Trauernde hören, wertschätzen, verstehen: Die personzentrierte Haltung in der Begleitung [2 ed.] 9783666402555, 9783525402559

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Trauernde hören, wertschätzen, verstehen: Die personzentrierte Haltung in der Begleitung [2 ed.]
 9783666402555, 9783525402559

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Norbert Mucksch

EDITION

 Leidfaden

Trauernde hören, wertschätzen, verstehen Die personzentrierte Haltung in der Begleitung

EDITION

 Leidfaden

Hrsg. von Monika Müller

Die Buchreihe Edition Leidfaden ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen im (semi-)professionellen Umgang mit Trauernden.

Norbert Mucksch

Trauernde hören, wertschätzen, verstehen Die personzentrierte Haltung in der Begleitung Mit einem Vorwort von Michael Schlechtriemen

Vandenhoeck & Ruprecht

Für Ursula, unsere gemeinsame Freundin! Sie verstarb – viel zu früh – in der Entstehungsphase dieses Buches. Die Begegnung mit Dir und unser Austausch hat mich gelehrt, was absichtslose Begleitung ausmacht. Du hast mich während der Arbeit an diesem Buch selbst trauern lassen. Danke!

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. 2., unveränderte Auflage 2018 © 2018, 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: emoji/photocase.de Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprechtverlage.com ISBN 978-3-666-40255-5

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 I  Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  17 Wer war Carl Ransom Rogers und was hat ihn geprägt? . . . . .  17 Das Menschenbild hinter dem personzentrierten Ansatz von C. R. Rogers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  20 Ein personzentriertes Verständnis von Trauer . . . . . . . . . . . . .  21 Personzentrierte Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  22 Der Begriff des »Selbstkonzepts« unter der besonderen Berücksichtigung der menschlichen Erfahrung und der Realität von Sterben und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Ein Beispiel aus der Trauerbegleitung . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Ein Beispiel aus der Sterbebegleitung, die immer auch ein Stück Trauerbegleitung ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Die hohe Bedeutung der subjektiven Seite der Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Drei zentrale Beratungsmerkmale: Eine Haltung . . . . . . . . . . .  32 Das Beratungsmerkmal der Akzeptanz und der Wertschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Das Beratungsmerkmal der Empathie (Einfühlendes Verstehen – Aktives Hinhören) . . . . . . . . . . 45 Das Beratungsmerkmal der Echtheit und der Authentizität 52

6   Inhalt

Die Ermöglichung der Fähigkeit eines trauernden Menschen, dem eigenen Erleben Ausdruck zu verleihen . . . . . . . . . . . . . .  58 II  Praxisberichte – Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  61 Fallbeispiel 1: Nicht zu »überbietende« Trauer nach 60 Ehejahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Fallbeispiel 2: Nicht wirklich anerkannte Trauer . . . . . . . . . . . 65 Fallbeispiel 3: Trauer um die hochbetagte und demente Mutter – Trauer mit Bildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Fallbeispiel 4: Abgegrenzte und autarke Trauer einer sehr selbstbewusst auftretenden Trauercafébesucherin . . . . . . . . . . 69 III  Was macht eine personzentrierte Trauerbegleitung aus? Konkrete Hinweise für Begleitende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  73 Personzentrierte Trauerbegleitung benötigt »eigentlich« überhaupt nicht viel! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  74 Das Bewusstsein von Unwissenheit als Qualität und Ressource in der Begleitung. Oder: Der personzentrierte Trauerbegleiter ist erst einmal »dumm« . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Zurückhaltung als Qualität und Ressource in der Begleitung. Oder: Der personzentrierte Trauerbegleiter ist grundsätzlich »faul« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Zugewandtes Interesse als Qualität und Ressource in der Begleitung. Oder: Der personzentrierte Trauerbegleiter ist wesensmäßig »neugierig« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Das scheinbare Paradox der ziellosen Absichtslosigkeit in der personzentrierten Trauerbegleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . .  78 Was es noch braucht: Hören – Standhalten – Verlangsamen . 82 Was Trauerbegleitende in der Begleitung auf jeden Fall unterlassen sollten – Ein Fehlerkatalog . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  89   1. Dirigieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92   2. Debattieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93   3. Dogmatisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Inhalt   7

  4. Diagnostizieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93   5. Einseitiges Interpretieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94   6. Generalisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94   7. Bagatellisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95   8. Moralisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95   9. Sich identifizieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 10. Examinieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Die Verantwortung für das Gelingen einer Trauerbegleitung. Oder: Die Beachtung des Kairos als zusätzlicher Dimension und als echtes Potenzial in der Begleitung Trauernder . . . . . .  101 Die Beachtung der eigenen Intuition in der Begleitung Trauernder. Oder: Geschulte Intuition als kreative und kraftvolle Ergänzung zu einer personzentrierten Grundhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  108 Supervision und Selbstsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  112 Was brauchen Trauernde und wie kann ich in personzentrierter Haltung darauf reagieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  116 Zum Abschluss: Ein Märchen für Trauerbegleitende . . . . . . . .  118 Weiterführende Adressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  124 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  125

Vorwort

Ich denke an die einjährige Anna, die mit ihrem Vater bei uns zu Besuch ist, während ihre Mutter für zwei Tage verreisen musste. Nach einer Zeit wird ihr gewiss, dass die Mutter nicht da ist. Sie schreit herzzerreißend, nicht einmal der Vater kann sie trösten. Ich spüre, dass sie empfindet, den unsäglichen und brennenden Schmerz des Getrenntseins von der Mutter nicht aushalten zu können. Zu groß der Schmerz. Irgendwann ist sie erschöpft und es ist fürs Erste herausgeschrien – sie lässt sich nun ablenken und wir können spielen. Der Schmerz wird wiederkommen … Davon handelt das Buch, welches Sie in Händen halten: Trauernde müssen mit der Erfahrung des Getrenntseins zurechtkommen und mit all den Gefühlen, die damit einhergehen und aufbrechen. Wie kann ein Trauerbegleiter da helfen? Und was brauchen Gefühle, dass sie sich ändern? Es ist in einem ersten Schritt gut, sich der eigenen Gefühle gewahr zu werden. Es hilft in einem zweiten Schritt, sie ausdrücken und mitteilen zu können. Dafür braucht es drittens ein ehrliches, präsentes, einfühlsames Gegenüber, welches unsere Gefühle genauso, wie sie sind, annehmen, aushalten und verstehen kann. Gefühle ändern sich dann, wenn sie in diesem Klima sein dürfen. Der personzentrierte Ansatz hat dies entwickelt, erforscht und für vielfältige Anwendungsfelder ausdifferenziert. Immer wieder belegt dieser grundlegende Ansatz der humanistischen Psychologie: Die heilende Kraft liegt in einer solcher Art gestalteten Beziehung und Begegnung. Norbert Mucksch legt dies sehr differenziert, spezifisch, anschaulich und praxisnah für die Trauerbegleitung dar.

10   Vorwort

Trauernde sind in Berührung mit dem Unfassbaren: Schon früh in unserer Entwicklung erwerben wir ein Wissen um den Tod. Damit haben wir die kindliche Unschuld des unsterblichen Lebens verloren. Aber wir halten dieses Wissen auf Abstand, so als beträfe es uns nicht wirklich. Wir kennen uns doch nur als Lebende. Schon vor dem ersten Moment unseres Bewusstseins lebten wir. Dass wir irgendwann nicht mehr sind: unfassbar und unbegreiflich! Und fundamental bedrohlich für unser Selbstverständnis als Lebende. Der Tod bedroht unsere Identität, die Vorstellung von uns selbst und ist eine narzisstische Kränkung. Wenn ein uns Nahestehender stirbt, rückt diese Bedrohung nah an uns heran: Der Verlust ist Schmerz und Bedrohung zugleich. Wie können wir weiterleben ohne den anderen und wie können wir weiterleben mit dieser Todeserfahrung? So ist es folgerichtig, dass neben der Begleitung Sterbender nun auch immer mehr die Angehörigen und die Hinterbliebenen in den Blickpunkt rücken. Dies ist das lohnenswerte und wichtige Anliegen dieses Buches: die Begleitung derer, die weiterleben. Sie werden bereichert sein vom Lesen, auf welche Weise auch immer Sie mit Begleitung Trauernder zu tun haben! Michael Schlechtriemen Berater, Supervisor und Ausbilder in personzentrierter Beratung (GwG) www.schlechtriemen.de

Einleitung

»I believe, I will die young […] and when death comes, it comes.« (C. R. Rogers, 1983)

Dieser Ausspruch stammt von Carl Ransom Rogers, dem Begründer des personzentrierten Ansatzes und einem der bedeutendsten Protagonisten der humanistischen Psychologie. Rogers hat diese Aussage in hohem Alter, etwa vier Jahre vor seinem Tod, in einem Fernsehinterview gemacht zu einem Zeitpunkt, als er die Beschwernisse des Alters und die klare Begrenztheit und Endlichkeit seines Lebens bereits deutlich wahrnehmen musste. Gleichwohl diese seine Aussage: »Ich glaube, ich werde jung sterben« und »wenn der Tod kommt, nehme ich ihn an und akzeptiere mein eigenes Sterben«.1 Das Zitat enthält in komprimierter Form wesentliche Gedanken des personzentrierten Ansatzes in Zusammenhang mit dem Bereich Trauerbegleitung und ist auch wegen der klaren Akzeptanz der schweren Realität des Todes diesem Buch zur personzentrierten Begleitung von Menschen in Trauer vorangestellt. Zwei zentrale Grundgedanken werden bereits in diesem kurzen Zitat deutlich: zum einen, dass der Mensch an sich ein Wesen in Entwicklung ist und diese Entwicklung im Normalfall konstruktiv und zum Guten hin gerichtet ist. Zum anderen klingt in den Worten Rogers’ bereits eine seiner drei Grundhaltungen an, und zwar die Begleitungshaltung des wertschätzenden Verstehens. Gemeint ist damit eine absolute und im Grunde bedingungslose Akzeptanz. 1

Übersetzung und Interpretation N. Mucksch.

12   Einleitung

Rogers hatte diese Haltung am Ende seines Lebens ganz offensichtlich auch gegenüber seiner eigenen Begrenztheit, Hinfälligkeit und nicht zuletzt eben auch gegenüber seiner Sterblichkeit und genau dadurch gibt er mit seiner Person ein von großer Authentizität geprägtes Beispiel. Beide Aspekte, die laufende Entwicklung und die Wertschätzung, sind wesentliche Hilfsmittel für Trauerbegleiter/-innen2. Zumindest können sie es sein. Ich gehe davon aus, dass Menschen, die sich als Trauerbegleiter/ -innen engagieren oder engagieren wollen, in vielen Fällen bereits unbewusst mit diesen Grundgedanken in ihr Engagement gehen. Wer sich auf den Weg begibt, sich als Trauerbegleiter ausbilden und qualifizieren zu lassen, wird in aller Regel auch mit der von Rogers entwickelten personzentrierten Grundhaltung in Kontakt kommen und sich immer mehr und auch immer wieder neu in einer solchen Haltung einüben. Dieses Buch möchte in komprimierter und allgemeinverständlicher Form einen vor allem praktischen Zugang zum personzentrierten Hintergrund und zu seiner Theorie eröffnen. Darüber hinaus liefert es konkrete Fallbeispiele und gibt Hinweise für die eigene Rolle als Begleitender. All das geschieht dezidiert vor dem Hintergrund der Situation trauernder Menschen, wobei Trauer als Reaktion auf ein starkes Verlusterlebnis nicht ausschließlich in Bezug auf Verlust durch Tod und Sterben verstanden wird. Auch andere prägende Verluste wie den von körperlicher Unversehrtheit, von Heimat, ein erzwungener Abschied von Lebenszielen und anderes mehr können durchaus Trauerreaktionen hervorrufen und machen deutlich, dass Menschen von Natur aus in Entwicklung leben, zu der eben auch Abschiede, Trennungen, Neubeginn und Anfang gehören. Trauer ist sehr intensives Leben und Leben ist auch Trauer (Backhaus 2013). Weil das so ist, ist Trauer als natürliche und sehr lebendige, im Grunde auch sehr vitale Reaktion auf Verluste von 2 Zur flüssigeren Lesbarkeit werden nicht an jeder Stelle männliche und weibliche Formen verwendet; sie sind jedoch generell beide gemeint.

Einleitung   13

Menschen und anderen zentralen Lebensinhalten zu bewerten und gehört zu unserem vielfältigen menschlichen Gefühlsrepertoire ebenso wie Freude, Liebe, Angst, Wut und so weiter. Damit sei bereits an dieser Stelle deutlich markiert, dass Trauer vorrangig eine normale und gesunde Reaktion von Menschen auf erlittene Verluste ist und eben keine Reaktion mit Krankheitswert. Dass blockierte und nicht zugelassene bzw. nicht gelebte Trauer krank machen kann, ist gleichwohl unbestritten. Umso mehr und umso höher ist das Engagement der Hospizbewegung mit ihrem Tätigkeitsbereich der Trauerbegleitung3 wertzuschätzen und nicht zuletzt auch das ganz konkrete Tun und Begleiten in Trauercafés, Trauergruppen und in der Trauereinzelbegleitung. Diese Angebote geschehen auf Augenhöhe und vollziehen sich vielfach als menschlich-solidarisches, zumeist ehrenamtliches Handeln mit Menschen in schwierigen und mitunter sehr krisenhaften Lebenssituationen. All das vollzieht sich jenseits von therapeutischem Handeln und entspricht damit auch der ganz konkreten Situation und Bedürfnislage von Menschen nach einer entscheidenden Verlusterfahrung. Trauernde reagieren mit ihrer Trauer in aller Regel sehr angemessen, normal und richtig, gleichwohl aber oftmals jenseits der Alltagsnormalität und auch – was manchmal noch schwerer wiegt – jenseits der modernen Alltagstaktung mit ihrer überhöhten Geschwindigkeit. Trauernde benötigen keine Therapie, da sie alles andere als krank sind. Wohl aber benötigen sie wachsame, verständnisvoll-einfühlsame und wertschätzende Mitmenschen als Begleiterinnen und Begleiter. In nicht wenigen Fällen geschieht das (immer noch) über familiäre und freundschaftliche Zusammenhänge. Dort, wo diese Bezüge aber nicht oder nicht ausreichend tragen, können Trauer3 Neben dem zentralen Bereich der Sterbebegleitung, wobei deutlich festzuhalten ist, dass die Hospizbewegung sehr schnell für sich erkannt hat, dass sie Sterbebegleitung nicht ohne Trauerbegleitung anbieten kann und auch nicht darf. So ist die Hospizbewegung einer der Hauptpromotoren der Trauerbegleitung.

14   Einleitung

begleitungsangebote der ambulanten oder stationären Hospize in vielen Fällen adäquate und hilfreiche Angebote machen und so Menschen in Trauersituationen in den kritischen und schweren Phasen über ein authentisches Begleitungsangebot eine tragfähige Brücke bauen zurück ins Leben. Trauerbegleitende dürfen dies in dem Bewusstsein tun, dass sie damit in vielen Fällen auch präventiv tätig sind, indem sie durch ihr menschlich-solidarisches Handeln das Entstehen von pathologischer Trauer verhindern helfen. An diese Zielgruppe der nichtprofessionellen Trauerbegleiter wendet sich diese Veröffentlichung. Wenn die bereits eingangs formulierte Grundannahme stimmt, dass nämlich viele in diesem Bereich engagierte Menschen von ihrer Grundhaltung her bereits auf einem grundsätzlich personzentrierten Weg sind, dann ist es vermutlich hilfreich, dieses eigene Tun gut zu reflektieren, sich dessen wirklich bewusst zu werden und darüber in eine noch klarere und eindeutigere Begleitungshaltung zu gelangen. Auch dazu will dieses Buch beitragen. Eine solche Grundhaltung sollte nach Rogers von drei zentralen Aspekten geprägt sein: •• von Akzeptanz und Wertschätzung, •• von Empathie und gutem Einfühlungsvermögen und •• von Echtheit, Klarheit und Authentizität. Damit sind bereits die Hauptmerkmale der personzentrierten Begleitungshaltung genannt. Alle diese Merkmale sind auch als Indikator und Korrektiv im Rahmen von Selbstvergewisserung außerordentlich hilfreich. Sie sind »wertvolle Orientierungspunkte in der Begleitung von Menschen mit Verlusterfahrungen« (Backhaus 2013, S. 189). Im besten Fall stellt sich beim einen oder anderen Leser im Verlauf der Lektüre der Eindruck oder die Erfahrung ein, dass sich das Gelesene in direkte Verbindung mit dem tatsächlichen eigenen Tun in der Trauerbegleitung begibt. Solche Schnittstellen sind durchaus intendiert. Wenn sich darüber möglicherweise auch eine höhere Wertschätzung des eigenen Tuns und sich selbst gegenüber in der

Einleitung   15

eigenen Arbeit als Trauerbegleiter einstellen sollte, so hätte dieses Buch einen doppelten Effekt, der aber ganz im Sinne der Gedanken von Rogers wäre. So hat Rogers immer wieder darauf hingewiesen, dass wir nicht wertschätzend mit anderen Menschen umgehen können, wenn wir nicht selbst auch in der Lage sind, wertschätzend und respektvoll mit uns selbst und unserem Tun umzugehen – gerade in solchen Handlungsfeldern wie der Hospizarbeit und insbesondere auch bezogen auf das hier im Mittelpunkt stehende Tätigkeitsfeld der Trauerbegleitung.

I  Theoretische Grundlagen

Wer war Carl Ransom Rogers und was hat ihn geprägt? Rogers wurde am 8. Januar 1902 in einem Vorort von Chicago als viertes von sechs Kindern geboren. Er wuchs in einem Elternhaus auf, welches von engen religiös-fundamentalistischen Einstellungen geprägt war und gekennzeichnet durch elterliche Strenge sowie durch kompromisslose religiöse und daraus erwachsende ethische Überzeugungen. Bei Carl Rogers führte dies dazu, dass er ein sehr zurückgezogener Junge war, der viel für sich allein war und ohne Unterbrechungen und mit Hingabe las. Er lebte als Kind weitgehend für sich in der Welt seiner geliebten Bücher. Nach seiner Schulzeit studierte er zunächst Agrarwissenschaften und wechselte dann relativ schnell, und sicher auch geprägt und geleitet durch sein eher fundamentalistisches Elternhaus, zur Theologie. Durch weitere Erfahrungen innerhalb seines Studiums und aufgrund seiner eigenen Entwicklung wurde ihm aber sehr schnell klar, dass er nicht in einem Feld arbeiten kann und will, in dem verlangt wird, »an eine bestimmte religiöse Doktrin zu glauben« (Rogers 1973, S. 24). Daraufhin wendet er sich mehr und mehr dem Feld der Erziehungsberatung zu und arbeitet nachfolgend zwölf Jahre als Klinischer Psychologe in einer Erziehungsberatungsstelle. In dieser Zeit der intensiven Arbeit mit benachteiligten und zum Teil auch straffällig gewordenen Kindern und Jugendlichen stellt er immer wieder und immer mehr für sich fest, dass die Betroffenen diejenigen sind, die selbst zumeist am besten für sich wissen, »wo der Schuh drückt,

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Theoretische Grundlagen

welche Richtung einzuschlagen [ist], welche Probleme entscheidend, welche Erfahrungen tief begraben gewesen sind« (Rogers 1973, S. 27 f.). Mit anderen Worten: Rogers macht bereits hier die konkreten Erfahrungen, dass Menschen Experten ihrer selbst sein können, sofern die notwendigen Rahmenbedingungen zur Verfügung stehen. Diese notwendigen und auch, wie er selbst immer wieder betont, hinreichenden Bedingungen beschreibt er in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg und auch basierend auf der Arbeit mit Kriegsheimkehrern, die er psychologisch betreut hat. In den 1950er Jahren entwickelt er den Beratungs- und Begleitungsansatz, mit dem er nachfolgend weltbekannt wird und der als eine zentrale Beratungsform im Rahmen der humanistischen Psychologie rasch breite Verwendung findet: die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie. Die erste Veröffentlichung mit diesem Titel erschien im Jahr 1951. Nachfolgend entwickelt Rogers diesen Ansatz immer weiter und beschreibt in der Folge auch seine drei Beratungsmerkmale, die – so seine Grundannahme und Feststellung – wesentlich sind, um das Klima und die Atmosphäre zu schaffen, in der Menschen in belasteten Lebenssituationen letztendlich Experten ihrer selbst sein können mit dem Effekt, dass (therapeutische) Begleitung sie nicht schwächt oder klein macht, sondern vielmehr ihnen das Gefühl vermittelt, dass sie, wenn auch mit phasenweiser Unterstützung und Begleitung, sich selbst helfen konnten. Gewiss hat diese Erfahrung von Rogers auch damit zu tun, dass er selbst in der reflektierten Rückschau auf seine eigene Entwicklung feststellen konnte, dass er aufgrund seiner Erfahrungen den für ihn richtigen Weg hat finden können. Die Auseinandersetzung mit der Biografie von Rogers, die diesem Buch lediglich in einem ganz kurzen Abriss vorangestellt ist, ist wichtig, um die Gedanken und die Theorie dieses großen Vertreters der humanistischen Psychologie zu verstehen. Sie ist ein erster Schlüssel, um in ein tiefes Verständnis seiner Theorie und seiner intensiv auf Mitmenschen bezogenen Haltungen zu gelangen. Letztendlich erschließt sich seine Theorie vor allem über seine

Wer war Carl Ransom Rogers und was hat ihn geprägt?  

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Biografie. Oder anders formuliert: Wer etwas von seinem Leben und seinem so Gewordensein verstanden hat, der hat auch etwas von seinen Gedanken und Ideen verstanden. Carl R. Rogers hat sehr authentisch das gelebt, was er in seine Theorie hat einfließen lassen, und er hat in seinen eigenen Begleitungskontakten vermutlich deswegen so hilfreich und überzeugend sein können, weil er ein zutiefst authentischer Mensch war, klar und eindeutig, stimmig mit sich selbst und ausgestattet mit einem unerschütterlichen Glauben an das Gute und Konstruktive in jedem Menschen. Und er ist sich treu geblieben als Person und auch gegenüber seinen eigenen Ideen und Theorien. »I am shure, I will die young« – dieser doppeldeutige Satz, der ihm zunächst zugeschrieben wurde, weil er ein zurückgezogener und oft kränklicher Junge war, bekommt in der Rückschau auf sein Leben eine ganz andere Bedeutung und Wendung. Aus dem Munde des über achtzigjährigen Rogers bedeutet dieser Satz: Ich bin sicher, dass ich mich bis zu meinem Lebensende zum Guten entwickeln kann und dass mein Leben und grundsätzlich das aller Menschen eine produktive Ausrichtung hat, die Menschen nutzen können, sofern ihre sie umgebenden Bedingungen gut sind. Auch im Blick auf die Begleitung trauernder Menschen hat diese Aussage ihre Berechtigung. So dürfen Trauernde, Sterbende und die sie Begleitenden grundsätzlich diese Hoffnung haben. Und für die Begleitenden ist es stärkend und entlastend zugleich, wenn sie sich diese Grundannahme immer wieder neu zu eigen machen. Ein solches Bild vom Menschen, gerade auch vom Trauernden oder Leidenden, schützt vor eigener Falscheinschätzung in der Rolle als Begleiter/-in und damit vor Selbstüberschätzung. Es schützt aber nicht zuletzt die zu begleitenden trauernden Menschen, da ihnen ihre eigene – mitunter verborgene oder verschüttete – Kraft und auch die Selbstverantwortung und verbunden damit die Selbstachtung nicht genommen bzw. abgesprochen werden.

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Theoretische Grundlagen

Das Menschenbild hinter dem personzentrierten Ansatz von C. R. Rogers Rogers als bedeutender Vertreter der humanistischen Psychologie betrachtet den Menschen als aus sich heraus gut und grundsätzlich zum Guten strebend. Er geht dabei davon aus, dass jedem Mensch eine angeborene Selbstverwirklichungstendenz innewohnt, die grundsätzlich dafür sorgt, dass ein Mensch sich sein Leben lang – durch welche Krisen hindurch auch immer – weiterentwickelt und in seiner Persönlichkeit reift. Diese grundlegende persönlichkeitstheoretische Annahme nennt Rogers auch Aktualisierungstendenz. Seiner festen Überzeugung nach sind in jedem Organismus Kräfte wirksam, die einen Menschen quasi zur konstruktiven Erfüllung und Verwirklichung seiner eigenen inneren Möglichkeiten drängen. Diese Tendenz zur vollständigen Entfaltung des eigenen Selbst ist, so seine zentrale Annahme, angeboren. Sie kann selbstverständlich behindert oder durch sehr ungünstige Lebensbedingungen verschüttet werden, allerdings kann sie nicht wirklich abhanden kommen. Auf diese wesentliche Grundaussage stützt sich das gesamte Gesprächskonzept von Rogers, sie ist fundamental und für das Verstehen seiner Theorie und der daraus resultierenden Haltung grundlegend. Ein Mensch in Krise, der um Hilfe nachsucht, also in diesem Kontext auch ein trauernder Mensch, trägt nach Rogers also alles zur »Heilung«4 Notwendige in sich selbst. Das bedeutet in der unmittelbaren Konsequenz, dass ein trauernder Mensch grundsätzlich selbst am besten in der Lage ist, seine persönliche Situation zu erkennen und zu verstehen und so die individuell anstehenden Schritte zu erfassen und dann auch selbst zu gehen. Da es aber, und auch das trifft vielfach gerade auf Trauernde zu, oftmals störende und hemmende Bedingungen für Menschen in Krisensituationen gibt, folgert Rogers, dass eine personzentrierte Begleitung ein posi4

Der Begriff »Heilung« ist hier in Anführungszeichen gesetzt, da er nicht in Verbindung gebracht werden darf mit einem pathologischen Verständnis des Phänomens Trauer.

Ein personzentriertes Verständnis von Trauer  

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tives Klima für einen letztlich eigenständigen Entwicklungsprozess schaffen muss und eben auch schaffen kann. Übertragen auf Trauerbegleitung bedeutet das, dass Trauerbegleiter/-innen ausgehend von diesem Menschenbild vor allem die Aufgabe haben, einen Rahmen und eine Atmosphäre zu schaffen, die insbesondere auch von Wertschätzung und Achtung den Trauernden gegenüber, und zwar mit ihrer ganz individuellen Trauer, geprägt ist.

Ein personzentriertes Verständnis von Trauer Trauer, so wie sie vielfach in unseren Lebenszusammenhängen verstanden und erfahren wird, scheint der beschriebenen Aktualisierungstendenz vordergründig entgegenzulaufen und somit ein solch hemmender Umstand zu sein. Oftmals wird sie immer noch als unproduktiv, nutzlos und auch als störend beschrieben. Sie soll möglichst schnell »bewältigt« sein und damit »erledigt und abgearbeitet«. Auch aus dem Mund von Trauernden hört man als Begleiter diesen Wunsch immer wieder: »Meine Trauer soll möglichst bald weg sein!« oder »Das soll rasch aufhören!«. Der Hospizbewegung ist es zu verdanken, dass Trauer nicht mehr, wie noch vor 15 oder 20 Jahren, privatisiert und verdrängt wird, sondern dass auch das Phänomen Trauer und damit die Trauernden die Wertschätzung erfahren, die ihnen zusteht. Von ihrem eigentlichen Wesen her ist Trauer nämlich etwas ganz anderes als ein solch ausschließlich der Selbstverwirklichungstendenz entgegenstehender hemmender und negativer Umstand. Im richtig verstandenen Sinn widerspricht sie eben nicht der von Rogers benannten Aktualisierungstendenz, sondern sie unterstützt gerade seine grundlegende Annahme. Das, was Rogers als Aktualisierungstendenz beschreibt, wohnt letztlich auch der Trauer inne: Sie ist eine dem Menschen angeborene Fähigkeit, die dazu verhelfen soll und kann, unser endliches und damit auch abschiedliches Leben zu meistern. Sie ist eine gute, positive und auch menschengerechte Lebenshilfe, die in der

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Vergangenheit leider allzu oft verdrängt und mehr noch als heute negativ etikettiert wurde. Unsere Fähigkeit zu trauern ist als solche darauf angelegt, wieder zu einem vollen menschlichen Wohlbefinden zu führen. Sie ist demnach im Grunde genommen gerade kein hemmender Faktor, sondern wird erst durch Nichtzulassung (mangelnde Akzeptanz) oder Verdrängung zu einem solchen gemacht. Trauer ist alles andere als nutzlos, sie ist unumgänglich und im richtig verstandenen Sinn lebenswichtig und lebensnotwendig. Und sie trägt alles entscheidend Wichtige in sich, um zur echten »Notwende« zu werden. Als Prozess und Durchgangssituation beschreibt Canacakis, einer der Pioniere der Trauerbegleitung, sie »als lebenswichtige Periode des Übergangs […] in der fortwährend lebenswichtiges Wachstum und Reife stattfinden, und als eine Übergangszeit, in der wir die Gelegenheit erhalten, neue Fähigkeiten zu entwickeln, um mit den erzwungenen Veränderungen, die durch den Verlust eingetreten sind, fertig zu werden« (Canacakis 1987, S. 177). Aus diesem Grund spricht er zu Recht auch von der Trauer als Krise und Chance zugleich, und das nicht nur für betroffene trauernde Menschen, sondern auch für die menschliche Gemeinschaft. Canacakis geht dabei sogar so weit, dass er die Trauer derart wertschätzt, indem er sie als »unser kostbarstes Gefühl« (S. 223) beschreibt, dessen Wandlungsenergie Leben schützen und auch entstehen lassen kann. Der Begriff »Wandlungsenergie« weist dabei eine augenfällige Nähe zur von Rogers beschriebenen Aktualisierungstendenz auf.

Personzentrierte Grundannahmen Rogers hat seine Theorie in überschaubaren Grundannahmen zusammengefasst. Um diese Grundannahmen, mit einem deutlichen Bezug auf das Handlungsfeld Trauerbegleitung, geht es zunächst, da sie für das tiefere Verständnis seiner Beratungshaltung ausschlaggebend sind.

Personzentrierte Grundannahmen  

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Der Begriff des »Selbstkonzepts« unter der besonderen Berücksichtigung der menschlichen Erfahrung und der Realität von Sterben und Tod

An dieser Stelle benenne ich einen weiteren zentralen Begriff aus dem personzentrierten Vokabular. Rogers spricht in seiner Theorie zum personzentrierten Ansatz immer wieder vom persönlichen Selbstkonzept des Menschen. Darunter versteht er Folgendes: Er geht davon aus, dass alle individuellen Erfahrungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens gemacht hat und auch fortwährend weiter macht, sich konzentrieren und verdichten zu einer für diesen Menschen einzigartigen und spezifischen Realität. Diese Realität, eben weil sie das Merkmal der Einzigartigkeit trägt, kann von anderen Menschen nie absolut umfassend verstanden werden. Aus dieser so persönlichen und individuellen Sichtweise entwickelt sich nach und nach das sogenannte Selbstkonzept einer Person, wobei sich dieses zusammensetzt aus den Sichtweisen, die ein Mensch von sich selbst hat, und deren Wertungen. Mit anderen Worten: Jeder Mensch hat ein Real-Selbst und ein durch die eigenen Wertungen beeinflusstes Ideal-Selbst. Zwischen beiden gibt es ein beständiges Streben nach Übereinstimmung. Gelingt diese Übereinstimmung, dann sind Menschen glücklich und ausgeglichen. Gelingt sie nicht, dann werden Menschen unglücklich und unzufrieden. Das Selbstkonzept an sich wird durch frühkindliche Erfahrungen geprägt und hat wesentlich zu tun mit erhaltenen oder eben nicht erhaltenen Beziehungsbotschaften. Hat ein Kind regelmäßig positive Beziehungsbotschaften erfahren, so entwickeln sich mit hoher Wahrscheinlichkeit eine hohe Selbstachtung, ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein und eben ein positives Selbstkonzept. Bei negativen Beziehungsbotschaften, also bei durchgehend geringer Wertschätzung ist es demnach genau umgekehrt: Es werden sich ein eher geringes Selbstwertgefühl und auch ein negatives Selbstkonzept entwickeln. Da wir als Menschen beständig neue Erfahrungen machen und fortwährend konfrontiert werden mit neuen Widerfahrnissen, ist

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die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass dabei auch solche sind, die von unserem aktuell bestehenden Selbstkonzept abweichen. Und an dieser Stelle ist die Qualität unseres Selbstkonzepts entscheidend, denn sie ist in hohem Maße dafür verantwortlich, wie wir mit neuen Erfahrungen umgehen, ob wir sie annehmen und in unser Selbstkonzept integrieren oder ob wir sie ignorieren, verdrängen oder verzerren. Dies ist in beide Richtungen möglich: So kann ein Mensch mit einem eher negativ geprägten Selbstkonzept eine neue sehr positive Erfahrung machen und beispielsweise zugeschrieben bekommen, dass er etwas besonders gut kann. Statt diese Zuschreibung offen anzunehmen, passiert es aber gar nicht so selten, dass dieses positive Feedback abgewehrt oder verzerrt symbolisiert wird (»das kann nicht sein«, »der muss jemand anderen meinen«, »damit bin ich nicht gemeint«, »das kann auf mich nicht zutreffen«). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Mensch mit einem insgesamt positiven Selbstkonzept dieses Selbst neuen Erfahrungen anpassen kann und dies auch mit hoher Wahrscheinlichkeit tun wird. Nachfolgend stimmen das Selbst und die gemachten Erfahrungen dann wieder überein. Der Mensch ist (wieder) kongruent. Hat aber ein Mensch ein negatives oder deformiertes Konzept seines Selbst, wird er zum Beispiel bedrohliche oder schlichtweg fremde Erfahrungen, die er macht, abwehren. Diese Abwehr geschieht entweder durch Verleugnung/Verdrängung oder durch Verzerrung. In der Konsequenz bleibt die Kluft zwischen Selbstkonzept und gemachter Erfahrung bestehen. Ein solcher Mensch ist dann inkongruent mit sich selbst. Diese Inkongruenz birgt laut Rogers die Gefahr oder das Risiko in sich, dass ein Mensch fehlangepasstes Verhalten oder – im schlimmeren Fall – psychische Störungen entwickelt. Die Auseinandersetzung mit diesem Teil der personzentrierten Theorie ist deswegen wichtig, weil gerade Trauerbegleiter mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit dem Phänomen der Verleugnung und/oder verzerrten Symbolisierung in Kontakt kommen werden. Die lebensverneinende Realität des Todes steht so diametral im

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Gegensatz zum allgemein menschlichen Selbstkonzept, dass gerade in der Trauerbegleitungsarbeit immer wieder mit verzerrten Symbolisierungen gerechnet werden muss. Um gut im Verständnis, in der Wertschätzung und letztendlich dadurch im Kontakt mit dem oder der Begleiteten bleiben zu können, ist es für Trauerbegleiter wichtig, diese Dynamik und dieses menschlich so nachvollziehbare Verhalten zu kennen. In der Realität wird es gleichwohl vordergründig paradox oder auch nicht nachvollziehbar erscheinen. Und darum ist ein Wissen um die theoretischen Gedanken zum Selbstkonzept so wichtig. Das Verständnis der drei genannten grundlegenden Punkte •• der gelungenen Integration in das Selbstkonzept, •• der Verleugnung, •• und der verzerrten Symbolisierung ist daher Basiswissen für ehren-, neben- und hauptamtlich Begleitende in diesem so existenziellen Feld. Für sie ist und bleibt die Realität Tod trotz aller durchlaufenen Befähigungskurse und trotz entwickelter Selbstreflexionskompetenz, trotz begleitender Selbsterfahrung und Supervision eine Wirklichkeit, die mit dem eigenen Selbstkonzept per se schwer zu vereinbaren ist. Tendenziell, um es in der Terminologie von Rogers zu formulieren, wird die Konfrontation mit dieser unumstößlichen Realität immer wieder auch zu verzerrten Symbolisierungen führen. Die Anerkenntnis dieser objektiven Schwierigkeit und Problematik ist daher unverzichtbar, kann sie doch dazu verhelfen: •• gut in der eigenen Rolle zu bleiben, •• nicht in Übertragungen und Gegenübertragungen zu geraten, •• eine gesunde Distanz zur Situation halten zu können, •• somit überhaupt als Trauerbegleiter handlungsfähig und hilfreich bleiben zu können •• und in der belastenden Situation des regelmäßigen und immer wiederkehrenden Ausgesetztseins gegenüber der Realität Sterben und Tod seelisch gesund zu bleiben.

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Personzentriertes Arbeiten macht es möglich, immer wieder neu zur eigenen Konstruktivität zu kommen, das heißt, die Selbstaktualisierungstendenz eines Menschen anzusprechen und zu nutzen. Dabei geht es darum, die formulierte Vorstellung eines Menschen (also zum Beispiel eines unter dem Eindruck eines aktuell stattgefundenen Todes stehenden Trauernden) konkret aufzunehmen und ihn da abzuholen, wo er jetzt steht, und damit die hohe Bedeutung der subjektiven Seite der Erfahrungen des Trauernden sehr ernst zu nehmen. Konkret heißt dass, ihn oder sie auch mit einer von außen betrachtet offensichtlich verzerrten Symbolisierung wertzuschätzen und mit ihm bzw. ihr zu einer Symbolisierung zu gelangen, die im besten Fall in das eigene Selbstkonzept integriert werden kann. Geschieht und gelingt dies in einer Trauerbegleitungsgruppe, so agiert der oder die konkrete Trauernde hilfreich für alle anderen mit und fördert diese durch die eigene Reflexion in ihrem je eigenen und gerade in diesem Feld so wichtigen und auch immer wieder neu wichtigem Selbstreflexionsprozess. Letztendlich hilft dies allen Teilnehmenden der Trauergruppe und macht sie handlungsfähiger und auf lange Sicht vermutlich auch resilienter im Hinblick auf neue eigene Erfahrungen mit Sterben und Tod. Ein Beispiel aus der Trauerbegleitung Eine Besucherin im Trauercafé, die bereits seit mehr als einem Jahr sehr regelmäßig dort zu Gast ist und die ihren Mann durch einen plötzlichen Herztod in einem Sommerurlaub in einer für sie ganz und gar unwirklichen Situation verloren hat, kann und will die Realität des Todes (noch) nicht erfassen. Immer wieder erzählt sie von ihrem Mann und von der bestehenden Hoffnung, dass dies doch alles nur ein böser Traum sei und er eines Tages wieder vor ihr stehen könnte. Die zumindest phasenweise Verleugnung der Realität Tod scheint für diese Frau (noch) wichtig zu sein, um an die vielen positiv besetzten Erinnerungen mit ihm überhaupt anknüpfen zu können. Für die Begleitenden ist es  – auch wenn es schon lange andauert – wichtig, in der Akzeptanz und Wertschätzung für diese

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Trauercafébesucherin zu sein und anzuerkennen, dass diese Verleugnung einen tieferen Sinn haben kann. Das schließt aber nicht aus, in bestimmten Situationen mit einer geschulten Intuition dahingehend zu intervenieren und deutlich zu machen, dass die Realität eine andere ist. Erinnert sei an dieser Stelle der Merksatz »Wer begleitet, geht nicht voran!«. Es geht darum, das Tempo der trauernden Frau zu überlassen und als empathischer Wegbegleiter mit an ihrer Seite zu sein und möglicherweise auch mit ihr die Schritte zurück zu begleiten, die sie braucht, um auf längere Sicht von der Verleugnung in die gelungene Integration zu kommen. Ein Beispiel aus der Sterbebegleitung, die immer auch ein Stück Trauerbegleitung ist Ein Hospizgast in seiner allerletzten Lebensphase spricht absolut hoffnungsvoll vom nächsten Sommerurlaub (in acht Monaten!) und in diesem Zusammenhang von einem sonnigen Tag am Strand. Diese verzerr te Symbolisierung ist situativ für diesen Hospizgast vielleicht gerade äußerst wichtig, um Lebenskraft und Hoffnung überhaupt aufrechterhalten zu können. Dennoch kann es in der weiteren Begleitung möglicher weise doch gelingen, von der verzerrten Symbolisierung wegzukommen auf eine andere Ebene, die im besten Fall auch den Tod akzeptiert und auf der es gelingt, das Bild vom sonnigen Tag am Strand ebenfalls auf eine andere Ebene zu bringen.

Diese Herangehensweise steht grundsätzlich parallel zur von Rogers erstellten Theorie des Selbstkonzeptes. Die erwartungsgemäß im Arbeitsfeld Hospiz immer wieder und auch häufig zu erlebende verzerrte Symbolisierung kann, wenn sie denn als solche gesehen und eben auch wertgeschätzt wird, ein Weg zu diesem Zugang sein. Grundsätzlich ist es mehr als nachvollziehbar, dass das Faktum Tod nur sehr schwer in unser Selbstkonzept als lebende und leben wollende Menschen integrierbar ist. Rilke hat dies in einem seiner Gedichte in Worte gefasst:

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»Tage, wenn sie scheinbar uns entgleiten Gleiten leise doch in uns hinein Aber wir verwandeln alle Zeiten Denn wir sehnen uns zu sein.« (Rainer Maria Rilke, 1907)

Das sich Sehnen danach zu »sein« macht Menschen aus. Menschen wollen leben, planen, gestalten, schöpferisch und kreativ sein. All das sind ja in erster Linie auch gesunde Impulse, die ein Menschenleben als solches ausmachen. Das »sein« zu wollen ist eine Bestimmung des Menschen. Zugleich wissen wir als Menschen aber um unsere eigene Sterblichkeit und so wäre es doch auch eindeutig eine verzerrte Symbolisierung, uns für nicht sterblich zu halten. Dass dies eine große Herausforderung für jeden Menschen ist und bleibt, ist unbestritten. Aber genau in dieses Spannungsfeld stellen sich ehrenamtliche wie hauptamtliche Mitarbeiter/-innen in der Hospizarbeit und damit auch in der Trauerbegleitung. Und weil es ein so großes und existenzielles Spannungsfeld ist, ist begleitende Reflexion durch institutionalisierten kollegialen Austausch und auch durch Supervision in diesem Bereich unerlässlich. Dieser Austausch und diese Reflexionsräume gehören unverzichtbar zur personzentrierten Kultur innerhalb der Hospizarbeit. Im dritten Teil dieses Buches werde ich im Abschnitt »Supervision und Selbstsorge« intensiver auf diesen Aspekt eingehen. Die hohe Bedeutung der subjektiven Seite der Erfahrungen Neben der zuvor beschriebenen Selbstaktualisierungstendenz gibt es ein zweites zentrales Kennzeichen der Rogers’schen Persönlichkeitstheorie, anhand dessen sich ebenfalls eindeutige Bezüge zum Feld der Trauerbegleitung aufzeigen lassen. Rogers, der seine persönlichkeitstheoretischen Grundannahmen bereits im Jahr 1951 in 19 Thesen zusammengefasst hat, beschreibt in seinen beiden ersten Thesen die hohe Bedeutung der subjektiven Erfahrungswelt von Menschen. Demnach ist das für einen Men-

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schen Wirklichkeit, was dieser ganz aktuell wahrnimmt und erfährt. Dessen Erfahrung (in diesem konkreten und einzigartigen Kontext) als Trauernder ist seine aktuell gültige und absolute Realität. Diese Feststellung lässt sich besonders deutlich gerade auch an trauernden Menschen in Familiensystemen aufzeigen. So ist es oftmals so, dass etwa hinterbliebene Kinder den Verlust der Mutter oder des Vaters gänzlich unterschiedlich erleben und beschreiben. Gleichwohl ist jede eigene Erfahrung individuelle Realität und hat ihren eigenen Wert. Was bedeutet das nun für die Aufgabe der Trauerbegleitung auf der Grundlage einer personzentrierten Haltung? In diesem Zusammenhang geht es darum, die konkreten trauernden Menschen so, wie sie sind, und dort, wo sie stehen, zunächst einmal ganz banal anzuhören, um über das Hören in ein tiefes Verstehen zu gelangen. Genau dort hat Trauerbegleitung ihren Ausgangspunkt. Trauernde Menschen dort abzuholen und da anzufangen, wo sie stehen, wird am besten gelingen, wenn Trauerbegleitung versucht, sich in deren subjektive Welt, die ihre aktuelle Situation ja entscheidend prägt, hineinzuversetzen. Das heißt: Ein Trauerbegleiter muss, bevor er selbst anfängt zu sprechen, zunächst einmal zuhören (können). Gemeint ist damit ein sensibles und aktives Zuhören, welches Rogers auch einfühlsames Verstehen genannt hat. Diese Art, aktiv zuzuhören, nennt Rogers selbst eine der mächtigsten Kräfte der Veränderung, die er kennt (Rogers 1981, S. 86). Ich benutze an dieser Stelle auch in Vorbereitungskursen für Trauerbegleitende gern folgendes Sprachbild. Als personzentrierter Begleiter muss ich in der Lage und vor allem auch bereit sein, mich mit in die Situation eines Trauernden »verwickeln« zu lassen, so erst ins intensive Verstehen zu gelangen und ausgehend davon mit dem oder der Trauernden in seine/ihre eigene »Entwicklung« zu gehen. Dieses Sprachbild darf aber nicht dahingehend missverstanden werden, dass ich mich als Begleiter vollständig in dessen Trauer mit hineinziehen lasse. Vielmehr geht es darum – selbstverständlich unter konsequenter Beibehaltung meiner Rolle als Begleiter –,

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mich mit in das Anschauen des Dunklen und des Traurigen und Verletzten hineinzuwagen. Erst durch das intensive Hören und nachfolgende Verstehen der aktuellen Wirklichkeit eines trauernden Menschen kann ich dann aus der Verwicklung gemeinsam mit dem zu begleitenden Menschen in dessen Entwicklung gehen. Und dabei ist es wichtig, tatsächlich nur Begleiter zu sein und nicht derjenige, der Hauptakteur der Entwicklung ist. Personzentrierte Begleitung geht mit, lässt aber dem Trauernden seine lebendige und gesunde Eigenständigkeit und begleitet ihn bei seinen individuellen Entwicklungsschritten. Nicht mehr. Aber auch auf keinen Fall weniger! Es geht also um durchaus sehr wörtlich zu verstehende Einfühlung und um den anspruchsvollen Versuch, die Position trauernder Menschen wenigstens ansatzhaft einzunehmen, um die Welt aus deren spezifischer Sicht zu sehen und erst dadurch in ein tiefes Verstehen und Wertschätzen zu gelangen. Frei übersetzt formuliert Rogers dies so: Der beste Punkt, das Verhalten und Fühlen eines Menschen zu verstehen, ist der, der vom inneren Bezugsrahmen des Betroffenen selbst ausgeht (Rogers 1951, S. 494). Und genau dazu bedarf es einer inneren Bereitschaft zur Verwicklung. So wie die persönlichkeitstheoretischen Aussagen zur Selbstaktualisierungstendenz ein ganz bestimmtes Beratungsmerkmal bzw. eine konkrete Haltung erfordern, nämlich die Haltung der bedingungsfreien Wertschätzung, so erfordert auch die Betonung der Bedeutung der subjektiven Seite der Erfahrungen eines trauernden Menschen ein bestimmtes Verhaltensmerkmal, nämlich das bereits angeklungene einfühlende Verstehen und im Nachgang dazu dessen Verbalisierung. Nachfolgend werde ich die drei von Rogers als notwendig und zugleich hinreichend beschriebenen Grundhaltungen im Hinblick auf die Begleitung Trauernder skizzieren. Ich möchte das aber nicht tun, ohne zuvor darauf hinzuweisen, dass man diese Merkmale nicht für sich isoliert betrachten darf. Ich kann weder nur und ausschließlich wertschätzend sein, noch darf

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ich nur und durchgängig authentisch sein. Und Trauernde werden sich vermutlich – zumindest auf längere Sicht – nicht wirklich ernst genommen fühlen, wenn ich ausschließlich meine empathische Seite anbiete, so wichtig diese auch gerade in Trauerbegleitungen ist. Die drei Merkmale sind zusammengehörig und klingen erst stimmig und harmonisch als Dreiklang, als Akkord. Die nachfolgende Grafik verdeutlicht dies.

Wertschätzung/ Akzeptanz

Einfühlendes Verstehen/ Empathie/ Berührbarkeit

Echtheit/ Authentizität

Personzentrierte Haltung Abbildung 1: Die Trias der zentralen Beratungsmerkmale in der personzentrierten Grundhaltung

Darüber hinaus, und das bedeutet für Trauerbegleitende auch eine Entlastung, korrigieren sich die drei Merkmale wechselseitig. So ist die Authentizität ein gutes Korrektiv für die Akzeptanz, denn wenn ich versuche wirklich authentisch zu sein, kann ich selbstverständlich nicht alles bedingungslos wertschätzen. Und das Merkmal der Empathie vermag wiederum als Korrektiv für die Authentizität zu wirken. Selbst dann, wenn ich mir sehr sicher bin, einem trauern-

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den Menschen in Begleitung eine vielleicht sogar konfrontierende Rückmeldung geben zu wollen oder zu müssen, wird mich meine geübte empathische Grundhaltung davor bewahren, zu massiv oder zu konfrontativ zu sein. Und mein Gegenüber wird dann mit größerer Wahrscheinlichkeit spüren können, warum mir eine solche Rückmeldung in seinem eigenen Sinne wichtig ist.

Drei zentrale Beratungsmerkmale: Eine Haltung Das Beratungsmerkmal der Akzeptanz und der Wertschätzung Ich setze dieses Beratungsmerkmal sehr bewusst an den Beginn meiner Ausführungen zu den drei Grundhaltungen. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen lehne ich mich damit an eine häufig in der Fachliteratur zu findende Reihenfolge an. Zum anderen ist mir aber in diesem speziellen Zusammenhang von Trauerbegleitung die Akzeptanz als erstgenanntes Merkmal deshalb so wichtig, weil nach meiner Erfahrung Trauernde in ihrem individuellen Umfeld oftmals schon nach relativ kurzer Zeit keine Akzeptanz mehr für ihre Situation und ihre Bedürfnisse erfahren. Das heißt für viele Trauernde konkret: •• Der tiefe Wunsch nach wiederholtem Erzählen wird nicht mehr erfüllt. •• Das Bedürfnis nach Rückzug wird nicht verstanden. •• Der Umgang mit Emotionen ist im Umfeld schwierig. •• Ich soll als Trauernder möglichst schnell wieder »funktionieren«. •• …

Und es gibt noch einen weiteren Grund, warum ich mit der Beschreibung der Akzeptanz bzw. der bedingungslosen Wertschätzung beginne. Ich bin davon überzeugt, dass eine Trauerbegleitung insbesondere dann zu einem guten Abschluss gekommen ist, wenn durch die wertschätzende Akzeptanz eines Trauerbegleiters ein trauernder Mensch an den Punkt gelangt, seine Trauer selbst zu wert-

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schätzen und zu akzeptieren, und davon wegkommt, sie loswerden zu wollen oder sie zu bewältigen. Das klingt vielleicht auf den ersten Blick paradox, ist aber nach meiner Erfahrung und Überzeugung der Weg, den Trauerbegleitung zu gehen bereit und fähig sein muss. Der personzentrierte Ansatz bietet dazu einen leicht verständlichen Hintergrund, der geradezu prädestiniert ist für diese Form von Begleitung. Was also ist genau gemeint mit bedingungsloser Wertschätzung und Akzeptanz? Sie ist zunächst einmal eine grundlegend positive Einstellung einem anderen Menschen gegenüber, und zwar mit seiner gegenwärtigen Gefühlslage, und drückt sich aus durch Annahme, Wohlwollen, Zuwendung, Wärme und echtes Interesse. Mein Gegenüber ist bedeutsam und wertvoll, so wie es ist: mit seiner Trauer. Und so nehme ich es an und achte es als Mitmensch, der in Trauer ist und dafür seine ganz individuellen Gründe hat. Diese Annahme drücke ich als Begleiter aus durch verbale und vor allem auch nonverbale Signale, also durch Mimik, Gestik und Körperhaltung und somit durch eine ganz wörtlich zu verstehende Zu-wendung. Personzentriertes Agieren ist zurückgenommen und aktiv zugleich. Der Trauernde steht im Mittelpunkt meiner ungeteilten Aufmerksamkeit und ich wende mich ihm aktiv zu. Das, was ich von einer trauernden Person höre, nehme ich ernst und glaube es, wobei »glauben« nicht heißt, es als absolute Wahrheit zu betrachten, sondern dem trauernden Menschen positiv zu unterstellen, dass er etwas ausspricht, was seiner subjektiven Wahrheit entspricht. Es geht also nicht um ausnahmslose Zustimmung und Billigung aller Äußerungen einer trauernden Person. Ich muss als Begleiter auch nicht mit allem quasi einverstanden sein. Vielmehr geht es darum, die Emotionalität dahinter zu hören, zu verstehen und zu wertschätzen und so in einer solidarischen und verstehenden Haltung zum Trauernden zu stehen. So verstandene Akzeptanz und Wertschätzung kann und wird mit hoher Wahrscheinlichkeit folgende Wirkungen haben: 1. Trauernde nehmen wahr, dass sie so, wie sie momentan sind, sein dürfen und mit all ihren Gefühlen der Klage, des Schmer-

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zes und möglicherweise auch der Wut und der Schuld vom Trauerbegleiter geachtet werden. Aus einer solchen Erfahrung von wertschätzender Achtung kann sich dann auch die häufig verloren gegangene Selbstachtung von trauernden Menschen langsam wieder entwickeln. An dieser Stelle taucht erneut der Begriff der Entwicklung auf, der ein zentraler Begriff der personzentrierten Haltung ist. Mit der Haltung des wertschätzenden Verstehens gehe ich als personzentrierter Begleiter bereits die ersten eingangs genannten Schritte der positiven »Verwicklung« und lege dadurch die ersten Trittsteine im undurchsichtigen Sumpf der Trauer, die den Weg der Entwicklung ermöglichen können. Darüber hinaus wird durch die Achtung und Wertschätzung des Trauerbegleiters auch die Wahrscheinlichkeit größer, dass auch ein trauernder Mensch den Trauerbegleiter mehr und mehr achtet, wodurch sich die Wirksamkeit der Begleitung und des Kontakts erhöht. Als positive Begleiterscheinung können sich also diese wechselseitigen Effekte ergeben. 2. Trauernde, die oftmals starke Gefühle der Angst zu verarbeiten haben, zum Beispiel die Angst vor abgrundtiefem Versinken in der eigenen Trauer oder auch die Angst, dass die Trauer überhaupt kein Ende mehr nehmen könnte, erfahren durch die wertschätzende Haltung im Rahmen von Trauerbegleitung eine gewisse Gegenkonditionierung. Das heißt, sie können eine positiv wirksame Gegenerfahrung machen, denn durch die Haltung der Wertschätzung entsteht für Trauernde eine angstfreiere Atmosphäre, die wiederum zu einer angstfreieren Wahrnehmung der Umwelt führen kann. Und das hat mit hoher Wahrscheinlichkeit die positive Konsequenz, dass möglicherweise vorhandene Anteile von Aggression (auch Autoaggression), vermindertem Selbstwertgefühl und Selbstverneinung reduziert werden. Eine trauernde Person kann durch eine solche Reduzierung in die Lage versetzt werden, auch solche Anteile des eigenen Selbst zu akzeptieren, die bis dahin von ihr verleugnet und/oder verzerrt wahrgenommen wurden.

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3. Trauernde werden durch ihnen entgegengebrachte Wertschätzung und Akzeptanz nicht zuletzt in zunehmendem Maße dazu befähigt, sich mehr und mehr selbst zu explorieren, also sich auszudrücken und durch diesen Ausdruck auch etwas vom inneren Druck abzugeben. Die Selbstakzeptanz der eigenen negativen Empfindungen ermutigt dazu, diese im Gespräch mit dem Trauerbegleiter an- und auszusprechen. Diese drei genannten Wirkungen der Akzeptanz unterstreichen nochmals, dass der Trauerbegleiter eine trauernde Person unbedingt so annehmen muss, wie sie ist. Es geht also darum, die formulierten Probleme und die ausgesprochene Befindlichkeit vorurteilsfrei anzunehmen und ernst zu nehmen. Diese Akzeptanz soll und muss im wörtlich verstandenen Sinne »bedingungslos« sein, also vor allem frei von Einschränkungen und Wertungen. Jede so verstandene Bedingung würde nämlich einen trauernden Menschen zurückweisen und damit eine Erfahrung vermitteln, die Trauernde ohnehin immer wieder schmerzhaft machen müssen. Weil eine von Akzeptanz und Wertschätzung geprägte Haltung Vertrauen vermittelt und dazu in der Lage ist, das Selbstwertgefühl auf Seiten des Trauernden stärken zu können, wird dieser in einer solchen Atmosphäre auch die wichtige Erfahrung machen können, auf die Verlässlichkeit des Trauerbegleiters vertrauen zu können. Wenngleich bedingungslose Akzeptanz in letzter Konsequenz gedacht unrealistisch ist, halte ich es trotzdem für gerechtfertigt, diese Formulierung so zu verwenden. In diesem Zusammenhang handelt es sich um eine idealtypische Zielbestimmung, die als solche durchaus ideal formuliert sein darf und nach meinem Dafürhalten auch sein muss. Erst so wird deutlich, was mit uneingeschränkter Akzeptanz gemeint ist und warum diese Haltung einen solch hohen Stellenwert in der personzentrierten Trauerbegleitung hat. Trauernde erfahren nämlich oftmals genau das nicht. Sie erleben bei sich und in sich mitunter ganz massiv ein im Alltag und den je eigenen sozialen Zusammenhängen nicht akzeptiertes Gefühl. So dürfen sie genau das, was für sie akut wichtig wäre, nämlich bewusst

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und offen zu trauern, auch zu klagen und zu weinen, vielfach nicht. Denn diese im Zusammenhang mit Trauer so wichtigen menschlichen Verhaltens- und Ausdrucksweisen sind immer noch weithin tabuisiert und manchmal auch subtil sanktioniert. Und darum zeigt sich in der Trauerbegleitung ganz besonders die Bedeutung akzeptierenden Verhaltens. Wertschätzung von vielfach als negativ bezeichneten und qualifizierten Gefühlen kann zur positiven und wirkungsvollen Überraschung auf Seiten der Trauernden werden, die ihnen das wichtige Gefühl gibt, verstanden zu werden, und zwar nicht trotz ihrer Trauer, sondern mit ihrer Trauer. Personzentrierte Haltung mit ihrem Beratungsmerkmal der Wertschätzung ist deshalb geradezu prädestiniert für das Tätigwerden als Trauerbegleiter. So hat sie sich in ihrer Grundtheorie genau das auf ihre Fahnen geschrieben, was Canacakis als »not-wendig« erkennt, um einem trauernden Menschen beizustehen: »Lass ihn wissen, dass du ihn in seiner Trauer bedingungslos akzeptierst und dass er sich nicht zu erklären braucht. Lass ihn verstehen, dass du ihm Trauer zubilligst und dass du bereit bist, daran Anteil zu nehmen« (Canacakis 1987, S. 210). Dass das nicht immer wortreich geschehen muss, sondern dass dieses Zubilligen auch bedeuten kann, jemandem einfach nur zugewandt zuzuhören, hinzuhören und das möglicherweise auch im Schweigen eines Trauernden zu tun, der vielleicht gerade keine Worte hat oder angesichts des erfahrenen Leids sprach-los ist, wird deutlich in dem Sprachbild vom eröffneten Raum, den ein trauernder Mensch benötigt. Personzentrierte Trauerbegleitung hat genau die Aufgabe, das zu tun, nämlich geeignete Rahmen zu schaffen, die Räume eröffnen, um trauernden Menschen Gelegenheiten zu bieten, in denen sie trauern dürfen und können. Diese eröffneten Möglichkeiten geben trauernden Menschen die Chance, ein inneres Ja zur eigenen Trauer zu entwickeln und so letztendlich zu einer fürsorglichen Einstellung zu sich selbst zu kommen. Zugelassene Trauer ist im eigentlichen Sinn Selbstfürsorge und somit letztlich Selbsthilfe. Auch hier zeigt sich eine Entsprechung zu den grundlegen-

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den Gedanken von Rogers, der dazu in folgender Weise formuliert: »[…] wenn Menschen akzeptiert und geschätzt werden, tendieren sie dazu, eine fürsorgliche Einstellung zu sich selbst zu entwickeln« (Rogers 1981, S. 68). Achtsamkeit als spezifischer Ausdruck von Wertschätzung in der Trauerbegleitung »Wenn es dir gelingt, ganz da zu sein, und du mit deiner Präsenz und Achtsamkeit das berührst, was ist, und tief schaust, wird sich dir die wahre Natur dessen, was du betrachtest, erschließen. Du wirst verstehen.« (Thich Nhat Hanh 1998, S. 105)

Achtsamkeit als spezifisch personzentrierte Haltung in der Trauerbegleitung entstammt nicht ursprünglich der Terminologie von Rogers, sondern der Begriff hat seinen Ursprung in der buddhistischen Tradition. Aspekte des Begriffs der Achtsamkeit wurden aber seit den 1960er Jahren sowohl in psychoanalytische Ansätze als auch in Konzepte der humanistischen Psychologie integriert. Es ist offenkundig, dass eine bewusste Haltung der Achtsamkeit eine deutliche Affinität zum Beratungsmerkmal der Akzeptanz und Wertschätzung hat. Der Begriff der Achtsamkeit scheint mir darüber hinaus in vortrefflicher Weise geeignet zu sein, die zuvor beschriebene personzentrierte Haltung der Wertschätzung noch mehr zu konkretisieren und deutlich zu machen, worum es beim wertschätzenden Umgang mit trauernden Menschen wesentlich geht. Blicken wir zunächst auf unsere alltägliche Lebenswelt und schauen wir auf die Geschwindigkeit unseres Alltags oder auf den Umgang mit der Natur, dann müssen wir feststellen, dass das Tempo immer mehr zunimmt und für Achtsamkeit eigentlich überhaupt kein Platz zu sein scheint. Gleichzeitig boomt das Angebot an Lite-

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ratur zu diesem Thema. Es scheint – und das zeigt sich gerade in der modernen hochbeschleunigten Lebenswelt – ein tiefes Grundbedürfnis nach Achtsamkeit zu geben. Der Begriff der Achtsamkeit korrespondiert unmittelbar mit dem bereits diskutierten Terminus der Wertschätzung und auch er drückt eine Grundhaltung aus, die gerade in der Trauer- und Sterbebegleitung einen hohen Wert und eine hohe Wirkung hat – aber nicht nur dort. Achtsamkeit – so will ich es hier formulieren – ist ein Ausdruck von Wertschätzung. Indem ich bewusst achtsam mit Menschen, Tieren, Lebensmitteln und auch materiellen Gütern umgehe, bringe ich damit selbstverständlich auch meine Wertschätzung und Achtung zum Ausdruck. Bevor ich intensiver auf diesen Begriff eingehe, möchte ich hier – sozusagen zur inneren Vorbereitung oder zur Einstimmung – zwei kurze Texte anführen, die diesen Begriff aus ganz unterschiedlicher Sichtweise beschreiben und erhellen können, worum es bei der Haltung der Achtsamkeit geht. Vor dem Lesen des ersten Textes möchte ich Sie einladen, diesen nach dem Lesen kurz innerlich zu bewegen und die im Text vorgetragene Stimmung in sich so intensiv wie möglich aufsteigen zu lassen. Nehmen Sie sich dazu bewusst und achtsam für sich selbst Zeit. Achtsam leben Ein strahlender Sommertag am Nordseestrand. Jule sitzt im warmen, flachen Wasser, welches die ablaufende Flut hinter einer Sandbank zurückgelassen hat. Sie greift eine Hand voll Sand und lässt diesen durch ihre kleinen Kinderhände rinnen. Das gleißende Sonnenlicht spielt auf der Wasseroberfläche und produziert die tollsten Lichtreflexe. Tief versunken in die Situation schaut Jule in aller Ruhe auf ihre Hände im Wasser. Sie beobachtet selbstverloren und ganz fasziniert, wie ihre Finger den Sand greifen.

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Und wie dieser dann im leicht bewegten und sonnendurchfluteten Wasser zu Boden sinkt. Immer wieder und immer wieder.

Momente wie dieser sind sehr kostbar. Sie berühren uns und können uns daran erinnern, wie es ist, komplett sorglos, absichtslos und ganz im gegenwärtigen Augenblick präsent zu sein. Mit jedem Kind wird diese Fähigkeit neu geboren. Und das selbstverlorene Tun von Kindern kann uns immer wieder neu erinnern an diesen Zustand, sofern wir das für uns innerlich zulassen. Hochinteressiertes Zuwenden, ganz wache Sinne, direktes, unmittelbares Wahrnehmen ohne jegliche Bewertung und ein ganz im aktuellen Moment pures Präsent-Sein kennzeichnen diesen achtsamen Bewusstseinszustand, der keiner Absicht folgt, sondern einfach nur geschieht. Der zweite kurze Text ist von anderer Natur und auch Dramatik, hat aber auch viel mit der Haltung der Achtsamkeit zu tun. Ein Wanderer ging auf einem Hochplateau spazieren. Plötzlich hört er in einiger Entfernung hinter sich einen fauchenden Tiger, der offensichtlich auf ihn zukommt. Um dem gefährlichen Tier zu entkommen, läuft er so schnell er kann, gerät ins Stolpern und rutscht über die Plateaukante in Richtung Abgrund. Im letzten Moment kann er sich noch mit der rechten Hand an einer trockenen Wurzel festhalten. Über ihm nun der fauchende Tiger und unter ihm der Abgrund. Realistisch betrachtet gibt es kein Entkommen, keine Rettung. Da erblickt der Mann direkt vor seinen Augen eine wilde Erdbeerpflanze mit vollreifen Früchten. Er pflückt eine der Erdbeeren, nimmt sie in den Mund und genießt den köstlichen Geschmack … Ende offen …

Warum konfrontiere ich Sie mit diesen beiden Situationsbeschreibungen in diesem Zusammenhang? Die beiden Texte bringen auf

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unmittelbare Weise zwei unterschiedliche Aspekte der Achtsamkeit zum Ausdruck: •• Im ersten Text ist es der Aspekt der absoluten Absichtslosigkeit und Zweckfreiheit, •• im zweiten Text der Aspekt der Entscheidung für das Leben jetzt in diesem unmittelbaren Augenblick. Achtsam sein bedeutet zunächst einmal nur wahrzunehmen, was ist. Es geht also darum, etwas für »wahr« zu nehmen, also in der Trauerbegleitung den konkreten Menschen mit seiner ganz individuellen Trauer, und das auch dann, wenn dessen Form zu trauern überhaupt nicht meinem Bild von Trauer entspricht oder ihm eventuell sogar widerspricht. Begegnet man Trauernden in bzw. mit einer solchen Haltung der Achtsamkeit, so wird sich einerseits die vorgenannte Wertschätzung sehr authentisch vermitteln lassen und andererseits deuten die geforderte (nicht nur die gebotene!) Achtsamkeit und Absichtslosigkeit auch schon darauf hin, dass es mehr als sinnvoll und hilfreich sein kann, statt immer gleich in die unmittelbar helfende Aktion zu gehen, selbst bei schwierigen oder tragischen Problemen erst einmal abzuwarten und einfach nur achtsam und offen-wertschätzend wahrzunehmen. Hier klingt der Titel dieses Buches an: Es geht um Hören, Wertschätzen und Verstehen – und im Grunde um nichts anderes. So geht es um die innere Haltung von Trauerbegleitenden, die letztendlich Halt gibt, und nicht um kraftvolle oder gar machtvolle Gesten der unmittelbar tätigen Hilfe. Halt durch Haltung ist hier der entscheidende Punkt im Gegensatz zur direkten Aktion durch tätiges Handeln. Ich beschreibe das durchaus in dem klaren Bewusstsein, dass dies eine besonders große Herausforderung für Menschen aus helfenden Berufen oder in helfenden ehrenamtlichen Tätigkeiten ist. In die konkrete Aktion zu gehen ist oftmals viel leichter oder fühlt sich für Begleitende spontan vermutlich auch besser an. Darum geht es aber entschieden nicht! Es geht stattdessen um personzen-

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trierte Begleitung auf Augenhöhe, um eine sehr wörtlich zu verstehende Wegbegleitung. Und wenn ich jemand auf seinem Weg begleite, dann darf ich nicht vorangehen, sondern muss das Tempo und die Umwege von Trauernden erspüren, aufnehmen und mitgehen. Gehe ich zu schnell voran, dann treibe ich unangemessen an und bin nicht geduldig genug. Gehe ich zu langsam und laufe – im übertragenen Sinn – hinter einem trauernden Menschen her, dann bin ich nicht im Kontakt. Matthias Schnegg formuliert zu diesem Thema unter der Überschrift »Haltung, um zu halten« in folgender Weise: •• »Unsere Vergänglichkeit ist der Boden, auf dem unglaublich viel Schöpferisches wächst, der Boden, auf dem auch die Begegnung von Mensch zu Mensch gedeiht. […] Das Gespür, selbst ein Mensch aus Erde (also ein vergänglicher Mensch) zu sein, bereitet den Weg der gerechten Begegnung. •• Das nimmt den Missbrauch, über einen anderen entscheiden zu wollen. •• Das nimmt den Stolz, für einen anderen wissen zu wollen, was er/sie braucht. •• Das nimmt die Vermessenheit, nur eine Geisthaltung (d. h. meine eigene) als das einzig mögliche Bekenntnis herauszustellen« (Schnegg 2007, S. 188 f.). Es geht also auch hier wieder um das selbstreflexive Moment. Achtsamkeit hat vier Voraussetzungen, um innere und äußere Vorgänge mit ungeteilter, entspannter Aufmerksamkeit wahrzunehmen und »das ganze Bild« aufzunehmen. •• Über-Bewusstheit: Dabei geht es darum, sich nicht in einer Tätigkeit zu verlieren, sondern ein sehr reflektiertes und klares Bewusstsein dafür zu haben, was ich gerade tue. •• Nicht abgelenkt sein: Meine Wahrnehmung sollte – so gut das geht – nicht beeinträchtigt sein durch eigene Sorgen, Gefühle oder andere Störungen. Mit anderen Worten: Ich bin, so gut ich es kann, ganz beim zu begleitenden Menschen. •• Neutralität: Es geht nicht darum, das Wahrgenommene zu

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beurteilen oder zu bewerten, auch wenn mir als Begleiter vielleicht etwas bekannt vorkommt. •• Perspektivenwechsel: Es geht um ein Bewusstsein, dass die eigene Sichtweise falsch, beschränkt oder einengend sein kann, ganz einfach weil Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden können (von Stern 2004). Achtsam zu sein heißt also: •• den anderen zu respektieren, •• darauf zu achten, was man sagt und wem man es sagt, •• auf den anderen zu achten, •• offen zu sein auch gegenüber Menschen, die wir gut zu kennen glauben, •• auf sich selbst zu achten, •• auf das, was man sagt und wie man es sagt, •• sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Im Begriff »Achtsamkeit« steckt das Wort Achtung. Es geht um »Hochachtung«, darum, jemanden zu »schätzen« (Wertschätzung), ihn für wertvoll zu erachten und damit genau das zu tun, was Trauernde sich selbst gegenüber oftmals aktuell nicht mehr können. In der Begleitung von Trauernden bedarf es also in hohem Maße einer solchen absichtslosen Achtsamkeit: •• für den Trauernden, •• für sich selbst •• und für den unmittelbaren Augenblick, mit seinen oftmals einmaligen Chancen, aber auch mit seinen Grenzen. Bäumer und Plattig gehen, bezogen auf den Achtsamkeitsbegriff, sogar soweit, dass sie ihn in einen spirituellen Zusammenhang stellen, indem sie in ihrer Veröffentlichung zur personzentrierten Haltung die »Achtsamkeit als natürliches Gebet der Seele« (Bäumer und Plattig 2012) beschreiben. Dieser Buchtitel berücksichtigt also auch den geistlich-spirituellen Aspekt der Achtsamkeit und Wertschätzung und nimmt zugleich spirituelles Tun in einen sehr

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weiten Blick. »Achtsamkeit als natürliches Gebet der Seele« wird hier nicht nur als innerlicher Prozess verstanden, sondern auch als menschlich-solidarischer Akt. Und dieses zutiefst menschlich-solidarische Tun, in dem klaren und reflektierten Bewusstsein, selbst ein endlicher, also sterblicher Mensch zu sein, ist ja die zentrale Triebfeder, aus der heraus in vielfältiger Form und an ungezählten Orten Trauerbegleitung stattfindet. Und Spiritualität, das sei an dieser Stelle nochmals erinnert, gilt als eine der vier tragenden Säulen der Hospizarbeit und einer palliativ-hospizlichen Haltung. Achtsam wahrnehmen – Wie geht das?

Achtsam wahrnehmen, das hat vor allem mit aktivem Hinhören und Hinschauen zu tun. Dem Hören kommt dabei die noch wichtigere Funktion zu, denn ich höre ja nie nur die Worte, sondern immer auch die Stimme dessen, der zu mir spricht. Das heißt nichts anderes, als dass im guten und zugewandten Hören immer auch das Unhörbare mitschwingt. Deutlich wird das im nachfolgenden Abschnitt zum Beratungsmerkmal der Empathie (S. 45 ff.), das mitunter auch als aktives Zuhören in der Literatur beschrieben wird. Die darin geforderte Haltung wird noch klarer, wenn man statt Zuhören den Begriff Hinhören verwendet, da dieser den zuwendenden Aspekt und die gebotene Aufmerksamkeit noch mehr zum Ausdruck bringt als das üblicherweise gebrauchte Wort »zuhören«. Dem Philosophen Martin Heidegger (1889–1976) wird das Wort zugeschrieben, dass das Hören in die Geborgenheit hineinführt. Geborgenheit zu vermitteln, das ist in der Tat ein sehr verdichteter Begriff von dem, was eine wertschätzend-achtsame Wegbegleitung zu geben vermag, sofern es Begleitenden gut und authentisch gelingt, in der wertschätzenden Achtsamkeit zu bleiben. Anselm Grün beschreibt die gebotene Achtsamkeit mit einem sehr hohen Anspruch und in der Tat handelt es sich auch um ein durchaus anspruchsvolles Präsent-Sein: »Achtsam zu sein bedeutet, ganz gegenwärtig zu sein, offen zu sein für diesen Augenblick.

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Nichts ist wichtiger als das, was mir gerade begegnet und was ich gerade tue. Ich bin im Mund, der spricht, in der Hand, die handelt, im Auge, das sieht. Ich nehme wahr, was ist, und entdecke darin die Wahrheit. […] Achtsamkeit gegenüber anderen bedeutet auch, sich selbst zurückzunehmen« (Grün 2007, S. 90 f.). An dieser Stelle ist es aber auch wichtig, ehrlich und rücksichtsvoll, eben im zuvor beschriebenen Sinne wertschätzend und achtsam auch mit sich selbst als Trauerbegleiter zu sein. Das, was Grün hier ausdrückt, wird sich in der Trauerbegleitung längst nicht immer erreichen lassen. In Begleitungsprozessen sollte dies aber für Trauerbegleitende zumindest eine Handlungsleitlinie, eine Maxime und eine Richtschnur für das begleitende Tun sein. Wenn ich als Trauerbegleiter hin und wieder hinter diesem Ideal zurückbleibe, und das wird passieren, dann bedeutet das nicht, dass ich für diese Aufgabe nicht geeignet wäre. Die Ausführungen zur Achtsamkeit möchte ich münden lassen in einem Text des dänischen Philosophen und Theologen Søren Kierkegaard. Insbesondere den Aspekt der Absichtslosigkeit hat Kierkegaard in diesem kleinen Text sehr intensiv und unmittelbar treffend ausgedrückt: »Wenn wir beabsichtigen einen Menschen Zu einer bestimmten Stelle hinzuführen, müssen wir uns zunächst bemühen, ihn dort anzutreffen, wo er sich befindet, und dort anfangen. […] Wenn ich wirklich einem anderen helfen will, muss ich mehr verstehen als er, aber zu allererst muss ich begreifen, was er verstanden hat. Falls mir dies nicht gelingt, wird mein Mehr-Verständnis für ihn keine Hilfe sein. Würde ich trotzdem mein Mehr-Verständnis durchsetzen,

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dürfte dies wohl in meiner Eitelkeit begründet sein. Ich möchte meine Unterstützung durch seine Bewunderung ersetzen. Aber jede wahre Kunst der Hilfe muss mit einer Erniedrigung anfangen. Der Helfer muss zuerst knien vor dem, dem er helfen möchte. Er muss begreifen, dass zu helfen nicht zu herrschen ist, sondern zu dienen; dass Helfen nicht eine Macht, sondern eine Geduldausübung ist.« (Kierkegaard 1985, S. 38 f.)

Auch dieser Text verdeutlicht, wie wichtig es ist, sich in der Begleitungsrolle aktiv zurückzunehmen und vor allem ganz intensiv und immer wieder in die Haltung des Hörens, Wertschätzens und Verstehens zu gehen. Rogers hat auch dazu in seiner Theorie mit dem Beratungsmerkmal der Empathie, des einfühlenden Verstehens, wichtige Leitlinien formuliert. Nachfolgend soll dieses Beratungsmerkmal wiederum in seiner besonderen Bedeutung für die Begleitung trauernder Menschen beschrieben werden. Das Beratungsmerkmal der Empathie (Einfühlendes Verstehen – Aktives Hinhören)

In der vielfältigen Literatur zum personzentrierten Ansatz wird die Empathie mitunter als vorrangig beschrieben oder auch als zentrale Besonderheit herausgestellt. Ich teile diese Position so nicht und halte die drei von Rogers formulierten Beratungshaltungen für nur dann wirklich wirksam, wenn sie in einem sich selbst steuernden Gleichgewicht, sozusagen als Dreiklang wirksam werden. Die Empathie ist das Beratungsmerkmal, gerade auch in der Begleitung trauernder Menschen, mit dem diese aus ihrer Situation der häufig anzutreffenden Sprachlosigkeit und Ausdruckslosigkeit herausgeführt werden können in die Situation des Sprechens und des sich Ausdrückens und in das so wesentliche Gefühl:

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Ich werde verstanden, obwohl ich mich doch gerade selbst nicht verstehe. Die Empathie ist vermutlich das Merkmal, mit dem ein Trauerbegleiter am meisten selbst aktiv wird und handelt, nicht aber mit dem Ziel, einem trauernden Menschen etwas abzunehmen, sondern vielmehr, diesen wieder in die eigene Handlungsfähigkeit zu bringen und ihn so ins Leben zurückzuholen. Wie geschieht das? Rogers selbst formuliert dies unter anderem so, dass es darum geht, »die private Wahrnehmungswelt des anderen zu betreten und darin ganz und gar heimisch zu werden« (Rogers 1980/1998, S. 79). An gleicher Stelle spricht er sogar davon, dass es auch darum geht, »zeitweilig das Leben dieser Person zu leben« (S. 79). Das mag vordergründig paradox klingen, da ein solch tiefes Eintauchen in das individuelle Schicksal eines trauernden Menschen auch dazu führen kann, dass ein Begleiter in der Gefahr steht, seine Rolle zu verlieren. Dieser Aspekt ist sicher – das steht vollkommen außer Frage – genau zu beachten, gleichwohl möchte ich die klaren und bildhaften Formulierungen von Rogers nicht aufweichen oder verwässern. Um sich in der Begleitungsrolle zu schützen und diese nicht zu verlieren, ist es aber wichtig, in der »Als-ob«-Perspektive und -Position zu bleiben. Sehr deutlich macht dies nachfolgende Formulierung von Rogers selbst, die als Kurzdefinition des empathischen Verstehens hier genannt sein soll. Es geht darum »den inneren Bezugsrahmen des anderen möglichst exakt wahrzunehmen, mit all seinen emotionalen Komponenten und Bedeutungen, gerade so, als ob man die eigene Person wäre, jedoch ohne jemals die ›Als-ob‹-Position aufzugeben« (Rogers 1959, S. 37, zitiert nach Weinberger 2013, S. 41). Das Einnehmen dieser Als-ob-Position ist jedoch nicht misszuverstehen als passive Grundhaltung. Im Gegenteil: Wie bereits eingangs angesprochen geht es bei diesem Beratungsmerkmal explizit um ein Tun, ein Handeln, ein Aktivwerden des Trauerbegleiters, der dadurch versucht zu helfen, indem er das, was ein Trauernder ausspricht, sinngemäß mit eigenen Worten wiederholt, es also zusam-

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menfasst, quasi verdichtet und auf diese Weise dem Trauernden zur eigenen inneren Verarbeitung zugänglicher macht. Es handelt sich also gerade nicht um eine rein passive Haltung, die einfach nur aufnimmt, sondern um eine hochaktive Einstellung, die sich vor allem ausdrückt durch erkennbare, wache und vom Trauernden spürbare Präsenz, nicht hingegen durch direktives Intervenieren. Auch das wäre ein Missverständnis dieses Beratungsmerkmals. Empathie, sich einfühlen, ist ein mehrdimensionaler aktiver Vorgang, der mit Hören und Wahrnehmen zu tun hat, mit dem engagierten Versuch, das Gehörte auch wirklich zu verstehen, und schlussendlich mit dem einfühlsamen Mitteilen dessen, was ich als Trauerbegleiter meine verstanden zu haben. Diese Mehrdimensionalität macht deutlich, dass es nicht nur darum gehen kann und gehen darf, einen trauernden Menschen aufgrund seiner verbalen und auch nonverbalen Äußerungen intensiv wahrzunehmen und das so Wahrgenommene einfach verbal zurückzugeben. Vielmehr kommt es auf das eigene Durchdringen, Bedenken und damit Verstehen des Wahrgenommenen an. Erst das einfühlend Verstandene (mit allen Begrenzungen, die es zwangsläufig haben wird) sowie dessen Mitteilung und nicht schon das nur einfühlend Wahrgenommene vermag dem trauernden Menschen in der Begleitung wirklich zu helfen. Zur Mitteilung des so Verstandenen ist noch anzumerken, dass erst diese dritte Komponente der Empathie anzuzeigen vermag, ob dieses notwendige Beratungsmerkmal auch das Attribut »hinreichend« verdient.5 Es kommt also ganz wesentlich auf das Verbalisieren, auf das aktive Tun an, bei dem nicht irgendetwas »gespiegelt«6 wird, sondern vor allem 5 Rogers selbst hat seine drei Beratungsmerkmale wiederholt als sowohl notwendig wie auch hinreichend beschrieben. Mit anderen Worten: Es braucht unbedingt diese drei Grundhaltungen, mehr jedoch braucht es nicht! 6 Mit dem Begriff »Spiegeln« ist der Beratungsansatz von Rogers oft karikiert und falsch verstanden worden. Aus diesem Grund verwende ich diesen Begriff sehr bewusst nicht bzw. nur, um das Missverständliche an diesem Begriff aufzuzeigen.

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die emotionalen Erlebnisinhalte, die bei trauernden Menschen in aller Regel in reichem Maße zu erwarten sind, zum Ausdruck gelangen. Das gilt umso mehr, wenn diese emotionalen Anteile einem/ einer Trauernden, zum Beispiel aufgrund eigener Tabuisierung oder auch fremder Sanktionierung, nicht direkt zugänglich sind. Dann geht es darum, dass ein Trauernder im Begleitungsprozess mit einem einfühlsamen Trauerbegleiter die Gelegenheit bekommt zu lernen, seine eigenen, oftmals tief verschütteten Gefühle wieder oder überhaupt neu zu entdecken, seine emotionalen Verhärtungen zu spüren und diese im besten Fall aufweichen zu lassen (Steinkamp 2012, S. 35). Empathie hat also eine klare instrumentelle Funktion, »sie steht im Dienst eines Ziels« (Steinkamp 2012, S. 35). Auch im vorliegenden Kontext der Trauerbegleitung lautet dieses Ziel in einem sehr weit zu verstehenden Sinne »Heilung«. Mit Blick auf trauernde Menschen geht es dabei um folgende Punkte, bei denen ich mich an Lammer (2010) und ihrem Modell der Aufgaben Trauernder orientiere: •• Tod be-greifen •• Reaktionen Raum geben •• Anerkennung des Verlustes •• Uebergänge meistern •• Erinnern und Erzählen •• Ressourcen nutzen, Risiken einschätzen Bei all diesen Aufgaben können eine personzentrierte Haltung und vor allem eine empathische Präsenz hilfreich sein. In Zusammenhang mit dem angestrebten Ziel der Heilung steht immer die Erreichung der Selbstexploration, also des Ausdrucks der Trauernden, was auf unterschiedliche Art und Weise versucht wird, so durch Verbalisieren diffus geäußerter Gefühlsinhalte, durch Stimulation zum Ausdruck von Klage sowie auch durch bestärkendes Wiederholen von sogenannten negativen Gefühlen (Schuld, Neid, Wut, Zorn, Scham, Triumph …). Obwohl oftmals übervoll von subjektiv wie auch objektiv beklagenswerten Ein-

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drücken und Erfahrungen, sind Trauernde, nicht zuletzt auch aufgrund von Isolation, oftmals sprach-los. Sie verlieren mitunter das in dieser Situation so wichtige Medium der Sprache, weil ihnen die Sprachform der Klage oftmals nicht zugestanden wird. Gleichwohl ist in den Trauernden das Gefühl der Klage und des Schmerzes vehement existent, und dies verstärkt deshalb, weil die Trauer, wenn überhaupt, allenfalls noch in kleinen, privaten Gruppen zugestanden wird. Genau das aber verursacht einen noch intensiveren Schmerz, als ohnehin zu erwarten ist. Eine Trauerbegleitung in personzentrierter Haltung kann hier stellvertretend ansatzhaft und oftmals noch versteckt und diffus gezeigte Gefühlsinhalte verbalisieren (helfen) und dadurch Trauernden aus ihrer unverschuldeten inneren wie äußeren Isolation verhelfen, indem sie ihnen ihre eigene Sprache wiedergibt. Welche Bedeutung das Sprechen und somit auch das Wiedererlangen der eigenen Sprache haben, wird in einem Zitat von Peter Handke aus seinem Stück »Kaspar« deutlich. Im Vorwort ist zu lesen, dass dieses Stück »zeigt, was möglich ist mit jemandem. Es zeigt, wie jemand durch Sprechen zum Sprechen gebracht werden kann« (Handke 1967, S. 7). »Seit ich sprechen kann, kann ich ordnungsgemäß aufstehen; aber das Fallen tut erst weh, seit ich sprechen kann; aber das Wehtun beim Fallen ist halb so schlimm, seit ich weiß, dass ich über das Wehtun sprechen kann; […] Seit ich sprechen kann, kann ich alles in Ordnung bringen« (Handke 1967, S. 30). Diese Worte aus dem Mund von Kaspar Hauser im Stück von Peter Handke unterstreichen, wie zentral wichtig der Selbstausdruck, die Selbstexploration, also das sich selbst zur Sprache bringen ist, gerade auch für Trauernde. Diesem Selbstausdruck wohnen die Chance und die Kraft inne, in das aktuell erfahrene Chaos in oftmals nur kleinen Schritten – aber eben in eigenen Schritten des Trauernden – eine Ordnung zu bringen. Ob damit wirklich alles »in Ordnung« gebracht werden kann, darauf kommt es nicht an. Wichtig scheint mir vor allem zu sein, dass ein trauernder Mensch so die Erfahrung machen kann, in sein individuelles Gefühlschaos selbst überhaupt wieder eine Ordnung zu bringen.

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Es gibt zu diesem von Handke formulierten Sprachbild, das ich hier auf den sich selbst zunehmend artikulierenden Trauernden übertragen habe, noch ein anderes Sprachbild, das sich mehr auf die Begleitenden bezieht. Dieses Bild lautet in seiner Kurzform: »Wenn jemand spricht, wird es hell« und es stammt von Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse. Freud beschreibt, dass er die Aufklärung über die Herkunft der Angst einem dreijährigen Knaben verdankt, den er einmal aus einem dunklen Zimmer Folgendes bitten hörte: »Tante, sprich mit mir, ich fürchte mich, weil es so dunkel ist. Die Tante rief ihn an: Was hast du denn davon? Du siehst mich ja nicht. Das macht nichts, antwortete das Kind, wenn jemand spricht, wird es hell« (Freud 1905/1968, S. 126). Auch wenn Rogers aus einer ganz anderen psychologischen Grundrichtung auf Menschen schaut, so lässt sich das Bild vom »hell werden, wenn jemand spricht« auch auf sein Beratungsmerkmal des einfühlenden Verstehens beziehen. Und das gilt in doppeltem Sinne: Zum einen und eher vordergründig betrachtet, ist das sprechende menschliche Gegenüber der Faktor, der zumindest situativ angstabbauend und stützend in einer Trauerbegleitung wirkt. Zum anderen ist das aktive Verbalisieren dessen, was ein Trauerbegleiter emotional verstanden hat, eine sehr wirkungsvolle Intervention, die dazu beitragen kann, dass der trauernde Gesprächspartner wieder einen Zugang zum eigenen Empfinden, zur eigenen Emotionalität erhält. Eine solche empathische Form des Sprechens darf, wenn sie gelingt, dann auch zu Recht das Attribut »erhellend« tragen. Durch eine achtsame Unterstützung zur Wiedererlangung der eigenen Ausdrucksfähigkeit kann für Trauernde, wenn auch vielleicht in vielen Fällen zunächst nur ansatzhaft und lediglich für einen beschränkten, geschützten Raum, das in vielen Fällen immer noch individuell verwurzelte alltägliche Trauertabu aufgebrochen werden. Empathie, also einfühlendes Verstehen und der engagierte Versuch, das Verstandene zu verbalisieren, wird so zunehmend zum Stimulus für Klage und möglicherweise auch Protest auf Seiten trauernder Menschen, der ihnen dazu verhelfen kann, dieses klam-

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mernde und einengende Tabu nicht länger als für sich verpflichtend anzusehen. Und einhergehend mit einem solchen zunehmenden Ausdruck von Klage, Trauer, Protest und Schmerz wird sich auch eine Intensivierung von bislang (verschütteten) emotionalen Äußerungen einstellen. Diese Gefühle werden durch die beständige und bestärkende Wiederholung des Trauerbegleiters intensiviert, ihr echter Ausdruck dadurch begünstigt. Wenn Gefühle, vor allem verdrängte, verzerrte oder sogenannte negative Gefühle in einem Trauernden existent sind, verlangen sie auch nach Ausdruck, und das in jedem Fall auch dann, wenn sie zunächst, aus welchem Grund auch immer, von den Betroffenen nicht zugelassen werden. Ein Trauerbegleiter muss bewusst und gezielt zu solchen Gefühlen und vor allem zu ihrem Ausdruck hinführen, denn die Durcharbeitung der eigenen inneren Welt sowie die intensive Konfrontation mit sich selbst sind für das Selbst und das Fühlen trauernder Menschen bedeutsam. Es zeigt sich mehr als deutlich, wie sehr diese unterschiedlichen Funktionen alle auf das eine wichtige Ziel hinauslaufen, nämlich trauernde Menschen zum Ausdruck ihrer Gefühle, also zur notwendigen Selbstexploration zu verhelfen. Durch den bewussten und durchaus auch zielgerichteten Einsatz einer empathischen Grundhaltung in Kombination mit den Grundhaltungen der Wertschätzung und der Echtheit •• fühlen Trauernde sich verstanden, •• erleben sie, dass es auf ihre ganz eigene Sichtweise ankommt, •• fühlen sie sich wieder für sich selbst verantwortlich, •• setzen sie sich mit ihrem Erleben und ihren aktuellen Gefühlen als Trauernde auseinander. Aufgrund solcher zu erwartenden Wirkungen (hier bei trauernden Menschen, jedoch auch in anderen Feldern, in denen personzentriert beraten wird) bezeichnet Rogers die Empathie als »eine der mächtigsten Kräfte der Veränderung« (Rogers 1981, S. 68), die er kennt.

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Das Beratungsmerkmal der Echtheit und der Authentizität »Alles, was gesagt wird, soll echt sein; nicht alles, was echt ist, soll gesagt werden.« (Ruth Cohn 1984, S. 280)

Als drittes notwendiges Merkmal bzw. als dritte Haltung eines personzentrierten Beraters benennt Rogers die Echtheit und erklärt zu dieser Haltung, dass sie nur sehr schwer zu lernen und ebenso schwer zu vermitteln ist. Die Entwicklung einer solchen Haltung setzt laut Rogers lebenslanges Lernen und immer wiederkehrendes Einüben voraus. Und vermutlich erreicht niemand diesen geforderten Zustand, diese grundsätzliche Haltung ganz und vollständig. Dieser Hinweis zu Beginn dieses Abschnitts ist wichtig, damit Begleitende sich nicht überfordern, indem sie sich zu sehr unter Druck setzen. Kein Trauerbegleiter wird immer und durchgängig authentisch sein können. Echtheit als Haltung hat einen unmittelbaren Zusammenhang zum eingangs genannten Selbstkonzept und zur anzustrebenden Selbstkongruenz – auch und nicht zuletzt auf Seiten des Trauernden. Ein kurzer Rückblick: Ein Mensch mit einem positiven Selbstkonzept kann sein Selbst neuen Erfahrungen besser anpassen und wird dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch tun. Er wird also für Selbstkongruenz sorgen. Nicht gut in ein individuelles Selbstkonzept integrierbare neue Erfahrungen hingegen werden zu inkongruentem Erleben und Verhalten führen. Die Integration der Erfahrung von Sterben und Tod in das individuelle Selbstkonzept stellt per se eine große Herausforderung dar und fällt schwer. Gerade deswegen ist es so wichtig, einen kongruenten, also durch und durch authentischen Begleiter an der Seite zu haben, der durch seine spürbar gelebte Echtheit dafür Sorge trägt, dass ein trauernder Mensch ein Modell erlebt, das dazu ermutigt, auch selbst mehr und mehr authentisch mit sich umzugehen und

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auch die verleugneten und verzerrten Erfahrungen überhaupt erst wahrzunehmen und sie nachfolgend auszudrücken. Letztendlich geht es darum, soweit zu kommen, dass sich das eigene innere Erleben, das bewusste Wahrnehmen dieser individuellen Erlebnisinhalte und der emotionale und sprachliche Ausdruck zur Deckung bringen lassen. Zuerst auf Seiten des Beraters (als Modell) und im besten Fall nachfolgend dann auch bei der personzentriert begleiteten trauernden Person. Oder anders gesagt und sehr nah an den Worten von Rogers orientiert bedeutet Echtheit, dass die Gefühle, die ein Trauerbegleiter hat, diesem bekannt und seinem Bewusstsein zugänglich sein müssen und dass er zugleich in der Lage ist, diese Gefühle zu leben, sie quasi zu sein, und darüber hinaus fähig ist, sie mitzuteilen, wenn es dem Trauerbegleiter zweckmäßig und der Entwicklung eines Trauernden zuträglich erscheint (Rogers 1973). Anders formuliert bedeutet dies, dass Trauerbegleitende tatsächlich und authentisch an der konkreten trauernden Person in der Begleitung interessiert sein müssen. Es geht also bei der Beratungshaltung der Echtheit einerseits um einen innerpsychischen Vorgang (mein inneres Erleben) und Bewusstsein als Begleiter. Mehr noch geht es dabei andererseits um den für den trauernden Menschen sichtbaren Vorgang der Selbstöffnung, für den sowohl verbale wie auch nonverbale Ausdrucksformen von Bedeutung sind. Hilfreich zum erweiterten Verständnis der Beratungshaltung der Echtheit sind nach meiner Auffassung die Begriffe Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit. Mein Verhalten und Agieren als Trauerbegleiter muss diesen Ansprüchen genügen: Ich muss im Kontakt zum trauernden Menschen so konsequent wie möglich wahrhaftig und aufrichtig sein. Ein trauernder Mensch in der Einzelbegleitung oder auch in einer Trauergruppe wird diese Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit dann erfahren, wenn das innere Erleben und das äußere Verhalten eines Trauerbegleiters übereinstimmen. Nur dann wird ein Trauerbegleiter glaubwürdig auftreten und tragfähiges Vertrauen schaffen.

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Ohne solche Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit steht ein Trauerbegleiter hingegen in der Gefahr, •• fassadenhaft, •• überroutiniert, •• pseudoprofessionell oder •• distanziert aufzutreten und zu wirken. Es geht bei der Haltung der Echtheit aber nicht nur darum, echt und authentisch zu sein, sondern diese aufrichtige Echtheit auch zu transportieren, also sie einem trauernden Menschen gegenüber auch zu vermitteln. Ich muss als Trauerbegleiter demnach in der Lage sein, meine Aufrichtigkeit Trauernden aktiv mitzuteilen, und dabei hat das nonverbale Verhalten zumeist ein deutlich größeres Gewicht als das, was ich über Sprache zum Ausdruck zu bringen in der Lage bin. An dieser Stelle erscheint es mir deshalb besonders wichtig, das Augenmerk vor allem auf die nonverbalen Verhaltensmerkmale zu richten, da diese nicht bzw. nicht ohne weiteres unserer bewussten Einflussnahme unterliegen. Sie dennoch im Hinblick auf authentisches Auftreten zu steuern und sehr bewusst (meiner selbst bewusst) mit ihnen umzugehen, erfordert andauernde Übung und die fortwährende Bereitschaft zur Selbstreflexion. Als Trauerbegleiter benötige ich neben Sozialkompetenz, Fachkompetenz und Systemkompetenz vor allem diesen hochreflexiven Anteil. Ich muss in der Lage sein, mich selbst zu befragen, mich auch neben mich selbst zu stellen und zu schauen, wie ich jetzt vermutlich auf mein Gegenüber wirke und ob mein äußerer körperlicher Ausdruck auch mit dem übereinstimmt, was ich gerade einem trauernden Menschen sage. Gelingt mir das nicht, wird ein trauernder Mensch vermutlich sehr schnell irritiert sein, vor allem dann, wenn ich ausschließlich verbal intensive Zuwendung signalisiere, nonverbal aber alles andere als zugewandt bin. Zugleich muss an dieser Stelle aber auch auf ein mögliches Missverständnis hingewiesen werden. Es geht nicht um Betulichkeit und

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eine körperliche Zugewandtheit, die meiner eigenen Hilflosigkeit entstammt und mit der ich etwas zu überspielen versuche, um meine gespürte Hilflosigkeit oder Unsicherheit zu überbrücken. Beides, Unsicherheiten und unangenehme Gefühle von Hilflosigkeit, werden Trauerbegleiter kennen und auch immer wieder neu erleben. Aufrichtige Echtheit bedeutet in solchen Momenten, gut bei sich zu sein, die eigene Unsicherheit wahrzunehmen, sie zu spüren, für sich zu akzeptieren und möglicherweise auch trauernden Menschen gegenüber zu verbalisieren. Das heißt nicht, dass ich als Trauerbegleiter aus meiner Rolle herausgehe, sondern vielmehr, dass ich die Chance sehe und wahrnehme, dem Trauernden gegenüber zu signalisieren, dass es Situationen gibt, die in der Tat aktuell ganz hilflos und unsicher machen und die man nicht ohne weiteres und schon gar nicht ad hoc verändern oder gar unmittelbar abstellen kann. Wenn ich als Trauerbegleiter gut reflektiert solche Gefühle bei mir wahrnehmen und zulassen kann (also kongruent bin), dann habe ich die Chance, ein hochsolidarisches Signal zu setzen und Trauernden klar zu machen, dass es völlig normal ist, sich in dieser aktuellen Lebenssituation hilflos und verunsichert zu fühlen. In der eigenen Anerkenntnis dieser Gefühlssituation kann ein Trauernder Mensch im besten Fall einen ersten wichtigen Schritt gehen aus seiner einsamen Situation heraus und hin auf den Weg, irgendwann später auch seine eigene Trauer anzuerkennen und sogar wertzuschätzen als ein Gefühl, das ihn mit der verstorbenen Person in sehr wertvoller Weise verbindet, und als eine Emotion, die ihm niemand nehmen darf. Andersherum wird mangelnde Echtheit auf Seiten des Trauerbegleiters von trauernden Personen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit so registriert werden, dass diese mit Zurückhaltung und Abwehr reagieren und etwas ganz Zentrales nicht tun werden, nämlich sich artikulieren, sich mit ihrer Trauer ausdrücken oder – wie es im personzentrierten Vokabular heißt – sich explorieren. Damit würde aber genau das verhindert werden, was gut verstandene Trauerbegleitung auf Augenhöhe beabsichtigt: Hilfestellung zu vermitteln und Räume zu eröffnen, in denen Trauer ausgedrückt und gelebt werden kann.

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Das Erleben eines authentischen Trauerbegleiters hingegen wird dazu führen, dass ein trauernder Mensch diesen Begleiter mit dieser Eigenschaft als Vorbild nimmt und darüber zunehmend Mut entwickelt, sich und seine eigene Trauer auszudrücken. Das, worum es geht, lässt sich auch noch in anderer Form verdeutlichen: Wenngleich ich bei meiner Aufgabe als Trauerbegleiter auch in einer bestimmten Rolle agiere, der ich mir sehr bewusst sein muss, so ist es doch wichtig, dem Trauernden gegenüber als authentische Person aufzutreten, spürbar mit meinen eigenen Emotionen und Reaktionen. Und in dem Maße, in dem ich als Trauerbegleiter Person sein kann, wird es mir erst möglich, zur Person des Trauernden in eine echte tragfähige Beziehung zu treten und dessen Persönlichkeitsentwicklung zu fördern. Es kommt also ganz wesentlich auf den Eindruck an, den ein trauernder Mensch vom Trauerbegleiter gewinnt. Und so kann man die Beratungshaltung der Echtheit gewissermaßen auch als Grundlage für die beiden anderen Haltungen der Wertschätzung und der Empathie verstehen. In jedem Fall ist es die Echtheit als Beratungsmerkmal, die es verhindert, dass die personzentrierte Haltung zu einer plan- und machbaren Technik wird. So verhindert die Echtheit, dass aus Empathie und Akzeptanz, aus einfühlendem Verstehen und Wertschätzung technisierte und distanzierte Aktionen werden. Die Echtheit ist eine absolute Bedingung dafür, dass die beiden anderen Beratungsmerkmale überhaupt als hilfreich erfahren werden können. In Zusammenhang mit hospizlicher Identität ist immer wieder auch zu lesen und zu hören, dass Hospiz Haltung ist, was sich auch in der Namensgebung von Hospizinitiativen in vielfältiger Form ausdrückt. Und es entspricht der Motivation von zahllosen Ehrenamtlichen, die sich diese Aufgabe gesucht haben, weil sie sich in einem Bereich engagieren wollen, der ganz viel mit Menschlichkeit und Solidarität zu tun hat. Echtheit als Begleitungshaltung drückt diese Identität und das damit verbundene Bedürfnis ebenfalls aus. Sie hat ganz wesentlich zu tun mit wirklicher Menschlichkeit, mit ganzem Sein und Dasein, mit Beistand und Nähe. Auch der personzentrierte Ansatz

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als ganzer ist vorrangig eine Seinsweise und eine innere Haltung und nicht einfach eine Technik oder nur eine Methode. Und eine solche Haltung des Beistands ist das, was gerade auch trauernde Mitmenschen benötigen. Sie brauchen vor allem menschliche Nähe und verstehende Zuwendung, nicht aber eine im negativen Sinn routinierte oder gar technisch ausgefeilte Hilfe. Es geht vor allem darum, dass sich ein Trauerbegleiter aktiv bemüht um das tiefe Verstehen eines Gesprächspartners, dass er nicht schablonenhaft-professionell agiert und sich weder über einen Gesprächspartner stellt (»ich weiß schon, wie ich dir helfen kann«), noch sich kühl-professionell distanziert verhält. Von Trauerbegleitern ist zu erwarten, dass sie trauernden Menschen zu verstehen geben, dass diese sich ganz und gar auf sie verlassen können. Trauernde müssen spüren können, dass sie die ungeteilte und echte Aufmerksamkeit und Sorge des Trauerbegleiters geschenkt bekommen. Sie müssen das Gefühl haben, dass jemand für sie in ihrer aktuell schwierigen Situation, wenn auch lediglich für begrenzte, abgesprochene Zeiten, dann jedoch ganz und gegenwärtig da ist. Ein Trauerbegleiter kann einem Trauernden wohl nur dann wirklich helfen, wenn er innerhalb einer Beziehung genau die Person ist, die er ist, und sich nicht hinter einer Fassade oder einer Rolle versteckt. Normal trauernde Menschen durchleben eben nicht etwas, was im therapeutischen Sinn »behandelt« werden muss, sondern sie brauchen vor allem offene Räume für ihre Trauer und tragfähige echte Kontakte. Und daher benötigen sie nicht einen in erster Linie »Profi« im hier durchaus negativ zu verstehenden Wortsinn, sondern das, was sie wirklich not-wendig zum (Weiter-)Leben brauchen, ist schlicht und einfach ein echt zuhörender, zugewandter und akzeptierender Mensch, der auch in einer solchen Trauerbegleitung er selbst ist und es nicht nötig hat, sich mit seinem Selbstsein hinter einer »professionellen« oder auch noch anders gearteten Fassade zu verstecken. Dazu gehören auch eine gewisse sympathische Empfindsamkeit und eine menschlich-herzliche Zuwendung, die weder gleichzu-

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setzen noch falsch zu verstehen ist als ein Verlassen der gebotenen Helferdistanz. Sehr klar hat dies Jean Paul zum Ausdruck gebracht mit seinen Worten: »Der vollendete Umgang mit Menschen ist die Fähigkeit, zugleich ehrlich und liebenswürdig zu sein.« Diese Gedanken zum Begleitungsmerkmal der Echtheit schlagen eine Brücke zu dem, was im Begleitungsprozess auf der Seite eines trauernden Menschen erreicht werden soll. Im Wesentlichen geht es darum, dass ich durch meine Haltung meinem Gegenüber ermöglichen möchte, sich selbst zu öffnen: einerseits für seine eigenen, vielleicht auch tabuisierten oder verdrängten Gefühle und für all das, was noch, sei es aus einem Schutzbedürfnis oder aus Schamoder Schuldgefühlen heraus, verzerrt wahrgenommen werden muss. Andererseits geht es aber auch um eine Öffnung nach außen, die dazu führen kann und soll, sich selbst zu öffnen, der eigenen Trauer Ausdruck zu verleihen und die zuvor verdrängten Anteile in den Blick zu nehmen.

Die Ermöglichung der Fähigkeit eines trauernden Menschen, dem eigenen Erleben Ausdruck zu verleihen »Trauer- und Klageräume wünsche ich dir. Orte des Vertrauens, in denen Gefühle sein dürfen, Vielleicht auch verwandelt werden.« (Pierre Stutz 2004, S. 4)

Unter dieser Überschrift geht es um die Erreichung der im Grunde zentralen Aufgabe von Trauerbegleitung. Es geht darum, Trauer Ausdruck zu verleihen und sie aus einer im schlimmsten Fall statischen Situation ins Fließen kommen zu lassen, sie also in die »Ent-wicklung« zu bringen. Das konkret zu tun ist vorrangige Aufgabe der trauernden Menschen selbst. Personzentrierte Trauerbegleitung hilft dabei durch ihre förderlichen Grundhaltungen, ihre

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vor allem wertschätzenden Interventionen und nicht zuletzt durch ihre pure menschliche Präsenz. Alle drei beschriebenen Beratungshaltungen haben ihren Anteil an der angestrebten Erreichung des Ausdrucks von Trauer oder, um es im personzentrierten Vokabular auszudrücken, an der Selbstexploration des Trauernden. Die Grundhaltung des einfühlenden Verstehens bzw. der Empathie ist aber im Kanon der drei Beratungshaltungen diejenige, die aktiv am intensivsten versucht, den Ausdruck von Trauer konkret zu fördern. Was aber ist genau mit dem personzentrierten Terminus Selbstexploration gemeint? Wörtlich übersetzt bedeutet der Begriff Selbsterforschung, man kann ihn aber auch mit den Begriffen Selbstöffnung und Selbstmitteilung umschreiben oder mit Selbstauseinandersetzung. Es geht darum, dass ein Trauernder Räume eröffnet bekommt, die es ihm ermöglichen, über sich selbst zu sprechen, über seine Empfindungen und seine (vor allem) emotionalen Bewertungen seines persönlichen Erlebens und Verhaltens und seines Umfelds. Das geschieht nicht ohne konkreten Hintergrund. Ein trauernder Mensch soll dadurch dazu kommen, mehr Klarheit über seine emotionalen Positionen, aber auch über seine Wünsche und Hoffnungen zu erhalten. Diese Erlangung von zunehmender Klarheit hinsichtlich der Wünsche und Hoffnungen hat unmittelbaren Bezug zum bereits angesprochenen Selbstkonzept. Wirksamkeit und Erfolg einer personzentrierten Begleitung Trauernder sind demnach zu einem großen Teil davon abhängig, ob und wie Trauernde ihre oftmals zahlreichen und mitunter auch ambivalenten Gefühle im Laufe einer Begleitung erfahren und auf die für sie individuell richtige Art und Weise ausdrücken können. Und das eben im Lichte einer wertschätzenden, einfühlsamen und authentischen Gesamtatmosphäre.

II  Praxisberichte – Fallbeispiele

In diesem zweiten Teil stelle ich Querverbindungen her und zeige Bezüge zwischen der Theorie der personzentrierten Haltung in der Trauerbegleitung und der konkreten Begleitung selbst. Was bedeutet das, was ich von den Grundhaltungen, so wie Rogers sie als notwendig und hinreichend formuliert hat, erfasst habe, für mein konkretes Tun und Sein in der Begleitung trauernder Menschen? Dazu beschreibe ich nachfolgend einige konkrete Fallbeispiele und zeige anhand dieser Situationen die besonderen Herausforderungen, die mit diesen ganz individuellen Konstellationen verbunden sind. Nachfolgend stelle ich dann dar, wie gerade die personzentrierte Grundhaltung mit ihren zuvor beschriebenen Beratungsmerkmalen hier hilfreich intervenieren kann und wie sie mich zugleich auch davor bewahren kann, in Fallen zu stolpern. Die Beispiele beschreiben in der Wahrnehmung des Lesers möglicherweise zum Teil sehr außergewöhnliche Trauersituationen und Verhaltensweisen, entstammen allerdings – mit der gebotenen Verfremdung – alle der eigenen Begleitungserfahrung und sind vielleicht nicht alltäglich. Allerdings sind die geschilderten Situationen allesamt solche, die Trauerbegleitern dennoch begegnen können und die zugleich sehr deutlich machen, wie gerade eine personzentrierte Haltung es dem Trauerbegleiter möglich macht, gut und zugewandt im Kontakt zu bleiben. Der Begriff des Kontakts ist an dieser Stelle entscheidend, denn in der Trauerbegleitung ist es letztlich der Kontakt, der im Grunde das einzige »Werkzeug« darstellt, das mir als Begleiter zur Verfü-

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gung steht. Geht mir der Kontakt verloren oder gehe ich, zum Beispiel weil ich meine Wertschätzung für einen Trauernden verliere, selbst aus dem Kontakt, habe ich keinen wirklichen Zugang mehr zu dem Menschen, den ich in seiner Trauer begleiten soll und will. An diesen Gedanken knüpft unmittelbar das erste Fallbeispiel an. Fallbeispiel 1: Nicht zu »überbietende« Trauer nach 60 Ehejahren In die Einzelbegleitung kommt nach mehreren Besuchen im Trauercafé eine Frau, Mitte 80, die vor einigen Monaten ihren Mann nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt und nach einem, wie sie es selbst sehr vorwurfsvoll beschreibt, »misslungenen« chirurgischen Eingriff verloren hat. Ich nenne sie Frau H. Sie wirkt angesichts ihres hohen Alters noch sehr rüstig und agil und ich merke ihr unmittelbar an, welch großen Wert sie auf ihr Äußeres legt. Bei ihren vorausgegangenen Besuchen im Trauercafé fand sie, auch aufgrund ihrer Wortgewandtheit und direkten, manchmal auch durchaus humorigen Art, ganz schnell Anschluss und erhielt (zunächst) auch sehr viel Anerkennung von Seiten der anderen Besucher im Trauercafé. Frau H. war ausgesprochen lange mit ihrer Jugendliebe verheiratet. Unmittelbar nach dessen Rückkehr aus kurzer Kriegsgefangenschaft hat sie ihren Mann geheiratet, den sie bereits mit 17  Jahren kennengelernt hatte. Erst vor wenigen Monaten konnten beide auch noch ihre diamantene Hochzeit feiern. Ihre 60 Ehejahre beschreibt sie, nicht ohne Stolz, als sehr glücklich und im Grunde auch schicksalsfrei. Frau H. hat zwei Kinder, die in derselben Stadt wie sie selbst leben und zu denen sie zwar keinen sehr intensiven, aber doch einen guten Kontakt hat. Der insgesamt für sie sehr plötzliche und auch dramatische Tod ihres Mannes nach mehr als sechs Jahrzehnten symbiotischer und ausgesprochen glücklicher Partnerschaft ist für sie eine Situation, auf die sie sichtlich mehr mit Aggression und Vorwürfen reagiert als mit Rückzug und unmittelbar spürbarer Traurigkeit. Im Trauercafé und nachfolgend auch in einem ersten Treffen einer neu geplanten Trauergruppe kam es schon nach relativ kurzer Zeit zu Reibungen mit anderen Trauernden und nachfolgend auch mit den

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Ehrenamtlichen, die das Trauercafé betreuen. Zurückgemeldet wurde, dass Frau H. keine Trauer der anderen als bedeutsam stehen lassen kann und dass sie die Trauer der anderen regelmäßig entwertet. »Sie können mich doch überhaupt nicht verstehen! Was sind schon Ihre 22 Ehejahre verglichen mit meiner so langen und glücklichen Beziehung zu meinem Mann.« Aus dem Kreis der anderen Besucher des Trauercafés und auch aus der Gruppe derer, die sich für eine neue Trauergruppe interessieren, kommen Rückmeldungen, dass sie sich von Frau H. überhaupt nicht verstanden fühlen, und Andeutungen, dass sie sich nicht mehr in diesem Rahmen wohl fühlen, seit Frau H. in dieser Art und Weise und mit dieser Vehemenz auftritt. Frau H. hat diese Wahrnehmung nicht, kommt weiter regelmäßig und wollte auch unbedingt in die neu angebotene Trauergruppe. Schließlich sei sie ja diejenige, die am meisten Grund zur Trauer habe und der es infolge der so langen Ehejahre von allen doch verständlicherweise am schlechtesten gehe. Nach einem Zerwürfnis mit anderen Besuchern des Trauercafés entscheidet sie sich doch für angebotene Gespräche im Rahmen von Einzelbegleitung.

Dieses Fallbeispiel zeigt vor allem zweierlei: zum einen, wie schnell und intensiv das auftreten kann, was Trauernde wie Trauerbegleitende zunächst oft überhaupt nicht mit Trauerbegleitung in Verbindung bringen (wollen), nämlich Konfliktpotenziale, Kränkungen und Verletzungen. Zum anderen verdeutlicht es, wie wichtig ein tragfähiger und wertschätzender Kontakt in der Trauerbegleitung ist, bei dem sich ein Trauerbegleiter nicht verführen lässt durch moralische Wertungen und Vergleiche. Worum geht es hier und wie sollte eine personzentrierte Trauerbegleitung hier agieren? Grundsätzlich gilt, dass Frau H. zunächst einmal •• mit ihrem tiefen Schmerz anzuhören ist, •• dass der von ihr beschriebene Schmerz als subjektiv schlimmer als der Verlust jedes anderen Trauernden zu wertschätzen ist und

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•• dass ich als personzentrierter Begleiter nur auf diesem Weg in ein wirkliches Verständnis dieser Frau in ihrer ganz aktuellen Situation gelangen kann. Die Gefahr, der auch Trauerbegleiter mit einer guten Selbstreflexionskompetenz und einer gut geschulten Haltung grundsätzlich unterliegen, ist gleichwohl folgende: •• Ich kann statt in die Wertschätzung in die moralische Bewertung gehen. •• Ich lasse mich aufgrund der mir bekannten vorausgegangenen Dynamik verführen, selbst auch in den Vergleich mit der Situation anderer Trauernder zu gehen, um die es hier und jetzt in diesem Kontakt aber überhaupt nicht geht. •• Ich lasse mich durch die gespürten Affekte der Frau H. selbst in einen Affekt ihr gegenüber bringen, der meinen Kontakt zu ihr stört oder sogar zerstört. Erinnert sei an dieser Stelle aus dem Abschnitt zu den theoretischen Grundlagen Folgendes: •• Die Wertschätzung ist die zentrale Kontakthaltung! •• Die Bedeutung der subjektiven Seite der Erfahrung von Trauernden kann nicht hoch genug eingeschätzt werden! Neben dem konkreten Agieren in der personzentrierten Haltung kann mir das Wissen um die Bedeutung dieser theoretischen Grundlagen eine große Hilfestellung sein, um gut in einem solchen – tatsächlich herausfordernden Kontakt – zu bleiben. Dazu ist es wichtig, dass ich in der Lage bin, mich auf mein personzentriertes Rüstzeug zu besinnen und mir auch in einer solch schwierigen Begleitung klar zu machen und mich zu vergewissern, welch wirksame und nachhaltige Begleitungshaltungen ich real zur Verfügung habe. Ein bewusster Rückbezug auf die Merkmale der Wertschätzung, Empathie und Echtheit kann mich vor meinen eigenen, menschlich durchaus verständlichen, Affekten schützen.

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An diesem Beispiel ist zu sehen, wie bedeutsam Selbstreflexionskompetenz in meiner Rolle als Trauerbegleiter ist. Fallbeispiel 2: Nicht wirklich anerkannte Trauer Im Rahmen einer Trauergruppe lerne ich Herrn J. kennen, der um seinen verstorbenen Lebenspartner trauert. Herr J. ist 35  Jahre alt und war mit seinem Freund sechs Jahre lang in einer festen Partnerschaft verbunden. Seine Beziehung zu seinem Freund konnte er über all die Jahre nur begrenzt offen leben, da er berechtigte Sorge hatte, im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit Nachteile zu erfahren. Diese Ausgangssituation führte dazu, dass er sich entschlossen hat, an einer geschlossenen Trauergruppe teilzunehmen. Er erhofft sich, hier endlich das zu bekommen, was er im normalen Alltag vielfach nicht erfährt, nämlich die Anerkennung seines Verlustes und seiner sichtbar tiefen Trauer. Schließlich habe er ja »nur einen guten Freund« verloren. Auch in der Gruppe tritt er zunächst mit großer Zurückhaltung auf. Er benötigt spürbar Zeit und Raum, um sich mit seiner Trauer in dem Umfang öffnen zu können, der für ihn hilfreich ist. In der Trauergruppe erfährt er mit der Zeit, dass seine Trauer anerkannt wird, und kann diese Anerkennung vor allem deshalb so gut annehmen, da sie ihm von ebenfalls trauernden Menschen zugesprochen wird. Er fühlt sich tief verstanden.

Dieses Fallbeispiel greift ein Phänomen auf, das lange nicht wirklich berücksichtigt wurde, was aber zeigt, was nicht oder nicht ausreichend wertgeschätzte Trauer für Betroffene bedeutet und – andersherum gedacht – wie überaus bedeutsam die Anerkennung von Trauer ist. Der amerikanische Gerontologe Kenneth Doka benutzt einen noch kräftigeren Begriff für dieses Phänomen und spricht sogar von »entrechteter Trauer« (Doka 2014, S. 4 ff.). Er unterscheidet in diesem Zusammenhang fünf Haupttypen. So tragen zu nicht anerkannter, »entrechteter« Trauer folgende Umstände bei: •• die gesellschaftliche Nicht-Anerkennung einer Beziehung, •• mangelnde Würdigung eines Verlustes,

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•• Ausschluss eines Trauernden, •• bestimmte Todesumstände (Suizid oder Tod durch Suchtmittel), •• kulturell oder individuell fremde Trauerreaktionen. Das von Doka beschriebene Phänomen macht deutlich, dass trauernde Menschen gesehen und gehört werden wollen. Ihre Situation verlangt nach »An-Sehen«, Würdigung und Zeugenschaft. Und Trauerbegleitung macht im richtig verstandenen Sinn genau das: Sie bezeugt die Gewichtigkeit und Schmerzhaftigkeit des individuellen Verlustes und sie gibt Trauernden ein »Ansehen«. Und das ist umso notwendiger, je mehr die je eigene Beziehung zum Verstorbenen oder auch die Umstände des Todes eine soziale Anerkennung des Verlustes erschweren. Da, wo es nicht um klassisch-verwandtschaftliche Beziehungen geht, wird Trauernden in vielen Fällen die so notwendige Anerkennung ihres Verlustes nicht zuteil und dafür steht dieses Fallbeispiel. Ich habe es mit in die Reihe der hier vorgestellten Fallsituationen aufgenommen, um zu sensibilisieren für die spezifische Situation von Menschen mit nicht allgemein anerkannten Verlusten. Dazu kann neben diesem Beispiel etwa auch die Trauer um eine gute (»beste«) Freundin oder die Trauer um einen väterlichen Freund oder um eine Kollegin, die die Wirklichkeit am Arbeitsplatz prägend beeinflusst hat, zählen. Personzentrierte Trauerbegleitung wird, eben weil sie person-zentriert ist, nicht den konkreten Umstand eines Todes als Maßstab für die Intensität von Trauererleben nehmen und auch nicht den verwandtschaftlichen Bezug zum Verstorbenen. Auch hier gilt die hohe Bedeutung der ganz individuellen Erfahrung. Und gerade bei gesellschaftlich nicht oder nur gering anerkannter Trauer muss die so wichtige Ermöglichung des Ausdrucks von Schmerz und Trauer ein zentrales Anliegen von Trauerbegleitung sein. Fallbeispiel 3: Trauer um die hochbetagte und demente Mutter – Trauer mit Bildern In einer Einzelbegleitung begegne ich einer Frau, die um ihre betagte Mutter trauert, die im Alter von gut 80 Jahren hochdement

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an einer Tumorerkrankung verstorben ist. Die Tumorerkrankung hat – anders als erwartet – dazu geführt, dass die Mutter für sie »plötzlich und unerwartet« verstorben ist. Trotz der fortgeschrittenen Demenzerkrankung hatte die Mutter in den Augen ihrer Tochter (ich nenne sie hier Frau D.) noch eine ausgeprägte eigene und vor allem sehr liebenswerte Persönlichkeit. Und trotz des hohen Alters wurde die verstorbene Mutter von ihrer Tochter immer wieder als hübsche und attraktive Frau beschrieben. Im eigenen Erleben erfährt die Tochter sich als intensiver trauernd als der als Witwer zurückgebliebene Vater. Sowohl dieser wie auch die beiden älteren Geschwister sorgen sich um sie angesichts der intensiven und in massiven Wellen auftretenden Trauer. Die Tochter selbst beschreibt die Situation und ihr eigenes Erleben als heftig-extrem und kann ihre Geschwister und den Vater mit deren Sorgen verstehen. Ihre Mutter war für sie als Jüngste ein ganz besonderer Mensch. Diesen besonderen Zugang zu ihr hatte nur sie und die gemeinsamen Erfahrungen in den letzten Monaten sind für sie ein wertvoller Schatz, den sie hüten möchte. Gleichzeitig erlebt sie den erlittenen Verlust als großes Gefühlschaos und weiß zum Zeitpunkt des Beginns der Begleitung nicht, ob und wie sie aus dieser schwierigen Situation jemals wieder herauskommen soll. Sie ist verzweifelt und weint sehr viel. Schon relativ zu Beginn der Begleitung fragt sie mich, ob sie zu den Begleitungstreffen Fotoalben mitbringen kann, die ich bereit bin, mit ihr anzuschauen. Zum einen möchte sie mir die Attraktivität ihrer Mutter zeigen und zum anderen will sie sich konkret und sehr bewusst anhand der Fotos erinnern. Ich bedanke mich sehr direkt für das damit zum Ausdruck gebrachte Vertrauen mir gegenüber und ermutige sie, die Fotoalben zum nächsten Treffen mitzubringen.

Das gewünschte und von ihr selbst vorgeschlagene Einbringen und der Nutzen der Fotos machen mir in der weiteren Begleitung wiederholt Folgendes deutlich: Zum einen greift dieser Wunsch das auf, was ich im vorausgegangenen Beispiel schon als Zeugenschaft und Würdigung beschrieben habe. Sie ist stolz darauf, ihre attrak-

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tive Mutter in Form von Fotos zu zeigen, und legt Wert auf meine Bestätigung und wiederholte Rückmeldung. Zum anderen wird mir in der Begleitung klar, dass sie das gemeinsame Betrachten der Fotos auch dazu nutzt, um für sich eine Ordnung in das große Gefühlschaos zu bringen, das der Tod ihrer Mutter in ihr hinterlassen hat. Sie sucht anhand der Fotos nach einer inneren Ordnung, die ihr durch das Todesereignis offensichtlich abhanden gekommen ist. Dieses Fallbeispiel benenne ich in diesem Zusammenhang, um zu verdeutlichen, welch großes und vertrauensvolles Angebot seitens der trauernden Tochter in dem vorsichtig vorgetragenen Wunsch liegt, gemeinsam die alten Fotoalben zu betrachten. Frau D. nutzt die Fotos offensiv und wiederholt, um mit deren Hilfe in das Erinnern und auch in das Sprechen über ihre Mutter zu kommen. Als personzentrierter Trauerbegleiter sollte man vor solchen Signalen weder zurückschrecken, noch sollte man Trauernde dazu drängen, solch fotografische Erinnerungen zu nutzen. In der Tat ist es so, dass das gemeinsame Betrachten eines Stücks der Lebensgeschichte in dieser Form etwas ganz Persönliches bedeutet. Kommt das Angebot bzw. die Anfrage aber von einem Trauernden selbst, so ist es dies einerseits ein Signal »Ich vertraue Ihnen« und andererseits immer auch eine große Chance. Die Chance liegt in der hohen Wahrscheinlichkeit, dass ein trauernder Mensch zum einen selbst wieder Mut und Zutrauen fasst, sich diesen Erinnerungen zu stellen und sich ihnen und den damit verbundenen Emotionen auszusetzen. Zum anderen kann die so wichtige Selbstexploration, also der eigene Ausdruck, dadurch erleichtert werden. Die Fotos in diesem Fallbeispiel stehen aber auch noch für etwas anderes. Als personzentrierter Trauerbegleiter bin ich gut beraten, wenn ich – auch im übertragenen Sinn – auf (innere) Bilder und bildhafte Sprache beim Trauernden achte. Sprachbilder und Redewendungen können, ebenso wie die Fotos in diesem Fallbeispiel, ein geeigneter Schlüssel sein, um an die Anteile von Trauer zu gelangen, die schwer(er) auszudrücken sind, jedoch umso mehr nach Ausdruck verlangen.

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Das bedeutet, dass ich sehr wachsam auf Bilder und Symbole achte und diese im empathischen Kontakt und mit dem Teil, den ich daran verstanden habe oder zumindest meine verstanden zu haben, zurückgebe. Genau das ist mit aktivem Zuhören und empathischen Verstehen gemeint. Fallbeispiel 4: Abgegrenzte und autarke Trauer einer sehr selbstbewusst auftretenden Trauercafébesucherin Zum Trauercafé kommt für einen sehr begrenzten Zeitraum (weniger als drei Monate/ca. fünf bis sechs Besuche) eine Frau, Mitte 60, die nur sehr begrenzt in den Kontakt zu den ehrenamtlichen Mitarbeitern und auch zu den anderen Besuchern geht, zugleich aber immer wieder betont, wie wichtig ihr dieser Ort des Trauercafés ist, dieser offene Raum, den sie sehr bewusst und gezielt ansteuert. Sie kommt aus einem Nachbarkreis und nimmt für den Besuch im Trauercafé eine Fahrstrecke von gut 30 Kilometern auf sich. Sehr bald berichtet sie, dass diese Distanz zu ihrem Wohnort für sie ganz wichtig ist und dass sie eine gewisse Anonymität für sich als Schutz braucht. In den (nicht unangenehm) abgegrenzten Gesprächen schildert sie nach einiger Zeit, dass sie über mehrere Jahre ihren pflegebedürftigen Mann in der eigenen Wohnung versorgt hat. Ihr Mann sei vor wenigen Wochen verstorben. Das Trauercafé schätze sie nicht zuletzt deswegen, weil sie sich nun einfach mal an einen gedeckten Tisch setzen könne, und das in einem Rahmen, der für sie als Trauernde einladend sei. Nach ihrem letzten Besuch im Trauercafé verabschiedet sie sich mit einem klar und stimmig formulierten Dankeschön und dem Hinweis, dass die Besuche ihr gut getan hätten und sie nun nicht mehr wiederkommen werde.

Ich beschreibe abschließend dieses kleine Fallbeispiel, weil es im Kreis derer, die das Trauercafé und dessen Besucher begleiten, sehr rasch eine Irritation darüber gab, dass diese Besucherin zum einen so abgegrenzt gewirkt hat und zum anderen nach wenigen Besuchen sich wieder verabschiedet hat. Im Kreis der Trauercafébe-

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gleiter tauchten sehr schnell die Fragen auf: »Was haben wir falsch gemacht? Warum ist diese Besucherin so rasch wieder gegangen? Hätten wir intensiver auf sie eingehen müssen?« Dieses ganz anders geartete Beispiel ist mir im Zusammenhang der Erläuterung des personzentrierten Ansatzes in der Trauerbegleitung deshalb wichtig, weil es Folgendes deutlich macht: Zum einen zeigt es, wie sehr die Gefahr besteht, zu handlungsorientiert und damit auch zu aktiv in Begleitungssituationen zu sein. Auch das wäre eindeutig nicht personzentriert. Zum anderen illustriert das Beispiel, dass die gut und authentisch »abgegrenzte« Trauercafébesucherin selbst sehr genau wusste, was gut für sie ist, und sich in einem gut dosierten Maß Hilfe und Begleitung organisiert hat. Personzentriertes Handeln in einer solchen Situation bedeutet, auch das zu spüren und zu verstehen und es zu lassen. Auf die genannten Fragen der Trauerbegleiter im Trauercafé hat die Besucherin eindeutige Antworten gegeben: •• Sie hat das Trauercafé sehr bewusst aufgesucht und die Besuche dort genießen können. •• Sie hat nach mehreren Jahren, in denen sie ihren Mann versorgt hat, sich nun selbst ein paar Mal in einem Rahmen versorgen lassen, der für Trauernde Menschen da ist. •• Und sie hat ganz deutlich gemacht, wie gut es ihr getan hat, dass sie nun bedient und versorgt wurde. Diese Besucherin hätte gewiss auch ein Café in der Stadt besuchen können, das aber hätte für sie vermutlich eine ganz andere Qualität gehabt. Sie hat das Trauercafé gewählt und den Rahmen, den Raum und die Zeit, so begrenzt sie auch gewählt war, für sich genutzt. Und genau das ist ebenso zu akzeptieren und zu wertschätzen wie die Bedürftigkeit anderer Trauercafébesucher, die sich in aller Regel ganz anders darstellt. Das Spektrum der Bedürftigkeit trauernder Menschen ist sehr groß, ebenso wie die Individualität von Trauererleben und Trauerreaktionen sehr vielfältig ist. Es geht darum, sich in jeder Begegnung neu einzulassen und in der Begleiterrolle das richtige Maß

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zu finden und sich neben dem Einlassen immer auch zurückzunehmen. Ich habe es hier als abschließendes Beispiel auch deshalb angeführt, weil die Gefahr der Überversorgung in der Trauerbegleitung aus falsch verstandenem Mitgefühl ebenso groß sein kann wie ein Nicht-Wahrnehmen von Signalen trauernder Menschen. Personzentriert zu begleiten heißt, sich auf das Maß der individuellen Bedürftigkeit einzulassen und weder zu viel noch zu wenig an Begleitung anzubieten. Das ist in beide Richtungen oftmals eine große Herausforderung.

III  Was macht eine personzentrierte Trauerbegleitung aus? Konkrete Hinweise für Begleitende

Im dritten Teil des Buches komme ich nun zu konkreten Handlungsempfehlungen für die Praxis. Diese nehmen immer wieder auch Bezug zur Theorie und zu den Fallbeispielen und bauen darauf auf. Ganz im Sinne einer personzentrierten Haltung wollen diese Empfehlungen nicht direktiv sein, sondern vor allem etwas als Angebot für die eigene Tätigkeit in der Trauerbegleitung zur Verfügung stellen. Es geht mir um Angebote, die im besten Fall situativ und individuell hilfreich sind. Auch geht es darum, einen kleinen Katalog anzubieten, der ein Hilfsmittel sein soll, und eine Erinnerung, die im Fall von komplexen und schwierigen Begleitungssituationen schnell zu Rate gezogen werden kann. Nicht als Bedienungsanleitung oder »Rezeptsammlung«, sondern eher als Spiegel, als Reflexionsinstrument, um sich, auch während eines laufenden Begleitungsprozesses, zu erinnern, worum es bei einer Trauerbegleitung in personzentrierter Haltung eigentlich geht. Dabei kann und darf ein solch kleiner Katalog selbstverständlich die fachliche Begleitung durch Supervision und kollegiale Beratung nicht ersetzen. Die nachfolgenden Empfehlungen wollen hilfreiche situative Impulse setzen, die im Einzelfall möglicherweise ein erster Schlüssel sein können, um das eigene Handeln als Trauerbegleiter, insbesondere in Situationen, die unverständlich oder kompliziert erscheinen, besser reflektieren und verstehen zu können. Was dieser dritte Teil nicht sein kann und will, ist eine klassische Sammlung oder ein Katalog von Techniken und Methoden.

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Was macht eine personzentrierte Trauerbegleitung aus?

Jemand, der diesen Abschnitt ausschließlich in der Erwartung liest, damit seinen eigenen Methodenkoffer zu füllen, wird daher möglicherweise enttäuscht werden. Deutlich im Sinne einer personzentrierten Sichtweise werde ich nachfolgend auf Begrifflichkeiten eingehen, die zwar nicht originär der Terminologie Rogers’ entstammen, die aber gut dazu beitragen können, immer wieder in eine selbstreflektierende Haltung zu gelangen. Dabei werde ich möglicherweise auch überraschende und sperrige sowie heute weniger gebräuchliche Begriffe benutzen. Ich beginne mit drei zentralen Verhaltensweisen eines personzentrierten Beraters, die ich in sehr gebräuchlichen Worten zum Ausdruck bringen möchte, so gebräuchlich und »banal«, dass sie vor allem aufgrund ihrer Schlichtheit und Direktheit wirken.

Personzentrierte Trauerbegleitung benötigt »eigentlich« überhaupt nicht viel! Als erste Empfehlung und als Handreichung für Begleitende möchte ich eine Beschreibung von personzentrierter Haltung anbieten, die zunächst einmal sehr vereinfacht und sehr reduziert und auch ein Stück überzeichnend-karikierend ist. Ich tue das deshalb, weil ich der Überzeugung bin, dass eine so reduzierte Darstellung sich besser verankert und gerade in schwierigen Situationen, also in solchen, in denen Verunsicherungen in der Begleiterrolle entstehen und in denen sich Fallen auftun, schneller zur Verfügung steht. Seit meiner eigenen Ausbildung in personzentrierter Gesprächsführung begleitet mich eine sehr verdichtete und karikierende Beschreibung der Grundhaltungen, die folgendermaßen lautet: Ein Berater in personzentrierter Haltung muss sich immer bewusst sein, dass er in einer Begleitungssituation wesentlich und qua Rolle: •• »dumm«, •• »faul« und •• »neugierig« ist.

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Diese zunächst einmal alles andere als charmanten Begriffe sind erklärungsbedürftig. Was ist damit gemeint? Das Bewusstsein von Unwissenheit als Qualität und Ressource in der Begleitung. Oder: Der personzentrierte Trauerbegleiter ist erst einmal »dumm«

Die Zuschreibung, »dumm« sein zu müssen, steht dafür, dass ich als Trauerbegleiter zunächst einmal nichts weiter weiß, als dass vor mir ein Mensch sitzt, der einen für ihn schwerwiegenden Verlust erlitten hat und der – wie auch immer – trauert. Mehr weiß ich zunächst einmal nicht. Aber dieses Nicht-Wissen muss mir unbedingt bewusst sein. Ich bin kein Experte, sondern ich muss alles daran setzen, aus dieser meiner Situation der Unwissenheit, also überzeichnet formuliert: der »Dummheit«, in eine Situation des tiefen Verstehens zu gelangen. Und diese Situation des tiefen Verstehens, selbst wenn ich sie erlange, macht mich immer noch nicht zum schlauen Experten. Der Experte seiner selbst ist und bleibt der trauernde Mensch, den ich begleite. Insofern bin und bleibe ich als Begleiter wesensmäßig »dumm« und unwissend. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich all mein eigenes Wissen als Trauernder (der ich ja selbst auch schon war und bin), meine Lebenserfahrung und das, was ich in Vorbereitung dieser Begleitungstätigkeit mir an Wissen angeeignet habe, nicht trotzdem zur Verfügung habe. Es ist sogar gut und notwendig, all das zur Verfügung zu haben. Entscheidend ist aber, dass ich mit diesem Wissen nicht wie ein allwissender Experte umgehe, sondern es vor allem als Hintergrundwissen und eigene Ressource nutze und mich nicht verführen lasse (auch nicht von einem trauernden Menschen, den ich begleite), diesem anderen Menschen »die Welt zu erklären«. Ich kenne die innere Welt meines Gegenübers nicht! Ich kann, soll und muss sogar versuchen, mich in diese Welt einzufühlen, doch ich werde letztlich diese individuelle Welt nie wirklich und vollständig so erfassen, wie es der Trauernde selbst tut. Meine Konzentration auf einen Trauernden und mein durch und durch ernsthafter Versuch, ihm als Partner auf Augenhöhe zu begegnen und nicht als Wissender,

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Was macht eine personzentrierte Trauerbegleitung aus?

Experte oder Guru aufzutreten, ist unabdingbare Voraussetzung für, wie Ruth Cohn es beschreibt, »emotional korrigierende Erfahrungen« (Cohn 1987, S. 279). Wirksam ist hier nicht all mein reflektiertes Erfahrungswissen und auch nicht das, was ich mir theoretisch angeeignet habe, sondern wesentlich die »emotionale Kraft« des Kontakts. Nach Cohn entsteht diese letztlich wirksame Kraft »aus der Echtheit der Gefühle und ihrer Kommunikation« (Cohn 1987, S. 279). Mir das auf kurzem Weg und gerade dann, wenn ich geneigt bin, aus dieser Haltung des achtungsvollen Zuhörens herauszugehen, bewusst zu machen, dazu kann der reflektierende Impuls »Als personzentrierter Begleiter bin ich letztendlich dumm« sehr hilfreich sein. Dass eine solche zurückgenommene Haltung im Grunde natürlich alles andere als »dumm« ist, sondern im Gegenteil sogar ein großes Stück Professionalität im Sinne von emotionaler Intelligenz ausmacht, muss nicht weiter erläutert werden. Zurückhaltung als Qualität und Ressource in der Begleitung Oder: Der personzentrierte Trauerbegleiter ist grundsätzlich »faul«

Mit dem zweiten, ebenfalls provozierenden Begriff der Faulheit verhält es sich ähnlich. Auch hier geht es um ein sich Zurücknehmen und darum, mit der eigenen Begleitungstätigkeit nicht die eigenen Eitelkeiten zu bedienen und sich ein Wohlgefühl zu verschaffen. Es geht genau nicht darum, etwas für jemand anderen zu tun, sondern es geht um eine sehr solidarische Form der Begleitung, die es einem trauernden Menschen ermöglicht, zu den selbst zu gehenden Schritte zu gelangen, die er ohne Begleitung noch nicht erkennen und damit auch noch nicht gehen kann. Im personzentrierten Sinn »faul« zu sein bedeutet, als Begleiter sehr klar vor Augen zu haben, dass es nicht meine Aufgabe ist, etwas für einen anderen zu erledigen oder gar lösen zu wollen. Monika Müller hat dies über die Etymologie des Wortes »lösen« sehr anschaulich gemacht. Der Begriff hat folgende Herkunft: Das Verb »lösen« hat eine indogermanische Wurzel und einen Bezug zum althochdeutschen Wort »Lohe« (Rinde). Die Lohe ist die von einem Baum zum Gerben verwendbare Rinde, die, damit sie zu

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diesem Zweck verwendet werden kann, vom Baum abgerissen werden musste. Aus diesem Begriff »Lohe« entstand das Verb »losen« und nachfolgend unser Verb »lösen«. Das Wort »lösen« hat also im Grunde einen enteignenden Charakter (Müller 2004). Für einen Menschen ein Problem lösen zu wollen (vollkommen gleich aus welcher Motivation), heißt, ihn von seiner ureigenen Aufgabe und damit auch von seiner individuellen Biografie abzutrennen (Müller 2004, S. 46). Müller fragt an dieser Stelle ganz pointiert und kritisch an: »Wer glauben wir zu sein, dass wir, und sei es auch nur stellvertretend für den daran Leidenden, seine Probleme lösen dürfen und gar können?« (Müller, S. 46). Der Hinweis auf die etymologische Herkunft des Wortes »lösen« macht deutlich, welch tiefen Sinn der Blick auf die gebotene und notwendige »Faulheit« des personzentrierten Trauerbegleiters hat. Es geht auch hier um professionelle Zurückhaltung und letztendlich auch um ein taktvolles Umgehen mit einem für sich und seinen eigenen Weg selbstverantwortlichen Menschen. Ich brauche diesen Takt im Umgang, ich brauche Kontakt und nicht zuletzt auch Distanz. Diese Begriffe widersprechen sich nur scheinbar und nur auf den allerersten Blick. Durchdringt man sie und betrachtet man sie vor dem Hintergrund des personzentrierten Ansatzes, dann werden sie als sich wechselseitig ergänzende Einheit sichtbar. Zugewandtes Interesse als Qualität und Ressource in der Begleitung. Oder: Der personzentrierte Trauerbegleiter ist wesensmäßig »neugierig«

Der dritte plakative Begriff ist der der »Neugierde«. Auch dieses Wort hat einen oftmals negativen Beigeschmack. Dennoch muss ich als personzentrierter Trauerbegleiter im besten Fall genau das sein: neugierig. Was damit natürlich nicht gemeint ist und auch nicht gemeint sein darf, ist eine voyeuristische Haltung. Voyeurismus ist passiv und hat etwas mit Zurückgezogenheit und auch Heimlichkeit zu tun. Neugier in diesem Zusammenhang ist hingegen aktiv, offen und zugewandt, sie will etwas erreichen. Ich nutze dafür gern den weniger negativ besetzten Begriff des echten Interesses. Ent-

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Was macht eine personzentrierte Trauerbegleitung aus?

scheidend ist, dass ich mit einem sehr offenen und klaren und auch aktiven Interesse in eine konkrete Trauerbegleitung gehe. Auch beim Begriff »Interesse« kann uns dessen etymologische Herkunft weiterhelfen. Das Wort hat einen lateinischen Ursprung und setzt sich aus den beiden Wortteilen »inter« und »esse« zusammen. »inter« bedeutet wörtlich »dazwischen« und »esse« bedeutet »sein«. Es geht also um ein gewolltes und intensives dazwischen sein. Gemeint ist damit der Versuch, sich zu verweben mit der aktuellen Situation eines Trauernden, um ihn so intensiv wie möglich zu verstehen in seinem eigenen Verwobensein, in seinen Verstrickungen und in seinem individuellen Leid. Wenn ich zugewandt und echt interessiert einem Menschen begegne, werde ich relativ leicht in eine Haltung der Wertschätzung und des Verstehens gelangen. So verstanden verliert der Begriff »Neugier« seinen negativen Beigeschmack und kann, wie auch die beiden anderen Begriffe, zu einem Markierungspunkt werden, der dazu beitragen kann, entweder gut in der personzentrierten Haltung zu bleiben oder rasch wieder in diese Haltung zurückzukommen, falls ich sie im Kontakt verloren haben sollte. Wir dürfen also in der Begleitung Trauernder »dumm«, »faul« und auch »neugierig« sein und müssen es in der zuvor beschriebenen Weise sogar sein. Die Erinnerung daran schützt nicht zuletzt vor Selbstüberschätzung in der Rolle und macht wieder den eigentlichen Auftrag klar: Es geht um ein sehr waches Dasein und um spürbare Präsenz.

Das scheinbare Paradox der ziellosen Absichtslosigkeit in der personzentrierten Trauerbegleitung »Sie verändert mich, ohne mich verändern zu wollen.« (Robbie Williams über seine Ehefrau)

Die Begleitung trauernder Menschen geschieht vielfach im Rahmen eines sehr ambitionierten Engagements, mitunter auch aus

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der persönlichen Erfahrung heraus, dass man selbst in der eigenen biografischen Vorgeschichte als betroffener Trauernder gern zugewandter gesehen und gehört worden wäre. Eine solche Motivation für eine eigene Tätigkeit in der Trauerbegleitung ist durchaus verständlich und akzeptabel, sie sollte aber bewusst und gut reflektiert sein. Den Begriff der Absichtslosigkeit erwähne ich an dieser Stelle deswegen, weil er nach meiner Erfahrung zunächst sehr häufig auf Unverständnis und Widerspruch stößt. »Ich engagiere mich doch, um trauernden Menschen etwas Gutes zu tun! Und ich weiß doch aus eigener Erfahrung nur zu gut, wie es Menschen in einer solchen Situation geht und was sie brauchen!« Ein solcher Beweggrund als Ausgangsposition, um sich in der Trauerbegleitung zu engagieren, ist nicht an sich schlecht. Er bedarf jedoch einer Klärung und Läuterung im Sinne einer Bewusstwerdung. Trauerbegleiter müssen darum wissen, dass sie diese Aufgabe übernommen haben vielfach aufgrund eigener lebensgeschichtlicher Erfahrungen. Nur mit diesem Wissen ist ausgeschlossen, dass sich die angebotene Trauerbegleitung frei von eigenen Bewertungen und Absichten vollziehen kann. In der Trauerbegleitung aber darf ich weder meine eigenen Erfahrungen als Bewertungsmaßstab für den Trauerweg eines anderen nutzen, noch darf ich das Ziel haben, durch eine Trauerbegleitung zu versuchen, meine eigenen Verwundungen zu heilen. Diese Selbsterkenntnis muss zwingend im Vorfeld stattgefunden haben, um nicht ungut in den Begleitungsprozess hineinzuwirken. Die grundsätzlich vorhandene Empfindsamkeit, die sich aus einer eigenen Verlusterfahrung positiv entwickelt hat und auch aus den Erfahrungen, die man möglicherweise selbst als betroffener Trauernder gemacht hat bzw. hat machen müssen, kann sicher gut zu einer einfühlsamen Haltung in der Trauerbegleitung beitragen. Bedingung oder Voraussetzung für ein Tätigwerden als Trauerbegleiter ist sie allerdings nicht. Sofern ich als Trauerbegleiter meine Helfermotivation gut und intensiv reflektiert habe, stehe ich nicht oder doch zumindest deut-

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Was macht eine personzentrierte Trauerbegleitung aus?

lich weniger in der Gefahr, mit meinem Begleitungsangebot eine Absicht zu verbinden, die mehr mit mir zu tun hat als mit dem zu begleitenden trauernden Menschen. Eigene Trauererfahrungen können dann zu einer Kompetenz der Betroffenheit werden. Ausgehend davon, dass sich in Hospizinitiativen überwiegend Menschen mit einer hohen Helferidentität zusammenfinden, ist es zunächst einmal sehr verständlich, dass diese Menschen sich sehr schnell angesprochen fühlen durch wahrgenommenes Leid. Die Wahrnehmung des Leids führt zu einem Helferimpuls und zu dem Wunsch, etwas für den als leidend Wahrgenommenen zu tun. Das ist ohne Frage zunächst einmal gut so. Wie aber passt der Begriff der Absichtslosigkeit zu diesem Impuls? Verstehen lässt er sich wohl nur im Zusammenspiel mit den Begriffen Solidarität und Berührbarkeit. In der Trauerbegleitung ist es in sehr vielen Situationen so, dass weniger mehr ist. Eine immer wieder neue Rückbesinnung darauf, dass wir trauernden Menschen in aller Regel besser helfen, wenn wir insgesamt weniger täten und mehr einfach nur solidarisch und berührbar da wären, gehört zur Rolle und bleibenden Aufgabe von Trauerbegleitern. Die zentrale Botschaft lautet also: Vom Tun zum Sein kommen, und das heißt: •• absichtslose Aufmerksamkeit, •• achtsame Offenheit und •• ziellose Achtsamkeit zu schenken. Es geht dabei um reine Präsenz und meine These dazu ist, dass wir die notwendige Einfühlung und auch die notwendige Intuition im Kontakt zu trauernden Menschen nur dann zur Verfügung haben, wenn wir als Begleiter in der Lage sind, in dieser puren Form mit jemandem und für jemanden da zu sein. Zugleich hat diese Form der recht verstandenen Absichtslosigkeit auch für Begleitende etwas sehr Entlastendes. In der Begleitung geht es nämlich nicht darum, zu analysieren oder um die Lösung zu wissen oder ihr hinterherzujagen, sondern im Wesentlichen geht es um drei andere Dinge:

Das scheinbare Paradox der ziellosen Absichtslosigkeit  

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•• Hin-Hören, •• Hin-Schauen, •• Hin-Spüren. Nur mit Hilfe dieser drei (durchaus sehr aktiven) Haltungen gelingt die Absichtslosigkeit und Bewertungsfreiheit, die den Kontakt zu Trauernden grundsätzlich ausmachen sollte. Dabei behält der Begriff der Absichtslosigkeit etwas sehr Paradoxes und damit auch Anspruchsvolles, denn letztendlich geht es ja um die Absicht, Absichtslosigkeit geschehen zu lassen. Monika Müller benutzt an dieser Stelle den kaum mehr gebräuchlichen Begriff der Ehrfurcht. Als absichtsloser Begleiter wird es mir leichter gelingen, ehrfürchtig zu sein und diese Haltung auch wirklich spürbar werden zu lassen. Denn erst durch eine solche Haltung gelingt es, dass Trauernde – auch als solche, die um Begleitung nachsuchen und sich damit selbst als hilfsbedürftig, schwach und verletzt zeigen – ihre eigene Würde behalten können und auch ihre Selbstachtung. Gerade die Selbstachtung gehört aber zu den Anteilen, die im Trauerprozess oft sehr schnell verloren gehen. Umso bedeutsamer ist die gebotene Ehrfurcht und Müller betont zu Recht, dass in diesem Wort die Scheu und Zurückhaltung eines Begleiters stecken, einen Trauernden verändern zu wollen (vgl. Müller 2004, S. 40). Dem möglichen Einwand, dass es aber doch genau darum geht, einen trauernden Menschen aus seiner tiefen und schweren Situation herauszuholen, kann und darf man an dieser Stelle entgegensetzen, dass sowohl die Veränderungsschritte als auch die Bewertung der Veränderung letztlich dem Trauernden obliegen. Was die fundamentale Bedeutung dieses Blickwechsels angeht, ist in der Aussage zu erkennen, die dem britischen Musiker Robbie Williams zugeschrieben wird. Gegenüber seiner Ehefrau soll er in deutlicher Zuneigung und Wertschätzung gesagt haben: »Sie verändert mich, ohne mich verändern zu wollen.« Genau darum geht es bei der Begleitung Trauernder. Das Zitat vermag die oben genannte Paradoxie der gebotenen Absichtslosigkeit ein Stück aufzulösen. Das Anspruchsvolle, eine solche Haltung

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immer wieder neu einzunehmen und sich ihrer Bedeutung sehr bewusst zu sein, bleibt allerdings.

Was es noch braucht: Hören – Standhalten – Verlangsamen Im Zusammenhang der Ausführungen zu Hinweisen für Begleitende nenne ich an dieser Stelle diese drei Begriffe, um ganz konkret zu sensibilisieren, worum es wesentlich geht. Das in Begleitungsprozessen Gehörte beinhaltet individuelle Leiderfahrungen, die nicht selten eine große Herausforderung für Begleitende sind. Mitunter wird das vom Begleiter Gehörte auch als Zumutung empfunden. Und tatsächlich kann es eine solche Zumutung sein. Nun hat dieser Begriff in unserem Sprachgebrauch eine überwiegend negative Konnotation. Ich möchte ihn aber positiv wenden und auf den Wortteil »Mut« in diesem Begriff abheben. Wenn mir jemand etwas »zu-mutet«, dann traut er mir den Mut und die Kraft zu, damit umgehen zu können, und mehr noch: Jemand, der mir etwas »zu-mutet« drückt damit auch sein Vertrauen in mich als Begleitperson aus. Es scheint mir wichtig zu sein, diesen Aspekt zu sehen und auch in den Vordergrund zu stellen. Gelingt mir das nicht, stehe ich in tendenziell in der Gefahr, sehr leicht in eine vorwurfsvolle Haltung zu geraten und Impulse zu entwickeln, aus dem bestehenden Kontakt herauszugehen. Da mutet mir jemand so viel zu, dass ich lieber flüchte, statt – wie geboten – standzuhalten. Diese Impulse an sich dürfen sein. Es geht nicht darum, sie zu verleugnen oder abzuwehren. Vielmehr geht es darum, sie reflektiert wahrzunehmen und in das eigene Bewusstsein zu holen. Wenn das gelingt, kann ich mit ihnen umgehen und sie bewusst nutzen. Möglicherweise gelingt es im Kontakt dann sogar noch besser, in eine hochempathische Haltung zu kommen und in ihr zu bleiben (das bedeutet Standhalten), spüre ich doch, wie schmerzvoll und gewichtig das Leid des anderen ist. Nach einer Vortragsveranstaltung im Mai 2010 unter dem Titel »Wenn das Leid, das wir tragen, den Weg uns weist« (Schneider

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und Schneider 2006) mit dem damaligen Ratsvorsitzenden der EKD Nikolaus Schneider und seiner Ehefrau Anne Schneider, die sehr persönlich über ihre Trauer und ihr Erleben nach dem frühen Tod ihrer Tochter Meike berichteten, hatte ich die Gelegenheit folgende Frage zu stellen: »Welche Botschaft können Sie mir aus Ihrer Erfahrung heraus mitgeben für ehrenamtlich Mitarbeitende in der Trauer- und Sterbebegleitung?« Die Antwort gab Nikolaus Schneider und sie fiel kurz und knapp aus, nicht jedoch so, dass sie kein Gewicht gehabt hätte. Im Gegenteil! Die Antwort bestand aus zwei kurzen Aussagen im Sinne eines Appells: •• »Laufen Sie nicht weg! Halten Sie stand! •• Und bitte erklären Sie Trauernden nicht die Welt!«7 Der kurze Appell macht deutlich, wie wichtig das Hören und Standhalten in der Trauerbegleitung sind. Hinzukommen muss noch ein weiterer Punkt: die Verlangsamung. Sehr bewusst zu verlangsamen hat zwei Aspekte. Der eine Aspekt ist, gut auf die Signale zu achten, die mir ein trauernder Mensch sendet, und dann auch zu differenzieren, welche Aufträge und Botschaften in diesen Signalen stecken. So könnte es sein, dass ich als Trauerbegleiter mit geschulter und reflektierter Empathie und all meinen Helferanteilen vorschnell auf Appelle eines trauernden Menschen reagiere. Die möglicherweise sehr starke Ausprägung des Appell-Ohrs (Schulz von Thun), die Menschen in helfenden Berufen und (oftmals noch intensiver) im sozialen Ehrenamt haben, kann zu einer unguten Beschleunigung führen, die nicht im Sinne einer Begleitung in personzentrierter Haltung ist. Ein unmittelbares Eingehen auf einen solchen Appell würde wieder in ein Gefälle zwischen Trauerndem und Begleitendem führen. Situativ würde sich möglicherweise etwas schneller lösen, doch es wäre keine echte Lösung und auch keine Hilfestellung. Der andere Aspekt der Verlangsamung ist das durchgängig zu setzende Signal, dass ein Trauernder sich wiederholen darf, dass 7 Nikolaus Schneider nach einer Vortragsveranstaltung in der Katholisch-Sozialen Akademie des Bistums Münster am 25. Mai 2010.

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er sich nicht beeilen muss und dass er mit den Umwegen, den Rückschritten und den Schleifen, die er zieht und ziehen muss, so in Ordnung ist, wie er ist. Dieser Aspekt hat unmittelbar mit der gebotenen Bestätigung der Trauer zu tun und sendet das Signal an den Trauernden, dass er in seinem Leid ausgehalten wird (Müller 2014, S. 18). Zugleich kann dieser Aspekt die Funktion haben, Begleitende immer wieder neu daran zu erinnern, ihre Rolle und Aufgabe zu klären und in der zurückgenommenen Rolle zu bleiben, die in erster Linie dem Trauernden den spezifischen Raum eröffnet, den er braucht. Zur Verdeutlichung stelle ich nachfolgend drei Texte zur Verfügung, die ganz unterschiedlicher Herkunft sind und die veranschaulichen, was •• Hören, •• Standhalten und •• Verlangsamen ausmacht. Der erste Text entstammt dem Neuen Testament, genauer gesagt aus dem Lukasevangelium. Hermann Steinkamp bezeichnet diesen kurzen Text als »Prototyp, als Grundgestus seelsorglicher Interaktion« (Steinkamp 2014, S. 74). Die Situation im 18. Kapitel des Lukasevangeliums ist folgende: Jesus nähert sich der Stadt Jericho, am Wegesrand sitzt ein blinder Bettler, der sich erkundigt, warum eine so große Volksmenge vorbeizieht. Nachdem er die Antwort erhält, dass Jesus von Nazareth vorbeigeht, beginnt er mehrfach laut zu rufen und erbittet das Erbarmen des Propheten. Daraufhin bleibt Jesus stehen und befiehlt, dass man den Blinden zu ihm führen solle. Und dann folgt die zentrale Frage an den Bettler, die Steinkamp als »Grundgestus seelsorglicher Interaktion« bezeichnet. »Was willst du, das ich dir tun soll?«

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Jesus agiert nicht unmittelbar und schon gar nicht machtvoll, sondern er stellt lediglich eine schlichte, aber gehaltvolle Frage. Und indem er fragt, bringt er seine innere Bereitschaft zum Hören und darüber hinaus zum sich Anrührenlassen zum Ausdruck. Er setzt sich dem Leid des Blinden aus, hält stand und verlangsamt die gesamte Szenerie. Und er verlangsamt auch die innere Dynamik des Blinden selbst, der nicht von ihm unmittelbar »bedient« wird, sondern zunächst gefordert ist, zu formulieren, was er ganz persönlich braucht und wonach er sich zutiefst sehnt. Die Antwort des Blinden ist bekannt: »Ich möchte sehen!« Und sicher ist es nicht überinterpretiert, wenn man hinter diesem Sprachbild mehr erkennt als nur die Wiedererlangung der Sehfähigkeit seiner Augen. Hier geht es um ein viel tiefergehendes Sehendwerden. Die Interaktion des Menschen Jesus von Nazareth mit dem Blinden kann auch für Trauerbegleitende einiges verdeutlichen. Sie lässt dem Blinden seine Würde, sieht sehr klar seine zahlreichen lebendigen und gesunden Anteile, entlässt ihn nicht aus der Selbstverantwortung, macht ihn nicht zum Objekt eines machtvoll gewirkten »Wunders«, sondern nimmt ihn als Subjekt (Steinkamp 2014) ernst. Der Verfasser dieses Textes, der Evangelist Lukas, das ist historisch belegt, war Arzt, also ein Mann, der sich offensichtlich darauf verstand zu heilen und offensichtlich einer, der den wesentlichen Wirkmechanismus einer zutiefst heilmachenden Behandlung kannte. Wir sprechen hier also von einem Wissen, das mindestens schon annähernd 2000 Jahre alt ist, und nicht von einer Erkenntnis der modernen Gesellschaft und schon gar nicht der modernen Medizin, im Gegenteil. Offensichtlich ist es aber notwendig, sich immer wieder neu genau daran zu erinnern. Dass eine solche Erinnerung notwendig ist, bringt auch Klaus Dörner mit seiner Faustregel zum Ausdruck: »Als Arzt ist es nicht meine Aufgabe, den Anderen besser zu verstehen; vielmehr ist es meine Aufgabe, meine Beziehung vom Anderen her so zu gestalten, dass er sich besser versteht« (Dörner 2003, S. 85). Auch diese Aussage verdeutlicht, wie wichtig die Sichtweise eines Hilfesuchenden, hier also eines trauernden Menschen, als Subjekt ist. Ein Trauernder braucht keine

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Erklärungen, sondern eine solidarische Begleitung auf dem Weg zum eigenen Verständnis seiner selbst. Und der heilsame Weg durch die Trauer kann nur dann wirklich gelingen, wenn ein Trauernder aktiv mitwirkt. Für Trauerbegleitende bedeutet das dann in der unmittelbaren Konsequenz, dass sie ihn in einer Haltung begleiten müssen, die ihn auch mitwirken lässt. In der Heilungsgeschichte im Lukasevangelium antwortet der Blinde mit einem fast eruptiven Hilfeschrei: »Herr, ich möchte sehen können!« Jesus entgegnet sehr direkt und unmittelbar bezogen auf den Blinden und im Grunde genommen in konsequent personzentrierter Haltung mit den bekannten Worten: »Dein Glaube hat dir geholfen.« Steinkamp (2014) weist zu Recht darauf hin, dass diese zugewandte Aussage auch bedeutet, dass der Blinde das Wichtigste zu seiner Haltung schon selbst beigetragen hat. Und er geht noch einen Schritt weiter, der mir gerade mit Blick auf Trauernde zentral zu sein scheint. Er weist darauf hin, dass in dieser beispielgebenden Heilungsgeschichte der Blinde als Ausgegrenzter wieder in die Gemeinschaft aufgenommen wird und nicht weiter abseits am Wegesrand sitzen muss. Zugleich betont Steinkamp die Zugehörigkeit als ganz bedeutsamen Aspekt von Heilung. Gilt das nicht auch gerade im Blick auf trauernde Menschen, die durch den zwangsweise erfahrenen Rollen- und manchmal auch Statuswechsel genau das ebenso erfahren, nämlich nicht weiter zugehörig und mitunter ausgegrenzt zu sein? Zur Haltung des aktiven Zuhörens, des Standhaltens und auch des Verlangsamens füge ich an dieser Stelle noch zwei weitere Texte an, die im Nachgang des bis hierhin diskutierten für sich und aus sich selbst heraus sprechen und nicht weiter interpretiert werden sollen. Sie können dazu beitragen, eine personzentrierte Haltung in ihrem Kern und Wesen noch klarer zu machen. Der erste dieser beiden Texte stammt von einem unbekannten Verfasser. Der zweite Text ist dem bekannten Kinderbuch »Momo« von Michael Ende entnommen.

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Zuhören »Wenn ich dich bitte, mir zuzuhören, und du beginnst, mir Ratschläge zu geben, dann hast du nicht getan, worum ich dich gebeten habe. Wenn ich dich bitte, mir zuzuhören, und du fängst an, mir zu sagen, dass ich nicht so und so fühlen sollte, dann trampelst du auf meinen Gefühlen herum. Wenn ich dich bitte, mir zuzuhören, und du glaubst, du müsstest nun etwas unternehmen, um mein Problem zu lösen, dann machst du mich klein und schwach, so seltsam das auch klingt. Hör mir zu! Alles, worum ich dich bitte, ist, dass du mir zuhörst. Nichts sagst oder tust, nur zuhörst! Guter Rat ist billig. Für nur eine Mark Porto Kann man ihn von jedem Briefkasten-Onkel aus den Zeitschriften beziehen. Ich kann alles für mich selber tun. Ich bin nicht hilflos oder unfähig, bloß weil ich krank bin oder Angst habe [und schon gar nicht, weil ich trauere – Hinzufügung d. Verf.]. Vielleicht mutlos oder zaudernd, aber nicht hilflos.

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Wenn du etwas tust, was ich selber kann oder selbst für mich tun müsste, dann trägst du zu meiner Unzulänglichkeit bei und vergrößerst meine Furcht. Aber wenn du als simple Tatsache akzeptierst, dass ich fühle, was ich fühle, egal wie vernunftwidrig das auch sein mag, dann kann ich aufhören, dich von der Richtigkeit meiner Gefühle überzeugen zu wollen und kann stattdessen [selbst – Hinzufügung d. Verf.] versuchen, herauszufinden, was sich hinter meinen Gefühlen verbirgt. Und wenn das klar ist, sind meine Antworten auf meine Fragen offensichtlich und deutlich. Dann braucht es keinen Rat! Bitte, höre mich und hör mir zu! Und wenn du dann erzählen willst, warte eine Minute. Dann bist du an der Reihe Und ich werde dir zuhören.« ( Verfasser unbekannt; zit. nach Müller und Heinemann 2013)

Während der Text des unbekannten Verfassers in unterschiedlichen Varianten zum Ausdruck bringt, wie wichtig ist es ist, sich immer wieder neu zurückzunehmen, nicht als Experte aufzutreten, die immer noch vorhandene Kraft des anderen zu achten, nicht überaktiv zu werden und auf gar keinen Fall Ratschläge zu geben (»Rat-Schläge sind auch Schläge«), betont der Ausschnitt aus dem bekannten Kinderbuch von Michael Ende vor allem die innere Haltung der Aufmerksamkeit und Anteilnahme, die »aktives Zuhören«

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und hohe emotionale Präsenz ausmacht. Beide Texte gehören zum Rüstzeug eines personzentrierten Trauerbegleiters. »Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: Zuhören. Das ist doch nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher (Leser) sagen, zuhören kann doch jeder. Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig. Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten. Sie konnte so zuhören, dass ratlose und unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Und dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn genauso, wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören!« (Ende 1973, S. 14).

Was Trauerbegleitende in der Begleitung auf jeden Fall unterlassen sollten – Ein Fehlerkatalog In diesem dritten und praxisorientierten Teil habe ich bislang versucht zu vermitteln, was Begleitende in personzentrierter Haltung

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vor allem mitbringen müssen. Dieser ohne Zweifel anspruchsvollen Haltung und Qualität des zugewandten Zuhörens stelle ich nun eine Aufstellung von möglichen Fehlern in der Gesprächsführung gegenüber. Ich lehne mich dabei an Wilfried Weber (1996, S. 37 ff.) an und stelle nachfolgend inadäquate Verhaltensweisen in Begleitungskontakten vor, die insgesamt alles andere als selten vorkommen, die in dieser katalogartigen Vorstellung allerdings überspitzt erscheinen mögen. Auch dieser Effekt ist gewollt. In der Karikierung und Überspitzung wird die Gefahr bzw. das Unangemessene der einzelnen Verhaltensweisen deutlicher. Zugleich kann der Katalog in dieser Form auch dazu beitragen, individuelle Verhaltensweisen, zu denen man – warum auch immer – eher neigt, an sich selbst festzustellen. Eine solche wiederum selbstreflektierende Wahrnehmung kann dazu verhelfen, diese Verhaltensweisen einzustellen oder doch zumindest einzuschränken. Im Sinne einer von Rogers immer wieder geforderten Wertschätzung (auch sich selbst gegenüber!) sei an dieser Stelle auch darauf hingewiesen, dass es nicht darum geht, dass solche Verhaltensweisen überhaupt nicht vorkommen dürfen und man nur dann ein guter Trauerbegleiter ist, wenn man solche inadäquaten Tendenzen im Gesprächskontakt komplett ausschließen kann. Abhängig von der eigenen Befindlichkeit und Gesamtverfassung wird es immer auch Begleitungskontakte und Situationen geben, in denen mir als Trauerbegleiter der eine oder andere Verhaltensfehler unterläuft und ich eben nicht der zu hundert Prozent perfekte Begleiter bin, der ich im Grunde sein will. Insbesondere in Phasen hoher (auch eigener) emotionaler Belastung oder mit Infragestellung des eigenen Selbstwertgefühls (aus welchem Grund auch immer) werden solche unguten Verhaltensweisen eher auftauchen. Entscheidend ist dann Folgendes: Entweder komme ich als Trauerbegleiter zu dem Schluss, dass ich aktuell mit Begleitungen zurückhaltender umgehen sollte in Achtung vor mir selbst und den zu Begleitenden. Oder ich nutze in eigener, gut selbstreflektierter Wahrnehmung der Situation die Angebote kollegialer Beratung oder fachlicher Begleitung durch Supervision, um

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gut erkennen und verstehen zu können, was in einem konkreten Begleitungskontakt mich dazu bringt, in die eine oder andere ungute und nicht angebrachte Verhaltensweise zu rutschen. Ein solches Abrutschen in bestimmte Verhaltensweisen wird immer auch einen deutlichen Bezug zur ganz konkreten Konstellation (Begleiter–Trauernder) in der Beratung haben. Es ist dann äußerst wichtig, als Begleiter authentisch und kongruent zu sein und die möglichen Affekte nicht durch inadäquates Begleitungsverhalten auszudrücken. In Anlehnung an den Katalog von Weber (1996) stelle ich nachfolgend ungeeignetes und im Wesentlichen nicht hilfreiches Begleitungsverhalten anhand verschiedener Aktionsmuster vor. Der sogenannte »Lasterkatalog« (Weber 1996, S. 37 ff.) enthält folgende Begriffe: •• Dirigieren •• Debattieren •• Dogmatisieren •• Diagnostizieren •• Einseitig interpretieren •• Generalisieren •• Bagatellisieren •• Moralisieren •• Monologisieren •• Emigrieren •• Rationalisieren •• Projizieren •• Sich einseitig identifizieren •• Sich fixieren •• Abstrahieren •• Examinieren •• Externalisieren •• Umfunktionieren Möglicherweise ist es sinnvoll, diese Begriffe zunächst auf sich wirken zu lassen und offen für sich selbst zu assoziieren, was Sie

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als Leser/-in damit für sich verbinden. Sie können dies aus zwei Sichtweisen tun: •• aus der Perspektive dessen, der in Begleitung ist, •• und aus der Perspektive des Begleiters. Ein solcher Perspektivenwechsel kann außerordentlich hilfreich sein und er empfiehlt sich auch zum Beispiel im kollegialen Fallverstehen und in der begleitenden Supervision. Ich werde in diesem Zusammenhang nicht alle vorgenannten inadäquaten Verhaltensweisen eingehend besprechen und ich beschränke mich auf zehn Punkte. Den unterschiedlichen Verhaltensweisen stelle ich zunächst eine mögliche Äußerung voraus, die so oder ähnlich von einem trauernden Menschen stammen könnte: »Nachdem meine Frau verstorben ist, fühle ich mich wie amputiert. Ich bin überhaupt nicht mehr derjenige, der ich vorher war. Ich ziehe mich zurück, meide zunehmend soziale Kontakte und wenn ich ehrlich bin, gehe ich auch nicht mehr sehr verantwortlich mit mir selbst um. Früher haben wir noch regelmäßig miteinander gekocht. Und als es meiner Frau dann zunehmend schlechter ging, habe ich das für uns beide übernommen. Jetzt fehlt mir dazu der Antrieb und auch die Lust. Ich habe auch überhaupt keinen Appetit mehr.«

1. Dirigieren Trauerbegleiter: »Da gibt es nur eins: Sie müssen sich zusammenreißen und sich bewusst zwingen, wieder unter Menschen zu gehen.« Der Trauerbegleiter gibt durch diese höchst direktive Reaktion in erster Linie Ratschläge und sucht nicht gemeinsam mit dem Trauernden nach dessen Lösung, sondern gibt einen eigenen Weg vor, der nicht die Qualität und schon gar nicht die Nachhaltigkeit haben kann, die eine mit dem Trauernden gemeinschaftlich entwickelte Lösung haben würde. Da der Trauerbegleiter durch die dirigierende Aktion signalisiert, dass er es ist, der es im Grunde viel besser weiß, wird der Trauernde in eine absolut inaktive und

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ohnmächtige Position gedrängt und kann somit nicht zu seiner zu ihm wirklich passenden Lösung beitragen. Die personzentrierte Begleitungshaltung wird auch als nichtdirektive Gesprächsführung beschrieben. Durch ein dirigierendes Intervenieren wird dieser nichtdirektive Anspruch konterkariert. 2. Debattieren Trauerbegleiter: »Ja, aber das geht doch überhaupt nicht. Was glauben Sie denn, wohin das führen kann …« Bei dieser Verhaltensweise geht der Trauerbegleiter in die direkte Widerrede und beginnt quasi ein Streitgespräch, in dem er in höchst direktiver Form und in rechthaberischer Weise seinen Gesprächspartner angeht. Wie schon beim »Dirigieren« handelt es sich auch hier um eine alles andere als nichtdirektive Gesprächs- und Begleitungshaltung. 3. Dogmatisieren Trauerbegleiter: »Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Jeder hat sein Schicksal selbst in der Hand!« Ein dogmatisierender Trauerbegleiter reagiert auf das Gehörte in einer massiven Form und mit allgemeingültigen Lehrsätzen, die in einer solchen Situation kaum hinterfragbar erscheinen. Ein Trauerbegleiter, der so agiert, hat die Wissenshoheit. Jeder Dialog auf Augenhöhe, der eine personzentrierte Begleitung wesentlich ausmacht, wird unmittelbar zunichte gemacht. 4. Diagnostizieren Trauerbegleiter: »Sie haben eine Neigung zur Selbstentwertung und Depression. Das bringt Sie natürlich ganz schnell in die Isolation.« Ein trauernder Mensch, der sich in der Begleitung mit diesem Verhaltensmerkmal konfrontiert sieht, muss sich etikettiert und vorschnell kategorisiert fühlen sowie eingeordnet in ein festgelegtes Muster: So sind Sie! Gleichzeitig entsteht durch ein diagnostizierendes Verhalten unmittelbar ein Gefälle zwischen Begleiter und Trauerndem. Es entwickelt sich also eine asymmetrische

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Beziehung, die das wesentliche und zentrale Merkmal einer hilfreichen Begleitung vermissen lässt: den menschlichen, zugewandten Kontakt. Jegliche Wertschätzung geht bei diesem Begleitungsverhalten verloren und ein Trauerbegleiter verliert sein wichtigstes Werkzeug in der Begleitung: den Zugang zum trauernden Menschen, der nicht analysiert und diagnostiziert werden will, sondern vor allem gehört, wertgeschätzt und letztlich verstanden werden möchte. 5. Einseitiges Interpretieren Trauerbegleiter: »Ist es nicht so, dass Sie sich in der Rolle des Trauernden sogar gefallen und diese Opferrolle gern einnehmen?« Ähnlich wie beim Diagnostizieren besteht beim einseitigen Interpretieren die Gefahr, dass der Begleiter zum Experten wird (oder sich zu einem solchen macht) und der Trauernde nicht als Experte seiner selbst wahrgenommen wird und somit auch nicht die Chance hat, sich selbst so wahrzunehmen und darüber in die eigene Handlungsfähigkeit zurückzukommen. Jede Interpretation steht in der Gefahr, viel mehr mit demjenigen zu tun zu haben, der interpretiert, und unter Umständen nichts oder kaum etwas mit dem Menschen, der sich in seiner Trauer und seinem Schmerz ausdrückt. 6. Generalisieren Trauerbegleiter: »Man neigt ja allgemein sehr schnell in solchen Situationen zum Rückzug und in Ihrem Fall ist ja auch wirklich alles ganz schlimm.« Beim Generalisieren, also beim Verallgemeinern, bewegt sich jemand, der in dieser Art und Weise als Trauerbegleiter agiert, vom Trauernden und seiner höchst individuellen Situation weg. Nicht die persönliche und einmalige Situation des Menschen, der mir in der Begleitung gegenübersitzt, wird gesehen, sondern das Allgemeine. Die nach personzentrierter Haltung nicht hoch genug einzuschätzende Wertschätzung der individuellen Trauersituation hat keinen Raum, wenn ich als Trauerbegleiter dazu neige zu generalisieren.

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7. Bagatellisieren Trauerbegleiter: »Ihre Situation ist doch gar nicht so gravierend. Sie haben doch grundsätzlich noch Menschen, die Sie ansprechen könnten, und im Grunde sind Sie doch gut versorgt.« In dieser beispielhaften Äußerung eines Trauernden werden auf verschiedenen Ebenen emotionale Erlebnisinhalte artikuliert. Genau diese eigentlich unbedingt aufzugreifenden Gefühlsäußerungen werden beim Bagatellisieren heruntergespielt und damit entwertet. Der Trauernde wird nicht zum weiteren Ausdruck seiner Emotionen ermutigt, sondern er wird vertröstet und in seiner gerade beginnenden Selbstexploration unterbrochen. 8. Moralisieren Trauerbegleiter: »Sie sind doch kein hilfloses Kind, sondern ein erwachsener Mensch. Das haben Sie doch selbst in der Hand!« Beim Moralisieren geschieht genau das, was durch die bereits angesprochene Absichtslosigkeit als Haltung in der Begleitung vermieden werden soll. Ein tendenziell moralisierender Begleiter gibt Werturteile ab. Er tut dies zwangsläufig aus seinem individuellen Wertesystem heraus, welches ebenso zwangsläufig ein anderes und damit für den Trauernden fremdes Wertesystem sein muss. Ähnlich wie bei anderen bereits beschriebenen inadäquaten Verhaltensweisen wird auf das höchstindividuelle Problem des Trauernden nicht eingegangen. Er muss in der Konsequenz mit einem Gefühl von Unverstandensein zurückbleiben. 9. Sich identifizieren Trauerbegleiter: »Das verstehe ich absolut und ich selbst kenne dieses Gefühl nur zu gut. Über eine lange Zeit ging es mir ganz ähnlich. Wissen Sie, was ich dann gemacht habe? …« Das Identifizieren mit einem Menschen in Trauer ist in der Begleitung ein Verhalten, das Trauerbegleitenden oftmals unbemerkt und schleichend unterläuft. Die Gefahr dieses Verhaltensmerkmals liegt auf verschiedenen Ebenen. Als Begleiter muss ich damit rechnen, dass ich vom Trauernden

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möglicherweise deutlich zurückgewiesen werde mit dem Hinweis, dass ich ihn überhaupt nicht verstehen kann! •• Weil ich selbst kein akut Trauernder bin. •• Weil ich diesen »einmaligen« Menschen, der verstorben ist, in seiner Bedeutung für den zurückbleibenden Trauernden nicht kennen kann. •• Weil ich letztlich keinen Trauernden mit seiner individuellen Trauer und seinem akuten inneren Erleben wirklich absolut verstehen kann. Was geht, ist nur eine Annäherung an das Verstehen und die immer wieder signalisierte Haltung, genau das tun zu wollen. Die Aussage »Das verstehe ich nur zu gut« geht aber in eine andere Richtung und hat nichts zu tun mit der gebotenen Bereitschaft zur menschlichen Solidarität, zur Begleitung auf Augenhöhe und zur recht verstandenen »Verwicklung« mit dem vorgetragenen Leid eines Trauernden. Häufig entstammt diese Reaktion der eigenen Unsicherheit und dem Wunsch, eine schnelle und dann eben nicht tragfähige Solidarität aufzubauen, deren Brüchigkeit aber gerade von Trauernden oft sehr schnell erkannt wird. In der Trauerbegleitung muss ich mir immer wieder neu klar machen, dass ich einen Trauernden nur versuchen kann zu verstehen. Diesen Versuch muss ich allerdings immer wieder neu unternehmen und das erfordert meine ganze durchgängige Aufmerksamkeit und Achtsamkeit. Die rasch dahingestellte Formulierung »Das kenne ich auch«, womöglich in Verbindung mit dem Nachsatz »Mir ging es ganz ähnlich und wissen Sie, was ich dann gemacht habe?« birgt eine doppelte Gefahr: •• die Gefahr der Vermischung von Gefühlen zwischen Begleitendem und Trauerndem, •• die Gefahr der Überstülpung einer Lösung, die wiederum nicht die eigentliche Lösung des Trauernden sein kann und sein wird. Ursache dafür kann die eigene Ungeduld (reflektiert oder auch unreflektiert) bei mir als Begleitendem sein. Die sich einseitig identifizierende Intervention wird aber nicht dazu beitragen, dass ein

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Trauernder schneller zu einer für ihn passenden Entwicklung gelangen wird. Im Gegenteil: Es handelt sich letztendlich nur um einen Umweg, der zunächst wegführt von einer wirklich gemeinsam entwickelten Perspektive, bei deren Entwicklung der Trauernde zwar um Hilfe nachgesucht hat und sie offensichtlich auch braucht, bei der er selbst aber derjenige ist, der letztlich am besten weiß, was er benötigt und was gut für ihn ist. Dörner, der bereits zitiert wurde, geht sogar so weit, dass er an begleitende Helfer deutlich appelliert: »Nie mögen Sie dem Anderen beteuern, dass Sie ihn verstehen; denn nicht das ist Ihre Aufgabe, sondern dass der Andere sich selbst besser versteht« (Dörner 2003, S. 61).8 10. Examinieren Trauerbegleiter: »War das früher auch schon so? Was haben Sie dann gemacht? Woher kennen Sie das und wann ziehen Sie sich sonst zurück? Überlegen Sie mal ganz genau, wann das schon mal so war.« In diesem Beispiel eines examinierenden, also intensiv ausfragenden Trauerbegleiters werden die Gefahr und das Risiko dieses Verhaltens unmittelbar deutlich. Ein Trauernder, der mit einer Aneinanderreihung von Fragen belegt wird, von dem also zahlreiche Informationen abgefragt werden, kann sich rasch bedrängt und ausgefragt fühlen. Weber formuliert dazu: »Das Examinieren kann […] leicht als bohrende Neugier und als Einschränkung seiner Redefreiheit verstanden werden – er wird sich wahrscheinlich zurückziehen. Wenn der Therapeut [hier: der Trauerbegleiter, Anm. d. Verf.] viele Fragen stellt, nimmt […] die Selbstbefragung und Selbsterkundung (Selbstexploration) ab. Dafür erwartet er, dass der Therapeut [hier: der Trauerbegleiter, Anm. d. Verf.] im Anschluss an sein ausführliches Fragen auch eine ausführliche Antwort liefert – die Eigeninitiative des Klienten [des Trauernden, Anm. d. Verf.] kommt also nicht zum Zug« (1996, S. 39). 8 Dörner formuliert diesen Appell im Kontext seiner Gedanken zur gebotenen Haltung von Ärzten in der Erstbegegnung. Ich nutze seinen Gedanken hier analog auch für die gebotene Haltung von Trauerbegleitern.

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Grundsätzlich ist dazu anzumerken, dass Fragen in einer personzentrierten Trauerbegleitung zwar nicht ausgeschlossen sind und auch nicht ausgeschlossen werden können, dass der Umgang mit ihnen jedoch deutlich zurückhaltend sein sollte und dass sie tendenziell eher indirekt als direkt formuliert werden sollten. Darüber hinaus sollten gerade solche Fragen eher unterbleiben, die ausschließlich auf das Erlangen von Fakten und sachlichen Informationen abzielen. Wenn ich hingegen Gefühle meines Gesprächspartners nicht erkenne, dann ist es mehr als angebracht, mich mit indirekten und gegebenenfalls auch direkten Fragen nach seinem gefühlsmäßigen Erleben zu erkundigen. Dazu führe ich nachfolgend einige Beispiele an, deren grundsätzlich andere Qualität im Vergleich zu den examinierenden Fragen unmittelbar deutlich wird. Beispiele für direkte Fragen: •• Was geht innerlich vor in Ihnen, wenn Sie sagen, dass Sie sich wie amputiert fühlen? •• Können Sie einmal auf Ihr Inneres, auf die Stimme Ihres Gefühls hören? Beispiele für indirekte Fragen: •• Ich bin innerlich damit beschäftigt, wie Sie das gefühlsmäßig erleben. •• Ich versuche zu verstehen, welches Gefühl Sie in diesem Augenblick haben. In dieser Form formulierte Fragen (besser noch indirekt als direkt) verursachen beim Gegenüber nicht das Gefühl, ausgefragt zu werden, sondern lassen im Gegensatz dazu ein echtes Interesse an der Person und dem individuellen Erleben in der augenblicklichen Situation der Trauer deutlich werden. An dieser Stelle möchte ich einen kurzen Rückgriff machen auf die zu Beginn dieses dritten Buchteils karikierend beschriebenen Verhaltensweisen eines personzentrierten Trauerbegleiters, und

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zwar bezogen auf die plakativen Begriffe der »Neugier« und der »Faulheit«. Die gebotene »Neugier«, die ich eingangs beschrieben habe, unterscheidet sich qualitativ erheblich von der »bohrenden Neugier«, die Weber in seinen Erläuterungen zum Begriff »Examinieren« beschreibt (Weber 1996, S. 39). Die Fragen, die auf das gefühlsmäßige Erleben eines Trauernden eingehen, horchen nicht aus, sondern stellen eine empathische Nähe zu dem Menschen her, den ich in seiner Trauer begleite. In diesem Sinne darf ich, ja muss ich als Trauerbegleiter neugierig sein. Zum oben verwendeten Begriff »Faulheit« ist in diesem Zusammenhang anzumerken, dass sich das »Examinieren«, also das vermeintlich notwendige Herbeiorganisieren von Informationen durch zahlreiche Fragen, weit jenseits von der recht verstandenen Faulheit (im Sinne von Zurückgenommenheit und innerer Offenheit) vollzieht. Ein »examinierender« Trauerbegleiter ist in der Situation desjenigen, der eine Frage nach der anderen stellt, sehr aktiv, zu aktiv. Es geht darum, solche zu aktiven Situationen in Begleitungsgesprächen zu erkennen, um zurückzugelangen in eine positiv neugierige Haltung. In der reflektierenden Rückschau und auch in der Supervision von Begleitungsgesprächen stellen Trauerbegleitende mitunter fest, dass sie sich in bestimmten Kontakten unglaublich angestrengt gefühlt haben und dass eine Begegnung als sehr mühsam empfunden wurde. In der Bearbeitung solcher Begleitungsgespräche wird dann oftmals deutlich, dass sie als Begleitende selbst viel mehr agiert und formuliert haben als der Trauernde. Zu dem als anstrengend empfundenen Agieren gehört dann auffälligerweise auch das übermäßige Fragen. In nicht wenigen Fällen hat es seine Ursache darin, dass Trauerbegleiter sich verunsichert und auch hilflos fühlen. Der eigenen Verunsicherung und Hilflosigkeit begegnen sie dann durch Aktivität, um dadurch vermeintlich handlungsfähiger zu bleiben. Das Gegenteil ist aber der Fall. Da die Eigeninitiative des Trauernden durch diese Aktivität, die zudem ja auch für den Begleiter anstrengend ist, gesenkt wird, erreicht der »examinie-

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rende« Begleiter genau das Gegenteil dessen, was in einer personzentrierten Haltung anzustreben wäre. Die Lösung dieser paradoxen Situation liegt im sich Zurücknehmen, also in einer im oben genannten Sinn recht zu verstehenden Faulheit. Erinnert sei an dieser Stelle nochmals an das, was Rogers zum Terminus der Selbstexploration beschrieben hat, also der so wichtige Selbstausdruck eines Menschen in einer Krisensituation. Es geht immer wieder wesentlich darum, dass Trauernde Gelegenheiten erhalten, ihre persönliche Geschichte zu erzählen. Dabei geht es nicht um Vollständigkeit, sondern um »exemplarische Bedeutungsverdichtung« (Dörner 2003, S. 59 f.). Dörner weist aus seiner beruflichen Sicht als Arzt (also bezogen auf den Arzt-Patient-Kontakt) zu Recht darauf hin, dass ich dann, wenn ich beginne auszufragen, nicht wirklich die situative Wahrheit meines Gesprächspartners erfahre, sondern dass ich dann vielmehr meine eigenen Gedanken und Vermutungen zu bestätigen versuche. Er warnt also vor allzu zielgerichteten Fragen, die vor allem die gebotene Absichtslosigkeit vermissen lassen.9 Die beiden zuletzt genannten und auch etwas ausführlicher beschriebenen inadäquaten Verhaltensweisen in Begleitungskontakten (sich Identifizieren und Examinieren) habe ich bewusst an das Ende der Aufzählung gesetzt, da diese beiden Formen nach meiner Wahrnehmung am häufigsten vorkommen und auch erfahrenen Trauerbegleitern widerfahren können. Den Gesamtkatalog mit seinen zum Teil sehr überspitzt formulierten Verhaltensweisen halte ich für hilfreich als Mittel der Selbstreflexion und als solches ist er hier auch zu verstehen. Im besten Fall kann er dazu dienen, in ein tieferes Verständnis einer als nicht wirklich gelungenen Gesprächssituation zu gelangen und einen 9

Die Ausführungen von Dörner in seinem Kapitel »Ärztliche Haltung der Erstbegegnung« (Dörner 2003, S. 52–62) sind insgesamt auch für die Entwicklung und Reflexion einer Haltung von Trauerbegleitern sehr hilfreich.

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Schlüssel für einen neuen, anderen Zugang im nächsten Begleitungskontakt mit einem Trauernden zu finden. Darüber hinaus kann und will die Auseinandersetzung mit den möglichen Fehlhaltungen in der Gesprächsführung natürlich auch – immer wieder neu – sensibilisieren für einen zunehmend reflektierten und damit auch letztlich hilfreichen und unterstützenden Kontakt zu trauernden Menschen.

Die Verantwortung für das Gelingen einer Trauerbegleitung. Oder: Die Beachtung des Kairos als zusätzlicher Dimension und als echtes Potenzial in der Begleitung Trauernder Mit diesem Abschnitt wende ich mich nun einem ganz anderen Aspekt zu, der grundsätzlich in Begleitungssituationen eine Rolle spielen kann und dessen möglicher Wirkung sich Begleitende ebenfalls bewusst sein sollten. Es geht nachfolgend weniger um eigene Interventionen und Aktionen, die ich als Trauerbegleiter anwende, es geht auch nicht – zumindest in diesem Zusammenhang nicht vorrangig – um die bewusste Einnahme der personzentrierten Grundhaltungen, der Wertschätzung, Empathie und Echtheit dem Trauernden gegenüber, sondern es geht vielmehr um ein Bewusstsein und auch eine Anerkennung dessen, was sich dem eigenen Zugriff, der eigenen unmittelbaren Beeinflussung und der eigenen Machbarkeit schlichtweg entzieht. Als Trauerbegleiter sollte man sich eben auch darüber im Klaren sein, dass es in Begleitungsprozessen Situationen geben wird, in denen ich mit meinen Möglichkeiten, Ressourcen und Kompetenzen allein (und seien sie noch so umfangreich und professionell) vermutlich nicht hilfreich sein kann. Um das näher zu erläutern, können zwei Begriffe aus der griechischen Mythologie behilflich sein. Dort gibt es im Gegensatz zu unserem Wortschatz zwei Begriffe für das Wort »Zeit«: zum einen Chronos und im deutlichen Gegensatz dazu Kairos.

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Was macht eine personzentrierte Trauerbegleitung aus?

Das griechische Wort Chronos (Χρόνος) nimmt Bezug auf den Zeit-Gott Chronos und steht für das unaufhaltsame und unbarmherzige Fortschreiten der Zeit, auch für den zeitlichen Progress, der uns unweigerlich dem je eigenen Lebensende entgegenführt. Chronos wird in der Kunst mitunter auch als derjenige dargestellt, der als Gott der Zeit seine eigenen Kinder frisst. Ein Symbol dafür ist auch das Stundenglas mit dem fließenden Sand, der die stetig verrinnende Zeit symbolisiert. Im Übrigen ist dies auch ein Symbol, das in der christlichen darstellenden Kunst häufig dem Sensenmann als Symbol des Todes in die Hand gegeben ist. Der Begriff Kairos (Καιρός) hat eine ganz andere und durchaus gegensätzliche Bedeutung. Kairos ist der Gott des rechten oder auch

Abbildung 2: Kairos. Marble. Roman work after the original by Lysippos ca. 350–330

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des günstigen Ausgenblicks. In der Kunst wird er vielfach mit einer langen Locke an der Stirn und mit einem kahlen Hinterkopf dargestellt. Die lange Locke, also der Haarschopf, bietet die Möglichkeit, die günstige Gelegenheit zu erfassen, sie also ganz bildlich zu ergreifen. Aus dieser Darstellung leitet sich die Redewendung »die Gelegenheit beim Schopfe packen« ab. Der dazu im Gegensatz stehende kahle Hinterkopf bietet keine Gelegenheit zum Zugriff. Wenn Kairos vorübergegangen ist, ist diese gute Gelegenheit unwiederbringlich vorbei. Die Chance ist vertan. Und auch das gehört zum Wesen des Kairos: Er ist grundsätzlich flink, flüchtig und immer (»nur«) vorüber-gehend. Will ich den guten Moment nutzen, den Kairos ergreifen, muss ich schnell und entschieden sein. Ich muss den Moment erfassen, demnach auch sensibel sein und ihn nutzen, bevor es zu spät ist. Es geht beim Kairos also auch darum, zu entscheiden und situativ schnell zu handeln. Verdichtet wird dies in nachfolgendem Text deutlich: »[…] Warum fällt dir eine Haarlocke in die Stirn? Damit mich ergreifen kann, wer mir begegnet. Warum bist Du am Hinterkopf kahl? Wenn ich mit fliegendem Fuß erst einmal vorbeigeglitten bin, wird mich auch keiner von hinten erwischen so sehr er sich auch bemüht.« (Gründel 1996)

Was hat das nun zu tun mit dem Agieren und Da-Sein in der Trauerbegleitung? Da der Kairos etwas ist, was mir nur kurzfristig und situativ begegnet, was mir entgegenkommt, etwas sich Bewegendes und Vorübergehendes und auch etwas Geschenktes, steht er wesensmäßig entgegen jeglicher Planbarkeit und Machbarkeit (Grözinger 2010). Es geht also vielmehr um ein Offensein und um eine Empfindsamkeit, eine Sensibilität und Wahrnehmungsfähigkeit, und das nicht nur einem Menschen gegenüber, den ich in seiner Trauer begleite, sondern auch gegenüber der Situation und gegen-

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über dem Prozess, in den ich mit ihm eingetreten bin. Und nicht zuletzt auch dem Raum gegenüber, den ich ihm und mir selbst in der Begleitung eröffne. Ein Raum des Schutzes, ein Raum des Ausdrucks und ein gewollt weit offener Raum. Zugegeben, das ist ein sehr breiter und auch ein deutlich spiritueller Blick auf die Begleitung Trauernder. Aber gerade in der Trauerbegleitung, in Zeiten der Lebenswende und in der Konfrontation mit den »letzten Dingen«, für die Trauernde eine Antwort suchen und oftmals keine Antwort finden können, tauchen doch gerade spirituelle Fragen auf, die in diesem sehr weit verstandenen Sinn begriffen werden sollten. Trauerbegleitung als ein die Sterbebegleitung unmittelbar ergänzendes Angebot der Hospizbewegung darf nicht unberücksichtigt lassen, dass die spirituelle Begleitung zu den Säulen hospizlicher Haltung gehört. Eine innere Bereitschaft und die achtsame und aufmerksame Wachsamkeit für ein solches auch spirituelles Erfassen der konkreten Zeit einer Trauerbegleitung können die Qualität einer Begleitung nachhaltig beeinflussen. Wenn ich als Begleiter nicht nur meine Kompetenzen, mein Erfahrungswissen, meine intensiv erworbenen und immer wieder neu reflektierten Haltungen und manches mehr als bedeutsam für eine Begleitungssituation ansehe, sondern auch einen Blick darauf habe, dass die Besonderheit und die Chance einer Situation, die in einer bestimmten Konstellation auf mich zukommt, ebenso mitentscheidend sein können, dann hat das ganz wesentliche Konsequenzen auch für die Rolle als personzentrierter Trauerbegleiter. Ich komme dadurch nämlich sehr viel leichter in die Rolle desjenigen, der sich auch zurücknehmen kann. Das wachsame Bewusstsein für das Vorhandensein des Kairos und die möglichen Chancen, die in einer genutzten Begegnung mit dieser Qualität von Zeit liegen können, schützen mich auch vor der Gefahr, möglicherweise ein zu großes Maß an Verantwortung für einen Menschen in der Trauerbegleitung zu übernehmen. Und dieses Bewusstsein, das unbedingt gepflegt und wachgehalten werden muss, kann sicher dazu beitragen, die Gefahr zu verringern, meine personzentrierte Haltung zu verlieren, indem ich doch zu aktiv werde.

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Das Bewusstsein für den rechten oder besser gesagt für den glücklichen Zeitpunkt, dem die Überraschung innewohnt und der sich aller menschlichen Kontrolle entzieht, für den Zeitpunkt, in dem sich etwas verdichtet und wo plötzlich und quasi geschenkt etwas möglich wird, birgt nicht zuletzt einen wirksamen Schutzmechanismus in sich. Und das sowohl für den Begleiter wie auch für den Trauernden. Ich bin davon überzeugt, dass es in Trauerbegleitungsprozessen eines solchen Bewusstseins bedarf und zugleich einer inneren Haltung der Offenheit für solch glückliche Zeitpunkte, in denen plötzlich und auch rational unerklärlich etwas möglich ist oder wird. Ausdrücken kann sich das zum Beispiel darin, dass ein trauernder Mensch in seinen Äußerungen plötzlich ein aufschlussreiches Sprachbild nutzt oder eine Begebenheit beschreibt, deren eigene Wahrnehmung und Aufschlüsselung möglicherweise verstellt ist und somit der Interpretation bedarf, gemeinsam und ohne ein Gefälle zwischen Trauerndem und Begleiter. Es geht darum, sich (immer wieder neu) bewusst zu machen, dass in einer Trauerbegleitung, sei es im Einzelkontakt oder auch im Gruppenkontext, nicht nur die eigene Beratungskompetenz zählt, sondern eben auch immer dieses Moment. Wenn das gelingt, kann dieses Bewusstsein gerade auch im Zusammenhang von Trauerbegleitung eine höchst entlastende Funktion haben, und zwar sowohl für Begleitende, wie auch für Trauernde. Grözinger hat das in folgender Weise gut auf den Punkt gebracht: »Selbstzweifel, Selbstüberforderung und Selbst-Überschätzung fallen tendenziell in sich zusammen, wo Seelsorgende [Trauerbegleitende, Anm. d. Verf.] das Bewusstsein dafür aushalten, dass sie – wie Ratsuchende [wie Trauernde, Anm. d. Verf.] – angewiesen sind auf das, was sich ihrer Kontrolle entzieht« (Grözinger 2010, S. 363). Ich bin davon überzeugt, dass es nicht nur und auch nicht vordergründig darum geht, dieses Bewusstsein auszuhalten, sondern vielmehr darum, dieses Bewusstsein überhaupt zu schaffen. Menschen, die sich im psychosozialen Ehrenamt engagieren, bringen in aller Regel eine ausgeprägte Helferidentität mit. Ich meine das

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durchaus positiv und sehr wertschätzend. Allerdings kann eine solche Helferidentität dazu führen, die Verantwortung für das Gelingen eines Begleitungsprozesses zu intensiv an sich selbst zu binden und da gehört sie – gerade auch personzentriert betrachtet – nicht hin. Leid zu sehen, es auszuhalten, es zu bezeugen und in gelebter menschlicher Solidarität zu begleiten und genau dadurch mitzutragen wird sicher immer wieder neu auf Seiten der Begleitenden in Gefühlssituationen der Hilflosigkeit führen. Genau solche Zustände der Hilflosigkeit bedeuten für Menschen mit einer auch durchaus reflektierten Helferidentität eine große Herausforderung. Die Tendenz, genau dann in die alleinige Verantwortung für das Gelingen einer Trauerbegleitung zu gehen, ist groß. Und genau hier kann der Blick auf das Potenzial des Kairos, auf das sich Öffnen von zuvor nicht geahnten Möglichkeiten, eine höchst entlastende Funktion haben. Begleitenden nimmt ein solches Bewusstsein im besten Fall den Druck, unbedingt, sofort und in alleiniger Verantwortung hilfreich sein zu müssen. Für einen Trauernden kann die Offenheit eines Begleiters für die Wirksamkeit des Kairos den entscheidenden Vorteil haben, dass er sich nicht in einem unguten Gefälle zum Begleiter erleben muss. Ein solches Gefälle hätte nichts gemein mit Begriffen wie »Wegbegleitung« und »Begleitung auf Augenhöhe« und würde zu einer Trauerbegleitung werden, die eben in keinster Weise personzentriert wäre. Es geht im Gegensatz dazu darum, dass ein Trauernder sich mitverantwortlich für seine eigene Entwicklung aus der Trauer heraus erlebt. Oder mit anderen Worten: Die Haltung der Offenheit auch für den Kairos, den glücklichen und geschenkten Augenblick, kann entschieden dazu beitragen, dass ein Trauerbegleiter in seiner personzentrierten Haltung bleiben kann. Die innerlich zugestandene Abhängigkeit auch von solch glückenden Momenten und das auch darauf Angewiesensein können als inneres Memento dazu dienen, in dieser Haltung zu bleiben und sich nicht wichtiger zu nehmen in der Rolle als Trauerbegleiter, als man tatsächlich ist. Das Bewusstsein für den Kairos ist dabei aber nicht falsch zu verstehen als Ausflucht aus der Begleitungsverantwortung. Im Gegen-

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teil: Es bedeutet, hoch achtsam und unbedingt wertschätzend mit den Äußerungen eines trauernden Menschen umzugehen, um dadurch erst in die Lage versetzt zu sein, im passenden Moment die Gelegenheit, den Kairos, beim Schopfe zu packen. Die Nutzung der Dimension des Kairos ist aber, bei aller Entlastung, die sie tatsächlich mit sich bringen kann, für den Trauerbegleiter nicht als Freispruch misszuverstehen, sondern sie ist ein Anspruch an die Aufmerksamkeit, Wachsamkeit, Achtsamkeit und durchgängig hohe Präsenz als Begleiter im Prozess. Es geht dabei auch hier darum auszuhalten, und zwar •• die eigene Ungeduld, •• die Ungeduld eines trauernden Menschen, •• seine notwendigen (die not-wendenden) Umwege, •• seine notwendigen Rückschritte •• und mitunter auch das Warten auf den glücklichen Moment, den rechten Ausgenblick, den Kairos. Der Blick auf den Kairos hat aber noch einen weiteren Aspekt: Es geht um den Aspekt der Versöhnung mit sich selbst in der Rolle des Begleiters. Denn manchmal steht es an, mich in oder nach einem Begleitungsprozess auszusöhnen mit den Teilen einer Begleitung, die in der Rückschau nicht so gut gelaufen sind, wie ich selbst meine, dass sie hätten laufen müssen. Weil im Bewusstsein dieses Begriffs auch die Botschaft steckt, dass ich nicht alles allein schultern und verantworten kann und es auch nicht muss, kann der Kairos dazu beitragen, mich auch ein Stück mit mir selbst auszusöhnen. Ich trage nie in einer Begleitung die Alleinverantwortung für das Gelingen eines solchen Weges. Ich trage wohl Verantwortung für ein sehr entschiedenes Zur-Verfügung-Stellen meiner Präsenz. Und da, wo meine eigene Ungeduld und meine ohne Zweifel auch vorhandenen Grenzen, denen ich mir – ganz konsequent personzentriert gedacht – auch bewusst sein muss, mir selbst manchmal eine Begleitung schwer machen, und auch dort, wo ich mir im Vergleichen oder Bewerten des eigenen Tuns mir die Arbeit schwer

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mache, kann der Blick auf die Bedeutung des Kairos durchaus einen versöhnenden Aspekt haben. Das Wissen um das Vorhandensein auch dieser Dimension stellt mich mit meiner Verantwortung an den richtigen Ort. In der Begleitung sollen und müssen wir präsent sein, unbedingt auch wertschätzend, auch achtsam und berührbar und, so gut wir es können, auch authentisch, nicht aber perfekt.

Die Beachtung der eigenen Intuition in der Begleitung Trauernder. Oder: Geschulte Intuition als kreative und kraftvolle Ergänzung zu einer personzentrierten Grundhaltung »Der Zufall trifft nur auf einen vorbereiteten Geist.« (Louis Pasteur, 1822–1895)

Es gibt keine Zufälle! – Das ist eine mitunter sehr persönliche Feststellung, die Menschen vielfach dann für sich machen, wenn sie hinter einem Geschehen mehr zu sehen bereit und fähig sind als lediglich ein reines Widerfahrnis, das einen Menschen schicksalshaft erreicht hat. Auch für den geglückten Zeitpunkt, den zuvor angesprochenen guten Moment, den Kairos, gilt das. Er ist kein Zufall, der quasi vom Himmel fällt, sondern ein Ereignis mit einer tieferen Dimension. Um dieses Ereignis aber fassen zu können, muss ich wachsam sein und vorbereitet. In diesem Sinne verstehe ich das diesem Abschnitt vorangestellte Zitat. Es braucht demnach in Begleitungsprozessen von Trauernden in jedem Fall all das, was im Rahmen dieses Fachbuches bereits angesprochen worden ist. Darüber hinaus braucht es aber auch einen intuitiven Zugang zu Menschen. Der Begriff Intuition ist im Abschnitt zur Dimension des Kairos in der Trauerbegleitung bereits aufgetaucht. Es bedarf ohne Frage einer geschulten Intuition, um die Momente, die Augenbli-

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cke in einer Begleitungssituation zu erfassen, die ich mit meiner erlernten Haltung allein, also mit Wertschätzung, Empathie und Echtheit, nicht vollständig im Sinne eines zu Begleitenden nutzen kann. Was aber ist Intuition und wie kann ich sie erlernen, trainieren und einüben? Das Wort »Intuition« ist lateinischen Ursprungs und leitet sich ab vom Verb »intueri«: anschauen, betrachten, erkennen, ins Auge fassen, hinschauen, ansehen. Von den hier genannten Bedeutungen scheint mir das deutsche Verb »erkennen« am deutlichsten das zu beschreiben, worum es bei der Intuition geht. Eine plötzliche Erkenntnis im Sinne eines Impulses zu haben und diese situativ passend zu erspüren und zur Verfügung zu stellen, das macht offensichtlich intuitives Geschehen oder Agieren aus. Woher aber kommt die Fähigkeit zu einer solchen situativen Erkenntnis? In der Literatur und auch umgangssprachlich wird in diesem Zusammenhang häufig von einem Bauchgefühl gesprochen. Intuition als menschliche Qualität gerade in Begleitungszusammenhängen darauf zu reduzieren, würde aber zu kurz greifen und auch nicht der unbestrittenen Tatsache gerecht werden, dass durch Intuition gespeiste und dann spontan gesetzte Interventionen mitunter sehr entscheidend und überaus hilfreich sein können. In der kollegialen oder supervisorischen Reflexion von Begleitungsprozessen zeigt sich manchmal, dass es gerade ein intuitives Agieren war, was einen Wendepunkt in einer konkreten Begleitung ausgemacht hat. Wenn das so ist, lohnt die genauere Betrachtung dieses Phänomens. Wo zeigt sich Intuition in Begleitungsprozessen mit Trauernden? •• Sie zeigt sich zum Beispiel da, wo die Empathie als Trauerbegleiter es mir ermöglicht zu erspüren, was ein Trauernder aktuell empfindet, und zugleich eine Idee entsteht, dass da Anteile bei meinem Gegenüber sind, die (noch) nicht gesagt und vielleicht auch noch nicht einmal von ihm gespürt werden können. •• Sie zeigt sich möglicherweise auch da, wo ich mich als Trauerbegleiter für eine spontane Intervention entscheide, bei der ich mir letztlich nicht wirklich sicher bin und auch nicht sicher sein

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kann, ob sie an dieser Stelle passt, die ich aber trotzdem nutze, weil ich eine Ahnung habe, dass diese Intervention hier und jetzt angemessen ist. •• Intuition kann sich auch dadurch zeigen, dass ich mehrere Ideen und Varianten zur Intervention zur Verfügung habe, mich dann aber im Zeitpunkt der Intervention genau für die Variante entscheide, die eigentlich und vordergründig betrachtet als die ungewöhnlichste, vielleicht sogar als irrationale Lösung erscheint. Ich lasse mich also im Moment und gegen mein (»besseres«?) Wissen auf eine überraschende Variante ein. •• Und sie kann sich auch da zeigen, wo ich als achtsamer und aufmerksamer Trauerbegleiter einen gelungenen Augenblick erkenne im Sinne des beschriebenen Kairos und diesen Schlüsselmoment »beim Schopfe packe«. Es geht bei der Intuition also auch um Spontaneität und mitunter sehr rasches Entscheiden und Handeln. Wenn ich in diesem Zusammenhang dem Thema Intuition diesen Raum gebe, dann darf das nicht als Gegensatz zu einem ebenfalls wichtigen Grundkonzept in der Begleitung verstanden werden. Vielmehr geht es darum, dafür zu sensibilisieren, dass ich mich als Trauerbegleiter situativ immer wieder auch freimachen können muss von bestimmten theoretischen Vorannahmen und auch von erlernten Konzepten. Jobst Finke beschreibt den Wert und die Funktion von Intuition treffend mit den Worten: »Dabei dürfen Konzeptbezogenheit und spontane Intuition nicht als einander ausschließende Gegensätze verstanden werden, sondern als zwei […] Einstellungen, die in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen und zwischen denen der Therapeut [also in unserem Zusammenhang der Trauerbegleiter, Anm. d. Verf.] jeweils oszillieren muss« (Finke 2013, S. 214). Die Wahrnehmung und das Nutzen von Intuition in Trauerbegleitungsprozessen können also in unterschiedlicher Form eine den Prozess entscheidend beeinflussende Wirkung haben – und das sowohl auf der Ebene des Hörens und Verstehens als auch auf der Ebene meines personzentrierten Intervenierens.

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Wenn Intuition mehr sein muss als ein Bauchgefühl, dann stellt sich die Frage, woraus sie sich speist. Im Rahmen dieses Buches lässt sich diese Frage nur sehr begrenzt bearbeiten und ich beschränke mich hier auf die Nennung von vier zentralen Aspekten (Ader 2014). In den vier von Sabine Ader genannten Quellen, die sie als Fundament der Intuition beschreibt, finden sich in auffälliger Form Begrifflichkeiten wieder, die auch die personzentrierte Haltung auszeichnen und bestimmen. Gleichwohl wäre es ein Trugschluss, wollte man dem entnehmen, dass personzentrierte Begleiter automatisch ein höheres Maß an Intuition hätten. Die begriffliche Nähe ist gleichwohl auffällig und interessant. Als Fundament für Intuition benennt Ader Folgendes: •• eine differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit und hohe Aufmerksamkeit, und zwar auf vier Ebenen: eigene Person/Gruppe bzw. Einzelperson in der Begleitung/Feld/Umwelt, •• eine gut reflektierte Lebens- und Selbsterfahrung, •• eine hohe emotionale Präsenz in der konkreten Begleitungssituation (mit der Fähigkeit, zugleich bei sich und beim Gesprächspartner sein zu können, der Fähigkeit zur Empathie und Selbstwahrnehmung sowie einer Haltung der absichtslosen Aufmerksamkeit bzw. ziellosen Achtsamkeit), •• eine fachliche Kompetenz, die drei wesentliche Felder abdeckt und sich auszeichnet durch ein Agieren mit Kopf (Wissen), Herz (Haltung) und Hand (Können). Auch wenn es sich an dieser Stelle zwangsläufig um eine mehr theoretische Auseinandersetzung mit den beiden Begriffen »Kairos« und »Intuition« handelt und sich diese auch nicht wirklich vermeiden lässt, so hat die Diskussion dieser Begriffe doch auch einen unmittelbar praktischen Bezug. Die mögliche Wirksamkeit des Kairos und die unbestritten kraftvolle und kreative Funktion von Intuition werden sich nur dann einstellen und nutzbar machen lassen, wenn Trauerbegleitende sich regelhaft in Selbstreflexionsprozesse begeben und ihre Begleitungserfahrungen entweder in kollegialen Beratungen oder unter Nutzung von fachlich qualifizierter Supervision zur

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Verfügung stellen; wenn sie sich in dieser Hinsicht selbst bewusst machen und das wichtige erworbene Erfahrungswissen auch kollegial teilen. Intuition braucht Übung, sie muss trainiert werden, um zu geschulter Intuition werden zu können, die sich als solche nur entwickeln wird, wenn Begleitende über Selbstreflexivität und Introspektion (Mertens 2014) verfügen und sich dem in reflektierenden Lernprozessen auch immer wieder neu stellen (Ader 2014). Mit anderen Worten, fachlich qualifizierte Trauerbegleitung in personzentrierter Haltung wird auf Dauer nicht gelingen ohne die selbstreflektierende Rückkopplung an kollegiale Fallberatung und/ oder Supervision. Nur dann wird gelingen können, was Rogers selbst in Bezug auf Intuition für sich festgehalten hat: »Ich stelle fest, dass von allem, was ich tue, eine heilende Wirkung auszugehen scheint, wenn ich meinem inneren intuitiven Selbst am nächsten bin« (Rogers 1987, S. 80).

Supervision und Selbstsorge Thematisiert man das Thema Supervision in Zusammenhang mit einem so anspruchsvollen wie auch herausfordernden Tätigkeitsfeld wie der Trauerbegleitung, dann darf man nicht ausschließlich den Aspekt der Qualifizierung betrachten, sondern es geht immer auch um den berechtigten und notwendigen Aspekt der Selbstsorge der Begleitenden. Die Bereitschaft, sich dem Thema Trauer auszusetzen, mit in Trauerprozesse hineinzugehen und sich als berührbarer Begleiter zu zeigen, fordert von Begleitenden viel. Trauerbegleitung ist anspruchsvoll und herausfordernd. Und es ist gut, dass sie in vielen Fällen ehrenamtlich, also aus einer freiwilligen Motivation heraus und in aufrichtiger menschlicher Solidarität geschieht. Umso wichtiger ist es aber, dass Trauerbegleiter eine Anbindung haben an eine Hospizeinrichtung und an kollegiale Strukturen, um sich über interne Fallbesprechungen und auch mit Hilfe von externer Supervision immer wieder auch selbst zu hinterfragen, sich hin-

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terfragen zu lassen und sich so auch zu schützen und sich damit dann auch zu qualifizieren. Eine abgeschlossene Trauerbegleitung, die sich möglicherweise über einen Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten erstreckt hat, kann ein guter Grund sein, zunächst einmal eine Zäsur zu setzen und sich nicht bei nächster Gelegenheit in einen neuen Trauerbegleitungskontakt zu begeben. Eine solche Unterbrechung sollte in dreierlei Richtungen geschehen: •• vorrangig in Verantwortung für sich selbst!, •• aber auch in Verantwortung für den Trauernden, dessen Begleitung gerade abgeschlossen worden ist; •• und natürlich auch in Verantwortung für denjenigen, zu dem ich in einer nachfolgenden Begleitung in Kontakt gehe. Hier zeigt sich ein bedeutender Vorteil ehrenamtlicher, also freiwilliger Trauerbegleitung. Als Ehrenamtlicher kann ich selbst das Maß meiner freiwilligen Arbeit bestimmen und mit berechtigtem Selbstbewusstsein auch eine Auszeit nehmen. Gleichwohl wird es nicht wenige Situationen geben, in denen Ehrenamtliche eines wertschätzenden und sorgenden Hinweises bedürfen (zum Beispiel von einer Hospizkoordinatorin), sich nach einer längeren Trauerbegleitung für eine gewisse Zeit zurückzunehmen. Das gilt selbstverständlich für alle Bereiche helfenden Handelns. Und so liest man auch bei Liliane Juchli mit Blick auf die Profession der Pflegenden: »›Ich pflege als die, die ich bin‹. Ausgangslage und Ziel der Krankenpflege ist nicht nur die Pflege der Kranken, sondern auch die Selbstsorge« (Juchli 2009, S. 285). Offensichtlich braucht es aber immer wieder klare Erinnerungen daran, dass es ich hier um ein dialektisches Verhältnis von Fürsorge und Selbstsorge handelt. Als eine solche Erinnerung können zwei kurze Texte dienen, die in unserem Zusammenhang hochaktuell sind, die aber mit Blick auf ihre Entstehung bereits im Mittelalter zu Recht als »alte Texte« einzustufen sind. Beide Texte stammen aus einer Feder, und zwar von Bernhard von Clairvaux, einem mittelalterlichen Abt des Zisterzienserordens (1090–1153).

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»Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale, nicht als Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt, während jene wartet, bis sie gefüllt ist. Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter […] Wir haben heutzutage viele Kanäle […], aber sehr wenige Schalen. […] Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen, und habe nicht den Wunsch, freigiebiger als Gott zu sein. Die Schale ahmt die Quelle nach. Erst wenn sie mit Wasser gesättigt ist, strömt sie zum Fluss, wird sie zur See. Die Schale schämt sich nicht, nicht überströmender zu sein als die Quelle […] Du tue das Gleiche! Zuerst anfüllen und dann ausgießen. Die gütige und kluge Liebe ist gewohnt überzuströmen, nicht auszuströmen […] Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst. Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst, wem bist du dann gut? Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle; wenn nicht, schone dich« (Bernhard von Clairvaux).

In einem anderen Text mit dem in unserem Zusammenhang aus sich selbst sprechenden Titel »Gönne dich dir selbst« formuliert der auch als christlicher Mysiker geltende Bernhard von Clairvaux in einem Brief an Papst Eugen III.: »Wenn du ganz und gar für alle da sein willst […] lobe ich deine Menschlichkeit – aber nur, wenn sie voll und echt ist. Wie kannst du aber voll und echt Mensch sein, wenn du dich selbst verloren hast? Auch du bist ein Mensch. Damit deine Menschlichkeit allumfassend und vollkommen sein kann, musst du also nicht nur für alle anderen, sondern auch für dich selbst ein aufmerksames Herz haben. […] Wenn also alle Menschen ein Recht auf dich haben, dann sei auch du selbst ein Mensch, der ein Recht auf sich selbst hat. Warum sollest einzig du selbst nichts von dir haben? […] Wie lange noch schenkst du allen anderen deine Aufmerksamkeit, nur nicht dir selber! Ja, wer mit sich selbst schlecht umgeht, wem kann der gut sein? Denk also daran: Gönne dich dir selbst. Ich sag nicht: Tu das immer, ich sage nicht: Tu das oft, aber ich sage: Tu es immer wieder einmal.

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Sei wie für alle anderen auch für dich selbst da, oder jedenfalls sei es nach allen anderen« (von Clairvaux, B. In Schellenberger 1982, S. 73 ff.).

Trauerbegleitung findet in den zahlreichen Hospizinitiativen nicht nur in der gebotenen Haltung menschlicher Solidarität statt, sondern geschieht überwiegend im Rahmen bürgerschaftlichen Engagements, also ehrenamtlich. Ehrenamtliches Tun genießt das Privileg, keine Arbeitsleistung zu schulden, weil sie nicht als Gegenleistung zu einer entrichteten Entlohnung getätigt wird. Das bedeutet, dass gerade ehrenamtliche Trauerbegleiter die Freiheit und nach Bernhard von Clairvaux auch die Verantwortung haben, ebenso für sich selbst da zu sein wie für alle anderen. Die beiden Texte des Zisterzienserabtes Bernhard von Clairvaux aus dem 12. Jahrhundert erinnern eindrücklich daran, wie wichtig neben der mitmenschlichen Sorge auch die Sorge für sich selbst ist. In einem ehrenamtlichen Feld wie der Hospizarbeit, welches unter hohen Idealen und selbst gesetzten ethischen Ansprüchen steht, sind »Ermahnungen« wie die von Bernhard von Clairvaux wichtig. Und sie sind vor allem deshalb so wichtig, weil eine Haltung des auf sich selbst Achtens und auch eine solche, die das Kümmern um sich selbst im Blick hat, es nicht leicht hat in unserer christlich-abendländischen Tradition (Keupp 2000, S. 13). Heiner Keupp betont zu Recht unter Bezug auf den französischen Philosophen und Psychologen Michel Foucault (1986), dass Selbstsorge nicht in die Nähe von Egoismus gebracht werden darf und auch nicht in ein Fahrwasser gehört, das als unmoralisch trübe gilt (Keupp 2000, S. 13). Vielmehr, so Keupp, ist »die Sorge um die eigenen Ressourcen nicht als Widerspruch zur Förderung der Ressourcen von Menschen zu verstehen, die bei uns Hilfe suchen. Nur wer auf die richtige Weise für sich selbst sorgt, kann auch andere Menschen dabei unterstützen, sein eigenes Leben in die eigenen Hände zu nehmen« (S. 13). Um nichts anderes geht es auch bei der Trauerbegleitung. Es geht darum, trauernde Menschen zu befähigen, ihr eigenes, vorübergehend in Unordnung gebrachtes Leben wieder in die eigenen kreativ gestaltenden Hände zu nehmen. Um das

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erreichen zu können, bedarf es aber des sorgsamen »Blicks auf sich selbst, der erst die Basis schafft für den sorgsamen Blick auf den Anderen« (Schuch 2008, S. 193).

Was brauchen Trauernde und wie kann ich in personzentrierter Haltung darauf reagieren? Nach dem wichtigen Blick auf das Thema Supervision und Selbstsorge und mit diesen Hinweisen möchte ich nun den Fokus nochmals auf die Trauernden richten und auf ihre besonderen Bedürfnisse. Erika Schärer-Santschi hat als Herausgeberin eines umfangreichen interdisziplinären Buches mit dem Titel »Trauern – Trauernde Menschen in Palliative Care und Pflege begleiten« (2012) in einer abschließenden Zusammenfassung eine Auflistung genau dessen zusammengetragen, was Trauernde brauchen bzw. was sie sich aus ihrer spezifischen emotionalen Lage heraus berechtigterweise wünschen. Diese Auflistung, die authentisch und unmittelbar spürbar aus eigenen Pflege- und Trauerbegleitungserfahrungen erwachsen ist, zeigt sehr praxisbezogen, welche inneren Bedürfnisse Trauernde vielfach haben. Darüber hinaus wird deutlich, wie intensiv die Affinität der personzentrierten Haltung zu einer hilfreichen Haltung in der Trauerbegleitung ist. Daher werde ich nachfolgend in Anlehnung an Schärer-Santschi einige der von ihr aufgelisteten Wünsche und Bedürfnisse Trauernder benennen, um daran deutlich zu machen, wie sich die personzentrierte Haltung Trauernden gegenüber konkretisiert. •• Trauernde wünschen sich einen geschützten Rahmen, in dem sie ganz individuell so sein können, wie sie sich fühlen. •• Sie wollen so angenommen werden, wie sie sind. •• Sie brauchen Begleiter, die angesichts der hohen Emotionalität und des aktuellen Leids nicht flüchten, sondern standhalten. •• Sie trauern auf ihre eigene Weise. Trauer ist höchst individuell. •• Es gibt Trauernde, die den Rückzug für sich vorziehen. Sie sind mit ihrem Bedürfnis nach Rückzug zu akzeptieren.

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•• Trauernde sehnen sich nach Verbundenheit und Halt. Das Maß dieser Verbundenheit und des notwendigen Halts aber bestimmen sie selbst. •• Es geht bei der Begleitung von Trauernden um ein gutes individuell ausgewogenes Verhältnis von Kontakt (Nähe) und Distanz. •• Trauernde sind in ihrer Rolle als Trauernde zu nichts verpflichtet. Trauernde müssen nichts! •• Nicht alle Gesprächsthemen Trauernder sind mit allen Bezugspersonen besprechbar, auch nicht mit dem Trauerbegleiter. Die Auswahl der Themen liegt beim Trauernden. •• Sprechen ist in der Trauerbegleitung ohne Frage ein wichtiges Mittel, jedoch nicht immer und unbedingt. Manchmal reicht auch die wahrgenommene Nähe, der angebotene Raum und/ oder Kontakt. Zeugenschaft der Trauer kann, muss sich aber nicht immer in Worten ausdrücken. •• Trauernde dürfen auch Begleitenden gegenüber abweisend sein oder sogar vorwurfsvoll. Der Begleiter ist in vielen Fällen überhaupt nicht persönlich gemeint, sondern steht auch dann zur Verfügung als akzeptierende Projektionsfläche für intensive Emotionen, die nach Ausdruck verlangen. •• Trauer verlangt wesentlich nach Bestätigung, das heißt nach Anerkennung. Trauernde wollen gesehen und gehört werden. Auf diese Auflistung der Bedürfnisse Trauernder lassen sich sehr treffend und als passende und komplementäre Folie die drei Grundhaltungen der personzentrierten Begleitungshaltung legen. Ein personzentrierter Trauerbegleiter in personzentrierter Haltung weiß um den Wert und die zentrale Bedeutung der freien und individuellen Entscheidung von Menschen in krisenhaften Lebenssituationen. Er achtet genau diese Individualität und auch die Entscheidungen, die ihm selbst möglicherweise fremd erscheinen. Er spürt sich ein in vorhandenes Leid und die lebendige (!) Emotionalität seines Gegenübers, ohne selbst darin unterzugehen. Zugleich fordert und fördert er sie behutsam heraus, immer natür-

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Was macht eine personzentrierte Trauerbegleitung aus?

lich mit achtsamem Blick auf das, was ein individuell Trauernder zulässt und wozu er imstande ist. In geschulter und immer wieder neu reflektierter Haltung kann der personzentrierte Begleiter auch Distanz und Rückzug wertschätzen und erlebt solche Bedürfnisse eines Trauernden nicht vorrangig als Unterbrechung oder Störung des Kontakts, sondern als individuelle Bedürfnislage, die jetzt gerade für sein konkretes Gegenüber eine eigenständige und berechtigte Bedeutung hat. Er weiß, dass jedes individuelle Verhalten aus Sicht desjenigen, der es zeigt, einen eigenen, ganz aktuellen Sinn hat. Denn: Subjektiv gesehen ist jedes Verhalten erst einmal sinnvoll. Und er hat bei aller Solidarität, Präsenz und Berührbarkeit auch soviel professionelle Distanz, dass er mit erfahrener Ablehnung und auch mit möglichen Vorwürfen so umgehen kann, dass sie den Kontakt zwischen Trauerndem und Begleiter nicht so negativ beeinflussen, dass eine hilfreiche Beziehung nicht mehr möglich ist.

Zum Abschluss: Ein Märchen für Trauerbegleitende Ich setze an den Abschluss dieser Einführung in die personzentrierte Haltung in der Trauerbegleitung ein Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm (1857/2014) und tue das aus mehreren Gründen. Das nachfolgende Märchen ist ein Paradigma für eine gute und klar auf Trauernde zentrierte Haltung in der Begleitung. Das Märchen kann Begleitende in seiner tiefen Symbolik auf eine gute Art und Weise daran erinnern, was zu tun und was zu lassen ist, worauf es vor allem ankommt und was wichtig ist, um gut in eine personzentrierte Haltung zu gelangen und dann auch in ihr zu bleiben. Gerade dieses Märchen scheint mir in vortrefflicher Weise dazu in der Lage zu sein, eine ganze Reihe der zuvor in diesem Buch genannten Aspekte nochmals aufzugreifen, zu fokussieren und zu verdichten. Für Trauerbegleitende kann dieses Märchen sehr bei-

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spielgebend sein für die von Rogers als hilfreich und wirksam formulierte Haltung, die deutlich geprägt ist von •• einer absichtslosen Aufmerksamkeit, •• einer vorbehaltlosen Offenheit •• und einer ziellosen Achtsamkeit (Finke 2013, S. 213 f.). Die drei Federn »Es war einmal ein König, der hatte drei Söhne; davon waren zwei klug und gescheit, aber der dritte sprach nicht viel, war einfältig und hieß nur der Dummling. Als der König alt und schwach ward und an sein Ende dachte, wußte er nicht, welcher von seinen Söhnen nach ihm das Reich erben sollte. Da sprach er zu ihnen: ›Ziehet aus, und wer mir den feinsten Teppich bringt, der soll nach meinem Tod König sein.‹ Und damit es keinen Streit unter ihnen gab, führte er sie vor sein Schloß, blies drei Federn in die Luft und sprach: ›Wie die fliegen, so sollt ihr ziehen.‹ Die eine Feder flog nach Osten, die andere nach Westen, die dritte flog aber geradaus und flog nicht weit, sondern fiel bald zur Erde. Nun ging der eine Bruder rechts, der andere ging links, und sie lachten den Dummling aus, der bei der dritten Feder, da, wo sie niedergefallen war, bleiben mußte. Der Dummling setzte sich nieder und war traurig. Da bemerkte er auf einmal, daß neben der Feder eine Falltüre lag. Er hob sie in die Höhe, fand eine Treppe und stieg hinab. Da kam er vor eine andere Türe, klopfte an und hörte, wie es inwendig rief: ›Jungfer grün und klein, Hutzelbein, Hutzelbeins Hündchen, hutzel hin und her, laß geschwind sehen, wer draußen wär.‹

Die Türe tat sich auf, und er sah eine große, dicke Itsche (Kröte) sitzen und rings um sie eine Menge kleiner Itschen. Die dicke Itsche fragte, was sein Begehren wäre. Er antwortete: ›Ich hätte gerne den schönsten und feinsten Teppich.‹ Da rief sie eine junge und sprach:

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›Jungfer grün und klein, Hutzelbein, Hutzelbeins Hündchen, hutzel hin und her, bring mir die große Schachtel her.‹

Die junge Itsche holte die Schachtel, und die dicke Itsche machte sie auf und gab dem Dummling einen Teppich daraus, so schön und so fein, wie oben auf der Erde keiner konnte gewebt werden. Da dankte er ihr und stieg wieder hinauf. Die beiden andern hatten aber ihren jüngsten Bruder für so albern gehalten, daß sie glaubten, er würde gar nichts finden und aufbringen. ›Was sollen wir uns mit Suchen groß Mühe geben‹, sprachen sie, nahmen dem ersten besten Schäfersweib, das ihnen begegnete, die groben Tücher vom Leib und trugen sie dem König heim. Zu derselben Zeit kam auch der Dummling zurück und brachte seinen schönen Teppich, und als der König den sah, erstaunte er und sprach: ›Wenn es dem Recht nach gehen soll, so gehört dem jüngsten das Königreich.‹ Aber die zwei andern ließen dem Vater keine Ruhe und sprachen: unmöglich könnte der Dummling, dem es in allen Dingen an Verstand fehlte, König werden, und baten ihn, er möchte eine neue Bedingung machen. Da sagte der Vater: ›Der soll das Reich erben, der mir den schönsten Ring bringt‹, führte die drei Brüder hinaus und blies drei Federn in die Luft, denen sie nachgehen sollten. Die zwei ältesten zogen wieder nach Osten und Westen, und für den Dummling flog die Feder geradeaus und fiel neben der Erdtüre nieder. Da stieg er wieder hinab zu der dicken Itsche und sagte ihr, daß er den schönsten Ring brauchte. Sie ließ sich gleich ihre große Schachtel holen und gab ihm daraus einen Ring, der glänzte von Edelsteinen und war so schön, daß ihn kein Goldschmied auf der Erde hätte machen können. Die zwei ältesten lachten über den Dummling, der einen goldenen Ring suchen wollte, gaben sich gar keine Mühe, sondern schlugen einem alten Wagenring die Nägel aus und brachten ihn dem König. Als aber der Dummling seinen goldenen Ring vorzeigte, so sprach der

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Vater abermals: ›Ihm gehört das Reich.‹ Die zwei ältesten ließen nicht ab, den König zu quälen, bis er noch eine dritte Bedingung machte und den Ausspruch tat: der sollte das Reich haben, der die schönste Frau heimbrächte. Die drei Federn blies er nochmals in die Luft, und sie flogen wie die vorigemale. Da gieng der Dummling ohne weiteres hinab zu der dicken Itsche und sprach: ›Ich soll die schönste Frau heimbringen.‹ ›Ei‹, antwortete die Itsche, ›die schönste Frau! Die ist nicht gleich zur Hand, aber du sollst sie doch haben.‹ Sie gab ihm eine ausgehöhlte gelbe Rübe, mit sechs Mäuschen bespannt. Da sprach der Dummling ganz traurig: ›Was soll ich damit anfangen?‹ Die Itsche antwortete: ›Setze nur eine von meinen kleinen Itschen hinein.‹ Da griff er auf Geratewohl eine aus dem Kreis und setzte sie in die gelbe Kutsche, aber kaum saß sie darin, so ward sie zu einem wunderschönen Fräulein, die Rübe zur Kutsche und die sechs Mäuschen zu Pferden. Da küßte er sie, jagte mit den Pferden davon und brachte sie zu dem König. Seine Brüder kamen nach, die hatten sich gar keine Mühe gegeben, eine schöne Frau zu suchen, sondern die ersten besten Bauernweiber mitgenommen. Als der König sie erblickte, sprach er: ›Dem jüngsten gehört das Reich nach meinem Tod.‹ Aber die zwei ältesten betäubten die Ohren des Königs aufs neue mit ihrem Geschrei: ›Wir können’s nicht zugeben, daß der Dummling König wird‹, und verlangten, der sollte den Vorzug haben, dessen Frau durch einen Ring springen könnte, der da mitten in dem Saal hing. Sie dachten: Die Bauernweiber können das wohl, die sind stark genug, aber das zarte Fräulein springt sich tot. Der alte König gab das auch noch zu. Da sprangen die zwei Bauernweiber, sprangen auch durch den Ring, waren aber so plump, daß sie fielen und ihre groben Arme und Beine entzweibrachen. Darauf sprang das schöne Fräulein, das der Dummling mitgebracht hatte, und sprang so leicht hindurch wie ein Reh, und aller Widerspruch mußte aufhören. Also erhielt er die Krone und hat lange in Weisheit geherrscht.«

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Das Märchen macht Folgendes deutlich: •• Ohne meine eingangs formulierte und etwas karikierende Beschreibung aufzuheben, dass ein personzentrierter Begleiter wesentlich und im vorgenannten und richtig verstandenen Sinn »dumm«, »faul« und »neugierig« sein muss, betone ich in diesem Zusammenhang und mit Blick auf die Botschaft des Märchens: In der Trauerbegleitung darf ich selbstverständlich nicht untätig sein, sondern ich muss mich schon in einer inneren Bewegung auf den Weg machen und ich muss auch handeln, ebenso wie sich auch der jüngste Königssohn im Märchen sich immer wieder neu auf den Weg macht. •• Ich darf nicht ängstlich sein, sondern ich muss mich schon in die Höhle trauen, in das Dunkle der Trauer und auch in das Dunkle des Abschieds. •• Ich darf nicht unachtsam sein, sondern es braucht unbedingt meine Achtsamkeit, damit ich die versteckten oder verschütteten Zugänge zu einem trauernden Menschen überhaupt entdecken kann. Im Märchen »Die drei Federn« entdeckt der Dümmling nur deswegen den versteckten Eingang zur Höhle, weil er für das versteckte Erdloch einen genügend achtsamen Blick und eine entsprechende Haltung hat (Finke 2013). •• Ich brauche eine grundsätzliche innere Bereitschaft, »auch auf das scheinbar Nebensächliche, Unnütze, auf den ersten Blick gar nicht Zielführende zu achten« (Finke 2013, S. 213). Und dazu gehört auch, dass ich mich dem scheinbar Niedrigen unbedingt wertschätzend zuwende. Im Märchen tut der jüngste Sohn genau dies, indem er sich der ekligen Kröte mit aller Achtung zuwendet. •• Aber, auch das macht das Märchen deutlich, ich muss nicht alles allein machen. Die letztendlich alles entscheidende Aufgabe im Märchen löst nicht der jüngste Königssohn, der angebliche Däumling/Dümmling, sondern seine Frau/Braut. •• Und das Märchen wirft noch eine andere Frage auf: Was eigentlich ist Klugheit? Auch in diesem Märchen ist es die emotionale Intelligenz, auf die es ankommt.

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Jobst Finke, der sich sehr intensiv mit der Arbeit mit Bildern, Symbolen und Märchen in der personzentrierten Begleitung auseinandergesetzt hat, betont in Zusammenhang mit genau diesem Märchen, dass Begleitende bei allem, was sie an Wissen, Können und Haltung erworben haben, nie den Blick dafür verlieren dürfen, auch auf das Unbedeutende und wenig Auffällige zu schauen. Also ein weiterer Appell an Trauerbegleitende, immer wieder neu auch ihre Fähigkeit zur Achtsamkeit einzuüben.

Weiterführende Adressen

Gesellschaft für Personzentrierte Psychotherapie und Beratung e. V. (GwG) Melatengürtel 125a 50825 Köln Telefon: 0221-925908-0 E-Mail: [email protected] Internet: www.gwg-ev.org Bundesverband Trauerbegleitung e. V. (BVT) c/o Christine Stockstrom Linzeweg 16 34346 Hann. Münden Telefon: 05541-71949 Fax: 05541-73174 Internet: www.bv-trauerbegleitung.de Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie e. V. Fachverband für Seelsorge, Beratung und Supervision Sektion Personzentrierte Seelsorge (PPS) Huckarder Str. 12 44147 Dortmund Telefon: 0231-145969 Fax: 0231-58 60 359 E-Mail: [email protected] Internet: www.pastoralpsychologie.de Deutsche Gesellschaft für Supervision e. V. (DGSv) Neusser Str. 3 50670 Köln Telefon: 0221-92004-0 Telefax: 0221-92004-29 E-Mail: [email protected] Internet: www.dgsv.de

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