Erwärmen in der Trauer: Psychodramatische Methoden in der Begleitung 9783666402326, 9783525402320, 9783647402321

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Erwärmen in der Trauer: Psychodramatische Methoden in der Begleitung
 9783666402326, 9783525402320, 9783647402321

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

EDITION

 Leidfaden

Hrsg. von Monika Müller

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Matthias Schnegg

Erwärmen in der Trauer Psychodramatische Methoden in der Begleitung

Mit 17 Illustrationen des Autors

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Ella Mae Shearon, der Meisterin des Psychodramas, und Michael Spohr, der mir den Weg zum Psychodrama aufwies

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40232-0 ISBN 978-3-647-40232-1 (E-Book) Umschlagabbildung: Suraya-Art/photocase.com © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Trauerbegleitung als schöpferische Begegnung – Ein therapeutisches Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Professionelle Psychotherapie und nichtpsychotherapeutische Begleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Psychodrama als Methode der Begleitung . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Morenos Schöpfer-Gedanke und die Trauer als schöpferischer Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung . . . . . 27 Die Bühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Die Erwärmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Methodische Hinweise zum Erwärmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Die Rolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Methodische Hinweise zur Rolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Akteure und Rollenträger in der psychodramatischen Arbeit 44 Methodische Hinweise zu den Akteuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Der Rollentausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Methodische Hinweise zum Rollentausch . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Die einzelnen Rollenträger und Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Methodische Hinweise zum Hilfs-Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

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6   Inhalt

Das Doppeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Methodische Hinweise zum Doppeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Das Spiegeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Methodische Hinweise zum Spiegeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Feedback zum Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Das Sharing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Methodische Hinweise zum Sharing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Das Rollenfeedback . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Die Prozessanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Methodische Hinweise zu Rollenfeedback und Prozessanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Die Surplus Reality . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Methodische Hinweise zur Surplus Reality . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Psychodramatische Methode im sozialen Netz Trauernder . 97 Das soziale Atom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Das surreale soziale Atom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Methodische Hinweise zum sozialen Atom . . . . . . . . . . . . . . . 105 Psychodramatische Methoden in einem Seminar für aktive Trauerbegleitende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Soziometrie als psychodramatisches Element in der Befähigung Ehrenamtlicher zur Trauerbegleitung . . . . . . . . 117 Soziometrie zur Gruppenfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Möglichkeiten der soziometrischen Aufstellungen . . . . . . . . . 119

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Inhalt   7

Das Erwärmen als Methode in der Ausbildung von Trauerbegleitenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Beispiel 1: Eine neue Gruppe beginnt die Ausbildung zur Trauerbegleitung mit einem Märchen . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Beispiel 2: Verschiedene Ausdrucksformen der Trauer – Erwärmung der Typologien des Trauerauslebens . . . . . . . . . . 125 Beispiel 3: Pseudohalluzinatorische Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Haltung, um zu halten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Glossar zu Begriffen aus dem Psychodrama . . . . . . . . . . . . . . 136 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

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Trauerbegleitung als schöpferische Begegnung – Ein therapeutisches Fallbeispiel

Hildegard war 72 Jahre, als sie um Begleitung in der Trauer um ihren Bruder bat. Für Außenstehende war es verwunderlich, dass die alte Dame (»nur«, mögen manche denken) wegen des Todes ihres Bruders nachfragte. Hildegard gilt als etwas sonderbar, schöngeistig, für manche auch unbegreiflich. Sie sei einfach spinnert, sagen die Leute ihrer Nachbarschaft. Nach zehnjähriger Ehe ist sie geschieden worden. Sie hat immer eine besondere Beziehung mit diesem Bruder Jodokus gelebt. Er war als Jugendlicher durch einen Unfall sehr schwer verletzt worden, so dass man lange Zeit mit seinem Ableben rechnen musste. Er hatte eine Hand verloren und war in seinem Gesicht durch Brandwunden entstellt. Seit diesem traumatischen Erleben litt er unter starken Halluzinationen und Psychosen. Man wusste sich nicht anders zu helfen, als ihn in einer stationären psychiatrischen Einrichtung unterzubringen. Dort lebte er viele Jahre. Seine Schwester Hildegard hielt den Kontakt. Sie war bemüht, ihn wieder nach Hause zu holen. Das gelang ihr. Schwester und Bruder verlebten  – in allen emotionalen Schwankungen ihrer Beziehung – gute Jahre miteinander. Der Bruder durfte leben, wie es ihm gefiel  – mit all seinen Eigenheiten, seiner Zurückgezogenheit, seiner Sprachkargheit, seiner Unberechenbarkeit. Dann kam die Zeit der Erschöpfung Hildegards. Die Psychosen und Halluzinationen hatten sich des Bruders wieder so gewaltig bemächtigt, dass sie ihn wieder in eine psychiatrische Klinik und schließlich in ein Pflegeheim geben musste. Unter dieser Tatsache hat sie sehr gelitten. Sie hatte bereits in die Wege geleitet, dass der Bruder in ein ortsnäheres, komfortableres Pflegeheim übersiedeln könnte – da

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Trauerbegleitung als schöpferische Begegnung

stürzte Jodokus über eine Treppe des Pflegeheims, trug schwere Kopfverletzungen davon und starb wenige Tage später. Frau Hildegard liegt in tiefer, verzweifelter, untröstlicher Trauer. Seit vielen Jahren ist sie von Depressionen geplagt. In diesem Zustand sucht sie meine Hilfe. Wir kennen uns über 15 Jahre durch meine Tätigkeit als Seelsorger in der Gemeinde ihres Wohnortes. Als sie mich aufsucht, wirke ich seit einigen Jahren nicht mehr in ihrer Heimatstadt. Frau Hildegard ist gehbehindert. Sie kann sich während unserer Treffen nicht gut bewegen. Da ich dennoch mit psychodramatischen Methoden mit ihr arbeiten möchte, bedienen wir uns verschiedener Tücher, die zu Puppen geknotet werden. Die Begleitung zieht sich über Monate hin. Es braucht immer wieder Raum für das aktuelle Trauererleben. Irgendwann ist Platz, dass wir das soziale Umfeld mit in den Blick nehmen können. Das Psychodrama spricht vom sozialen Atom. Die Protagonistin Hildegard findet wenige Kontakte. Letztlich bleiben Jesus und ich als ihr Therapeut und früherer Pfarrer übrig. In einer der weiteren Sitzungen suchen wir nach einem Menschen, der ihre Trauer verstehen könnte. Ein Geliebter ihrer Jugendjahre kommt plötzlich in Erinnerung. In der psychodramatischen Methode des Rollentausches weiß Hildegard aber, dass Robert die Abgründigkeit ihrer Trauer nicht aushielte. Daher sagt sie in der Rolle dieses Robert: »Nein, Hilde, deine Trauer kann ich wirklich nicht aushalten. Das ist mir zu viel.« Da weiß die Trauernde, dass dieser Weg keinen Ausweg aus ihrer vereinsamenden Trauer ermöglicht. Schließlich ist Jesus am Kreuz der Einzige, von dem sie sich verstanden weiß. Wieder ist der Rollentausch ein Weg, sich dieser Bedeutung Jesu am Kreuz bewusst zu werden. Hildegard klagt Jesus an, dass er den Tod ihres Bruders nicht verhindert habe. In der Rolle des Jesus am Kreuz spricht Hildegard machtvoll: »Herr über Leben und Tod bin immer noch ich!« Im Rückblick auf diese psychodramatische Sequenz sagt Hildegard sehr bewegt, aber auch erleichtert: »Gut, dass mir das mal jemand sagt.« Und wenig später fügt sie hinzu: »In meinem Herzen wusste ich das, aber mein Verstand brachte immer den Zweifel.« Aus diesem Erleben schreibt sie sich aus der Rolle des Jesus einen Trostbrief in ihre Trauer. In der folgenden Sitzung bereiten wir auf

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Trauerbegleitung als schöpferische Begegnung  

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dem Tisch mit Tüchern eine Bühne. In dieser Bühne liest die gehbehinderte Protagonistin den an sich selbst gerichteten Brief Jesu. Es ist eine tiefe Vergewisserung, dass Jesus – für was auch immer er stehen mag – eine wichtige Bezugsperson in ihrer Lebensverzweiflung ist. Nach Verlesen des Briefes wird die Bühne wieder aufgelöst. Das Psychodrama will nicht in eine irreale Welt entführen. Das Psychodrama nutzt die vermeintlich jenseits der Realität wahrgenommenen Räume, um einem innerpsychischen Erleben Ausdrucksform zu ermöglichen. Ziel ist dabei nicht, vorübergehend einen surrealen Raum anzubieten, um Entlastung zu schaffen. Ziel ist es, mit dem Wissen dieses Raumes zurückzufinden in die aktuelle Realität. Im Brief Jesu an Hildegard kommen einige Personen und mit ihnen verbundene Ereignisse vor. Das Psychodrama vermag ihnen Gestalt zu geben. Hildegard hat bisher überlebt, weil sie familiengeschichtliche Gewalt und Missbrauch verschwiegen hat. Jetzt ist sie an einem Punkt, an dem sie das nicht mehr halten mag. In der therapeutischen Begegnung bitte ich sie, diese Personen und Ereignisse alle mit einem farbigen Tuch auf die Bühne zu bringen. Sie muss nichts benennen. Es reicht, wenn sie allein weiß, was diese Tücher symbolisieren. Schweigend und teils unter Tränen legt sie die Symbole. Dann gebe ich ihr einen Korb. Sie möge hineintun, was unter den Deckel gehört. Dann stopft sie fast alles hinein. Und plötzlich stockt sie. Energisch zieht sie eins nach dem anderen wieder heraus. Am Ende sagt sie: »Nun, keinen Deckel mehr drauf!« Als Begleitender weiß ich zu dieser Stunde nicht, welche Bedeutung die einzelnen Tücher tragen. Mit Entschiedenheit legt sie fest: »Die Kiste bleibt leer. Da kommt nichts mehr rein!« Nach diesem Erleben der befreienden Gewissheit fährt Hildegard nach Hause. Sie habe sich in dem Café, in dem sie mit ihrem Bruder gern saß, einen großen Kaffee gegönnt. Als sie aber zu Hause gewesen sei, habe sie ein gewaltiges schwarzes Loch überfallen. Sie habe an Suizid gedacht. »Könnte ich bei Jodokus sein!« Bei unserer nachfolgenden Begegnung spricht sie von der Gewalt dieses schwarzen Lochs. Sie habe sich nur mühsam im Leben halten können. Ich frage sie, ob wir dieses Loch auf die Bühne bringen können. Das geht noch.

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Trauerbegleitung als schöpferische Begegnung

Sie legt über den ganzen Tisch, der unsere Bühne ist, ein schwarzes Tuch. Dessen ansichtig, kann sie sich nicht an den Tisch setzen. Zu bedrohlich ist, was sie sieht, was mir als Begleitendem aber noch nicht bekannt ist.

Das Psychodrama kennt die Möglichkeit des Spiegels. Der Spiegel schafft Abstand. Die Protagonistin kann aus gesichertem Abstand auf die Bühne schauen. Sie bestimmt den Abstand, aus dem sie auf das schwarze Loch schauen kann. Sie kann von diesem Loch nicht sprechen. Sie drängt sich selbst, dieses Bild zu verschönern, zu harmonisieren. Über dieses Bild legt sie die Idylle einer Begegnung am Bodensee. Das Psychodrama nennt dieses Zukunftsbild eine Surplus Reality. Dann wendet sich die Protagonistin dem schwarzen Loch zu. Mit leiser Stimme spricht sie in diese Bodensee-Idylle auf dem Schwarz des Lochs von Ächtung der Sexualität in ihrer Familie, von Sanktionierung und Liebesentzug aufgrund harmloser Treffen mit männlichen Freunden, spricht von Vaters Launenhaftigkeit und Tyrannei, von zwei Suizidversuchen und von der Scheidung. All das sei passiert in der Familie. Und kaum dass es geschehen sei, sei klar gewesen, dass darüber niemals gesprochen werden dürfte. In einer weiteren Begegnung stellt die Protagonistin ihre Familie in Szene. Die ältere Schwester sei eiskalt, der andere Bruder unnahbar, die Mutter zu schwach und der Vater ein Missbraucher. Ein ehrenwerter Herr in der kommunalen und kirchlichen Gemeinde. Eine schweigende Mutter. Eine Schwester, die sich mit Kälte ummantelt hat, damit nichts mehr sie erreichen kann. Am Ende stehen diese Gestalten auf ihrer Bühne. Hildegard gibt jeder einen charakteristischen Satz. Als Begleiter nehme ich die Funktion des im Psychodrama so genannten Hilfs-Ich ein und sage aus der Rolle dieser von ihr gestalteten Personen jeweils diesen charakterisierenden Satz. Hildegard ist ganz erschöpft und kommentiert in der Schlussbetrachtung dieser Sitzung: »Jetzt habe ich die Dämonen beim Namen genannt.«

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Immer wieder mischen sich familiäre Konflikte in den Prozess dieser Trauerbegegnung ein. Dann ist heftiger Streit mit dem verbliebenen Bruder. Dann ist großer Schmerz, weil sie mit ihrer älteren Schwester einfach nicht reden kann. Die unheilvolle Wirkung des Vaters hat alle für ihr Leben geprägt. Überforderung aller Kinder, über allem aber der Mantel des Tabus. Einmal setzen wir eine Begegnung mit der Schwester in Szene. Über vielfachen Rollentausch erfahren wir, welches Bild ihrer Schwester die Protagonistin in sich trägt. Mitten im Spiel verlässt sie ihre Rolle (sie sprach gerade aus der Rolle ihrer Schwester), legt die diesbezügliche Tuchpuppe aus den Händen und sagt verächtlich: »Meine Schwester ist eiskalt!« Auf diese Aussage hin frage ich sie, wie alt sie im Moment sei. Spontan antwortet sie: zwanzig Jahre. Und dann erzählte die Protagonistin, was sie erinnert, als sie zwanzig Jahre alt war: Ihre Schwester habe alle denkbaren gesellschaftlichen und kirchlichen Normen in den Wind geschlagen. Hildegard habe die Kraft ihrer Schwester bewundert. Und sie erinnerte sich, was ihre Schwester mit zwölf habe erleiden müssen. Das aber ist nicht aussprechbar. Als Begleiter spreche ich der Protagonistin über die Schulter, bringe behutsam in Sprache, was ich miterlebt habe. In der Sprache des Psychodramas wird das Doppeln genannt. Die Protagonistin hat jederzeit die Möglichkeit, meiner Einfühlung zu widersprechen oder sie zu bestätigen. Hildegard gibt durch sprachleeres Kopfnicken ihr Einverständnis. Danach improvisiere ich mit zwei Tuchpuppen eine Begegnung dieser beiden Schwestern. Was sie verbindet, ist die Unerreichbarkeit. Hildegard hat sich mit dem Mantel der Keckheit und Frechheit über Wasser gehalten, ihre Schwester mit der Kälte, die nichts und niemanden an sich heranlassen will. Hildegard kommentiert dieses spiegelnde Spiel mit dem Satz: »Was uns verbindet, ist das gemeinsame Kindelend.« Dann ist Karfreitag und Hildegard träumt an diesem Tag, dass der Tod in einem schwarzen Gewand an der Haustür gewesen sei – wirklich, nicht geträumt oder so, fügt sie hinzu. Wir setzen diesen Ausschnitt in Szene. Der Tod ist der Tod ihres Bruders Jodokus. Er ist in das Haus gekommen. Seitdem finde sie ihn an ihrem Bett, wann immer sie in ihr Schlafzimmer gehe. Gleichzeitig sei am Bett noch

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ein mächtiger Engel mit großen goldenen Flügeln  … Das Psychodrama erschrickt nicht vor diesen Bildern. Sie sind eine Wirklichkeit, die die Protagonistin bewegt. Also können sie in Szene kommen. Das Ausspielen der Szene wird eröffnet, um die Bedeutung dieser etwas jenseits der von uns als Norm deklarierten Wirklichkeit zu erfassen. Es gibt ein klärendes Gespräch zwischen der Protagonistin und dem Tod. Seit ihr Bruder tot sei, habe sie dem Tod die Freundschaft gekündigt. Ob sie denn wieder Freund mit dem Tod werden müsse, damit er von ihr weiche? Als Begleiter lasse ich erst den Engel zu Wort kommen, als vermutete Stärkung in der Auseinandersetzung mit dem Tod. Die Protagonistin sagt in der Rolle des Engels, dass er der Engel Gabriel sei, der Engel, der mit Geburt zu tun habe. Er ist Künder eines neuen Lebens. Ein kleiner Engel reiche in ihrer Trauer nicht aus. Das müsse schon ein Erzengel, einer wie Gabriel sein, der angesichts des Todes dem Leben noch trauen helfe. Aus der Methode des Spiegelns heraus sieht Hildegard den Tod und den Engel. Sie bittet den Tod, sich hinter den Engel zu stellen. Am Ende der Sitzung, als sie noch verinnerlichend das Bild der beiden Puppen ansieht – den großen Engel und dahinter den Tod –, wiederholt sie mehrfach: »Der von den Toten auferstanden ist.« Mit einem energischen »Ich glaube daran! Ich bin froh, dass der große Engel bei mir ist!« kann sie die Bühne auflösen. Bei späteren Sitzungen treten Tod und Engel Gabriel immer wieder auf. Das Wesen dieser Figuren und ihrer Botschaften modelliert die Protagonistin selbst. Mit der Methode des Rollentausches spricht sie jeweils die einzelnen Rollen und geht auch in Interaktion mit ihnen – mal in ihrer eigenen Rolle, mal in der Rolle des Todes oder des Engels. Die Art des Todes des Bruders kommt wieder zur Sprache. Sowohl der Engel als auch der Tod verweisen auf die höhere Instanz, auf Gott. Die Protagonistin ist mit den ihr ausweichend erscheinenden Antworten unzufrieden. Hildegard erinnert sich an das Kondolenzschreiben des Arztes. Der habe gesagt, ihr Bruder habe einen langen Kreuzweg tapfer vollendet. Hildegard sieht eine kleine Figur im Raum  – mit langem Federhaar und wallend blauen Stoffstreifen als Gewand. Die nimmt sie,

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gibt ihr den Namen Isabell und ernennt sie zu ihrer Gefährtin. Im Rollentausch wird die Figur in ihrer Beziehung und Bedeutung zur Protagonistin plastisch. Isabell sagt im Rollentausch, dass sie Jodokus aber ganz anders in Erinnerung habe, wie er sein Pfeifchen rauchte, so viel und wo immer er gewollt hätte, auch gegen das Murren seiner Schwester, dass er mit ihr immer wieder fein essen gegangen sei, dass sie viele Ausflüge gemacht hätten, dass er sein Bierchen trinken gegangen sei, dass er sich mal von Gott abgewandt habe, weil er ihm böse gewesen sei, dass er dann aber auch mal wieder in die Kirche gegangen sei. Er habe sich genommen, was für ihn gut gewesen sei. Isabell (von Hildegard im Rollentausch gestaltet) sagt: »Jodokus hat mitnichten nur ein Kreuzwegleben gehabt!« Dann stellt Hildegard die Puppe weg, sagt erstaunt: »Jetzt ist sie sofort wieder eine tote Puppe.« Im Rückblick auf den Prozess dieser Begegnung sagt Hildegard: »Macht nichts. Ich habe ihre lebendige Rede in mir. Sie hat mir heute die andere Seite gezeigt.« Das Psychodrama hat diese in ihr immer vorhandene Seite zur Sprache und zum Erleben gebracht. In der Rolle der Isabell kann sich die Protagonistin sagen, was sie von ihrem toten Bruder auch weiß. Entscheidend auch hier, dass dieses Bild jenseits unserer Wahrnehmungsnorm sich wieder einfindet in die Realität. Die Puppe ist eindeutig ein toter Gegenstand. Aber sie hat eine Rede in Hildegard aktiviert, die jetzt hilft. Es bahnt sich die andere Seite des Lebens an. Das Psychodrama kennt das Rollenfeedback. Da ich in der Einzelbegleitung auch die Funktion des Hilfs-Ich übernommen habe, gebe ich aus der Rolle der Isabell ein Feedback. Aus der Rolle der Isabell melde ich viel Kraft und Lebenslust zurück, auch Ermutigung, dieser Energie zu trauen. Ich erlebte Jodokus wirklich als auch lebenslustigen, unkonventionellen Mann. Der Protagonistin ist das eine Bestärkung, dass sie selbst dies auch erlebt hat. Sie hat ein Warnsignal gespürt, ob diese Zuwendung zur Lebendigkeit nicht auch ein Verrat an ihrem geliebten Bruder sein könnte. Zur dann folgenden Begegnung bringt sie die Klarheit, dass ihr Leben ohne Jodokus weitergehen könnte. Sie möchte Isabell bei sich

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haben. Die verstehe etwas vom Leben. Als therapeutischer Begleiter spiegle ich ihr die beiden Seiten: den Schmerz über den Verlust, der immer mitgehen wird, und an ihrer Seite Isabell, die Stärkung auf einen neuen Lebensmut hin, einen Mut, den ihr ihr Bruder selbst zuspricht. Auf diesem stabilisierteren Hintergrund fallen die grausamen Themen der sich verdichtenden Lebenstrauer wieder auf. Jetzt wird in Szenen der Begegnung der Vater als Missbraucher benannt. Es wird aussprechbar, dass ihre Schwester mit zwölf auf massiven Druck des Vaters hin eine Fehlgeburt der Mutter habe entsorgen müssen. Und dass es einen anderen Mann gab, der sie als kleines Mädchen missbraucht habe. Sie sei von den Eltern schutzlos ausgesetzt gewesen. Sie habe den Mann noch viele Jahrzehnte fast jede Woche gesehen. Die Wunden brannten. Das Tabu hat sie in Brand gehalten. Nach dieser so dramatischen Erzählung auf der Bühne beendet Hildegard ihr vertrautes Gespräch mit Isabell: »Sei froh, dass du eine Fee bist. Wenn du erlebt hättest, was wir beiden Schwestern erlebt haben, wärest du keine gute Fee mehr. Es ist nicht leicht, eine Frau zu sein.« Hildegard weint in innerer Erschütterung. Dieses Weinen hat weiten Raum auf der Bühne. Nach einer Zeit der Stille nehme ich die Rolle der Schwester. Ich sage, dass ich sehr berührt sei von dem, was Hildegard gesagt habe. Ich spreche vom Schutzmantel der Unerreichbarkeit  – durch eisige Kälteausstrahlung oder durch unerträgliches hysterisches Aufdrehen. Im Rollentausch sprechen die Schwestern miteinander. Aber sie halten es nicht lange aus. Die Protagonistin verliert den Faden der Rolle und ergeht sich wieder in Vorwürfen gegen die eiskalte Schwester. Ich spiegle diese Begegnung durch zusammenfassende Darstellung der beiden Rollen. In der Analyse des Geschehens fragt sie, ob ich ein Gespräch zwischen den Schwestern moderieren könnte, wenn das vielleicht irgendwann einmal möglich sein sollte. Nur: Jetzt ginge das noch nicht. Nach einem Jahr der Begegnung mit der Trauer schlage ich vor, dass wir eine Rückschau auf den bis dahin gegangenen Weg halten. Ich bitte Hildegard, für ihre Stimmung vor einem Jahr ein Tuch zu

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wählen. Sie breitet ein schwarzes Tuch über die ganze Bühne (den Tisch). Sie hat ein Bild ihres Bruders dabei. Ich bitte sie, zu benennen, was sie meint, in diesem Jahr geschafft zu haben. Sie wählt ein rotes Tuch und legt es breit über das schwarze. Sie erklärt: »Ich habe nicht mehr alles verdeckt.« Hildegard erläutert das an Beispielen. Dann wählt sie ein grünes Tuch mit den Worten: »Ich habe mich besser kennengelernt«. Sodann nimmt sie eine Kerze mit dem Kommentar: »Ich habe verstanden, warum ich so bin.« Mit einer Rose: »Ich habe meine Schwester besser verstanden«. »Eine Rose«, sagt sie, weil ihre Schwester als junge Frau sehr attraktiv gewesen sei und »die Rose des Rosenweges« genannt wurde. Dann wählt Hildegard ein blaues Tuch, legt es an den äußersten Rand der Bühne, hinter die Grenze: »Ich habe mit Gott streiten können.« Ferner nimmt sie ein gelbes Tuch, legt es teils über die Grenze: »Jesus ist meine Verbindung zu Jodokus«. Und dankend wendet sie sich an den Erzengel Gabriel, an den Tod, den sie Fridolin nennt, an Isabell, die Fee. Sie alle seien starke Seelen, die ihr in der Trauer helfen. Das Ende der Trauerbegleitung ist in Sicht. In einer der letzten Sitzungen erzählt Hildegard einen Traum: Sie fällt plötzlich in einen trüben Fluss, schwimmt mit viel Energie wie von selbst (ohne willentliche Entscheidung), um ihr Leben zu retten. Sie schwimmt am Ufer entlang, eine von ihr nicht überschaubare Strecke. Dann steigt sie am Ufer aus. Lehmboden. Sie steht tropfnass am Land, fühlt sich wie neugeboren und ist froh, dass sie festen Boden wieder unter sich hat. Dieser Traum fand drei Tage nach dem ersten Jahrestag des Todes, nach der letzten Therapiesitzung statt. Hildegard deutet diesen Traum selbst als einen Wunsch, leben zu wollen und leben zu können. Die Protagonistin inszeniert die Bühne auf dem Tisch: ein grünschwarzes, verwaschenes Tuch als Fluss. Für sich vor dem Fall in das Wasser ein schwarzes Tuch, das sie zur Puppe knotet; für sich nach dem Schwimmen durch das Wasser auch ein schwarzes Tuch. Sie positioniert die Puppen. In der Rolle der Puppe vor dem Fall in das Wasser erzählt Hildegard (durch Interviews durch mich gestützt), es sei Samstag, der Tag, an dem nachmittags für sie und den Bruder der Sonntag begonnen habe. Er sei frisch gebadet und angezogen gewesen. Sie

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Trauerbegleitung als schöpferische Begegnung

hätten es sich sonst gemütlich gemacht – jetzt aber nicht. Jetzt liegt sie matt und bodenlos traurig auf dem rutschigen Untergrund am Wasser. Dann fällt sie plötzlich in das Wasser. »Ich denke an Jodokus, aber falle haltlos in das trübe Wasser.« Ich frage als Begleiter, wo ihr Bruder im Bild sei. Sie antwortet spontan: »Am gegenüberliegenden Ufer!« Sie wählt ein weißes Tuch, knotet liebevoll eine Puppe daraus, legt diese an das andere Ufer. Es ist die Stelle gegenüber der, an der sie aus dem Wasser wieder herausgestiegen ist. In der Rolle der Frau, die ins Wasser fällt, sagt sie: »Ich will schwimmen. Das ist keine bewusste Entscheidung. Ich schwimme von selbst. Ich bleibe an dieser Uferseite, schwimme nicht zum anderen Ufer, wo Jodokus sitzt. Jodokus ist getrennt durch den Fluss, aber da. Ich habe die Kraft zum Schwimmen von ihm. Ich habe auch von ihm die Kraft, aus dem Wasser wieder an das Ufer zu gehen.« Als Leiter frage ich sie, ob die Farbe Schwarz für die Frau an diesem Ufer stimme. Sie antwortet mit Nein und wählt ein helles, freundliches blau-violettes Tuch (»Die Farbe edler Damen«, sagt sie schmunzelnd). Ich ermutige sie zu einem inneren Dialog. Das Schwimmen durch das Wasser hat sich gelohnt. Sie spürt wieder festeren Boden unter sich. Der Traum sei wirklich die Anzeige einer Neugeburt. In der Sprache des Psychodramas ist dies die Katharsis, die Reinigung. Für die Protagonistin ist Jodokus die Kraft zu dieser Neugeburt. Er lebt jetzt ganz woanders, was ihr auch immer wieder weh tut; aber er sei da, nicht zum Anfassen, aber kraftgebend da. Ich weise sie auf das Kleid hin, das sie heute trägt. Nach dem Tod des Bruders trägt sie es heute zum ersten Mal – ein buntes Sommerkleid, in dem Grün und Blau-Violett dominieren. »Was für ein Zufall aber!«, rettet sie die Dichte der Katharsis.

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Professionelle Psychotherapie und nichtpsychotherapeutische Begleitung

Das Fallbeispiel beschreibt eine therapeutische Begleitung über ein Jahr hin. Auch jede andere Form der Begleitung ist eine »Therapie«, denn unser eingedeutschter Begriff leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutet »Dienen, Pflege, Behandlung.« Die therapeutische Begleitung hat dies zum Ziel. Wir kennen verschiedene Formen der Begleitungen. Das vorgestellte Beispiel war eine psychotherapeutische Begleitung durch einen dafür professionell ausgebildeten und amtlich zugelassenen Psychotherapeuten. In der Schilderung des Prozesses dieser Frau sind die vielfältigen Methoden der Psychodramatherapie zum Zuge gekommen. Für die Leserschaft dieses Büchleins im Blick auf eigene Begleitungen mag das aufs Erste eher verschrecken, vielleicht aber auch sehr interessiert zur Kenntnis genommen werden und den Wunsch aufkommen lassen, sich in den psychodramatischen Methoden schulen zu lassen. Das ist an entsprechenden Psychodramainstituten möglich. Hier werden Kurse und Seminareinheiten angeboten, die in die psychodramatischen Methoden einführen, ohne gleich das Ziel eines Zertifikats als Psychodramaleiter/-in bzw. Psychodramatherapeut/-in zu verfolgen. Das Mitgehen mit Frau Hildegard durch die Turbulenzen ihres Trauerweges hat diese Methoden in dieser Weise aufnehmen und einsetzen können, weil eine professionelle Psychotherapie erwünscht worden war. Es versteht sich von selbst, dass in einer nichtpsychotherapeutischen Begleitung der Weg zum Ziel sich anders gestaltet. Die Methoden der Psychodramatherapie können aber auch jenseits psychotherapeutischer Arbeit Verwendung in Begleitungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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finden. Sie sind nicht nur Handwerkszeug. Sie tragen ein Verständnis vom Menschen und eine Haltung zum Menschen in seiner seelischen Not in sich. Im Folgenden werden die Methoden des Psychodramas vorgestellt und in Verbindung zu einzelnen Aufgaben der Trauerbegleitung gebracht. Begleitende können ohne den Anspruch einer Psychotherapie bei Bedarf auf einen dieser Zugangswege zum Verständnis trauernder Menschen zurückgreifen. Es dient der Entlastung in der Begleitung, sich nicht mit etwas zu überfordern, wozu eine professionelle Ausbildung gehört. Es ist aber eine Bereicherung der Verstehensmöglichkeiten, zur rechten Zeit etwas aus dem Schatz des psychodramatischen Arbeitens zu nehmen.

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Psychodrama als Methode der Begleitung

Das Psychodrama gehört zur Gruppe der sogenannten humanistischen Therapieformen. Sie dienen dem Menschen, sich nach Möglichkeit in sich selbst und in seinem sozialen Umfeld wieder zurechtzufinden. Das Psychodrama ist von Jacob Levy Moreno, einem österreichischen Arzt, entwickelt worden. In seinem Vorwort zu seinem grundlegenden Werk »Gruppenpsychotherapie und Psychodrama« (1959) benennt Moreno die Motivation seiner Therapieform: »Zweck dieses Buches ist es, Methoden einzuführen, welche die Psychotherapie dem wirklichen Leben näherbringt.« In seinen Ausführungen betont Moreno die Bedeutung der Gruppe in seinem therapeutischen Konzept. Die Gruppe wird hilfreiche Trägerin in individuellen und sozialen Fragestellungen. In der Gruppe liegt ein Potenzial, das im Prozess der Therapie wertvolle, heilende Möglichkeiten eröffnet. Moreno geht davon aus, dass das Problem eines Einzelnen nicht nur individuell, sondern in den sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhängen angesehen werden sollte. »Die Probleme der menschlichen Gesellschaft sowie das Problem des Individuums – die Darstellung menschlicher Beziehungen – Liebe, Ehe, Krankheit und Tod, Krieg und Frieden, die das Bild der Welt im Großen ausmachen, können jetzt in Miniatur dargestellt werden, in einer ›Mikro-Realität‹ innerhalb des Rahmens der Gruppe« (1959/1993, S. 77). In der Zielsetzung unserer Überlegungen zu psychodramatischen Elementen in der Begleitung Trauernder werden wir sowohl auf individuelle Begleitung im Zweierkontakt als auch auf Begleitung im Rahmen einer Gruppe zurückgreifen. Trauerbegleitungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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Psychodrama als Methode der Begleitung

finden vermutlich mehr in individuellen Kontakten als auf Ebene von Gruppen statt. Morenos Blick auf die Gruppe und damit auf die Gesamtzusammenhänge der Welt ist gewiss eine unter psychosozialen Gesichtspunkten sehr reizvolle Betrachtungsweise. Der Umgang mit Verlust und Trauer spiegelt gesellschaftliche Übereinkünfte wider. Dazu gehört auch die Wirklichkeit, dass individuelle Begleitung in unseren Breitengraden bevorzugt ist – mag sein, ein Erweis einer vereinsamenden Individualisierung, aber eine Wirklichkeit, der wir uns mit unserem therapeutischen Handeln stellen. Moreno umschreibt das Psychodrama als »diejenige Methode […], welche die Wahrheit der Seele durch Handeln ergründet. Die Katharsis [Reinigung von seelischen Konflikten; der Verf.], die sie hervorruft, ist daher eine ›Handlungskatharsis‹« (S. 77). Die Begleitung Trauernder will die Möglichkeit des neuen Zugangs zum ur­eigenen Leben aufgreifen – in allem Durchleben der Hindernisse und Abgründe, die mit der Trauer einhergehen. Die Katharsis der Begleitung ist das Lebenkönnen, ist die Ver-Innerung des Verlustes und der schöpferische Neubeginn. Das Leben geht weiter, aber anders.

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Morenos Schöpfer-Gedanke und die Trauer als schöpferischer Prozess

Die Trauer ist eine Aufgabe in das Leben. Sie ist die Ausdrucksform des nötigen Umgangs mit einem Verlust – egal welcher Ursache. Trauer ist da, wo Verluste sind, durch Tod, durch Krankheit, durch Arbeitslosigkeit, durch Trennung, durch Umsiedlung, durch zerbrochene Freundschaft, durch Zurücklassenmüssen materieller Güter, durch Insolvenz – eine große Kette an Trauerursachen ließe sich hier aufziehen. Jeder Verlust ist eine Herausforderung, weiterleben zu können und weiterleben zu wollen. Die als weniger existenziell eingestuften Verluste haben einen leichteren Prozess der Trauer um das Verlorene. Da lässt sich die Angleichung der neuen Wirklichkeit schneller gestalten als bei fundamental-existenziellen Verlusten. Die Spanne zwischen dem ausgelösten Verlust und der Eingliederung des Verlusterlebens in die Persönlichkeit ist ein Prozess. Wir kennen Menschen, die diesen Prozess sehr bewusst und gestaltenwollend angehen. Wir kennen aber auch Menschen, die sich die Kraft und den möglichen Schmerz eines solchen Prozesses nicht zutrauen – bis hin zur Versteinerung des Gemüts. Da bleiben manchmal nur Verstummen, bis ins Körperliche gehende Lähmung oder Erstarrung. Wo die angemessene Trauer keine Bewegung mehr hat, ist sie oft lebensbedrohlich. Da ist es um des Überlebens willen wichtig, einen Raum zu ermöglichen, in dem Zutrauen zu möglicher Bewegung geschaffen werden kann. Moreno ist beseelt von Spontaneität und Kreativität als schöpferischen Kräften des Lebens. Das Psychodrama nutzt Spontaneität und Kreativität, um dieser Neuschöpfung Raum zu öffnen (Moreno, 1959/1993, S. 79). Morenos Menschenbild und Weltverständnis sind © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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die Überzeugung einer je neu zu schaffenden Schöpfung. Leben bleibt immer Neuschöpfung, Leben ist immer Prozess und Entwicklung.1 Jede Generation hat die Kraft und die Möglichkeit einer Neuschöpfung, jede/jeder Einzelne ebenso wie die Gemeinschaft. Die kreativen Kräfte des Kosmos, die Teilhabe an der Schöpfungskraft des Schöpfers sind allen Zeiten gegeben. In der Geburt des Menschen vollzieht sich eine Schöpfung, in der Gestaltung seines Lebens geschieht immer wieder Schöpfung. Sicher ist ein so elementarer Prozess wie die Umwandlung des Lebens durch Verlustund Trauererfahrung auch ein bedeutsamer schöpferischer Prozess. Manchmal ist das empfunden als ein Wandeln auf dem Grat zwischen Tod und Leben, auch in der Spannung des Erlebens, dass es um das Ganze geht. In aller Bedrohungserfahrung der nötigen Neuschöpfung erlebt der Trauernde – oft unbewusst –, dass er sein Leben neu schaffen muss. Für Moreno ist es ein zentrales Moment menschlichen Daseins, dass der Mensch sich als Schöpfer selbst zur Geburt bringt. Unerschütterlich bezeugt Moreno sein Vertrauen, dass der Mensch tatsächlich Fähigkeiten hat, etwas Neues zur Geburt zu bringen. Hierin liegt eine verheißungsvolle, Leben erhaltende Prognose für den Weg eines Trauernden. Oft genug ist es so, dass die Begleitenden diese Perspektive anwaltschaftlich für den Trauernden übernehmen. Gemeint ist das Vertrauen, dass über alle Abgründe des Verlusterlebens hinweg in der Regel sich die Möglichkeit einer neuen Lebensperspektive öffnet. Das wird nichts von der Tiefe des Verlustes nehmen, wird den Verlust aber integrieren lernen in eine neue Zukunft. Im Denksystem des Psychodramas ist dies das Zur-Geburt-Bringen. Der psychodramatische Prozess ist im Sinne des Vertrauens des Begleitenden ein Weg, dieses Neue sich schöpferisch entfalten zu helfen. Das im Psychodrama Tele genannte Ein-

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Diese Ausführungen berufen sich auf eine der ersten Schülerinnen von J. L. Moreno: Mae Shearon, E. (1994): Der Schöpfer. Manuskript des Instituts für Psychodrama Dr. Ella Mae Shearon, Köln.

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fühlungsvermögen in das, was dem Trauernden auf diesem Weg dient. Das bringt der/die Begleitende mit ein. Moreno vertraut darauf, dass die Spontaneität als Schöpfungskraft in jedem Menschen grundsätzlich angelegt ist. Sie kann durch allerlei Einflussnahme gesellschaftlicher Konvention stark eingeschränkt oder gar als abgestorben erlebt sein; sie kann aber – das ist Morenos unerschütterlicher Glaube an die Schöpferkraft – auch wieder belebt und trainiert werden. Die Spontaneität ist auch eine wesentliche Kraft gegen die Angst, die dem Leben keine Kraft mehr zubilligen will. Das ist eine Erfahrung, unter der viele in einer Phase ihrer Trauer besonders leiden. Es ist wie abgeschnitten sein vom Leben, von den eigenen Quellen, wie ausgeliefert sein der Angst, die Leben hindert. Das Wiederentdecken oder Weiterspielen der Spontaneität und Kreativität ist die heilende Kraft, die jedem Menschen mitgegeben ist. Aus der Spontaneität kommt die Kraft neuer Schöpfung, die sich ausspielt in gestaltender Kreativität. Gerade Trauernde kennen die Kettung an die Passivität, kennen die herunterziehende, lähmende Energie, kennen den scheinbaren Verlust vorher durchaus nutzbarer kreativer Fähigkeiten. Ziel der Psychodramatherapie nach Moreno ist es, »die menschliche Spontaneität freizusetzen und gleichzeitig in das gesamte Lebensgefüge des Menschen sinnvoll zu integrieren. […] Wird Spontaneität freigesetzt und gleichzeitig integriert, so bedingt sie Kreativität« (Leutz, 1986, S. 56). In unserer Welt sind wir gewohnt, in bestimmten, ziemlich nach Nutzbarkeit abgewogenen Kategorien unsere Erfahrungen zuzulassen. Da ist alles möglichst vernünftig. Da hat alles möglichst seinen verwertbaren Sinn, selbst wenn es darum geht, Spontaneität und Spiel einzuüben als ein verwertbares Element der noch besseren Verwertbarkeit menschlicher Kraft und Ideen. Menschen, deren Erfahrungen geweiteter sind in phantastischen Träumen, in psychotischen Bildern, in Halluzinationen und anderen Wahnbildern, gelten uns als krankhaft und weniger gesellschaftsfähig. Insofern sie den Betroffenen den Zugang zu selbstverantworteter Nutzung der Realität unsäglich verbauen, sind © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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sie echte Behinderungen, um am gesamtgesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Derlei außerhalb der gängigen Wahrnehmungsnorm stattfindende Erfahrungen sind dabei aber mitnichten wert- und aussagelos. Aus Morenos Praxis sind erstaunliche Erfolge gerade in der Behandlung psychotischer Bilder und Wahrnehmungen zu finden. Dieser Erfolg beruht auf der sehr wertschätzenden Annahme Morenos, dass diese Bilder wichtige, reale, das Leben stützende Erfahrungen sind. Es gilt nicht, sie als Unsinn auszureden, sondern mit ihnen zu arbeiten und ihre Botschaft zu integrieren. Der Trauernde sucht sich in seiner Innenwelt unter anderem mittels pseudohalluzinatorischer Bilder – wie auf einer neuen, nur ihm vertraut scheinenden zweiten Lebensbühne – eine Möglichkeit des Begegnens, des Verbindens, des Vollendens und des Nachholens. Im therapeutischen Konzept des Psychodramas werden die beiden Bühnen nicht isoliert, wird nicht eine Enttarnung der Innenwelt als realitätsfremd angestrebt, sondern eine Integration gesucht. Die nötige Trennung soll vom Protagonisten selbst vollzogen werden, ohne seine Phantasien verleugnen zu müssen. Die Kraft der Innenbilder soll so eingeordnet werden können, dass sie nicht Hinderungsgrund für die Wirklichkeitswahrnehmung sind. Die Katharsis liegt in der Erfahrung des Durchgangsprozesses von der Wahnwelt zur Realität – mit dem Höhepunkt, die reale von der wahnhaften Welt unterscheiden zu können, ohne die innere Welt verteufeln oder abspalten zu müssen. Die Phantasien sind Teil der Innenwelt der Trauernden, ohne das Wirken in der Wirklichkeit zu behindern. Das weitere Leben Trauernder mit derlei Erleben bezeugt die Kraft der Katharsis.

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

Im Folgenden werden Methoden der Psychodramatherapie vorgestellt. Sie werden in Teilen auch Anwendung finden können in einer nichtpsychotherapeutischen Begleitung Trauernder. Die Methoden werden zuerst inhaltlich und praktisch beschrieben. Danach erfolgt ein Blick auf die Trauerbegleitung und die Möglichkeit der Anwendung einer psychodramatischen Methode an einer angemessenen Stelle in der Begleitung.

Die Bühne Jedes Drama, jedes Spiel bedarf einer Bühne. Es kann sein, dass die Bühne ein herausgehobener Ort ist – wie etwa im Theater. Darüber hinaus kann aber jeder Ort zur Bühne werden. Das kann Teil eines Zimmers sein, in der die Begleitungen stattfinden. Möglicherweise ist es nur ein ganz enger Raum innerhalb eines Zimmers. Im Beispiel der Frau Hildegard ist es allein der kleine Tisch, an dem die Treffen der Therapie stattgefunden haben. Zur Bühne wird, was man dazu erklärt. Den Raum der Bühne mit Worten oder Gesten zu markieren ist deswegen wichtig, weil die Bühne einen Sonderraum schafft. Es ist ein Raum des Ausprobierens, der Spontaneität und der Kreativität. Es ist ein Raum des vermeintlich Phantastischen und Surrealen. Das Psychodrama lädt geradezu ein, das Phantastische schöpferisch ins Spiel zu bringen. Wie in der kurzen theoretischen Darlegung zum Psychodrama bereits erwähnt, ist die Rückbindung an die Wirklichkeit unver© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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zichtbar. Daher muss es am Ende einer psychodramatischen Einheit auch möglich sein, die Bühne wieder aufzuheben – so, wie auch die auf der Bühne gespielten Rollen wieder bewusst abzulegen sind. Die Bühne ist fast grenzenlos und erlaubt alles, was sich ausspielen will. Die Bühne bietet diesen Spielraum, um der inneren und äußeren Wirklichkeit des Protagonisten zu dienen. Daher sind also die Einrichtung und die Auflösung einer Bühne von Bedeutung. Die Bühne ist das Fundament, auf dem sich ein schöpferisches Geschehen in Gang bringen kann. Sie kennt keine Begrenzung in dem, was in der Spontaneität des Spiels sich entfaltet. Die Bühne in der Trauerbegleitung Meist beginnen die Zusammentreffen einer Begleitung mit dem Erzählen, was in der Zeit zwischen zwei Sitzungen passiert ist, was sich an inneren und äußeren Bewegungen oder Stagnationen ergeben hat. Oft kristallisiert sich dann ein Thema heraus, an dem die Gruppe oder die beiden – Protagonist und Leiterin – in einer Einzelbegleitung weiterarbeiten möchten. Wenn das Thema gefunden ist und die Vereinbarung besteht, dieses Thema mit psychodramatischen Elementen anzugehen, dann gilt es, durch Worte und/oder Abschreiten oder Anzeigen den Bühnenraum zu markieren. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Die Bühne  

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Der Protagonist erzählt, wie er die Zeit zwischen den beiden Treffen gestaltet hat, wie er mit mancher Selbstüberlistung sich zum Essen gezwungen habe, wie er verzagt durch den Garten gegangen sei und ihm dabei die Energie fehle, das so Notwendige zu tun. Immer wieder stocke er mitten in seinem Tun und es überfalle ihn mit aller Lähmungsmacht der Gedanke: Was soll das alles noch? Nichts macht mehr wirklich Freude. Die strahlenden Farben des Herbstes seien mehr Provokation als Quelle der Genugtuung. Dann zwinge er sich mit der Kraft seines Verstandes, dennoch mit der Pflege des Gartens zu beginnen. »Ich komme mir dann vor wie eine Maschine, die weiterlaufen muss, die aber nicht mehr kann. Besser gesagt: auch nicht mehr will. Aber man kann sich ja auch nicht gehen lassen«, sagt er und fasst sich dabei an den Kopf. Die Begleiterin fragt ihn, ob sie in Gedanken einmal zusammen in den Garten gehen sollten. Der Protagonist willigt ein. Die Begleiterin bittet ihn daraufhin, die Bühne abzustecken. Er möge entweder den Bühnenraum mit der Hand zeigen oder  – was noch besser sei  – zusammen mit ihr den Raum umschreiten.

Formen des Spiels auf der Bühne Die große Bühne Im Psychodrama gibt es das große Spiel, bei dem das Schöpferische sich über einen längeren Verlauf ausspielt. Diese große Bühne hat meist einen therapeutischen Zusammenhang. In der Praxis einer Trauerbegleitung ohne psychodramatische Ausbildung wird sie seltener vorkommen. Ausschnitte aus einer großen Bühne sind auch in Trauerbegleitungen möglich, bei denen eine Psychodramaausbildung des Leiters fehlt. Die in diesem Buch dargestellten Beispiele beschreiben solche Möglichkeiten auch jenseits der Psychodramatherapie.

Das Stegreifspiel Das Stegreifspiel ist eine Bühne, auf der – spontan und oft eher einführend – erwärmend gespielt wird. Ein Stegreifspiel kann aber auch eine ausführliche, sich spontan entwickelnde Aktion sein. Ein © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

Thema wird gegeben und die Akteure spielen sich im Zusammenspiel mit den anderen Spielenden auf der Bühne aus. Hier kommt die Methodenvielfalt des Psychodramas nicht zum Zuge. Nach dem Spiel kann mit dem (auch psychodramatisch) weitergearbeitet werden, was im Stegreifspiel erwärmt worden ist. Die Vignette Die Vignette ist eine kurze Szene, in der etwas spielerisch auf den Punkt gebracht wird. Die Vignette kann ein gutes Instrument der Verdeutlichung eines Sachverhalts sein. Sie dient ebenso wie das Stegreifspiel gern als Hilfe zur Erwärmung. Eine Vignette kann beispielsweise sein, zum Thema »Warten« eine kurze Sequenz »An der Bushaltestelle« spielen zu lassen. Eine Vignette kann auch in Form einer kurzen Körperbewegung oder Körperhaltung sein, mit der man etwas ins Bild bringen will – zum Beispiel »versteinerte Trauer«.

Die Erwärmung Ehe die Bühne betreten werden wird, erfolgt die Erwärmung in die Szene, die gespielt werden soll. Die Bewegung Da das Psychodrama wesentlich von kreativen Räumen lebt, kommt der Erwärmung als Zugang zum Spiel eine besondere Bedeutung zu. Erwärmen meint, etwas lebendig, spürbar, warm werden zu lassen. Erwärmt werden ein Empfinden, ein Raum, eine Person, ein Gegenstand, mit dem anschließend schöpferisch gearbeitet werden wird. Wenn es räumlich möglich ist, beginnt die Erwärmung mit einer Bewegung. Die Leiterin lädt ein, sich in Gang zu setzen, um sich der Bühne und dem darauf zu gestaltenden Thema anzunähern. Dies wird man dem Protagonisten nicht explizit sagen müssen. Für die Leiterin ist es wichtig, die Bewegung und das dann folgende Interview in der Bewegung als Konzept vor Augen zu haben. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Die Bewegung ist körperlich spürbare Annäherung. Sie ermöglicht leichter, auch gedanklich in Bewegung zu kommen. Körperliche wie gedankliche wie – das werden wir später vertiefen – spirituelle Bereitschaft öffnen sich leichter unter Bewegung. Wenn dies durch körperliche Hinderung nicht geht, muss auf Bewegung verzichtet werden. Das Interview zur Erwärmung in die psychodramatische Sequenz ist unerlässlich. Das Interview In der Regel findet das Erwärmen für die Bühne verbal statt. Im Verbalen schwingen aber viele Sinne mit. Das Erwärmen will während des annähernden Gesprächs ein Bild entstehen lassen, das plastisch und emotional präsent ist. Für die Begleitenden ist leicht abzugleichen, ob die Erwärmung geschieht oder nicht. Wenn sie selbst kein plastisches und emotional gefülltes Bild verspüren, ist die Erwärmung noch nicht zustande gekommen. Wenn eine Gruppe dabei ist, muss auch für die Gruppe durch das Interview ein klares Bild entstehen, von dem aus die weitere Aktion möglich sein wird. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

Methodisch ist das Erwärmen zu vergleichen mit einem Maler, der mit jedem Pinselstrich ein gegenständliches Bild entstehen lässt. Das Erwärmen ist das Malen eines Bildes oder das Formen einer Skulptur aus Ton. Das Bild, die Skulptur verdichten sich in der immer feinteiliger werdenden Gestaltung. Technisch bedeutet dies, im Interview möglichst kleinschrittig vorzugehen – vom Groben zum Feineren, vom Allgemeinen zum Konkreten. Die Kunst des Erwärmens besteht in der Abgrenzung zur Deutung. Gerade in therapeutischem Vorgehen oder in Begleitung Geübte sind schnell dazu zu verführen, in Deutungen eines Details einzusteigen. Dann wird das noch gar nicht zu Ende entworfene Bild in der Erwärmung unterbrochen oder gar abgekühlt. Für manche Begleiter liegt da die Versuchung nahe, in ein noch nicht ganz erwärmtes Bild sich selbst kommentierend und bewertend einzugeben. Es bleibt das Ziel eines Erwärmungsvorgangs, nicht zu früh zu enden. Erwärmen will einen Raum öffnen, in dem der Protagonist, die Leiterin und die Gruppe lebendig eintreten können und die schöpferische Weiterentwicklung zum Zuge kommen kann. Sollte der oben beschriebene Witwer seinen Garten erwärmen, in dem er sich nicht mehr behaust fühlt, dann kann es geschehen, dass er anfangs erzählt, wie groß sein Garten ist, wo wir uns die Wege durch den Garten vorzustellen haben, wo wir uns im Verlauf des Interviews gerade im Garten befinden. Vielleicht bleiben wir gerade bei einer Blume stehen, deren Blüte sich entgegenreckt und die eben die Lieblingsblume der Verstorbenen gewesen ist. Und dann seufzt der Mann, dass das doch alles keinen Sinn mehr habe, weil diese Blume keinen Wert mehr habe, weil seine Frau sie nie mehr ansehen könne. Wenn das Ziel nicht das Erwärmen des Gartens wäre, ginge man in der Begleitung jetzt gern auf den Schmerz der Entwertung aller Dinge durch das Fehlen der Frau an seiner Seite ein. Es kann im Verlauf des Prozesses sogar sein, dass dieses Thema zur Sprache kommen wird. Im Prozess des Erwärmens ist aber mit den wenigen Bestandteilen des bisher dargestellten Gartens nicht viel erreicht. Sinn des Erwärmens ist es, einen möglichst plastischen und mit © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Die Erwärmung  

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den Sinnen erfassbaren Raum zu schaffen, in dem die Begegnung mit seiner Frau später möglich sein wird. Das Erwärmen ist ein Hinführer zu dem, was mit ganzem Herzen und ganzem Verstand ins Spiel kommen soll. Wenn in unserem Beispiel der Garten durch das erwärmende Interview eine plastische Gestalt gewonnen hat, wird der Protagonist sowohl den Schmerz begreifen, den der Garten ohne seine Frau nun darstellt; zugleich ist der Garten aber irgendwann vielleicht eine verlässliche Ressource, die – bewusst oder unbewusst – seine Lebensenergie mit nährt. Die Paradoxie in der Gleichzeitigkeit des je Anderen (vgl. Luhmann, 2005) ist eine Realität, mit der die Trauernden immer leben. Was Ursache tiefsten Schmerzes sein kann, kann ebenso Ursache verbundener Dankbarkeit sein, die selbst der Tod nicht aufzulösen vermochte. Das Erwärmen schafft einen Erlebnisraum, in dem diese Paradoxie aushaltbarer ist. Kehren wir zurück zum Beispiel des zu erwärmenden Gartens. Der Protagonist hat die Bühne markiert. Sollte sie begehbar sein, schreiten Protagonist und Begleiterin langsamen Schrittes in der Bühne. Dabei vollzieht sich das Interview, das der Erwärmung dienen will. Das könnte etwa so geschehen: BEGLEITERIN: Wir wollen (wenn in Einzelbegleitung, dann: Ich will …)

Ihren Garten kennenlernen. Können Sie uns bitte annähernd sagen, wie groß wir uns den vorstellen müssen? PROTAGONIST: Unser Garten ist groß. Als wir jung waren, mit unseren fünf Kindern drin, da war das wunderbar. Im Alter haben meine Frau und ich auch immer häufiger gesagt, dass der Garten uns viel zu groß wird. Und jetzt, für mich allein, ist er sowieso viel zu groß. Was soll ich damit?

Die Begleiterin lässt sich im Rahmen des Erwärmens nicht verführen und geht auf die angebotenen Themen von Alter und Begrenzung und Sinnentleerung durch das Alleinsein nicht ein, weil das Bild des Gartens noch gar nicht entstanden ist. Sie greift daher wieder auf, dass sie erst einmal den Garten erwärmen will. Sie behält © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

die benannten Themen im Sinn, erdet aber durch ihre folgende Fragestellung wieder in das Bild der Erwärmung. BEGLEITERIN: Ja, der Garten ist sehr groß und, wie Sie sagen, müh-

sam zu bewirtschaften. Sind Sie doch bitte so nett, mir einmal durch eine Handbewegung zu zeigen, wie groß wir uns diesen Garten vorstellen sollen. PROTAGONIST: (macht eine Bewegung) Sie sehen: sehr groß. Viel zu groß. BEGLEITERIN: Ist der eher rund oder eckig angelegt? PROTAGONIST: Es ist der Garten an einem Reihenhaus. Er ist exakt rechteckig, streckt sich weit hinter dem Haus aus. Früher, als die Kinder noch da waren, hatten wir auch einen großen Nutzgarten dabei. Es war die Zeit, wo man noch nicht so viel hatte. BEGLEITERIN: Dann geht vermutlich ein grader Weg vom Haus aus durch die ganze Länge des Gartens? PROTAGONIST: Ja, so ist es. Ein Weg führt von der Terrasse über die lange Strecke bis zum Nachbargrundstück. BEGLEITERIN: Wie lang etwa ist der Weg? PROTAGONIST: Das sind gut zweihundert Meter. Und in der Breite hat der Garten etwa dreißig Meter. BEGLEITERIN: Müssen wir uns den Weg genau in der Mitte vorstellen? PROTAGONIST: Aber nicht doch. Auf der linken Seite ist nur ein schmales Beet. Da hatte meine Frau in guten Zeiten viele Kräuter. Auf der rechten Seite ist das breit ausladende Beet. BEGLEITERIN: Kräutergarten über die ganze Länge? PROTAGONIST: Nein, nur im Bereich der Küche. Solange wir noch Nutzgarten hatten, war die breite Fläche alleine für das Gemüse da, während der schmale Streifen mit Blumen bepflanzt war. BEGLEITERIN: Stauden oder Sommerblumen? PROTAGONIST: Eine schöne Mischung. Meine Frau kümmerte sich um die Blumen, während ich den Nutzgarten bestellt habe. Später haben wir dann das meiste zu Rasen gemacht. Aber die Blumen auf dem schmalen Streifen, die sind heute noch da. BEGLEITERIN: Von wo aus mögen Sie uns den Garten zeigen?

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Die Erwärmung  

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PROTAGONIST: Man kommt durch die Küchentüre auf die Terrasse. BEGLEITERIN: Bleibt der Weg ebenerdig? PROTAGONIST: Nein, von der Terrasse gehen Stufen in den Garten. BEGLEITERIN: Wie viele? PROTAGONIST: Nur drei. BEGLEITERIN: Links sehen wir den Kräutergarten  – und rechts, auf

dem großen Stück? PROTAGONIST: Da ist entlang der Stufen noch ein kleiner Steingar-

ten. Der überspannt den Höhenunterschied von der Terrasse zum Garten. Ja, da ist jetzt nur Rasen. BEGLEITERIN: Bis ganz ans Ende des Gartens? PROTAGONIST: Zwischendrin, so auf halber Höhe, haben wir Laubbäume gepflanzt. Unseren kleinen Wald. BEGLEITERIN: Mögen Sie uns zu diesem Wald führen? Gehen wir da über den Weg oder den Rasen? PROTAGONIST: Wir gehen über den Weg. BEGLEITERIN: Ist das ein gepflasterter Weg? PROTAGONIST: Ja, das haben wir machen lassen, als wir den Nutzgarten aufgegeben haben. Sie wissen ja, wegen der Kinder, die aus dem Haus waren, und weil uns der Garten zu viel wurde. BEGLEITERIN: Gehen wir über den gepflasterten Weg – buntes Pflaster? PROTAGONIST: Das war mal bunt. Jetzt sind die roten und gelben Steine verblasst. Sind so Betonpflastersteine, die in der Sonne allmählich ausgeblichen sind. BEGLEITERIN: Während wir den Weg zu Ihrem kleinen Wald gehen, mögen Sie uns da Blumen auf der linken Seite zeigen? PROTAGONIST: Ja, jetzt gerade blühen da die Herbstastern. Das sind mindestens ein Meter hohe Stauden. Kleine lila und blaue Knöpfe haben die als Blüten. Das sind so viele, die kippen vor lauter Blütenpracht und wegen der schweren Blüten einfach um. BEGLEITERIN: Wir müssen uns auf dem Weg etwas vorsehen, dass wir die Blumen nicht zertreten? PROTAGONIST: Ja, vorsehen ist gut, aber die Natur ist schon kräftig. Die hält einiges aus.

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

BEGLEITERIN: Sind noch andere Blumen da? PROTAGONIST: Ja, hier diese gelben Großen. Die Namen weiß ich

nicht. Das war Sache meiner Frau. BEGLEITERIN: Am Anfang haben Sie uns von einer so duftenden, gro-

ßen Blüte erzählt. Ist die gerade auch noch da? PROTAGONIST: Ja, das ist eine Rose. Die blüht so dankbar. Im Frühjahr

blüht sie, dann macht sie eine kleine Pause und dann blüht sie im Sommer neu und dann blüht sie jetzt im Herbst noch einmal. BEGLEITERIN: Und Ihre Frau hat die verblühten Blüten immer gleich abgeschnitten, damit neue Blüten kommen konnten. PROTAGONIST: Ich weiß das nicht mehr so genau. Das war ihr Ding. BEGLEITERIN: Und die Rosen sind noch weit weg von Ihrem kleinen Wald? PROTAGONIST: Nein, von unserem kleinen Wald konnten wir sie sehen. Das ist eine Pracht. BEGLEITERIN: Dann sind wir jetzt bei Ihrem kleinen Wald. Gibt es da eine Sitzgelegenheit? PROTAGONIST: Ja, da sind drei gemütliche Sessel … BEGLEITERIN: Wetterfeste, aus Holz oder aus Plastik? PROTAGONIST: Jetzt sind es so geflochtene Plastiksessel. Wenn wir uns da hingesetzt haben, habe ich immer kleine Kissen mitgenommen. Das ist gemütlicher. BEGLEITERIN: Wie müssen wir uns die Farbe der Sessel und die der Kissen vorstellen? PROTAGONIST: Die Sessel sind so anthrazit-violett. Mir fällt da nichts Besseres ein. Die Kissen sind aber ganz bunt. Kein richtiges Muster. BEGLEITERIN: Angenehm weich zu sitzende Kissen? PROTAGONIST: Nicht ganz. Meine Frau mochte es nicht, so weich zu sitzen. BEGLEITERIN: Und an diesem Plätzchen, in Ihrem kleinen Wald, haben Sie gerne gesessen. PROTAGONIST: Ja, aber das geht ja jetzt nicht mehr. BEGLEITERIN: Wenn Sie sich vorstellen, wie das war, oder wenn Sie die Möglichkeit hätten, hier noch einmal mit Ihrer Frau zu sitzen, zu welcher Tageszeit wäre das?

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Die Erwärmung  

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PROTAGONIST: Es geht ja nicht mehr. Aber wenn es ginge, dann wie

immer – am frühen Abend. BEGLEITERIN: So gegen 17 Uhr? PROTAGONIST: Ja. Wir haben uns dann hier hingesetzt. Wir mussten gar nicht viel reden. BEGLEITERIN: Es ist schöne Sonne da, nicht zu heiß, aber noch schön warm? PROTAGONIST: Es ist schön warm. Die Sonne ist da, aber sie brennt nicht mehr so. Wir sitzen auf unseren Stammplätzen. BEGLEITERIN: Wer sitzt wo? PROTAGONIST: Meine Frau saß immer auf dem Sessel an der Längsseite des Tisches. Ich saß immer an der schmalen Seite. BEGLEITERIN: Und es gibt auch etwas zu trinken bei diesen Treffen? PROTAGONIST: Die Kaffeezeit war meist vorbei. Ich habe mich auf ein leckeres Bier gefreut. Meine Frau mochte dann auch eines. BEGLEITERIN: So sitzen Sie beide dann im Schatten Ihres kleinen Wäldchens, haben das Haus im Blick, neben sich die wunderbaren bunten Blumen, den grünen Rasen. Und auf dem Tisch das Glas Bier. Und Sie beide schweigen gut miteinander oder erzählen sich etwas. PROTAGONIST: Genau, so war es.

Soweit die Beschreibung einer Erwärmung in ein Umfeld, das für die Trauerbegleitung eine Bedeutung haben kann. Die Erwärmung schafft einen Raum möglicher Begegnung – im hier skizzierten Beispiel den Raum für eine Begegnung des Protagonisten mit seiner verstorbenen Frau. Die psychodramatische Bühne kann eine solche Begegnung möglich machen. Wann das angezeigt sein kann, ist an anderer Stelle zu erörtern. Die Erwärmung ist dann gelungen, wenn Sie als Begleitende und die Gruppe, die anwesend ist, selbst ein möglichst plastisches Bild des Erwärmten haben. Dabei haben die Zuhörenden (wie der Protagonist selbst) neben einem Bild auch eine emotionale Qualität des Bildes mitbekommen. Der durch die Erwärmung vertraute Raum und die gefühlsbezogene Bedeutung dieses Raumes eröff© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

nen die Möglichkeit einer Bühne. Manchmal ist das Erwärmen an sich schon ein Trost. Es gibt eine Verbindung, die der Tod nicht genommen hat. Es ist die Verbindung aus gemeinsamen Erfahrungen. Im Erwärmen werden diese Erfahrungen zu einer immer noch abrufbaren Wirklichkeit. Diese Erfahrungen sind es oft auch, die die Wiederverbindung mit der/dem Verstorbenen erleichtern. Methodische Hinweise zum Erwärmen

ӹӹ Die Leiterin ist sich bewusst, dass sie durch das Erwärmen dem Protagonisten, sich selbst und einer eventuell anwesenden Gruppe ein möglichst stimmiges, plastisches Bild entwickeln helfen will. ӹӹ Dazu ist ein sehr kleinschrittiges Entwickeln hilfreich. ӹӹ Aus ihrem Verständnis des jeweils schon erwärmten Bildes kann die Begleitende selbst auch Impulse setzen, die weiterführen können. ӹӹ Wenn der Protagonist ihr dann widerspricht, ist das kein Fehler des Erwärmens, sondern ein Hinweis, dass die Begleitende auf anderem Weg weiter erwärmen hilft. ӹӹ Die Begleiterin lässt sich während des Erwärmens nicht wegführen von Themen, die zur späteren Trauerbegleitung gehören werden. Zunächst ist das möglichst greifbare Bild das Ziel der Methode des Erwärmens. ӹӹ Die Begleitende hält daher die Linie des Erwärmens im Kopf. Sie führt den Protagonisten klar und unbeirrt, aber auch nicht vorführend (wie: »Sie sollten doch jetzt noch nicht über Ihren Schmerz sprechen. Wir wollen doch erst Ihren Garten kennenlernen …«) zum Erfahrensraum, der durch das Erwärmen gestaltet wird. ӹӹ Wenn die Begleiterin den Eindruck eines runden Bildes in der Erwärmung hat, kann sie diese Methode beenden und sich einem der anstehenden Themen der Trauer zuwenden.

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Die Rolle  

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In unserem Beispiel erfolgte  – je nach Stand der Begleitung und nach vorgesehener Intervention in der Begleitung – jetzt die Einladung, ob es vorstellbar sei, dass in diesem ihrem kleinen Wäldchen, bei gerade untergehender Sonne, gegen 17:00 bis 17:30 Uhr mit einer Flasche kühlen Biers, sie an der Längsseite, er an der Stirnseite des Tisches, beide den Blick in die Sonne und auf die Terrasse ihres Hauses gelenkt, sie beide miteinander redeten …

Die Rolle Jeder Mensch ist immer in einer Rolle. Die ändert sich ständig, weil die Begebenheiten und die Begegnungen je andere sind. An einem heißen Tag in einem stickigen Zug haben wir eine andere Rolle als wenn wir entspannt an einem schattigen Plätzchen ein kühles Getränk genießen. Wir haben andere Rollen, wenn wir allein unter Menschen sitzen – wie in einem überfüllten Restaurant an einem kleinen Tisch – oder wenn wir mit einer Gruppe von Freunden und

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

Bekannten uns am gleichen Ort befinden. Wir tragen andere Rollen, wenn wir glücklich sind, als wenn wir in Trauer sitzen. Dabei bleiben wir in gesunden Umständen immer ein und derselbe Mensch. Wir sind sehr differenziert Mensch, ureigen und unverwechselbar, aber auch differenziert. Wir begegnen einander auch in Rollen – zwei oder mehrere Menschen in ihrer je eigenen Person, aber in einer der vielen Möglichkeiten der Rollen. Treffen Sie Ihren Arzt im Sprechzimmer, ist es etwas anderes, als wenn Sie ihn als Bekannten in einem Freundeskreis wiedersehen. So sehr wir uns bemühen, möglichst objektiv einander zu begegnen, so ist das im Sinne einer unantastbaren Objektivität gar nicht möglich. Sie sind präsent in einem oder mehreren Ihrer möglichen Persönlichkeits- und Rollenanteilen – ebenso Ihr Gegenüber. Wir nehmen unser Gegenüber daher auch nicht unantastbar objektiv wahr. Wir nehmen einander wahr in dem, was wir auch subjektiv vom anderen wahrnehmen. Manchmal kann das fast ganz objektiv sein. Dann stellen wir zum Beispiel fest, dass jemand eine schwarz umrandete Brille trägt oder ein rosa Kleid anhat. Wenn Sie aber die schwarz umrandete Brille als schick oder zu auffällig qualifizieren, haben Sie das Maß des fast Objektiven schon verlassen. Bei der Beschreibung von Äußerlichkeiten ist der Unterschied noch nicht so entscheidend. Anders kann es werden, wenn jemand Ihnen etwas sagt und Sie es ganz anders auffassen, als Ihr Gegenüber es Ihnen zugesprochen hat. Dieses Phänomen ist uns aus der Gesprächsführung sehr vertraut (Schulz von Thun, 1981). Wir haben es willentlich nicht immer in der Hand, diese Objektivität herzustellen. Der Empfänger macht die Botschaft. Der Empfänger nimmt den jeweiligen Rollenanteil wahr und bewertet ihn. Wir ahnen die Verwirrung, die aus den verschiedenen Rollenanteilen in uns selbst, aus den vielfältigen Rollenanteilen in unserem Gegenüber und aus der Kommunikation zwischen diesen komplexen Rollenanteilen entstehen kann. Die Vielfalt der Rollenanteile in einer Persönlichkeit ist im Sinne des psychodramatischen Denksystems ein großes Geschenk. Vielfalt beinhaltet ein höheres Maß an Kreativität und Spontaneität. Vielfalt hält größere Spiel© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Die Rolle  

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möglichkeiten zu schöpferischem Neuen bereit. Das Psychodrama spielt daher bewusst mit diesen Rollen. Welche Rollenanteile in einer Begleitsequenz gerade gefragt sein werden, kann sich durch die Methode des Erwärmens erhellen. Greifen wir das Beispiel des Protagonisten im kleinen Wäldchen in seinem Garten auf, so hätten wir ihn eingeladen, an diesem Tisch mit seiner Frau, den Blick gen Haus und Sonne, Platz zu nehmen. Auf der Bühne wird das kleine Wäldchen markiert – entweder mit einer Handbewegung oder (was anschaulicher ist) mit Gegenständen wie zum Beispiel Tüchern. Zwei Stühle werden aufgestellt und mit den Zuschreibungen versehen, dass sie die plastikgeflochtenen, anthrazit-violetten Sessel unter dem kleinen Wäldchen sind. Ehe der Protagonist und die Leiterin in die Szene gehen, wird der Protagonist gefragt, ob das Bild so stimmt. Die Leiterin beschreibt dabei, was »so stimmt« bedeutet: »Wir stehen vor dem kleinen Wäldchen in Ihrem Garten. Es ist gegen 17:00  Uhr. Ein warmer Tag. Die Sonne scheint leuchtend, aber sie brennt nicht mehr so. Sie sind mit Ihrer Frau (Name?), wie so gern gewohnt, mit einem kühlen Getränk zu Ihren Stammplätzen gegangen. Zeigen Sie uns bitte, wo jetzt Ihr Sessel ist – und: wo der Sessel ist, auf dem Ihre Frau immer Platz nimmt.«

Der Protagonist zeigt es. Die Begleiterin bittet nun den Protagonisten, auf seinem Sessel Platz zu nehmen. Dann begibt sich die Leiterin auf Augenhöhe mit dem Protagonisten. Wenn Platz ist, wird ein Stuhl neben den Stuhl des Protagonisten gestellt. Wenn kein Platz oder kein Stuhl da ist, hockt sich die Leiterin beziehungsweise Begleiterin neben den Protagonisten – so als stünde da ein Stuhl. Wenn das körperlich nicht leistbar ist, dann setzt sie sich auf den Boden und führt das Interview. Auf keinen Fall spricht sie von oben herab zum Protagonisten. Die Leiterin setzt sich so hin, wie der Protagonist Platz genommen hat. Sie versucht, die Körperhaltung des Protagonisten aufzunehmen. Das dient der eigenen Einfühlung in das, was der Protagonist in der Rolle gleich erzählen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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wird. Die Leiterin schaut dabei in die Richtung, in die der Protagonist schaut. Wenn sie den Eindruck hat, dass der Protagonist Blickkontakt braucht, kann sie diesen aufnehmen, sollte dabei aber die Körperhaltung möglichst gleich zu der des Protagonisten bewahren. Die Leiterin wird merken, dass es ein Unterschied ist, ob sie sich in einer mit dem Protagonisten vergleichbaren Körperhaltung einfindet oder ob sie schräg oder frontal zueinander sitzen. Während einer Sequenz kann sich die Körperhaltung des Protagonisten verändern. Die Begleitende vollzieht diese Änderung mit. Die Nachahmung ihrerseits dient vor allem der Einfühlungsmöglichkeit, auch in wechselnden Stimmungen während eines Interviews. Körperhaltung erzeugt eine Resonanz in einem selbst. Damit nimmt die Leiterin Rollenanteile des Protagonisten wahr und auf. Folgen wir unserem Beispiel weiter nach: Der Protagonist hat die Bühne eingerichtet. Er hat bestimmt, welcher Stuhl im kleinen Wäldchen der seiner Frau und welcher sein eigener ist. Er nimmt Platz auf seinem Stuhl. Die Leiterin nimmt einen eigenen Stuhl. Den stellt sie neben den Stuhl des Protagonisten. Sie nimmt dezent die Körperhaltung des Protagonisten ein. Sie hält einen kurzen Augenblick inne (ohne dass der Eindruck eines Nicht-weiter-wissen-Lochs entsteht) und beginnt dann das Interview. Es dient hier der Erwärmung in die Rolle des Protagonisten. Dieses Interview wird nicht so kleinteilig sein, weil der Protagonist in seiner Vielfältigkeit präsent ist. Er selbst, die anwesende Gruppe und der Leiter sehen ihn. Zu erwärmen ist eine Gefühlslage, aus der heraus dann die in der Begleitung an dieser Stelle sinnvoll angesehene Begegnung mit seiner Frau vorstellbar wird. BEGLEITERIN: Wir sitzen hier in Ihrem Wäldchen. Sie sitzen auf Ihrem

gewohnten Sessel. ( Wenn der Protagonist zum Beispiel seine Hände auf die Lehnen des Sessels gelegt hat, greift die Begleiterin das in der Erwärmung auf.) Sie haben Ihre Hände auf die Sessellehne gelegt. Sie spüren die Rillen des Geflochtenen. Sie schauen zum Süden Ihres Hauses hin. Es ist 17:15 Uhr. Die Sonne

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Die Rolle  

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geht unter. Sie leuchtet wunderbar. Was haben Sie hier im Sessel in Ihrem kleinen Wäldchen an? PROTAGONIST: Am liebsten trage ich eine leichte Hose, dazu ein kurzärmeliges Hemd. BEGLEITERIN: Habe Sie Schuhe an? PROTAGONIST: Nein, über den Rasen laufe ich am liebsten barfuß. BEGLEITERIN: Wohin schauen Sie gerade? PROTAGONIST: Auf unser Haus, auf die Terrasse, auf die Küchentüre. BEGLEITERIN: Sehen Sie da etwas oder suchen Sie da etwas? PROTAGONIST: Ja, ich suche meine Frau. Da kommt sie nie mehr heraus. Hier hält die Begleitende einen kurzen Moment inne, um damit zu bezeugen, dass sie den Schmerz mitbekommen hat, den dieses Niemehr in ihm auslöst. Dann eröffnet sie die Möglichkeit, an dieser Stelle, auf der Bühne, seiner Frau zu begegnen.

Es ist darauf zu achten, an welcher Stelle in einer Gesamtbegleitung eine solche Begegnung sinnvoll ist. Sie sollte nicht eingesetzt werden, weil man gerade gelesen hat, dass das denkbar ist. Es gehört das Gespür dafür, ob eine solche Begegnung möglich und sinnvoll ist. Sie ist mit Schmerz und mit Trost gleichermaßen zu verbinden. In unserem Beispiel nehmen wir jetzt an, dass eine solche Begegnung angemessen und machbar ist. Methodische Hinweise zur Rolle

ӹӹ In jeder Begegnung sind Rollen gegenwärtig. ӹӹ Rollenträger sind Protagonist, Hilfs-Ichs und Leiter. ӹӹ In jedem Psychodrama will die jeweilige Rolle erwärmt werden. Zur Unterstützung der Einfühlung in den Protagonisten nimmt die Leiterin die Haltung ein, die der Protagonist vorgibt. ӹӹ Jede Reflexion eines Spiels muss Raum geben für eine ausführliche Rückmeldung aus der jeweiligen Rolle (siehe dazu Ausführungen zum Thema Rollenfeedback).

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Akteure und Rollenträger in der psychodramatischen Arbeit Das Psychodrama kennt die Rollen des Protagonisten, des HilfsIch, des Antagonisten, des Leiters/der Leiterin und der Gruppe. (Zu den einzelnen Rollenträgern sind ab Seite 59 ausführlichere Angaben zu lesen.) Protagonist ist der, der sich mit seinem Thema zur Hauptperson des Spiels macht. Hilfs-Ichs sind Rollen, die dem Protagonisten bei der schöpferischen Ausgestaltung seines Themas helfen. Antagonisten sind in der Rolle eines Hilfs-Ich bewusste Gegenspieler der Protagonistenrolle. Die Gruppe erlebt die Szene mit, gestaltet sie in verschiedenen Rollen als Hilfs-Ich oder Antagonist mit, gibt am Ende des Spiels Sharing und Rückmeldung zum miterlebten Prozessgeschehen des Spiels. Leiterin ist die Person, die das Spiel begleitet, den Blick auf den Prozess hält, die Rollenträger in Sicherheit unterstützt und die Gruppe mitbedenkt. Methodische Hinweise zu den Akteuren

ӹӹ Die Akteure sind Protagonist, Hilfs-Ich, Antagonist, Gruppe, Leiterin. ӹӹ Jedem dieser Akteure kommt eine mittragende Rolle im Dienst des Protagonisten zu. ӹӹ Die Leiterin trägt die Verantwortung für einen dienlichen Ablauf der Spielszene. ӹӹ Die Leiterin behält alle Akteure mit im Blick – vom Protagonisten bis zur miterlebenden Gruppe. ӹӹ Die Leiterin sitzt auf Augenhöhe, wenn der Protagonist sitzt. Sie steht, wenn er steht. Sie geht, wenn er geht. Sie verschränkt die Arme, wenn er das tut. Sie lässt die Finger sich nervös bewegen, wenn der Protagonist es tut. Bei motorischen Ausdrucksformen nimmt sie diese auf, ohne aber durch eine etwa starke Motorik den Protagonisten zu irritieren. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Der Rollentausch  

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ӹӹ Die Nachahmung ihrerseits dient vor allem ihrer Einfühlungsmöglichkeit. ӹӹ Sie achtet auf Signale, die eine hohe emotionale Bedeutung für den Protagonisten haben. Das kann bedeuten, dass sie einen Moment innehält, wenn er erkennbar Schweres oder Schmerzliches gesagt hat. Ein Moment des Innehaltens ist ein Moment des Respekts vor dem, was der Protagonist zu tragen hat. ӹӹ Das Tele vor allem der Leiterin ist die weite Einfühlung in die Rollen und den Prozess des Spiels.

Der Rollentausch Der Rollentausch als Gestaltungsmittel der Rollenprofilierung Das Psychodrama arbeitet mit den vielfältigen Rollen. Das Psychodrama sucht Begegnung von Menschen aus und in ihren je eigenen

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

Rollen. Der Protagonist steht nie isoliert für sich allein da. Immer ist er in einem Netzwerk von Rollen. Das können interne Rollenanteile sein, das sind aber auch Rollen von Menschen, mit denen der Protagonist zu tun hat. Wir nehmen unser Gegenüber immer in der Wahrnehmung auf, in der wir es sehen. Die Wahrnehmung hat keinen Anspruch auf Objektivität. Es muss objektiv gar nicht so zutreffen, wie es vom Protagonisten erlebt wird. Für das Verständnis von Interaktionen ist es aber wichtig, diese individuell geprägte Wahrnehmung einer Person ins Spiel zu bringen. Es geht um das, was diese Person für wahr hält. Unser Protagonist wird seine Frau zu dieser Stunde und an diesem Ort und mit dem zum Augenblick der Spielszene gültigen Empfinden ganz eigen sehen. Wenn zur gleichen Zeit der Sohn vom Weg durch den Garten auf seine Mutter schaute, ist eine andere Rollenwahrnehmung als die seines Vaters zu erwarten. Und wenn jemand von der Steuerbehörde in diese Szene käme, so hätte er – aus seiner grundlegenden Sicht auf Person und Ereignis – eine andere Wahrnehmung auf diese Person. Diese je in der Person des Betrachtenden liegende Rollenwahrnehmung bestimmt auch die Interaktion und die Kommunikation der beiden miteinander. Die Wahrheit der Person und der Begegnungen darf und muss immer auch auf subjektive Anteile bauen. Im Interview mit unserem Protagonisten werden wir seine Frau kennenlernen – so, wie er sie im Augenblick des Spiels präsent hat. Aus dieser Wahrheit weiß er um seine Frau. Diese Wahrheit meint er, wenn er von seiner Trauer um seine Frau spricht – in diesem Moment, auf dieser konkreten Bühne. Hier ein Beispiel, wie eine Person erwärmt wird und für den Protagonisten und die Gruppe Profil gewinnt. Mit diesem Wissen wird die Bühne zu einem lebendigen, vielleicht auch heilenden Ort. BEGLEITERIN: Sie sitzen auf Ihrem Sessel hier in Ihrem kleinen Wäld-

chen. Links neben Ihnen steht der Sessel Ihrer Frau. Ich möchte Sie bitten, sich auf diesen Sessel zu setzen. Wir möchten Ihre Frau etwas kennenlernen.

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Der Rollentausch  

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Es folgt eine Erwärmung in die Person der Frau. Da sie selbst nicht anwesend und den Teilnehmenden der Sitzung nicht bekannt ist, wird sie ausführlicher erwärmt – solange, bis der Begleiterin und der Gruppe diese Person bildlich greifbar ist. Es liegt an der Klarheit des Erwärmens, dass dies zielstrebig geführt wird, nicht kleinschrittig im Sinne einer versickernden Vielfalt an Informationen, sondern kleinschrittig im Sinne der Gestaltung eines Bildes mittels vieler kleiner, aufeinander aufbauender Punkte. BEGLEITERIN: Mögen Sie uns zeigen, wie Ihre Frau im Sessel sitzt? (Die

Begleiterin nimmt diese Haltung auch ein.) BEGLEITERIN: Welche Kleidung trägt Ihre Frau heute gerade? PROTAGONIST: Sie hat immer Kleider getragen. Heute, wo es so warm

ist, hat sie ein buntes, leichtes Kleid an. BEGLEITERIN: Ein buntes, mit Blumen oder nur mit Farben? PROTAGONIST: Ein buntes, keine Blumen, nur Farben. Ein fröhliches Kleid. BEGLEITERIN: Herr N., wir sitzen jetzt hier, Ihre Frau in ihrem fröhlichen Kleid, in diesem Sessel. Sie beide blicken mit der untergehenden Sonne auf Ihr Haus. Ich bitte Sie, jetzt als Ihre Frau zu sprechen. Wir lernen durch Sie Ihre Frau kennen.

Hier bittet die Begleiterin den Protagonisten, einen Gegenstand in die Hand zu nehmen, zum Beispiel ein Tuch auszuwählen, das ein Zeichen für die Rolle der Frau ist. Rollensymbole helfen, die einzelnen Rollen zu unterscheiden. Sie helfen ebenso, eine einmal angenommene Rolle zeichenbekräftigt wieder aufzulösen und wieder bei sich selbst sein zu können. BEGLEITERIN: Frau N., mögen Sie uns Ihren Vornamen sagen? Wie Ihr

Mann Sie immer angesprochen hat? PROTAGONIST (im Rollentausch in der Rolle seiner Frau): Ich heiße Ida.

Nicht gerade der schönste Name. Ich habe ihn zumindest als kleines Kind schnell schreiben können. Aber mein Hannes hat mich immer »Mäuschen« genannt.

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

BEGLEITERIN: Ein Kosename. Der hat Ihnen gefallen … PROTAGONIST (im Rollentausch als seine Frau): Wenn mein Mann ihn

zu mir sagt, dann ja. Wenn er das aber in der Öffentlichkeit gesagt hat, dann war mir das eher peinlich. Unsere Kinder haben ihn immer wieder ermahnt, dass er mich so nicht vor anderen Menschen nennen sollte. BEGLEITERIN: Aber es ist ein Kosename für Sie. Wir möchten Sie ein wenig kennenlernen, wenn es recht ist: Wie alt sind Sie gerade – mögen Sie uns das sagen, ohne dass wir indiskret erscheinen? PROTAGONIST (im Rollentausch als seine Frau): Aus meinem Alter mache ich keinen Zirkus. Ich bin 78 Jahre alt. BEGLEITERIN: Wenn Sie sich selbst beschreiben sollten: Wie groß sind Sie? PROTAGONIST (im Rollentausch als seine Frau): Ich bin 1,60 jetzt – früher war ich mal einige Zentimeter größer. BEGLEITERIN: Tragen Sie eine Brille? PROTAGONIST (im Rollentausch als seine Frau): Fast mein ganzes Leben lang. BEGLEITERIN: Wenn Sie uns Ihr Gesicht beschreiben sollten, was sagten Sie dann? PROTAGONIST: Meine Frau hatte ein ovales Gesicht. Das konnte ich so schön liebhalten.

Hier verlässt der Protagonist die Rolle seiner Frau. Das wird immer wieder geschehen. Die Begleiterin lässt sich davon nicht irritieren und versucht liebevoll wieder auf die Rolle der Frau zurückzuführen. Es ist hilfreich, in einem kurzen Rückgriff auf die Erwärmungsschritte die Rolle wieder einzufädeln. BEGLEITERIN: Herr N., Sie spielen gerade die Rolle Ihrer Frau. Sie sit-

zen hier im Sessel. Rechts neben Ihnen ist Ihr Mann. Sie haben das fröhlich bunte Kleid an, das Ihr Mann so sehr mag. Sie haben uns bisher erzählt, dass Sie heute etwa 1,60 groß sind und dass Sie im Laufe der Jahre auch an Zentimetern gelassen haben. Wir wollten gerade erfahren, wie wir uns Ihr Gesicht vorzustellen

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Der Rollentausch  

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haben. Ihr Mann hat das so schön gefunden, weil er es so wunderbar in seinen Händen wiegen konnte. PROTAGONIST (im Rollentausch als seine Frau): Ja, das hat er gerne getan. Jetzt, wo wir alt geworden sind, hat er das öfter getan. Wir haben dann gewusst, dass wir uns geliebt haben. BEGLEITERIN: Das klingt nach einem interessanten Gesicht. Da hat sich das Leben auch hineingeschrieben. PROTAGONIST (im Rollentausch als seine Frau): Wenn Sie damit meinen, dass ich Falten im Gesicht habe: Ja, das ist so. Viele Falten, auch einige Sorgenfalten darunter. BEGLEITERIN: Sie schauen gerade mit wachen Augen – welche Farbe haben Ihre Augen, wenn Sie uns das erzählen mögen? PROTAGONIST (im Rollentausch als seine Frau): Ich habe blaue Augen. Stahlblau, haben meine Liebhaber gesagt. Aber das ist viele Jahre her, sehr viele. BEGLEITERIN: Ihre blauen Augen scheinen zu strahlen, so ganz wach und offen in die Welt. PROTAGONIST (im Rollentausch als seine Frau): Da haben Sie recht: Ich bin immer sehr interessiert an allem, was los ist. BEGLEITERIN: Sie lieben die Welt, die Natur, die Blumen, Ihre Familie. PROTAGONIST (im Rollentausch als seine Frau): Das stimmt. Ich liebe die Blumen, das sehen Sie in unserem Garten. Ich liebe das Leben. Ja, ich liebe auch meinen Mann.

Hiernach verlässt der Protagonist wieder seine Rolle. Er ist sichtlich gerührt von dieser Liebeserklärung. Für die Begleiterin und die Gruppe ist ein grobes Bild entstanden von der Frau, um die der Protagonist trauert. Anders als bei der Erwärmung des Gartens treten die Eigenschaften des Menschen auf, mit dem die Begegnung stattfinden soll. Einige Merkmale ihres Äußeren reichen, um mit der eigenen Phantasie ein Bild zu bekommen. Der Rollentausch wird mehr vom Wesen der Person eröffnen. In der Trauerbegleitung geht es um das Wesen des Menschen, der fehlt, dessen Verlust die Selbstverständlichkeit des Lebens infrage gestellt hat. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

Als Begleitende wird es das Ziel sein, dass der Protagonist diese seine in den Tod verlorene Frau wiederfindet. Das Wiederfinden bedeutet nicht, dass der Tod ungeschehen ist. Der Tod ist der Verlust. Das Wiederfinden ist das nach Innennehmen (das Er-Innern; Müller und Schnegg, 2004, S. 153 ff.) des Verlorenen. Daher bleibt der Rollentausch keine Einbahnstraße. Der Rollentausch tauscht immer wieder die Rollen, die in der Begegnung auf der Bühne in Kommunikation getreten sind. Durch den Rollentausch hat der Protagonist seiner Frau Gestalt gegeben. Andere Menschen hätten ihr eine andere Zeichnung ihres Wesens geben können. Für den Protagonisten zählt aber allein das, was er in sich von dieser anderen Rolle (zu dieser aktuellen Zeit, in dieser Situation und emotionalen Verfassung) weiß. Dieses Wissen wird ihm im Rollentausch zurückgegeben. Der Protagonist verlässt die Rolle seiner Frau. Er legt das Rollensymbol ab. Er verlässt den Stuhl, der Symbol für den Sessel im kleinen Wäldchen im Garten des Hauses ist. Er setzt sich auf seinen Stuhl an der Stirnseite des (eventuell nur imaginär auf der Bühne markierten) Tisches. Wenn die Begleitung in einer Gruppe stattfindet, wird der Protagonist nun gebeten, jemanden für die Rolle seiner Frau auszuwählen. Wenn eine Einzelbegleitung stattfindet, übernimmt die Begleiterin diese Funktion des Hilfs-Ich. Das Hilfs-Ich übernimmt das Rollensymbol, damit ersichtlich ist, aus welcher Rolle er/sie spricht. Nach Beendigung der Hilfs-Ich-Sequenz wird das Rollensymbol zur Seite gelegt. Nach Ende der gesamten psychodramatischen Einheit wird die Rolle als Hilfs-Ich bewusst abgelegt und der Rollenträger wieder bewusst in seiner eigenen Person angesprochen. Der Rollentausch als Weg zur Katharsis Im Folgenden interessiert, was der Protagonist erlebt und wie er diese Szene gestaltet. Das Hilfs-Ich tritt in die Szene und steht ganz im Dienst des Protagonisten und seines Spiels. Das Hilfs-Ich spielt die Rolle in der Regel ganz nach den Vorgaben des Protagonisten. Es gibt auch die Möglichkeit, das Hilfs-Ich frei improvisieren zu © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Der Rollentausch  

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lassen. Das zuzulassen oder gar zu erbitten, liegt im Ermessen der Begleiterin. Da das Ziel der Begegnung aber die Er-Innerung, das Aufnehmen der Verstorbenen in das Innere des Protagonisten ist, steht seine Wahrnehmung im Vordergrund. Er ist gehalten, sein Wissen um seine Frau in die Rolle seiner Frau zu geben. Daher werden nun in kurzen Abfolgen jeweils die Rollen getauscht. Das, was gesagt wird, sagt allein der Protagonist. Wie bereits vermerkt: Das Hilfs-Ich steht in seinem Dienst. Es wird den Satz, den der Protagonist in der Rolle seiner Frau spricht, genau so wiederholen. Der Protagonist kann darauf aus seiner eigenen Rolle wieder antworten. Das Hilfs-Ich vollzieht diesen Rollentausch selber mit. Es wird einmal in der Rolle der Frau, dann aber auch in der Rolle des Protagonisten sein. Um der Ablesbarkeit der jeweiligen Rolle willen nehmen die beiden Spieler jeweils das Rollensymbol – nehmen wir einmal für Ida ein farbenfrohes, für Hannes ein grünes Tuch an. Im Rollentausch wird der Protagonist entwickeln, was er in sich weiß, was vielleicht unbewusst ist, was ihm eine Hilfe zur Einsicht, eine Hilfe zur Katharsis werden kann. Die Begleiterin steuert jetzt nur den Ablauf des Rollentausches. Sie bittet das Hilfs-Ich, möglichst genau den Wortlaut zu behalten, damit es in der jeweils zu tragenden Rolle dem Protagonisten diese Worte als Vorlage für den Fortlauf des Gesprächs geben kann. Wenn ein Protagonist in seiner Rolle längere Ausführungen macht, muss die Begleiterin bei Bedarf dem Hilfs-Ich Unterstützung zum Erinnern geben. Hilfreich ist es, in kurzen Sätzen und mit sehr kurzem Tausch der Rollen sich ein Gespräch entwickeln zu lassen. Es geht um die Verlebendigung aus dem und für den Protagonisten. Seine Spontaneität im Spielverlauf wird ihm Hilfe werden können, in seiner Trauer zu leben. Die Begleiterin bittet den Protagonisten, in die Rolle seiner Frau zu gehen, und bittet das Hilfs-Ich, die Rolle des Protagonisten einzunehmen. Zu Anfang – zumal in noch nicht geübten Spielerzusammensetzungen – gibt die Begleiterin technische Hilfestellung, wie der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

Rollentausch abläuft. Sie bittet die beiden, sich die Rollensymbole zu nehmen und sich auf den jeweiligen Stuhl zu setzen. Der Protagonist nimmt für Ida das bunte, das Hilfs-Ich für Hannes das grüne Tuch. Die Begleiterin bittet, diese Tücher immer dann auszutauschen, wenn zwischen ihnen beiden die Rollen getauscht werden. Dem Hilfs-Ich gibt die Begleiterin die Anweisung, möglichst genau auf die Sätze und den Wortlaut zu achten, die vom Protagonisten gesagt werden. Diese Sätze sollen möglichst genau wiedergegeben werden, wenn das Hilfs-Ich aus dieser Rolle spricht. Ebenso sind Körperhaltung und Emotionen der Rollen des Protagonisten vom Hilfs-Ich aufzunehmen, um sie so für den Protagonisten erkennbar als Hilfs-Ich wiedergeben zu können. Im Psychodrama werden die Rollen in der Regel mit Vornamen und geduzt angesprochen. Es ist respektvoll, wenn die Begleiterin vor der ersten Anrede dies sagt: »Im Psychodrama ist es üblich, die Akteure mit Vornamen und mit Du anzureden. Ich vertraue darauf, dass Sie das mittragen können. Nehmen Sie dies bitte nicht als eine Respektlosigkeit.« Die Begleiterin setzt die Szene dann weiter in Gang: BEGLEITERIN: Ida, du sitzt mit deinem Mann hier in eurem Wäldchen.

Ihr könntet gut miteinander schweigen. Du beginnst meist mit dem Gespräch. Sprich nun zu deinem Mann, deinem Hannes hin: PROTAGONIST (als Ida): Ach Hannes, ist das nicht wieder schön hier? BEGLEITERIN: Bitte Rollentausch. HILFS-ICH (als Ida, mit buntem Tuch): Ach, Hannes, ist das nicht wieder schön hier? PROTAGONIST (als Hannes, mit grünem Tuch): Ja, ich liebe das auch sehr, unser Plätzchen hier. BEGLEITERIN: Bitte Rollentausch. Die Begleiterin unterstreicht diese Bitte mit einem Handzeichen. Die beiden Spieler wechseln die Rollensymbole und die Plätze. Das HilfsIch spricht nun als Hannes zu Ida.

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Der Rollentausch  

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HILFS-ICH (als Hannes mit grünem Tuch): Ja, ich liebe das auch sehr,

unser Plätzchen hier. PROTAGONIST (als Ida, mit buntem Tuch): Was für ein Glück, dass wir das haben dürfen. Die Begleiterin kann den Rollentausch durch wortloses Handzeichen erbitten. Die Spieler überreichen sich das Rollensymbol und nehmen die entsprechenden Sitzplätze ein. HILFS-ICH (als Ida): Was für ein Glück, dass wir das haben dürfen. PROTAGONIST (als Hannes): Wir haben im Leben viel Glück gehabt.

Unsere Kinder, das schöne Haus, der wunderbare Garten. Dass der Garten so besonders schön ist, das ist dein Verdienst. BEGLEITERIN: Rollentausch. HILFS-ICH (als Hannes): Wir haben im Leben viel Glück gehabt. Unsere Kinder, das schöne Haus, der wunderbare Garten. Dass der Garten so besonders schön ist, das ist dein Verdienst. BEGLEITERIN: Rollentausch. PROTAGONIST (als Ida): Du weißt doch, das mit den Blumen habe ich sehr gerne getan. Das hat mir richtig Freude gemacht. Ich kann mich daran freuen wie ein Kind. BEGLEITERIN: Rollentausch. HILFS-ICH (als Ida): Du weißt doch, das mit den Blumen habe ich sehr gerne getan. Das hat mir richtig Freude gemacht. Ich kann mich daran freuen wie ein Kind. PROTAGONIST (als Hannes): Ja, das kannst du. Du kannst dich richtig freuen, wie ein Kind, wie ein König. BEGLEITERIN: Rollentausch. HILFS-ICH (als Hannes): Ja, das kannst du. Du kannst dich richtig freuen, wie ein Kind, wie ein König. PROTAGONIST (als Ida): Ja, das kann ich. Das wünschte ich dir auch, dass du dich einfach so freuen kannst. BEGLEITERIN: Rollentausch. HILFS-ICH (als Ida): Ja, das kann ich. Das wünschte ich dir auch, dass du dich einfach so freuen kannst.

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

PROTAGONIST (als Hannes): Du weißt doch, dass ich das nicht kann.

Ich kann das einfach nicht. Das liegt mir nicht. BEGLEITERIN: Rollentausch. HILFS-ICH (als Hannes): Du weißt doch, dass ich das nicht kann. Ich kann das einfach nicht. Das liegt mir nicht. PROTAGONIST (als Ida): Aber du hast ja mich. Da versauern wir nicht so. Prost! (Der Protagonist deutet mit der Hand an, dass Ida nun mit dem kühlen Bier zuprostet.) BEGLEITERIN: Rollentausch. HILFS-ICH (als Ida): Aber du hast ja mich. Da versauern wir nicht so. Prost! (Hilfs-Ich vollzieht die gleiche Bewegung, die der Protagonist als Ida gemacht hat.) BEGLEITERIN: Rollentausch. PROTAGONIST (als Hannes): Ja, so bist du. Wenn ich wieder mal so traurig war, nichts aus mir herausbrachte, ich für meinen Kummer auch keine Worte fand, da hast du mich aufgemuntert. BEGLEITERIN: Rollentausch. HILFS-ICH (als Hannes): Ja, so bist du. Wenn ich wieder mal so traurig war, nichts aus mir herausbrachte, ich für meinen Kummer auch keine Worte fand, da hast du mich aufgemuntert. PROTAGONIST (als Ida): Das habe ich so gemacht. Aber du weißt, dass ich deinen Kummer nie übersehen habe. Manchmal muss man das einfach aushalten. Wir haben das zusammen ausgehalten. War doch gut, dass wir so unterschiedlich gewesen sind. Sonst wären wir ja beide abgesoffen. Nein, ist schon gut, dass wir uns so ergänzt haben. Ich halte zu dir. Ich bin in deinem Kummer dir sehr nahe. Und manchmal muss man dann auch ein Bier trinken, nicht um sich zu besaufen, aber um sich für einen Moment abzulenken. Der Kummerschmerz sticht schon früh genug wieder. Wie gesagt: Wir stehen das gemeinsam durch. Darauf kannst du dich verlassen!

In diesem Rollentausch ist der Protagonist so in der Rolle seiner Frau, dass er hier nicht auf einen kurzen Satz zu bremsen gewesen ist. In diesem Fluss der Worte sind sehr hilfreiche Zusagen seiner © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Der Rollentausch  

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Frau ausgesprochen worden. Daher war es ratsam, diese Sequenz so lange sein zu lassen. Die Begleiterin wird zum Rollentausch auffordern und dabei das Hilfs-Ich dezent fragen, ob alle Gedanken des Protagonisten noch präsent sind. Andernfalls hilft die Begleiterin, die Gedanken wieder in Erinnerung zu rufen. Da kommt es jetzt nicht auf den hundertprozentigen Wortlaut an. Je näher am Wortlaut, umso besser. BEGLEITERIN: Rollentausch. HILFS-ICH (als Ida): Ja, Hannes, ich habe dich immer wieder aufge-

muntert. Du weißt, dass ich dabei deinen Kummer nie übersehen habe. Mir war klar, dass wir da jetzt nichts machen können. Da müssen wir deine traurige Stimmung einfach aushalten. Wir haben das zusammen ausgehalten. War doch gut, dass wir so unterschiedlich gewesen sind. Sonst wären wir vielleicht beide untergegangen. Nein, ist schon gut, dass wir uns so ergänzt haben. Ich halte zu dir. Ich bin in deinem Kummer dir sehr nahe. Und manchmal muss man dann auch einfach ein Bier trinken, um mal auf andere Gedanken zu kommen. Der Kummerschmerz kommt schon früh genug wieder. Wie gesagt: Wir stehen das gemeinsam durch. Darauf kannst du dich verlassen! Ganz bestimmt!

Hier wird die Spielsequenz beendet. Die Zusage seiner Frau ist eine Gewissheit, die im Protagonisten lebt. Die Begleiterin wird dieses innere Wissen des Protagonisten nutzen, um in dieser akuten Kummerstimmung diesen Beistand zu aktivieren. Es ist klar, dass dadurch der Kummerschmerz nicht weg ist. Der Protagonist hat aber durch die Gestaltung der Rolle seiner Frau diese Gewissheit in seinem Inneren aktivieren können. Die kann ihm in der akuten Situation eine Zusage sein. Es gibt in ihm ein Wissen, dass man Kummer überstehen kann. Seine verstorbene Frau könnte ihn dazu ermutigen, diesem Wissen wenigstens für einen Moment zu trauen. Vielleicht kann auch ein Bierchen in Maßen ein Symbol für diese Überbrückung seines Kummers sein. Das ist nicht zu missdeuten, als sei der Alkohol ein Kummerlöser. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

BEGLEITERIN: (nimmt Position seitlich neben dem Protagonisten, in der

Hocke oder auf einem Stuhl) Machen wir hier auf unserer Bühne einen Schnitt. Herr N., haben Sie noch im Ohr, was Ihre Frau Ihnen gesagt hat? PROTAGONIST: Ja. Sie steht zu mir. BEGLEITERIN: Wie hören Sie im Moment diesen Satz: »Sie steht zu mir«? PROTAGONIST : Sie fehlt mir jetzt. Gerade wenn ich dran denke, dass sie mir in meinen depressiven Stimmungen immer wieder auf die Beine geholfen hat. Jetzt ist sie nicht mehr da. Jetzt muss ich das alleine durchstehen. BEGLEITERIN: Ja, Sie müssen es alleine durchstehen. Haben Sie eine Ahnung, was Ihre Frau Ihnen jetzt in diesem Moment sagte? PROTAGONIST: Das weiß ich schon. Sie würde mir sagen: Hannes, es ist schwer, aber zusammen schaffen wir das. BEGLEITERIN: Denken Sie, dass Ihnen das hilft? PROTAGONIST: Ich weiß es nicht. Ich muss noch darüber nachdenken. BEGLEITERIN: Möchten Sie einen Satz Ihrer Frau in Erinnerung behalten, selbst wenn Sie ihn heute noch nicht erfassen können? PROTAGONIST: Hannes, wir schaffen das. Aber ich kann es mir im Moment noch gar nicht vorstellen. BEGLEITERIN: Mögen Sie diesen Satz noch einmal von außen hören? PROTAGONIST: Meinetwegen. Die Begleiterin geht zum Hilfs-Ich, hockt sich auch dort seitlich daneben. BEGLEITERIN: Ida, sag deinem Hannes noch einmal: »Hannes, wir

schaffen das«. HILFS-ICH (als Ida): Hannes, wir schaffen das. Die Begleiterin bittet nach einem kurzen Moment des Schweigens das Hilfs-Ich, diesen Satz noch einmal zu wiederholen. HILFS-ICH: Hannes, wir schaffen das!

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Der Rollentausch  

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Die Begleiterin setzt sich wieder neben den Protagonisten. BEGLEITERIN: Kann Ida Sie gerade erreichen? PROTAGONIST: Ein bisschen. Ich wollte, ich könnte das sicher fest-

halten.

An dieser Stelle wird das Spiel beendet. Die Begleiterin bittet die beiden Spielenden, ihre Rollensymbole wegzulegen und sehr bewusst und klar die Rolle abzustreifen. Das kann auch dadurch geschehen, dass die Spieler – so sie eine andere als die eigene Rolle getragen haben – diese Fremdrolle handlich vom Körper abstreifen und sagen: »Ich bin wieder N. N.« Sinn des Rollentausches Der Protagonist hat eine eigene Szene gestaltet. Jedes Wort, das sein Gegenüber gesprochen hat, hat er selbst formuliert. Damit gestaltet er sein Gegenüber in der Weise, wie er es kennt. Hannes sieht seine Frau Ida so, wie er sie dargestellt hat. Mit diesem Bild seiner Frau konnte er mit ihr ins Gespräch kommen. Es könnte sein, dass seine reale Frau ihre Rolle ganz anders beschrieben hätte. Entscheidend für den Protagonisten ist aber, wie er – vielleicht sehr subjektiv – seine Frau gesehen hat und in der aktuellen Erinnerung auch sieht. Im Laufe des Rollentausches konnte der Protagonist in der Rolle seiner Frau etwas aussprechen, was ihm vielleicht Hilfe in seiner aktuellen Situation sein kann. In unserem Beispiel reagiert der Protagonist zurückhaltend, aber nicht grundsätzlich abweisend. Der Rollentausch ermöglicht ihm, ein inneres Wissen in Szene zu setzen. Dieses innere Wissen kann mehr wert sein als gutes Zureden von Außenstehenden. Der Protagonist kann zurückgreifen auf etwas, was bei ihm selbst vorhanden ist. Irgendwann kann das aufmunternde Wesen seiner Frau eine eigene Kraft werden. Nicht mehr seine Frau muss ihn immer wieder aus dem depressiven Loch holen. Es kann sein, dass ihr Satz: »Wir schaffen das!« ihm ein Ansporn ist – ein Satz, den er in sich selbst weiß. Ein Satz, der ihn in seinem Verlustschmerz auch mit der Verstorbenen verbindet. Wie so oft in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

der Trauer: Es gibt Erinnerungen, Sätze, gemeinsame Erfahrungen, die schmerzen, weil sie nicht wieder erneuert werden können, die aber auch kostbarer Schatz bleiben, weil sie selbst durch den Tod nicht ausgelöscht werden können. Methodische Hinweise zum Rollentausch

ӹӹ Der Rollentausch findet unter verschiedenen Rollen statt. ӹӹ Getauscht wird die je andere Rolle. ӹӹ Jede Rolle trägt ein Rollenkennzeichen (zum Beispiel ein Symbol), das bei jedem Tausch der Rolle mit dem geht, der gerade die entsprechende Rolle innehat. ӹӹ Durch die Rollensymbole wissen die Rollenträger und die miterlebende Gruppe, wer in welcher Rolle gerade handelt und spricht. ӹӹ Der Protagonist füllt die jeweils andere Rolle. ӹӹ Das Erwärmen hilft dem Protagonisten, die je andere Rolle zu entwickeln. ӹӹ Der Rollentausch dient dem Protagonisten dazu, zu seinem eigenen inneren Wissen von der je anderen Rolle zu kommen. ӹӹ Die Gruppe übernimmt die Aufgaben des Hilfs-Ich. ӹӹ Findet die Begleitung im Einzelkontakt statt, übernimmt die Begleiterin diese Hilfs-Ich-Funktion. ӹӹ Das Hilfs-Ich steht im Dienst des Protagonisten und übernimmt im Tausch auch seine Rolle. ӹӹ Das Hilfs-Ich wird durch die Begleiterin in die zu spielende Rolle erwärmt. ӹӹ Das Hilfs-Ich spielt die Rolle so, wie der Protagonist sie formt. ӹӹ Das Hilfs-Ich kann aus eigener Einfühlung improvisieren. Dabei ist es Aufgabe der Begleiterin, diese Improvisation mit im Blick zu halten und gegebenenfalls beim Protagonisten zu erfragen, ob diese Eigenanteile der Hilfs-Ichs zutreffend sind oder nicht. ӹӹ Kurze Sätze sind hilfreich. ӹӹ Kurze Sequenzen des Rollentausches sind hilfreich.

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Die einzelnen Rollenträger und Akteure  

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Die einzelnen Rollenträger und Akteure Der Protagonist Das Wort Protagonist kommt aus dem Griechischen und bedeutet »Erst- beziehungsweise Haupthandelnder«. Die Bühne des Psychodramas wird für ihn eröffnet und durch ihn geprägt. Es geht vordinglich darum, dem Protagonisten einen Raum der Wahrnehmung und Erweiterung seines Themas zu ermöglichen. Bestenfalls steht am Ende des Spiels für den Protagonisten eine Katharsis, reinigende Klarheit, Erkenntnis, Erfahrung.

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Die Leiterin (im nichtprofessionell therapeutischen Kontext: die Begleiterin) Die Leiterin hat die Aufgabe, den Protagonisten durch die Bühne zu führen, seine Impulse aufzunehmen, das methodische Handwerkszeug (im Einzelnen ausgeführt siehe S. 73–102) situationsgerecht einzubringen. Die Leiterin ist Schutz und manchmal auch Ermutigung und Lockung für den Protagonisten. Die Leiterin stellt sich in die Verantwortung für einen sachgerechten und dem Protagonisten angemessenen Spielverlauf. Die Leiterin steht in Verantwortung für den sachgerechten und angemessenen Einsatz der Hilfs-Ich-Rollen. Sie muss im Blick halten, was sich an Interaktion auf der Bühne entwickelt, wieweit das Hilfs-Ich selbst Unterstützung und Schutz braucht. Die Leiterin übernimmt selbst Hilfs-Ich-Funktionen, wenn die Bühne in einer Einzelbegleitung spielt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Die einzelnen Rollenträger und Akteure  

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Die Leiterin hat die Gruppe im Blick, denn die Gruppe ist nicht nur passiv zuschauend, sondern wirkt mit, weil sie im zu sehenden Spiel mit angesprochen ist. Die Leiterin moderiert die Aussprache nach Beendigung des Spiels – im Sharing, Rollenfeedback und in der Prozessanalyse (siehe ausführlichere Darstellung S. 78 ff.). Die Kompetenz einer Leitung wächst mit der Erfahrung. Es ist sehr ratsam, sich selbst nicht zu überschätzen, da die Leitung Verantwortung für das Spiel und die beteiligten Akteure trägt. Im Kontext der nichtprofessionellen therapeutischen Begleitung sind daher kleinere psychodramatische Einheiten sinnvoller. Vielleicht wächst daraus der Wunsch, sich als nichtprofessionelle Begleiterin vertiefend fortzubilden (etwa an entsprechenden Psychodramainstituten). Das Tele Ein wesentliches Haltungselement ist die wachsame Einfühlung in die Personen und das Geschehen. Das Psychodrama nennt diese Haltung und Kraft das Tele. Auch dieses Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet »weit, fern«. Im Psychodrama bezeichnet es die weitgehende Einfühlung in den Protagonisten, in die einzelnen Rollen und in den Prozess des Geschehens. Das Tele ermöglicht das heilsame Mitgehen in der Schöpfung eines Psychodramas. Die Qualität des Tele ist für die Funktion der Leite© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

rin von großer Bedeutung, spielt aber auch für die Gruppe und andere Rollenträger innerhalb der psychodramatischen Arbeit eine gewichtige Rolle. Je klarer das Tele für den Protagonisten und den Prozess ist, umso eingehender wird das Spiel heilsam sein können. Ohne die Eigenschaft des im Psychodrama Tele Genannten kommt keine heilende und begleitende Tätigkeit aus. Die Gruppe Für Moreno ist die Gruppe ein wesentlicher Bestandteil des psychodramatischen Wirkens. In der Gruppe finden sich verschiedene Anteile, die dem Protagonisten zur Hilfe werden können in seiner Suche und Sehnsucht nach Heilung. Die Gruppe übernimmt die Rolle des Hilfs-Ich. Die Gruppe bringt Verstärkungen oder neue Akzente in das Geschehen ein, zum Beispiel durch das Doppeln, durch das Sharing, durch das Rollenfeedback und durch die Beiträge in der Prozessanalyse. Die Gruppe wird so zu einer stärken-

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Die einzelnen Rollenträger und Akteure  

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den oder auch weiter infrage stellenden Größe der psychodramatischen Bühne. Katharsis, Heilungsansätze für den Protagonisten sind nicht nur wohlwollend ummantelnde Zustimmungen, sondern gelegentlich auch Infragestellungen. Beides nämlich kann mittragen, dass schöpferischer Neuanfang möglich wird. Die Gruppe kann viele Impulse der Spontaneität in die Bühne einbringen und so dem Protagonisten wertvolle Stütze sein. Manchmal ist in einer Gruppe nur ein Teilnehmer da, der gern ein ihn bewegendes Thema auf die Bühne bringen will. Dann fällt die Wahl nicht schwer. Es kommt vor, dass mehrere in der Gruppe ein Thema auf die Bühne bringen wollen. Um eine Wahl treffen zu können, finden Interviews mit den Bewerbern statt. Der Leiter geht mit ihnen über die Bühne, lässt genauer erzählen, um welches Thema es gehen wird. Nachdem alle möglichen Protagonisten so der Gruppe vorgestellt worden sind, wird nach der Energie gefragt, die die Gruppe auf die einzelnen Themen bindet. Das geschieht auf dem Weg der soziometrischen Zuordnung. Die Mitglieder der Gruppe stellen sich zu dem, dessen Thema sie in diesem Augenblick am meisten anspricht. Wo die meisten Meldungen sind, wird die Bühne für das Psychodrama eröffnet. Der Leiter hat Sorge zu tragen, dass die ausgeschiedenen möglichen Protagonisten nicht verworfen überbleiben. Die soziometrische Wahl des Protagonisten entspricht dem Wissen, dass die Gruppe nie nur zuschauende ist, sondern im dargestellten Thema meist persönlich mit angesprochen ist. Die Energie für ein Thema bei der Wahl des Protagonisten weist auch darauf hin. Das Hilfs-Ich Wie dieser psychodramatische Begriff vermuten lässt, geht es bei dem Hilfs-Ich um eine Hilfe für das Ich des Protagonisten. Das Psychodrama spielt mit verschiedenen Rollen im Bezugsfeld des Protagonisten und verschiedenen Rollenanteilen im Protagonisten selber. Diese Rollen tragen bestimmte Botschaften, bestimmte Empfindungen, bestimmte Einsichten. Manchmal sind diese Elemente © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

dem Protagonisten nicht bewusst. Im Laufe einer psychodramatischen Arbeit können diese dem Protagonisten innewohnenden Botschaften, Empfindungen und Erfahrungen bewusst werden. Meist dienen sie mehr als dem Bewusstwerden. Diese Erkenntnisse können auch zur Katharsis, zur heilenden Klärung für den Protagonisten beitragen. Das Hilfs-Ich wird durch Personen aus der Gruppe als Rolle übernommen. Wenn die Arbeit in einer Einzelbegleitung geschieht, übernimmt die Leiterin die jeweiligen Funktionen eines Hilfs-Ich. In unserem Beispiel steht das Hilfs-Ich bereit für die Rolle der verstorbenen Frau. Das Hilfs-Ich ist angewiesen auf eine Rollenprägung, die der Protagonist gibt. Da die Funktion dieser Rolle eine Hilfe für das Ich des Protagonisten sein will, kann es zumindest im Anfang keine eigene Rollengestaltung vornehmen. In unserem Beispiel ist die verstorbene Frau schon im Rollentausch des Protagonisten vorgestellt worden. Der Protagonist wählt aus der Gruppe jemanden, der/die die Rolle der verstorbenen Frau als Hilfs-Ich übernehmen kann. Es © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Die einzelnen Rollenträger und Akteure  

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müssen nicht immer Rollen mit dem gleichen Geschlecht besetzt werden; das steht dem Protagonisten frei. Der Protagonist kann aber auch in die Gruppe fragen, ob jemand sich vorstellen kann, die Rolle seiner Frau zu übernehmen. Eine Wahl bedarf immer der Zustimmung der beiden, die miteinander arbeiten werden. Das Hilfs-Ich nimmt ein Rollensymbol, mit dem es die Rolle trägt, die Rolle aber später auch wieder bewusst ablegen kann. Die Begleiterin führt das Hilfs-Ich in die Rolle ein. Das geht auf dem Weg der Erwärmung in die Rolle: BEGLEITERIN: Geht es für dich, diese Rolle zu übernehmen? HILFS-ICH: Ja.

Die Begleiterin erwärmt das Hilfs-Ich für seine Rolle – am besten, indem beide über die Bühne gehen. BEGLEITERIN: Du bist Ida. Dein Mann nennt dich liebevoll »Mäus-

chen«. Deinen Kindern ist das in der Öffentlichkeit peinlich. Du bist heute 1,60 groß. Du hast schmunzelnd gesagt, dass über die Jahre ein paar Zentimeter wieder zurückgegangen sind. Du hast ein interessantes, ovales Gesicht, mit einigen Falten, aber das nimmt dir nichts von deiner Lebenslust.

Die Begleiterin kann hier vorschlagen, mal das Gesicht zu betasten und den Gestus nachzumachen, mit dem der Protagonist ihr Gesicht gern mit beiden Händen umfangen hat. Die Begleiterin vollzieht diese Gesten mit, um sich in der Erwärmung in die HilfsIch-Rolle mit einzufühlen. Das Erwärmen ist dann vollständig, wenn die Rollenträgerin sich in dieser Rolle angekommen sieht. Durch das Mitgehen der Begleiterin wird das abschätzbar. BEGLEITERIN: Du hast so wunderbar wache, stahlblaue Augen. Du

bist voller Interesse an dem, was passiert. Du interessierst dich für die Sachen, die in der Welt passieren. Du liebst die Natur, die

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

Blumen, deine Familie. Mit Stolz schaust du auf den Blumengarten, den du angelegt hast. Manchmal nimmst du eine Blüte in die Hand, riechst dran, bleibst still und staunend stehen. Du staunst, weil das alles so schön sein kann. Du liebst auch deinen Mann. Heute hast du das fröhlich-bunte Kleid an. Du weißt, dass er das sehr mag. Ihr trefft euch an eurem Lieblingsplatz, da im kleinen Wäldchen. Du sitzt da, wo du immer sitzt: an der Längsseite des Tisches. Dein Mann Hannes sitzt wie immer an der Stirnseite des Tisches, dir nahe. Ihr schaut auf die Terrasse. Es ist warm, die Sonne scheint noch. Ihr genießt jetzt auch ein kühles Bier in der Abendsonne.

Das Hilfs-Ich wird zu dem Stuhl auf der Bühne geführt, der vorher durch den Protagonisten als der Sessel seiner Frau benannt worden ist. Das Ziel der weiteren Aktion ist es, die beiden Eheleute ins Gespräch zu bringen. Für den Protagonisten ergibt sich die Gelegenheit, vielleicht (wenn die Zeit für ihn reif ist) etwas mehr von seiner Frau als bleibende Gewissheit nach innen, in seine eigene Person nehmen zu können. Wenn das Hilfs-Ich Platz genommen hat, vergewissert sich die Begleitung, dass die Rolle gefestigt ist. Sie hockt sich seitlich auf Augenhöhe des Hilfs-Ich und sagt: BEGLEITERIN: Du bist jetzt Frau Ida. Dein Mann nennt dich liebevoll

»Mäuschen«. Ihr begegnet euch heute hier. Es ist eine Begegnung nach dem Tod. Dein Mann sitzt wie immer in deiner Nähe.

Die Begleiterin wechselt zum Protagonisten. Auch er hat ein Rollensymbol, zum Beispiel ein Tuch oder einen kleinen Gegenstand. Die Begegnung wird über den Rollentausch erfolgen. Dabei sind die Rollensymbole wichtig, damit man selbst und die Gruppe immer weiß, aus welcher Rolle gerade gesprochen und gespielt wird. Die Begleiterin geht seitlich in die Hocke auf Augenhöhe mit dem Protagonisten und erwärmt kurz die Szene: © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Die einzelnen Rollenträger und Akteure  

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BEGLEITERIN: Auf dem Sessel neben dir sitzt deine Frau. Hannes,

du sitzt in eurem kleinen Wäldchen. Es ist nach 17  Uhr. Deine Frau Ida, die du liebevoll »Mäuschen« nennst, sitzt auf ihrem Sessel neben dir. Es ist ein schöner Sommerabend. Die Sonne geht warm und leuchtend unter. Ihr habt wie immer, wenn es gemütlich sein darf, euer kühles Abendbier vor euch stehen. Wer beginnt zu reden? PROTAGONIST: Meist schweigen wir erst einmal. Wir genießen einfach. Das konnten wir sehr gut. Nach so vielen Jahren des gemeinsamen Lebens muss man nicht mehr so viel sprechen. BEGLEITERIN: Das tut gut zu schweigen.

Im Sinne des Erwärmens in die Situation ist es gut, einen spürbaren Raum des Schweigens zuzulassen, ohne ihn zu überdehnen. Raum des Schweigens und ein Raum als Loch sind unterschiedliche Wahrnehmungen. Es geht um die nachvollziehbare Präsenz des Schweigens. BEGLEITERIN: Und irgendwann fängt jemand von euch an zu spre-

chen. PROTAGONIST: Meist ist es meine Frau. Ida, mein Mäuschen  – aber

das sollte ich in der Öffentlichkeit nicht sagen.

Die Szene entfaltet sich. Hannes und Ida kommen ins Gespräch. Das Hilfs-Ich steht sowohl als Rolle der Ida als auch – im jeweiligen Rollentausch – als Rolle des Hannes zur Verfügung. Das HilfsIch hilft dem Protagonisten in der Klärung seiner Thematik auf der Bühne. Das Hilfs-Ich als Antagonist Die Gegenrolle zum Protagonisten ist der Antagonist. Er tritt als Gegenspieler zum Protagonisten auf. Das kann zuweilen konfrontativ geschehen. Die Rolle des Antagonisten spielt sich nach der Intuition des Spielenden. Wie im Wort enthalten (ant-), geht der Spieler in eine Gegenposition, um damit dem Protagonisten eine © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

klarere Kontur des ihm Eigenen zu schaffen oder ihm eine Erweiterung seiner bisherigen Wahrnehmung zu eröffnen. Der Antagonist als Zwilling Oft sind Trauernde so in sich eingefangen, dass sie sich eine andere Lebensform kaum noch zutrauen. Selbst nach Jahren einer Trauer fällt es schwer, in sich andere als trauernde Lebensanteile für denkbar zu halten. Das scheint dann nicht eine Frage der Trauer allein, sondern eine Blockade der Lebenskräfte, die eigentlich da sind, die aber nicht mehr zum Zuge kommen. Das Psychodrama kennt hier die Übung des Zwillings. Diese Übung findet einen guten Platz, wenn es um die Frage nach einem Leben mit der Trauer, aber ohne den verlorenen Verstorbenen geht. Der Protagonist entwickelt in dieser Übung einen Zwilling für sich. Meist endet diese Übung in der Überraschung, wie anders geartet dieses zweite Ich, der Zwilling ist. Oft gibt dieses Wissen auf der Bühne den Mut, anderen Lebendigkeiten in sich zu trauen und daraus neu ins Leben zu finden. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Die einzelnen Rollenträger und Akteure  

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Ein Trauernder (67  Jahre) hat zeit seines Lebens immer gearbeitet, sehr gern und erfüllend, wie er sagt. Es habe ihn nichts gekostet, dass er nur wenig Urlaub machte und ansonsten pflichtgetreu gewirkt habe. Er habe auch viel in Bewegung setzen können als Beamter einer Finanzbehörde. Dort habe er eine leitende Stelle innegehabt. Er sei nie ohne Interessen gewesen. Er sei gern ins Theater gegangen, meist aber nur, wenn Urlaubszeit gewesen sei. Er spiele selbst ein Instrument  – Klavier. Das habe er nie meisterhaft beherrscht. Für seine und seiner Frau Freude und Entspannung habe es allemal gereicht  … Bis zum plötzlichen Tod seiner Frau  – sie legte sich mit etwas Erkältung ins Bett: »Am Abend war sie einfach tot. Unwiederbringlich tot.« Seitdem finde er nicht in den Tritt. Der Tod sei fünf Jahre her. Sein Alltag habe sich wieder gefangen. Die Freunde sagten, er solle mal etwas unternehmen. Dazu habe er aber keine Idee. Er gehe selten ins Theater. Dazu müsse er sich mit seinem inneren Pflichtbewusstsein drängen, damit er kulturell nicht versauere. Er spiele ab und an Klavier, aber nur wenig. Wenn er spiele, helfe ihm das. Darüber hinaus sei sein Leben eher die Abarbeitung von dem, was alles getan sein muss oder getan sein will.

In diese Situation schlägt der Begleiter die Inszenierung des Zwillings vor. Über die Erwärmung erfahren wir, wo der Protagonist sich mit seinem Zwilling trifft. Die Erwärmung gestaltet den Raum des Zusammentreffens in einer Beschreibung des Ortes, in der Benennung der Jahres- und Uhrzeit, in der Erzählung über die Kleidungsstücke und in der Beschreibung des Äußeren des Zwillings. Die Erwärmung braucht so viel Platz, bis dem Begleiter selbst ein erwärmtes Bild von Ort, Situation und Person vor Augen ist. Wenn der Begleiter ein entsprechendes Bild hat, darf davon ausgegangen werden, dass auch der Protagonist für die Situation und Begegnung erwärmt ist. Die Rolle des Zwillings wird in einem Gespräch entwickelt. Der Begleiter ermutigt durch entsprechende Fragen, das Profil dieses Zwillings immer klarer zu konturieren. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

Der Zwilling in unserem Beispiel entpuppte sich als ein Mann, der mit vierzig aus seinem Beamtenberuf ausgestiegen sei, der ohne eine finanzielle Absicherung sich als Künstler in einer kleinen Hütte in einer Künstlerkolonie niedergelassen habe. Er habe da alte Musikinstrumente nachgebaut und gelernt, darauf zu spielen. Einen Instrumentalunterricht habe er nie genommen. Es habe ihm gereicht, was er für sich selbst spielen konnte. Er hat viele Bekanntschaften gemacht. Das Milieu, in das er durch seine kleine Hütte gekommen war, habe ihn herzlich aufgenommen. Er habe mehrere Liebschaften gehabt, mit einer aber sein Leben geteilt. Mit der lebe er heute noch zusammen. Sie haben drei Kinder, alle seien etwas geworden – was anderes, als er für sie gewollt hätte. Aber das sei ja Sache der Kinder. Sie haben ein gutes, freilassendes Verhältnis zueinander. Und er habe kochen gelernt  – das sei für ihn früher unvorstellbar gewesen. Er koche selbstverständlich nicht nach Rezept. Er gehe in den Garten oder in den kleinen Supermarkt des Türken und kaufe, was gerade da ist. Und daraus mache er etwas. Angeblich schmecke das ganz gut. Manchmal verwende er Gewürze, die andere für unmöglich hielten – wie soll das zusammengehen, meinen die Kocher fahrenen dann. Aber es sei immer eine Freude, wenn das Ausprobierte wirklich schmecke, ungewohnt vielleicht, aber gut. Was er vom Alter denke: Es sei ein Geschenk, dass er sich nicht für »fertig« halten müsse. Er habe riesigen Spaß, immer wieder dazulernen zu können. Ihn interessiere, was die Menschen denken, wie sie fühlen. Er komme an Grenzen, ja, das sei so, aber diese Grenzen engten ihn nicht ein. Ob er über den Tod nachdenke? Ja, das tue er, zwangsläufig. Er kenne Alte in seiner Siedlung, die nicht mehr können. Das Siechen Einzelner berühre und bekümmere ihn sehr. Dann weine er bei denen – es seien Tränen der Verbundenheit und der persönlichen Erschütterung. Womit er denn sein Leben finanziert habe? Dafür habe er Geschichten geschrieben und unter einem Pseudonym herausgegeben. Kinderbücher, die viel Erfolg hatten. Er habe sich nur nie in der Öffentlichkeit zeigen wollen. Es sei ihm um die guten Geschichten gegangen, nicht um seinen Ruhm …

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Die einzelnen Rollenträger und Akteure  

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Der Protagonist erzählte mit wachsender Lebendigkeit, wusste Details auszuschmücken, die bewegend und ermunternd waren. Im Folgenden nimmt ein Gruppenmitglied (oder im Einzelkontakt der Leiter) die Antagonistenrolle des Zwillings ein. Protagonist und Antagonist treffen sich an dem vorher erwärmten Ort und kommen in ein spontanes Gespräch miteinander. Dem Protagonisten war diese Begegnung ein erfrischender Kontakt mit Lebendigkeit, die in ihm selber ist. Im Zwilling hat er Möglichkeiten seines eigenen Lebens offenbart, Möglichkeiten, die bisher ungenutzt waren. In der Rollenrückmeldung benennt der Trauernde, dass er nicht das gleiche Leben seines Zwillings führen müsse. Er habe aber vernommen, dass in ihm Lebendigkeit abrufbar ist, eine Lebendigkeit, die sich nicht nur in der Beachtung der Grenzweisungen eines konformen Lebens finden lasse. Ihm sei bewusst, dass er jetzt nicht mehr aussteigen wolle aus den ihn tragenden Konventionen. Er habe aber beglückend – wie er es nannte – gemerkt, dass er gar nicht tot sein müsse. Wie er es machen wolle, das wisse er im Moment nicht. Er sei nur glücklich, dass diese Versteinerung seines Lebens nicht die einzige seiner Möglichkeiten ist.

In einer weiteren Arbeit der Begleitung könnte dann eine Bühne mit Ausprobieren anderer Lebendigkeiten eröffnet werden. Wenn die Zwillingsübung in einer Gruppe stattgefunden hat, können die anderen Gruppenmitglieder aus dem Miterleben dieser Übung eine freie Improvisation der verschiedenen Hilfs-Ich-Rollen auf die Bühne bringen. Solche Rollen könnten der Zwilling, die Frau, seine Kinder, die Nachbarn, andere Lebenskünstler, die Musikinstrumente sein. Ein freies Stegreifspiel lädt zum lustvollen Ausspiel ein. Dann ist das Spiel an sich für den Protagonisten die Erfahrung und das Ausprobieren dessen, was ihm der Zwilling als Antagonist mit auf den Weg seiner eigenen Lebensorientierung geben kann.

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

Methodische Hinweise zum Hilfs-Ich

ӹӹ Ein Hilfs-Ich wird vom Protagonisten ausgewählt oder – nach Absprache mit ihm – der Gruppe freigestellt, sich je nach Einfühlung für eine solche Rolle zu melden. ӹӹ Es bedarf der gegenseitigen Zustimmung der Rollenübernahme. ӹӹ Das Hilfs-Ich bekommt mit der Rolle ein Rollensymbol, um in der Rolle kenntlich zu sein. ӹӹ Das Hilfs-Ich können konkrete Personen oder auch Gegenstände oder Gefühle sein. ӹӹ Das Hilfs-Ich wird durch den Protagonisten eingeführt. ӹӹ Das Hilfs-Ich folgt im Wesentlichen der Rollenzuschreibung des Protagonisten, hat aber auch die Freiheit, die Rolle je nach Einfühlung selbst zu gestalten. Dazu bedarf es aber immer wieder des Abgleichs, ob die Rollenprägung auch dem entspricht, was der Protagonist mitvollziehen kann. Es ist Aufgabe der psychodramatischen Leitung, diesen Abgleich im Blick zu haben. ӹӹ Der Antagonist tritt als Gegenrolle zum Protagonisten auf. In dieser Funktion ist der Antagonist auch ein Hilfs-Ich für den Protagonisten. ӹӹ Die Hilfs-Ich-Rolle wird nach Anleitung und in Unterstützung der Begleiterin gestaltet. ӹӹ Am Ende der Spielsequenz wird die Rolle sehr bewusst wieder abgelegt.

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Das Doppeln  

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Das Doppeln Das psychodramatische Geschehen kann auf die Erfahrung und Kompetenz derer zurückgreifen, die als Gruppe mitwirken. Die Gruppe ist nie nur zuschauend, sondern Bestandteil der psychodramatischen Sequenz. Die Gruppenmitglieder erleben das Spiel des Protagonisten. Sie gehen mit durch die einzelnen Episoden des Spielverlaufs. Sie sind beteiligt an den einzelnen Rollen, die auf der Bühne sind. Den Gruppenmitgliedern ist es möglich, sich in ein laufendes Spiel einzubringen, ohne die Rolle eines Hilfs-Ich zu haben. Das Psychodrama ermöglicht, dass ein Gruppenmitglied nach Absprache mit der Leiterin (kann auch durch Handzeichen und nickendes Einverständnis der Leiterin geschehen) auf die Bühne kommt, sich hinter den Protagonisten oder ein Hilfs-Ich stellt und wie eine zweite innere Stimme spricht (daher der Begriff des Doppelns). Das Doppeln kann einerseits unterstützen, was die einzelnen Rollen gerade denken oder empfinden mögen. Das Doppeln kann andererseits auch helfen, einen neuen Gedanken in eine Überlegung oder eine Erfahrung zu bringen. In unserem Beispiel hätte ein Gruppenmitglied sich hinter Ida stellen und doppeln können: PROTAGONIST (als Ida): Aber du

hast ja mich. Da versauern wir nicht so. Prost! DOPPEL: Manchmal ist es doch sehr anstrengend, wenn er immer nur die Schwierigkeiten sieht!

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

Die Person, die gedoppelt worden ist, reagiert darauf – sei es zustimmend, sei es zurückweisend. Beide Reaktionen auf das Doppeln helfen weiterzukommen. Nehmen wir an, das Doppel fände Zustimmung, so ist von nun an ein anderer Verlauf der dann folgenden Szene denkbar. Das Doppel bringt den Gedanken der Anstrengung in die Szene. Die war bisher gefüllt mit viel Gleichmut und Verständnis von Seiten der Ida. Wenn der Aspekt der Anstrengung hineinkommt, dann wird diesem Verständnis etwas an die Seite gestellt. Dann wird das bisherige Bild des Protagonisten verändert. Er hat die Rolle der Ida mit Verständnis, Lebenslust und Gelassenheit gefüllt. Das Doppel aus der Gruppe hat im Miterleben der Szene die Resonanz, dass neben diesen harmonischen Empfindungen auch Anstrengung, vielleicht sogar Aggression, mit im Spiel ist. Indem ein Gruppenmitglied als Doppel in die Szene kommt, hat der Protagonist die Chance, auch diesen Aspekt zu empfinden und zu bedenken. Dann könnte die weitere Szene von der Einsicht bestimmt werden, dass er mit seiner Lebensblockade auch anstrengend war. Das ist keine wohltuende Einsicht. Das kann ein bisher gepflegtes Rollen- und Erinnerungsbild ins Wanken bringen. In einer therapeutischen Arbeit könnte diese Erkenntnis dazu genutzt werden, sich den eigenen Möglichkeiten der Lebensbewältigung zu stellen. Gedoppelt werden können alle auf der Bühne wirkenden Akteure. Die Spielregeln gelten wie beim Doppeln des Protagonisten. Wenn das Doppeln zurückgewiesen wird, ist zumindest klar, dass der Protagonist (oder ein Hilfs-Ich) in diesem Moment diese mögliche Bekräftigung oder Einsichtserweiterung nicht annehmen mag. Auch das ist für die Begleiterin ein Hinweis für ihre weitere Begleitung. In der Einzelbegleitung kann die Leiterin als Doppel mitwirken. Dabei kann das Doppeln als Instrument der Intervention genutzt werden.

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Das Spiegeln  

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Methodische Hinweise zum Doppeln

ӹӹ Das Doppeln ist eine Möglichkeit der Mitwirkung eines Mitglieds der Gruppe. ӹӹ Dieses Gruppenmitglied hat eine Einfühlung in das Geschehen auf der Bühne. ӹӹ Diese Einfühlung kann auf die Bühne gebracht werden, indem sich das Gruppenmitglied als Doppel hinter den jeweiligen Rollenträger stellt. ӹӹ Von da aus spricht das Doppel. Es spricht, als wenn es die innere Stimme des Rollenträgers wäre. ӹӹ Das Doppeln wird der Begleiterin durch dezente Meldung aus der Gruppe – etwa durch Handzeichen – signalisiert und durch sie zugelassen. ӹӹ Der Protagonist nimmt die Aussage des Doppelns auf oder weist sie zurück. ӹӹ Das Doppel wird keine eigene Rolle in der Szene. Nach dem Doppeln verlässt es die Bühne wieder. ӹӹ Jede auf der Bühne wirkende Rolle kann gedoppelt werden.

Das Spiegeln Nehmen wir an, der Prozess des Spiels wäre durch die Bemerkung der Anstrengung und der möglichen Aggression auf eine andere als die bisher oben beschriebene Bahn gekommen. Dann wäre denkbar, dass der Protagonist aussteigt aus dem Spiel: PROTAGONIST: Da mache ich jetzt nicht mehr mit. Bin ich jetzt alles

schuld? BEGLEITERIN: Es ist schwer auszuhalten, dass in Ihre Trauer jetzt so

ein Gedanke geworfen worden ist. PROTAGONIST: Schwer auszuhalten ist viel zu sanft. Sie zerstören, was mühsam aufgebaut worden ist. Ich bin mit Ida glücklich gewesen.

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

DOPPEL: Das macht mich ganz unruhig, dass diese Idylle mir zerris-

sen wird. Jetzt bin ich wütend! PROTAGONIST: Das stimmt. DOPPEL: Und es tut mir weh, wenn es für Ida wirklich auch anstren-

gend gewesen ist. PROTAGONIST: Ja, das ist schwer auszuhalten.

Hier kann die Begleiterin den Vorschlag machen, dass sich der Protagonist aus der Szene nimmt und andere Gruppenmitglieder eine Szene improvisieren, in der Ida ihrem Mann sagt, dass sie ihn liebt, dass aber seine Art ihr manchmal auch anstrengend gewesen ist. Der Protagonist muss einer solchen Szene zustimmen. Diese Methode heißt »Spiegeln«, weil der Protagonist eine Szene sich von außen wie in einem Spiegel ansehen kann. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das Spiegeln zu gestalten: •• Die Gruppenmitglieder spielen die Szene ganz. Der Protagonist schaut zu und kann nach dem Spiel seinen Kommentar und seine emotionale Resonanz geben. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Das Spiegeln  

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•• Die Gruppenmitglieder improvisieren nach Kenntnis des bisherigen Spielverlaufs eine Szene. Der Protagonist hat jederzeit das Recht, eine der wirkenden Rollen selbst zu übernehmen. Damit korrigiert er (teils subjektiv gefärbt) die Intuition der im Spiegel spielenden Rollen. Aus einer im Spiegel gestalteten Episode unter Mitwirkung des Protagonisten kann sich eine weitere Sequenz ergeben, die nach den methodischen Regeln eines Psychodramas weitergeführt wird – mit Rollentausch, mit Doppeln, mit jeweiligem Erwärmen. Methodische Hinweise zum Spiegeln

ӹӹ Das Spiegeln kann von der Begleiterin als Intervention in einem Spiel vorgeschlagen werden. ӹӹ Das Spiegeln kommt zum Zuge, wenn etwa eine Situation mit dem Protagonisten zu belastend sein kann. ӹӹ Das Spiegeln kann auch Anwendung finden, wenn der Protagonist sich in einer Sackgasse wähnt und sich für den Fortlauf einer Spielsequenz einen neuen Impuls wünscht. ӹӹ Das Spiegeln wird durch Mitglieder der Gruppe geleistet, die Rollen darin übernehmen. ӹӹ Die Rollen können durch Wahl des Protagonisten bestimmt werden. ӹӹ Wenn der Protagonist keine Wahl trifft, kommen freie Meldungen aus der Gruppe zum Zuge. ӹӹ Das Spiegeln kann eine in sich abgeschlossene Einheit ohne Beteiligung des Protagonisten gestalten. ӹӹ Der Protagonist hat das Recht, in einen Spiegel selbst wieder einzugreifen – sei es, dass er die Intuition der Spieler zurückweist oder ergänzt, sei es, dass er selbst wieder Rollenträger im Spiel wird. Dabei muss er nicht nur seine eigene Rolle übernehmen.

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

Feedback zum Spiel Nach Beendigung der Spielszene steht die Reflexion des Geschehenen an. Es geht nun darum, den Spielverlauf sowie die auf der Bühne präsenten Rollen anzuschauen. Aus dem Spielverlauf und aus den Rollen ergeben sich Einsichten und Erweiterungen in der eigenen Rolle und im sozialen Gefüge: Einsichten, die zur Klärung führen und vielleicht gar zu einer Katharsis, jenem Punkt, von dem aus Veränderungen in Haltung und Handlung möglich sind; Erweiterungen, weil im Durchspielen der eigenen Rollen und im Miterleben der Hilfs-Ichs neue Wahrnehmungen möglich sind, die das bisherige Spektrum des Denkens und Handelns vergrößern.

Das Sharing Sharing meint die Mitteilung dessen, was die Gruppenmitglieder oder – wenn in Einzelbegleitung – die Begleiterin an Erfahrungen mit dem Protagonisten teilt. Es geht hier nicht um Bewertung, nicht um Ratschläge. Zum Beispiel: »Ich teile mit dir, dass ich mich und meine Gefühle nicht richtig ausdrücken kann. Ich will dann was sagen, aber ich krieg nichts heraus. Anschließend ärgere ich mich über mich selbst.« Oder: »Ich teile mit dir das glückliche Gefühl, am Lieblingsplatz im Garten zu sitzen.« Oder: »Ich teile die Leere und die Unfähigkeit, mich an etwas zu freuen.« Das Sharing steht am Anfang der Reflexion des Spiels. Es ist emotionale Teilhabe der Einzelnen. Es steht unter dem Eindruck des gerade zu Ende geführten Spiels. Das Sharing ist für den Protagonisten ein Zeichen der Menschseinssolidarität: Nicht nur er hat diese oder jene Erfahrung oder Begrenzung oder Glückseligkeit. Dieses Wissen kann dem Protagonisten helfen, sich selbst in der Gemeinschaft des Menschseins zu wissen, mag seine eigenen Über-Ich-gesteuerten, oft sich selbst abwertenden Wahrnehmungen relativieren. »Ich bin normal, wenn ich so handle und empfinde« kann eine Vergewisserung durch das Sharing sein. So kann das © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Das Sharing  

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Sharing den trauernden Hannes entlasten, wenn er aus der Gruppe hört, dass jemand diese Wehleidigkeit auch kennt. Es ist das Gefühl, dem er meint nichts entgegensetzen zu können. In der Solidarität von Gruppenmitgliedern kann er sich darin zu trösten wissen. Er kann sich ermutigt wissen, wenn auch andere aus der Gruppe durch ihr Zeugnis zu verstehen geben, dass er nicht der Einzige ist, der nicht souverän mit dem Verlust umzugehen wisse. Die lebendigen Anteile, die auch im Sharing benannt werden, ermutigen, dieser Lebendigkeit auch etwas mehr zuzutrauen. Zudem gibt das Sharing der Gruppe die Möglichkeit, sich als Bestandteil des Spiels zu erkennen. Jede psychodramatische Arbeit in einer Gruppe erweist sich immer auch als eine Arbeit, die stellvertretend für andere Gruppenmitglieder angesehen werden darf. Das Sharing unterstreicht, dass das Spiel auf der Bühne meist Themen und Lösungsstrategien berührt, in denen sich auch Gruppenmitglieder finden können.

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

Methodische Hinweise zum Sharing

ӹӹ Das Sharing ist nötiger Bestandteil der psychodramatischen Arbeit. ӹӹ Es unterstreicht, dass die Gruppe das Geschehen in Solidarität mit dem Protagonisten teilt. ӹӹ Das Sharing findet nach dem Spiel oder nach den Feedbacks statt. ӹӹ Die Begleiterin achtet darauf, dass die Rückmeldungen im Sharing nicht bewerten und keine Lösungsratschläge geben.

Das Rollenfeedback Das Rollenfeedback des Protagonisten In der nachgehenden Betrachtung des Spielverlaufs geht das erste Wort der Rückmeldung an den Protagonisten. Seine spontane Reaktion steht im Eindruck seines Erlebens auf der Bühne. In der Feed-

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Das Rollenfeedback  

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backrunde sitzt der Protagonist neben der Leiterin, die Hilfs-Ichs sitzen im Anschluss daran rechts und links. Auch der Protagonist hat nicht nur seine eigene Rolle gespielt. In unserem Beispiel hat er auch die Rolle seiner Frau Ida getragen. Sein Rollenfeedback gilt den von ihm getragenen Rollen. Hier kann er ein Rollenfeedback geben. Das könnte so aussehen, dass er den Kontrast der Lebensstärke in seiner und der Rolle seiner Frau gespürt hat, dass er sich als Ida viel leichter, lebendiger gefühlt hat, dass er die Solidarität der Ida gespürt hat, dass sie ernst meint, was sie sagt, dass sie seine Wehleidigkeit manchmal schwer erträglich findet, dass aber ihre leichtere Natur darüber hinwegsehen kann. Und dass sie richtig klug sein kann, wenn sie nicht immer seinen Kummer unterstreicht, sondern plötzlich irgendetwas sagen kann, was er gar nicht hören wollte. Das mit dem »Prost« sei ihm in der Rolle als Ida so eingefallen, weil er sein Gejammer nicht mehr hören wollte. Der Protagonist muss lächeln, als er das erzählt. Für einen Moment hat dieses Rollenfeedback ihn aus seiner Traurigkeit genommen. Für die Begleitung ist gut zu wissen, dass es dieses Lächeln auch gibt. Sie wird es nicht vorhalten. Sie wird es bewahren als ein Element, das neben aller sehr nachvollziehbaren Schmerzlichkeit auch da sein kann. Das Rollenfeedback des Hilfs-Ich Das Hilfs-Ich ist am Ende seiner Mitwirkung auf der Bühne regelgerecht aus der Rolle entlassen. Es hat in den beiden übernommenen Rollen auch etwas empfunden. Dieses Miterleben des Hilfs-Ich kann zu einer Erweiterung oder Vertiefung der Wahrnehmung und Erfahrung des Protagonisten beitragen. Daher endet eine Spielsequenz nach Aufheben der Rollen und der Bühne in einem Rollenfeedback der Mitspielenden. In unserem Beispiel gab es nur ein Hilfs-Ich als Mitspielenden. Dieses Hilfs-Ich berichtet, was es in den beiden Rollen erlebt hat. Unser Hilfs-Ich sagt zum Beispiel, dass er sich in der Rolle der Ida sehr lebendig gefühlt hat. Sie weiß, dass sie ihren lieben Hannes immer wieder mal aus dem Loch der Verzagtheit reißen muss. Aber © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

sie selbst hat so viel Lebenskraft. Es macht ihr nichts aus. Sie liebt ihren Hannes, wie er ist. Manchmal muss sie dann einfach was Verrücktes machen. Sie weiß auch, dass das Zuprosten nicht die Lösung ist. Aber sie weiß, dass der Teufelskreis der Trübseligkeit auch mal mit etwas ganz Banalem durchbrochen werden muss. Sie hat ihre Kraft als ein Geschenk der Natur. Sie kennt ihren Hannes nun so viele gemeinsame Jahre. Sie leidet mit ihm, lässt sich aber nicht wegreißen. Sie glaubt, was sie sagt: Wir schaffen das schon. Und sie glaubt auch, dass er allein irgendwann aus dem Loch kommen wird. In der Rolle des Hannes habe er als Hilfs-Ich sich deutlich schwächer gefühlt, verzagt, das sei das richtige Wort. Er habe sich sehr abhängig gefühlt von der Stärke seiner Frau. Darauf habe er sich verlassen. Er habe zwischendrin mal den Eindruck gehabt, dass er mit ihrer Kümmernis die Ida herausgefordert hat. So schlecht ging es ihm da gar nicht. Aber es war so angenehm, sich auf die starke Frau zu stützen. Ob das Hilfs-Ich als Hannes genug Kraft empfunden hätte, diesen Kummer des Todes der Ida zu überstehen, fragt die Begleiterin das Hilfs-Ich. Das Hilfs-Ich antwortet aus dem Rollenempfinden: »Ich glaube schon. Es wird nicht von heute auf morgen gehen. Dagegen wehre ich mich sogar. Aber ich vermute, dass ich auch eine Überlebenskraft habe.« Dann schließt sich noch eine interessante Rollenrückmeldung des Hilfs-Ich an: Als Ida habe er auch ein gutes Maß an Aggression gegen diesen Mann verspürt, der sich so sehr hängen lässt und sich ganz auf die Stärke seiner Frau verlässt. Es sei nicht das durchgehende Gefühl gewesen, aber ein nicht zu verschweigender Anteil. Der Protagonist hört sich das Rollenfeedback der Hilfs-Ichs an. Vielleicht dient diese Rollenwahrnehmung ihm selbst, andere Aspekte in seiner Selbstwahrnehmung für möglich zu halten. Es kann beispielsweise ein Erstaunen sein, dass das Hilfs-Ich ihn auch nicht nur schwach erlebt hat, dass es solide auf eine eigene Kraft des Überlebenkönnens traut. Das hieße ja, dass der Satz »Hannes, du schaffst das!« stimmte. Der Protagonist kann ruhig dazu sagen, dass er das im Moment gar nicht denken kann. Aber vielleicht kann © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Die Prozessanalyse  

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er die Rollenwahrnehmung des Hilfs-Ich als eine denkbare Kraft in ihm annehmen. Diese Rückmeldung von den aggressiven Empfindungen in der Rolle der Ida verwirrt und beschämt den Protagonisten fürs Erste. Dass das auch ein Anteil gewesen sein könnte, hatte er in seiner Selbstbezogenheit nie gedacht. Im Verlauf der späteren Begleitung wird dieser Aspekt, der im ersten Moment schockierte, zu einem Motor werden, beherzter eigene Dinge anzugehen und sich nicht nur zu verstecken hinter der Kraft anderer.

Die Prozessanalyse Die spielerische Einheit ist ihrer eigenen Spontaneität und Logik gefolgt. Daher ist auch der Prozess der psychodramatischen Einheit von Interesse. Er zeigt, in welcher Dynamik zum Beispiel Begeg-

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

nungen geschehen, woher der Anstoß zur Kommunikation kam, wo es Blockaden oder befreiende Durchbrüche gegeben haben mag. Der Blick zurück auf den Spielverlauf ermöglicht eine gewisse Metaperspektive auf das Geschehen. Aus diesem Blickwinkel kann der Protagonist bestimmte Muster seines Verhaltens und Denkens erkennen. Der Blick zurück lässt einem manchmal auch die Augen aufgehen für neue Lebenssituationen. In unserem Beispiel ist die Ehefrau die antreibende Kraft der Kommunikation. Sie ist Trägerin der Lebensfreude. Sie ermutigt, das Schöne schön zu finden und die Wirklichkeit der Bedrängnis nicht auszublenden. Im Rollenspiel des Protagonisten waren die Rollen deutlich fixiert. Aufgabe in seinem Leben wird es sein, nun selbst Initiative zu ergreifen. Seine Frau will ihm da eine verlässliche Stütze sein – so hat der Protagonist es für sich erkannt. Und dass darin auch eine eigene Kraft geweckt ist, hat der unverhofft ins Blickfeld gebrachte aggressive Anteil bewirkt. Es kann sein, dass er dieser Einsicht wohl zustimmt, sich selbst aber gar nicht vorstellen kann, je das Muster aus ihrer Ehebeziehung umgestalten zu können. Das einzelne Psychodrama ist nicht die fertige Lösung. Es ist ein Schritt auf einem Weg, wie jeder Trauerweg eine vielschrittige Entwicklung ist. Methodische Hinweise zu Rollenfeedback und Prozessanalyse

ӹӹ Nach jeder Spielsequenz berichten Protagonist und Hilfs-IchRollen ihr Rollenerleben. ӹӹ Der Protagonist und die Hilfs-Ichs sitzen in der Runde neben der Begleiterin. ӹӹ Die Begleiterin strukturiert diese Rollenrückmeldung, kann durch gezieltes Nachfragen eventuell die Rollenerfahrung noch präzisieren helfen. ӹӹ Zum Rollenfeedback gibt es keine Diskussion. Es ist eine subjektive Erfahrung, die mitgeteilt wird. ӹӹ Die Prozessanalyse der ganzen Gruppe reflektiert das prozesshafte Geschehen auf der Bühne. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Die Surplus Reality  

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ӹӹ Die Prozessanalyse ermöglicht eine Perspektive aus dem Abstand und aus dem Überblick. ӹӹ Die Prozessanalyse gibt Aufschluss über mögliche Heilungswege, die der Verlauf des Spiels eröffnet hat. ӹӹ Die Prozessanalyse kann Hinweise geben auf Blockaden, Einsichten, Veränderungen für die weitere Lebensgestaltung des Protagonisten.

Die Surplus Reality Mit diesem methodischen Mittel werden Räume eröffnet, die in der Realität nicht zugängig sind. Das Surplus charakterisiert, dass es einen Raum jenseits der gerade greifbaren Wirklichkeit gibt. Für manche sind solche Räume Irrsinn, Wahn, Persönlichkeitsstörung, Paranoia und Halluzinationen. Damit verbinden wir in der Regel unheilvolle Wirklichkeitsverzerrungen, die möglichst verhindert werden sollten.

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

Doch wissen wir, dass manchmal die Wirklichkeit uns begrenzend abschnürt. Das ist da möglich, wo ein Ereignis unser Leben so überfordert, dass wir den Rahmen dessen, was man »normal« nennt, sprengen müssen. Diese Entrückung in andere Wirklichkeiten kann zu einer psychiatrischen Erkrankung führen. Dann ist psychiatrische und psychotherapeutische Hilfe notwendig. Moreno vereinte in seiner Person die psychiatrische und psychotherapeutische Kompetenz. Er erschrak nicht vor der Verrückung der Wirklichkeit in erweiterte Räume. Er nutzte diese Räume und gestaltete sie zur Bühne. Die Bühne lässt eine Wirklichkeit zu, die jenseits der durch gesellschaftliche Konvention festgelegten Wirklichkeit ist. Das Ausweichen in das Anders-Wirkliche In der Trauer ist es schon einmal so, dass der Druck des Verlustes so gewaltig ist, dass er – wie ein Geist aus der zu engen Flasche – sich in erweiterte Räume flüchten muss. Da kann die vermeintliche Scheinwelt des Irrealen die Unbegreiflichkeit eines Verlustes in den Tod entlasten. Wir kennen in der Trauerbegleitung das Phänomen, dass Trauernde sagen, dass sie ganz sicher ihre Verstorbene gesehen haben. Das kann am Frühstückstisch sein. Das kann mitten im Gemenge einer Großstadt sein. Das kann der nächtliche Besuch sein, dann, wenn alles ruhig ist und niemand mehr stören kann. Vielen Trauernden wird zugemutet, dass sie diese Illusion doch aufgeben sollten. Das sei wirklich nicht so, wie sie es erzählen. Man müsse nur auf den Friedhof gehen, da sei die bittere Wirklichkeit des endgültigen Todes offensichtlich. Also habe er seine Frau nicht am Frühstückstisch sitzen sehen können, habe sie auch nicht in der Stadt erkannt haben können und habe auch in der Nacht nicht mit ihr sprechen können. Trauernde werden abschätzen, wem sie solche für sie realen Erfahrungen noch mitteilen können. Denn die Zurückweisung mit dem Argument der objektiven Wirklichkeit macht stumm. Für Begleitende ist es oft schwer auszuhalten, dem Trauernden seine Anders-Wirklichkeit zu lassen. Das bedeutet, darauf zu ver© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Die Surplus Reality  

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zichten, die uns alle sichtbare Realität einzufordern. Nicht selten beginnen Trauernde selbst daran zu zweifeln, ob sie nicht schon verrückt geworden seien. Grundsätzlich ist Trauer aber keine psychiatrische Erkrankung. Ihr ist ein breites Spektrum als völlig normal und für die Verlusterfahrung angemessene Weite zuzubilligen. Es gehört dennoch immer zur Verantwortung Begleitender, das Umkippen in eine Erkrankung mit im Blick zu haben. Für diesen Fall gibt es die Möglichkeit fachkundiger Hilfe. In der Trauer ist mit dem Raum des Anders-Wirklichen zu rechnen. Es ist hilfreich, wenn die Begleitenden nicht in panische Aktion verfallen und alle Energie aufbringen, dem Trauernden die vermeintlich wirkliche Wirklichkeit einzusprechen. Das Umfeld eines Trauernden ist meist noch hilfloser. Zunächst versuchen sie, auf den Trauernden mit diesen verrückten Bildern möglichst wohlwollend einzugehen, mit etwas einfühlsamem Mitleid, dann aber doch die Bitte anschließend, der Trauernde möge sich – wenn auch sanft – auf die »wirkliche« Wirklichkeit führen lassen. Sollte der Trauernde dennoch auf seiner Anders-Wirklichkeit bestehen, dann verlieren manche Umstehende ihre Geduld und fordern wegweisend, der Trauernde müsse sich mit der Wirklichkeit auseinandersetzen, wie sie nun mal ist. Wenn schließlich der Trauernde auf diese Begegnungen mit der Toten beharrt, dann schwindet irgendwann die Geduld vieler Mitmenschen. Das kann soweit gehen, dass sie streng verordnen, diesem Anders-Wirklichen keine Zeit mehr widmen zu dürfen: »Geh auf den Friedhof, da muss dir doch klar sein, was Sache ist …!« Es wird dem Trauernden gerechter, mit dem Anders-Wirklichen zu rechnen. Das ist für Begleitende manchmal schwer auszuhalten, weil sie sich selbst nur in der Wirklichkeit bewegen, die alle sehen. Wenn die Bereitschaft besteht, sich diesem Anders-Wirklichen zu widmen, dann mangelt es an methodischen Möglichkeiten. Das Psychodrama kennt den Raum des Anders-Wirklichen, den Raum dessen, was der Trauernde ja wirklich erlebt. Unaufgeregt und ohne Bewertung geht das Psychodrama davon aus, dass dieses © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

Anders-Wirkliche eine unbezweifelbare Wirklichkeit des Protagonisten ist. Aufgabe der Begleitenden ist es, diesem Anders-Wirklichen im wahrsten Sinne die Bühne zu öffnen. Dabei wird die Begleiterin im Blick haben, dass das Ziel dieses Eintauchens in die Anders-Welt nicht sein will, sich dort einzunisten. In der Regel hat die Anders-Welt eine Botschaft, die dem Leben in der sichtbaren Wirklichkeit hilft. Das Psychodrama lädt ein, diesem Anders-Wirklichen die Chance zu geben, dem Leben in der von allen anderen auch wahrgenommenen Welt zu dienen.2 Die Bühne öffnet sich für ein Ereignis, das aus der Anders-Wirklichkeit bestimmt wird. Eine Trauernde berichtet, dass sie ihren verstorbenen Mann in der Stadt gesehen habe. Sie sei in einem Kaufhaus gewesen, habe gerade ein schwarzes Kleid anprobiert, als sie aus dem Fenster schauend ganz sicher ihren Mann unten auf der Straße hat gehen sehen. Sie habe zum Erstaunen und gewiss auch Missmut der Verkäuferin fluchtartig die Anprobe verlassen und sei mit der ihr möglichen Geschwindigkeit auf die Straße gelaufen, um ihrem Mann dort nachzueilen. Sie habe dann im Gewühl ihn nicht mehr ausfindig machen können. Daraufhin sei sie völlig erschöpft auf eine Bank in der Nähe gefallen und habe hemmungslos geweint. Erst als Menschen sie darauf ansprachen, habe sie sich geschämt und sei weitergegangen. Sie endet ihren Bericht: Sie werden es mir nicht glauben, aber ich habe ihn wirklich gesehen. Ich bin doch nicht verrückt. Oder?

Der Begleiter lädt die Trauernde zur Bühne ein. Er geht mit der Protagonistin über die Bühne. Er fragt, an welchem Ort ihres Berichts wir die Bühne beginnen sollen. Es erfolgt die Erwärmung in die Szene. Die nach gängiger Auffassung Nicht-Wirklichkeit wird zur greifbaren Wirklichkeit auf der Surplus-Bühne.

2 Von Moreno ist eine eindrückliche Arbeit der heilenden Behandlung einer Paranoia beschrieben (Moreno 1959/1993, S. 290 ff.).

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Die Surplus Reality  

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BEGLEITER: Wir werden gleich im Kaufhaus N. sein. Lassen Sie uns

bitte wissen, welche Uhrzeit es ist, welche Witterung. PROTAGONISTIN: Es ist gegen 14 Uhr. Helle Sonne draußen, ein an sich schöner Herbstnachmittag. BEGLEITER: Hatten Sie einen erträglichen Vormittag? PROTAGONISTIN: Es hat alles gut angefangen. Dann bin ich, wie jeden Tag, auf den Friedhof gegangen. BEGLEITER: Wann sind Sie dorthin gegangen? PROTAGONISTIN: So gegen zehn, wie jeden Tag. BEGLEITER: Mögen Sie uns sagen, wie Sie gekleidet sind? PROTAGONISTIN: Schwarz. Seit seinem Tod trage ich nur schwarz. Früher habe ich gerne bunt getragen. Ich werde nie mehr bunt tragen. BEGLEITER: Sie stehen auf dem Friedhof, vor seinem Grab. Sind Sie alleine da? PROTAGONISTIN: Ja. BEGLEITER: Wie sollen wir uns das Grab Ihres Mannes vorstellen? PROTAGONISTIN: Es ist noch ein Hügel drauf. Das muss ja absacken. BEGLEITER: Haben Sie den Hügel bepflanzt? PROTAGONISTIN: Ja, es sind bunte Blumen darauf. Daran hätte er sich sicher gefreut. BEGLEITER: Mögen Sie uns zeigen, wie Sie da gestanden haben? PROTAGONISTIN: Auf meinen Beinen, etwas krumm, das eine Bein etwas angewinkelt. Ich gucke ratlos. Was soll ich noch? Ich sag dann auch: Michael, hol mich doch. Aber ich weiß, dass er das nicht tut. BEGLEITER: Können Sie uns mit einem Satz sagen, wie Sie vom Grab weggegangen sind? PROTAGONISTIN: Schwer. Was soll ich sagen: Ich will nicht mehr. Ich kann auch nicht mehr! BEGLEITER: Das war an dem Vormittag. Um 14  Uhr etwa sind Sie im Kaufhaus gewesen. Auf welcher Etage? PROTAGONISTIN: Es ist die zweite Etage. Da gibt es Kleider für mich. BEGLEITER: Ist es hell auf der Etage? PROTAGONISTIN: Ich weiß es nicht mehr so genau. Es ist halt, wie es in Kaufhäusern ist. Künstliches Licht und etwas schwere Luft.

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

BEGLEITER: Sie sind zielstrebig auf diese Etage gegangen – mit Roll-

treppe oder Aufzug gefahren? PROTAGONISTIN: Ich habe den Aufzug genommen. Ich war gleich da. BEGLEITER: Sie wussten, was Sie wollten. PROTAGONISTIN: Ja, ein schwarzes Kleid. Ein Doppel meldet sich und kann auf die Bühne kommen. DOPPEL: Nie wieder werde ich ein buntes Kleid tragen. Ich bin so

erschöpft. Am liebsten wäre ich tot. Die Protagonistin nickt zustimmend. Das Doppel verlässt die Bühne. BEGLEITER: Es ist sehr mühsam. Sie haben dann ein Kleid gefunden –

nach langer Suche? PROTAGONISTIN: Ich kann mich immer schwer entscheiden. Ich habe

da rumgewühlt und habe an nichts Interesse gehabt. BEGLEITER: Dann haben Sie irgendwann  – wie lange hat es gedauert? – ein Kleid gefunden. PROTAGONISTIN: Ich kann gar nicht sagen, wie lange es gedauert hat. Ich habe da kein Zeitgefühl mehr. Vielleicht eine Viertelstunde. Ist aber auch egal. BEGLEITER: Dann haben Sie das Kleid mit in die Kabine genommen. Da war ein großes Fenster? PROTAGONISTIN: Ja, da war Tageslicht. Und während ich mein Kleid, das ich anhatte, aufmachen wollte, da habe ich ihn gesehen. BEGLEITER: Wählen Sie bitte jemanden aus der Gruppe aus, der die Rolle Ihres Mannes nehmen kann. Aus der Gruppe wird jemand als Hilfs-Ich ausgewählt. Durch Rollentausch erfahren wir, dass Michael mit 72  Jahren gestorben ist, an einem akuten Herzversagen. Er war sportlich, sah für sein Alter blendend aus, hatte noch viel vor und ist völlig unerwartet von einer auf die nächste Sekunde gestorben. Er liebte das Leben. Er war interessiert, nahm Anteil am kulturellen und sportlichen Leben,

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Die Surplus Reality  

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war beliebt in einem großen Freundeskreis. Und dass es eine riesige Beerdigung gewesen sei. Die Szene wird im Rollentausch mit einem Hilfs-Ich gestaltet: BEGLEITER (zur Protagonistin): Gertud, du bist aus der Umkleide des

Kaufhauses gerannt. Du bist außer Atem, trittst auf die Straße und suchst nach Michael, deinem so plötzlich verstorbenen Mann. Wie weit weg müssen wir uns Michael vorstellen? Die Protagonistin zeigt die Entfernung. Das Hilfs-Ich stellt sich dort hin. Der Begleiter bittet um Rollentausch. Die Protagonistin ist jetzt in der Rolle von Michael. BEGLEITER (zur Protagonistin als Michael): Michael, du bist auf der

Straße vor dem Kaufhaus. Es sind sehr viele Menschen unterwegs. Deine Frau Gertrud ist oben im Kaufhaus und will ein Kleid anprobieren. PROTAGONISTIN (als Michael): Sie tut mir so leid. HILFS-ICH (als Michael): Du tust mir so leid. PROTAGONISTIN (im Rollentausch als Gertrud): Ich kann es gar nicht aushalten, so alleine. HILFS-ICH (im Rollentausch als Gertrud): Ich kann es gar nicht aushalten, so alleine. PROTAGONISTIN (im Rollentausch als Michael): Das ist auch schlimm. Du tust mir so leid. Ich wäre lieber bei dir geblieben. HILFS-ICH (im Rollentausch als Michael): Das ist auch schlimm. Ich wäre lieber bei dir geblieben. PROTAGONISTIN (im Rollentausch als Gertrud): Ich komme einfach nicht klar. Das Schwarz, das passt jetzt. Das wird immer so bleiben. Drum wollte ich mir ein neues schwarzes Kleid kaufen. Und dann habe ich dich gesehen! HILFS-ICH (im Rollentausch als Gertrud): Ich komme einfach nicht klar. Schwarz ist jetzt meine Farbe. Und das soll auch so bleiben. Darum habe ich mir ein neues schwarzes Kleid kaufen wollen. Und dann habe ich dich gesehen.

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

PROTAGONISTIN (im Rollentausch als Michael): Ich habe dich auch

gesehen. HILFS-ICH (im Rollentausch als Michael): Ich habe dich auch gesehen. PROTAGONISTIN (im Rollentausch als Gertrud): Du bist so weit weg! HILFS-ICH (im Rollentausch als Gertud): Du bist so weit weg! PROTAGONISTIN (im Rollentausch als Michael): Ja, ich bin weit weg, sehr weit weg. HILFS-ICH (im Rollentausch als Michael, auf Gertrud hin): Ja, ich bin weit weg, sehr weit weg. PROTAGONISTIN (als Gertrud): Das tut mir so unendlich weh! DOPPEL (für Gertrud): Ich bin so müde, so erschöpft. Ich will nichts anderes, als dass Michael in meiner Nähe ist. Es ist schon gut, wenn er mich anschaut. PROTAGONISTIN: Ja, genau so ist es. Aber er ist nicht da. Die Leute halten mich für verrückt, wenn ich ihn sehe. Hier endet die psychodramatische Sequenz des Rollentausches. Der Begleiter schafft die Verbindung zwischen der Anders-Wirklichkeit und der Wirklichkeit, in der die Protagonistin in der Welt steht: BEGLEITER: Du hast deinen Mann Michael gesehen. Hier auf unserer

Bühne hat er dir etwas gesagt. PROTAGONISTIN: Er hat gesagt, dass er weit weg ist, sehr weit weg. BEGLEITER: Das ist so. Und das tut unaushaltbar weh. Auf der Bühne

hat Michael noch gesagt, dass er dich gesehen hat. PROTAGONISTIN: Manchmal glaube ich, dass er gut auf mich aufpasst. Ja, er sieht mich. Aber mir selbst zerreißt es das Herz, dass ich ihn nicht mehr sehen darf. BEGLEITER: Das macht den Schmerz seines Todes so unaushaltbar. Dieses Nie-wieder!

Im Sharing wird die Gruppe der Protagonistin Beistand geben durch die Erfahrungen, die sie auch kennen und mit ihr teilen: die unstillbare Sehnsucht, das Unaushaltbare, die Unaussprechlichkeit des erschütternden Nie-wieder; die Erschöpfung durch die Ein© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Die Surplus Reality  

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sicht, dass es kein Wiedersehen in der bisher gültigen Wahrnehmung geben wird; der kleine stille Trost, sich vom Verstorbenen weiterhin bedacht zu wissen; die unüberbrückbare Weite der anderen Welt des Toten. Surplus Reality und die Katharsis der Begegnung Die Surplus Reality öffnet nicht nur phantastische Räume, schafft nicht nur eine Bühne für Anders-Welten. Die Surplus Reality bietet auch die Bühne für Unerledigtes, für Dinge, die nicht mehr nachzuholen sind, zum Beispiel weil jemand tot ist und ein klärendes Gespräch oder eine Zuneigungsbekundung nicht mehr möglich war. Ein junger Erwachsener, freier Journalist, war zum Zeitpunkt des Todes seines Vaters auf Auslandsreisen. Er wusste um den finalen Zustand der Erkrankung. Der Arzt hatte aber gesagt, dass man den Eintritt des Todes nicht sicher sagen könne. Da habe er sich nach China aufgemacht. Der Vater hatte ihm bei der Verabschiedung noch gesagt, dass er ruhig fahren solle. Dann habe er sich zum Vater runter gebeugt, um ihn zu umarmen. Der Vater habe ihm – was er seit Kindheit nicht mehr getan hat – ein Kreuzzeichen auf die Stirn gezeichnet. Ein Segen des Vaters. Es sei ihm in diesem Moment eher unangenehm gewesen. Als er zehn Tage nach seiner Abreise vom Tod des Vaters unterrichtet worden war, überfiel ihn ein Schuldgefühl  – wie ein Heckenschütze, der nur wartete, unerkannt tödlich zu verletzen. Das Schuldgefühl war real. Er hatte zu Beginn der Krankheit seinem Vater versprochen, an seinem Sterbebett zu sein und ihn in seinem Sterben nicht allein zu lassen. Er höre sich jetzt immer wieder mit klarer, eindeutiger Stimme sagen: »Ich werde dich nicht allein lassen.« Und nun habe er ihn allein gelassen. Zuerst sei es ihm gelungen, diese Schuldechos zu besänftigen. Freunde und Bekannte, denen er sich damit anvertraute, beschwichtigen ihn. Er habe alles für seinen Vater getan. Der Vater habe ihn gesegnet  – welch archaisches Zeichen einer Freilassung! Dann habe er eine Therapie gemacht, es habe dafür mehrere Gründe gegeben. Aber für seine Schuld war da nicht genug Platz. Vom Verstand her wisse er,

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

dass ihn diese Schuld nicht quälen müsse, aber sie sei nun mal da. Er könne sie einfach nicht in Schach halten.

In der Begleitung wird dem Protagonisten eine Begegnung mit seinem Vater angeboten, um dieses Thema mit ihm zu besprechen. Das ist eine klassische Surplus-Reality-Situation. Der Protagonist wählte – ohne dass er sich das erklären konnte – für diese Begegnung ein Dorf im weiten China. Es war das Dorf, in dem er sich zur Zeit des Todes des Vaters aufgehalten hatte. Als Bühne wählte er eine Begegnung auf freiem Feld. Er bekundete dem Vater sein Versagen, dass er ihm die Treue in seinen letzten Lebenstagen nicht gehalten habe. Er kann seinem Vater sagen, dass er sich seitdem mit einer Schuld herumtrage und dass ihm nicht damit geholfen sei, diese Schuld kleinzureden. Er habe versagt. Die Szene dieser Begegnung geschieht in einem engmaschigen Rollentausch. Der Protagonist spricht in der Rolle seines Vaters das aus, was er im Innersten von seinem Vater weiß. Dieses Wissen wird ihm am Ende die Katharsis ermöglichen. Vater und Sohn haben über Versprechungen geredet, haben den Ernst einer solchen Zusage hervorgehoben, haben der Schuld den Raum zugestanden, den sie im Protagonisten real hatte. Das Gespräch der beiden kommt irgendwann zu dem Punkt, dass der Vater dem Sohn zuspricht, wie sehr ihn seine Ernsthaftigkeit und seine Treue berühre. Der Vater vergewissert ihm, dass er sich dieser Treue immer bewusst gewesen sei. Das Versprechen, ihn nicht allein zu lassen, habe er als großes Geschenk erlebt. Es sei ihm ein Geschenk gewesen, das nicht an seine physische Anwesenheit gebunden gewesen sei. Er, der Vater, sei sich bis in den letzten Atemzug der Treue und Liebe seines Sohnes gewiss gewesen. Der Protagonist hat über die Entwicklung der Szene zu dieser inneren Gewissheit gefunden, dass sein Vater sich von ihm nicht verlassen gefühlt hat. In der Rolle seines Vaters habe er sehr sicher sprechen können; in seiner Rolle als Sohn habe er etwas Zeit gebraucht, diesem Zuspruch und diesem Vertrauen Glauben schenken zu können. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Die Surplus Reality  

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Nach dieser Szene in der Surplus Reality ist der Protagonist sehr angerührt. Wie er im Blick auf den Spielprozessverlauf hervorhob, war die Begegnung mit dem toten Vater ein kostbares Wiederverbinden des Verlorengeglaubten. Für ihn war der Prozess der Annäherung wichtig, es war wichtig, die Schuld benennen zu können, es war wichtig, dass der Vater die Bedrückung auf- und ernstgenommen hat. Aus dieser Entwicklung habe sich für ihn in der Rolle des Vaters – zu seinem eigenen Erstaunen – die gelassene Klarheit ergeben, dass der Vater sich nie verlassen gefühlt habe. Dieses Wissen um den Vater in ihm habe ihn befreit. Im Verlauf seiner Trauer um den Tod des Vaters war, wie er später rückblickend sagte, diese psychodramatische Szene ein Wendepunkt und die Einladung, sich der Traueraufgabe stellen zu können. Hier hat der Protagonist in seiner Bedrängnis des noch Unerledigten zur heilsamen Katharsis und erlösenden Gewissheit gefunden. Oft ist es eine Not von Trauernden, dass sie Unerledigtes noch besprechen wollten. Die Surplus Reality bietet eine Bühne, dies ins Spiel und damit in Bewegung zu bringen. Die Begleitenden müssen ein Gefühl dafür entwickeln, wann eine solche Begegnung möglich sein kann. Geschieht dies zu früh, kann es das Trauma des Verlustes vermehren und blockieren. Es gibt keine Regel, wann das Angebot einer Surplus-Reality-Szene gemacht werden kann. Es sollte ein gewisser Abstand gegeben sein, um im Verlusterleben sich dieser Zumutung der Begegnung zu stellen. Zumutung ist sowohl der mühsame Angang wie das kraftschenkende Mutmachen. Die Intuition der Begleitenden muss hier Maß geben. Wenn sie den Eindruck haben, diese Bühne gegen den Widerstand durchsetzen zu müssen, ist von einer solchen Surplus-Reality-Bühne dringend abzusehen. Nicht wie von einer Trauerbegleitenden berichtet wird, die eine Mutter, die sich auch noch nach zwei Monaten weigert, das Zimmer der verstorbenen Tochter zu betreten, handgreiflich zwingt, die Tür des Zimmers zu öffnen. Das sei nötig, um endlich »Klarheit« zu bekommen. Welche Klarheit? Das Gespür einer menschenfreundlichen Begleitung ist gefragt, zu welchem Zeitpunkt die Bühne einer Surplus Reality angezeigt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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Methoden des Psychodramas in der Trauerbegleitung

sein könnte, etwa um eine Begegnung zu wagen, vor der so viel Angst und Sehnsucht zugleich besteht. Methodische Hinweise zur Surplus Reality

ӹӹ Das Psychodrama hat keine Angst vor dem Anders-Wirklichen. ӹӹ Auch diese Anders-Realität ist eine Realität, mit der der Trauernde lebt. ӹӹ Die Bühne ermöglicht es, dieses Anders-Wirkliche lebendig, eine greifbare Realität, werden zu lassen. ӹӹ Die Bühne der Surplus Reality wird bespielt wie jede andere Wirklichkeitsszene. ӹӹ Die Surplus Reality wird am Ende eine Rückbindung in die sichtbare Realwelt herstellen. ӹӹ Die Surplus-Reality-Bühne ermöglicht die Wiederverbindung mit Verlorenem. ӹӹ Sie ist ein Forum der Katharsis unbewältigter Anteile.

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Psychodramatische Methode im sozialen Netz Trauernder

Das schöpferische Geschehen ist nach Moreno nie nur ein individuelles Ereignis. Die Verbindung und Anknüpfung an andere Menschen ist wesentlich. Die Bedeutung anderer Menschen als neue Hilfen tritt auch da in Erscheinung, wo sich das durch den Verlust so angegriffene Selbst neu zu bestimmen sucht. Wie ein Kind in der Entdeckung seiner eigenen Schöpfung, so muss der Trauernde sich in der Anbindung an andere Menschen neu schaffen. Für weltanschaulich Eingebundene ist diese Schöpfung im Mitgehen anderer Menschen immer auch eine Vergewisserung des sinnstiftend Schöpferischen aus der Kraft Gottes und des göttlichen Geistes. Für viele Trauernde verändert sich das soziale Netz. Das beginnt oft schon vor dem Tod, wenn eine todbringende Krankheit diagnostiziert ist. Da scheiden sich die wahren Freunde, wissen viele Trauertragende zu berichten. Da gibt es Enttäuschungen über Menschen, auf deren Mitgefühl und praktische Mithilfe sie in gesunden Zeiten gebaut hätten. Andererseits wachsen Freundschaften zu, die in gesunden Tagen eher lockere Bekanntschaften gewesen sind. Manchmal bringen Krankheit und Trauer Menschen zusammen, die sich bis dahin nie begegnet sind. Die Trauer – sowohl in Krankheit wie nach Verlust in den Tod – ist gekennzeichnet von einem Paradox: dem Schmerz der Isolation und der bewusst gewählten Selbstisolation. Schmerzlich ist, wenn Menschen sich zurückziehen, weil sie mit Krankheit und Tod nicht umzugehen wissen. Manche Trauernde bekennen freimütig, dass sie früher, als sie Krankheit und Tod noch nicht selbst miterlebt haben, die von Trauer Gezeichneten gemieden haben. Sie haben © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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Psychodramatische Methode im sozialen Netz Trauernder

sich selbst eingeredet, dass die Kranken oder die Trauernden nicht zu belästigen und daher besser nicht anzusprechen seien. Hinter dieser vermeintlichen Rücksichtnahme versteckt sich in der Regel die Angst vor der Berührung mit Krankheit und Tod und eigener Verwundbarkeit und Vergänglichkeit. Erschwert wird das Empfinden der sozialen Isolation durch den Wunsch Trauernder, sich zurückzuziehen. Dann sind Freunde und Bekannte viel zu anstrengend. Dann sind Festfeiern ein unüberwindlicher Schmerzberg. Dann sind Begegnungen eine Belastung, der man sich nicht aussetzen mag. So kommt es, dass Menschen einerseits sich entziehen und andererseits enttäuscht sind, weil sie in Ruhe gelassen werden. Diese Paradoxie ist eine der Auswirkungen des Chaos der Trauer. Das soziale Netz hat aber eine Bedeutung für den Verlauf der Trauer. Es geht dabei um Stützung und Ergänzung. Stützung will helfen, die Last des Verlustes nicht allein tragen zu müssen. Ergänzung will dazu beitragen, dass bestimmte Aufgaben oder auch emotionale Anteile durch andere Menschen im Umkreis der Trauernden gegenwärtig gehalten werden.

Das soziale Atom Das Psychodrama kennt die Arbeit mit dem sozialen Atom. Jeder Mensch befindet sich in einem Verbund mit anderen Menschen – selbst dann, wenn er sagt, dass er niemanden auf der Welt habe. In der Trauerbegleitung ist das soziale Atom eine wichtige Komponente. Aus dem sozialen Atom lassen sich Hilfen abrufen. Das soziale Atom kann auch offenlegen, dass es tatsächlich Menschen gibt, die in unterschiedlichen Aufgaben und unterschiedlichen Trauergefühlen ergänzend und stützend gegenwärtig sind. Eine Trauernde (42 Jahre) beklagt die Not, dass sie mit ihrer Trauer so verlassen sei, dass es Menschen in ihrem Umkreis gebe, die keine Notiz von ihrer Trauer nähmen. In der Begleitung ihrer Trauer hat das

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Das soziale Atom  

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soziale Atom ihr eine beeindruckende Katharsis ermöglicht. Sie hat erlebt, dass sehr wohl alle in ihrem Umfeld Lebenden ihre Trauer mittragen, stützen und ergänzen. Sie haben es sehr unterschiedlich getan, unersetzlich und lebenserhaltend. Da ist ihr 10-jähriger Sohn, der mitten im Spiel aufhört, weil er an den Papa denkt und traurig sein muss; da ist die 14-jährige Tochter, die nie vom Papa redet, sondern in die Disko geht und laute Musik zu Hause hört; da ist die 47-jährige Schwester der Trauernden, die nie zum Friedhof geht, weil die Toten tot sind und sie sich ganz handfest um das kümmert, was zur Aufrechterhaltung des Lebens nötig ist.

Die hier vorgestellte psychodramatische Arbeit geschah in einer Einzelbegleitung. Sie ist ebenso denkbar in einer Gruppe. Der Begleiter bittet die Trauernde, ihr soziales Netz, das soziale Atom aufzubauen. Sie wählt für die jeweiligen Personen bunte Tücher. Die Protagonistin benennt zunächst die Personen, die ihr einfallen:

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Psychodramatische Methode im sozialen Netz Trauernder

Da gibt es die Tante Marianne; da gibt es Andreas, 23, der Pflegesohn der schon verstorbenen Mutter der Trauernden; da gibt es Gerti, 32, die unverheiratete Schwester, da gibt es den 10-jährigen Sohn René und seine 14-jährige Schwester Ramona und schließlich die Schwester Marianne (47). Die Protagonistin markiert mit einem Tuch ihren eigenen Standort auf der Bühne. Dann legt sie die Tücher für die jeweiligen Personen in dem Abstand hin, den sie ihnen zu sich und ihrer Trauer zumisst.

Mit einer Gruppe werden die einzelnen Personen mit Hilfs-Ichs besetzt. In der Einzelbegleitung nimmt der Begleiter die verschiedenen Rollen nach und nach ein. Der Begleiter bittet die Protagonistin, in die einzelnen Rollen der Personen in ihrem sozialen Atom zu gehen und aus dieser Rolle heraus einen Kernsatz zu sprechen. Danach treten die HilfsIchs an diese Stelle in das soziale Atom. Sie nehmen das von der Protagonistin ausgesuchte Rollensymbol (Tuch). Sie übernehmen den Kernsatz der von ihnen repräsentierten Person. Der Begleiter wird die Hilfs-Ichs bitten, nach und nach diese Kernsätze aus dem sozialen Atom der Protagonisten zuzusprechen. Die Protagonistin schreibt den Personen ihres sozialen Atoms Kernsätze zu. Es sind Sätze, die etwas mit der Trauer der Protagonistin zu tun haben: TANTE MARIANNE: Ich bin da, kann aber nicht mit dir über Theos Tod spre-

chen. Ich komme aber immer, wenn du mich brauchst. ANDREAS: Ich bin dir dankbar, dass du mich aufgenommen hast nach dem

Tod der Pflegemutter. Ich habe mit euch an Theos Krankheit gelitten. Ich bin immer irgendwo im Haus gewesen, habe es nur neben dem Kranken nicht ausgehalten. Ich war stets rufbereit. Jetzt, nach Theos Tod, fühle ich sehr mit dir. Ich bin auch sehr traurig. Reden darüber kann ich nicht. Ich ersetze Theo in den handwerklichen Dingen. Ich habe zwar eine Freundin, bleibe aber solange hier wohnen, wie ich denke, dass du mich noch brauchst.

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Das soziale Atom  

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GERTI: Das Leben ist so. Da gehört der Tod einfach dazu. Ich spreche

nie darüber  – auch nicht über Mutters Tod. Ich gehe nicht zum Friedhof. Ich bin handfest. Ich sorge mit Klarheit dafür, dass das Lebensnotwendige hier läuft. RENÉ: Wir haben ein Geheimnis: Wir beide wissen, dass der Papa in uns ist. Ich höre mitten im Spiel auf, wenn ich Papa fühle, und komme zu dir. Wir weinen, reden, fühlen Papa und stärken uns. Es ist mir ganz wichtig, dass du da bist. Ebenso Ramona und Andreas. RAMONA: Ich bin vierzehn, suche meinen Weg, spreche nicht über den Tod, gehe nicht zum Grab, bin am liebsten mit Gerti zusammen. Ich weine so, dass du es hörst oder siehst. Das ist mein Zeichen, dir zu sagen, dass ich im Leiden um Papas Tod mit dir sehr eng verbunden bin. Ich brauche aber den Krach der Disko, damit mein Herz nicht zerspringt. MARIANNE: Ich fühle mit dir. Ich kann neben dir schweigen. Das ist für mich nicht leer, nicht peinlich. Ich finde Worte für deine Gefühle. Ich habe eine starke Verbindung zu dir und komme zu dir oder rufe dich an, wenn es der richtige Moment ist. Du bist gerne mit mir zusammen. Wir können uns gut verständigen. Nachdem die Protagonistin die Rollen gefüllt hat, nimmt sie in der Mitte ihren Platz ein. Der Begleiter bittet die einzelnen Hilfs-Ichs, die jeweiligen Kernsätze zur Protagonistin hin zu sprechen. Sie hört diese Sätze zunächst kommentarlos an. Der Begleiter schätzt das Tempo der Abfolge der Rückmeldungen ein, damit die Protagonistin Zeit hat, diese Sätze aufzunehmen. Es sind Sätze, die sie diesen Rollen gegeben hat. Es sind also Gewissheiten ihres Inneren, mit denen sie sich im sozialen Atom wiederfinden kann. Vor einem zweiten Durchgang der Rückmeldungen an die Protagonistin wird sie ermutigt, nach jeder Rückmeldung zu entscheiden, ob sie diese Aussagen aufnehmen will. Zeichenhaft werden die Tücher der jeweiligen Personen ihr umgelegt. Die Hilfs-Ichs sprechen ihre Sätze erneut. Die Protagonistin nimmt alle Aussagen an. Am Ende der Sequenz ist sie von den unterschiedlichen Tüchern und Farben wie ummantelt. In der Rollenrückmeldung

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Psychodramatische Methode im sozialen Netz Trauernder

zeigt die Trauernde sich sehr angerührt, dass sie so viele Stützen in ihrer Trauer und in ihrem sozialen Netz zur Verfügung hat. Das habe sie vorher nicht für möglich gehalten. Mit Dankbarkeit vermerkt sie, dass die Personen so unterschiedlich sind und alle einen Teil darstellen, der für sie in ihrer Trauer so unverzichtbar ist. Die Katharsis besteht darin, dass sie den Wert dieses sozialen Atoms erkennt. Sie hat nicht mehr das Empfinden, dass Einzelne aus ihrem Umfeld ihr in ihrer Trauer nicht gerecht werden. Sie kommt zu der Einsicht, dass sie nicht von jedem alles erwarten kann. Sie kann aber in ihrem Umfeld darauf bauen, dass einzelne Personen je Bestandteile ihrer Trauer tragen. Diese Erkenntnis hat sie sehr entlastet. Sie hat ihren Angehörigen Vorwürfe gemacht, ihre Trauer nicht mitzutragen. »Gottlob«, sagt sie, »habe ich ihnen das nicht gesagt. Ich käme mir so undankbar und ungerecht vor, wenn ich jetzt sehe, wie sie mich in ihrer Unterschiedlichkeit wunderbar unterstützen.«

Das surreale soziale Atom Die psychodramatische Bühne spielt sowohl Realität als auch Surrealität aus. Das soziale Atom bezieht sich in der Regel auf Menschen, die im wirklichen Umfeld gegenwärtig sein können. Es gibt Trauerumstände, in denen ein Mensch tatsächlich oder in seinem Empfinden ganz allein auf der Welt ist. Meist sind es die Verstorbenen, die dann das soziale Atom ausfüllen. Die psychodramatische Bühne bietet auch diesem Platz. Hier gilt – wie bei der Surplus Reality – das Ziel, diese surreale Erfahrung in den Kontext der Realität zu überführen. Es soll ja nicht einer Scheinwelt gedient werden, sondern einer Lebensertüchtigung in der gegenwärtigen Wirklichkeit. Die vermeintliche Scheinwelt wird aber nicht abgewertet, sondern als Stärkung genutzt, um der Realitätsbewältigung dienlich sein zu können. Eine Trauernde leidet unter mangelnden Kontakten. Sie ist eigensinnig, stößt bei vielen Menschen an, ist leicht übergriffig, wenn sie sich nirgendwo verstanden fühlt. Im Grund ihrer Seele ist sie zutiefst

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Das surreale soziale Atom  

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einsam in ihrem Dasein. Sie hat über Jahre hin ihren Mann gepflegt. Das Leben mit ihm bildete das reale soziale Atom. So ist verständlich, dass sie sich auch in ihrer Trauer völlig unverstanden wahrnimmt. In ihrem sozialen Atom erscheinen noch eine zänkische Nichte, ihr verstorbener Mann, der ihre Trauer begleitende Pfarrer und Jesus – und der ganz weit entfernt. Es wäre denkbar, dieses spärliche soziale Atom mit Nichte und dem begleitenden Pfarrer anzuschauen. Das erschien in diesem Stadium nicht zielführend, weil die wirkliche Kraft offenbar aus der Gestalt Jesu kam. Der Begleiter hat die Trauernde dennoch gebeten, bis zum nächsten Treffen Ausschau zu halten, wer aus dem engeren oder weiteren Kreis sie in ihrer Trauer am ehesten verstehen könnte. Beim folgenden Treffen sagte sie, dass es da niemanden gebe, wirklich nicht. Auch die Nichte scheide aus, denn die sei zu kämpferisch und zänkisch. Die Surplus Reality bietet an, eine fiktive Person entwerfen zu lassen. Aber dieser Versuch führte nicht zum denkbaren Ziel einer heilenden Stärkung ihres Trauererlebens. In dem Surplus-Bild gestaltet die Trauernde eine Person, die im Laufe des Spiels die Züge eines frühen Geliebten annahm. Der zog in den Krieg, geriet in Gefangenschaft, galt als verschollen, kam nach Jahren wieder – da war die Protagonistin längst verheiratet. In der Erwärmung dieser Person kam für die Trauernde der Bruch, als sie in der Rolle des Geliebten in schroffer Ablehnung sagte: Du bist unerträglich, Sybille! Danach fiel diese Person aus dem Rahmen des unterstützenden sozialen Atoms heraus. In der Begleitung wurde nun die Methode des Spiegelns angewandt (das kann sowohl in der Gruppe wie in einer Einzelbegleitung geschehen). Im Fall der hier dargestellten Begleitung war es ein Einzelsetting. Der Begleiter führte die Protagonistin an den Bühnenrand und bat sie, sich diese Überlegungen im Spiegeln anzuschauen: die Trauernde, die ihrem frühen Geliebten begegnet, der sagt, dass sie unerträglich sei. Die Reaktion der Trauernden war resignativ: Es gibt wirklich niemanden, dem ich mich zumuten kann. Der Begleiter fragt sie, was sie in einer solchen Situation der Ausweglosigkeit zu tun pflege. Die Protagonistin antwortet spontan: »Ich stelle mich unter das Kreuz und rede mit Jesus.« Im Folgenden wird eine solche Begegnung inszeniert.

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Psychodramatische Methode im sozialen Netz Trauernder

Die Protagonistin spricht mit Jesus. In intensivem Rollentausch kann sie ihre Enttäuschung und ihren Zorn über den Jesus ausdrücken, der ihren Mann so lange hat leiden und ihn dann doch hat sterben lassen: »Warum hast du meinen Mann so sterben lassen?« Die Protagonistin klagt vor Jesus über ihr Umfeld, das ihre Trauer nicht teilt. Die Anklage spitzt sich zu, bricht dann aber in die Klage ab, sie sei trotz intensiver Pflege mitschuldig am Tod ihres Mannes. In der Rolle des Jesus spricht sich die Protagonistin zu: »Herr über Leben und Tod bin immer noch ich!« In der Betrachtung des Spielprozesses ist die Protagonistin sehr bewegt, aber auch erleichtert: »Gut, dass mir das jemand sagt!« Sie erlebt das als eine Ent-Schuldung, die ihr zugesprochen ist von höchster Instanz. Diese Begegnung mit Jesus hat ihr die Ermutigung gegeben, sich diese Ent-Schuldung auch selbst zuzusprechen. Sie sagt dann: »In meinem Herzen wusste ich das, aber mein Verstand brachte immer den Zweifel.« Für die Trauernde war diese Begegnung mit Jesus sehr wichtig. Er stand in ihrem sozialen Atom als surreale Person zur Verfügung. (Hier darf nicht darüber hinweggesehen werden, dass christlich Glaubenden Jesus ein personales Gegenüber ist. Dennoch kann im psychodramatischen Kontext von Jesus als einer surrealen Person gesprochen werden, da er im Sinne der stofflich fassbaren Person im sozialen Atom der Protagonistin nicht zu greifen ist.) Die Person Jesu wurde auf der Bühne zu einer unbefragten Person, die ihr in ihrer Schuldfrage wie ein Bestandteil eines realen sozialen Atoms eine wichtige Markierung auf dem Trauerweg darstellt. Die Schuldfrage wird sich erfahrungsgemäß immer wieder einmal stellen. Das Wissen, dass in ihrem sozialen Atom Jesus vorkommt, lässt dessen Botschaft an sie leichter wieder abrufen. Die Entfernung, die sie beim ersten Besprechen zum sozialen Atom Jesus zugesprochen hatte, war Ausdruck ihres Zorns, aber auch Ausdruck eines Traueranteils, den sie nicht so gern in ihrer Nähe sah: des Themas Schuld. In der Begleitung wurde für die Protagonistin angeregt, diesem derzeit wichtigen Bestandteil ihres sozialen Atoms, Jesus, einen Trostbrief zu schreiben. Dieses Stilmittel dient der Vertiefung dieser

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Das surreale soziale Atom  

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Gewissheit, sich auf Jesus beziehen zu können. Für sie ist er eine real greifbare Person, die ihr mehr als eine geistliche Stütze ist. Über die Person Jesu sind in der Begleitung schließlich auch reale Menschen in das soziale Atom gekommen: der begleitende Pfarrer, der nach ihrer Meinung am meisten von Jesus versteht. Er steht im sozialen Atom dafür, dass sie sich nicht versponnen fühlen muss, wenn Jesus eine so große Bedeutung für sie hat. Zudem sind Personen in den Blick gekommen, mit denen sie gut über Gott reden kann. Darunter fand sich auch eine Frau, der sie auf dem Friedhof begegnet. Die hat ihre Zweifel an Gott. Die bekommt keine Antwort auf die Frage nach der Gerechtigkeit. Die beiden Frauen können sich in diesem Spannungsfeld bestärken, dass der Glaube mal Kraft und mal Ohnmacht auslöst. Im sozialen Atom der Protagonistin wird die Friedhofsbekannte zur Frau, die zur Geduld ruft. Es lässt sich nicht alles klären. Und: »Wir müssen durchhalten. Wir wissen ja selbst nicht, wie es weitergeht. Es wird. Nur nicht heute.« Mit dieser kernigen Aussage kann die an sich quirlige Protagonistin immer wieder einmal Kraft in ihrer eigenen Ungeduld finden.

Methodische Hinweise zum sozialen Atom

ӹӹ Gesucht werden Menschen, die im näheren oder weiteren Umfeld des Trauernden da sind. ӹӹ Über die Methode des Rollentausches und der Erwärmung werden diese Personen plastisch. ӹӹ Es ist hilfreich, die so gestalten Rollen einen Kernsatz formulieren zu lassen, der als Botschaft an die Protagonistin weitergegeben werden kann. ӹӹ Im Betrachten des Spielprozesses wird meist klarer, dass Menschen im Umfeld bestimmte Anteile des Lebens in der Trauer flankieren – von spirituellen Vergewisserungen bis zu banalen Alltagserledigungen. ӹӹ Ein soziales Atom kann auch aus surrealen Personen gestaltet werden. Ziel bleibt, von diesen auf das reale soziale Atom zu blicken.

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Psychodramatische Methoden in einem Seminar für aktive Trauerbegleitende

In einem Seminar für Trauerbegleitende ging es um das Verstehenlernen von Kernaussagen Trauernder. Sie sind als Sätze aus der Begleitung bekannt und kommen immer wieder bei (fast allen) Trauernden vor. Diese Sätze tragen ein bestimmtes Gefühl. Die Begleitung hat das Ziel, auf diese Aussagen und Gefühle helfend zu antworten. Die hier dargestellten Sätze stammen aus der Praxiserfahrung der Trauerbegleitenden. In dem Seminar haben die Teilnehmenden diese Sätze aufgeschrieben, haben sich in kleinen Gruppen verständigt, welche Kernaussage sie hinter diesen Sätzen vermuten, welche Gefühle mitschwingen und welches Begleitziel sie haben. Diese Sätze Trauernder und möglicher Begleitung werden mit Hilfe psychodramatischer Methoden und Haltungen erarbeitet. Kernsatz der Trauernden: Ich bin so allein, bin so verlassen.

Kernaussagen:

Wo bleibe ich? Ich bin verlassen.

Gefühl:

Ich bin einsam, isoliert, unsicher.

Ziel der Begleitung: Soziale Bezüge bewusst machen und nutzen helfen. Psychodramatische Methode:

Arbeit mit dem sozialen Atom.

Die Methode des sozialen Atoms ist in diesem Buch mehrfach dargestellt worden, so dass hier auf ein Beispiel verzichtet werden kann. Ziel der Arbeit mit dem sozialen Atom ist es, die noch vorhande© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Psychodramatische Methoden in einem Seminar  

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nen Bezüge bewusst zu machen. Aus den Bestandteilen des sozialen Netzes lassen sich Unterstützungen in der Einsamkeit finden, da in der Regel einzelne Bestandteile des Atoms auch Details der Traueraufgaben mittragen. Zu bedenken ist, dass das Bewusstwerden durch das soziale Atom die Not nicht aufheben, aber lindern kann. Manchem Trauernden ist es ein Aha-Erlebnis, sich in mittragenden Sozialgefügen wiederzufinden, obwohl das subjektive Empfinden Isolierung und Vereinsamung ist. Die Arbeit mit nichtrealen Personen (Surplus Reality) – sei es, dass sie jenseitige Wesen sind oder Verstorbene – ist in diesem Buch auch ausführlich beschrieben. Psychodramatische Erfahrungen in der Ausbildung von Trauerbegleitern Den Trauerbegleitenden wird am sozialen Atom eine Ressource des sozialen Umfelds bekannt. Kernsatz der Trauernden: Was habe ich getan? Ich bin gefangen in meiner Schuld. Ich bleibe schuldig zurück.

Kernaussagen:

Was habe ich getan? Ich bin schuldig.

Gefühl:

Ich fühle mich von Schuld belastet, hilflos, ohnmächtig ausgesetzt, nicht mehr handlungsfähig, am Leben gehindert.

Ziel der Begleitung: Ernstnehmen des Schuldempfindens und eine rechte Gewichtung. Psychodramatische Methode:

Lebenslinie gestalten, um mit ihr tatsächliche Schuld und Schuldvorstellungen lokalisieren und bearbeiten zu können. Mit Surplus ist auch eine Versöhnungserfahrung möglich.

Eine Protagonistin erzählt, dass sie lange ihre Mutter gepflegt habe, die dann verstorben sei. Sie habe eigentlich alles für die Mutter getan,

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nach ihrem Tod aber plötzlich überbordende Schuldgefühle bekommen, doch nicht alles für die Mutter getan zu haben. Sie erinnert sich an Szenen ihrer Überforderung und ihrer Wut auf die Mutter, die ihr nur noch fordernd vorkam. Und nun beherrscht diese Schuld ihren ganzen Alltag und vor allem ihre Beziehung zur Mutter. Darum komme sie mit der Trauer auch nicht weiter – über drei Jahre schon … Auf der Bühne hat der Leiter die Protagonistin gebeten, mit Hilfe verschiedener Symbole (zum Beispiel Tücher) Stationen ihres Lebens als eine Lebenslinie zunächst still für sich zu legen. Nach einer Zeit hat sie anhand der Lebenslinie von sich und ihrer Mutter erzählt. Es stellte sich heraus, dass die Mutter ihr in ihrer jungen Erwachsenenzeit einen Liebhaber abgesprochen habe, weil dieser der Mutter nicht zusagte. Die Tochter sei gehorsam gewesen und habe letztlich nicht geheiratet. So hat sie die ganze Zeit ihres Lebens mit der Mutter zusammengelebt. Die Pflege der Mutter habe lange gedauert und intensiv die Kräfte mehr und mehr aufgezehrt. Die Tochter spürte Groll, kuschte aber auch als Erwachsene vor der unausgesprochenen Drohung des Liebesentzugs durch die Mutter. Zudem war es für sie eine unbefragbare Pflicht, der schwach gewordenen Mutter bis zuletzt beizustehen. Die Macht der Mutter über die Tochter ist über den Tod hinaus erhalten geblieben. In einem ausgiebigen Drama konnte die Begegnung zwischen Mutter und jungerwachsener Tochter in Szene gesetzt werden. Die Protagonistin als Erwachsene – gestützt durch die Erweiterung ihres Rollenerlebens durch die Gruppe  – konnte diesen Groll austragen und neue Möglichkeiten der Begegnung mit ihrer Mutter ausprobieren. Doppeln und Spiegeln sowie Rollenrückmeldungen und Sharing waren die Medien der Wahrnehmungserweiterung dessen, was damals in der Begegnung zwischen Tochter und Mutter geschehen ist. Auf der Bühne war die Möglichkeit gegeben, eine andere Art der Begegnung mit der Mutter auszuprobieren. Eine Surplus-Szene ermöglichte dieses Zusammenkommen. Die Protagonistin konnte schließlich in der Rolle der Mutter sich selbst ein helfendes Zugeständnis der Ungerechtigkeit gegen die Tochter aussprechen. Eine innere Versöhnung wurde möglich. Der Blick auf die Mutter war rea-

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listischer gegeben, damit auch eine sehr viel realistischere Einschätzung dessen, was sie als Tochter für die Mutter in Zeiten schwerer Pflege hat leisten können.

In unserem Beispiel lag nicht das vor, was wir einen objektiven Schuldtatbestand nennen. Die Begegnung der Frauen hat die Tochter auf einer Ebene mit der Mutter erleben lassen. Da war das Handeln kein Buhlen um etwas Liebeszuwendung. Da war klar, dass die Mutter der Tochter viel zugemutet hat und das Empfinden, nie genug geleistet zu haben, aus anderer Quelle kam. Psychodramatische Erfahrungen in der Ausbildung von Trauerbegleitern Wenn ein objektiver Schuldtatbestand zwischen zwei Menschen übriggeblieben ist, bietet das Surplus des Psychodramas eine Möglichkeit, zu einem Eingeständnis dieser Schuld zu gelangen. Modalitäten eines Lebens mit dieser Realität sind auch im Surplus-Bild ausprobierbar. Für das Trauererleben bedeutet es, den Weg des ganz normalen Chaos der Trauer (ausführlicher in: Müller und Schnegg, 2004, S. 44 ff.; Müller, Brathuhn und Schnegg, 2013, u. a. S. 56 ff.) als eine neue Schöpfung, als ein neues Zur-Geburt-Bringen3 zu werten. Ungeklärte Schuldempfindungen stehen dabei im Weg. Ein Teil des unvollendeten Trauererlebens ist das Gefühl der auf dieser Erde nicht wieder gutzumachenden Schuld: Ich habe tatsächlich Schuld auf mich genommen oder ich fühle mich in Schuld. Das Psychodrama kennt keine Grenze für Neuschöpfung. Auch schuldiges Leben hat eine Chance der Umwandlung und Umorientierung. Es ist eine Möglichkeit gegeben, zu einer klärenden oder gar freisprechenden Begegnung, selbst wenn das Gegenüber leibhaftig nicht ansprechbar ist. Das Psychodrama hat durch die Surplus Reality eine weites Feld sowohl zur Versöhnung wie zum Nachholen wie zum tastenden Blick nach vorn. 3 Eine Begrifflichkeit von Ella Mae Shearon.

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Kernsatz: Der Trauernde fühlt sich unvollendet, hätte so gerne noch etwas dem Verstorbenen sagen wollen.

Kernaussage:

Was ich noch hätte sagen wollen. Unvollendetes …

Gefühl:

Ich fühle mich unfertig, bedrängend, antriebsschwach, suche meinen Toten in Träumen.

Ziel der Begleitung: Aussprechen, was fehlt, und tun, was nicht in der Realität möglich war. Psychodramatische Methode:

Surplus-Erleben; Ausspielen der Träume.

Eine Frau berichtet, ihr verstorbener Mann begegne ihr im Traum, stehe in der Küche, aber ganz am Rand. Sie fühle, wie eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen liege und sie ihn nicht erreichen könne. Sie will sprechen, bekommt aber keinen Ton heraus. Sie strengt sich sehr an, gibt dann irgendwann weinend auf. Der Mann bleibt starr, kommt nicht auf sie zu, geht aber auch nicht weg. Sie hat den Eindruck, er warte auf einen Satz von ihr. Die Protagonistin erzählt von dem, was sie vor dem Zubettgehen in der Nacht des Traums erlebt hat. Sie hatte eine schwierige Situation zu bewältigen, bei der sie sich wieder überfordert fühlte. Sie hatte den Schmerz des Verlustes des Mannes deutlich gespürt, der sich jetzt nicht – wie früher selbstverständlich – vor sie gestellt und für sie alles geregelt hätte. Die Protagonistin erzählt den Traum. Zusammen mit der Gruppe werden die einzelnen Begegnungen durchgespielt. In dieser Aktion wird deutlich, dass die Frau sich in die Art ihres Mannes zu Lebzeiten ergeben habe: dass er alles regelte. Anfangs hatte sie versucht, sich ein Stück Selbständigkeit auch in den lebenspraktischen Dingen zu bewahren. Er aber hatte ihr unter Hinweis auf seine Liebe zu ihr all diese Dinge mehr und mehr abgenommen. Der Mann starb plötzlich, klärende Gespräche waren nicht möglich.

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In der Inszenierung des Traums schält sich als nicht ausgesprochene Mitteilung an den Mann der Vorwurf heraus, er habe ihr »vor lauter Liebe« das praktische Leben sehr erschwert. Durch das Spiel wurde es der Protagonistin möglich, von der Idealisierung Abstand zu nehmen, sie habe einen idealen Mann gehabt, der ihr sogar alle Kleinigkeiten aus dem Weg geräumt habe. Sie stellte den Mann – neben aller unangefochtenen Liebenswürdigkeit  – als einen kleinlichen, kontrollierenden Perfektionisten dar, der lieber alles selbst regelte, damit es in seinem Sinne »sehr gut« getan war. Im Spiel konnte die Frau ihrem Mann sagen, dass er sie zum Teil unmündig gemacht und gehalten habe und sie jetzt umso mühsamer in die lebenspraktischen Dinge hineinwachsen müsse. Das Sharing der Gruppe gab der Protagonistin viel Stärkung. Am Ende stellte sie erleichtert fest, dass durch dieses entmythisierende Spiel ihr Bild von ihrem Mann gar nicht belastet, sondern erfrischend entlastet worden sei. Sie habe in dieser realistischen Sicht auch die große, verbindende Liebe zu ihm gespürt. Erwartet hatte sie, dass sie ihrem Mann noch ein Zeugnis ihrer Liebe hätte sagen wollen. Erstaunt und befreit zugleich zeigte sie sich, dass sie tatsächlich den liebenden Satz nicht hat sagen können, weil da etwas zwischen ihnen stand (die unsichtbare Mauer). Auf der Bühne hat diese Mauer einen Namen und einen Lebenshintergrund bekommen. Jetzt fühlte die Protagonistin sich frei, ihrem realen, nicht idealen Mann liebevoll zu begegnen.

Psychodramatische Erfahrungen in der Ausbildung von Trauerbegleitern In der Trauer zeichnet sich sehr oft, unter anderem in Träumen, der Wunsch ab, eine Vollendung des Abschieds zu finden. Ebenso gilt, dass Trauernde nach einer Möglichkeit suchen, noch etwas sagen zu können, was real nicht möglich war. Das Psychodrama bietet die Chance, die Botschaft der Träume (und zum Beispiel auch psychotische Bilder) und darin ihre sehr oft heilbringende Aussage als Hilfe der eigenen Seele auszuspielen und neu aufzunehmen. Diese Erfahrungen geben dem Trauernden auch die Gewissheit, dass die Verbindung mit dem Verlorenen nicht aufgehoben ist. Das Psycho© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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drama kann die heilende Stärkung schenken, den Verstorbenen gerade über das Medium der Träume, halluzinatorisches Erleben, psychotische Bilder (so sie denn im Trauernden vorkommen) eine Integration des Verstorbenen zu bewerkstelligen. Es sind die kostbaren inneren Bilder, die vom Verlorenen längst im Protagonisten sind, die aktiviert und zur Heilung und Wiederverbindung genutzt werden mögen. Kernsatz: Der Trauernde fühlt den Schmerz unvollendeten Abschieds.

Kerngedanke:

Was an Abschied fehlt …

Gefühl:

Ich bin unruhig, immer auf der Suche, komme an kein entspannendes Ende. Ich werfe mir vor: »Ach hätte ich doch nur …«

Ziel:

Nachholen des unvollendeten Abschieds.

Psychodramatische Methode:

Surplus Reality; Spiegeln.

Ein Mann leidet darunter, von einem guten Freund nicht Abschied genommen zu haben. Er hatte nach dessen Tod dienstlich einen engen Terminkalender, ist sich aber bewusst, dass er diesen nur vorschützte, weil er die Verabschiedung am Sarg scheute. Auf der Bühne hat es eine längere, sehr liebevolle Erwärmung gegeben. Der Protagonist wählte eine Szene der beiden, wie sie als Jungen zusammen im Wald gewesen sind. Die Episode lässt er nach freiem Ermessen der Einfühlung durch die Gruppe inszenieren. Wie der Protagonist aus dem Spiegel miterlebend beteuert, hat die Gruppe die besonderen Gefühle der beiden Männer sehr lebendig werden lassen. Der Protagonist erzählt schließlich von einer Situation, in der der sterbende Freund und er  – vergleichbar der Kinderszene – eine sehr anrührende, liebevolle Begegnung gehabt hätten, in der vieles an Verbindendem spürbar war. Nach dieser Begegnung

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ist der Freund bald gestorben. Der Protagonist hatte jetzt nicht mehr den Mut, sich von seinem toten Freund zu verabschieden. Wegen der situativ emotionalen Überforderung bittet der Trauernde die Gruppe, noch einmal in freier Improvisation eine Szene zu spielen  – bis er sich selbst mit in das Spiel eingeben wollte. Die Gruppe inszeniert aus Kenntnis der Dichte der Begegnung zwischen den beiden Männern eine Szene, in der der Tote aufgebahrt ist und der Protagonist vor der Tür steht. Die Bühne kommt mit spärlichsten Mitteln aus: Für den Sarg des Verstorbenen wird ein Tuch ausgebreitet. Die Tür wird durch ein quer gelegtes Seil als Türschwelle dargestellt. In der Szene überlegt der Trauernde (von einem Hilfs-Ich dargestellt), ob er eintreten solle. Er benennt, was er als Stütze braucht: Mut, Vertrauen gegen die Angst vor dem Tod, Liebe und die Erlaubnis zu weinen. Mut, Vertrauen, Angst vor dem Tod, Liebe und Weinen werden als Rollen ausgewählt. Der Leiter des Spiels vergewissert sich beim Protagonisten, der am Rand der Bühne wie im Spiegel die spontane Szene der Hilfs-Ichs miterlebt, ob die Intuition der Spielenden zutreffend sei. Das kann durch kurzes Nachfragen oder durch ein Verständigen mit den Blicken geschehen. Nach einer Zeit kann der Protagonist seine Rolle vor der Tür selbst übernehmen. Die Gruppe bringt als Hilfs-Ichs die Stützen von Mut, Vertrauen, Liebe, Weinen ins Spiel. Aus der Spontaneität der Szene, gestützt durch die Hilfs-Ichs, kann der Protagonist die Tür öffnen und sich für alle sehr bewegend wortlos verabschieden. Am Ende faltete er das Tuch, das Symbol des Sarges war, auf die Hälfte zusammen  – wie das Verschließen des Sarges.

Psychodramatische Erfahrungen in der Ausbildung von Trauerbegleitern Eine bedrückende Hemmung des Trauerweges kann der nicht vollendete Abschied sein. Die Trauernden leiden darunter, dass dieser Abschied nicht mehr nachgeholt werden kann, weil der Tote unerreichbar ist. Das Psychodrama öffnet der Seele für einen solchen Abschied die Bühne, bedient sich mittels der Hilfs-Ichs der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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Stützen und Hinderer, die der Protagonist benannt hatte. Hier kann eine tatsächliche Verabschiedung beruhigend und heilend nachgeholt werden – was zur Katharsis führt. Der Trauernde aktiviert sein inneres Wissen über die Beziehung und die Kräfte, die ihn im Abschied stärken oder belasten könnten. All diese Kräfte kann er für sich angemessen im Spiel nach außen tragen. So wird dieses ausgespielte Wissen zu einer Orientierung und Bestärkung dieses Wissens. So ist Katharsis möglich, Versöhnung mit dem unvollendeten Abschied und Vergewisserung dessen, was ihm dabei schmerzlich hinderlich oder fördernd hilfreich sein kann. Kernsatz: Der Trauernde fragt, wie sein Leben weitergehen kann.

Kerngedanke:

Wie geht es weiter? Gibt es eine lebevolle Zukunft für mich?

Gefühl:

Ich bin offen, bereit zu probieren, will lebendig sein.

Ziel:

Ermutigung, dem Wunsch nach Neuem zu trauen und nachzugehen.

Psychodramatische Methode:

Zukunftsbild; Surplus-Bild.

Eine Frau Mitte vierzig hat ihren Mann verloren. Sie hat einen beschwerlichen Trauerweg über mehr als ein Jahr hinter sich gebracht. Sie erzählt diesen Weg mit wenigen Worten. Sie legt dazu verschiedene farbige Tücher als Zeichen des Trauerweges auf den Boden. An bestimmten Punkten hält sie inne und erzählt ausführlicher. Dann ist sie in der Gegenwart. Die Protagonistin beschreibt ihren Weg wie die Echternacher Springprozession: zwei Schritte vor und einen zurück. Die Trauer bleibt, hat ihren Platz im Leben. Aber an einer bestimmten Stelle wird das Gefühl zur Trauer irgendwie anders. Sie kann das Irgendwie nicht genau fassen. Irgendwann war es so beginnend anders. Ungeduld kommt auf, die Trauer dauere ihr zu lange. »Das lähmt mein Leben so. Und ich bin doch noch so jung.« Die Protagonistin

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spürt eine neue, schöpferische Kraft in sich, eine Kraft, die noch vor ein paar Wochen – so bekräftigt sie – undenkbar gewesen wäre. Der Begleiter fragt sie, wie weit sie den Zeitpunkt noch wähnt, an dem sie sich vorstellen kann, anders mit ihrer Trauer zu leben: sich mehr dem Leben zu öffnen. Die Protagonistin wisse es nicht genau – vielleicht in zwei oder drei Jahren. Die Gruppe improvisiert eine Szene. Sie hat eine klare Einfühlung ( Tele) zur Protagonistin. Die Hilfs-Ichs sprechen ihr zu, sie habe schon sehr viel geleistet, was beachtenswert sei; kein Grund zur Hoffnungslosigkeit. Sie möge zu dem stehen, was sie kann und was ihr jetzt möglich sei. In diesem Spiel wird gewagt, die Bedenken der Frau in der Rolle des Antagonisten (des Gegenspielers) auftreten zu lassen. Im Rollentausch füllt die Protagonistin diese Rolle des Neues-Leben-Hinderers. Er tritt mephistophelisch auf und versucht, die wohlmeinenden Zusprüche der anderen Hilfs-Ichs zu durchkreuzen. Das alles wird in spontanem Stegreifspiel aufgeführt. Das Spiel bleibt ohne einen Sieger. Die neuen Kräfte haben sich gut behaupten können. Nach dem Miterleben dieser Spielsequenz der Kräfte wählt die Protagonistin mit einer inneren Sicherheit als Zeitraum noch zwei Jahre, die sie brauche, um sich ein neues Leben vorstellen zu können. Sie stellt sich in einem Abstand zu ihrer bisherigen Trauerweglinie. Sie nimmt die Rolle dieser Zeit nach zwei Jahren ein. Sie blickt auf den Punkt der Linie, an dem das Heute fixiert ist. Dort steht ein Hilfs-Ich für die Protagonistin. Die Protagonistin stellt sich in einen zwei Jahre fixierenden Abstand zum Hilfs-Ich. Aus der Rolle der vollendeten zwei Jahre benennt die Protagonistin, was sie der Trauernden zu bieten hat. In der Rolle der Zeit nach zwei Jahren sagt sie, dass die Trauer als Gefühl nicht weg sei. Es gebe da keinen Treuebruch zu ihrem verstorbenen Mann. Ferner werde sie nicht dort weitermachen, wo der Tod ihres Mannes ihre Trauer ausgelöst habe. Sie werde neu und anders beginnen, werde die kostbaren Erfahrungen der bitteren Trauerzeit als neue Qualität ihres Lebens mitnehmen. Im Rollentausch tritt die Protagonistin wieder in eigener Rolle an den Punkt des Heute, während das Hilfs-Ich die Rolle der Zukunft über-

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nimmt. Aus dieser Rolle spricht sie der Protagonistin zu, was sie aus der Rolle der Zukunft gesagt hat. Das, was sie als inneres Wissen hat, wird ihr durch das Hilfs-Ich von außen noch einmal zugesprochen. Nach dem Rollentausch hat sich der Kontakt von Zukunft und Jetztzeit verändert, sagt die Trauernde. Spontan verringert sie die Zeit, die sie für ein Neues-im-Leben brauche, um ein halbes Jahr. Dies wurde möglich, weil sie aus der Rolle der Zukunft sich selbst die Einladung aussprechen konnte, neugierig auf das Kommende zu sein. Ihr hilft dabei, dass sie sich nicht gedrängt weiß. Sie kann achtsam und ihr angemessen diese Schritte gehen lernen. Die Protagonistin fand Gelassenheit und Ermutigung, ihrem Trauerweg eine Wende geben zu können, ohne das Gefühl zu haben, ihren Mann zu verleugnen oder die Trauer zu verraten. Bei der Prozessanalyse hat sie noch einmal achtvoll auf das schauen können, was sie bisher geleistet hat. Auch das ermutigt sie, dem Gefühl eines neuen Aufbruchs trauen lernen zu wollen.

Psychodramatische Erfahrungen in der Ausbildung von Trauerbegleitern Trauernde leben durch Verlust in mancher Angst. Trauernde erleben sich abgeschnitten von ihrer Beziehung, abgeschnitten von eigenen Lebenskräften. Die Begleitung muss in behutsamem Tun die Spontaneität der eigenen Seele der Trauernden wieder wecken, wenn die Zeit im Trauerprozess dafür reif erscheint. Die Kreativität wird zu einer Kraft, die auf Dauer nicht wie Verrat am Verlorenen erlebt wird. Diese Lebendigkeit findet Kontakt zur bleibenden Verbindung, die im Inneren des Trauernden ist. Aus dieser Gewissheit der Verbindung mit dem Verlorenen wird neues, eigenes, auch kraftvolles Leben zu wecken sein. Das Leben geht weiter, aber anders. Der psychodramatische Kontakt zur persönlichen Zukunft (via Surplus Reality) hat diese Einsicht ermöglicht. Es bleibt, noch einmal darauf hinzuweisen, dass der Protagonistin diese Einsicht nicht von außen suggeriert wird (weil vielleicht eine entsprechende Erwartung besteht), sondern im eigenen inneren Wissen gegründet ist und von daher eine Wahrheit ist, die der Trauernden aus sich selbst zur Verfügung steht. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Soziometrie als psychodramatisches Element in der Befähigung Ehrenamtlicher zur Trauerbegleitung

Innerhalb der Ausbildung Ehrenamtlicher zu Trauerbegleitenden haben verschiedene Elemente psychodramatischer Methoden Verwendung gefunden. Eines ist die Soziometrie.

Soziometrie zur Gruppenfindung Die Soziometrie ist hier eine Spielart, eine Gruppe einander bekannt zu machen, ohne in einer lähmenden Runde jede und jeden erzählen zu lassen, woher sie kommen, was sie tun, wie sie zu diesem Kurs gestoßen sind und was sie erwarten. Die Soziometrie fragt nach Verbindendem in der Gruppe. Das Verbindende zeigt auch Gegenpole auf, das Unterscheidende. Diese Mischung wird immer wieder als Energie der Gruppe zur Verfügung stehen. Im Kurs für Trauerbegleitende beginnt die Gruppenzusammenführung mit dem Element der Soziometrie. Die Gruppe wird eingeladen, sich im Raum zu bewegen. Dabei können die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sich anschauen, sich ohne Worte wieder voneinander verabschieden, neue Begegnungen suchen oder auch sich nur im Raum bewegen. Nach einer Zeit, die der Leiter der Gruppe absieht, werden die Teilnehmer gebeten, sich an den Rand des Raumes zu stellen. Es entsteht dadurch eine Bühne, auf der die Soziometrie ausgespielt wird. Der Leiter stellt Fragen, nach denen sich die Teilnehmer zuordnen. Der Leiter gibt an, welche Gruppe in welchem Teil des Raumes (auf welchem Teil der Bühne) sich zusammenfinden möge. Wenn © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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Soziometrie als psychodramatisches Element

das Bild gestellt ist, wird es von der Gruppe wahrgenommen. Dann bittet der Leiter, das Bild wieder aufzulösen, und stellt eine neue Frage, die eine soziometrisch dargestellte Antwort findet. Gefragt werden kann nach: •• männlich/weiblich. Entsprechend finden sich die Gruppen zusammen. •• Alter. Hierbei werden die Kursteilnehmenden gebeten, sich hintereinander in einer Linie aufzustellen. Dieses Zusammenfinden macht Kontakte der Gruppe untereinander nötig: zu fragen, wo welches Alter sich aufgestellt hat. Auch hier: Wahrnehmen des Bildes und Auflösung. •• Tätigkeitsgruppen innerhalb der Hospizarbeit (Koordinatoren, Ehrenamtliche mit Erfahrung in der Trauerbegleitung, Ehrenamtliche ohne Erfahrung, Menschen, die bisher Sterbebegleitung gemacht haben und so weiter). Die Gruppen finden sich. Da die Verortung der einzelnen Gruppen im Raum jetzt nicht vom Leiter vorgegeben ist, müssen sich die Mitglieder selbst verständigen, wo welche Gruppe sich zusammenfindet. Diese Verständigung wird mit anderen Teilnehmern geschehen als bei vorhergehenden Fragestellungen. Auf diesem Weg geschieht eine weitere niederschwellige Kommunikation der Gruppenmitglieder untereinander. Die Soziometrie hilft, Gruppengefüge zusammenzuführen. Dann wieder: Wahrnehmung des Bildes und Auflösung. •• Berufsgruppen jenseits der Hospizarbeit beziehungsweise der Trauerbegleitung. Auch dafür ist Kommunikation der Teilnehmer nötig. Wahrnehmung des Ergebnisses und Auflösen des Bildes. •• Familienstand, Kindern, Anzahl der eigenen Geschwister, Geschwisterreihung, Haustieren, wie lange schon in der Hospizarbeit tätig … Es dient der Verlebendigung der Gruppe, wenn auch die Teilnehmer Fragen stellen dürfen, die sie mit Hilfe der Soziometrie beantwortet sehen wollen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Soziometrie zur Gruppenfindung  

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Die soziometrische Übung zum Zweck des Kennenlernens der Gruppe endet mit einer geographischen Verortung der Teilnehmer. Der Leiter legt ein Symbol (zum Beispiel ein Tuch in die Mitte), nennt diesen Punkt als den Ort, an dem sich die Teilnehmer gerade befinden, weist auf die Himmelsrichtungen hin und bittet die Teilnehmer, sich gemäß ihres Wohnorts (wenn alle aus einer Stadt kommen, wird nach Stadtvierteln gefragt) geographisch zum Tagungsraum aufzustellen. Das geschieht nach Himmelsrichtung und nach Entfernung zum Ort. Der Leiter geht dann von Person zu Person und führt ein kleines Interview: Bitte sprechen Sie laut Ihren Namen in die Runde. Lassen Sie uns bitte wissen, wo Sie wohnen. Mögen Sie etwas zum Äußeren Ihres Zuhause berichten? Haben Sie eine Liebeserklärung an Ihr Zuhause? Was bewegt Sie, wenn Sie »Trauerbegleitung« hören? Haben Sie einen Wunsch, wenn Sie an diesen neu beginnenden Kurs denken? Um bei vielen kleinen Interviews die Aufmerksamkeit des Kurses wach zu halten, wechseln sich Kursleiter (wenn es zwei sind) nach jedem Interview ab und wechseln auch innerhalb des Raumes, um aus neuer Perspektive neue Aufmerksamkeit der Gruppe zu ermöglichen. Dabei ist zu beachten, dass kein Teilnehmer vergessen wird. Möglichkeiten der soziometrischen Aufstellungen

ӹӹ Die Soziometrie gibt Auskunft zu Fragen, die weitestgehend mit den Gruppenmitgliedern zu tun haben. ӹӹ Die Soziometrie bewirkt ein spielerisches Begegnen der Gruppe und setzt dadurch schon Markierungen für das Gelingen der Gruppe. ӹӹ Die Soziometrie zeigt Verbindendes und Gegensätzliches und lässt dies als eine Spannung erkennen, aus der Leben, Energie wachsen kann. ӹӹ Die soziometrische Aufstellung verhindert eine Lähmung der Gruppe durch sitzende Vorstellungsrunde.

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Das Erwärmen als Methode in der Ausbildung von Trauerbegleitenden

Beispiel 1: Eine neue Gruppe beginnt die Ausbildung zur Trauerbegleitung mit einem Märchen Nach dem Ankommen und ersten Zusammenfinden der Gruppe ist eine spielerische Erwärmung in das Thema angezeigt. Dabei soll aber auch das Zusammenwachsen der Gruppe gefördert werden, denn die Kompetenz der Gruppe wird immer wieder gefragt sein. Das Psychodrama ruft zur kreativen Spontaneität auf, weil es darin eine große Kraft des Erlebens und des Erkennens weiß. Im Kurs zur Befähigung zur Trauerbegleitung kann das Märchen der Brüder Grimm vom Totenhemdchen der Erwärmung in das Thema und in das Gruppewerden dienen. Dazu stehen alle Teilnehmer im Kreis in einem leeren Raum – auch ohne »gestaltete Mitte«. Der Leiter lädt ein, sich auf ein Märchen der Brüder Grimm einzulassen. Der Name des Märchens wird noch nicht genannt. Es wird eine der Hauptrollen erwärmt – von allen Teilnehmern. Die Gruppe geht während der erwärmenden Anleitung durch den Leiter durch den Raum. Der Leiter assoziiert aus seiner Einfühlung etwas zu den Rollen und bittet die Teilnehmer, diese Einfühlung in Bewegung und Körperhaltung zu übertragen. Erwärmt wurden die Rollen einer Mutter, die ein Wunschkind lange ersehnt und dann endlich bekommen hat. Die Erwärmung kann verschiedene Stufen durchgehen – zum Beispiel die Zeit des aufregend-bangen Wartens, ob dieses Mal die Schwangerschaft wirklich zustande gekommen ist, dann die Gewissheit, das Berühren und Streicheln des schwangeren Bauches, die nahe Erwartung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Beispiel 1: Eine neue Gruppe beginnt  

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der Geburt, das Wiegen des Kindes im Arm, die ersten Begegnungen zu Hause, über dem Kinderbettchen geneigt; die ersten Gehversuche, die Mitfreude an den Entwicklungen des Kindes, wie es läuft, greift, wie man aufpassen muss, dass alle Schränke abgeschlossen sind, dass die Schlüssel für eine Zeit unerreichbar sind, wie das Kind irgendwann allein aus dem Haus geht und die Mutter ihm aus dem Fenster nachschaut … Nach der Erwärmung in die Rolle der Mutter wird erzählt, dass diese Mutter ein nun siebenjähriges Kind habe, einen Jungen. Aus der Gruppe werden Spieler erfragt, die diese beiden Rollen nehmen mögen. (Hier ist ein Hinweis angebracht, dass Menschen in akuter Trauer diese Rollen nicht nehmen sollten. Wenn bekannt ist, dass unter den Teilnehmern jemand mit Trauer um ein eigenes Kind da ist, ist in diesem Kontext von einer Rollennahme abzusehen.) Als Rolle wird zudem eine Vorleserin erfragt, die das Märchen in Sinnabschnitten vorlesen wird. Ein entsprechend aufgegliederter Text des Märchens liegt bereit (siehe S. 122 ff.). Durch die Gruppe wird eine Bühne gestaltet mit den Materialien, die im Raum sind. Hierbei sind unifarbige Tücher eine sehr vielseitig nutzbare Requisite. Die Bühne ist ein Zimmer im Haus, in dem Mutter und kleiner Sohn zusammen sind. Die Gruppemitglieder werden vor Beginn des Spiels darauf hingewiesen, dass sie spontan Rollen einnehmen dürfen, die sich aus der Erzählung ergeben. Beispiele können genannt werden: Gott, das Bett, die Tränen, Nachbarinnen, Freundinnen. Nach Fertigstellung der Bühne nimmt die Gruppe Platz. Die ausgewählten Rollen werden vom Leiter in die Erwärmung, die in der Gruppe stattfand, zurückgeführt. Die Rolle des Jungen wird durch das Spontane der Rollenträgerin erwärmt (auf der Bühne kann jedes Geschlecht auch das andere Geschlecht als Rolle nehmen). Der Leiter erwärmt im Umhergehen auch die Rolle des Kindes – es sei sieben Jahre, ein Wunschkind seiner Mutter, lang ersehnt, nun der kostbarste Schatz seiner Mutter – und lässt den Rollenträger des Jungen sich selbst vertiefend in die Rolle erwärmen, indem er ihn animiert, von sich etwas zu erzählen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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Das Erwärmen als Methode in der Ausbildung

Nach der Erwärmung der Rollen suchen die beiden Spielerinnen ihren Platz in der Bühne. Die Erzählerin liest den ersten Abschnitt. Dann spielen die Rollen dies im Stegreif. Aus dem Text aufkommende Rollen können jetzt spontan von Mitgliedern der Gruppe übernommen und frei ausgestaltet werden – wie zum Beispiel die Rolle Gottes oder die des Totenhemdchens oder die des Sarges oder die des Bettchens oder die der Tränen. Die Gruppe ist vor Beginn auf diese Möglichkeit hingewiesen. Der Leiter kann aber auch gezielt zur Rollennahme und Spielbeteiligung aufrufen. Konkrete Anmerkungen dazu finden sich weiter unten in der Vorlage des Erzähltextes. Diese Rollen werden helfen, die Dramatik des Märchens zu vertiefen und auf das Thema der Trauer und der Trauerbegleitung hin zu erwärmen. Aus dem Märchen »Das Totenhemdchen«4 Es hatte eine Mutter ein Büblein von sieben Jahren, das war so schön und lieblich, daß es niemand ansehen konnte, ohne ihm gut zu sein, und sie hatte es auch lieber als alles auf der Welt.

Zäsur der Lesung. Im Stegreif ausspielen. Es könnte eine Zusatzrolle beispielsweise von Nachbarinnen oder Freundinnen der Mutter in die Szene gerufen werden. Die Rollen bleiben jetzt Bestandteil des Spiels und können im weiteren Verlauf des Spiels immer wieder aktiv mitwirken. Der Leiter kann hier schon motivieren, etwa Freundinnen mit auf die Bühne kommen zu lassen. Sie werden die glückliche Mutter entsprechend bekräftigen oder vielleicht auch zur realistischen Liebe mahnen. Es liegt in der Spontaneität der Mitspielenden, wie sie die Rolle füllen werden.

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Aus: Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm, 1984, Bd.  2, S. 235 f.

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Beispiel 1: Eine neue Gruppe beginnt  

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Nun geschah es, daß es plötzlich krank ward …

Zäsur der Lesung. Im Stegreif ausspielen. Das Krankenbettchen kann als Rolle auftreten und den Zustand der Krankheit verstärken.   … und der liebe Gott es zu sich nahm …

Zäsur der Lesung. Im Stegreif ausspielen. Die Rolle Gott könnte auf die Bühne geholt werden. … darüber konnte sich die Mutter nicht trösten und weinte Tag und Nacht.

Zäsur der Lesung. Im Stegreif ausspielen. Die Vorleserin fügt jenseits des Textes ein: Und das Büblein wurde begraben.

Zäsur der Lesung. Im Stegreif ausspielen. Dabei kann der Leiter die Gruppe bitten, diese schwere Aufgabe des Begrabens zu übernehmen. Die Freundinnen sind bei der untröstlichen Mutter. Bald darauf aber, nachdem es begraben war, zeigte sich das Kind nachts an den Plätzen, wo es sonst im Leben gesessen und gespielt hatte.

Zäsur der Lesung. Im Stegreif ausspielen. … weinte die Mutter, so weinte es auch, und wenn der Morgen kam, war es verschwunden.

Zäsur der Lesung. Im Stegreif ausspielen. Die Rolle der Tränen ist hier denkbar – ein oder mehrere Hilfs-Ichs.

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Das Erwärmen als Methode in der Ausbildung

Als aber die Mutter gar nicht aufhören wollte zu weinen, kam es in einer Nacht mit seinem weißen Totenhemdchen, in welchem es in den Sarg gelegt war, und mit einem Kränzchen auf dem Kopf, setzte sich zu ihren Füßen auf das Bett und sprach: »Ach, Mutter, höre doch auf zu weinen, sonst kann ich in meinem Sarg gar nicht einschlafen; denn mein Totenhemdchen wird nicht trocken von deinen Tränen, die alle darauf fallen.«

Zäsur der Lesung. Im Stegreif ausspielen. Das Totenhemdchen könnte als Rolle auf die Bühne kommen. Da erschrak die Mutter, als sie das hörte, und weinte nicht mehr.

Zäsur der Lesung. Im Stegreif ausspielen. Wie in der Hiobsgeschichte die drei Freunde können hier die Freundinnen wieder mitwirken. Und in der anderen Nacht kam das Kindchen wieder, hielt in der Hand ein Lichtchen und sagte: »Siehst du, nun ist mein Hemdchen bald trocken, und ich habe Ruhe in meinem Grab.«

Zäsur der Lesung. Im Stegreif ausspielen. Hier ist die Rolle des Lichtchens denkbar. Da befahl die Mutter dem lieben Gott ihr Leid und ertrug es still und geduldig, und das Kind kam nicht wieder, sondern schlief in seinem unterirdischen Bettchen.

Zäsur der Lesung. Im Stegreif ausspielen. Am Ende des Spiels ist sehr darauf zu achten, dass alle Mitspielenden ihre Rollen bewusst abstreifen. Nach einem solchen Spiel sind Rollenfeedback, Prozessanalyse und Sharing sehr genau auszuarbeiten. Das Stegreifspiel dieses Märchens führt direkt in die Trauerproblematik. Die Teilnehmer werden befähigt zur Trauerbegleitung. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Beispiel 2: Verschiedene Ausdrucksformen der Trauer  

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Diese Befähigung schließt einen hohen Selbsterfahrungsanteil ein. Das Spiel schafft diese persönliche Berührung mit dem Thema Trauer. Dies wird bewusst werden in den ausführlichen Rollenrückmeldungen, im Blick auf den Prozessverlauf, der vermutlich eine Zuspitzung der Trauerproblematik offenbart, und im Sharing, in dem die Teilnehmer der Gruppe sich bewertungsfrei mitteilen, was sie in diesem Spiel an Bekanntem mit den anderen teilen. Der Leiter fasst am Ende des Spiels und der Rückmeldungen das Erlebte zusammen und es auf die Metaebene der Zielsetzung des Kurses setzen: Es geht um Erfahrung von Trauer in verschiedenen Facetten.

Beispiel 2: Verschiedene Ausdrucksformen der Trauer  – Erwärmung der Typologien des Trauerauslebens Menschen reagieren auf Verlust sehr unterschiedlich. Das ist erst einmal festzustellen, ohne sich gleich zu einer Bewertung aufgerufen zu sehen. Im Kurs geht es darum, eine Einfühlung in diese verschiedenen Reaktionsformen zu gewinnen. Wenn man weiß, wie sich versteinerte oder rationalisierte oder ausgelöste Trauer anfühlt, wird man ein anderes Verständnis für Menschen in entsprechenden Trauerformen finden. Dann gibt es nicht nur das richtige oder falsche Trauern, sondern ein Gespür dafür, warum ein Mensch – für eine bestimmte Zeit – diese Form für sich wählen muss, um eine angemessene Ausdrucksform für seinen Zustand haben zu können. Der Leiter lädt die Gruppe ein, sich im Raum zu bewegen. Nach einer kurzen Zeit spricht er Impulse in den Raum und bittet die Teilnehmer, mit ihrer Bewegung und Körperhaltung diese Impulse umzusetzen. Welcher Typ von Trauererleben durch die Übung eingefühlt werden soll, wird jeweils am Ende der Übung gesagt. Es soll eine möglichst unvorbereitete und unvoreingenommene Einfühlung ermöglicht werden, die nicht durch Rationalisierung um ihre Empfindungswirkung geschmälert werden soll. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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Das Erwärmen als Methode in der Ausbildung

Übungsanleitung zur versteinerten Trauer Das Gehen ist mühsam.  – Ich bin ganz eingeschlossen in meinen Körper. – Die Arme kleben wie versteift an mir. – Ich kann nur Schritt für Schritt gehen.  – Ich schaue nach unten, gerade einmal auf die Spitzen meiner Schuhe.  – Ich nehme neben mir nichts wahr.  – Ich spüre mich selbst kaum. – Wenn ich die Energie hätte, mich zu kneifen, ich spürte nichts. – Mein Blick hebt sich gerade einmal, läuft ins Leere. Ich stiere vor mich hin. – Mein Kopf mag sich nicht bewegen. – Meine Schritte sind zu mühsam. – Ich bleibe stehen. – Stocksteif. – Alles ist aufs Äußerste angespannt, jeder Muskel. Wie in einem Dauerkrampf. – Ich muss weitergehen, also gehe ich, wie wenn ich nicht in dieser Welt wäre. – Ich bin wie ein Stein, der sich bewegt. – Ich fühle nichts. – Versteinert.

Der Leiter lässt nach dem Impuls den Teilnehmern noch etwas Zeit, um in dieser Haltung da zu sein. Dann bittet der Leiter die Teilnehmer, diese Rolle sehr bewusst abzustreifen und in der eigenen Geschwindigkeit wieder durch den Raum zu gehen. Um nach der Erwärmung mit diesen Erfahrungen weiterarbeiten zu können, kann als Übungssymbol zum Beispiel ein graues Tuch in die Mitte gelegt werden. Übungsanleitung zur rationalisierenden, über den Verstand gesteuerte Trauer Ich bin im Tag. – Ich muss gehen. – Der Tod ist ein Bestandteil des Lebens. – Ich muss weiter, kann mich nicht aufhalten. – Die Trauer gehört auch dazu. Das ist normal.  – Es muss weitergehen.  – Und mittendrin kann ich mich einfach nicht treiben lassen. – Ich bleibe einfach stehen. Ich kann nicht mehr.  – Ich will mich irgendwo verkriechen, mich hinhocken, einfach nur in Ruhe gelassen werden.  – Pause  – Aber so geht das nicht. Los, auf!  – Ich muss weiter.  – Es geht immer weiter, irgendwie immer. – Nicht hängen lassen. – Los, weiter.  – Und jetzt mag mich prügeln, wer will, ich bleib stehen.  – Ich fühle, wo meine Trauer in meinem Körper am meisten zu spüren ist. – Ich lege meine Hand dorthin. – Ich spüre mich. Ich will nur in

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Beispiel 2: Verschiedene Ausdrucksformen der Trauer  

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Ruhe gelassen werden. – Ich setze oder lege mich. – Pause – Nein, so geht das nicht. – Ich muss weiter. – Ich will weiter. – Ich will mich von der Trauer nicht unterkriegen lassen. Ich will leben. – Ich kann leben. – Der Tod ist völlig normal. – Ich muss mich nicht so anstellen. – Es geht doch, indem ich einfach besonders energisch weitergehe, sagt die Vernunft, so schwer das auch ist. – Und dann ist alle Energie schon wieder wie ausgeflossen. Ich kann nicht mehr, gehe abseits, lege mich, hocke mich, halte mein Gesicht fest in meinen Händen, will es in Traurigkeit wiegen wie ein untröstliches Kind.  – Pause – Aber es muss ja weitergehen, sagt mein Verstand. – Recht hat er, und ich gehe weiter, Kopf hoch!, sagt mein Verstand …

Bei dem Schlussimpuls lässt der Leiter wieder etwas Raum dafür, dass dieses letzte Empfinden weiter ausgespielt werden kann von den Teilnehmern. Dann beendet er das Spiel, bittet um das bewusste Abstreifen der Rolle, lädt die Teilnehmer ein, sich wieder in ihrem eigenen Tempo zu bewegen, bis dann eine weitere Trauerart durchgespielt werden kann. Als Übungssymbol kann ein schwarzes und ein gelbes Tuch hinterlegt werden. Übungsanleitung zur ausgelösten Trauer Ich bin traurig und gehe in meinen Tag. – Ich gehe in der Geschwindigkeit, die gerade angemessen ist. – Ich habe heute Kraft, ich kann etwas unternehmen. – Ich kann zupacken und etwas regeln. – Mittendrin spüre ich, dass ich nicht mehr mitkomme. – Ich verlangsame mein Gangtempo. – Ich bleibe stehen. – Ich spüre, wo in meinem Körper meine Trauer haust. – Ich fasse dorthin. – Ich spüre, was in mir ist. – Pause – Nach einer Zeit kann ich meine Hand vom Ort der Trauer wieder lösen. – Ich gehe langsam wieder weiter. – Ich kann wieder schneller gehen. – Ich gucke wach geradeaus. – Ich nehme wahr, was um mich geschieht. – Ich kann Blickkontakt aufnehmen mit den Menschen um mich herum. – Dann spüre ich plötzlich wieder, dass ich allein sein will. – Ich verlangsame meinen Schritt. – Ich löse mich von Blickkontakten. – Ich bleibe stehen und setze oder lege mich. – Ich will keinen Kontakt. – Pause – Dann stehe ich wieder auf,

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Das Erwärmen als Methode in der Ausbildung

nehme bewusst Blickkontakt auf, bleibe bei jemanden stehen. – Ich kann verweilen. – Ich kann mich wieder verabschieden. – Ich gehe zielstrebig, weil ich etwas erledigen will. – Ich bin in Bewegung …

Auch diese Übung endet mit dem bewussten Abstreifen der Rolle und der Aufforderung, im persönlichen Tempo die Übung für sich auslaufen zu lassen. Als Übungssymbol kann ein blaues und ein rotes Tuch gewählt werden. Nach der Übung werden die Tücher der einzelnen Übungen im Raum verteilt. Der Leiter nennt mit ihnen die Arten des Trauererlebens. Über den Weg der soziometrischen Zuordnung teilt sich die Gruppe zu einem der Typen des Trauererlebens auf. Die Gruppen werden angeregt, aus der Übung ihren Trauertyp im Rollenfeedback und im Sharing auszutauschen. Das Ergebnis der so gewonnenen Einfühlung stellt die Gruppe in einer Skulptur dar. Bestandteile der Skulptur sind die Mitglieder der Kleingruppen. Im Plenum werden die Skulpturen vorgestellt. Die verbleibende Gruppe betrachtet die Skulptur von allen Seiten und gibt dann spontane Rückmeldung, was sie in der Skulptur sieht und welche Empfindungen sie damit verbindet. Einer der Leiter notiert diese Rückmeldungen in Stichworten auf Kärtchen. Nach den Rückmeldungen aus der Gruppe geht der Leiter zu jedem Bestandteil der Skulptur, nimmt nach Möglichkeit (zwecks auch körperlicher Einfühlung) die jeweilige Körperhaltung ein und bittet die angesprochene Person um einen Satz als Rückmeldung aus der Position, die sie gerade einnimmt. Auch diese Sätze werden aufgeschrieben, damit ein Austausch zum Erleben der einzelnen Trauertypen leichter zu reflektieren ist. Ziel dieser Übung ist es, in der Trauerbegleitung sich leichter erwärmen zu lassen in die Art, wie die jeweiligen Trauernden ihr Trauererleben gestalten. Aus diesen spielerisch nachvollzogenen Empfindungen wird auch eine größere Einfühlungsbereitschaft für Trauerarten erwachsen, die man für sich selbst nicht wählte. Für Begleitende geht es vorrangig um das, was die Trauernden als ihren Weg vorgeben. Damit gilt es dann im nachfolgenden Prozess unter© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Beispiel 3: Pseudohalluzinatorische Bilder  

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stützend zu arbeiten. Dabei sind die Aufgaben der verschiedenen Formen des Trauererlebens je anders gewichtet.

Beispiel 3: Pseudohalluzinatorische Bilder Krankhafte Halluzinationen – Wahrnehmungen, die mit der von der als normal geltenden Gesellschaft als real definierten Welt nicht übereinstimmen, sind der professionellen Zuwendung durch Psychiater und Psychologen zu übergeben. Das ist eine Abweichung von der Wirklichkeit, die nicht aus sich selbst aufzuheben ist. Es gibt Erfahrungen, die nicht Krankheitswert haben, sondern sich als Reaktionen aus Erschöpfung oder besonderen emotionalen Ereignissen einstellen. Sie bilden eine der sichtbaren Wirklichkeit nicht entsprechende Erfahrungswelt. Es ist aber möglich, aus dieser Wirklichkeit wieder zurückzufinden und die heilsame Distanz zu den halluzinatorischen Bildern wiederherzustellen. Viele Trauernde erleben ihr Chaos der Empfindungen als sehr belastend. Es gehört zur Aufgabe der Trauer, den Verlust in der eigenen Lebensmitte, in der Seele, zu integrieren. Das ist eine hohe emotionale Leistungsanforderung. Das kann erlebt werden wie eine immer enger werdende Kammer des Verlustschmerzes. Vor dem heillosen Überschnappen gibt es den Kunstgriff der Seele, eine Art Überdruckventil. Es wird möglich, einen Druckausgleich von Innen- und Außenwelt herzustellen. Dabei fließen unterschiedliche Bilder der Außen- und Innenwahrnehmung zusammen und erzeugen diese pseudohalluzinatorischen Bilder. Sie sind in der normal verlaufenden Trauer Hilfen, um bei sachgerechter Auseinandersetzung mit ihnen dem Überdruck an Empfindungen eine Ausdrucksform zu geben. Es verweben sich Wahrnehmung und Vorstellungen, Erinnerungen, Wünsche und Ängste. Die Bilder erscheinen wie eine Hilfestellung zur Problemlösung des unaushaltbaren Innendrucks der Trauer. In pseudohalluzinatorischen Bildern werden zum Beispiel Verstorbene mit allen Sinnen wahrgenommen. Sie werden gehört, wenn © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

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Das Erwärmen als Methode in der Ausbildung

sie auf dem Kiesweg vor dem Haus gehen; sie werden gerochen in der ganz spezifischen, vertrauten Weise; sie werden ertastet, indem sie einen anfassen; sie werden gesehen – am anderen, unerreichbaren Ufer eines Sees; sie werden geschmeckt in einem Kuss. Alle Sinne können ein solches Wahrnehmungserleben gestalten. Das psychodramatische Arbeiten hat keine Angst vor solchen pseudohalluzinatorischen Bildern. In der Ausbildung zur Trauerbegleitung werden diese erst einmal fremden Bilder aufgenommen und mit Hilfe der Surplus Reality in Szene gebracht. In der Ausbildungsgruppe werden Beispiele vorgestellt. Die psychodramatische Darstellung schafft einen Zugang, der in der Begleitung hilft, mit diesem Phänomen der Trauer gelassener und umsichtiger umzugehen. In der ehrenamtlichen Begleitung wird man sich zurückhalten müssen, ein solches Erleben auf der Bühne auszuspielen. In der Begleitung hilft es, dass die Aussage der befremdlich erscheinenden Bilder nicht lächerlich gemacht wird, nicht überhört und nicht übergangen wird, sondern eine Wertschätzung erfährt. Oft beteuern Trauernde, die von solchem Erleben erzählen, dass das wirklich so war. Der Versuch, hier einen strengen Realitätsabgleich zu erzwingen (»Das kann gar nicht so sein …!«), ist weder eine Wertschätzung noch ein Begreifen der Funktion dieser Bilder im Trauerreifen. Eine Teilnehmerin der Ausbildungsgruppe erzählte von einer Begegnung mit einer Trauernden, die ihr von einem Dobermann in ihrem Bett erzählt habe. Ihr Mann sei seit fünf Monaten tot. Sie komme selbst damit nicht klar. Sie wünschte sich selbst den Tod, um das Leiden des Verlustschmerzes beendet zu sehen. Die Trauernde berichtet, sie habe im Bett gelegen, sich wieder gequält angesichts des leeren Bettes neben ihr. Es habe sich dann in der Nacht ein Dobermann auf ihr Bett gesetzt. Ein schwarzes, kräftiges Tier. Sie sei immer sehr ängstlich vor Hunden. Jetzt liege der Hund hier. Ein Kind sei gezwungen worden, das Tier auf ihr Bett zu setzen. Die Trauernde habe keine eigenen Kinder bekommen können. Sie habe aber Kinder immer sehr gemocht, vor allem die, denen es

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Beispiel 3: Pseudohalluzinatorische Bilder  

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im Leben nicht so leicht erging. Sie sei empört gewesen bei dieser nächtlichen Begegnung, dass wieder ein Kind gezwungen worden sei, unheilvolle Angst zu verbreiten. Der Hund sei dann weggelaufen. An seiner Stelle sei eine schwarze Frau in das Zimmer gekommen. Sie wisse genau, wer das sei. Aber das sage sie nicht. Sie habe wohl diese schwarze Frau energisch angeschaut und ihrem Blick trotzend standgehalten. Da sei die Frau ihr langsam näher gekommen – bis zu einem Punkt, an dem sie ihr Einhalt geboten habe. Die schwarze Frau sei auch stark. Sie habe dann die Frau angeschrien, sie solle ihren Namen sagen, aber das tat sie nicht. Dann sei ihr Mann dazwischengetreten und habe der schwarzen Frau gesagt, sie habe hier nichts zu suchen. Die sei dann auch gegangen. Zur Trauernden hat der Mann nicht gesprochen. Er habe seine Hand auf ihr heftig schlagendes Herz gelegt. Als sie sich beruhigt habe, sei er weg gewesen.

In der Ausbildungsgruppe übernimmt der Leiter hier das Spiel. Die Berichterstatterin ist interessiert, die von ihr erzählte Erfahrung verstehen zu lernen. Unter professioneller Psychodramaleitung wurde die beschriebene Szene gespielt. Eine Erwärmung ging voraus in der Beschreibung und Gestaltung des Schlafzimmers. Dann ist der Leiter mit der Protagonistin über die Bühne gegangen und hat sich die Geschichte noch einmal erzählen lassen. Aus dieser Darstellung geht hervor, dass die Hauptbotschaft im zweiten Teil, in der Begegnung mit der schwarzen Frau, liegt. Diese Szene wird mit Hilfe von HilfsIchs, engmaschigem Rollentausch, mit Doppeln durch die Gruppe ergiebig ausgespielt. Die Protagonistin spricht in der Rolle der Trauernden die schwarze Frau direkt an und sagt: »Ich weiß, wer du bist – der Tod.« Im Rollentausch sagt sie in der Rolle der schwarzen Frau zu sich als Trauernde: »Ich bin stark. Wenn du mich mit Namen nennst, verliere ich an Macht.« Mit Macht, so zeigte der Rollentauch, ist die Macht der Angsterzeugung gemeint. Die Szene wird dann getreu der Erzählung weitergespielt – mit der beruhigenden Gegenwart des Mannes.

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Das Erwärmen als Methode in der Ausbildung

Am Ende des Spiels führt der Leiter die Protagonistin wieder über die Bühne, lässt sie ihre Erkenntnisse aus dem Spiel noch einmal sagen. Der Leiter bleibt schließlich am Bühnenrand mit ihr stehen und fragt: »Was sagt dir diese Begegnung heute?« Die Protagonistin erwidert, dass sie um die Macht des Todes weiß, dass sie aber keine diffuse Angst vor ihm haben muss. Und dass sie sich von ihrem verstorbenen Mann getragen und auch ein wenig geschützt sehe.

Zu beachten ist, dass das Spiel des halluzinatorischen Bildes immer eine Rückbindung in die konkrete Lebenswirklichkeit braucht. Das allein macht diese Bilder zu einem hilfreichen Instrument des Trauererlebens. Eine Trauernde in diesem Bild zu erwärmen und sie dann aber in diesem Bild jenseits der Wirklichkeit stehen zu lassen, verstärkt den inneren Druck des Bildes. Denn Ziel dieses heftigen von Innen-nach-außen-Projizierens ist das Lebenkönnen mit dieser gewaltigen Emotion des Verlusterlebens. In unserem Beispiel ist die Emotion verknüpft mit einer noch nicht gelösten Frage. Das Bild will auf das reale Erleben hin projiziert sein. Daher ist die Bindung in die Realität der Trauernden unabdingbar. Nach dem Spiel bekommt die Protagonistin Rückmeldungen aus den Rollen und im Sharing. Sie erfährt von einer Teilnehmerin, dass dieses am Anfang so befremdliche Bild eine Botschaft enthielt für das Jetzt. Das Spiel sei dramatisch für sie gewesen. Am wohlsten ist ihr, dass sie jetzt eine Ahnung hat, was die begleitete Trauernde durchmacht und dass das nicht nur irres Zeug ist, sondern für sie eine Aussage für das konkrete Leben geworden ist.

Es bleibt zu betonen, dass ungeschulte, ehrenamtliche Begleitende sich mit einer psychodramatischen Bühne nicht überfordern sollen. Unter einer sachkundigen Anleitung kann eine Dramatisierung eines pseudohalluzinatorischen Erlebens in der Ausbildungs- oder Supervisionsgruppe durchgespielt werden. Für die Begleitung selbst ist hilfreich, diese Bilder nicht als Gefahr und Wirrnis abzuqualifizieren. Es kann möglich sein, diese Bilder, wie sie erzählt werden, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Beispiel 3: Pseudohalluzinatorische Bilder  

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durch dezentes Erwärmen etwas plastischer werden zu lassen. Zu vermeiden ist, sich zu übernehmen mit methodischem Handwerkszeug, das mangels spezifischer Ausbildung nicht verantwortlich genutzt werden kann.

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Haltung, um zu halten

Das Psychodrama ist Methode und Haltung. Die einzelnen handwerklichen Methoden stehen im Dienst, Halt in der Trauer zu geben. Um halten zu können, bedarf es der Haltung. Das Psychodrama lebt aus der Haltung des Glaubens an einen Lebenssinn, an das Geschenk des je neuen Schöpferischen. Selbst der Tod und die Trauer um den damit verbundenen Verlust werden als schöpferische Akte verstanden. Wie in diesen Ausführungen immer wieder hervorgehoben, mögen sich im Psychodrama Nicht-Ausgebildete oder Ungeübte nicht überfordern. Sie brauchen aber auch nicht zurückzuschrecken vor Elementen psychodramatischer Arbeitsmethoden. Die Ehrfurcht vor dem in Trauer verletzten Menschen mag die Demut tragen, nicht um des eigenen spektakulären Erfolges willen psychodramatisch aufgerissen zu haben. Das Psychodrama möchte heilen, nicht aufreißen, möchte ermutigen und nicht bloßstellen – wie jede Methode, die aus Liebe zum Menschen in Mitsorge um sein Leben ist. Für in Psychodrama Ausgebildete ist nicht selbstverständlich, dass sie sich im Trauererleben auskennen. Fachliteratur zur Trauer steht sehr umfangreich zur Verfügung (einen guten Überblick geben Müller, Brathuhn und Schnegg, 2013). Mit diesem fachlichen Wissen können psychodramatische Haltung und Methoden eine sehr heilsame Allianz im Mitgehen in der Trauer werden – sowohl im professionell-therapeutischen wie im begleitenden Mitgehen von Trauerwegen. Und wer um der hier aufgezeigten Möglichkeiten des psychodramatischen Arbeitens willens sein Wissen und seine Begleitmög© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Haltung, um zu halten  

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lichkeiten erweitern will, aber sich nicht genügend ausgebildet weiß, kann sich in entsprechenden Psychodramainstituten weiterbilden. Das Internet wird ortsnah Wege weisen. Für das Mitgehen in der Trauer ist die Haltung des Begleitens das, was im Chaos der Trauer halten helfen kann. Methoden sind Handwerkszeug, das gut und mit Lust und Liebe gelernt sein will und gelernt sein kann. Ein bleibend schöpferischer Prozess, der einlädt zum weiteren Spiel des Lebens.

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Glossar zu Begriffen aus dem Psychodrama

Antagonist (griech.: Gegen-Spieler) ist der Gegenpart zum Protagonisten. Bühne ist der Ort, auf dem das Psychodrama spielt, Ort der Entfaltung von Spontaneität und Kreativität. Doppeln ist eine Methode des Psychodramas, sich als Gruppenmitglied wie eine zweite (doppelte) Stimme des Rollenträgers einzubringen. Erwärmen beschreibt den Vorgang, Orte, Umstände und Personen im Interview so zu gestalten, dass sie präsent, warm, sind. Feedback ist ein wichtiger Bestandteil des Psychodramas nach Abschluss des Spiels. Durch Rückmeldungen der Gruppenmitglieder wird das Spiel in Verlauf und Aussage reflektiert. Gruppe ist im Psychodrama ein wesentlicher Bestandteil für den Heilungsprozess des Protagonisten. Hilfs-Ich ist die Person, die dem Protagonisten im Ausspielen seines Ichs zur Hilfe kommt. Das Hilfs-Ich übernimmt Rollen zur Unterstützung des Protagonisten und anderer Rollen auf der Bühne. Katharsis (griech.: Reinigung) ist die heilsame Einsicht, die dem Protagonisten durch das Psychodrama zuteil werden kann. Leiterin ist die Person, die das Spiel moderiert und verantwortet. Protagonist (griech.: Erst-Handelnder) ist die Person, die die Hauptrolle auf der Bühne einnimmt. Prozessanalyse findet nach dem Spiel statt und reflektiert den Verlauf des Spiels. Psychodrama ist eine therapeutische Methode, auf dem Weg des darstellenden Spiels (Drama) dem (Seelen-)Leben (Psyche) heil© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402320 — ISBN E-Book: 9783647402321

Glossar zu Begriffen aus dem Psychodrama  

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same Unterstützung zu ermöglichen. Spontaneität, Schöpferisches und das Erlangen heilsamer Einsichten und Erfahrungen (vgl. Katharsis) sind tragende Elemente des Psychodramas. Rolle ist ein Anteil, der in uns und außerhalb von uns besteht. Diese Anteile kommen auf der Bühne ins Spiel. Rollen können Personen, Persönlichkeitsanteile, aber auch allegorische Figuren, Empfindungen und Sachen sein. Rollenfeedback ist eine Form des Feedbacks nach dem Spiel. Hier geben alle Rollenträger eine Rückmeldung, wie sie diese Rolle erlebt haben. Rollentausch ist ein Mittel des Psychodramas, Rollen mit Inhalten zu füllen und in einen Austausch miteinander zu bringen. Dabei wird die Rolle in der Regel aus dem inneren Wissen des Protagonisten gestaltet. Sharing ist eine Form des Feedbacks nach dem Spiel. Hier geben die Gruppenmitglieder eine bewertungsfreie Rückmeldung zu dem, was sie mit dem Protagonisten des Spiels an Erfahrungen, Empfindungen und Erkenntnissen teilen. Spiegeln ist eine Methode des Psychodramas, dem Protagonisten die Möglichkeit zu geben, aus der Szene zu gehen und vom Bühnenrand eine Sequenz durch andere Akteure der Gruppe gespielt zu sehen – wie in einem Spiegel. Soziales Atom ist das soziale Netz. Soziometrie ist die Darstellung der sozial relevanten Bezüge in einer Gruppe. Stegreifspiel ist ein freies Ausspiel einer Sequenz. Surplus Reality ist die über die sichtbare Realität hinausgehende Wirklichkeitsdimension – die Anders-Wirklichkeit. Das Psychodrama öffnet Bühnen zur Darstellung dieser Anders-Wirklichkeit. Tele (griech.: Ziel) ist die auf das Ziel (die Mitwirkenden im Psychodrama) eingehende Fähigkeit der Einfühlung. Vignette ist eine kurze spielerische Darstellungsform – als Szene oder Körperhaltung.

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Literatur Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Band 2 (1984). Frankfurt a. M. Leutz, G. (1986). Das klassische Psychodrama nach J. L. Moreno. Berlin, Heidelberg, New York. Luhmann, N. (2005). Soziologische Aufklärung 5: Konstruktivistische Perspektiven. Berlin. Moreno, J. L. (1959/1993). Gruppenpsychotherapie und Psychodrama (4. Auflage). Stuttgart, New York. Müller, M., Brathuhn, S., Schnegg, M. (2013). Handbuch Trauerbegegnung und -begleitung. Theorie und Praxis in Hospizarbeit und Palliative Care. Göttingen. Müller M., Schnegg, M. (2004). Der Weg der Trauer. Hilfen bei Verlust und Trauer. Freiburg. Schulz von Thun, F. (1981). Miteinander reden 1: Strömungen und Klärungen. Reinbek.

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