfindenden "Konsultationen" wieder auf. Damit wurde ein begrenzter Entspannungsprozeß in Gang gesetzt. Die seither abgehaltenen vier Gesprächsrunden erbrachten bisher keine substantiellen Fortschritte im Hinblick auf einen Abbau der Truppenpräsenz an der Grenze und in den beiden übrigen sicherheitspolitischen Konfliktbereichen (Afghanistan, Kambodscha). Bilateral aber (Handel, Kultur- und Wissenschaftsaustausch, technische Zusammenarbeit, Sport- und Touristikverkehr) setzte ein bis heute andauernder Prozeß der vorsichtigen Annäherung ein, der China u.a. zu mehr Spielraum im Umgang mit den Vereinigten Staaten verhalf. 4. Was das Tempo des Entspannungsprozesses angeht, so neigte die chinesische Seite im großen und ganzen eher zur Reserve. Die sowjetische Führung drängte unter Breshnew und Andropow auf schnelle Fortschritte, während unter Tschernenko ein Trend zur Zurückhaltung erkennbar wurde. Die neue Haltung der UdSSR, die im Mai 1984 (Absage des Archipow-Besuchs) erstmals wieder seit 1982 zu einer deutlichen Klimaverschlechterung geführt hat, geht offenbar auf mehrere Ursachen zurück. Sie paßt die Chinapolitik an den isolationistischen, konfrontativen Kurs an, den Moskau gegenüber den USA und deren Verbündeten bereits Ende 1983 eingeleitet

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hatte, und zieht die Konsequenz aus dem Zwang zu verstärkter Solidarität mit Vietnam, das im Frühjahr 1984 von der chinesischen Armee am heftigsten seit 1979 bedrängt wurde. Außerdem dürfte sowjetischer Ärger über Verlauf und Ergebnisse von Präsident Reagans Chinabesuch (April 1984) eine Rolle gespielt haben. 5. Im Hinblick auf die drei großen Konfliktfelder könnte es kurz- oder mittelfristig am ehesten möglich werden, ein Abkommen über die Verringerung der Truppenpräsenz an der gemeinsamen (nicht aber der sino-mongolischen) Grenze zu schließen. Hingegen ist es unwahrscheinlich, daß Moskau sich in absehbarer Zeit dazu bereit finden wird, gegen die bloße Hoffnung auf eine weitergehende Entspannung mit Peking, die chinesischerseits jederzeit in einen Kalten Krieg zurückverwandelt werden kann, seinen unter großen Opfern gewonnenen Einfluß in Afghanistan und Indochina aufs Spiel zu setzen. Auf bilateralem Gebiet ist mit einem allmählichen Ausbau der begonnenen Kooperation zu rechnen. 6. Ganz gleich, wie sich der in Gang gekommene Entspannungsprozeß weiterentwickeln mag - zu einer Neuauflage des sino-sowjetischen Bündnisses der fünfziger Jahre wird es schwerlich kommen. Entsprechende Versuche, sollten sie von der UdSSR unternommen werden, dürften an der Unnachgiebigkeit der chinesischen Führer scheitern. Diese haben deutlich erkennen lassen, daß sie langfristig nicht die Rückkehr in die feste Umarmung durch den großen sowjetischen Bruder erstreben, sondern die Herstellung von Beziehungen des gleichen Abstands zu Moskau und Washington. Die Kremlführung wird sich hiermit abfinden müssen, denn sie wird diese Entwicklung nur unwesentlich beeinflussen können.

1. Die Sowjetunion als erfolgloser Demandeur Anfang der siebziger Jahre zog die chinesische Führung die Konsequenz aus der Tatsache, daß der Kalte Krieg mit der Sowjetunion im Spätsommer 1969 beinahe in eine große militärische Auseinandersetzung umgeschlagen wäre und daß die VR China sich durch die Kulturrevolution international in die Isolation begeben hatte: Peking näherte sich - bei Fortsetzung seiner grundsätzlichen Konflikthaltung gegenüber der UdSSR - an die Vereinigten Staaten und deren Bündnispartner an. In Moskau reagierte man hierauf mit einer Doppelstrategie, die insgesamt das Ziel verfolgte, die von Pekings aggressivem Verhalten ausgehenden Irritationen weitgehend zu neutralisieren und das Entstehen einer chinesisch-amerikanischjapanischen Entente zu verhindern. Zum einen gab sich Moskau unnachgiebig in der Grenzfrage, hielt den militärischen Druck an der eigenen und der mongolischen Grenze zu China aufrecht, trat der chinesischen Polemik durch Stellungnahmen entgegen, bemühte sich um eine Isolierung der KP Chinas innerhalb der internationalen kommunistischen Bewegung und suchte China durch ein kollektives Sicherheitssystem für Asien (KSA) einzudämmen. Zum anderen zeigte sich die UdSSR auf bilateralem Gebiet bestrebt, die Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung zu minimieren und eine "Normalisierung" der Beziehungen herbeizuführen. In der sowjetischen Selbstdarstellung vereinte diese Doppelstrategie "den unversöhnlichen Kampf gegen den Maoismus und die Politik der chinesischen Führer ... mit der Bereitschaft zur vollen Normalisierung der Beziehungen zur VR China und zur Wieder1 herstellung der sowjetisch-chinesischen Freundschaft". Im Hinblick auf eine "Normalisierung" der Beziehungen trat die UdSSR eindeutig als Demandeur auf. Ihre entsprechenden

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Bemühungen erstreckten sich zunächst nur auf den zwischenstaatlichen Bereich, schlössen aber unmittelbar nach Mao Zedongs Tod auch die Parteiebene ein. Bis 1979 scheiterten alle diese Avancen an der Unnachgiebigkeit der Pekinger Parteiführung. Bereits am 15. Januar 19 71 legte die sowjetische Seite den 2 Entwurf eines Gewaltverzichtsvertrags vor , und am 14. Ju3 ni 1973 bot sie den Abschluß eines Nichtangriffspakts an. China überging diese Vorschläge zunächst mit Schweigen. Erst als sie im sowjetischen Glückwunschtelegramm zum 25. Gründungstag der VR China am 1 * Oktober 1974 wiederholt wur4 den , gab Peking eine Stellungnahme ab. Die chinesische Reaktion, die in einem Glückwunschtelegramm anläßlich der Oktoberrevolutionsfeierlichkeiten enthalten war, lief allerdings auf eine Ablehnung der sowjetischen Vorschläge hinaus. Hier hieß es nämlich, derartige Abmachungen seien nur als Teil eines Vertragspakets diskutabel, das Grenzvereinbarungen enthalten müsse, die sich u.a. auf das Auseinanderrücken der Truppen beider Seiten in den umstrittenen Gebieten be5 zogen. Damit aber stellte Peking ein Junktim her, von dem sicher sein konnte, daß es abgelehnt werden würde, da die Existenz von "umstrittenen Gebieten" sowjetischerseits von jeher konsequent verneint wurde. In der Tat ließ die Zurückweisung der chinesischen Vorschläge nicht lange auf sich warten. Genausowenig kann es verwundern, daß ein ähnliches Junktim vier Jahre später erneut und mit derselben Begrün7 dung abgelehnt wurde , denn in der Frage der ''umstrittenen Gebiete" ist der sowjetische Standpunkt bis heute unverändert hart geblieben. 19 70 und 1973 schlug die Sowjetunion ein Treffen von Regierungsvertretern beider Seiten auf jeder, auch auf höchster Ebene vor, um so die Voraussetzungen für eine "Normalisierung" zu schaffen; wieder lehnte die o

chinesische Seite ab oder wich aus.

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Eine besondere Chance zur Verbesserung der Beziehungen erblickten die Kremlführer im Tod Mao Zedongs (9- September 1976), von dem sie - sicher zu Recht - annahmen, er habe die einflußreichste Rolle bei Chinas Entscheidung gespielt, sich aus dem sowjetischen Einflußbereich herauszulösen. Schon vor Maos Tod wurde erkennbar, daß man in Moskau mit der Festigung der Position von Deng Xiaoping und anderer "Gemäßigter" in der chinesischen Führungsspitze gewisse Hoffnungen verband. Entsprechende Vorgänge auf der 1. Tagung des IV. Nationalen Volkskongresses vom Januar 1975 wurden von einem als einflußreich geltenden sowjetischen 9 Publizisten mit spürbarer Erleichterung begrüßt. Deng wurde von manchen Medien als ein Mann Zhou Enlais herausgestellt, Zhou selbst attestierte man Bemühungen um Stabilität in China und Popularität unter den Chinesen. Andererseits ließ der zuständige Referatsleiter im sowjetischen Außenministerium erkennen, er halte die Fortführung eines maoistischen Kurses nach Maos Tod für wahrscheinlich und rechne mit einem Arrangement mit Peking erst in etwa fünf, 10 zehn oder fünfzehn Jahren. Ähnlich hieß es in einem vertraulichen Schreiben des ZK der KPdSU an andere kommunistische Parteien von Ende 19 75, man müsse von einer "langen Dauer" (dolgovremennost") des maoistischen Regimes aus11 gehen. In der sowjetischen Führung mischten sich offenbar Wunschdenken und Resignation. Es fiel auf, daß die sowjetische Propaganda nach Dengs Sturz vom 7. April 1976 dessen sowjetfeindliche und NATO-freundliche Einstellung zu betonen und darüber hinaus zu unterstreichen begann, die beiden rivalisierenden Fraktionen in der chinesischen Führung seien in gleicher Weise nationalistisch und antisowjetisch eingestellt. Die Erklärung für die üminterpretation liegt auf der Hand. In Moskau hatte man bis dahin noch immer gehofft, die Deng-Fraktion werde sich durchsetzen, mit der

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man leichter zu einem modus vivendi zu gelangen hoffte als mit der maoistischen "Linken". Nachdem Deng - offenbar endgültig - ausgeschaltet worden war, sah man keinen Anlaß mehr, ihn zu schonen und ihm Verständigungsbereitschaft gegenüber der UdSSR zu unterstellen. Wie sehr die China-Interpretation in den sowjetischen Führungskreisen bis dahin auch geschwankt haben mag: Der unerwartete Tod Mao Zedongs führte in Moskau zu dem Entschluß, starke Anstrengungen zu unternehmen, um dieses Ereignis zu einer Wende in den sino-sowjetischen Beziehungen zu nutzen. Die Kremlführung ließ keine Zweifel daran aufkommen, daß in ihrer Sicht durch das Ableben des chinesischen Parteiführers ein entscheidendes Hindernis auf dem Wege zu einem Rapprochement mit Peking aus dem Wege geräumt worden war. Schlagartig wurde die Polemik eingestellt, und in Kondolenzbzw. Glückwunschtelegrammen, auf der Parteischiene übermittelt, signalisierte man den Wunsch, die 1966 unterbrochenen 12 Parteibeziehungen Wiederaufleben zu lassen. Die sowjetischen Avancen blieben unerwidert. Die Annahme der Telegramme, die das ZK der KPdSU anläßlich Maos Tod und der Ende Oktober erfolgten Ernennung Hua Guofengs zum Nachfolger schickte, wurde in Peking mit dem Hinweis auf feh13 lende Parteibeziehungen verweigert. Auch die Einstellung der Polemik wurde chinesischerseits nicht durch ein entsprechendes Verhalten honoriert. Gegen Jahresende ließen Pekinger Spitzenpolitiker, darunter auch Hua Guofeng, durch eindeutige Stellungnahmen erkennen, daß die neue chinesische Führung vorerst entschlossen war, Mao Zedongs antisowjetischen Kurs fortzuführen.1 4 Der sino-sowjetische Konflikt, so hieß es, werde mindestens tausend Jahre dauern. 15 Gewisse Hoffnungen verband die Kremlführung offenbar mit Sondierungsgesprächen, zu denen der Leiter der Grenzver-

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handlungskommission, Leonid Iljitschow, Ende November 1976 in Peking eintraf. In den Kontakten mit dem Stellvertretenden Außenminister Yu Zhan wurden indes allem Anschein nach nur die bereits bekannten Standpunkte ausgetauscht. Bei Iljitschows Abreise Ende Februar 1977 verlautete aus offiziellen chinesischen Quellen, dieser habe keine neuen Ergebnisse mit nach Hause nehmen können. Inzwischen wurde in Moskau deutlich, daß man die Normalisierungsinitiative als gescheitert betrachtete. Der sowjetische Propagandaapparat nahm Mitte Februar 19 77 die anti17 chinesische Polemik wieder auf. Ende April griff erstmals seit Maos Tod ein sowjetischer Spitzenpolitiker China 18 wieder öffentlich an. Im Mai wählte das sowjetische Außenministerium das ungewöhnliche Mittel einer Protestnote, um die chinesische Regierung zu beschuldigen, sie erzeuge durch laufende Propagandakampagnen in China eine "antisowjetische Psychose". 1 9 Die Veröffentlichung chinakritischer Bücher und Broschüren, die mit Maos Tod aufgehört hatte, wurde wieder aufgenommen. Moskau steigerte seine Polemik in kurzer Zeit bis hin zu den schrillsten Tonlagen, die seit dem "Ussuri-Konflikt" von 1969 hörbar geworden waren.

2. Chinas Entlassung aus dem Geltungsbereich der "BreshnewDoktrin" Auf einem anderen Gebiet kam Moskau den chinesischen Führern in einem Maße entgegen, das an Selbstverleugnung grenzte - wiederum, ohne eine entsprechende Gegenleistung zu erhalten. Es ging um die Frage, wie das Verhältnis zwischen der UdSSR und der VR China ideologisch zu definieren sei. Seit jeher gehörte es zum gemeinsamen Repertoir der kommunistischen Parteien, die Beziehungen zwischen ihnen mit dem

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Begriff "proletarischer Internationalismus" zu belegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde für die Beschreibung des Verhältnisses der kommunistisch regierten Staaten untereinander ein Prinzip des "sozialistischen Internationalismus" hinzuerfunden. Seither hat sich im kommunistischen Sprachgebrauch auch der Terminus "proletarisch-sozialistischer Internationalismus" eingebürgert - als Oberbegriff für die Charakterisierung der Beziehungen zwischen Parteien und Staaten, die sich als "sozialistisch" anerkennen. Nun konnte man schon seit der Veröffentlichung des "9. Kommentars" der KPCh vom 14. Juli 1964 den Eindruck haben, die chinesischen Führer erkennten die Sowjetunion nicht mehr als sozialistischen Staat an, denn dort war u.a. vom "Revisionismus", "Pseudokommunismus" Chruschtschows und von dessen 21 "Spielart des bürgerlichen Sozialismus" die Rede. Spätestens aber aus Anlaß des sowjetischen Überfalls auf die Tschechoslowakei im Juli 1968 wurde deutlich, daß Peking der UdSSR das Prädikat "sozialistisch" aberkannt hatte. Zwei Tage nach dem Ereignis bezeichnete Zhou Enlai die Intervention als Ausdruck eines "Sozialimperialismus" und "Sozial22 faschismus". Seither wurde es in China üblich, das außenpolitische Verhalten der "sowjetrevisionistischen Renegatenclique" unter Berufung auf Lenin als "Sozialismus in Worten, Imperialismus in der Tat" zu disqualifizieren sowie zwischen "echtem Sozialismus" und sowjetrevisionistischem "Pseudo-Sozialismus" zu unterscheiden. Es war nur konsequent, daß die Pekinger Führung hieraus den Schluß zog, auf die Beziehungen Chinas zur UdSSR könnte der Begriff des "proletarisch-sozialistischen Internationalismus" nicht mehr angewendet werden, sondern es hätten die Prinzipien der "friedlichen Koexistenz" zu gelten, die sich nach üblichem kommunistischem Sprachgebrauch grundsätzlich auf

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das Verhältnis zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung beziehen. Die Chinesen stützten diese Argumentation zusätzlich durch die Feststellung, der "proletarische Internationalismus" sowjetischen Typs bedeute nichts anderes als "Großmachtchauvinismus, dessen Ziel die Bezwin23 gung und Versklavung anderer Nationen" sei. Hierbei berief man sich in Peking - völlig zu Recht - darauf, daß im Zusammenhang mit den tschechoslowakischen Ereignissen sowjetischerseits vom "proletarischen Internationalismus" eine beschränkte Souveränität der nichtsowjetischen Staaten der "sozialistischen Gemeinschaft" im Sinne der "BreshnewDoktrin" sowie ein Interventionsrecht der UdSSR abgeleitet wurde. Ein sowjetischer Ideologe ging sogar so weit zu konstatieren, die "Solidarität mit dem Sowjetstaat" sei der wichtigste Bestandteil des "proletarischen Internationalismus"„ .24 Wenn nun aber, wie belegt wurde, der "proletarisch-sozialistische Internationalismus" eine zentrale Legitimationsfunktion für den Führungsanspruch der Sowjetunion im "sozialistischen Weltsystem" und für den Anspruch auf Intervention gegenüber unbotmäßigen Mitgliedern dieses Systems besitzt, dürfte es den Kremlführern zunächst als eine unerträgliche Zumutung erschienen sein, auf die Geltung dieses Prinzips gegenüber Peking zu verzichten, zumal man es in Moskau aus grundsätzlichen Erwägungen bis heute nicht aufgegeben hat, die VR China als einen "sozialistischen Staat" zu rubrizieren.25 Daß die sowjetische Führung sich am Ende dennoch hierzu durchrang, ist als Anzeichen dafür zu werten, wie ernst es ihr mit den Bemühungen um eine Entspannung im zwischenstaatlichen Bereich war. Im Frühjahr 1972 lenkte Breshnew zum ersten Mal ein: "Die offiziellen chinesischen Vertreter sagen uns, die Beziehungen zwischen der UdSSR und der VR China

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müßten auf der Grundlage der Prinzipien der friedlichen Koexistenz aufgebaut werden. Nun denn, wenn man es in Peking nicht für möglich hält, in den Beziehungen zu einem sozialistischen Staat weiter zu gehen, so sind wir bereit, die sowjetisch-chinesischen Beziehungen heute auch auf dieser Grundlage aufzubauen."26 Im Herbst 1973 wiederholte der sowjetische Generalsekretär diese Formulierung. 27 Anfang 1976 schließlich ließ er die im Kontext enthaltene Mißbilligung fallen und erklärte: "Wir sind bereit, die Beziehungen zu China nach den Prinzipien der friedlichen Koexistenz zu normalisieren."^° China war somit der Form nach aus dem Geltungsbereich der "Breshnew-Doktrin" entlassen. In Moskau muß diese Konzession mit sehr unguten Gefühlen gemacht worden sein: Man hatte eine Durchlöcherung des Prinzips des "proletarischen Internationalismus" gestattet - und dies bei stillschweigender Duldung der schizoiden Situation, wonach die UdSSR einen Staat als "sozialistisch" anerkennt, der ihr seinerseits diese Anerkennung verweigert.

3. Von der "Drei-Welten-Theorie" zur "internationalen antihegemonistischen Einheitsfront" Nach dem Scheitern des sowjetischen Wiederannäherungsversuchs, der anläßlich Mao Zedongs Tod eingeleitet worden war, lief die Polemik beider Seiten wieder auf Hochtouren. Die harte Pekinger Linie, die auf dem XI. Parteitag der KPCh 29 vom August 1977 bestätigt wurde , steigerte sich im Herbst bis hin zu der Forderung nach einer internationalen antisowjetischen Einheitsfront. Damit verließ die chinesische Führung den Boden der damals geltenden außenpolitischen Doktrin von den Drei Welten.

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Bereits in der "Zwischenzonentheorie" von 1964 hatte Mao Zedong die Vereinigten Staaten und die UdSSR als zwei Großmächte bezeichnet, die "in gutem Einvernehmen die Welt beherrschen" wollten. Immerhin aber ging man damals in Peking noch vom Bestehen eines "sozialistischen Lagers" aus, dem auch die Sowjetunion angehörte. Nach der von Deng Xiaoping 1974 verkündeten und seither verbindlichen "Drei-Welten-Theorie" hatte hingegen das "sozialistische Lager"' auf31 gehört zu bestehen. In der neuen Lesart bildeten die beiden Supermächte die Erste Welt, die restlichen Industriestaaten die Zweite Welt und die Entwicklungsländer, zu denen sich China zählte, die Dritte Welt. Die "Drei-Welten-Theorie" war allerdings, wenn man sie an Pekings außenpolitischer Praxis mißt, schon - zumindest teilweise - obsolet, als sie erstmals proklamiert wurde. Denn 1974 befand sich Peking, für jedermann erkennbar, bereits auf dem besten Wege zu einer immer dichter werdenden ökonomischen und politischen Kooperation mit den USA und deren Verbündeten. Somit wurden die beiden Supermächte seit dem Beginn der siebziger Jahre von Peking ganz unterschiedlich perzipiert. De facto bestand die Erste Welt für Peking nur noch aus der Sowjetunion, während die Vereinigten Staaten der Zweiten Welt der übrigen Industrieländer zugeschlagen wurden. "Drei-Welten-Theorie" und außenpolitische Praxis klafften also auseinander. Im Herbst 1977 überführte Deng Xiaoping, der starke Mann der nachmaoistischen Führung, die antisowjetische Strategie der VR China im Bereich der internationalen Politik in eine neue, brisante Qualität. Gegenüber einem Bonner Politiker drängte er auf die Bildung einer "Einheitsfront von Japan, Westeuropa, China und den USA" mit dem Ziel, die globaistrategischen Pläne der Sowjetunion zu durchkreuzen. 32

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Andere chinesische Spitzenpolitiker erläuterten in der Folgezeit gegenüber ausländischen Gesprächspartnern, was mit Dengs "Einheitsfront" angezielt war: eine informelle Allianz aller Staaten des Westens und der Dritten Welt gegen die Sowjetunion. 33 Nach der offiziellen Publizistik blieb allerdings - bis heute - die "Drei-Welten-Theorie" verbindlich, wenn auch seit Ende 197 7 mit der Einschränkung, die Sowjetunion sei "die noch bösartigere, abenteuerlichere und raffiniertere der beiden imperialistischen Supermächte und die gefährlichste Quelle eines Weltkriegs".34 Die Widersprüchlichkeit der chinesischen Argumentation, die unaufgelöst blieb, wurde natürlich auch in Moskau bemerkt. Die sowjetische Propaganda nahm prompt die chinesische Schwachstelle unter Beschuß und stellte der Konzeption der "antisowjetischen Einheitsfront" die Forderung entgegen, die Kommunisten und alle übrigen friedlich und fortschrittlich gesinnten Menschen müßten den gemeinsamen Kampf gegen "die Ideologie und die Politik des Maoismus als Reserve des Imperialismus" aufnehmen. 35

4. Die ungelöste Grenzproblematik Der "Ussuri-Konflikt", der zu einem Symbol für eine Reihe von blutigen Auseinandersetzungen in verschiedenen Sekto36 ren der sino-sowjetischen Grenze im Jahre 1969 wurde , hatte der Weltöffentlichkeit erstmals in spektakulärer Weise deutlich gemacht, daß es auch einen solchen Aspekt des Gesamtkonflikts zwischen Moskau und Peking gibt. Anschließende Erklärungen beider Seiten ließen die unterschiedlichen Grundsatzpositionen erkennen. 37

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Demnach fordert China nicht die Rückgabe der Territorien, die es - so die chinesische Sicht - in einem Umfang von 2 mehr als 1,5 Millionen km durch die "ungleichen Verträge" (bu pingdeng tiaoyue) des 19. Jahrhunderts an Rußland abtreten mußte. Wohl aber verlangt Peking von der UdSSR, diese solle die Unrechtmäßigkeit des Zustandekommens dieser Verträge einräumen. Im übrigen erhebt es Anspruch auf Rückgabe derjenigen Gebiete, die unter Verletzung der genannten Verträge an Rußland bzw. an die Sowjetunion fielen. Der Umfang dieser Territorien, die chinesischerseits als "umstrittene Gebiete" (zhengyi diqu) firmieren, wird üblicherweise 2 ^8 mit maximal 35.000 km angegeben. Hierbei handelt es sich 2 um Gebiete, die vor allem den Pamirstreifen (über 20.000 km ) , mehr als 600 Inseln und Uferstreifen im Amur- und Ussuribereich sowie kleinere Bezirke an der turkestanischen Grenze umfassen. Sie entsprechen insgesamt etwa der Größe Belgiens und machen weniger als 1,6 Prozent des sowjetischen Territoriums aus. In Moskauer Sicht ist die sowjetische Grenze als solche "heilig" und "unantastbar". Es sei allenfalls möglich, "die Linie des Grenzverlaufs an einzelnen Abschnitten ... zu präzisieren" . Die Sowjetunion hat - bis heute - "umstrittene Gebiete" (spornye rajony) nicht einmal begrifflich anerkannt. Sie sah sich außerstande, den chinesischen Forderungen auch nur im geringsten entgegenzukommen, weil sie Präzedenzwirkungen im Hinblick auf andere Abschnitte ihrer Grenze fürchtete, so in Osteuropa und gegenüber Japan. Im Jahre 19 84, also 15 Jahre nach der Darlegung der Grundsatzpositionen im Grenzkonflikt, stehen sich beide Seiten in dieser Frage nach wie vor unversöhnlich gegenüber. Mehrere Grenzgespräche auf der Ebene Stellvertretender Außenminister, von denen das erste im Oktober 1969 und das bisher

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letzte im Oktober/November 1978 stattfand, blieben erfolglos. Noch im Sommer 1984 bestätigte der chinesische Ministerpräsident, daß Peking seinen Anspruch auf die "umstrit40 tenen Gebiete" aufrechterhält. China ist sich des sowjetischen Dilemmas in dieser Frage wohl bewußt und blieb dennoch unnachgiebig. Der chinesische Immobilismus läßt sich am ehesten aus einer grundsätzlichen, prestigebewußten Haltung erklären, gepaart mit dem Bedürfnis, vor der Weltöffentlichkeit die Kremlführer als "neue Zaren" zu entlarven, die die Tradition des russischen Expansionismus in Asien fortsetzen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob Peking überhaupt an einer Beilegung des Grenzstreits gelegen ist, denn dieser läßt sich immer dann mühelos hochspielen, wenn es im chinesischen Interesse liegt, allzu stürmische Annäherungsversuche der UdSSR abzubremsen.

5. 1979: Ein Jahr der Wende? Im Jahre 1979 ließ die chinesische Führung - bei unverändert starrer Haltung in der Grenzfrage - erstmals Anzeichen einer gewissen Entspannungsbereitschaft erkennen. Die Gründe hierfür lassen sich heute noch nicht bis ins letzte Detail aufklären, zeichnen sich aber in Umrissen ab. Die Spuren führen zu der inzwischen legendär gewordenen 3. Plenartagung des XI. Zentralkomitees der KPCh vom Dezember 1978 zurück. Auf diesem Plenum konnten sich Deng Xiaoping und seine Anhänger als Vertreter einer pragmatischen Innen- und Wirtschaftspolitik gegen ihre "maoistischen" Gegner durchsetzen. Im Kommunique wurden zwar nur innenpolitische Probleme im einzelnen angesprochen, doch einleitend hieß es, man habe

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auch über "die internationale Lage und die Tätigkeit in bezug auf die auswärtigen Angelegenheiten" diskutiert. 41 Es ist zu vermuten, daß die Parteiführung bereits damals neue außenpolitische Akzente setzte, die auf eine unabhängigere, pragmatischere, stärker an chinesischen Nationalinteressen orientierte Linie hinauslief. Diese Linie nahm allerdings erst ab 1981/82 im Kontext der wegen der Taiwanfrage sich verschlechternden Beziehungen zu den Vereinigten Staaten kräftigere Konturen an.42 Wo ist nun der Kausalzusammenhang zwischen der auf dem 3. Plenum beschlossenen neuen Innenpolitik und der sich lockernden Haltung der VR China gegenüber der UdSSR zu suchen? Die Neudefinition der gesamtpolitischen Ziele stellte eindeutig die "sozialistische Modernisierung" an erste Stelle, also den wirtschaftlich-technischen Fortschritt des Lan43 des, der durch Reformen erreicht werden sollte. Die Außenpolitik hatte hierfür günstige Rahmenbedingungen zu schaffen. Hierzu gehörte ein friedliches internationales Umfeld, das militärische Verwicklungen mit dem überlegenen Hauptgegner Sowjetunion ausschloß, einen weiteren Ausbau des militärischen Potentials überflüssig machte, womöglich sogar eine Umverteilung von Ressourcen aus dem militärischen in den zivilen Sektor gestattete. Außerdem ist zu beachten, daß man sich kurz vor dem 3. Plenum mit den USA über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zum 1. Januar 1979 geeinigt hatte. Wenn das langerstrebte Ziel einer vollen Normalisierung mit den Vereinigten Staaten einen Grund darstellte, bei dem Streben nach einer Detente mit Moskau Zurückhaltung zu üben, so war dieser Grund nunmehr entfallen. Man konnte sogar umgekehrt argumentieren: Verbesserte Beziehungen zur UdSSR versprachen 44 mehr Spielraum im Umgang mit den Vereinigten Staaten.

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Auch ein anderer neuer Tatbestand legte es nahe, die UdSSR freundlicher zu behandeln. Die nachmaoistische Politik der Wirtschaftsreformen bewegte sich u.a. in Richtung partieller Dezentralisierung der Planwirtschaft, Einfügung marktwirtschaftlicher Elemente, Zulassung privatwirtschaftlicher Initiativen. Die entsprechenden Maßnahmen zielten in einigen Aspekten über das hinaus, was die chinesische Propaganda seit den sechziger Jahren am sowjetischen System immer wieder als "revisionistische" Tendenzen, ja sogar als "Rückkehr zum Kapitalismus" angeprangert hatte. Die nunmehr auf dem Wege befindliche sino-sowjetische Konvergenz führte im Verlauf des Jahres 1979 in China zu einer internen Diskussion über den Charakter des sowjetischen Gesellschaftssystems, an deren Ende der Beschluß stand, den "Revisionismus"-Vor45 wurf gegenüber Moskau fallenzulassen. Die offenbar gleichzeitig entbrannte Debatte darüber, ob man die UdSSR nunmehr wieder als einen "sozialistischen Staat" betrachten könner wurde allerdings im Frühjahr 1980 durch eine autoritative Feststellung Deng Xiaopings beendet: Die Sowjetunion sei wegen ihrer hegemonistischen Außenpolitik "kein sozialisti46 scher, sondern ein sozialimperialistischer Staat". Pekings Weigerung, die UdSSR als einen "sozialistischen Staat" anzuerkennen, wird bis heute aufrechterhalten, während man im Hinblick auf die osteuropäischen GefOlgsstaaten der Sowjetunion unlängst eine Wende vollzogen hat. 47 Wenn die ersten Weichen in Richtung auf eine Auflockerung gegenüber der UdSSR bereits auf dem 3. ZK-Plenum gestellt worden waren, so ist es wahrscheinlich, daß die chinesischen Führer in dieser Frage kurz darauf wieder unsicher wurden, und zwar durch den Ende Dezember 1978 erfolgten vietnamesischen Einmarsch in Kambodscha, der von Moskau materiell und ideell unterstützt wurde. So ist es wohl auch zu erklären, daß Deng Xiaoping am Vorabend seines Aufenthalts

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in den Vereinigten Staaten von Januar/Februar 19 79 seinen im Herbst 19 77 erstmals gemachten Vorschlag wiederholte, China, die USA, Europa und Japan sollten sich vereinigen, um "den 48 Polarbären an die Kandare zu nehmen". Durch die Gespräche mit Präsident Carter und anderen amerikanischen Spitzenpolitikern mußte er sich indes davon überzeugen lassen, daß die USA, die damals noch an einer Entspannungspolitik gegenüber Moskau festhielten, nicht für eine "antisowjetische Einheitsfront" zu gewinnen waren. Zusätzliche Verstimmung im Verhältnis Pekings zu Washington löste der am 15. März 1979 vom Kongreß verabschiedete "Taiwan Relations Act" aus. Im Gegensatz dazu verhielt sich die UdSSR etwa zur selben Zeit auffällig rücksichtsvoll gegenüber China: Während des chinesischen "Erziehungsfeldzugs" gegen Vietnam von Februar/März führte sie keine der von Peking erwarteten militärischen Entlastungsmaßnahmen an der sino-sowjetischen Grenze durch. Wenn auch die Debatte in der chinesischen Führungsspitze über die Auflockerung der Beziehungen zu Moskau in diesen Monaten hin und her gegangen sein mag, so wurde dennoch am 3. April 1979 deutlich, daß inzwischen die Entscheidung zugunsten einer Demonstration der Verständigungsbereitschaft gefallen war. An diesem Tag kündigte Peking zwar, wie länger vorhergesagt, den am 11. April 1980 auslaufenden sowjetisch-chinesischen Bündnisvertrag aus dem Jahre 1950, weil dieser schon seit langem nur noch ein Stück Papier gewesen sei, schlug aber im selben Schreiben - erstmals ohne Vorbedingungen - die Aufnahme von "Verhandlungen zwecks Lösung der offenstehenden Probleme und Verbesserung der BeZiehungen" vor. 49 Es ist anzunehmen, daß, einmal abgesehen von den oben angeführten schwerwiegenderen Gründen für eine Entspannung gegenüber Moskau, hier auch das Bedürfnis eine Rolle gespielt hat, bei der Kündigung des Bündnisvertrags

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nicht ganz ohne Netz zu arbeiten und die Verhandlungen als einen - natürlich geringerwertigen - Ersatz anzubieten. Im Kreml reagierte man zunächst sehr heftig auf die chinesische Kündigung und bezeichnete sie als einen "feindseligen Akt", aus dem man die entsprechenden Schlußfolgerungen 50 ziehen werde. Doch schon nach zwei Wochen griff die sowjetische Seite den im Kündigungsschreiben enthaltenen Verhandlungsvorschlag auf und zeigte sich bereit, Gespräche über eine "Erklärung über die Prinzipien der Beziehungen" beider Staaten zueinander aufzunehmen.51 Die erste Verhandlungsrunde fand vom 17. Oktober bis zum 30. November 1979 zwischen den Vize-Außenministern Leonid Iljitschow und Wang Youping in Moskau statt. Sie wurde geheim geführt, doch sickerte durch, daß man ohne greifbare Ergebnisse auseinandergegangen war. Nach allen verfügbaren Erkenntnissen lagen die Verhandlungspositionen unüberbrückbar weit auseinander. Die Chinesen forderten, Moskau müsse zunächst einmal zwei Normalisierungshindernisse aus dem Wege räumen, nämlich 1. die Militärpräsenz an der Grenze zu China auf den Stand von 196 4 absenken (also - dies sind westliche Zahlen die dort stationierten Divisionen von 50 auf 25 reduzieren) und die in der Mongolischen VR befindlichen sowjetischen Truppen verringern sowie 2. die Unterstützung des vietnamesischen Expansionismus in Indochina einstellen. Die sowjetische Seite hingegen bestand darauf, als erstes müsse eine von ihr eingebrachte "Erklärung über die Prinzipien der gegenseitigen Beziehungen" unterzeichnet werden, bevor man über konkrete Punkte sprechen könne. Am Ende

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wurde lediglich vereinbart, die nächste Runde in Peking abzuhalten. Daß die Gespräche dann für runde drei Jahre ausgesetzt wurden, geht vor allem auf die sowjetische Intervention in Afghanistan vom Dezember 1979 zurück. In Peking wertete man diesen Schritt Moskaus als eine Fortsetzung der sowjetischen Einkreisungsstrategie gegenüber China und erklärte Mitte Januar 1980, wegen der Intervention halte man eine für Februar vorgesehene Fortsetzung der Verhandlungen für 52 "unangebracht". Das Klima zwischen Moskau und Peking wurde wieder eisig. Im Oktober 19 80 kam es zu einem neuen blutigen Grenzzwischenfall, und im Januar 1981 warf die UdSSR den Chinesen vor, sie hätten allein im Vormonat mehr als 300 antisowjetische Artikel und Meldungen in der "Renmin ribao" veröffentlicht. 53

6. Der Entspannungsprozeß Im Herbst 1982 wurden die Gesprächsfäden zwischen Moskau und Peking wiederaufgenommen und bis heute kontinuierlich weitergesponnen. Vom 5. bis 25. Oktober fand in Peking eine erste Runde von "Konsultationen" statt, wie man die Kontakte nunmehr nannte - eine deutliche protokollarische Herabstufung im Vergleich zu den "Verhandlungen" von 1979, die deswegen erforderlich wurde, weil man sich nicht auf eine Tagesordnung einigen konnte. Danach folgten, jeweils im Halbjahresabstand im März und Oktober, drei weitere Runden; eine fünfte ist für Oktober 1984 vorgesehen. Die Gesprächsebene blieb die gleiche wie 1979. Als Delegationsleiter traten bisher die beiden Stellvertretenden Außenminister Leonid Iljitschow und Qian Qichen auf. 54

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Welche Gründe es waren, die in Peking die Bereitschaft erzeugten, den 1979 begonnenen und 1980 wegen Afghanistan unterbrochenen Entspannungsprozeß Wiederaufleben zu lassen, läßt sich im einzelnen nicht schlüssig nachweisen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit gab es jedoch mindestens drei Faktoren, die in dieselbe Richtung wirkten. Zum einen war es das psychologische Moment des Zeitablaufs, das es den Chinesen - wie ja auch dem politischen Westen - nach der Einhaltung einer Schamfrist gestattete, sozusagen wieder zur Tagesordnung zurückzukehren, nachdem der schmutzige Krieg der Sowjetunion in Afghanistan zum politischen Alltag geworden war und sich weit und breit keine Möglichkeit abzeichnete, die sowjetischen Streitkräfte zum Abzug zu veranlassen. Zum zweiten hatte sich das sino-amerikanische Verhältnis in der Zwischenzeit dadurch deutlich verschlechtert, daß der Ende 1980 gewählte neue amerikanische Präsident Reagan erkennen ließ, er werde die traditionellen Beziehungen der USA zu Taiwan stärken und Peking keinen unbeschränkten Zugang zur Hochtechnologie gewähren. Die "sowjetische Karte" bot sich hier an, um sowohl in der Taiwanfrage als auch im technologischen Bereich als Druckmittel eingesetzt zu werden. Drittens schließlich schienen die wachsenden ökonomischen und außenpolitischen Schwierigkeiten der UdSSR (Afghanistan, Polen, INF-Problematik) in der ausgehenden Ära Breshnew besonders günstige Voraussetzungen für eine Konzessionsbereitschaft der Kremlführung gegenüber China zu bieten. Der mit der ersten sino-sowjetischen Konsultationsrunde einsetzende Entspannungsprozeß wurde - anders als die Normalisierungsverhandlungen von 1979 - von vornherein durch die Wiederaufnahme der bilateralen Zusammenarbeit flankiert, die in den sechziger Jahren auf die Aufrechterhaltung diplomatischer Beziehungen und eines marginalen Handels reduziert

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worden war. Seit Anfang 1982 fanden wieder Sport- und Wissenschaftskontakte statt. Inzwischen wurde auch die Kooperation im kulturellen, post- und fernmeldetechnischen, touristischen und anderen Bereichen sowie im Grenzhandel wiederaufgenommen. Das Handelsvolumen, das 1981 mit 252 Millionen US Dollar auf rund 0,16 Prozent des sowjetischen und etwa 0,6 Prozent des chinesischen Gesamthandels geschrumpft war 55, verdreifachte sich 1983 und soll sich 1984 verfünffachen, 56 d.h. es soll auf etwa 1 ,1 8 Milliarden US Dollar steigen. Bei den Oktober-Konsultationen des Jahres 1983 wurde erstmals wieder ein technisches Entwicklungshilfeprojekt in Angriff genommen: Sowjetische Fachleute werden eine alte, aus der UdSSR stammende Textilfabrik in Harbin modernisieren. Außerdem soll der sowjetische Delegationsleiter einen 10Punkte-Vorschlag im Sinne von vertrauensbildenden Maßnahmen vorgelegt haben, der u.a. die Installation eines "heißen Drahts", das Einfrieren der militärischen Präsenz an der gemeinsamen Grenze sowie die Einrichtung einer atomwaffenfreien Zone im Grenzbereich betraf.57 Insgesamt läßt sich für das bilaterale Verhältnis in der Zeit zwischen Frühjahr 1982 und Frühjahr 1984 feststellen, daß eine Verbesserung im Atmosphärischen, im Klima des Umgangs miteinander festzustellen ist, was sich auch in einer deutlichen Herabstufung der wechselseitigen öffentlichen Polemik ausdrückt. Keine substanstiellen Fortschritte wurden hingegen auf dem Gebiet erzielt, das chinesischerseits mit dem Terminus "Normalisierungshindernisse" umschrieben wird. Im Verlauf der bisherigen vier Konsultationsrunden wurde dieser Bereich im Vergleich zum Herbst 1979 von Peking ausgeweitet, so daß der chinesische Forderungskatalog im Sommer 1984 wie folgt aussieht : 1. Verringerung der sowjetischen Militärpräsenz an der sino-sowjetischen und der sino-mongolischen Grenze und Reduzierung der in Asien stationierten SS-20-Raketen,

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2. Verzicht auf eine Unterstützung des vietnamesischen Expansionismus in Indochina sowie 3. Truppenrückzug aus Afghanistan. Peking verlangt die Erfüllung zumindest eines Teils seiner Forderungen im Sinne "praktischer Maßnahmen", die die Bedrohung Chinas vermindern und so eine Verbesserung der Beziehungen ermöglichen würden. Moskau hingegen betrachtet die chinesischen Postulate als unzulässige Vorbedingungen. In Peking scheint man die in Punkt 2 des Katalogs angesprochene Kambodschafrage als am vordringlichsten anzusehen ein Bereich, in dem die UdSSR bisher keinerlei Bereitschaft zum Nachgeben signalisiert hat. BewegungsSpielraum ist offenbar am ehesten in Punkt 1 (militärischer Aufmarsch an der Grenze) gegeben. Hier hat Moskau allem Anschein nach vorgeschlagen, den beiderseitigen Abzug an der gemeinsamen (nicht aber an der sino-mongolischen) Grenze zu vereinba59 ren und einen Nichtangriffspakt abzuschließen. China hingegen besteht darauf, die sowjetische Truppenverminderung müsse als Vorleistung erfolgen und überdies müßten die in der Äußeren Mongolei stationierten Kontingente einbezogen werden. Die chinesische Forderung nach einer Verringerung bzw. dem Abbau der 135 ausschließlich oder primär auf asiatische Ziele ausgerichteten SS-20-Raketen wurde - nach Abstimmung mit Tokyo - erstmals auf der 3. Konsultationsrunde vom Oktober 1983 vorgebracht. Bisher weigerte sich Moskau, in eine formelle Erörterung der Konfliktfelder Kambodscha, Afghanistan und Mongolische VR (dortige Stationierung sowjetischer Truppen) einzutreten. Als Begründung wurde angegeben, hierbei handle es sich um befreundete Staaten, und die sowjetischen Beziehungen zu

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China könnten selbstverständlich nicht auf deren Kosten verbessert werden (Drittstaatenargument). Die Chinesen wiesen diese Argumentation als fadenscheinig zurück. Die UdSSR habe sich doch auch früher nicht geniert, z.B. mit den Vereinigten Staaten Angelegenheiten dritter Länder zu erörtern; überdies sei China hinsichtlich der Beziehungen der Sowjetunion zu anderen Staaten ebenfalls ein Drittland, dessen Interessen nicht verletzt werden dürften.

7. Klimaverschlechterung seit Frühjahr 1984 Was das Tempo des Entspannungsvorgangs angeht, so verhielt sich Peking von Anfang an und bis heute eher reserviert. Die UdSSR hingegen drängte, getreu ihrer Anfang der siebziger Jahre übernommenen Rolle des Demandeurs, unter Breshnew und Andropow auf schnelle Fortschritte - allerdings unter Ausklammerung der Differenzen in den drei großen sicherheitspolitischen Bereichen. Im Laufe des ersten Halbjahres 1984, unter Tschernenko, schlug diese drängende Grundhaltung in ihr Gegenteil um: Mit der überraschenden sowjetischen Absage der Chinareise Archipows im Mai setzte - erstmals wieder seit 1982 - eine merkliche Abkühlung der Beziehungen ein, die sich auch in einer Verschärfung der wechselseitigen Polemik äußerte. a. Von Andropow zu Tschernenko Dabei hatte es in den ersten Monaten des Jahres 1984 so ausgesehen, als ob sich beide Seiten darum bemühten, dem Annäherungsprozeß neuen Schwung zu verleihen. So war beabsichtigt, den diplomatischen Verkehr, der sich üblicherweise auf der Ebene Stellvertretender Außenminister und ausnahmsweise der Außenminister vollzogen hatte, protokollarisch

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höherzustufen. Diese zeigte sich, als Anfang Februar offiziell bestätigt wurde , der Erste Stellvertretende Ministerpräsident Iwan Archipow werde eine Reise nach China unternehmen. Kurz darauf bot Generalsekretär Andropows Tod (9. Februar 1984) beiden Seiten die Gelegenheit, die verabredete Aufwertung des Protokolls zeitlich vorzuziehen. Im Unterschied zu November 1982, als Staatskommissar und Außenminister Huang Hua zu Breshnews Beerdigung nach Moskau geschickt wurde, nahm dieses Mal der erste Stellvertretende Ministerpräsident Wan Li an den Trauerfeierlichkeiten teil. Auch wenn die chinesische Regierungsstruktur - anders als die sowjetische - das Amt eines Ersten Vizepremiers nicht kennt, so nimmt Wan Li dennoch nach der protokollarischen Reihenfolge und der Funktion die Position eines primus inter pares ein. Die Aufwertung ergibt sich materiell auch daraus, daß Huang Hua nur ZK-Mitglied war, während Wan Li dem Politbü64 ro angehörte. Damit reiste der ranghöchste Regierungsvertreter seit Zhou Enlais Moskau-Visite von November 1964 nach der UdSSR. Wan Li wurde von einem Ersten Stellvertretenden Ministerpräsidenten, Gejdar Alijew, empfangen, dem er mitteilte, es werde auch in Zukunft keine substantiellen Fortschritte im sino-sowjetischen Verhältnis geben, solange Moskau nicht die drei "Normalisierungshindernisse" beseitige. Auffällig war eine chinesische Würdigung der Amtszeit Andropows, die ausschließlich positive Akzente setzte. Hierbei mag eine Rolle gespielt haben, daß Andropow, der angeblich mehr von China verstand "als Breshnew und Tschernenko zusammengenommen" (Bowin), sich möglicherweise intensiver um eine sino-sowjetische Annäherung bemüht hatte als sein Vorganger. Im übrigen äußerten sich unmittelbar nach Andropows Tod beide Seiten gedämpft optimistisch bis skeptisch.

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Am Vorabend der für März vorgesehenen 4. Konsultationsrunde, nahm der chinesische Propagandaapparat die Polemik gegen die sowjetische Intervention in Afghanistan wieder auf und griff sogar auf Elemente der bereits früher artikulierten "Strangulationstheorie" zurück, wonach die sowjetische Asienpolitik u.a. darauf abziele, durch Vorstöße auf den Persischen Golf und die Straße von Malakka Japan und Westeuropa von der Ölversorgung abzuschneiden.69 Etwa gleichzeitig machten beide Seiten deutlich, daß in der Frage der "Normalisierungshindernisse" vorerst keine Bewegung zu erwarten war. Dabei ging Peking so weit, Tschernenko persönlich zu kritisieren, weil dieser - im Gegensatz zu den seinerzeit von Andropow gewählten entspannungsfreundlicheren Formulierungen - in seinen ersten öffentlichen chinabezogenen Äußerungen als neuer Generalsekretär u.a. erneut die in Pekinger Sicht provozierende "Drittstaatenargumentation" aufgetischt hatte. 71 b. Die 4. Konsultationsrunde Insofern ist es auch nicht verwunderlich, daß die 4. Konsultationsrunde (12. bis 26. März 1984 in Moskau) auf den großen sicherheitspolitischen Konfliktfeldern keine Fortschritte brachte, sondern allenfalls in der Lage gewesen sein dürfte, die Kooperationsvorhaben im bilateralen Bereich vorsichtig fortzuschreiben. Daß seit dem Beginn der Konsultationen im Herbst 1982 die Zusammenarbeit auf den Gebieten "Wirtschaft, Handel, Wissenschaft, Kultur und Sport" verstärkt wurde, findet sich erstmals auch im gemeinsamen Kommunique. 72 Über zu erwartende Fortschritte in diesem Bereich schweigt das Kommunique allerdings genauso wie über den Gesamtkomplex der "Normalisierungshindernisse". Daß keine rasante Steigerung des Tempos bei der bilateralen Kooperation vereinbart wurde, ließ sich den zurückhaltenden Formulierungen

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einer wenig später verbreiteten Pressemitteilung des chinesischen Außenministeriums entnehmen, der zufolge beide Seiten auf eine Ausweitung der Zusammenarbeit "hofften". 73 Die Atmosphäre der 4. Konsultationsrunde wurde im Kommunique als "offen" (chin, tanshuai di, russ. otkrovennaja) und "ruhig" (chin, pingjing di, russ. spokojnaja) bezeichnet. Diese Adjektive finden sich zwar auch schon im Kommunique der 3. Runde von Oktober 1983, aber in umgekehrter Reihenfolge. 74 Die Änderung könnte könnt auf eine Verschärfung der Konfliktbereitschaft hindeuten Vor der Rückreise nach Peking wurde der chinesische Sondergesandte, Vizeaußenminister Qian Qichen, der erneut die Gespräche mit dem Stellvertretenden Außenminister Leonid IIjitschow geführt hatte, wie üblich von Außenminister Gromyko empfangen. 75 Ein Treffen der beiden Außenminister, das Qian Qichen u.U. während der März-Konsultationen vorschlagen woll7fi 77 te , konnte nicht vereinbart werden , doch war nach dem Kommunique die planmäßige Fortsetzung der Konsultationen in einer 5. Runde im Oktober 1984 vorgesehen. Unmittelbar nach Abschluß der 4. Konsultationsrunde flammten die Angriffe der Medien wechselseitig wieder auf und nahmen an Heftigkeit zu. Moskau kritisierte angebliche sowjetfeindliche Tendenzen, die anläßlich des Besuchs von Ministerpräsident Nakasone in Peking (23. bis 26. März 1984) in Er78 scheinung getreten seien , warf China Geschichtsfälschung im Zusammenhang mit Territorialansprüchen gegenüber der 79 UdSSR vor und bezichtigte China - allerdings vorerst indirekt, unter kommentarloser Bezugnahme auf vietnamesische Veröffentlichungen - neuer militärischer übergriffe an der 80 Grenze zu Vietnam. Die Kämpfe an der sino-vietnamesischen Grenze waren Anfang April wieder aufgenommen worden. Hierbei hatte offenbar Peking die Initiative ergriffen, um Hanoi

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dafür zu "bestrafen", daß vietnamesische Truppen Ende März im Zuge der seit 1978 schwersten Kambodscha-Offensive zum dritten Mal (vorher: 1980 und 1982) auf thailändisches 81 Territorium vorgedrungen waren. Daß man in Moskau den prosowjetischen Gegenspieler Mao Zedongs, den 1974 in der UdSSR verstorbenen Chen Shaoyu (Deckname: Wang Ming), anläßlich seines 80. Geburtstags öffentlich ehrte

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, dürfte auf der

chinesischen Seite alles andere als Wohlwollen erzeugt haben. 83 Die Chinesen wiesen die sowjetischen Angriffe zurück. Sie kritisierten ihrerseits den Aufmarsch der Sowjetarmee gegenüber China einschließlich der Aufstellung von SS-20-Raketen und wandten sich dabei besonders gegen die Stationierung sowjetischer Truppen in der Mongolischen VR, "die einem 84 •• Messer gleicht, das auf Chinas Herz gerichtet ist". Ahnlich scharf fielen allgemeine Angriffe gegen den sowjetiQ C

sehen Expansionismus in Asien aus. Ungeachtet dieser propagandistischen Duelle ging allerdings zur gleichen Zeit der Ausbau der bilateralen Zusammenarbeit weiter. Dies läßt sich anhand wechselseitiger Besuche von Delegationen der Freundschaftgesellschaften, der Erhöhung des jährlich auszutauschenden Studentenkontingents auf 70 Personen und einer UdSSR-Reise chinesischer Braunkohleexperten mit einem Vizeminister an der Spitze belegen. c

• Die Absage des Archipow-Besuchs

Der eigentliche Klimasturz trat am 9. Mai ein. An diesem Tag sagte die Kremlführung den Chinabesuch des Ersten Stellvertretenden Ministerpräsidenten Iwan Archipow, der am Fol87 getag beginnen sollte, ab und bat um Verschiebung. Die Absage im letzten Moment mit der Begründung, man sei "nicht voll vorbereitet", mußte in Peking als eine diplo-

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matische Ohrfeige empfunden werden, war doch, ganz im GegenteiX, der Besuch lange und sorgfältig vorbereitet worden. Die ersten Sondierungen hatten offenbar bereits im Herbst 1983, während der Chinavisite des Stellvertretenden Außenministers Michail Kapiza vom September oder der 3. Konsul88 tationsrunde vom Oktober, stattgefunden. Anfang Februar 1984 wurde die Reise erstmals, und zwar sowjetischerseits, offiziell bestätigt, wenn auch noch ohne eine Terminangabe. Die chinesische Einladung für "später in diesem Jahr" wurde am 2. März ausgesprochen, wobei man den sowjetischen Wunsch

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unerfüllt ließ, den Archipow-Besuch noch vor der für Ende 90 April geplanten Chinareise Reagans abzuwickeln. Eine konkretere Angabe machte zwei Wochen darauf Parteichef Hu Yaobang, der zur Zeit der in Moskau stattfindenen 4. sino-sowjetischen Konsultationsrun