Als das Dorf noch Zukunft war: Agrarismus und Expertise zwischen Zarenreich und Sowjetunion 9783412217747, 9783412223854

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Als das Dorf noch Zukunft war: Agrarismus und Expertise zwischen Zarenreich und Sowjetunion
 9783412217747, 9783412223854

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BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE OSTEUROPAS BEGRÜNDET VON DIETRICH GEYER UND HANS ROOS HERAUSGEGEBEN VON JÖRG BABEROWSKI KLAUS GESTWA MANFRED HILDERMEIER JOACHIM VON PUTTKAMER BAND 47

Als das Dorf noch Zukunft war AGRARISMUS UND EXPERTISE ZWISCHEN ZARENREICH UND SOWJETUNION

VON KATJA BRUISCH

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften sowie der Göttinger Graduiertenschule für Geisteswissenschaften

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: „Bauerngespräche“ an der Moskauer Landwirtschaftlichen Akademie (erstes Drittel des 20. Jahrhunderts), Historisches Museum der TimirjazevLandwirtschaftsakademie Moskau © 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Frank Schneider, Wuppertal Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22385-4

I N H A LT ZUR REIHE  . . ............................................................................................................ 

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DANKSAGUNG  ..................................................................................................... 

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EINFÜHRUNG  .. ..................................................................................................... 

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1.  „ … DASS DIE ZUKUNFT UNS GEHÖRT“ – WISSENSCHAFT, ÖFFENTLICHKEIT UND POLITIK IM SPÄTEN ZARENREICH  .. ...................................................  1.1  Die Entdeckung der Bauern  . . .....................................................................  1.1.1  Die blinden Flecken der Agrarwissenschaft  ................................  1.1.2  Die bäuerliche Landwirtschaft als heuristisches Konzept  . . ......  1.1.3  Agrarfrage und sozialer Wandel  . . ...................................................  1.2  Agrarismus als wissenschaftliches Paradigma  ......................................  1.2.1  Die Wende zur Sozialwissenschaft  .. ..............................................  1.2.2  Der Mythos von der „werktätigen Bauernwirtschaft“  . . ............  1.2.3  Genossenschaftsdiskurs und Gesellschaftskritik  .......................  1.3  Agrarismus als gesellschaftliche Bewegung  . . ........................................  1.3.1  Die Mission der Agronomen  .. .........................................................  1.3.2  Strategien der professionellen und sozialen Vernetzung  . . ........  1.3.3  Agrarismus als politisches Programm  .......................................... 

31 31 31 36 42 52 52 60 66 73 73 79 89

2.  „BÜRGERPFLICHT“ UND „RETTUNG RUSSLANDS“ – AGRAREXPERTEN IN WELT- UND BÜRGERKRIEG  .....................  2.1  Aufstieg zur Expertenelite  .........................................................................  2.1.1  Der parastaatliche Komplex als Karriereoption  .........................  2.1.2  Agrarismus als staatliche Ideologie  . . ............................................  2.1.3  Die politische Mobilisierung des Agrarismus  ............................  2.2  Das Ende der Gewissheit  ..........................................................................  2.2.1  Inkorporation in die sowjetische Öffentlichkeit  ........................  2.2.2  Arrangements mit den Bolschewiki  .. ...........................................  2.2.3  Kollektive Irritation: der Bürgerkrieg  ......................................... 

99 99 99 107 120 128 128 142 151

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Inhalt

2.3  Grenzen der Verständigung  .. .....................................................................  158 2.3.1  Die politische Ökonomie des Sozialismus  . . ................................  158 2.3.2  Der Hunger und die letzte Mobilisierung der obščestvennost’  166 2.3.3  Konkurrenz um die öffentliche Deutungsmacht  .......................  171 3.  „25 JAHRE MIT DEM GESICHT ZUM DORFE“ – VORREVOLUTIONÄRE EXPERTEN UNTER DEN BOLSCHEWIKI  ....................................................................................  3.1  Die Verstaatlichung des Agrarismus  . . ......................................................  3.1.1  Karriere und Patronage  ....................................................................  3.1.2  Nationalisierung von Wissenschaft und Bildung  . . .....................  3.1.3  Expertise international  . . ...................................................................  3.2  Agrarismus und sozialistisches Credo  ....................................................  3.2.1  Déjà-vu: die Neue Ökonomische Politik  . . ...................................  3.2.2  Die Ordnung der Zukunft  ..............................................................  3.2.3  „Bürgerliche Spezialisten“ und bolschewistischer Antiintellektualismus  .. ....................................  3.3  „An der Agrarfront“  ...................................................................................  3.3.1  Die marxistische Wende der Agrarökonomie  .............................  3.3.2  Die Marginalisierung der alten Eliten  .........................................  3.3.3  Stalins Verdikt  .. .................................................................................  4.  „ … DER SCHWERE WAGEN DER GESCHICHTE“ – KONTEXTE DES ERINNERNS UND VERGESSENS  . . ......................  4.1  Agrarexperten in der Emigration  .. ............................................................  4.1.1  Sehnsucht nach der „Welt von gestern“  .......................................  4.1.2  Divergierende Horizonte  ................................................................  4.1.3  Neue Wege  .........................................................................................  4.2  Ausgrenzung und Vereinzelung in der Sowjetunion  ...........................  4.2.1  Stigmatisierte Experten  . . .................................................................  4.2.2  Physische Vernichtung und öffentliches Schweigen  ................  4.2.3  Einsame Ankunft im Sozialismus  ................................................  4.3  Konjunkturen der in- und ausländischen Rezeption  . . ..........................  4.3.1  Čajanov und die Krise der Modernisierungstheorie  .................  4.3.2  Die Neuvermessung des sowjetischen Dorfes  . . .........................  4.3.3  krest’janovedenie: Agrarismus im postsozialistischen Russland  .................................................... 

179 179 179 190 197 206 206 215 224 229 229 238 248

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Inhalt

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5.  „UNSERE DÖRFER … BESSER ALS EINE WÜSTE“ – SCHLUSSBETRACHTUNG  .......................................................................  334 6. ANHANG  .. ..........................................................................................................  6.1  Kurzbiographien  ..........................................................................................  6.2  Abkürzungsverzeichnis  .............................................................................  6.3  Glossar  .......................................................................................................... 

344 344 355 357

7.  QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS  ...................................  7.1  Quellen  .. .........................................................................................................  7.1.1  Archivmaterialien  . . ............................................................................  7.1.2  Quelleneditionen  ..............................................................................  7.1.3  Publizierte Quellen  . . .........................................................................  7.2  Sekundärliteratur  .. .......................................................................................  7.3  Abbildungsnachweis  .................................................................................. 

358 358 358 359 360 373 390

8. PERSONENREGISTER  . . ................................................................................  391

ZUR R EIHE Die Beiträge für Geschichte Osteuropas erscheinen fortan in einem neuen ­Layout. Zwanzig Jahre nach der letzten Veränderung und nach einem partiellen Gene­ rationswechsel halten die Herausgeber eine solche Auffrischung für angezeigt. Sie verbinden die äußere Kur mit einer inhaltlichen Neuausrichtung. Ohne den bis­ herigen Schwerpunkt aufzugeben, der auf der russisch-sowjetischen Geschichte lag, möchten sie die Beiträge stärker sowohl zur ostmitteleuropäischen als auch zur ‚allgemeinen‘, westeuropäischen Geschichte öffnen. Die Reihe soll weiterhin vor allem Monographien aufnehmen, dabei aber Osteuropa – in Anknüpfung an ihre Anfänge – wieder breiter verstehen und vergleichenden Perspektiven gebührenden Raum geben. Sie trägt damit einer ebenso aktuellen wie alten Einsicht Rechnung: dass der Blick in die Tiefe zur klarsten Erkenntnis führt, wenn er in ein breites Sichtfeld eingebettet bleibt. Gerade in diesem Sinn soll die Reihe weiterhin sichern, wofür sie bislang zu stehen versucht hat: ein hohes Niveau an akribischer und zugleich reflektierter Forschung.

DA N K S AG U N G Mein besonderer Dank gilt Manfred Hildermeier, dem Betreuer meiner Disser­ tation, der meine Arbeit von Anfang an mit viel Interesse und Wohlwollen unterstützt und mich mit der Versicherung, der rote Faden werde sich mit der Zeit schon zeigen, immer wieder motiviert hat. Dass aus den einzelnen Gedankensträngen ein zusammen­hängender Text entstand, haben viele Menschen und Institutionen möglich gemacht. Das DFG-­Graduiertenkolleg „Generationengeschichte“ an der Georg-­ August-Universität G ­ öttingen hat mich in den ersten beiden Jahren der Promotion mit einem Stipendium gefördert. Hier erhielt ich auch wichtige methodische Anregungen sowie hervor­ragende Arbeitsbedingungen. Das Deutsche Histo­rische Institut in Moskau finanzierte im Frühjahr 2009 einen dreimonatigen Archiv­aufenthalt und war damals eine wichtige Anlaufstelle bei alle größeren und kleineren Moskauer Sorgen. Dass ich meine Dissertation als Mitarbeiterin des DHI fertig stellen konnte, erwies sich als ein großes Glück. Als Direktor des Instituts hat Nikolaus Katzer in der Abschlussphase die nötigen Freiräume gewährt. Meine Kollegen Sandra Dahlke, Lorenz Erren, ­Ingrid Schierle und Denis Sdvižkov haben Teile der Arbeit gelesen und mit geistreichen Kommentaren ver­sehen. Sie waren und sind mir auch in vielen anderen Fragen wichtige Ansprechpartner. Hilfreiche Anmerkungen zum Manuskript erhielt ich ebenfalls von den Mitgliedern meiner Promotions­kommission Lutz Häfner und Michael ­Kopsidis. Michael Kopsidis hat es außerdem möglich gemacht, dass ich mich Ende 2012 am IAMO in Halle/Saale für zwei Wochen ganz in die Fertigstellung des Manuskripts vertiefen konnte. Danken möchte ich auch David Feest, Jörn Happel, Julia Herzberg, Ulrike Huhn und Julia Metger. Auf den verschiedenen Etappen sind mir ihre elektronischen Literaturlieferungen, die aufmerksame Lektüre von einzelnen Teilen oder des gesamten Texts, Humor und Durchhalteparolen eine große Hilfe gewesen. Julia Metger nahm darüber hinaus meine zahllosen Anrufe aus Moskau entgegen. Elena Kalinina und Tat’jana S ­ avinova von der Abteilung für persönliche Nachlässe des RGAĖ waren nicht nur immer geduldig und hilfsbereit, wenn ich mich mit dem Entziffern einzelner Dokumente schwertat. Sie haben mir auch so manchen Archivtag mit Tee und Konfekt versüßt. Meine Moskauer Gesprächspartner Sergej Alymov, Igor̕ Kuznecov und ­Aleksandr Nikulin machten mich auf verschiedene Aspekte des Themas aufmerksam, ohne die dieses Buch wohl um einige Nuancen ärmer wäre. Kurz vor der Drucklegung half Stanislav Veličko vom Historischen Museum der Timirjazev-Akademie in M ­ oskau mit der unbürokratischen Genehmigung zur Veröffentlichung von Fotografien aus den Museumsbeständen. Meiner Mutter und ihren Tomatenpflanzen widme ich dieses Buch.

E I N F Ü H RU N G Im Jahr 1925 erschien unter dem Titel „Bauerngespräche“ (krest’janskie besedy) in Moskau eine kleine Broschüre. Gedacht war sie für die Vorbereitung von Ver­ anstaltungen, bei denen ausgewiesene Landwirtschaftsspezialisten den Bauern nahe bringen sollten, wie diese ihre landwirtschaftlichen Erträge steigern konnten, indem sie etwa die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Fruchtfolgesysteme bedachten, Düngemittel einsetzten oder moderne Gerätschaften benutzten. Neben Rat­schlägen zum inhaltlichen Aufbau solcher Schulungen beinhaltete das kleine Heftchen ein Plädoyer dafür, einen Dialog zwischen Bauern und Experten in Gang zu setzen. Nur eine Verbindung von Theorie und Praxis, wissenschaftlicher Erkenntnis und tradiertem Erfahrungswissen könnte zum landwirtschaftlichen Erfolg führen: „1. Das bäuerliche Publikum besitzt einen großen Vorrat an Wissen und praktischer Erfahrung, der häufig die Kenntnisse des Lektors übersteigt. 2. Der Lektor verfügt seinerseits über Kenntnisse, die für die Bauern von Nutzen sind, sowie über die Fähigkeit, schwierige landwirtschaftliche Fragen zu klären. 3. Die Aufgabe der Bauerngespräche besteht darin, diese beiden Wissensquellen – die praktische Erfahrung und den theoretischen Gedanken – miteinander zu verbinden […].“1

A. G. Dojarenko (1874 – 1958), der Verfasser des Leitfadens, zählte zu den ange­ sehensten Agrarexperten seines Landes. Er leitete die landwirtschaftliche Versuchsstation der Landwirtschaftlichen Timirjazev-Akademie in Moskau, wo er zugleich eine Professur für Allgemeine Landwirtschaftslehre innehatte.2 Daneben war ­Dojarenko ein gefragter Berater im russischen Volkskommissariat für Landwirtschaft, der Schaltstelle staatlicher Agrarpolitik während der 1920er Jahre. Der berufliche Werdegang des Agrarwissenschaftlers ist symptomatisch für die Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik im ­späten Zarenreich und der frühen Sowjetunion, die im Zentrum dieser Untersuchung 1 2

Dojarenko, Krest’janskie besedy, S. 13f. Die größte landwirtschaftliche Hochschule Russlands wurde mehrfach umbenannt. Gegründet wurde sie 1865 als Land- und Forstwirtschaftliche Petrovka-Akademie (Petrovskaja zemledel’českaja i lesnaja akademija). Zwischen 1894 und 1917 hieß die Einrichtung offiziell Moskauer Landwirtschaftliches Institut (Moskovskij sel’skochozjajstvennyj institut). 1917 erfolgte die Umbenennung in Landwirtschaftliche Petrovka-Akademie (Petrovskaja sel’skochozjajstvennaja akademija) und 1923 in Landwirtschaftliche Timirjazev-Akademie (Sel’skochozjajstvennaja akademija imeni K. A. Timirjazeva). Vgl. Moskovskaja Sel’skochozjajstvennaja Akademija, S. 13 – 186.

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stehen. Zur Beschäftigung mit der Landwirtschaft gelangte Dojarenko über Um­­ wege.3 Wie viele seiner Zeitgenossen hatte der Sohn eines Dienstmädchens zunächst von einer Karriere als Ingenieur geträumt.4 Nach einem missglückten Versuch, sich am Petersburger Institut für Verkehrswesen zu immatrikulieren, hatte er Natur­ wissenschaften und Recht an der Petersburger Universität studiert und eine Meister­ klasse in Kompositionslehre unter der Leitung des berühmten Komponisten N. A. Rimskij-Korsakov absolviert. Im Jahr 1898 begann Dojarenko dann ein Studium der Agronomie am Moskauer Landwirtschaftlichen Institut. Fortan stand die Landwirtschaft im Zentrum seiner professionellen Tätigkeit. Nachdem er im Anschluss an das Studium einige Jahre als Wissenschaftler tätig gewesen war, übernahm er während des Ersten Weltkrieges Funktionen in mehreren von der Regierung einberufenen Gremien zur Sicherstellung der Lebensmittelversorgung. Nach der Februarrevolution gehörte der Agrarwissenschaftler verschiedenen Expertenkommissionen an, die im Auftrag der Provisorischen Regierung eine Bodenreform ausarbeiteten. Neben seiner Tätigkeit als Professor beriet er die Bolschewiki in den 1920er Jahren in Fragen des landwirtschaftlichen Versuchswesens und arbeitete in der Planungsabteilung des Volkskommissariats für Landwirtschaft. Dojarenko war Teil der sowjetischen Bürokratie. Unter seinen Zeitgenossen war Dojarenko vor allem als Pädagoge und Organisator landwirtschaftlicher Beratungsprogramme bekannt. Das Anliegen, landwirtschaft­ liche Praxis und theoretisches Wissen miteinander zu verbinden, zog sich wie ein roter Faden durch seine professionelle Biographie. Er war aktiv in die Popula­risierung von Wissen involviert, dem sich Vereine, gelehrte Gesellschaften, nichtstaatliche Bildungseinrichtungen, Museen und berufliche Interessenverbänden im ausgehenden Zarenreich widmeten.5 So unterrichtete Dojarenko nicht nur am Moskauer Landwirtschaftlichen Institut, sondern auch an den auf private Initiative gegründeten Golicynschen Landwirtschaftlichen Kursen für Frauen und der Moskauer Städtischen Volkshochschule. Über einen Zeitraum von fast drei Jahrzehnten war Dojarenko außerdem Herausgeber des „Landwirtschaftsboten“ (Vestnik sel’skogo chozjajstva), einer der führenden Agrarzeitschriften des Landes, die nicht nur Wissenschaftlern, sondern auch praktisch tätigen Agronomen, Genossenschaftsvertretern, Land­ vermessern und Ökonomen in der Provinz als Informations- und Kommunikationsplattform diente. Zu besonderer Popularität verhalfen ihm seine Bemühungen um

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Zur Biographie Dojarenkos siehe Kurenyšev, On slyšal muzyku polej. Am Ende seines Lebens verfasste Dojarenko eine Autobiographie, in der er auf die Anfangsjahre seiner Tätigkeit als Agronom einging. Dojarenko, Iz agronomičeskogo prošlogo. Zur Popularität des Ingenieurberufs im späten Zarenreich siehe Schattenberg, Stalins Ingenieure, S. 51. Andrews, Science, S. 26 – 35.

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A. G. Dojarenko (1912)

einen direkten Austausch zwischen Wissenschaftlern und Bauern. Als langjähriges Mitglied der Moskauer Landwirtschaftlichen Gesellschaft (Moskovskoe obščestvo sel’skogo chozjajstva) und der Gesellschaft zur Verbreitung landwirtschaftlicher Kenntnisse im Volk (Obščestvo rasprostranenija sel’skochozjajstvennych znanij v narode) richtete Dojarenko Schulungen für die landwirtschaftlich tätige Bevöl­ kerung aus, die er bis in die späten 1920er Jahre fortführte. Bereits 1921 sah er sich in seinem Anliegen, Bauern und Experten zur Kooperation anzuregen, bestätigt. Die Angebote der Agronomen würden auf dem Dorf in Anspruch genommen und bereitwillig umgesetzt: So sei das schon vor der Revolution gewesen.6 Dojarenkos Wertschätzung bäuerlichen Erfahrungswissens und sein Vertrauen in die Modernisierungsbereitschaft der Bauern waren keine Selbstverständlichkeit. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Modernisierung des ländlichen Raums

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Dojarenko, Charakternye čerty, S. 4.

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eines der bedeutendsten Themen auf der politischen und gesellschaftlichen Agenda Russlands. Nicht wenige Zeitgenossen glaubten, die Bauern seien der Grund für den ökonomischen Entwicklungsrückstand, den sie beim Vergleich Russlands mit den Ländern Westeuropas oder den USA feststellten. Für die Vertreter der poli­tischen und gesellschaftlichen Eliten war der Verweis auf die Rückständigkeit der länd­ lichen Bevölkerung ein Modus der kulturellen Selbstverständigung.7 In Ivan Bunins Erzählung „Das Dorf“ (1909/10) wettert Tichon, einer der Haupt­protagonisten, im Alkoholrausch: „Sie pflügen schon tausend Jahre, ach was, mehr! Aber vernünftig pflügen, das versteht nicht einer! Ihre einzige Arbeit verstehen sie nicht! Wissen nicht, wann sie aufs Feld sollen! Wann sie säen sollen, wann mähen! ‚Wir machen’s wie alle‘, das ist ihre ganze Weisheit.“8 Maksim Gor’kij teilte die Auffassung, die russischen Bauern seien unwissend und traditionsverhaftet. 1922, also nur ein Jahr, nachdem sich Dojarenko so positiv über den Innovationswillen der Bauern ge­­äußert hatte, zeichnete der Schriftsteller ein düsteres Bild: „Wer im Leben des Dorfes etwas Eigenes, Neues einführen will, dem tritt es mit Mißtrauen und Feindseligkeit entgegen, zermürbt ihn rasch oder stößt ihn hinaus.“9 Die tiefe Abneigung führender Bolschewiki gegenüber dem Dorf wurde am Ende der 1920er Jahre schließlich zu einem entscheidenden Beweggrund für die gewaltsame Auflösung der bäuerlichen Agrarordnung. Mit der Kollektivierung sollten die Tradi­tionen des ländlichen Russlands ausgelöscht und die ländlichen Regionen nach den Vorstellungen der Revolutionäre geordnet werden.10 Mit seinem Glauben an die Entwicklungsfähigkeit des Dorfes stand ­Dojarenko jedoch keineswegs allein. Agronomen, Statistiker und Wirtschaftswissenschaftler prognostizierten am Beginn des 20. Jahrhundert einen dynamischen Aufschwung der bäuerlichen Landwirtschaft. Zwar rekurrierten auch sie auf das seit dem späten 18. Jahrhundert in Russland verbreitete Denken in Kategorien des Fortschritts und der Rückständigkeit.11 Das Unbehagen, das manche ihrer Zeitgenossen gegenüber der ländlichen Bevölkerung verspürten, war ihnen jedoch fremd. Vielmehr folgte ihre Auseinandersetzung mit der Landwirtschaft der Leit­idee, die Bauern seien die entscheidenden Protagonisten ländlicher Entwicklung. 1906 nannte der Kiever Ökonom V. A. Kosinskij die Bauernwirtschaft eine

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Kotsonis, Peasants. Bunin, Das Dorf, S. 419. Gorki, Vom russischen Bauern, S. 90. Lynne Viola, die den bäuerlichen Widerstand gegen die Kollektivierung untersucht hat, spricht in diesem Zusammenhang von einem „Krieg der Kulturen“ zwischen Bauern und Bolschewiki. Viola, Peasant Rebels, S. 3. Ausführlich dokumentiert wurde die Kollektivierung in Danilov et al (Hg.), Tragedija. 11 Hierzu Hildermeier, Privileg der Rückständigkeit.

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„lebensfähige, starke und zur Entwicklung fähige Wirtschaftsform“, die Krisen mitunter b ­ esser gewachsen sei als landwirtschaftliche Großbetriebe.12 Für den Moskauer Wirtschaftswissenschaftler N. P. Makarov stellte Kosinskijs Auffassung 1920 bereits eine Gewissheit dar. Mit seinen Forschungen, so Makarov in der Einleitung einer Monographie über die Ökonomie des russischen Dorfes, habe er sich „jenen Stimmen anschließen [­wollen], die sagten, dass die Bauernwirtschaft nicht nur fortschrittsfähig ist, sondern tatsächlich Fortschritte macht“.13 Der Ökonom verbarg nicht, dass er seine Arbeit als offene Stellungnahme in der Debatte über die soziale und ökonomische Rolle der ländlichen Bevölkerung betrachtete, die die Gemüter von Politikern, Wissenschaftlern und Intellek­ tuellen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert erhitzte. Sein Buch, verfasst in einer schmucklosen Sprache, voll von Tabellen und Zahlen, war ein Bekenntnis zur Lebens- und Wirtschaftsweise der Bauern: „[…] das bäuerliche Russland braucht seine eigene, intakte bäuerliche Ideologie.“14 Der Wunsch nach einer Integration bäuerlicher Traditionen in ein Entwicklungsprogramm für das Dorf war beileibe kein Spezifikum des Zarenreichs. Er war vielmehr eine Variante der Ideologie des Agrarismus – ein intellektueller Gegenentwurf, mit dem Politiker, Wissenschaftler, Bauernverbände, Genossenschafts­vertreter, Schriftsteller und Maler in vielen Teilen der Welt auf die sich abzeichnende Überwindung der traditionellen Agrargesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert ­reagierten und in dem sie ihr Unbehagen am rasanten Wachstum von Industrie und Städten ausdrückten.15 Im Zentrum des Agrarismus stand die Idee von der zentralen Rolle der Landwirtschaft in der ökonomischen Wertschöpfung. Diese ging einher mit der Überzeugung von der Höher- bzw. Gleichwertigkeit ländlicher gegenüber städtischen Lebensformen und einer grundlegenden Sympathie für die bäuerliche Familienwirtschaft als kleinste Einheit ländlicher Wirtschaft und Gesellschaft.16 Ideologisch bewegte sich der Agrarismus zwischen zwei Polen: dem konser­vativ-agrarromantischen Mythos einer untergegangenen ländlichen Gesellschaft auf der einen und der Vision einer Agrarmoderne mit hochspezialisierten ­Familienbetrieben, einflussreichen landwirtschaftlichen Interessen­verbänden, neuester Technologie und funktionsfähigen Märkten für Agrar­produkte auf der anderen Seite.17 Im Fall von Wissenschaftlern wie Dojarenko war der Agrarismus ein „alternativer Modernisierungsdiskurs“18. Seine Anhänger 12 13 14 15 16 17 18

Kosinskij, K agrarnomu voprosu, Bd. 1, S. 478. Makarov, Krest’janskoe chozjastvo, S. V. Hervorhebung im Original. Ebd., S. VI. Einen Überblick über solche Gegenentwürfe bietet Mai, Agrarische Transition. Zu den philosophischen Wurzeln des Agrarismus siehe Montmarquet, Foundations. Eellend, Rural Citizen, Kap. 2. Schultz, Einleitung, S. 10.

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thematisierten die Bauern als Träger von Fortschritt und Wandel und entwarfen eine Agenda zur gleichberechtigten Integration der ländlichen Bevölkerung in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Wissen­schaft und gesellschaftlicher Gestaltungsanspruch gingen in der Auseinandersetzung mit der bäuerlichen Landwirtschaft Hand in Hand: Das Dorf wurde zum Angelpunkt der Zukunft.

P r ofe s sio n a l i sie r u ng u nd Ve r w i s s e n s ch a f t l ichu ng d e r Ag r a r p ol it i k Die Etablierung des Agrarismus fiel in eine Zeit, in der die Landwirtschaft und die ländliche Bevölkerung des Zarenreichs in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit rückten. Nach der schweren Hungersnot von 1891/92, die ­Hundertausenden Menschen das Leben kostete und weite Teile der ländlichen Bevölkerung in den betroffenen Gebieten von Nahrungsmittelhilfen abhängig machte,19 wurde die Modernisierung des ländlichen Russlands zu einem allseits diskutierten Thema. Die seit der Rezeption der Aufklärung unter Naturforschern und Gutsbesitzern verbreitete Auffassung, dass die Entwicklung der Landwirtschaft durch den Rückgriff auf wissenschaftliche Kenntnisse und planvolles Handeln gesteuert werden müsse, wurde zu einem Konsens, den Vertreter der staatlichen Bürokratie ebenso teilten wie eine stetig an Bedeutung gewinnende gesellschaftliche Öffentlichkeit. An den agrarwissenschaftlichen Instituten und Fakultäten des Lands ging die Zahl der Studienbewerber regelmäßig über die vorhandenen Studienplätze hinaus. Die Auflagen von Zeitschriften und populärwissenschaftlicher Publikationen mit landwirtschaftlichem Fokus nahmen stetig zu.20 Zugleich trat der Zentralstaat immer prominenter als Regulierungsinstanz des Wirtschafts- und Soziallebens auf dem Lande in Erscheinung. Im späten 19. Jahrhundert unternahmen zunächst das Innen- und das Finanzministerium zahlreiche Maßnahmen, um das Dorf in die ­administrativen Hierarchien des Reichs und die bäuerliche Landwirtschaft in die nationale Ökonomie zu integrieren. Mit der 1894 zum Abschluss gebrachten Umbildung des Agrarministeriums entstanden dann die institutionellen Voraussetzungen für eine interventionistische Agrarpolitik. Fortan war die Landwirtschaft ein reguläres Feld staatlicher Wirtschaftsförderung.21

19 Robbins, Famine, S. 170f., Appendix Tabelle 2, S. 186f. 20 Die umfassendste Studie über das wachsende gesellschaftliche Interesse und die Zunahme von nichtstaatlichen Initiativen zur Modernisierung der Landwirtschaft stammt von Gerasimov, Modernism. Siehe auch Elina, Ot carskich sadov, Bd. 1, Abschnitt II. 21 Yaney, Urge to Mobilize; ders., Imperial Russian Government; Macey, Government.

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Für Vertreter landwirtschaftsbezogener Disziplinen bedeutete das wachsende öffentliche Interesse an den ländlichen Regionen des Reichs einen Zugewinn an gesellschaftlicher Autorität und beruflichen Perspektiven. Mit der an Einfluss gewinnenden Idee, die Entwicklung des ländlichen Raumes lasse sich durch politische, ökonomische und legislative Maßnahmen sowie die Verbreitung von Bildung und Technik steuern, wurde das Wissen über das Dorf und seine Ökonomie zu einer verwaltungstechnischen und politischen Ressource. Absolventen der Agrarwissenschaft und der Politischen Ökonomie, Statistiker, Veterinärmediziner und Landvermesser fanden in den ländlichen Selbstverwaltungsorganen (sing.: zemstvo), Genossenschaften und Hochschulen des Zarenreichs ein sich dynamisch entwickelndes Tätigkeitsfeld.22 Auch in den Organen des Zentralstaats nahm die Nachfrage nach Landwirtschaftsspezialisten seit dem ­späten 19. Jahrhundert deutlich zu. Wie in anderen Bereichen der zentralstaatlichen Bürokratie ging die Wende zum agrarpolitischen Interventionismus mit dem Aufstieg von Fachleuten in den Staatsdienst einher. Personen mit einer agrarwissenschaftlichen bzw. landwirtschaftsbezogenen wissenschaftlichen Qualifikation boten sich nun ­Karrieren in der staatlichen Administration.23 Der Glaube an die Gestaltbarkeit ländlicher Entwicklung wurde somit zu einem Faktor sozialer Mobilität. Der Bedeutungszuwachs von Agrarexperten spiegelte nicht nur die zunehmende Professionalisierung der russischen Verwaltungskultur, sondern auch die „Verwissen­ schaftlichung des Sozialen“24 im späten Zarenreich und der frühen Sowjetunion. Die Modernisierung der bäuerlichen Landwirtschaft wurde nicht nur als ein technisches, sondern auch als ein soziales Problem diskutiert. Die Agrarspezialisten beschäftigten sich ausgiebig mit der Beschaffung von landwirtschaftlichem Gerät, der Klassifizierung landwirtschaftlicher Böden oder der Herstellung von Saatgut. Den Fragen, unter welchen Bedingungen die ländliche Bevölkerung effektivere landwirtschaftliche Verfahren anwenden würde oder welche Anreize ökonomischer oder rechtlicher Art sie zur Ausweitung ihrer Produktion bewegen könnten, schenkte ein bedeutender Teil von ihnen jedoch mindestens ebenso große Beachtung. Die Debatte über die Modernisierung der bäuerlichen Landwirtschaft war somit eine Auseinandersetzung über die Regulierung sozialer Beziehungen und als solche Teil eines breiten Diskurses über die Schaffung einer besseren Gesellschaft.25

22 Gerasimov, Modernism, Kap. 5. 23 Zum Bedeutungszuwachs von Experten in der zarischen Bürokratie und ihre Rolle im sowje­ tischen Staatsapparat siehe Rowney, Transition. Auf dem Gebiet der staatlichen Agrarpolitik wurde diese Entwicklung durch den Ersten Weltkrieg und die Revolution beschleunigt. Siehe hierzu die Abschnitte 2.1 und 3.1 dieser Arbeit. 24 Raphael, Verwissenschaftlichung. 25 Den Glauben an die gesellschaftliche Gestaltungskraft von Wissen teilten auch Vertreter humanund naturwissenschaftlicher Disziplinen. Beer, Renovating Russia, S. 3 – 6; Josephson et al,

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Ag r a r ex p e r t e n i m kol le k t ive n Por t r ät: Pe r s p e k t ive n ei ne r Id e e n -, Soz ia l- u nd Pol it i k ge s ch icht e d e s r u s si s che n Ag r a r i s mu s Die Biographie Dojarenkos ist ein geradezu mustergültiges Beispiel dafür, wie die Landwirtschaft vor dem Ersten Weltkrieg in den Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit rückte und landwirtschaftsbezogenes Wissen zu einer Ressource für sozialen Aufstieg wurde. Dojarenko gehörte einer Elite aus Wissenschaftlern, Genossenschaftsaktivisten, Publizisten und Intellektuellen an, die sich erfolgreich als Experten profilierten und die Vision einer von Bauern getragenen Agrarmodernisierung zu einem Gegenstand der staatlichen Agrarpolitik machten. Doch wie erlangten die Anhänger des Agrarismus die Autorität von Experten, deren Wissen als Ressource erfolgreicher Agrarpolitik in Anspruch genommen wurde? Wie erklärt es sich, dass ihre beruflichen Karrieren von der politischen Zäsur des Jahres 1917 scheinbar so wenig beeinflusst wurden? Wie vereinbarten die Vertreter dieser Elite die Idee einer bäuerlichen Agrarmodernisierung mit dem technokratisch-etatistischen Modernisierungsmodell zarischer Beamter und bolschewistischer Funktionäre, die die Bauern als Objekte einer notfalls gewaltsam durchzusetzenden Zivilisierungsmission betrachteten?26 Meine Untersuchung zielt auf eine Ideen-, Sozial- und Politikgeschichte des russischen Agrarismus im frühen 20. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stehen jene Personen, die den Agrarismus als wissenschaftliches Paradigma, gesellschaftliche Bewegung und politisches Programm konstituierten und damit zu einer öffentlichen Angelegenheit machten. Ich porträtiere die Vertreter dieser Elite im Rahmen einer kollektiven Biographie und untersuche ihre Karrieren im Bildungsund Hochschulwesen, ihren Beitrag zur „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ auf dem Feld der Agrarpolitik sowie ihre Rolle als politische Akteure mit einem eigenen politischen Programm. Auch wenn die Berufswege und mitunter sogar die persönlichen Biographien der hier im Zentrum stehenden Personen einander in zum Teil frappierendem Maße gleichen, zielt meine Untersuchung nicht auf die Konstruktion einer Normalbiographie. Vielmehr geht es mir um eine Verbindung von Struktur- und Akteursgeschichte.27 Dabei möchte ich am Beispiel einer konkreten gesellschaftlichen Gruppe den gesellschaftlichen oder politischen Wandel im Russland des frühen 20. Jahrhundert sichtbar machen. Zugleich untersuche ich die Wahrnehmungs- und Handlungsmuster führender Vertreter des Agrarismus Environmental History, S. 55f. Er strukturierte zugleich den Hygienediskurs im ausgehenden Zarenreich. Strobel, Gesundung Russlands. 26 Holquist, “In Accord …”; Baberowski, Verbrannte Erde, S. 172 – 191. 27 Schröder, Kollektive Biographien, S. 9; Gallus, Biographik, S. 42 – 46.

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sowie die sich verändernden Räume, Formen und Inhalte ihrer Interaktion. Dies soll dazu beitragen, die Agrarexperten in ihrer Zeit verorten, ohne ihre Position als individuelle Akteure oder Angehörige einer gesellschaftlichen Elite aus dem Blick zu verlieren.28 Das gruppenbiographische Porträt erleichtert es zugleich, den Agrarismus als eine politische Kraft zu verstehen. Auch wenn der Agrarismus in Russland nicht in Gestalt einer politischen Partei auftrat,29 beschränkte sich seine Reichweite nicht auf wissenschaftliche Abhandlungen, Datensammlungen oder ökonomische Modelle. Sowohl in der späten Zarenzeit als auch nach der Revolution waren seine ­An­hänger in eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Zukunft Russlands involviert. Die Hoffnung auf eine von der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung getragene Modernisierung des ländlichen Raums behinhaltete eine Stellungnahme zugunsten der gesellschaftlichen und politischen Gleichstellung der Bauern. Betrachtet man Kommunikation als ‚politisch‘, „wenn sie sich auf Belange eines „großen Ganzen“ [bezieht], das heißt auf Breitenwirksamkeit, Nachhaltigkeit und Verbindlichkeit zielt oder in diesem Sinne gedeutet [wird]“30, lassen sich sowohl die öffentliche Verständigung über die Zukunft des Dorfes wie auch die verschiedenen Bestrebungen zur Multiplikation und Institutionalisierung des Agrarismus als Akte politischer Kommunikation verstehen. Die vorliegende Arbeit beleuchtet, wie die Anhänger des Agrarismus im Rahmen von Hochschulen, auf Genossenschaftskongressen, in der Publizistik sowie in politischen Beratungsgremien ihre Vision eines künftigen Dorfes zur Sprache brachten und auf diese Weise Teilhabe an der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens einforderten. Sie leistet damit einen Beitrag zu einer Geschichte des Politischen im ausgehenden Zarenreich und der frühen Sowjetunion, die sich nicht an der Dichotomie von Staat und Gesellschaft orientiert, sondern Politik als einen prinzipiell offenen kommunikativen Aushandlungsprozess begreift.31 Meiner Untersuchung liegt ein sozialkonstruktivistisches Verständnis von Expertise zu Grunde. Expertise ist demnach keine objektiv feststellbare Tatsache, sondern das Ergebnis sozialer Interaktion: Selbst einzigartige Fertigkeiten oder Kenntnisse werden erst dann zur Expertise, wenn ihnen eine handlungsrelevante Bedeutung zugeschrieben wird und sie entsprechend nachgefragt werden. Experten lassen sich daher als „Personen [verstehen], von denen angenommen wird, dass sie aufgrund

28 Harders; Lipphardt, Kollektivbiographie. 29 Dies ist ein entscheidender Unterschied zum Agrarismus in Ostmittel- und Südosteuropa, wo sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in der Zwischenkriegszeit einflussreiche Bauernparteien ­etablierten. Vgl. van Meurs, Demokratie; Gollwitzer, Bauerndemokratie, S. 11 – 24. 30 Albert; Steinmetz, Be- und Entgrenzungen von Staatlichkeit, S. 20; Frevert, Neue Politikgeschichte. 31 Sperling, Jenseits von ‚Autokratie‘ und ‚Gesellschaft‘, S. 31 – 37.

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ihres routinemäßigen Umgangs mit bestimmten Themen Erfahrungen in relevanten Handlungskontexten gesammelt haben und daher Vertrauen sowie gesellschaft­ liches Ansehen genießen“32. Ob sich Personen oder Gruppen als Experten etablieren können, hängt wiederum davon ab, ob sie andere von ihrer Fähigkeit zur Lösung von Problemen überzeugen können bzw. ob ihre Fähigkeiten und ihr Wissen von Entscheidungsträgern als Ressource wahrgenommen und in Anspruch genommen werden.33 Ebenso wenig wie das Ansehen oder die Autorität stellt jedoch auch die Anerkennung einer Person als Experte einen unveränderlichen Sachbestand dar. Entsprechend begreife ich den Expertenstatus von Wissenschaftlern wie Dojarenko als Gegenstand eines fortwährenden Verständigungssprozesses über die Rolle wissen­ schaftlichen Wissens und die Verteilung von Entscheidungskompetenzen bei der Lösung der Agrarfrage. Im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen die Interdependenzen ­zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik. Diese betrachte ich nicht als feststehende, klar voneinander abgrenzbare Systeme, sondern als ineinander verschränkte kommunikative Räume, auf deren Standards, Werte und Hierarchien die Vertreter des Agrarismus mitunter selbst einwirken konnten. Ausgehend von dem Plädoyer zur „Historisierung der Wissensgesellschaft“34 möchte ich das Verhältnis zwischen dem Agrarismus als einer spezifischen Form des Wissens über die ländliche Ökonomie und der gesellschaftlichen und politischen Um­­gebung aufzeigen, in die er eingebettet war. Zugleich gehe ich der Frage nach, ob und in welchem Maße der Agrarismus als „gesellschaftliche Gestaltungskraft“35 wirksam wurde bzw. ob und wenn ja wie es seinen Anhängern gelang, relevante Entscheidungsträger für die Agenda der ländlichen Moderne zu mobilisieren. Meine Untersuchung verfolgt damit das in Bezug auf den ostmitteleuropäischen Raum formulierte, für den russischen Kontext aber nicht minder relevante ­An­liegen, den Agrarismus mit Blick auf seine Träger, Interessen und Institutionen zu untersuchen,36 um so zu Aussagen über die Wechselwirkungen zwischen Ideen und sozialer Ordnung zu gelangen.

32 Stehr; Grundmann, Expertenwissen, S. 9. 33 Zur Legitimität und Autorität von Experten siehe Turner, Problem, Hitzler, Wissen, S. 25 – 28; Engstrom; Hess; Thoms, Figurationen, S. 8f. 34 Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. 35 Diesen Begriff übernehme ich von Raphael, Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft. 36 Schultz, Einleitung, S. 9.

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L ä nd l iche Mo d e r ne a l s a n a ly t i s che K at ego r ie Im späten Zarenreich war die Beschäftigung mit den Bauern Teil einer u­ mfassenderen Auseinandersetzung über das Wesen und Schicksal Russlands. Die unterschied­ lichen Bilder, die sich die Eliten von den Bauern machten, zeigten an, wie sie sich die Zukunft ihres Landes vorstellten.37 Dies galt auch für die Vertreter der Agrarwissenschaften und ihrer Nachbardisziplinen, die die bäuerliche Ökonomie in das Zentrum ihres Interesses rückten. Anders, als wiederholt angenommen wurde, ging es Wissenschaftlern wie Dojarenko, Makarov oder Kosinskij nicht darum, „[…] eine idealisierte bäuerliche Welt vor der als rationalistisch empfundenen Moderne zu schützen“38. Vielmehr banden sie die ländliche Bevölkerung und die ­Traditionen der bäuerlichen Landwirtschaft in den Entwurf eines ökonomisch und techno­logisch fortschrittlichen Russlands ein. Die Agenda des Agrarismus resultierte aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der Transformation ländlicher Lebenswelten im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung, die die Wissenschaftler nicht nur aus Berichten über den Westen Europas oder Amerika kannten, sondern zunehmend auch in Russland beobachteten. Im Unterschied zu den meisten ihrer Zeitgenossen, die Fortschritt und Entwicklung mit der Ausweitung der Industrieproduktion und einer abnehmenden Bedeutung der Landwirtschaft in Verbindung brachten, formu­ lierten sie ein Programm, dessen Fokus nicht auf dem Wachstum der Städte lag, sondern die Entwicklung des Dorfes zur Maxime erhob. Agrarentwicklung galt dabei nicht als Voraussetzung einer wie auch immer gearteten urbanen Moderne. Sie war vielmehr Inbegriff einer Entwicklungsstrategie, die auf eine andere, eine ländliche Moderne zulief. Der Begriff der ländlichen Moderne bezieht sich in den folgenden Aus­führungen nicht auf einen spezifischen Entwicklungsstand ländlicher Regionen. Ich verwende ihn vielmehr als heuristische Kategorie zur Beschreibung einer zeitgenössischen Zukunftsprojektion.39 Ländliche Moderne dient als Chiffre für einen

37 Dies zeigt anhand von Bauerndarstellungen in Literatur, bildender Kunst und Wissenschaft Frierson, Peasant Icons. Auf die Bedeutung des Zusammenhangs zwischen Bauernbildern und Zukunfts­ projektionen der gebildeten Schichten verweist auch Herzberg, Gegenarchive, S. 8. 38 So die Einschätzung Joachim Zweynerts, der die Bauernwirtschaftstheorie des Agrarökonomen A. V. Čajanovs, eines engen Freundes und Kollegen Makarovs, etwas einseitig als direkte Fortsetzung des narodničestvo begreift. Zweynert, Thünen-Rezeption, S. 278. Zu ähnlichen Urteilen kamen marxistische Ökonomen in den 1920er Jahren und Vertreter einer marxistischen Strömung in der Entwicklungsökonomie. Eingehender hierzu siehe den Abschnitt 3.3 „An der Agrarfront“ sowie das Kapitel 4.1.1 „Čajanov und die Krise der Modernisierungstheorie“ dieser Arbeit. 39 Ähnlich begründet Yanni Kotsonis die Verwendung des Begriffs der Moderne als ­Analysekategorie: “[…] the important fact is that historical actors debated within the terms of modernity, and for this reason can be considered within the rubric of modernity. […] Russians participated in debates on

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Ordnungsentwurf, der die Tradition des populistischen Antiurbanismus 40 mit einem optimistischen Glauben an die gesellschaftliche Gestaltungskraft von Wissen und Vernunft verband, der seit der Aufklärung in Europa und den USA an Einfluss gewann und auch das Selbstverständnis professioneller Eliten im späten Zarenreich prägte.41 Hinter der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Bauern stand die Suche nach einer entwicklungspolitischen Agenda für das Dorf. Als der Moskauer Agrarökonom A. V. Čajanov im Jahr 1913 einen Vorlesungszyklus über die Funktionsweise von Genossenschaften hielt, unterstrich er, dass das Verständnis landwirtschaftlicher Genossenschaften keinen Selbstzweck darstellte. Vielmehr sah er darin eine notwendige Voraussetzung, um die ländlichen Regionen durch den gezielten Ausbau des Genossenschaftswesens in die Lage zu versetzen, „mit festen Schritten in eine bessere landwirtschaftliche Zukunft“ zu gehen und zur „ökonomische[n] Wiedergeburt des russischen Dorfes“ beizu­tragen.42 Čajanovs Worte verdeutlichen die zwei Dimension der zeitgenössischen Wahrnehmung, auf die sich der Begriff der ländlichen Moderne in den folgenden Ausführungen bezieht: auf die Überzeugung, man stehe am Beginn einer durch menschliches Handeln formbaren Zukunft,43 und den Glauben, Russland werde seine ländliche Prägung im Zuge von wirtschaftlicher Dynamisierung und ­sozialem Wandel nicht automatisch verlieren. Der Entwurf des Dorfes als Ort der Zukunft war ein Gegenprogramm zur urbanen Industriemoderne und ihren negativen Begleiterscheinungen. Dabei war der russische Agrarismus jedoch keine Absage an Entwicklung und Fortschritt an sich. Dass Wissenschaftler wie Dojarenko, Kosinskij, Makarov oder ­Čajanov die Bauern in das Zentrum ihres Zukunftsentwurfs stellten, bedeutete nicht, dass sie politischen Konservatismus, Nationalismus und kulturkritische Technik­ skepsis zu einem rückwärtsgewandten agrarian myth zu­­sammenfügten.44 Die Aus­einandersetzung mit dem ländlichen Russland war vielmehr Teil einer Agenda, die Kapitalismuskritik, wissenschaftlichen Gestaltungsanspruch und demokratischen Reformwillen zum emphatischen Entwurf einer „besseren Zukunft“45

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enlightenment, universalism, and integration through a discourse on the West.” Kotsonis, Introduction, S. 3. Zu den antiurbanistischen Visionen der Populisten und dem Fortleben antiurbaner Traditionen im sog. „Disurbanismus“ siehe Stites, Revolutionary Dreams, S. 26 – 30, 191 – 196. Hoffmann, Masses, S. 4 – 8, 19 – 34; Beer, Renovating Russia, S. 5 – 7. Čajanov, Kratkij kurs kooperacii (1915), S. 72f. Dies ist eine der Leitideen moderner Programmatik. Gumbrecht, Modern, S. 120 – 122. Zu den ideologischen Überschneidungen zwischen Agrarpopulismus und politischem Konser­ vatismus siehe Brass, Agrarian Myth. Die Traditionen des „romantischen Agrarismus“ in den USA beleuchtet Danbom, Romantic Agrarianism. Dies war der Titel eines Sammelbandes des Ökonomen M. I. Tugan-Baranovskij, der sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Gebiet der Genossenschaftstheorie hervortat.

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verband. Damit ist diese Agenda zugleich ein Beispiel für die Heterogenität moderner Programmatik im Russland des frühen 20. Jahrhunderts. Pläne zur Modernisierung des ländlichen Raums beinhalteten nicht notwendigerweise Maßnahmen zur Zentralisierung, Homogenisierung und Kollektivierung, die bisweilen als die einzigen Antworten gelten, mit denen Zeitgenossen auf die wahrgenommene Rückständigkeit der russischen Landwirtschaft reagierten.46 Wie in anderen Ländern war die Überzeugung, dass eine dauerhafte Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge flexible und lokale Lösungen erforderte,47 auch unter vielen russischen Agrarexperten Konsens.48 Konkret zielte die Agenda von Wissenschaftlern wie Dojarenko auf die Stärkung von bäuerlichen Familienwirtschaften, Genossenschaften und ländlicher Selbstverwaltung. Damit wies die Vision der ländlichen Moderne nicht nur deutliche Überschneidungen mit modernistischen Ausprägungen des Agrarismus in Ostmitteleuropa auf. 49 Sie erinnerte auch an Vorschläge zur ländlichen Modernisierung, wie sie zeitgleich in einem transatlantischen Diskurs über die Verbindung von Marktwirtschaft, Sozialreform und demokratischer Mitbestimmung entstanden. In ihrem Kern war die Agenda der ländlichen Moderne daher ein Beispiel für „Sozialpolitik in einem progressiven Zeitalter“50.

Tugan-­Baranovskij, K lučšemu buduščemu. 46 So sieht James C. Scott die entscheidenden Prinzipien, die dann während der Kollektivierung zum Tragen kamen, bereits in der Agrarpolitik des zarischen Staates angelegt: “[…] same belief in reform from above and in large, modern, mechanized farms as the key to productive agriculture. There is also, alas, the same high level of ignorance about a very complex rural economy coupled, disastrously, with heavy handed raids on the countryside to seize grain by force.” Scott, Seeing like a State, S. 204. 47 Auf dem Gebiet der Pflanzenzucht wurden die Bedürfnisse von Kleinbauern im späten deutschen Kaiserreich ebenso berücksichtigt wie lokale landwirtschaftliche Bedingungen. Harwood, Green Revolutions, Kap. 2. Auch in Italien stand man am Beginn des 20. Jahrhunderts lokalen und traditionellen Formen von Wissen aufgeschlossen gegenüber. D’Onofrio, Knowing to Transform, S. 6. Die „reisenden Lehrstühle“ italienischer Agronomen waren entscheidende Instrumente zur An­­näherung von wissenschaftlicher Expertise und lokaler Erfahrung. Ebd., S. 50. 48 Im ausgehenden Zarenreich suchten Landwirtschaftsspezialisten und Bauern gleichermaßen nach Möglichkeiten, um die Landwirtschaft an die naturräumlichen Bedingungen der Steppe anzupassen. Mitunter sahen sie in der Steppe ein Ökosystem, dessen Erhalt eine nachhaltige Bewirtschaftung erforderte. Moon, Plough, Teil III. 49 Dass eine Reduzierung des Agrarismus auf eine antimoderne Verklärung des Landlebens zu kurz greift, unterstreichen Kubů et al., Agrarismus, S. 20. Zum ostmitteleuropäischen Agrarismus siehe außerdem Ionescu, Eastern Europe; Schultz; Harre (Hg.), Bauerngesellschaften. 50 So lautet der Untertitel einer transfergeschichtlichen Untersuchung zur Sozialpolitik im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Rodgers, Atlantic Crossings. Zur ländlichen Modernisierung siehe ebd., Kap. 8. Der russische Fall ist in Rodgers Darstellung nicht berücksichtigt, obwohl sich zahlreiche sozialpolitische Anliegen und Maßnahmen im späten Zarenreich kaum von jenen unterschieden, die im transatlantischen Raum diskutiert wurden.

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Ländliche Moderne ist zwar kein Quellenbegriff. Der Ausdruck erlaubt jedoch, zeitgenössische Vorstellungen über die Zukunft des ländlichen Russlands auf einen Nenner zu bringen. Denn diese Zukunft besaß einige Konturen. Der Statistiker und Ökonom N. P. Oganovskij war zuversichtlich, dass der russische Bauer künftig im Austausch mit dem Weltmarkt stehen, seine Waren auch jenseits der Grenzen seines Landes vertreiben, ausländische Maschinen benutzen und Geld genug besitzen würde, um seiner Frau an Feiertagen ein Tuch aus kaukasischem Stoff zu schenken.51 Entworfen von Vertretern der professionellen Eliten, für die die Ablehnung der gesellschaftlichen Hierarchien und der politischen Verfasstheit des Zarenreichs einen wichtigen Bestandteil ihres Selbstverständnisses bildete,52 ging die Vision von der ländlichen Moderne allerdings deutlich über den techno­ kratischen Wunsch nach wirtschaftlicher Optimierung und Wohlstand hinaus. Als der Agronom A. F. Fortunatov 1913 das Ideal des künftigen Dorfes mit den Begriffen „Brot“ (chleb), „Wissen“ (svet) und „Freiheit“ (svoboda)53 umriss, brachte er das gesellschaftspolitische Anliegen des Agrarismus auf den Punkt: Auf der Suche nach einer Alternative zur bestehenden Ordnung, die die Bauern in einem eigenen Stand zusammenfasste, rechtlich isolierte und politisch marginalisierte, formulierten seine Anhänger die Idee eines öffentlichen Gemeinwesens, das sich im Rahmen von Vereinen, Genossenschaften, Gesellschaften und Selbstverwaltungen „von unten“ (snizu) bildete und Bauern die gleichen Zutrittsmöglichkeiten zu den relevanten Entscheidungsgremien des Landes gewährte wie den privilegierten Schichten des Russischen Reichs..54 Die ländliche Moderne war folglich auch ein Imperativ des politischen Wandels.

For s chu ng s s t a nd u nd Q u el le n Obwohl der Agrarismus in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein in Abhängigkeit von der politischen Konjunktur mehr oder minder einfluss­reicher Bestandteil der staatlichen Agrarpolitik war, gibt es bislang keine systematische Studie über seine Konstituierung als intellektuelle Strömung und gesellschaft­liche 51 Oganovskij, Russkij krest’janin, S. 44f. 52 Hier bildeten die Agrarwissenschaftler, Statistiker und Ökonomen, die die Vision von der ländlichen Moderne entwickelten, keine Ausnahme. Vgl. Hoffmann, Masses, S. 32 – 34; Balzer, Professions, S. 190 – 196. 53 Fortunatov, Kto on?, S. 14. 54 Die Agrarexperten griffen auf das zeitgenössische Konzept obščestvennost‘ zurück, um ihre Vision einer Gesellschaft gleichberechtigter Staatsbürger zum Ausdruck zu bringen. Hierzu Gerasimov, Modernism, S. 23f. Siehe auch das Kapitel 1.2.3 „Genossenschaftsdiskurs und Gesellschaftskritik“ in dieser Arbeit.

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Bewegung, seine organisatorische Gestalt und seine politische Bedeutung. Arbeiten zur Ideen- und Politikgeschichte des späten Zarenreichs und der f­ rühen Sowjetunion konzentrierten sich meist auf die „großen“ Ideologien, wie den Marxis­mus, das narodničestvo oder den Liberalismus und ihre organisatorischen ­Ausprägungen in politischen Parteien. Die parteiübergreifende Debatte über das Moder­­­ni­sierungspotential der bäuerlichen Landwirtschaft ist daher noch nicht als eine eigene geistige Strömung identifiziert worden.55 Der Fokus auf die ­dominanten politischen Strömungen und Parteien führte dazu, dass Russland in international vergleichenden Studien über den Agrarismus entweder gar keine oder nur als Beispiel für eine radikale Variante agrarischen Denkens, das sich am deutlichsten im revolutionären Anspruch der Sozialrevolutionäre zeigte, Erwähnung fand. Auf der Landkarte des europäischen Agrarismus hat man Russland daher in der Regel am äußersten Rand lokalisiert und dessen progressive, reformorientierte Spielart im Zarenreich nicht explizit untersucht.56 In der Geschichte des wirtschaftlichen Denkens in Russland stellt der Agrarismus ebenfalls einen blinden Fleck dar. Zwar widmen sich einige theoriegeschichtliche Untersuchungen dem intellektuellen Erbe von Ökonomen, die auch im Zentrum der nachfolgenden Ausführungen stehen.57 Dass sich viele von ihnen, wie etwa der für seine Arbeiten zur Konjunkturtheorie bekannte Wirtschaftswissenschaftler N. D. Kondrat’ev oder S. N. Prokopovič, der mit seinen Studien zur sowjetischen Planwirtschaft internationale Reputation erlangte, ausgiebig mit Problemen von Agrarökonomie und -politik beschäftigten, wurde jedoch eher beiläufig behandelt. Da sich die Arbeiten zur ökonomischen Ideengeschichte in Russland auf die immanente Interpretation theoretischer Schriften konzentrieren,58 tendieren sie zudem dazu, die Rolle der Wirtschaftswissenschaftler als gesellschaftliche und politische Akteure sowie die Bedeutung von dominanten gesellschaftlichen Diskursen, ­institutionellen Bedingungen und politischen Machtverhältnissen für die

55 Parteigeschichtliche Arbeiten erwähnen zwar einige der hier interessierenden Personen. Vgl. etwa Hildermeier, Sozialrevolutionäre Partei; Galai, Liberation Movement; Emmons, Political Parties. Die parteiübergreifenden Gemeinsamkeiten des Agrardiskurses und die parteiübergreifende Kooperation seiner Vertreter wurden bislang jedoch kaum aus ideologie- und politikgeschichtlicher Perspektive thematisiert. 56 Vgl. Gollwitzer, Bauerndemokratie, S. 35 – 39 sowie nachfolgend Schultz, Einleitung, S. 10f.; Holec, Agrardemokratie, S. 42; Eellend, Rural Citizen, S. 32. Die unterschiedlichen Facetten agrarischen Denkens in Russland berücksichtigt Walicki, Russia. Dieser schenkt jedoch den Institutionen und Trägern des Agrarismus in Russland kaum Beachtung. 57 Zu den bedeutendsten Beispielen dieser Tradition zählen Zweynert, Geschichte; Barnett, History; Abalkin (Hg.), Očerki; Barnett; Zweynert (Hg.), Economics. 58 Dies gilt auch für Arbeiten zur agrarökonomischen Ideengeschichte, in denen russische Vertreter der Disziplin erwähnt werden. Brandt, Thaer; Schmitt, Alexander Tschajanow; Noũ, Studies, Kap. 10.

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Etablierung wissenschaftlicher Paradigmen zu vernachlässigen.59 So erschließen sie der öko­nomischen Theoriegeschichte zwar einen über viele Jahre stiefmütterlich behandelten historischen Raum. Sie tragen jedoch kaum dazu bei, die Wirtschaftslehre des späten Zarenreichs und der frühen Sowjetunion zu kontextualisieren.60 Ähnliches gilt für die detaillierten Untersuchungen zu den ideologischen Debatten über die Agrarfrage in der frühen Sowjetunion.61 Auch wenn diese die politischen Hintergründe der wirtschafts- und agrarwissenschaftlichen Auseinandersetzungen beleuchten, lassen sie die Akteursposition der Ökonomen, ihre Wahrnehmungsweisen und ihre Handlungsspielräume innerhalb sowjetischer Institutionen weitgehend außer Acht.62 Der Agrardiskurs des späten Zarenreichs und die staatliche Agrarpolitik im ersten Jahrzehnt der bolschewistischen Herrschaft wurden inzwischen eingehend erforscht. Yanni Kotsonis hat die Konstruktion der bäuerlichen Rückständigkeit im vorrevolutionären Elitediskurs offengelegt.63 Ilya Gerasimov untersuchte die Interaktionen zwischen Bauern und Experten,64 die in ländlichen Selbstverwal­ tungen, landwirtschaftlichen Gesellschaften oder Genossenschaften tätig waren.65 Die ­institutionengeschichtlichen Studien Markus Wehners und James W. Heinzens über das sowjetrussische Volkskommissariat für Landwirtschaft (Narkomzem) haben gezeigt, dass Agrarexperten, deren Karrieren in die Zarenzeit zurückreichten, wesentlich zur Übersetzung der Neuen Ökonomischen Politik in konkrete agrarpolitische Maßnahmen beitrugen.66 Obwohl diese Untersuchungen einander hervorragend ergänzen, lassen sie einige zentrale Probleme unberührt, die für das Verhältnis von Agrarismus, Expertise und Ideologie in Russland entscheidend sind. Dies betrifft 59 Wie eine Verbindung aus wirtschaftlicher Ideen-, Institutionen-, Sozial- und Politikgeschichte aus­ sehen kann, demonstrierten am Beispiel der bundesdeutschen Wirtschaftswissenschaften ­Nützenadel, Stunde der Ökonomen; Hesse, Wirtschaft als Wissenschaft. 60 Siehe meine Rezension zum jüngsten Sammelband von Vincent Banett und Joachim Zweynert. Bruisch, Rezension zu Barnett; Zweynert. 61 Gross, Agrarian Debate; dies., Rural Scholars; Cox, Peasants. 62 Dies ist vor allem eine Folge des limitierten Quellenmaterials. Gross und Cox verfassten ihre ­Arbeiten vor der Öffnung der russischen Archive nach dem Ende der Sowjetunion. Die Darstellungen beziehen sich daher fast ausschließlich auf die zeitgenössische Fachpresse und Publizistik. 63 Kotsonis, Peasants. 64 Siehe Gerasimovs überzeugenden Kritik an Kotsonis’ diskursgeschichtlichen Ansatz, der die Kommunikation zwischen beiden Gruppen weitgehend vernachlässigt. Gerasimov, Limitation. 65 Gerasimov, Modernism. Die Studie Gerasimovs kommt dem Anliegen eines Gruppenporträts der Agrarexperten am nächsten. Er untersucht eine über 1000 Personen umfassende Gruppe und kann individuelle Sichtweisen und Motivationen daher nur am Rande behandeln. Auch die Einbindung der vorrevolutionären Experten in den sowjetischen Staatsapparat sowie ihre wechselnden Rollen in den Hierarchien der sowjetischen Gesellschaft werden bei ihm nur knapp umrissen. Zur vor­ revolutionären Zemstvo-Agronomie siehe außerdem Matsuzato, Agronomists. 66 Wehner, Bauernpolitik; Heinzen, Soviet Countryside.

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das Zusammenspiel personeller, institutioneller und ideologischer Faktoren und deren Bedeutung für die Verständigung zwischen Experten und Bolschewiki und den dringenden Rückkehrwunsch einiger während des Bürgerkriegs ausgewanderter bzw. des Landes verwiesener Agrarwissenschaftler und Ökonomen in den 1920er Jahren. Auch das politische Selbstverständnis der Experten sowie ihre Einbindung in soziale Räume jenseits des bolschewistischen Staatsapparats und transnationale Expertennetzwerke wurden bislang nur vage behandelt. Darüber hinaus tendieren die genannten Arbeiten dazu, die Geschichte der Elite „vom Ende“, das heißt, mit dem Wissen um die tragischen Schicksale ihrer führenden Vertreter in der Zeit des Stalinismus zu lesen. Personen, die den Terror der 1930er Jahre überlebten oder ihre Karrieren in der Emigration fortsetzten, fanden bisher nur beiläufige Beachtung. Dies gilt auch für die Untersuchung Alessandro Stanzianis. Dieser hat zwar die Karrieren vieler der hier interessierenden Wirtschaftswissenschaftler verfolgt, führt seine Untersuchung jedoch nur bis in die Frühphase des Stalinismus.67 Das Erbe des russischen Agrarismus in der poststalinistischen Sowjetunion und jenseits der sowjetischen Grenze sowie seine Tradierung im postsowjetischen Russland sind daher noch nicht erforscht worden. Meine Untersuchung beruht auf einer Vielzahl unterschiedlicher Quellenarten. Anhand von wissenschaftlichen Monographien oder Beiträgen aus der ­zeitgenössischen wirtschafts- und agrarwissenschaftlichen Fachpresse, der wichtigsten Grundlage klassischer theoriegeschichtlicher Untersuchungen, werden die intellektuelle Genese des Agrarismus und seine Etablierung als wissenschaftliches Paradigma nachvollzogen. Publizistische Texte, Materialien über die Zusammenkünfte von Genossenschaftsvertretern und Agronomen, Tätigkeitsberichte landwirtschaftlicher Bildungs- und Forschungseinrichtungen, Dokumente von Genossen­ schaftsverbänden und landwirtschaftlichen Gesellschaften geben Auskunft über die Rolle der Elite im öffentlichen Raum. Zugleich lassen sie Rückschlüsse auf die Spielräume zum kollektiven Handeln zu, über welche die Anhänger des Agrarismus zu unterschiedlichen Zeiten verfügten. Das Schrifttum staatlicher Behörden dokumentiert die Einbindung der Landwirtschaftsspezialisten in die Agrarpolitik. Sitzungsprotokolle, Gesetzesentwürfe und die interne Korrespondenz bilden Entscheidungsprozesse innerhalb der ­betreffenden Behörden ab und erhellen Details über die Handlungsspielräume der Experten innerhalb der staatlichen Bürokratie. Für die Jahre vor der Machtergreifung der Bolschewiki betrifft dies insbesondere Veröffentlichungen über die Tätigkeit der versorgungspolitischen Organe der zarischen Regierung während des Ersten Weltkriegs sowie die Aktenbestände der Provisorischen Regierung. Dokumente aus den

67 Stanziani, L’économie.

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Beständen des Volkskommissariats für Landwirtschaft sowie der 1920 zur Kontrolle staatlicher Institutionen gegründeten Arbeiter-Bauern-Inspektion (Rabkrin), die das Narkomzem regelmäßigen Revisionen unterzog, liefern aufschlussreiche Details über die Tätigkeit der Experten im bolschewistischen Staatsapparat. Auf der Grundlage leider nur fragmentarisch überlieferter Selbstzeugnisse in Form von Briefen und Erinnerungen werden Selbstbilder, Wahrnehmungsmuster und Sinnhorizonte der Zeitgenossen rekonstruiert und die kollektive Biographie um eine Binnenperspektive der Akteure ergänzt. Die archivalischen Sammlungen, die in der Regel mit Hilfe von hinterbliebenen Angehörigen und aufgrund der Stigma­ ti­sierung vieler der hier interessierenden Personen bisweilen gegen den Widerstand der Archivverwaltungen angelegt wurden, sind jedoch mitunter sehr lückenhaft. Es ist davon auszugehen, dass ein entscheidender Teil privater Dokumente entweder bei Verhaftungen beschlagnahmt oder von den betreffenden Personen selbst bzw. ihren Angehörigen vernichtet wurde, um möglichen Verdächtigungen durch die Behörden zu entgehen.68 Trotz aller Lücken liefern diese Bestände jedoch wichtige Mosaiksteine, um private Sorgen, Ängste und Handlungsmotive in konkreten Situationen nachzuvollziehen und den russischen Agrarismus des frühen 20. Jahrhunderts aus einer akteurszentrierten Perspektive zu konturieren.

68 Hiervon berichtet der Sohn des Ökonomen L. B. Kafengauz in seinen Erinnerungen. RGAĖ f. 772, op. 1, d. 71, l. 4f.

1.  „ … DA S S D I E Z U K U N F T U N S G E H Ö R T “ – W I S S E N S C H A F T, Ö F F E N T L I C H K E I T U N D P O L I T I K I M S PÄT E N Z A R E N R E I C H

1.1  D ie E nt d e ck u ng d e r Ba u e r n 1.1.1  Die blinden Flecken der Agrarwissenschaft Bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts war das Russische Reich ein bäuerlich geprägtes Agrarland.1 Verglichen mit den führenden europäischen Wirtschafts­nationen setzte der sektorale Wandel in Russland verspätet ein und vollzog sich zugleich deutlich langsamer. War der Anteil der Landwirtschaft am Volkseinkommen in den ersten drei Jahrzehnten der Industrialisierung im Vereinigten Königreich von 45% auf 32%, in Deutschland von 32% auf 23%, in Frankreich von 50% auf 45% und in den Nieder­ landen von 25% auf 20% gesunken, zeigte dieser Indikator in Russland trotz einer aktiven staatlichen Industrialisierungspolitik im ausgehenden 19. Jahrhundert kaum Veränderungen. 1883 wurden 57% und 1913 noch immer 51% des ­Nationaleinkommens in der Landwirtschaft generiert.2 Die zeitge­nössische Bevölkerungsstatistik reflektiert die Schlüsselfunktion der Landwirtschaft für die Wirtschaft des Zarenreichs. Nach der Volkszählung von 1897 stammten 85,1% der Bevölkerung des europäischen Russlands aus dem Stand der Bauern. 74,9% der Gesamtbevölkerung waren in der Landwirtschaft tätig.3 In weiten Teilen des R ­ ussischen Reichs bestimmten patriarchal organisierte fami­liäre Haushaltswirtschaften das Bild der Landwirtschaft. Aufgrund ausgesprochen heterogener klimatischer und infrastruktureller Bedingungen waren der Markt­anteil der Agrarproduktion, die Fruchtfolge und der technische Entwicklungsgrad der Landwirtschaft regional stark verschieden.4 Im späten 19. Jahrhundert trugen 1

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Der Begriff „bäuerlich“ bezieht sich im Folgenden auf haushaltsbasierte, überwiegend familiär organisierte Formen der Landwirtschaft. Ein besonderes Kennzeichnen bäuerlicher Wirtschaften ist ihre partielle Integration in unvollständig entwickelte, schwankungsanfällige Märkte. Ein Teil ihrer Produktion ist für den Eigenbedarf bestimmt. Diese unklare Position zwischen Markt und Subsistenz unterscheidet eine Bauernwirtschaft vom kommerziellen landwirtschaftlichen Familien­ betrieb, der idealtypisch voll in perfekt funktionierende Märkte integriert ist. Ellis, Peasant economics, S. 4; Harwood, Green Revolutions, S. 9f. Gregory, Before Command, S. 28. Moritsch, Landwirtschaft, S. 249. Für eine langfristige Perspektive siehe Melton, Peasantries; Moon, Peasantry.

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Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik im späten Zarenreich

der Ausbau des Eisenbahnnetzes, ein dynamisches Bevölkerungswachstum und die wachsende Bedeutung von Absatzmärkten für Agrarprodukte im In- und Ausland zu einer Vertiefung der regionalen Spezialisierung bei.5 Obwohl Bauern den überwiegenden Anteil an der Bevölkerung ausmachten und Bauernwirtschaften die Landwirtschaft des Zarenreichs dominierten, war die bäuerliche Landwirtschaft als solche lange kein Gegenstand der russischen Agrarwissenschaft. Die Wurzeln der systematischen Auseinandersetzung mit der Landwirtschaft lagen im ausgehenden 18. Jahrhundert, als adlige Gutsbesitzer (pomeščiki) angesichts der beginnenden Kommerzialisierung ein ökonomisches Interesse an ihren Gutswirtschaften (usad’by) entwickelten.6 Nach der Aufhebung der adligen Dienstpflicht im Jahre 1762 bildete die Aussicht, ihre Ländereien in kontinuierliche Einnahmequellen zu verwandeln, für viele von ihnen einen Anreiz zur Rationalisierung ihrer Güter. Die pomeščiki erprobten neue M ­ ethoden zur Verwaltung ihrer Anwesen, führten landwirtschaftliche Experimente durch und verfassten Traktate über praktische Fragen der Landwirtschaft.7 Das geistige Klima des aufgeklärten Absolutismus begünstigte diese Entwicklung. Nachdem die Merkantilisten der Landwirtschaft traditionell wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatten, verbreitete sich mit der Rezeption physiokratischer Ideen unter Katharina II. die Überzeugung, die Förderung der Landwirtschaft und landwirtschaftlich relevanter Wissensbestände könne zum Wohlstand des Landes beitragen.8 Auf Geheiß der Zarin wurde 1763 eine Klasse für Landwirtschaft an der Akademie der Wissenschaften eingerichtet. 1765 folgte die Gründung der Freien Ökonomischen Gesellschaft (Vol’noe ėkonomičeskoe obščestvo), die bald zu den wichtigsten Foren für den intellektuellen Austausch über die Landwirtschaft zählen sollte.9 Die Genese der Agrarwissenschaft war Teil der Verwestlichung der gesellschaftlichen Eliten des Russischen Reichs. Wie in den Ländern Westeuropas, wo 5

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Zu den regionalen Dynamiken der Agrarentwicklung im späten Zarenreich siehe Löwe, Lage der Bauern, Kap. III; Leonard, Agrarian Reform, insbesondere S. 43 – 51, 198 – 202; Davydov, ­Vserossijskij rynok, Kap. 3. Es gibt nur wenige Darstellungen zur Geschichte der russischen Agrarwissenschaft. Einen allgemeinen Überblick bietet Nikonov, Spiral’. Die Geschichte des landwirtschaftlichen Versuchswesens untersuchte Elina, Ot carskich sadov. Zur Geschichte der russischen Agrarökonomie siehe Noũ, Studies, Kap. 10. Ein knapper Überblick über die Entwicklung der Disziplin stammt aus der Feder eines ihrer wichtigsten Vertreter: Čajanov, Osnovnye linii. Emmons, Gentry, S. 20 – 23 glaubt, dass nur wenige Adlige Initiativen zur Rationalisierung der Landwirtschaft unternahmen. Jüngere Forschungen belegen hingegen, dass landwirtschaftliche Versuche und das Abfassen von landwirtschaftlichen Traktaten lange vor der Aufhebung der Leibeigenschaft üblich wurden: Elina, Ot carskich sadov, Bd. 1, Kap. 2; Cavender, Nests, Kap. 3. de Madariaga, Russia, S. 123 – 136. Bradley, Voluntary Associations, S. 46 – 49; Amburger, Gelehrte Gesellschaften.

Die Entdeckung der Bauern

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vergleichbare Entwicklungen einige Jahrzehnte zuvor eingesetzt hatten,10 entwickelte sich die Landwirtschaft seit dem späten 18. Jahrhundert von einer privaten Ange­ legenheit des einzelnen Gutsbesitzers zum Gegenstand des gelehrten Diskurses. Nach dem Vorbild westeuropäischer Gutsbesitzer und -verwalter verfassten pomeščiki Zeitschriftenartikel oder kleinere Broschüren, in denen sie Probleme des Pflanzen­ baus und der Tierzucht erörterten. Einige von ihren richteten auf ihren usad’by Versuchswirtschaften ein und präsentierten diese als Musterbeispiele erfolgreicher Landwirtschaft.11 Eine wachsende Zahl adeliger Gutsherren engagierte sich darüber hinaus in landwirtschaftlichen Gesellschaften. Nachdem die Einrichtung der ersten reichsweit agierenden Assoziationen auf Vertreter der Monarchie zurückgegangen oder zumindest intensiv gefördert worden war, entwickelten sich die landwirtschaftlichen Gesellschaften im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend unabhängig von der Patronage durch die kaiserliche Familie. Seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ging die Gründung von Gesellschaften, deren Tätigkeit sich in der Regel auf das Gebiet eines Gouvernements erstreckte, häufig auf die Initiative von Angehörigen des gutsbesitzenden Adels zurück. Die Gesellschaften engagierten sich für die Weiterentwicklung und Verbreitung agrarwissenschaftlicher Erkenntnisse und bildeten darüber hinaus ein neues Forum lokaler Geselligkeit. Die Sorge um die Landwirtschaft wurde damit zu einem Bestandteil adeliger Kultur.12 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Landwirtschaft folgte Vorstellungen von Rationalität und Wirtschaftlichkeit, die von den Pionieren der Agrarwissenschaft in Westeuropa entwickelt worden waren. Die russische Agrarökonomie war zunächst eine rein betriebswirtschaftliche Disziplin, die darauf zielte, die Rechnungsführung der Adelsgüter zu professionalisieren. Mit der R ­ ezeption der Arbeiten Albrecht Thaers, einer der Urväter der Agrarwissenschaft,13 setzte sich im Zarenreich die Vorstellung durch, landwirtschaftlicher Erfolg bemesse sich an der Höhe des Gewinns, den ein Gut erwirtschaftete. So o ­ rientierten sich die ersten agrarökonomischen Kurse, die der Landwirtschaftsprofessor B. A. C ­ ellinskij seit 1842 unter dem Titel „Hauswirtschaft“ (Domovoustrojstvo) und später unter dem Titel „Wirtschaftsorganisation“ (Organizacija chozjajstva) am Landwirtschaftlichen Institut in Gory (Gorygoreckij

10 Abel, Agrarpolitik, S. 21f.; Klemm, Agrarwissenschaften, S. 29 – 33, 44 – 51. 11 Elina, Ot carskich sadov, Bd. 1, S. 137 – 159. Zu den frühesten Zeugnissen dieser Entwicklungen zählen die Aufzeichnungen des Tulaer Gutsbesitzers A. T. Bolotov aus dem späten 18. Jahrhundert. Ebd., S. 141 – 159. 12 Elina, Sel’skochozjajstvennye obščestva; Cavender, Nests, S. 117 – 132. 13 Zu Thaer siehe Klemm, Agrarwissenschaften, S. 77 – 86; Brandt, Thaer, S. 25 – 41. Zur Rezeption Albrecht Thaers in Russland siehe Čajanov, Osnovnye linii, S. 225f.; Elina, Ot carskich sadov, Bd. 1, S. 178 – 181.

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Sel’skochozjajstvennyj Institut) hielt, an den Interessen von pomeščiki und zukünftigen Verwaltern a­ dliger Güter. Auch die „Grundlagen der Agrarökonomie“ (Osnovy ­sel’skochozjajstvennoj ėkonomii) des Moskauer Professors A. P. Ljudogovskij sowie das 1875 unter seiner Beteiligung herausgegebene „Handbuch für russische Landwirte“ (Nastol’naja kniga dlja russkich sel’skich chozjajev) richteten sich an eine Leserschaft aus adligen Gutsbesitzern.14 Russische Agrarwissenschaftler übernahmen zugleich die in Westeuropa übliche Einordnung landwirtschaftlichen Wissens in den Bereich der Naturwissenschaften.15 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts rückte die Gene­rierung landwirtschaftsbezogener Wissensbestände auf der Grundlage von theo­retischen Erkenntnissen aus der Biologie, Chemie oder Physik an die Stelle des Beobachtens und Beschreibens landwirtschaftlicher Prozesse, wie es die Experimentalökonomen des 18. Jahrhunderts praktiziert hatten. Landwirtschaftlicher Fortschritt, so die Implikation des naturwissenschaftlichen Paradigmas, wurde erreicht, wenn ein Gutsherr bei seinen Anbauentscheidungen auf die Einsichten der Naturwissenschaften zurückgriff.16 Die Etablierung der Agrarwissenschaft war symptomatisch für die veränderte Wahrnehmung der Landwirtschaft im Diskurs der russischen Eliten. Hatte sie lange als ein undynamisches und wenig lohnenswertes Tätigkeitsfeld gegolten, sah man in ihr nun einen Wirtschaftszweig, der sich durch den Rückgriff auf wissenschaftliche Erkenntnisse in ein einträgliches Gewerbe verwandeln ließ. Mit dem in der zeitgenössischen ökonomischen Literatur postulierten Anspruch, Adelsgüter sollten einen betriebswirtschaftlichen Überschuss abwerfen, wurde das neuzeitliche Entwicklungsdenken Bestandteil des wissenschaftlichen Agrardiskurses. Der zeitgleich einsetzende Aufstieg der Naturwissenschaften förderte zudem die Überzeugung, bei der Agrarproduktion handele es sich um eine planbare ökonomische Größe. Kenntnisse über die Zucht von Pflanzen oder Tieren, über den Boden, das Klima oder das Wetter galten gleichsam als Versicherung gegen die Launen der Natur. Diese Entwicklungen spiegelten den optimistischen Glauben an die Gestaltbarkeit der Welt durch Wissen und Vernunft, der mit der Rezeption aufgeklärten Gedankenguts im 18. Jahrhundert im Zarenreich an Einfluss gewann. Die Landwirtschaft galt nun zunehmend als ein Gebiet bewusster menschlicher Intervention. „Wissenschaft­ liche Landwirtschaft“, brachte der Moskauer Professor für Mineralogie, Physik

14 Kuznecov, Osnovopoložniki, 205 – 213. 15 Zum herausragenden Stellenwert der Naturwissenschaften in der deutschen Agrarwissenschaft des 19. Jahrhunderts siehe Klemm, Agrarwissenschaften, Kap. IV. 16 „Die Landwirtschaft als Wissenschaft“, so der Moskauer Professor für Mineralogie, Physik und Landwirtschaft M. G. Pavlov im Jahr 1837, sei die „Anwendung der Naturwissenschaften zur Zucht für das Gemeinleben nützlicher Pflanzen und Tiere.“ Zitiert nach Elina, Ot carskich sadov, Bd. 1, S. 16.

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und Landwirtschaft M. G. Pavlov im Jahr 1838 dieses Denken auf den Punkt, sei „kalkulierter Erfolg“ (rassčitannyj uspech).17 Mit der Erhebung von Wissenschaft und betriebswirtschaftlicher Rationalität zu Maximen einer zeitgemäßen Landwirtschaft wurde die bäuerliche Landwirtschaft zu einem blinden Fleck der Agrarwissenschaft. Der bäuerliche Haushalt, bis in das 20. Jahrhundert die wichtigste soziale und wirtschaftliche Einheit des länd­lichen Russlands, hatte nur wenig mit dem Bild von der „richtigen“ Landwirtschaft gemein, das die zeitgenössische Agrarwissenschaft entwarf. Anstelle des wissenschaftlichen Wissens, das die Vertreter der neuen Disziplin zur conditio sine qua non erfolgreicher Landwirtschaft erhoben, beruhten die Anbauentscheidungen der Bauern vor allem auf mündlich überliefertem Erfahrungswissen. Darüber hinaus waren die Konsumbedürfnisse der Haushaltsangehörigen für das ökonomische Kalkül der Bauern viel entscheidender als ein monetär messbarer betriebswirtschaftlicher Gewinn, der im Zentrum der landwirtschaftlichen Betriebslehre stand.18 Russische Agrarwissenschaftler richteten ihren Fokus daher auf die idealiter „rationellen“ Wirtschaften der pomeščiki. Während dem wissenschaftlich interessierten Guts­besitzer im zeit­ genössischen Diskurs die Rolle eines Initiators von landwirtschaftlicher Entwicklung und agrartechnischem Fortschritt zugeschrieben wurde, traten die Bauern lediglich als Schützlinge ihrer wohlmeinenden Gutsherren in Erscheinung. Die Bauern, so eine geläufige Vorstellung, konnten die Ratschläge der ­Gutsbesitzer zwar ­umsetzen. Einen originären Beitrag zur Entwicklung der Landwirtschaft erwartete man von ihnen jedoch nicht.19 Als Studienobjekte der Agrarwissenschaft, deren Vertreter den Zielen des Wachstums und des Gewinns anhingen, schieden die Bauernwirtschaften folglich aus. Dass die Vertreter der russischen Agrarwissenschaft die adlige Gutswirtschaft in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit stellten, resultierte nicht allein aus der Übernahme westeuropäischer Maßstäbe von Wissenschaftlichkeit und Rationalität. Die neue Disziplin war zugleich ein Spiegel der sozialen und kulturellen ­Hierarchien des Zarenreichs. Bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft waren die Bauernwirtschaften durch eine Vielzahl von monetären und nichtmonetären Verpflichtungen ökonomisch mit den Gütern des Adels, des Staats oder der Kirche, denen sie angehörten, verflochten. Eine „bäuerliche“ Landwirtschaft war daher analytisch kaum fassbar.20 Hinzu kam, dass die Protagonisten des gelehrten Agrardiskurses in der Regel selbst von der bestehenden Organisation der ländlichen Herrschaft profitierten. Zwar ergriffen Vertreter des Landadels seit dem frühen 19. Jahrhundert vermehrt 17 18 19 20

Ebd., S. 169. Moon, Peasantry, S. 120 – 143. Cavender, Nests, 133 – 140. Moon, Peasantry, Kap. 3; Emmons, Gentry, S. 20 – 26.

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Maßnahmen zur landwirtschaftlichen Schulung der Bauern. Manche von ihnen plädierten in den 1850er Jahren sogar für die Aufhebung der Leibeigenschaft. Dies bedeutete jedoch nicht, dass sie die Bauern als unabhängige Landwirte ansahen. Vielmehr glaubten sie, diese benötigten den Schutz, die Fürsorge und die Anleitung durch den Gutsadel, um einen Beitrag zum Wohlstand der lokalen Gesellschaft und des Landes insgesamt zu leisten.21 In den Debatten über die rationelle Landwirtschaft entwickelten Wissenschaftler und Gutsadlige folglich auch Argumente für die Stabilisierung der lokalen Herrschaftsverhältnisse.

1.1.2  Die bäuerliche Landwirtschaft als heuristisches Konzept Die Idee, es gäbe eine bäuerliche Form der Landwirtschaft, entstand in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Wie in anderen Teilen Europas war die Auseinandersetzung mit der ländlichen Bevölkerung auch im Zarenreich Teil der Suche nach einer nationalen Identität. Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert hatten Dichter und Literaten das Dorf als Idylle beschrieben, in der Sitten und Moral nicht durch die Lasterhaftigkeit des Stadtlebens verdorben und nationales Brauchtum, Mythen und Lieder tradiert wurden.22 Dieser Topos spiegelte sich im Begriffspaar obščestvo und narod. Während sich obščestvo in der Bedeutung „höhere Gesellschaft“ zunächst auf einen kleinen Kreis politischer Würdenträger und Gelehrter bezog und im 19. Jahrhundert zunehmend der Selbstbeschreibung gesellschaftlicher Gruppen diente, die sich als Vertreter einer „höheren“, zumeist westlich geprägten Kultur verstanden, verkörperte narod die Idee der von äußeren Einflüssen unberührten Welt des Dorfes. Dem deutschen Volk und dem französischen peuple entsprechend bezog sich narod zugleich auf das Volk im Sinne der Nation. National- und Bauerndiskurs waren also auf das Engste miteinander verbunden.23 Im Zuge der Debatte über die Aufhebung der Leibeigenschaft während der 1850er Jahre trat dieser Zusammenhang offen zutage. Die Diskussionen über die konkrete Ausgestaltung der Reform spiegelten nicht allein den Wunsch wider, einer Proletarisierung der ländlichen Bevölkerung durch die Schaffung von Institutionen vorzubeugen, die Bauern weiterhin an das Dorf banden. Vielmehr beschworen die involvierten Beamten ein Nationskonzept, in

21 Cavender, Nests, S. 134f., 139. Auch Bartlett unterstreicht, dass viele Adlige die Maßnahmen zur Modernisierung der Landwirtschaft und zur Verbreitung landwirtschaftlicher Bildung unter den Bauern als Mittel zur Stabilisierung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung begrüßten. ­Bartlett, Voluntary Associations, S. 77. Vgl. hierzu auch das laufende Forschungsprojekt zur Lokal­verwaltung im Zarenreich von David Feest. 22 Rogger, National Consciousness, Kap 4. 23 Gleason, Terms, S. 18 – 21; Frierson, Peasant Icons, S. 21.

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dem Bauern und Boden untrennbar miteinander verbunden waren. Mit der Reformgesetzgebung wurde diese Vorstellung dann zu einer gesellschaftlichen Tatsache. Die Stärkung der bäuerlichen Kommunen und der Ausbau einer von der staatlichen Rechtsprechung isolierten ländlichen Gerichtsbarkeit machten die Bauern als eine vermeintlich homogene Bevölkerungsgruppe sicht- und unterscheidbar.24 Angehörige der etablierten Schichten und Vertreter der intelligencija wurden im Zuge dieser Entwicklungen von einem romantischen Bauernkult erfasst. Historiker, Juristen und Ethnographen erkoren die ländliche Bevölkerung zu ihrem Studien­objekt. Literaten und Künstler machten sie zum bevorzugten Gegenstand ihres Schaffens.25 Zugleich wurden die Bauern zur Projektionsfläche für Gesellschafts- und Nationsentwürfe der unterschiedlichsten Art. Anhänger der sozialrevolutionären Bewegung (narodničestvo), die in der bäuerlichen Dorfgemeinde eine ursozialistische Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausmachten, glaubten, sie könnten die ländliche Bevölkerung für einen Aufstand gegen die Autokratie gewinnen.26 Vertreter konservativer Gesellschaftsentwürfe sahen in den Dorfbewohnern da­­gegen einen Faktor gesellschaftlicher Stabilität. Zarische Beamte rückten die „russischen ­Bauern“ in das Zentrum ihrer politischen Rhetorik und stilisierten sie zum Fundament von Autokratie und Orthodoxie.27 Ihren ideologischen und politischen Differenzen zum Trotz stimmten die Eliten des Reichs in einem wichtigen Punkt überein. Sie konstruierten die Bauern als ihr kulturelles Gegenüber und entwarfen sie als eine spezifische gesellschaftliche Gruppe, von deren Wesensart wiederum das weitere Schicksal Russlands abhing.28 Die Entdeckung der Bauern löste eine paradigmatische Wende im Agrardiskurs des Zarenreichs aus. Mit der Etablierung der Bauern als sozialer Kategorie ließen sich nicht nur die Rechtsnormen, Sitten und Bräuche der Dorfbevölkerung von jenen anderer Bevölkerungsgruppen unterscheiden. In den Jahrzehnten nach der Aufhebung der Leibeigenschaft setzte sich auch die Auffassung durch, die Bauern betrieben eine spezifische Form der Landwirtschaft. Die Stärkung der Landum­ teilungsgemeinde (obščina) durch die Reformen Alexanders II. trug entscheidend zur Durchsetzung dieser Vorstellung bei. Aus Sicht der Zeitgenossen lebten die Bauern in der von äußeren Einflüssen weitgehend unberührten Welt der Dorfgemeinde, die nicht nur das gesellschaftliche Zusammenleben, sondern auch die landwirtschaft­ liche Tätigkeit der Bauern regulierte. So unterschied die Erntestatistik des zarischen Innenministeriums konsequent zwischen Umteilungsland und Ländereien, die sich 24 25 26 27 28

Dolbilov, Emancipation Reform. Zustimmend Gerasimov, Modernism, S. 24f. Petrovich, Peasant; Fanger, Peasant. Gleason, Young Russia, S. 36 – 44. Hughes, Misunderstanding. Frierson, Peasant Icons, Kap. 2.

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nicht in kommunalem Besitz befanden. Obwohl Angehörige des Bauernstands vielfach auch Böden bewirtschafteten, die keiner Umteilungsgemeinde gehörten, setzte die Statistik „kommunale“ (nadel’nye) und „bäuerliche“ (krest‘janskie) Ländereien gleich.29 Für die Vertreter des narodničestvo war die Umteilungsgemeinde ebenfalls die entscheidende Kategorie zur Beschreibung der bäuerlichen Landwirtschaft. Sie glaubten, dass das Zarenreich einer von den Ländern Westeuropas abweichenden historischen Entwicklung folgte: Dank der egalitären und gemeinwirtschaftlichen Tradition der obščina werde Russland die zahlreichen Probleme, die der Kapitalismus in den Staaten Westeuropas mit sich brachte, vermeiden und direkt zum Sozialis­mus übergehen können. Die Dorfgemeinde wurde somit zum Prototyp einer zukünftigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.30 Im ausgehenden 19. Jahrhundert etablierte sich die bäuerliche Landwirtschaft als heuristische Kategorie. Unter den Agrarwissenschaftlern, Ökonomen und Statis­ tikern, die die Generierung und Systematisierung von Wissen über die bäuer­liche Ökonomie des Dorfes vorantrieben, fand das narodničestvo a­ llgemeinen Zuspruch.31 Das zunehmende wissenschaftliche Interesse an der bäuerlichen Landwirtschaft führte daher zur Tradierung und Verstetigung zentraler Topoi des populistischen Diskurses. Es war jedoch weniger das idyllische Bild des bäuerlichen Sozialismus als die ideologische Neuausrichtung der Bewegung, die der wissenschaft­lichen Beschäftigung mit der bäuerlichen Wirtschaft Vorschub leistete. Nach dem „Gang ins Volk“ zerschlugen sich die Hoffnungen auf eine von der Masse der Bauern getragene Erhebung gegen die Autokratie. Während sich nun ein Teil der Bewegung in den Untergrund zurückzog, ihre Agitationstätigkeit auf die Arbeiterschaft richtete und sich auf den politischen Terror verlegte,32 artikulierten die Vertreter des „legalen“ narodničestvo den Wunsch nach einer Korrektur des idealisierten Bildes von der ländlichen Bevölkerung. Anstelle abstrakter philosophischer Traktate sollten Fakten Auskunft über die Lebenssituation und Interessen der Bauern geben. Hinter diesem Anliegen stand eine programmatische Wende. Hatte man zunächst an eine von sozialen und kulturellen Diffe­renzen unabhängige geistige Verbindung zur ländlichen Bevölkerung geglaubt, waren die moderaten Nardoniki überzeugt, dass die Bauern erst mit der Anhebung ihres Lebensstandards und 29 Nifontov, Zernovoe proizvodstvo, S. 233 – 235. Zum kommunalen Paradigma in der offiziellen Statistik siehe auch Darrow, Politics of Numbers, S. 56 – 58. 30 Darrow, From Commune to Household, S. 789; Gleason, Young Russia, S. 41, 46f. 31 Der Agrarwissenschaftler V. G. Bažaev, der im späten 19. Jahrhundert an der Petrovka-Akademie studierte, sollte sich später erinnern, dass die Ideen des narodničestvo damals zum mentalen Haushalt der meisten Landwirtschaftsstudenten gehörten. CIAM f. 642, op. 1, d. 456, l. 20 – 21. 32 Zu den Ursprüngen der revolutionären Bewegung und des politischen Terrors infolge der ­Desillusion angesichts der Passivität der ländlichen Bevölkerung siehe Offord, Revolutionary Movement, S. 19 – 35.

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einem entsprechenden kulturellen Bewusstsein die Verheißungen des Populismus verstehen würden. Die Vertreter dieser Auffassung entwickelten eine Mission, die nicht weniger idealistisch war als die Revolutions­erwartungen in der Dekade zuvor: Durch „kleine Taten“ (malye dela) wollten sie konkret zur Verbesserung der Lebenssituation auf dem Dorf beitragen, um die Bauern anschließend für die Durchsetzung einer neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnung zu gewinnen.33 Dass sich tausende Anhänger des legalen narodničestvo im ausgehenden 19. Jahrhundert der Umsetzung dieses Anliegens widmeten, war eine unintendierte Folge der Reformen Alexanders II. Mit den 1864 eingerichteten Organen der ländlichen Selbstverwaltung (sing: zemstvo) hatte die zarische Regierung einen sozialen Raum geschaffen, in dem Vertreter der gebildeten Schichten und die Bauern einander regelmäßig begegneten. Die Zemstvos übernahmen die Einrichtung von Schulen, Bibliotheken oder Krankenstationen, stellten tierärztliche Versorgungsangebote bereit und kümmerten sich um den Ausbau der lokalen Infrastruktur. Da Spezialisten für die Übernahme solcher Tätigkeiten auf dem Land knapp waren, löste die Etablierung der lokalen Selbstverwaltung einen Strom städtischer intelligenty in die russische Provinz aus. Das Dorf, das vorher für die meisten von ihnen eine „terra incognita“ gewesen war, wurde nun zu einem Bestandteil ihres täglichen Lebens.34 Vertreter des legalen narodničestvo erkannten in den Zemstvos ein berufliches Tätigkeitsfeld zur Realisierung „kleiner Taten“. An die Stelle von Feldarbeit in Bauernkleidung, die die Studenten im Sommer 1874 angezogen hatten, trat seit den 1880er Jahren die forschende, schulende und beratende Tätigkeit tausender auf das Land gereister Ärzte, Lehrer, Veterinäre und Bibliothekare. Diese stellte ihre Einbindung in die lokale Selbstverwaltung in den breiteren Kontext eines von den gebildeten ­Schichten des Landes eingeforderten gesamtgesellschaftlichen Wandels: Die Mitarbeiter der Zemstvos begriffen ihre Tätigkeit als Alternative zu einer Karriere im Staatsdienst. Zugleich sahen sie in ihr eine Möglichkeit, gesellschaftliche Kooperation jenseits der ständischen Hierarchien zu fördern.35 Sich selbst bezeichneten sie als „Drittes Element“ (nach den Staatsbeamten in der Provinz und den gewählten und über­ wiegend adligen Zemstvo-Abgeordneten) und brachten auf diese Weise zum Ausdruck, dass sie ihre gesellschaftliche Identität nicht von ihrer Herkunft oder ihrem Besitz, sondern von ihrer beruflichen Tätigkeit herleiteten.36

33 Zum „legalen“ narodničestvo siehe Baluev, Liberal’noe narodničestvo; Wortman, Crisis; Mendel, Dilemmas, Kap. 2. 34 Zu den Zemstvos siehe Emmons; Vucinich (Hg.), Zemstvo; Schedewie, Selbstverwaltung. 35 Porter; Gleason, Zemstvo; Timberlake, Zemstvo. 36 Gerasimov, Modernism, S. 27 – 30.

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Mit den Zemstvos entstanden die institutionellen Rahmenbedingungen für die systematische Generierung von Wissen über die bäuerliche Landwirtschaft. Das Statut von 1864 verlieh den ländlichen Selbstverwaltungen das Recht zur Erhebung und selbstständigen Verwendung eigener Steuern. Als Grundlage für die Bemessung der Steuerlast von Kommunen und Haushalten sollten der Wert und das Einkommen des als besteuerbar deklarierten Eigentums (insbesondere Boden, Wälder und kommunaler Grundbesitz) dienen. Solche Daten gingen jedoch weder aus den unregelmäßig durchgeführten „Seelenrevisionen“, die lediglich die kopfsteuer- und militärdienstpflichtigen Personen erfassten, noch aus der Landwirtschaftsstatistik der Zentralbehörden hervor. Die Eintreibung der Zemstvo-Steuern setzte daher die systematische Ermittlung der entsprechenden Angaben voraus. In den 1880er Jahren richteten zahlreiche Zemstvos eigene statische Abteilungen ein, die bis zum Sturz der Monarchie mehreren tausend Statistikern als Arbeitsort dienen sollten.37 Die überwiegende Zahl der Zemstvo-Statistiker verstand diese Tätigkeit als Beitrag zum Programm der „kleinen Taten“. Sie beschränkten ihre Erhebungen nicht auf die Erfassung und Bewertung des zu besteuernden Einkommens oder B ­ esitzes. Nach dem Vorbild des landesweit bekannten Statistikers V. I. Orlov, der seit den 1870er Jahren an einem statistischen Porträt der ländlichen Bevölkerung im G ­ ouvernement Moskau arbeitete,38 ermittelten sie eine Vielzahl von zusätzlichen Parametern. Neben Details über die ökonomische Tätigkeit der Bauern, den Umfang des von ihnen bearbeiteten Bodens oder ihren Bestand an Vieh und Inventar enthielten die Frage­bögen der Zemstvo-Statistiker mitunter sogar qualitative Indikatoren, wie etwa Angaben zum Bildungsniveau der Befragten oder zur medizinischen Ver­ sorgung der jeweiligen Region.39 In der Entwicklung der Zemstvo-Statistik zeigte sich die ideologische Krise des Populismus. In den 1870er Jahren hatten die Statistiker ihre Tätigkeit mit dem Anspruch aufgenommen, die ideologischen Prämissen des narodničestvo statistisch zu belegen. Sie wollten die Lebensfähigkeit der bäuerlichen Dorfgemeinschaft aufzeigen und der populistischen Vision einer gemeinschaftlichen Wirtschafts­ ordnung, die nicht den Logiken des kapitalistischen Konkurrenzkampfs unterlag, ein wissenschaftliches Fundament verleihen. Allerdings ließ sich der Mythos von der obščina als Prototyp einer sozialistischen Gesellschaftsordnung mit den Daten der Zemstvo-Statistiker nicht bestätigen. Entgegen der Annahme, die Dorfgemeinde sei ein von den Bauern geschaffenes Instrument zur Herstellung von Egalität, stellte sich heraus, dass der Lebensstandard innerhalb einzelner Gemeinden mitunter alles 37 Johnson, Liberal professionals; Abramov, Zemskaja statistika; Kaufmann, Russia, S. 520 – 531. 38 Zu Orlov siehe neben den aufgeführten Arbeiten zur Zemstvo-Statistik auch die Erinnerungen ­seiner Zeitgenossen. Čuprov, Vasilij Ivanovič Orlov; ders., Statističeskie trudy. 39 Johnson, Liberal Professionals, S. 347f.; Kingston-Mann, Statistics, S. 126f.

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andere als homogen war. Während sich wohlhabendere Bauern vielfach als Geldverleiher betätigten, waren ärmere Bauern häufig gezwungen, ihre Kommunen zu verlassen, um sich jenseits des Dorfes ein Einkommen zu suchen. Zugleich legten die Ergebnisse der Befragungen nahe, dass die ländliche Bevölkerung die meisten ökonomischen Entscheidungen nicht auf der Ebene der Kommune, sondern in den unabhängig voneinander kalkulierenden Haushalten fällte.40 Diese Ergebnisse veränderten das Bild von der bäuerlichen Landwirtschaft. Die Umteilungsgemeinde, bislang das prominenteste Konzept zur Beschreibung bäuerlicher Lebens- und Wirtschaftszusammenhänge, besaß offensichtlich nur einen geringen heuristischen Wert. Allem Anschein nach mussten Untersuchungen über die ländliche Ökonomie bei der Bauernfamilie als wirtschaftlicher Einheit ansetzen: „In ihren ökonomischen Beziehungen“, fasste der Statistiker und Ökonom A. V. Pešechonov diese Einsicht zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen, „[könne und müsse] die Bauernschaft nicht anders, denn als Gesamtheit einzelner, ein selbstständiges Leben führender Höfe oder Wirtschaften untersucht werden“41. Mit der Überwindung des obščina-Paradigmas gewannen die haushalts­internen Entscheidungen bäuerlicher Familien in der Analyse der Zemstvo-Statistiker an Gewicht. Der Voronežer Statistiker F. A. Ščerbina, der in den 1890er Jahren die so genannten Budgetstudien begründete, war einer der ersten, der die neue Sicht auf die bäuerliche Landwirtschaft in der Statistik etablierte. Anders als frühere Haushaltsstudien, die sich häufig auf Bestandsaufnahmen des bäuerlichen Besitzes an einem bestimmten Stichtag beschränkt hatten, erfassten Ščerbinas Erhebungen die monetären und nichtmonetären Einnahmen- und Ausgabenströme eines Bauern­ haushalts. Basierend auf einem Katalog von mehrenen Tausend Fragen waren sie ein entscheidender Schritt bei der Entstehung einer ökonomischen Theorie der Bauernwirtschaft.42 Die Erhebungen, die A. V. Pešechonov seit 1896 in den ­Gouvernements Kaluga und Poltava durchführte, führten die Versuche zur Rekonzeptualisierung der ländlichen Ökonomie weiter fort. Zur Beschreibung bäuerlicher Budgets griff Pešechonov auf Methoden der Buchhaltung zurück und unterzog auch die nicht­ monetären Posten eines Bauernhaushalts einer monetären Bewertung. Dabei machte er eine ­Beobachtung, die für die weitere Entwicklung des russischen Agrardiskurses richtungsweisend sein sollte: In bäuerlichen Familienwirtschaften, so Pešechonov, wurde anders kalkuliert als in den marktorientierten Wirtschaften der pomeščiki. Während sich Letztere an der betriebswirtschaftlichen Kategorie des Gewinns orientierten, bemaßen Bauern ihren Erfolg danach, ob ihre Erträge die Konsumbedürfnisse

40 Darrow, From Commune to Household, S. 794 – 796; Kingston-Mann, Marxism, S. 732 – 737. 41 Pešechonov, Iz teorii i praktiki, S. 166. 42 Čajanov, Bjudžetnye issledovanija, S. 35 – 40; Shanin, Awkward Class, S. 66 – 68.

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ihrer Familie abdeckten.43 Pešechonov legte damit den Grundstein für die analytische Unterscheidung zwischen einem „kapitalistischen“ und einem nichtkapitalistischen „bäuerlichen“ Segment in der Landwirtschaft des Zarenreichs. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich die Akzente im wissenschaftlichen Agrardiskurs des Zarenreichs deutlich verschoben. Bäuerliche Agrarproduzenten waren nun immer häufiger Gegenstand einer systematischen Beschäftigung mit der Landwirtschaft. Dies ging wesentlich auf die Krise der narodničestvo und die Etablierung der Zemstvo-Statistik zurück. Indem die Statistiker zunächst die obščina und anschließend die einzelne Bauernwirtschaft zum Gegenstand ihrer E ­ rhebungen machten, beendeten sie die frühere Indifferenz des wissenschaft­lichen Agrar­diskurses gegenüber den Bauern. Die Unterscheidung einer bäuerlichen und einer nicht­ bäuerlichen Landwirtschaft tradierte die Idee von der kulturellen Andersartigkeit der Bauern. Diese erhielt nun allerdings eine neue Nuance. Hatte der Verweis auf die Eigenheiten der bäuerlichen Kultur im Rahmen konservativer Gesellschafts­ entwürfe dazu gedient, die gesellschaftlichen Hierachien des Landes zu legi­timieren, folgte die analytische Unterscheidung von Bauern- und Gutswirtschaften im Diskurs von Agrarwissenschaftlern, Statistikern und Ökonomen dem Wunsch, der Fortschrittsidee des Westens ein alternatives Entwicklungsmodell entgegenzustellen, ohne dabei auf den Mythos der obščina festgelegt zu sein. Mit der konzeptionellen Trennung von bäuerlichen und nichtbäuerlichen Agrar­produzenten und der Etablierung des bäuerlichen Haushalts als einer eigenständigen analytischen Kategorie waren die entscheidenden Voraussetzungen für die Genese des Agraris­mus im Sinne eines alternativen Modernisierungsdiskurses entstanden: Fortan war die bäuerliche Familienwirtschaft das Symbol einer alternativen Zukunft des Russischen Reichs.

1.1.3  Agrarfrage und sozialer Wandel War die bäuerliche Landwirtschaft unmittelbar nach der Aufhebung der Leib­eigenschaft als Teil der vermeintlich autarken Lebenswelt des Dorfes thematisiert worden, galt sie am Ende des 19. Jahrhunderts als ein Feld der staatlichen Intervention. Auf der Ebene des Zentralstaats hatte in den 1870er Jahren die systematische Sammlung von Informationen über die ländlichen Regionen begonnen. Führende Beamte dachten zugleich über Möglichkeiten zur Regulierung der bäuerlichen Ökonomie nach und erarbeiteten Maßnahmen zur Institutionalisierung der staatlichen Herrschaft auf dem Dorf.44 Zu einem Politikum wurde die bäuerliche Landwirtschaft im Zusammenhang

43 Čajanov, Bjudžetnye issledovanija, S. 40 – 46; Darrow, Politics, S. 65 – 68. 44 Yaney, Urge to Mobilize, Kap. 2 und 3; Macey, Government, Kap. 1.

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mit der dürrebedingten Hungersnot, die das zentrale Schwarzerdegebiet und die Re­ gionen an der unteren und mittleren Wolga in den Jahren 1891/92 erfasste. Die Katastrophe bereitete der romantischen Verklärung des Dorfes im Elitendiskurs ein Ende. Nachdem die Bauern über Jahrzehnte zu revolutionären Hoffnungsträgern, wahrhaften Christen oder treuen Patrioten stilisiert worden waren, überwog nun die allgemeine Bestürzung über die Hilfslosigkeit, mit der die Dorfbevölkerung den Ernteeinbußen gegenüberstand.45 Vertreter unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und politischer Orientierungen sahen die Förderung der Landwirtschaft nun als ein eigenes Politikfeld an. Die Überwindung der traditionellen bäuerlichen Landwirtschaft, die als vermeintliche Ursache allen Übels im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stand, erhielt politische Priorität. Zwar konnten sich Bürokraten, Experten und Intellektuelle bis zum Sturz der Monarchie nicht auf einen gemeinsamen Kurs v­ erständigen. In ihrem Fernziel stimmten sie jedoch überein: Die vermeintliche Abgeschlossenheit der bäuerlichen Lebenswelt sollte aufgebrochen und die Landwirtschaft in einen profi­ tablen Wirtschaftszweig verwandelt werden. Mit der Entstehung der „Agrarfrage“, so der zeitgenössische Begriff für die angeblich chronische Krise der russischen Landwirtschaft, wurde die Rückständigkeit der Bauern im öffentlichen Diskurs zu einem einflussreichen Topos. Unter Vertretern staatlicher oder gesellschaftlicher Eliten war der Verweis auf die Kulturlosigkeit, den Traditionalismus und die unzeitgemäße landwirtschaftliche Praxis der Bauern ein Mittel der kulturellen Selbstvergewisserung.46 Eine Broschüre des Agrarministeriums aus dem Jahr 1896 beklagte nicht nur die „asiatische Trägheit und Faulheit“47 der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung, sondern attestierte dieser auch das Unvermögen, einfachste zivilisatorische Errungenschaften wertzuschätzen: Um den Schmutz und den Gestank, in dem er lebte, als Problem zu registrieren, müsste der mužik das Bedürfnis nach Komfort und Bequemlichkeit zunächst einmal entwickeln.48 Nach Auffassung des Statistikers und Ökonomen N. P. Oganovskij benötigten die einzelnen Bauernwirtschaften einen „geradlinigen, durchdachten Organisationsplan“; zu eigenen Er­­findungen seien die Bauern schließlich „nicht in der Lage“49. Wie ­selbstverständlich es war, die Bauern mit vormodernen Formen der Landwirtschaft in Verbindung zu bringen, spiegelte

45 Zur Bedeutung der Hungersnot für die Modernisierungsprogramme der gebildeten Eliten siehe Galai, Liberation Movement, S. 59 – 62; Gerasimov, Russians, S. 239. Auch Dojarenko erwähnt in seiner kurzen Geschichte der Petrovka-Akademie die Bedeutung der Hungersnot für die intellektuellen Eliten im Zarenreich. Dojarenko, K pjatidesjatiletiju, S. 7. 46 Kotsonis, Peasants. 47 [Ministerstvo Zemledelija i Gosudarstvennych imuščestv,] Obnovlennoe Ministerstvo, S. 48. 48 Ebd. S. 49. 49 Oganovskij, Agrarnyj vopros, S. 58.

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auch die Semantik des Agrardiskurses. So vermerkt der Eintrag „Landwirtschaft“ (zemledelie) im Brokgauz-Efron von 1894, man nenne Landwirte, die eine ­größere Wirtschaft führten, üblicherweise sel’skie chozjajeva, kleinere Landwirte, „zum Beispiel Bauern“, hingegen zemledel’cy.50 Auffällig an dieser Defi­nition ist, dass für die Besitzer größerer landwirtschaft­licher Produktionsstätten das aus dem Deutschen übertragene Wort „Landwirtschaft“ (sel’skoe chozjajstvo) zu Grunde gelegt, für die Bezeichnung der bäuerlichen Landwirtschaft hingegen das ältere russische Wort zemledelie gebraucht wurde. Während die Besitzer größerer Güter das Land bewirtschafteten, schienen die Bauern ihre Böden offensichtlich nur zu bearbeiten.51 Das Bild, das hier über das ländliche Russland vermittelt wurde, war eindeutig: Während die Besitzer großer Ländereien ihre Güter rational führten, hatten sich die Bauern in einer irrationalen Form des Wirtschaftens eingerichtet, in der die menschliche Arbeitskraft den Mangel an ökonomischer Voraussicht und Bildung kompensierte. In den 1890er Jahren vollzog die zarische Regierung die Wende zu einer interventionistischen Agrarpolitik. Auf institutioneller Ebene zeigte sich dieser Kurswechsel im Zuge der Reformierung des 1837 eingerichteten Ministeriums für Staatsdomänen (Ministerstvo gosudarstvennych imuščestv) und seiner Umbenennung in Ministerium für Landwirtschaft und Staatsdomänen (Ministerstvo zemledelija i ­gosudarstvennych imuščestv) im Jahr 1894. Die Bezeichnung der Behörde reflektierte die umfassende Rolle, die die zarische Regierung fortan auf dem Gebiet der Agrarpolitik beanspruchte. Hatte sich der Zentralstaat bislang auf die Verwaltung der Krongüter und die Regulierung der rechtlichen Beziehungen zwischen Landbesitzern und Bauern beschränkt, wurde nun die Landwirtschaft selbst zu einem Gegenstand der Politik.52 Die politische Konjunktur der Agrarfrage wirkte sich auch auf die Tätigkeit anderer Zentralbehörden aus. Während vom Agrarministerium vor allem konkrete Maßnahmen zur Anhebung der Agrarproduktion aus­gingen, arbeitete man im Innen- und im Finanzministerium an einer grundlegenden Neuordnung des ländlichen Russlands.53 Die Reformer richteten ihr Augenmerk auf die Zerstückelung des landwirtschaftlichen Bodens und die Institution der Umteilungsgemeinde, die einer Modernisierung der bäuerlichen Landwirtschaft im Wege zu stehen schien.54 Ihre Überlegungen gipfelten schließlich in einer Reihe von Gesetzen zur Refor­mierung der russischen Agrarordnung, die als Stolypinsche Reform bekannt geworden sind. 50 „Zemledelie“, S. 411. 51 Zu den Begriffen zemledelie und sel’skoe chozjajstvo im russischen Sprachgebrauch siehe Elina, Ot carskich sadov, Bd. 1, S. 17f. 52 Macey, Government, S. 31f. 53 Zu den unterschiedlichen Ideologien der drei Ministerien siehe Yaney, Aspects. 54 Yaney, Urge to Mobilize, S. 163 – 177.

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Diese verband rechtliche Schritte zur Auflösung der obščina mit ökonomischen und infrastrukturellen Maßnahmen, die die allgemeinen Bedingungen der Agrar­ produktion verbessern sollten. Hierzu zählten der Ausbau der Landvermessungsund Flurbereinigungsorgane, die Ausweitung des ländlichen Kreditangebots und die Förderung der agronomischen Beratung.55 Wie in anderen Politikfeldern ging der Übergang zum Interventionismus auch in der Agrarpolitik mit der zunehmenden Bedeutung wissenschaftlicher Expertise einher. Auch wenn der Verwaltungsapparat des Russischen Reichs bis zum Sturz der Monarchie ständisch geprägt blieb, stieg die Zahl fachlich qualifizierter Mitarbeiter und Berater in der Zentral- und in der Lokalverwaltung seit dem späten 19. Jahrhundert deutlich an.56 Das Agrarministerium bestätigte diesen Trend.57 Mit dem Absolventen des Petersburger Landwirtschaftlichen Instituts A. S. Ermolov stand seit 1893 erstmals ein ausgewiesener Spezialist an der Spitze der staatlichen Landwirtschaftsadministration. Unter seiner Leitung entwickelte das Agrarministerium ein umfassendes Programm zur Verwissenschaftlichung der Landwirtschaft, das die Verbreitung landwirtschaftlicher Bildung und den Ausbau landwirtschafts­ bezogener wissenschaftlicher Forschung vorsah.58 Zugleich förderte Ermolov die Einbindung von Wissenschaftlern in die Agrarpolitik. Auf seine Initiative übernahmen der Bodenkundler und Agrochemiker P. A. Kostyčev und der Agronomieprofessor I. A. Stebut Schlüsselposten in der Behörde.59 Dass diese Entwicklungen nicht allein von einer Neigung Ermolovs herrührten, sondern einem allgemeinen Wandel der Verwaltungskultur entsprachen, zeigte die Struktur des reformierten Ministeriums. Mit der Vergrößerung des Gelehrten Komitees (Učenyj komitet) und seiner Aufgliederung in verschiedene Sektionen wurde die Agrarwissenschaft zu einer festen Größe in der Politik des Zarenreichs. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs verfügte das Gelehrte Komitee über zehn Abteilungen, die Forschungsarbeiten zu einzelnen Gebieten der Agrarwissenschaft in Auftrag gaben, wissenschaftliche Publikationen erstellten und eigene Forschungseinrichtungen unterhielten. Das Komitee fungierte somit als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik.60 Mit der zunehmenden Wertschätzung der Agrarwissenschaft und ihrer Nachbardisziplinen wurde der Ausbau der landwirtschaftlichen Bildung und Forschung zu einem wichtigen Feld der Agrarpolitik. Ermolov setzte auch hier ein wichtiges Signal. Da die Ideen des narodničestvo unter Studierenden im Allgemeinen und 55 56 57 58 59 60

Eine kompakte Darstellung des Reformprogramms bietet Macey, Reflections. Rowney, Transition, Kap. 2. Yaney, Urge to Mobilize, S. 133 – 138. [Ministerstvo Zemledelija i Gosudarstvennych imuščestv,] Obnovlennoe Ministerstvo, S. 33 – 34. Elina, Ot carskich sadov, Bd. 2, S. 57 – 62. Sel’skochozjajstvennoe vedomstvo, S. 254 – 260.

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Felder des Moskauer Landwirtschaftlichen Instituts (1899)

unter angehenden Agrarwissenschaftlern im Besonderen auf breite Zustimmung stießen, hatte die Regierung die landwirtschaftlichen Hochschulen des Landes bislang mit Argwohn beobachtet. Nach dem Attentat auf Zar Alexander II. stand die größte landwirtschaftliche Hochschule des Zarenreichs, die Land- und Forstwirtschaftliche Petrovka-Akademie in Moskau, dauerhaft im Visier der Behörden. Konzipiert als Bildungsstätte für pomeščiki, hatte sich die Akademie bald nach ihrer Gründung im Jahr 1865 zu einer Anlaufstätte für Vertreter unterschiedlicher Stände entwickelt, die offen mit dem narodničestvo sympathisierten und der Hochschule den Ruf einer „revolutionären Brutstätte“ einbrachten.61 Nachdem die zarische Regierung in den 1880er Jahren die polizeilichen Kompetenzen des Akademie­ direktors sukzessive ausgeweitet hatte, ordnete sie im Jahr 1890 die Schließung der Akademie an. Kurz nach der Einstellung des Akademiebetriebs setzte Ermolov jedoch die Neueröffnung der Akademie als Moskauer Landwirtschaftliches Institut im Jahr 1894 durch, das sich binnen weniger Jahre zu einem Zentrum einer auf die bäuerliche Landwirtschaft fokussierten Agrarwissenschaft entwickelte.62 Nach dem Beginn der Stolypinschen Reformen trat das Agrarministerium verstärkt als Patron der Agrarwissenschaft in Erscheinung. Neben dem Ausbau und der Neugründung

61 Kuznecov, Akademija imeni K. A. Timirjazeva, S. 26; Čajanov, Petrovsko-Razumovskoe, S. 29 – 33. 62 Kuznecov, Akademija, S. 26f.; Elina, Ot carskich sadov, Bd. 2, S. 44f.

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Das Anwesen Petrovsko-Razumovskoe in Moskau, seit 1865 Hauptgebäude der Moskauer Landwirtschaftlichen Akademie (1913)

landwirtschaftlicher Hochschulen förderte es die Vermittlung landwirtschaftlicher Kenntnisse in Grund- und Fachschulen. Nachdem die Behörde im Jahr 1889 eine Summe von 673 Tsd. Rubel in den Unterhalt landwirtschaftlicher Bildungseinrichtungen investiert hatte, belief sich dieser Betrag im Jahr 1909 auf 4,3 Mio. Rubel und im Jahr 1912 auf 6,8 Mio. Rubel. Das landwirtschaftliche Bildungsangebot nahm infolge dieser Politik deutlich zu. Hatte es in der Mitte des 19. Jahrhunderts lediglich eine höhere landwirtschaftliche Bildungseinrichtung gegeben,63 fielen am Vorabend des Ersten Weltkriegs 13 landwirtschaftliche Hochschulen und Akademien sowie 10 Fachhochschulen und 279 Primärschulen mit landwirtschaftlicher Ausrichtung in die Zuständigkeit des Agrarministeriums.64 Mit dem Ausbau des landwirtschaftlichen Bildungswesens drang der Zentralstaat in einen Bereich vor, in dem sich bereits zahlreiche nichtstaatliche Akteure betätigten. In den gelehrten Gesellschaften hatte die Generierung und Verbreitung agrarwissenschaftlicher Kenntnisse eine lange Tradition. Während die über­regionalen Gesellschaften meist unter der Schirmherrschaft der Monarchie standen, spielte in 63 Im Jahr 1848 war die Agronomische Fachschule in Goreck in ein Landwirtschaftliches Institut umgewandelt worden, das rechtlich einer Hochschule gleichgestellt war. Elina, Ot carskich sadov, Bd. 2, S. 41. 64 Sel’skochozjajstvennoe vedomstvo, S. 235f.

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den regionalen und lokalen Assoziationen, deren Bedeutung sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts stetig erhöhte, das private Engagement wohl­habender Adliger oder lokaler Selbstverwaltungen eine zentrale Rolle.65 Erkennbar war das Engagement nichtstaatlicher Akteure auch an der steigenden Zahl privater landwirtschaftlicher Bildungsstätten, die den Mangel an Studienplätzen in staatlichen Einrichtungen kompensierten.66 Eine Vorbildfunktion besaßen die Landwirtschaftlichen Kurse für Frauen, die der Agrarwissenschaftler I. A. S ­ tebut im Rahmen der Gesellschaft zur Förderung der landwirtschaftlichen Bildung unter Frauen (Obščestvo sodejstvija ženskomu sel’skochozjajstvennomu obrazovaniju) ins Leben rief. Nachdem die jeweils vier Monate dauernden Kurse über mehrere Jahre in wechselnden Städten abgehalten worden waren, gelang 1904 die Einrichtung der ständigen Stebutschen Landwirtschaftlichen Kurse für Frauen (­Stebutskie ženskie sel’skochozjajstvennye kursy) in Sankt Petersburg. Die H ­ örerinnen absolvierten hier ein vierjähriges Studium, das sie als Agronomen abschlossen. S ­ tebuts Beispiel machte Schule. Mit Hilfe der Fürstin S. K. Golicyna wurden im Jahr 1908 die Golicynschen Landwirtschaftlichen Kurse für Frauen (Golicynskie ženskie sel’skochozjajstvennye kursy) in Moskau eröffnet.67 In Saratov ging der Anstoß zur Förderung der landwirtschaftlichen Hochschulbildung von einer gemeinsamen Initiative der städtischen Duma, des Gouvernements-Zemstvos und der ­Saratover landwirtschaftlichen Gesellschaft aus. Nachdem ursprünglich die Eröffnung einer agronomischen Fakultät an der Saratover Hochschule erwogen worden war, zog man die Einrichtung eines eigenständigen landwirtschaftlichen Instituts nach dem Vorbild des kürzlich gegründeten Agrarinstituts in Voronež in Betracht. Dieses Vorhaben ließ sich jedoch nur teilweise durchsetzen. Zwar genehmigte der Zentral­staat die Einrichtung der Höheren Landwirtschaftlichen Kurse (­Saratovskie Vysšie Sel’sko-chozjajstvennye kursy), die im Herbst 1913 feierlich eröffnet wurden. Diese erhielten jedoch weder den Status einer Hochschule noch eine nennens­werte finanzielle Unterstützung durch den Zentralstaat. Die Mittel zu ihrer Unterhaltung stammten überwiegend aus dem Budget des Saratover Zemstvos.68 Bei der Popularisierung landwirtschaftsbezogener wissenschaftlicher Kenntnisse kam der Moskauer Städtischen Volkshochschule (Moskovskij Gorodskoj Narodnyj Universitet imeni A. L. Šanjavskogo) eine Führungsrolle zu. Die Idee zu 65 Bradley, Voluntary Associations, Kap. 2; Elina, Sel’skochozjajstvennye obščestva. 66 Die kompensatorische Funktion dieser nichtstaatlichen Bildungseinrichtungen betont Gerasimov, Modernism, S. 34. Diese durften zwar keine offiziell anerkannten Abschlüsse verleihen. Dafür ermöglichten sie es den Angehörigen von Bevölkerungsgruppen, die im Bereich der Hochschulbildung diskriminiert waren, die restriktiven Zulassungsbestimmungen staatlicher Bildungs­einrichtungen zu umgehen. 67 Zur Gründungsgeschichte beider Einrichtungen siehe Otčet Golicynskich ženskich sel’skochoz­ jajstvennych kursov k 1-mu janvarja 1911 goda, S. 4 – 6. 68 Medvedev, Kratkij istoričeskij očerk, 2f.

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ihrer Gründung stammte von General A. L. Šanjavskij, der bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert die Förderung frei zugänglicher Bildungseinrichtungen propagiert hatte und bei der Realisierung seines Plans Unterstützung durch den Petersburger Juristen und Soziologen M. M. Kovalevskij erhielt.69 Die Šanjavskij-Universität zielte neben der Verbesserung der Allgemeinbildung auch auf die Vermittlung praktischer Fähigkeiten, die in der Lokalverwaltung zum Einsatz kommen s­ ollten. Der Lehrplan der Volkshochschule, die Hörern unabhängig von ihrer ­nationalen oder ständischen Zugehörigkeit oder ihrem Geschlecht offenstand, umfasste natur-, rechts- und sozialbzw. wirtschaftswissenschaftliche Disziplinen.70 Die Šanjavskij-Universität war ein Symbol für den in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit verbreiteten Wunsch, die Rolle des Staates im öffentlichen Leben zu verringern. Unter den Hörern befanden sich Mitarbeiter von Selbstverwaltungsorganen, Vereinen, ­Gesellschaften und Genossenschaften. Die Kurse fanden häufig in den Abendstunden statt. Für Personen, die nicht in Moskau lebten, gab es mehrwöchige Schulungsprogramme, die diese im Rahmen von Dienstreisen wahrnahmen. Dass dieses Modell eine Leerstelle im Bildungssystem des Zarenreichs füllte, zeigte die rasante Zunahme der registrierten Studenten: Von 1106 im Studienjahr 1909/10 stieg ihre Zahl auf 6442 im Jahr 1914/15.71 Die Verbreitung landwirtschaftsbezogener Bildungsangebote war sympto­ matisch für den zunehmenden Trend zur Wissenspopularisierung im ausgehenden Zarenreich.72 Da die traditionelle Kultur und der mangelnde landwirtschaftliche Sachverstand der Bauern gemeinhin als ausschlaggebende Ursachen für die Rückständigkeit der Landwirtschaft galten, entstanden mit der K ­ onjunktur der Agrarfrage im öffentlichen Diskurs zahlreiche Initiativen zur Populari­sierung der Agrarwissenschaft. Zwar machte die Leitung des Agrarministeriums in der Wissens­vermittlung eine entscheidende Voraussetzung für die Modernisierung der Landwirtschaft aus. Zahlreiche Maßnahmen in diesem Bereich gingen jedoch auf nichtstaatliche Akteure zurück. Neben den landwirtschaftlichen Gesellschaften, die sich für die Verbreitung landwirtschaftlicher Populärliteratur oder die Ausrichtung von landwirtschaftsbezogenen Ausstellungen und Vorlesungen ­einsetzten,73 entfalteten die Organe der ländlichen Selbstverwaltung eine rege Aktivität. Nachdem den Zemstvos im Jahr 1890 die Fürsorge für die lokale Landwirtschaft

69 Zur Gründung und weiteren Entwicklung der Universität siehe Speranskij, Vozniknovenie; Spieler, Autonomie, S. 188 – 212. 70 Wartenweiler, Civil society, S. 208 – 215. 71 Otčet Moskovskogo Gorodskogo Narodnogo Universiteta za 1909 – 1910 akademičeskij god, S. 10; Otčet Moskovskogo Gorodskogo Narodnogo Universiteta za 1914 – 1915 akademičeskij god, S. 13. 72 Andrews, Science, S. 28 – 35. 73 Elina, Sel’skochozjajstvennye obščestva, S. 37f.; Moračevskij, Agronomičeskaja pomošč’, S. 104 – 122.

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angetragen worden war, stellten zahlreiche Gouvernements- und Bezirkszemstvos in den Jahren nach der Hungersnot eigene Agronomen ein. Mit dem Beginn der Stolypinschen Reformen nahm auch die Zahl der Zemstvo-­Agronomen, die auf lokaler Ebene agierten, deutlich zu.74 Der direkte Vergleich mit der Zahl staatlich angestellter Agronomen zeigt die Bedeutung der Z ­ emstvos im Bereich der agronomischen Beratung. Während die Zahl der Zemstvo-­Agronomen zwischen 1895 und 1913 von 134 auf 3266 Personen anstieg, erhöhte sich die Zahl der staatlich angestellten Agronomen im gleichen Zeitraum von etwas mehr als 10 auf 1365. Auch die finanziellen Mittel, die der Staat für den Ausbau der landwirtschaftlichen Beratung zur Verfügung stellte, blieben lange hinter den Ausgaben der Zemstvos zurück. Erst 1911 überstiegen die zentralstaatlichen Mittel für agronomische Hilfsprogramme die finanziellen Aufwendungen der Zemstvos in diesem Bereich.75 Die Etablierung der Landwirtschaft als Feld der politischen und gesellschaftlichen Intervention war eng mit dem gesellschaftlichen Wandel des späten Zarenreichs verknüpft. Nach den Reformen Alexanders II. waren Hochschulabsolventen sowohl in der expandierenden Bürokratie des Zentralstaats als auch in den neu geschaffenen Organen der lokalen Selbstverwaltung gefragt. Dies führte nicht nur zu einer Ausweitung des höheren Bildungswesens, sondern bewirkte zugleich die Entstehung einer gesellschaftlichen Schicht, deren Angehörige ihr Ansehen und Selbstverständnis nicht mehr aus der ständischen Herkunft, sondern aus ihrer Bildung bzw. ihrer beruflichen Anstellung bezogen.76 Die Entwicklungen erfassten auch die Absolventen landwirtschaftsbezogener wissenschaftlicher Disziplinen. Angesichts der dynamischen Entwicklung des Arbeitsmarkts für Landwirtschaftsspezialisten nahm die Attraktivität eines agrarwissenschaftlichen Studiums stetig zu. Am rasant expandierenden Moskauer Landwirtschaftlichen Institut lag die Zahl der Studienbewerber zu Beginn des 20. Jahrhunderts regelmäßig über der Zahl der in einem Jahr zugelassenen Studierenden.77 Auch unter Frauen erfreute

74 Matsuzato, Agronomists, S. 178f.; Ovtschinceva, Sozialagronomie. 75 Moračevskij, Agronomičeskaja pomošč’, S. I-V, 80 – 85. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg trat der Zentralstaat sogar einige Kompetenzen aus dem Bereich der Agronomie von den staatlichen Flurbereinigungskommissionen an die Zemstvos ab. Gerasimov wertet dies als „Triumph des Dritten Elements“. Gerasimov, Modernism, S. 81. 76 Kassow, Students, Kap. 2; Balzer, Professions; Wirtschafter, Social Identity, S. 86 – 96. 77 1910 haben von 561 Bewerbern 424 an den Aufnahmeprüfungen teilgenommen. 200 von ihnen wurden schließlich zum Studium zugelassen. 1914 konnten 199 von 583 Bewerbern ein Studium an der größten landwirtschaftlichen Hochschule des Landes aufnehmen. Otčet o ­sostojanii ­Moskovskogo Sel’skochozjajstvennogo Instituta za 1910 god, S. 32f.; Otčet o sostojanii Moskovskogo Sel’skochozjajstvennogo Instituta za 1914 god, S. 92f.; Iveronov, Moskovskij ­sel’skochozjajstvennyj institut, S. 5.

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sich das Landwirtschaftsstudium wachsender Beliebtheit. An den Golicynschen Land­wirtschaftlichen Kursen in Moskau erhöhte sich die Gesamtzahl der Hörerinnen von 539 im Studienjahr 1911/12 auf 922 im Studienjahr 1915/16.78 Diese Dynamik entsprach einem allgemeinen Trend. Zwischen 1879 und 1912 stieg die Zahl der Studierenden an landwirtschaftlichen Bildungseinrichtungen in Russland von 1292 auf 16.137.79 Im Zuge dieser Entwicklungen veränderte sich auch die soziale Zusammensetzung der Studierenden. Hatten sich vormals meist die Söhne der pomeščiki zu einem Studium der Agrarwissenschaft entschieden, nahm die Zahl nichtadliger Studenten an den landwirtschaftlichen Bildungseinrichtungen im späten Zarenreich stetig zu. An der Moskauer Petrovka-Akademie bzw. ihrem institutionellen Nachfolger, dem Moskauer Landwirtschaftlichen Institut, ging der Anteil von Studenten aus dem Adel und der Geistlichkeit zugunsten von Studenten aus dem Stand der Stadtbürger seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert kontinuierlich zurück.80 Kurz vor dem Ersten Weltkrieg machten Adlige an der größten landwirtschaftlichen Hochschule des Zarenreichs eine Minderheit aus.81 Das agrarwissenschaftliche Studium hatte sich zu einer Option für den sozialen Aufstieg entwickelt.82 Diese Entwicklungen waren nicht nur ein Abbild der gesellschaftlichen Dynamik des späten Zarenreichs. Sie wirkten auch auf diese zurück. Die Konjunktur der Agrarfrage im öffentlichen Diskurs veränderte die gesellschaft­ liche Ordnung des Russischen Reichs. In den Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs war eine ständig wachsende Zahl von Agrarexperten in die öffentliche Kampagne zur Modernisierung der russischen Landwirtschaft involviert. Als Mitarbeiter von lokalen Selbstverwaltungen, landwirtschaftlichen Gesellschaften oder Genossenschaften wirkten sie an der Entstehung einer ständeübergreifenden Öffentlichkeit mit. Diese umfasste nicht nur die Angehörigen der hinsichtlich ihrer ständischen Herkunft zunehmend heterogenen Gruppe landwirtschaftlich geschulter Experten. Die Gründung von regional agierenden Gesellschaften mit landwirtschaftlicher Ausrichtung, die rasant ansteigende Zahl

78 Otčet Golicynskich ženskich sel’skochozjajstvennych kursov za 1912 god, S. 14; Otčet ­Golicynskich ženskich sel’skochozjajstvennych kursov za 1916 zod, S. 26. 79 Sel’skochozjajstvennoe vedomstvo, S. 236. Diese Zahlen beziehen sich auf landwirtschaftliche Bildungseinrichtungen jeder Art. 80 Moskovskaja Sel’skochozjajstvennaja Akademija, S. 52, 71, 88. 81 Am 1. Januar 1911 stammten 275 von 1166 Studenten des Moskauer Landwirtschaftlichen Instituts aus dem Stand der Stadtbürger, 261 gehörten der Bauernschaft an, 72 gehörten dem Stand der Kaufleute an. 168 Studenten waren adliger Herkunft, 185 Nachkommen von Beamten oder Armeeangehörigen. Otčet o sostojanii Moskovskogo Sel’skochozjajstvennogo Instituta za 1910 god, S. 35. 82 Zum Zusammenhang zwischen landwirtschaftlicher Expertise und sozialer Mobilität siehe ­Gerasimov, Modernism, S. 35, 96f.

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von Landwirtschaftszeitschriften für ein breites Publikum vor dem Ersten Weltkrieg und der Ausbau der Zemstvo-Agronomie begünstigten die Integration der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung in den Expertendiskurs. Indem sie sich mit Leserbriefen an Zeitschriften wandten, auf ihren Feldern eigene Versuche durchführten 83 oder gegenüber Agronomen ihre landwirtschaftlichen Probleme zur Sprache brachten, wurden die Bauern Teil eines überregionalen Kommu­ nikationzusammenhangs. Sie waren demnach keine stummen Modernisierungsobjekte einer hegemonialen Zivilisierungsmission der Intelligenz, sondern Teil eines gesellschaftlichen Verständigungsprozesses über die Modernisierung des ländlichen Russlands.84 Die Agrarfrage erwies sich somit selbst als ein Faktor gesellschaftlichen Wandels.

1. 2   Ag r a r i s mu s a l s w i s s e n s ch a f t l iche s Pa r a d ig m a 1.2.1  Die Wende zur Sozialwissenschaft Zeitgleich mit der Entdeckung der Bauern wurden diese auch als ökonomische Akteure sichtbar. Angesichts des rasanten ländlichen Bevölkerungswachstums erweiterten bäuerliche Einzelwirtschaften und Kommunen nach der Aufhebung der Leibeigenschaft ihre Anbauflächen, indem sie Adelsland pachteten oder käuflich erwarben. Zwischen 1877 und 1905 ging der adlige Gutsbesitz auf 58,5% und bis 1917 auf 45,8% seines ursprünglichen Umfangs zurück. Bauern kauften etwa 75% des vormaligen Adelslandes und gehörten damit zu dessen wichtigsten Abnehmern.85 Zeitgenossen werteten die Zunahme der Bodentransaktionen nicht nur als Indiz für die Bedeutung der Bauern als Agrarproduzenten,86 sondern auch als einen Beleg dafür, dass die untergeordnete gesellschaftliche Stellung der bäuerlichen Bevölkerung nach der Aufhebung der Leibeigenschaft anhielt.87 Viele Wissenschaftler, die sich als Anwälte der Bauern verstanden, wandten ihre Aufmerksamkeit daher den

83 Die Durchführung von Experimenten auf bäuerlichen Ländereien erwähnt Elina, Sel’skochozjajstvennye obščestva, S. 39. 84 Gerasimov, Limitation. Gerasimov widerspricht Kotsonis’ These, die Agrarexperten hätten ausgehend von der binären Gegenüberstellung von „Wissenden“ und „Unwissenden“ die Bauern zu „objects of action rather than participants in their own transformation“ gemacht. Kotsonis, Peasants, S. 96. Dass die Bauern in einen Dialog mit den intellektuellen Eliten des Reichs traten, zeigte am Beispiel bäuerlicher Autobiographiepraktiken kürzlich Herzberg, Gegenarchive. 85 Gatrell, Tsarist economy, S. 105 – 117. Die Zahlenangaben folgen Löwe, Lage der Bauern, S. 95. 86 Čuprov, Vlijanie, S. 172 – 179; ders., Agrarnaja reforma, S. 243. 87 Als Belege hierfür galten insbesondere die unvorteilhafte Lage bäuerlicher Ländereien im Verhältnis zu den Ländereien der Gutsbesitzer und der Umstand, dass zusätzlich gepachtete Felder den Bauern meist

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gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Landwirtschaft zu. Auf diese Weise stellten sie nicht nur die Annahme von der Autonomie der dörflichen Ökonomie, sondern auch die naturwissenschaftlich-technische Orientierung des gelehrten Landwirtschaftsdiskurses in Frage. Sie legten damit den Grundstein für einen sozial­ wissenschaftlichen Zweig in der Agrarwissenschaft. Diese Entwicklungen waren Teil der länderübergreifenden Suche nach Möglichkeiten zur Verbindung von ökonomischem Wachstum und Sozialpolitik. ­Verrmittelt wurde der neue Zugang durch die Vertreter der Deutschen Historischen Schule, deren Lehrstühle im ausgehenden 19. Jahrhundert Pilgerstätten für an­­gehende Sozial­ reformer nicht nur aus Westeuropa und den USA,88 sondern auch aus dem Zarenreich waren. Die intellektuelle Anziehungskraft, die der Historismus auf russische Statistiker und Ökonomen ausübte, ging darauf zurück, dass er die Idee von der Verschiedenartigkeit nationaler Entwicklungswege in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Ökonomie verankerte.89 Er erlaubte somit, die von slawo­ philen und populistischen Intellektuellen geäußerte Hoffnung, Russland könnte die Schattenseiten des Kapitalismus umgehen und einen eigenen Entwicklungsweg einschlagen, wissenschaftlich zu begründen.90 Mit der Rezeption des ökonomischen Historismus veränderte sich die Debatte über die Entwicklungsperspektiven der russischen Landwirtschaft. Im Anschluss an eine Studienreise nach Deutschland und Österreich veröffentlichte der Agrarwissenschaftler A. P. Ljudogovskij im Jahr 1875 ein agrarwissenschaftliches Lehrbuch, das die Traditionen der adligen Landbaulehre mit dem Ansatz der Historischen Schule verband. Ljudogovskij plädierte dafür, sowohl in der Agrarwissenschaft als auch in der landwirtschaftlichen Praxis die historischen Bedingungen landwirtschaftlicher Produktion zu berücksichtigen. Auf diese Weise öffnete er den russischen Agrardiskurs für die Idee, dass sich die in Westeuropa entwickelten Vorstellungen von der „rationellen Landwirtschaft“ möglicherweise nicht unverändert auf Russland übertragen ließen, da soziale, kulturelle und natürliche Faktoren gleichermaßen den landwirtschaftlichen Erfolg bedingten.91 Der prominenteste Vertreter dieser neuen Sicht auf die Landwirtschaft war der Moskauer Statistiker und Ökonom A. I. Čuprov. Nach einem Studium an der Moskauer Universität hielt er sich Anfang der 1870er Jahre einige Zeit in Deutschland auf

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zur Sicherstellung der eigenen Versorgung dienten. Auch die allgemein üblichen kurzfristigen Pachtverträge wurden als ein gesellschaftliches Problem wahrgenommen. Manujlov, Arenda, S. 104 – 122. Rodgers, Atlantic Crossings, Kap. 3. Zum Gedankengebäude der Historischen Schule siehe Brandt, Volkswirtschaftslehre, Bd. 2; ­Söllner, Ökonomisches Denken, S. 267 – 273; Riha, German Political Economy. Barnett, Historical political economy; Sheptun, German Historical School; Kingston-Mann, West, S. 123 – 131. Kuznecov, Osnovpoložniki, S. 212 – 215.

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und besuchte Vorlesungen bei dem Doyen des Historismus Wilhelm Roscher, dem National­ökonomen Georg Friedrich Knapp und dem Sozialreformer Lorenz von Stein. Wie seine akademischen Vorbilder in Deutschland betrachtete Čuprov, der 1878 den Lehrstuhl für Politische Ökonomie und Statistik an der Moskauer Universität übernahm, die Wirtschaft als einen von Werten, Normen und Institutionen geprägten Teilbereich des menschlichen Soziallebens. Die Auseinandersetzung mit der Wirtschaft musste seiner Auffassung nach daher im Rahmen einer umfassenden Gesellschaftslehre erfolgen.92 Čuprov verband den populistischen Diskurs über die Bauern mit dem konzeptionellen Zugang der Historischen Schule. Er war überzeugt, dass „der Auftrag der Wissenschaft von der Gesellschaft in der Förderung des Allgemeinwohls [bestehe]“93. Da die Bauern in Russland die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, konnte eine Wissenschaft, die sich dem Allgemeinwohl verschrieb, hier nur dann Glaubwürdigkeit beanspruchen, wenn sie die Bauern zu ihrem Gegenstand machte. Während sich die Vertreter der Historischen Schule in Deutschland vorrangig mit der wachsenden Gruppe der Industriearbeiter auseinandersetzten, richtete Čuprov, der eigentlich kein ausgewiesener Landwirtschaftsspezialist war, seinen Fokus auf die Wirtschafts- und Sozialbeziehungen in russischen Dorfgemeinden und seit den 1890er Jahren auf die Wirtschaftsweise bäuerlicher Haushalte. Neben seiner Tätigkeit als Wissenschaftler und Hochschullehrer trat Čuprov zudem als Organisator der Zemstvo-Statistik in Erscheinung. Als Leiter der Statistischen Abteilung der Moskauer Juristischen Gesellschaft beteiligte er sich an Versuchen zur Vereinheitlichung der Erhebungsmethoden in den Regionen.94 Čuprov war damit einer der wichtigsten intellektuellen Wegbereiter für den Wandel des gelehrten Agrardiskureses zur sozialwissenschaftlich argumentierenden „Bauernwissenschaft“. Die Berufsbiographien der Moskauer Professoren N. A. Kablukov und A. F. Fortunatov illustrieren den Wandel im akademischen Agrardiskurs auf gerade­ ­zu mustergültige Weise. Nach einem Studium an der Juristischen Fakultät der Moskauer Universität trat Kablukov im Jahr 1875 eine Stelle als Statistiker im Moskauer G ­ ouvernements-Zemstvo an, wo er zum Stellvertreter des bekannten ­Zemstvo-­Statistikers Orlov ernannt wurde. 1879 erhielt Kablukov die Genehmigung für eine zweijährige Studienreise nach Westeuropa, wo er wie sein spiritus rector Čuprov Vorlesungen und Seminare bei den Vertretern der Historischen Schule

92 Zu Čuprov gibt es inzwischen eine umfangreiche Literatur. Zweynert, Ökonomisches Denken, S. 268 – 273; Kingston-Mann, West, S. 129 – 130; Barnett, Historical political economy, S. 239 – 243; Sheptun, German Historical School, S. 356f. Eine zeitgenössische Biographie stammt aus der Feder des Ökonomen und Statistikers N. A. Kablukov, der selbst bei Čuprov studiert hatte. Kablukov, Čuprov. 93 Čuprov, Statistika, S. 96. 94 Johnson, Statisticians, S. 347.

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besuchte. Nach dem Tod Orlovs im Jahr 1885 trat Kablukov die Leitung des Statistischen Büros des Moskauer Zemstvos an und stieg zu einem der anerkanntesten ­Zemstvo-Statistiker des Landes auf. Seit den 1890er Jahren verband er seine Anstellung als Statistiker mit einer Lehrtätigkeit an der Moskauer Universität. 1894 hielt er hier seine erste Vorlesung in Agrarökonomie. Im Jahr 1903 übernahm Kablukov die Professur für Statistik und Politische Ökonomie.95 Ganz ähnlich entwickelte sich die berufliche Laufbahn des Agronomen Fortunatov, der nach einem Studium der Medizin in Sankt Petersburg zwischen 1879 und 1881 ein Landwirtschafts­studium an der Moskauer Petrovka-Akademie absolvierte. Bevor er eine akademische Lehrtätigkeit übernahm, arbeitete auch Fortunatov zunächst einige Zeit im statistischen Büro Orlovs. Seit 1884 hielt er Vorlesungen an der Petrovka-Akademie. Im Jahr 1885 wurde Fortunatov Dozent für Agrarstatistik. 1891 folgte die Ernennung zum Professor für Agrarstatistik.96 Die Karrieren beider Wissenschaftler reflektieren, wie eng das Milieu des legalen narodničestvo und die Hochschulöffentlichkeit im Russischen Reich miteinander verflochten waren. Auch nach ihrer Berufung zum Professor erhielten beide die Verbindungen zu den Zemstvo-Statistikern aufrecht. Auf diese Weise trugen Kablukov und Fortunatov, die in Čuprov einen ihrer wichtigsten intellektuellen Lehrmeister sahen,97 nicht nur zur Verwissenschaftlichung des positiven Bauernbildes der narodničestvo, sondern auch zu seiner Verankerung im akademischen Diskurs des Zarenreichs bei. Die wachsende Sensibilität für die gesellschaftlichen Bedingungen der Landwirtschaft zog eine inhaltliche Annäherung von Agrarwissenschaft und Politischer Ökonomie nach sich. Die Öffnung der Agrarwissenschaft gegenüber sozialwissenschaftlichen Fragestellungen zeigte sich in der Etablierung der Landwirtschafts­ statistik im Fächerkanon der Agrarwissenschaften.98 Zu Beginn des 20. Jahr­hunderts lehrte Fortunatov seine Studenten bereits, Naturkunde und Soziallehre seien „zwei gleichberechtigte Grundlagen der Agrarwissenschaft“99. Zeitgleich wandten sich Vertreter der Politischen Ökonomie landwirtschaftsbezogenen Themen wie dem ländlichen Bevölkerungswachstum, der Entwicklung der Bodenpacht oder den

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Kablukov, Avtobiografija, S. XIV-XIX. Zur Biographie des Agrarwissenschaftlers siehe Fortunatov; Fortunatov, Aleksej ­Fedorovič ­Fortunatov. Fortunatov, Iz vospominanij, S. 242; Kablukov, Avtobiografija, S. XVIf. Diese Entwicklung begann mit Fortunatovs Ernennung zum Dozenten für Agrarstatistik im Jahr 1884. Die Agrarstatistik existierte fortan als eigenständiges Fach und gehörte zum Curriculum eines agrarwissenschaftlichen Studiums an der Petrovka-Akademie. Siehe: Flagman agroėkonomičeskogo obrazovanija, S. 10, 74. Seit den 1890er Jahren gehörte das Fach „Politische Ökonomie und allgemeine Statistik“ an der landwirtschaftlichen Abteilung des Kiever Polytechnischen Instituts zu den Pflichtfächern. Otčet o sostojanii Kievskogo Politechničeskogo Instituta Imperatora ­Aleksandra II za 1899 god, S. 32. 99 Fortunatov, Sel’skoe chozjajstvo, S. 11.

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Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik im späten Zarenreich Intellektuelle Wegbereiter des Agrarismus: A. F. Fortunatov (1916)

Eigentumsverhältnissen auf dem Dorf zu. 1878 etablierte Čuprov im Programm für Studenten der Politischen Ökonomie einen Kurs in „angewandter Politischer Ökonomie“ (prikladnaja političeskaja ėkonomiija), in dem wirtschaftliche Probleme der Landwirtschaft eine zentrale Rolle spielten. Čuprovs Nachfolger, die Ökonomen N. A. Karyšev und N. A. Kablukov, unterrichteten dieses Fach dann bereits als „Agrarökonomie“ (ėkonomija sel’skogo chozjajstva).100 Diese Entwicklungen zeigen an, dass die Auseinandersetzung mit der ökonomischen Dimension von Landwirtschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert unter veränderten Vorzeichen stattfand. Hatte sie sich bislang auf den Bereich der Betriebslehre beschränkt, entwickelte sich die Agrarökonomie nun zu einer eigenständigen Disziplin, die die Triebfedern

100 Kuznecov, Očerki istorii, Kap. 9, S. 5 – 14; Kap. 11, S. 2 – 7; Kap. 12, S. 7 – 12. Ich danke Igor’ ­Kuznecov, dass er mir sein Manuskript vor der Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat.

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N. A. Kablukov (frühe 1920er Jahre)

landwirtschaftlicher Entwicklung erforschte und dabei Statistik und theoretische Ökonomie, induktive und deduktive Verfahren miteinander verband.101 A. N. ­Čelincev, einer ihrer wichtigsten Vertreter, nannte sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine „Lehre von der landwirtschaftlichen Evolution“ (učenie o sel’skochozjajstvennoj ėvoljucii), die sich sowohl von der landwirtschaftlichen Betriebslehre als auch von der Politischen Ökonomie unterschied: „Ihr Thema ist das gesellschaftliche Leben auf der Basis der landwirtschaftlichen Produktion.“102 Hinter der Etablierung des sozialwissenschaftlichen Paradigmas im aka­demischen Agrardiskurs stand nicht nur ein disziplingeschichtlicher Wandel. Sie war Ausdruck 101 Vgl. Kablukov, Lekcii, S. 18. 102 Čelincev, Ėkonomika s.ch. kak učenie o sel’skochozjajstvennoj ėvoljucii [1908], RGAĖ f. 771, op. 1, d. 4, l. 1. Zu Čelincevs Begründung einer eigenständigen ökonomischen Theorie der Landwirtschaft siehe Kramar, Čelincev, S. 9 – 14.

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dessen, dass zahlreiche Zeitgenossen die Agrarfrage vor allem als „soziale Frage“ wahrnahmen. Besonders deutlich zeigte sich dieser Zusammenhang in der Debatte über die ländliche Eigentumsordnung, die seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in der staatlichen Administration ebenso wie in den Reihen der intelligencija intensiv diskutiert wurde und während der landesweiten Bauernunruhen in den Jahren 1905/06 in das Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit rückte. Führende Öko­nomen forderten nun eine Neuordnung der ländlichen Ordnung. Čuprov war überzeugt, dass eine Bodenreform zugunsten der bäuerlichen Bevölkerung reales Wachstum erzeugen könnte. Im Unterschied zu gepachteten Flächen würden die Bauern ihre zusätzlichen Böden „nicht als fremde Böden, sondern als [ihr] Eigentum ansehen und daher genauso bearbeiten und düngen wie das Anteilsland [nadel]“.103 Auch der Kiever Agrarökonom V. A. Kosinskij machte in der unzureichenden Ausstattung der Bauernwirtschaften mit Boden den Kern der Agrarfrage aus. Seiner Auffassung nach hielten die hohen Pachtzahlungen die Bauern von Investitionen in die Landwirtschaft ab.104 Die Lösung des Problems musste dabei nicht automatisch eine Enteignung des Gutsbesitzes bedeuten. So plädierte der Moskauer Ökonom A. A. Manujlov für eine umfassende Veränderung der Pachtgesetzgebung zugunsten der Pächter und die Etablierung eines Vergütungssystems im Falle einer nachhaltigen Bewirtschaftung gepachteter Ländereien.105 Gemein war diesen Einschätzungen der unterstellte Zusammenhang zwischen der Verteilung des Bodens und der landwirtschaftlichen Rückständigkeit des Landes. Eine Steigerung der Agrarproduktion setzte demnach die Überwindung der bestehenden ländlichen Eigentumsverhältnisse voraus, die die Bauern gegenüber den pomeščiki benachteiligten. Die Auseinandersetzung mit der bäuerlichen Landwirtschaft erhielt mit der sozial­ wissenschaftlichen Wende eine politische Dimension. Indem sie einen Zusammenhang zwischen der ständischen Ungleichheit und den Entwicklungsbedingungen der Landwirtschaft herstellten, verliehen Ökonomen, Statistiker und Agrarwissenschaftler Forderungen nach einer politischen und ökonomischen Reform wissenschaftliche Autorität. Manujlov erkannte in der „Gängelung“ (opeka) und der „ständischen Isolation“ (soslovnaja obosoblennost’) der Bauern zwei entscheidende Hindernisse für die Lösung der Agrarfrage.106 Sein Kollege V. A. Rozenberg unterstrich, dass eine „Lösung der Bauernfrage ohne eine Lösung der anderen großen gesellschaftlichen Fragen unmöglich [sei]“107. Aus seiner Sicht war die Überwindung der landwirtschaftlichen Rückständigkeit nur denkbar, wenn die Bauern den anderen Ständen 103 104 105 106 107

Čuprov, Agrarnaja reforma, S. 246. Kosinskij, K agrarnomu voprosu, S. 496f. Manujlov, Pozemel’nyj vopros, S. 103f. Manujlov, Pozemel’nyj vopros, S. 60. Rozenberg, Iz chroniki, S. 226.

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rechtlich gleichgestellt und nicht an der Entfaltung wirtschaftlicher Initiativen ge­­ hindert wurden.108 Kosinskij brachte den Zusammenhang von politischer Reform und ökonomischem Fortschritt auf eine einfache Formel: „Land und Freiheit [zemlja i volja] – das ist der Weg zur Lösung der Agrarfrage.“109 Obwohl Kosinskij damit offen die Rhetorik des narodničestvo aufgriff, konnte er der Idee eines revolu­tionären Umbruchs nichts abgewinnen. Ähnlich wie die Vertreter der Zemstvo-Bewegung, die auf dem zweiten Kongress im Jahr 1902 die rechtliche Gleichstellung der Bauern und die Reformierung der ländlichen Selbstverwaltung angemahnt hatten,110 sprach sich der Ökonom für umfassende politische Reformen aus: „Es ist unabdingbar Bedingungen herzustellen, in denen die Selbsttätigkeit und die Selbstständigkeit der obščina ein volles Ausmaß erreichen. Es ist unabdingbar, auch das Zemstvo zu reformieren, seine Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit zu erweitern sowie das Zemstvo an die Masse der Bevölkerung anzunähern. Es ist unabdingbar, das Zemstvo nach demokratischen Prinzipien zu reformieren, unabdingbar einen ständeübergreifenden oder besser ständelosen volost’ zu schaffen und damit eine Organisation, die die Organe der Selbstverwaltung näher an das Dorf bringt. Mit einem Wort: Unabdingbar ist eine große politische Reform, die die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens der Bevölkerung selbst überträgt und diese aus der ständigen Gängelung durch die Beamten befreit.“111

Die sozialwissenschaftliche Wende des gelehrten Agrardiskurses spiegelte sich auch im Selbstverständnis und dem öffentlichen Auftreten zeitgenössischer Wirtschaftsund Agrarwissenschaftler. Nach dem Tod Čuprovs im Jahr 1908 gründeten sie die Čuprov-Gesellschaft zur Entwicklung der Sozialwissenschaften (Obščestvo imeni A. I. Čuprova dlja razrabotki obščestvennych nauk pri Imperatorskom ­Moskovskom Universitete), die sich bald zu einer wichtigen Plattform für den wissenschaftlichen Austausch über Fragen der ländlichen Ökonomie entwickelte. Zum Vorsitzenden wählte die Gesellschaft den Moskauer Agrarökonomen Kablukov. Unter ihren Mitgliedern befanden sich hoch angesehene Agrar- und Wirtschaft­swissenschaftler des ausgehenden Zarenreichs: der Ökonom A. A. Manujlov und seine Studenten L. B. Kafengauz, L. N. Litošenko, N. P. Makarov, S. A. Pervušin und A. A. ­Rybnikov, der Zemstvo-­ Statistiker N. P. Oganovskij, die Statistiker und Ökonomen S. N. ­Prokopovič und A. A. Kaufman sowie A. N. Čelincev und A. V. Čajanov, die später zu den prominentesten

108 109 110 111

Ebd., S. 226. Kosinskij, K agrarnomu voprosu, S. 520. Galai, Liberation Movement, S. 145 – 147. Kosinskij, K agrarnomu voprosu, S. 518.

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Agrarökonomen des Landes zählen sollten.112 Die Gründung der Čuprov-Gesellschaft war symptomatisch für den konzeptionellen Wandel, den die Entdeckung der Bauern in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der ländlichen Ökonomie ausgelöst hatte. Hatte sich der gelehrte Agrardiskurs im frühen 19. Jahrhundert um die Frage gedreht, wie sich die Landwirtschaft nach den Maßstäben von Natur- und Betriebslehre rationalisieren ließ, war er nun Teil einer Debatte über die Bauern und ihre Position im sozialen und ökonomischen Gefüge des Russischen Reichs. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Landwirtschaft hatte sich ein Paradigmenwechsel vollzogen: Die Agrarwissenschaft war nun auch eine Sozialwissenschaft.

1.2.2  Der Mythos von der „werktätigen Bauernwirtschaft“ Die Etablierung der Agrarökonomie als eigenständige Disziplin ging einher mit der Herausbildung eines neuen Forschungszweigs: der Mikroökonomie des bäuerlichen Haushalts. Das Interesse an der Bauernwirtschaft, in der die Zemstvo-Statistiker die wichtigste wirtschaftliche Einheit des Dorfes ausgemacht hatten, war eine Reaktion auf den Wandel der russischen Agrarordnung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Angesichts der abnehmenden Bedeutung der Adelsgüter und der kontinuierlichen Ausweitung des bäuerlichen Bodenbesitzes kamen Agrarwissenschaftler, Öko­nomen und Statistiker zu der Überzeugung, dass die kleinbäuerliche Agrarordnung die künftige Entwicklungsrichtung der Landwirtschaft vorgab. In Anlehnung an den populistischen Ökonomen V. V. Voroncov, der angesichts der ausbleibenden Konzentration der Agrarproduktion eine Krise des Kapitalismus in der russischen Landwirtschaft konstatiert hatte,113 deuteten sie die zunehmende Sichtbarkeit der B ­ auernwirtschaften als Anzeichen dafür, dass sich die Landwirtschaft den Gesetz­mäßigkeiten des Kapita­ lismus entzog. V. A. Kosinskij, der eine der ersten syste­matischen Darstellungen über die Ökonomie der bäuerlichen Landwirtschaft verfasste, rechnete sogar mit einer nahezu vollständigen „Entkapitalisierung“ (razkapitalizirovanie), das heißt, einer weiteren Dezentralisierung der landwirtschaftlichen Produktion.114 Der neue wissenschaftliche Trend gründete auf der Annahme, bei der bäuerlichen Landwirtschaft handele es sich um ein ökonomisches Segment, dessen Entwicklung eigenen Gesetzmäßigkeiten folgte. Aus der Sicht zeitgenössischer ­Wissenschaftler bestand die Besonderheit der bäuerlichen Landwirtschaft in der unauflösbaren Verflechtung von Familie und Wirtschaft. Die bäuerliche Wirtschaft, war ­Pešechonov 112 [Obščestvo Imeni A. I. Čuprova,] Protokoly zasedanij; [Obščestvo Imeni A. I. Čuprova,] Trudy Komissii, S. 158f. 113 Zur ökonomischen Theorie V. V. Voroncovs siehe Wortman, Crisis, S. 160 – 172. 114 Kosinskij, K agrarnomu voprosu, S. 513.

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überzeugt, existierte „durch die Familie und für die Familie“ (pri posredstve sem’i i radi sem’i)115. Da die Rollen von Unternehmer und Arbeiter, Produzent und Konsument in einer Bauernwirtschaft gemeinhin zusammenfielen,116 wurden die Bauern im akademischen Agrardiskurs zunehmend als spezifische ökonomische Akteure beschrieben. Für Kosinskij etwa war ein Bauer ein „[…] selbstständiger Unternehmer, der seine Arbeitskraft und die Arbeitskraft seiner Familie in seinem eigenen Unternehmen anwendet. Sein Einkommen zerfällt nicht in Lohn, Gewinn und Rente, es ist ein Einkommen sui generis. Der Bauer ist kein Arbeiter, er ist ein Unternehmer, und deswegen kann vom Lohn auch keine Rede sein; aber er ist ein nichtkapitalistischer Unternehmer und erhält daher auch keinen Mehrwert, d. h. keinen Kapitalgewinn und auch keine Bodenrente.“117

Die Unterscheidung von Bauern und kapitalistischen Unternehmern wurde zum Ausgangspunkt für die Konstruktion der Bauernwirtschaft als einer analytischen Kategorie. Die Vertreter der so genannten „Organisations-Produktionsschule“, von denen die elaboriertesten Analysen bäuerlicher Familienwirtschaften stammten,118 teilten die in Kosinskijs Definition implizit formulierte Auffassung, die bäuerliche Landwirtschaft lasse sich nicht mit den Kategorien der klassischen Wirtschaftslehre beschreiben. Der Moskauer Agrarökonom A. V. Čajanov, der zum einflussreichsten Vertreter dieser Sicht aufsteigen sollte, entwickelte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die Idee, in den Bauernwirtschaften herrsche ein besonderes Verständnis von ökonomischer Vorteilhaftigkeit: Während kapitalistische Betriebe gewinn­ orientiert wirtschafteten, zielte die bäuerliche Landwirtschaft auf die Versorgung der Haushalts- bzw. Familienangehörigen. Diese Orientierung auf das familiäre Gesamteinkommen mache es für die Bauern mitunter sinnvoll, auch dann Arbeitskraft aufzuwenden, wenn das erzielte Einkommen unterhalb des marktüblichen Lohns lag.119 Ebenso argumentierte der Petersburger Agrarökonom B. D. Bruckus, ein enger Bekannter Čajanovs. Im Unterschied zu kapitalistischen Unternehmen, die mit Blick auf einen möglichst hohen Kapitalertrag kalkulierten, strebten Bauernwirtschaften nach einer Erhöhung ihres absoluten Einkommens. Dafür würden sie eine Arbeitsproduktivität in Kauf nehmen, die vom Standpunkt eines profitorientierten

115 Pešechonov, Iz teorii, S. 179. 116 Ebd. 117 Kosinskij, K agrarnomu voprosu, S. 525. 118 Zu den wichtigsten Vertretern dieser Gruppe zählten A. V. Čajanov, B. D. Bruckus, A. N. Čelincev, N. P. Makarov und A. A. Rybnikov. 119 Čajanov, Ėkonomičeskie očerki (1).

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Unternehmens nicht lohnend sei.120 Das aus der Perspektive der klassischen Wirtschaftslehre eigentümlich erscheinende Verhalten der Bauern führten die Ökonomen darauf zurück, dass in den Haushaltswirtschaften lediglich die Arbeitskraft von Familienangehörigen zur Anwendung kam. Sie modellierten die bäuerliche Wirtschaft als einen Organismus, in dem die einzelnen Familienmitglieder nicht als Individuen, sondern als Teil eines ökonomischen Ganzen agierten.121 Im Zentrum der Bauernwirtschaftstheorie stand die Arbeitskraft. Das quan­ titative Verhältnis von „Arbeitern“ und arbeitsunfähigen „Essern“ galt zeit­ genössischern Theoretikern als ausschlaggebender Faktor für die Organisation einer bäuerlichen Wirtschaft. Zwar schwankte dieses Verhältnis in einer Bauern­ familie je nachdem, ob ein Kind geboren wurde, ein arbeitsfähiges Familienmitglied erkrankte oder ältere Familienmitglieder als Arbeitskräfte ausschieden. Zu einem gegebenen Zeitpunkt bildete der Umfang der zur Verfügung stehenden Arbeitskraft jedoch eine exogene Größe. Die ökonomische Herausforderung für die Bauern bestand nach Auffassung der Ökonomen folglich darin, ihren Arbeitseinsatz so abzustimmen, dass die landwirtschaftlichen Erträge die Versorgung aller Familienmitglieder erlaubten.122 Das im Zeitverlauf schwankende Verhältnis von Arbeitern und Essern prägte nach Ansicht einiger Ökonomen nicht nur die einzelne Bauern­wirtschaft, die im Verlauf der Zeit verschiedene Wohlstands­niveaus erreichte, sondern die bäuerliche Gesellschaft insgesamt. Im Unterschied zu Lenins These von der „Auflösung der Bauernschaft“123 betrachteten sie E ­ inkommensunterschiede auf dem Dorf nicht als Ausdruck eines anta­ gonistischen Gegenübers verschiedener sozialer Klassen, sondern als Folge einer demographisch bedingten „zyklischen Mobilität“ innerhalb der bäuer­ lichen Gesellschaft.124 Pešechonov war sogar davon überzeugt, dass besonders

120 Bruckus, Očerki krest’janskogo chozjajstva na Zapade, S. 19 – 21. 121 Diese Vorstellung knüpfte an das organizistische Gesellschaftsverständnis von Statistikern wie I. A. Čuprov und V. I. Orlov an, die in ihren Arbeiten die obščina als Organismus modelliert hatten. Darrow, Commune, S. 794 – 797. 122 Čajanov, Ėkonomičeskie očerki (1), S. 37. Čajanov veröffentlichte seine ersten theoretischen Überlegungen zur Bauernwirtschaft in sieben kurzen Einzelbeiträgen in der Zeitschrift „Zemledel’­ českaja gazeta“. 123 Lenin hatte in seinem viel rezipierten Aufsatz „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“ aus dem Jahr 1899 die These entwickelt, in der russischen Bauernschaft gäbe es offenkundige An­­ zeichen einer sozialen Stratifizierung, und eine „Auflösung der Bauernschaft“ prognostiziert. In den 1920er Jahren wurde Lenins Arbeit zur Legitimiationsquelle für die Schule der „Agrarmarxisten“. Siehe hierzu das Kapitel 3.3.1 „Die marxistische Wende der Agrarökonomie“ in dieser Arbeit. Cox, Peasants, S. 17 – 19; Kingston-Mann, True West, S. 167f. 124 Die Anfänge der dynamischen Haushaltsstudien gingen auf den Statistiker N. N. Černenkov zurück. Kingston-Mann, Statistics, S. 129. Hierzu und zum Konzept der zyklischen Mobilität in der zeitgenössischen Debatte siehe Shanin, Awkward Class, S. 72, 101 – 109; Cox, Peasants, S. 39.

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reiche ebenso wie besonders arme Bauernwirtschaften in der Regel nur für kurze Zeit existierten, da die einzelnen Bauernwirtschaften einem „mittleren wirtschaftlichen Niveau“ zustrebten.125 Die Bauernwirtschaftstheorie wurde somit zu einem wissenschaftlichen Argument gegen die von Lenin aufgestellte und in den 1920er Jahren von marxistischen Agrarökonomen aufgegriffene Behauptung, auf dem russischen Dorf gäbe es Anzeichen eines sich verschärfenden kapitalis­ tischen Klassenkampfes. Die Vertreter der Organisations-Produktionsschule modellierten die bäuerliche Wirtschaft als „moral economy“.126 Die analytische Unterscheidung von bäuerlichen Wirtschaften und kapitalistischen Unternehmen fußte auf der Idee, die Bauern be­­ säßen eine eigene Wirtschaftspsychologie. Denn während im kapitalistischen Agrarbetrieb bloßes Gewinnstreben herrschte, verfolgten die Bauern nach Auffassung der Ökonomen ein ganz „natürliches“ Ziel: Sie wollten die Mitglieder des Haushalts bzw. der Familie versorgen. Nach dem Erreichen dieses Ziels, argumentierte ­Čajanovs Kollege Čelincev, beendeten sie daher ihre Arbeit: „Wenn alles für das Überleben der Familie Notwendige im Verlauf von z. B. 150 bis 180 Tagen erwirtschaftet wird, verzichtet unsere werktätige Wirtschaft [trudovoe chozjajstvo] auf weitere Arbeit. […] Die ‚Selbstausbeutung‘ des Haus- und Hofherrn [chozjain-­ rabotnik] steigt mit der zunehmenden Belastung der Familie durch die Esser sowie mit der Ausweitung des Bedürfnisniveaus. Umgekehrt geht sie zurück, wenn die Belastung eines Arbeiters durch die ‚hungrigen Mäuler‘ abnimmt und das Bedürfnisniveau sinkt.“127

Čajanov, der die avancierteste Theorie der bäuerlichen Wirtschaft entwickelte, griff zur Abbildung der ökonomischen Entscheidungen in Bauernfamilien auf das analytische Instrumentarium der Österreichischen Grenznutzenschule zurück.128 Seiner Auffassung nach entschied die subjektive Wertschätzung zusätzlichen Einkommens darüber, ob der Ertrag weiterer Arbeit einen ökonomischen Anreiz darstellte oder nicht. Da die Bauern nur geringe Konsumbedürfnisse hätten und jede Investition von Arbeitskraft als einen hohen Aufwand ansahen, verzichteten sie nach

125 Pešechonov, Iz teorii, S. 193. 126 In Bezug auf bäuerliche Wirtschaften wurde das Konzept der „moral economy“ erstmals von James C. Scott fruchtbar gemacht. Das Konzept der „Moralwirtschaft“ diente ihm dazu, reziprokes Verhalten, d. h. kulturell codiertes ökonomisches Handeln, in bäuerlichen Gesellschaften zu erklären. Scott, Moral Economy. Heute gehen Ökonomen davon aus, dass reziprokes Handeln nicht auf eine spezifische bäuerliche Wirtschaftspsychologie verweist, sondern durch unvollständig funktionierende Märkte hervorgerufen wird. Ellis, Peasant economics, S. 11. 127 Čelincev, Teoretičeskie osnovanija, S. 7. 128 Schmitt, Alexander Tschajanow; Noũ, Studies, S. 471 – 476.

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der Befriedigung ihres Bedarfs auf jede zusätzliche Produktion.129 In einem in den 1920er Jahren in Deutschland veröffentlichten Aufsatz reduzierte Čajanov diesen Zusammenhang auf die Feststellung: „[…] wenn die Bedürfnisse der Familie voll befriedigt sind, können noch so hohe Arbeitslöhne den Bauern nicht zur Arbeit verlocken.“130 Für die Bauern, so formulierte der Ökonom an anderer Stelle, werde dann jede zusätzlich aufgewandte Arbeitseinheit „zur offenbaren Sinnlosigkeit“131. Für die Vordenker der Bauernwirtschaftstheorie stellte die Subsistenzorientierung der Bauern kein Hindernis für Agrarwachstum und ländlichen Wohlstand dar. So entsprach der Bedarf einer Familie nach Auffassung Čelincevs zwar dem „Existenz­minimum [prožitočnyj minimum], mit dem sich die werktätige Wirtschaft [­trudovoe chozjajstvo] faktisch zufrieden gibt“132. Was die Bauern als Existenz­ minimum betrachteten, sei jedoch von ihren eigenen Ansprüchen abhängig, das „Kulturniveau“ (stepen’ kul’turnosti) der Bauern folglich ein „landwirtschaftlicher Faktor“133. Auch Čajanov vertrat diese Sicht. In einer seiner späteren Arbeiten schrieb der Ökonom, dass die Bauern wahrscheinlich „weder ein gutes Roastbeef, noch ein Grammophon und wahrscheinlich nicht einmal ein Aktienpaket der Oil Shell Company [ablehnen würden], wenn sie die Wahl dazu [hätten]“134. Diese Auffassung war eine Reaktion auf die Veränderungen der materiellen Kultur des Dorfes seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit der Zunahme der bäuer­ lichen Saisonarbeit wurde der Erwerb von fabrikgefertigter Kleidung, Zucker, Tee, Möbeln oder Spiegeln für eine wachsende Zahl von Bauern zu einem erstrebenswerten und in zunehmendem Maße erreichbaren Ziel.135 Für den Statistiker N. P. Oganovskij befand sich das ländliche Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts mitten in einem kulturellen Umbruch: „Mit jedem Jahr verändern sich die Bedingungen des wirtschaftlichen und persönlichen Lebens der Bauern: Anstelle des alten hölzernen Hakenpflugs benutzen sie den eisernen Pflug, sie beleuchten ihre Hütte nicht mehr mit dem Holzspan, sondern mit Kerosin­lampen. Anstelle altertümlicher Kräuteraufgüsse trinken sie Tee aus dem Samowar und süßen ihn mit Zucker, anstelle des häuslichen Bauernkleides kleiden sie sich nun in Stoffe aus der Fabrik. Sie tragen Stiefel, und nicht wenige von ihnen lesen Zeitungen oder Zeitschriften.

129 130 131 132 133 134 135

Groh, Anthropologische Dimensionen, S. 38 – 41. Tschayanoff, Entwicklung, S. 241. Tschayanoff, Nichtkapitalistische Wirtschaftssysteme, S. 584. Čelincev, Osnovanija, S. 161. Ebd., S. 164. Čajanov, Organizacija, S. 16. Jeffrey Burds erkennt sogar Anfänge einer ländlichen Massenkonsumkultur. Burds, Peasant dreams, Kap. 6.

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Aber noch immer verstehen nur sehr wenige Bauern, dass diese ­Stiefel, die in der Fabrik hergestellten Waren, die Pflüge und Samoware das Dorf mehr und mehr mit der Stadt und Russland mit der ganzen Welt verbinden.“136

Angesichts dieser Entwickungen erschien die Stagnation der landwirtschaftlichen Entwicklung kein besonders realistisches Szenario zu sein. Da die zunehmenden Möglichkeiten zum Warentausch bei den Bauern nicht nur neue Konsumbedürfnisse weckten, sondern zugleich Anreize für die effektivere Organisation, die Ausweitung und letztlich auch die Spezialisierung der Produktion lieferten, glaubten Agrarwissenschaftler und Ökonomen, dass landwirtschaftliches Wachstum auch im Rahmen einer kleinbäuerlichen Agrarordnung denkbar war. Die theoretische Auseinandersetzung mit der Bauernwirtschaft war die Folge einer ideologischen Neuorientierung der intelligencija. In ihr zeigte sich zum einen, dass der volkstümliche Mythos von der obščina als einer protosozialistischen Insti­ tution zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgedient hatte. Zum anderen verwies sie auf eine wachsende Bedeutung revisionistischer Tendenzen innerhalb des russischen Marxismus. Diese gingen ebenso wie in Deutschland auf die Einsicht zurück, dass wirtschaftliche Dynamik in der Landwirtschaft nicht notwendigerweise zu einer Konzentration der Produktion führen musste, kleinbäuerliche Agrarstrukturen also durchaus in einer marktwirtschaftlichen Konkurrenzwirtschaft bestehen konnten.137 Mit der Autoritätskrise beider Ideologien wurde die hitzige Auseinandersetzung zwischen Marxisten und Populisten von einem ökonomischen Diskurs abgelöst, der Elemente beider intellektueller Traditionen miteinander verband.138 Dass die Bauernwirtschaften aufgrund ihres weitgehenden Verzichts auf Lohnarbeit als „nichtkapitalistische“ Wirtschaftsform eingestuft wurden, entsprach der marxis­ tischen Definition vom Kapitalismus als einer auf der Ausbeutung von Lohnarbeit beruhenden ökonomischen Ordnung. Mit der Gleichsetzung von „bäuerlicher“ und „werktätiger“ Landwirtschaft übernahmen die Vertreter der Bauernwirtschaftstheorie zugleich die aus dem bäuerlichen Rechtsverständnis stammende Vorstellung von trud als der physischen Bearbeitung des Bodens.139 Das Konzept der „werktätigen Bauernwirtschaft“ (trudovoe krest’janskoe chozjajstvo), das diese beiden Denkmuster

136 Oganovskij, Russkij krest’janin, S. 33f. 137 Zur Auseinandersetzung mit der Agrarfrage im Kontext des deutschen Revisionismus siehe ­Lehmann, Agrarfrage, S. 164 – 174, 253 – 259. Als einer der russischen Marxisten zog der Ökonom S. N. ­Bulgakov die marxistische Agrarlehre in Zweifel. Schirkovitsch, Ideengeschichte, S. 114f. 138 Auf den synthetischen Charakter der Bauernwirtschaftstheorie verweist Gerasimov, Modernism, S. 46f. 139 Zur Verschränkung der Begriffe Arbeit (trud) und Boden (zemlja) im zeitgenössischen Diskurs russischer Bauern siehe Plaggenborg, Bauernwelt, S. 148 – 152.

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miteinander verband, stand demnach für die idealisierte Vorstellung vom Bauern, der mit seinen eigenen Händen die Felder bestellte, ohne sich die Prinzipien der kapitalistischen Mehrwertproduktion zu eigen zu machen. Dass die Vertreter der Bauernwirtschaftstheorie wiederholt als Advokaten einer unterentwickelten, krisenhaften Agrarordnung bezeichnet wurden,140 war die Folge eines semantischen Missverständnisses. Ihre beharrlich wiederholte Auffassung, Bauern verfolgten eine spezifische bäuerliche, „nichtkapitalistische“ Wirtschaftsstrategie, entsprang der negativen Konnotation des Kapitalismusbegriffs im Diskurs der russischen intelligencija. In der Vorstellung vieler Intellektueller ging eine kapitalistische Wirtschaftsordnung notwendigerweise mit Lohnarbeit und monopolistischen Produktionsstrukturen einher. Die weitgehend lohnarbeitsfreie, kleinbäuerliche Landwirtschaft wurde daher zum Inbegriff eines „nichtkapitalistischen“ und daher wünschenswerten Wirtschaftssystems.141 Dies machte die Vertreter der Bauernwirtschaftstheorie jedoch weder zu Befürwortern einer stationären Wirtschaft noch zu prinzipiellen Gegnern einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Marktwirtschaft und Kapitalismus waren für sie nicht synonym. In ihren Arbeiten versuchten sie daher den Nachweis dafür zu erbringen, dass eine marktinduzierte Agrarentwicklung Lohnarbeit gar nicht voraussetzte. Das Modell von der „werktätigen Bauernwirtschaft“ brachte diesen Gedanken in eine abstrakte Form. Es übersetzte die Sympathie, die weite Teile der intelligencija für das „werktätige Volk“ hegten, in eine formalisierte Sprache und wurde so zum wissenschaftlichen Argument für den Traum von einer ländlichen Moderne, die die Besonderheiten der bäuerlichen Produktion mit agrarwirtschaftlichem Fortschritt verband. Die Ent­stehung der Bauern­wirtschaftstheorie markierte demnach nicht nur den Beginn einer neuen Ära im akademischen Agrardiskurs. In ihr zeigte sich auch die Konstitutierung des Agrarismus als wissenschaftliches Paradigma.

1.2.3  Genossenschaftsdiskurs und Gesellschaftskritik Zeitgleich mit der Entstehung der Bauernwirtschaftstheorie setzte eine breite Debatte über die Rolle von Genossenschaften bei der Modernisierung der bäuerlichen Landwirtschaft ein. Wie die Beschäftigung mit den Bauernwirtschaften stand auch die Auseinandersetzung mit den Genossenschaften im Zusammenhang mit deren

140 So nannte der marxistische Agrarökonom L. N. Kricman die Theorie A. V. Čajanovs eine „Politische Ökonomie der vorkapitalistischen, vorsintflutlichen Kleinwirtschaft mit rückständiger Technik“. Kricman, Predislovie, S. 5. Zu einem ähnlichen Urteil kam die indische Entwicklungsökonomin Utsa Patnaik, Neo-Populism, S. 393f. 141 Stanziani, Russkie ėkonomisty, S. 169f.

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zunehmender Sichtbarkeit. Nachdem russische Intellektuelle in den 1860er ­Jahren erfolglos versucht hatten, Konsum- und Sparvereine zu etablieren, erlebte das Genossen­schaftswesen nach der Wende zum 20. Jahrhundert einen rasanten Aufschwung. Zwischen 1905 und 1910 stieg die Zahl der registrierten Konsumgenossen­ schaften im Zarenreich von 1804 auf 6799 und die Zahl der Kredit- und Sparvereine von 1629 auf 6679. Bis 1915 erhöhte sich die Zahl der Konsumgenossen­schaften auf 13.300, die der Kredit- und Sparvereine sogar auf 15.500.142 Nach Angaben des Genossenschaftsaktivisten V. F. Totomianc befanden sich 80% der 1914 gezählten Konsumvereine auf dem Land, 60% ihrer Mitglieder waren Bauern. Auch die Mehrzahl der 14.129 Kreditgenossenschaften im Jahr 1914 agierte in einem landwirtschaftlichen Kontext. Nach dem Raiffeisenschen Modell mit Unterstützung staat­ lichen Kapitals gegründet, organisierten sie vielfach nicht nur die Bereitstellung von Krediten, sondern auch die Verarbeitung oder den Absatz von Agrarerzeug­nissen und den Verleih von landwirtschaftlichem Gerät.143 Die Auseinandersetzung mit den Genossenschaften war Teil des Diskurses über die Rückständigkeit der russischen Bauern.144 Agrarspezialisten, Wissenschaftler und Intellektuelle erkannten in der Förderung des Genossenschaftswesens ein entscheidendes Instrument zur Modernisierung der Landwirtschaft nach Maßgabe von Wissen­ schaft und wirtschaftlicher Vernunft. So wies der Agrarökonom B. D. Bruckus auf dem Moskauer Agronomenkongress im Jahr 1911 darauf hin, dass die wichtigste agrarpolitische Herausforderung – der Übergang von der ­extensiven Produktion für den eigenen Konsum zur intensiven Marktproduktion – nicht ohne die Entwicklung von Kreditgenossenschaften realisierbar sei; nur diese könnten die ­Bauern mit dem für eine Reorganisation ihrer Wirtschaften erforder­lichen Kapital aus­statten.145 Andere Genossenschaftsexperten betonten die moder­ni­sierende Wirkung von Verarbeitungsund Absatzgenossenschaften. Um den Endab­nehmern Waren von zuverlässiger Qualität garantieren zu können, förderten diese die Standar­­di­sierung und Professionalisierung der landwirtschaftlichen Produktion.146 Als länd­liche Genossen­schaften in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg vermehrt zur Anstellung von Agronomen übergingen,147 galten Genossenschaften zugleich als Scharnier zwischen Agrarwissenschaft und landwirtschaftlicher Praxis. Nach Auffassung des Moskauer Agronomen A. P. Levickij bildeten sie „jene unerschöpfliche Kraftquelle, die zur Anhebung der Bauernwirtschaft

142 Fuckner, Genossenschaftsbewegung, S. 17. Zur Entwicklung des Genossenschaftswesens im ­späten Zarenreich siehe jünst Korelin, Kooperacija. 143 Totomianz, Handwörterbuch, S. 766 – 767; Kaysenbrecht, Genossenschaftswesen. 144 Kotsonis, Peasants. 145 [Moskovskij oblastnoj S-ezd dejatelej agronomičeskoj pomošči,] Trudy S-ezda, Bd. 2, S. 95f. 146 Ščerbin, Sel’skochozjajstvennaja kooperacija. 147 Gerasimov, Modernism, S. 120 – 122.

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auf die Höhe der gegen­wärtigen Agro­nomie erforderlich [sei]“.148 Für A. V. Čajanov war die Entwicklung des Genossen­schaftswesens eine entscheidende Voraussetzung der ländlichen Moderne: „Wenn sie sich auf das gemeinschaftliche Prinzip stützt, kann die Bauernwirtschaft alle Erkenntnisse der Agrarwissenschaft nutzen: Dort, wo jetzt eine Ähre wächst, werden dann zwei Ähren wachsen. Sie kann die Last der Wucherer und Aufkäufer von ihren Schultern werfen und mit festen Schritten in eine bessere landwirtschaftliche Zukunft gehen. So wie Regentropfen zusammenströmen und gewaltige Flüsse bilden, deren Lauf durch keine Hindernisse gestört wird, so erlangen auch die Bauernwirtschaften, wenn sie sich in der Genossenschaft vereinigen, eine ungeheure Kraft, die wir für die öko­ nomische Wiedergeburt des russischen Dorfes benötigen.“149

Das allgemeine Interesse an den Genossenschaften zeigte sich auch auf dem Gebiet der theoretischen Wirtschaftslehre. Im Jahr 1909 rief M. I. Tugan-Baranovskij, einer der bedeutendsten Vertreter des marxistischen Revisionismus in Russland, den „Genossenschaftsboten“ (Vestnik kooperacii) ins Leben. Dieser entwickelte sich bald zu einer bedeutenden Plattform für die Auseinandersetzung mit theoretischen Fragen des Genossenschaftswesens. Analog zu den Vertretern der Bauernwirtschaftstheorie bemühten sich Wirtschaftswissenschaftler um den Nachweis, dass die Kooperative nichts mit kapitalistischen Unternehmen gemein hatten. So gab der Genossenschaftstheoretiker M. Chejsin zu, dass Genossenschaften ihre Produktion nicht anders als kapitalistische Unternehmen am Markt ausrichteten, wirtschaft­ lichem Konkurrenzdruck unterlagen und häufig sogar Lohnarbeiter anstellten. Aus seiner Sicht fehlte den Genossenschaften jedoch die für kapitalistische Unter­nehmen typische Dominanz des Kapitals: „[…] die Grundlage der kapitalistischen Wirtschaft, ihr punctum movens, ist das Kapital, in der genossenschaftlichen Wirtschaft ist es hingegen das Individuum (ličnost’). Deshalb ist ein Kooperativ vor allem eine Vereinigung von Individuen, und keine Vereinigung von Kapitalisten oder Aktien.“150

148 Levickij, in: „Anketa“ (1), S. 61. Aus dem gleichen Grund forderte der Genossenschaftsaktivist V. V. Chižnjakov 1914 eine Ausweitung der genossenschaftlichen Tätigkeit von Zemstvo-­Agronomen, eine intensive Kooperation zwischen Zemstva und Genossenschaften sowie die verstärkte Aus­bildung von Genossenschaftsspezialisten. Genossenschaften seien für die Agronomen „das empfäng­lichste Publikum überhaupt, ein unmittelbares Mittel zur Verbreitung landwirtschaftlicher Kenntnisse […].“ Chižnjakov, Kooperativnaja dejatel’nost‘, S. 78. 149 Čajanov, Kratkij kurs kooperacii (1915), S. 72f. 150 Chejsin, K teorii kooperacii, S. 43.

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Der ausschlaggebende Indikator für den nichtkapitalistischen Charakter der Genossen­ schaften war nach Auffassung zeitgenössischer Theoretiker der Gewinnverzicht. Tugan-Baranovskij sprach von der „prinzipiell werktätigen Natur“ (principial’no trudovaja priroda)151 der Genossenschaften; im Unterschied zu kapitalistischen Unternehmen verfolgten diese „nicht die Erwirtschaftung des höchsten Gewinns auf das aufgewandte Kapital, sondern die Bereitstellung von Vorteilen anderer Art […]“152. Der Petersburger Ökonom S. N. Prokopovič, neben Tugan-Baranovskij einer der führenden Theoretiker auf diesem Gebiet, sah in den Einnahmen von Genossenschaften „eine besondere, nichtkapitalistische Form des Einkommens“153. Die analytische Unterscheidung von Genossenschaften und profitorientierten Unternehmen folgte dem antikapitalistischen Selbstverständnis der spät­zaristischen intelligencija. Angesichts der zunehmenden Einbindung der bäuerlichen Landwirtschaft in marktwirtschaftliche Tauschbeziehungen befürchteten Zeitgenossen eine Konzentration der ökonomischen Macht in den Händen von „Kapitalisten“. Zugleich warnten sie vor dem wachsenden Einfluss von „Spekulanten“, die Informations­ asymmetrien auf neu entstehenden Märkten zum eigenen Vorteil ausnutzten. Ähnlich wie die Bauernwirtschaften wurden Genossenschaften für zeitgenössische Intellek­ tuelle zum Hoffnungsanker für den Traum von einer wirtschaftlichen Ordnung, in der die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit von Kleinproduzenten einer Konzen­tration ökonomischer Macht vorbeugte.154 Die Genossenschaften würden den ­weniger einflussreichen ökonomischen Akteuren zu mehr Verhandlungssmacht auf dem Markt verhelfen. Nach Auffassung des Moskauer Ökonomen Manujlov ­könnten sich Konsumenten mit Hilfe einer Genossenschaft vor steigenden Lebensmittelpreisen schützen. Kleine oder mittelgroße Produzenten hätten im ökono­mischen Verbund wiederum die Möglichkeit, ihre Wettbewerbsposition zu verbessern.155 Auf dem Kongress der Vertreter des Kleinkreditwesens und der landwirtschaft­lichen Genossen­schaften, der im März 1912 in Sankt Petersburg stattfand, erklärte ein Sprecher, dass die russischen Bauern nur für sich „und nicht für die Meute der Ausbeuter-Spekulanten“ arbeiteten, wenn sie sich zu Genossenschaften zusammen­schlössen.156 V. F. Totomianc, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als einer der engagiertesten Vorkämpfer

151 152 153 154

Tugan-Baranovskij, Klassovoj charakter, S. 27f. Tugan-Baranovskij, Opredelenie, S. 8. Prokopovič, Kooperativnoe dviženie, S. 15. Das Stereotyp des „kapitalistischen Spekulanten“ war auch unter zarischen Beamten weit v­ erbreitet. Während des Ersten Weltkriegs wurde es zu einem Argument für die staatliche Regulierung der Lebensmittelmärkte und die Förderung der Genossenschaften. Holquist, War, S. 18 – 22. 155 Manujlov, in „Anketa“ (4), S. 72. 156 Trudy Pervogo Vserossijskogo S-ezda dejatelej po melkomu kreditu i sel’skochozjajstvennoj kooperacii, S. 175.

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des Genossenschaftswesens einen Namen machte, erklärte in seinen 1939 in der Emigration veröffentlichten Memoiren, Genossenschaften seien „bestrebt […], den kapitalistischen bzw. spekulativen Gewinn auszuschalten“157. Hinter dem Leitbild einer genossenschaftlich organisierten Landwirtschaft ­standen nicht nur ökonomische Erwägungen. Im Genossenschaftsdiskurs des aus­gehenden Zarenreichs verdichtete sich der Traum von einem Gemeinwesen, in der das Miteinander gleichberechtigter Individuen an die Stelle hierarchischer, öko­nomisch determinierter Sozialbeziehungen trat. Die Expansion des Genossen­ schaftswesens versprach die Etablierung einer gemeinschaftsbezogenen Wirtschaftsethik, die Freiheit und Gleichheit mit den Prinzipien der Eigenverantwortung und der gegen­seitigen Hilfe verband. Nach Auffassung Tugan-Baranovskijs lebte in den Koope­rativen ein „völlig anderer, nichtkapitalistischer Geist, der die Menschheit auf einen neuen Weg führt und gesellschaftliche Formen hervorbringt, die der kapitalis­tischen Gesellschaft so fremd sind, wie Solidarität und gegenseitige Hilfe von Ausbeutung und Gewalt verschieden sind“158. Dies machte die G ­ enossenschaften zu Orten, an denen gesellschaftliches Miteinander erlernt wurde: „Völlig unbemerkt“, war der M ­ oskauer Agrarwissenschaftler V. G. Bažaev überzeugt, „erzieht die Genossen­schaft die Psycho­logie der Menschen um und veredelt die ethische Seite ihrer Beziehungen.“159 Der Statistiker und Ökonom A. N. Ancyferov, ein ehemaliger Student Čuprovs und seit 1903 Professor an der Universität Charkov’,160 war davon überzeugt, dass die Mitgliedschaft in einer Genossenschaft das „moralische Niveau“ der Menschen anhob und ihrem Zusammenleben eine tragfähige Basis verlieh.161 Der Genossenschaftsdiskurs war zugleich ein Zivilgesellschaftsdiskurs in nuce. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterschieden Intellektuelle aus dem Russischen Reich den verantwortungsbewussten, engagierten Bürger von dem ausschließlich ökonomisch motivierten Individuum, das ungehemmt die Verwirklichung seiner eigenen Interessen verfolgte. Der unter Zeitgenossen weithin gebräuchliche Begriff obščestvennost’ spiegelte den Traum von einer Gesellschaft aus verantwortungsbewussten, am Gemeinwohl interessierten und in ihrer Freiheit uneingeschränkten Bürgern.162 In der Theorie verbanden Genossenschaften individuelles und gemeinnütziges Handeln. Dem Ideal des westlichen self-help-Diskurses folgend, demzufolge alle Menschen nicht nur an der Vervollkommnung der eigenen Persönlichkeit, 157 158 159 160 161 162

Totomianz, 40 Jahre, S. 28. Tugan-Baranovskij, Ėkonomičeskaja priroda kooperativov, S. 17. Bažaev, in: „Anketa“ (2), S. 72. Telycin, Ancyferov. Ancyferov, in: „Anketa“ (3), S. 59. Wartenweiler, Civil society, S. 114 – 118.

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sondern auch an der Förderung des Gemeinwohls arbeiteten,163 erkannten Fürsprecher der Genossenschaften in diesen Keimzellen einer sich „von unten“ selbst errichtenden gesellschaftlichen Ordnung: Schulen der „Gemeinschaftlichkeit“ (školy obščestvennosti)164 und der „Selbsthilfe und der Eigeninitiative“ (škola samopomošči i samodejatel’nosti)165. Nach Auffassung des Ökonomen Sobolev förderten Genossenschaften die Entstehung eines neuen Menschentypus, der nicht für das eigene, sondern für das gesellschaftliche Wohl (v celjach obščestvennogo blaga) arbeitete.166 Für Kablukov war eine Genossenschaft „die erste Zelle, aus der sich wahres gesellschaftliches Leben entwickeln [könne]“. Diesem „wahren gesellschaftlichen Leben“ stellte Kablukov das „einfache inhaltslose Vor-sich-hin-Leben einzelner menschlicher Existenzen“ gegenüber, die „wie zersplittert leben und die Verbindung, die faktisch zwischen ihnen selbst und anderen lebenden Menschen besteht, nicht verstehen und nicht erkennen“167. Besonders deutlich zeigte sich der enge Zusammenhang von Genossenschafts- und Gesellschaftsdiskurs im Kontext der Stolypinschen Reform. Zwar standen viele Wissenschaftler und Intellektuelle dem Anliegen, die obščina per Dekret aufzulösen, skeptisch gegenüber. Um ihrem Engagement in der Genossenschaftsbewegung jedoch Gewicht und Legitimität zu verliehen, präsentierten sie Genossenschaften als eine institutionelle Alternative zur Dorfgemeinde: Während diese als eine staatliche Zwangsinstitution die gesellschaftliche Ungleichheit des Landes zementierte, beruhten Genossenschaften auf dem freiwilligen Zusammenschluss ihrer Mitglieder. Sie legten damit den Grundstein einer neuen gesellschaftlichen Ordnung.168 Nicht zuletzt war die Beschäftigung mit den Genossenschaften Teil einer gesellschaftlichen Selbstverständigung über Moral und Sittlichkeit am Beginn der Moderne. Die Vorstellung, dass die Mitglieder einer Genossenschaft im Idealfall gleich­berechtigt an allen Entscheidungen partizipierten und füreinander einstanden, machte den Genossenschaftsdiskurs anschlussfähig für eine religiöse Metaphorik. Lev Tolstoj, den V. F. Totomianc im Jahr 1911 zu seiner Haltung gegenüber dem Genossenschaftswesen befragte, sah im genossenschaftlichen Engagement die „einzige gesellschaftliche Tätigkeit, an der sich ein sittlicher Mensch, der Selbstachtung 163 Zur Prominenz des self-help-Diskurses im späten Zarenreich siehe Herzberg, Gegenarchive, insb. 120 – 123. 164 Kataev, Sel’skochozjajstvennaja kooperacija, S. 38. 165 Sobolev, in: „Anketa“ (2), S. 60. 166 Ebd., S. 60. 167 Kablukov, in: „Anketa“ (1), S. 62. 168 Die Gegenüberstellung von obščina und Genossenschaften war weit verbreitet. Prokopovič, Kooperativnoe dviženie, S. 11 – 14; Kataev, Krest’janskaja sel’skochozjajstvennaja kooperacija; Migulin, in: „Anketa“ (1). Sie war auch Gegenstand im Vortrag V. G. Bažaevs auf dem Ersten Allrussischen Genossenschaftskongress im Jahr 1908. Pervyj Vserossijskij Kooperativnyj S-ezd, S. 375 – 381.

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hat und nicht an der Ausübung von Gewalt beteiligt sein möchte, im Augenblick beteiligen [könne]“. Der Erfolg der Genossenschaftsbewegung, so der Schriftsteller, setze jedoch einen „Aufschwung des religiösen Bewusstseins“ voraus.169 Aus der Sicht eines anderen Teilnehmers der Umfrage standen Genossenschaften für die Vereinigung drei moralischer Prinzipien: „Gemeinschaftlichkeit [obščestvennost’], Brüderlichkeit, und wahre christliche Liebe“170. Ancyferov war überzeugt, dass die Genossenschaft „von allen gesellschaftlichen Organisationen der praktischen Umsetzung des Postulats und der neutestamentlichen Wahrheit über die Nächstenliebe am ehesten [diente]“171. Totomianc rief die Teilnehmer des Petersburger Kongresses für Kleinkreditwesen und Agrargenossenschaften im Jahr 1912 sogar dazu auf, den Genossenschaftsgedanken als neues Credo zu verkünden: „So, wie die Christen am Gründonnerstag mit einer Kerze aus der Kirche kommen und sich bemühen, die Flamme bis nach Hause zu bringen und sie zu schützen, so werdet ihr mit den Kerzen der genossenschaftlichen Erkenntnis und Beseeltheit von hier aufbrechen.“172

Die Auseinandersetzung mit den Genossenschaften war Teil der transatlantischen Suche nach Organisationsformen, die die Masse der Bevölkerung durch „Selbsthilfe“ gegen die Zumutungen kapitalistischer Konkurrenzwirtschaft wappneten.173 Ebenso wie in den Schriften und Reden französischer, belgischer, deutscher oder britischer Genossenschaftsaktivisten waren abstrakte ökonomische Theorie, Kapitalismus­ kritik und gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen im Genossenschaftsdiskurs des Zarenreichs nicht voneinander zu trennen. Zeitgenossen sahen in den Genossen­ schaften ein Instrument, um bäuerliche Kleinproduktion, landwirtschaftlichen Fortschritt und gesellschaftliche Kooperation miteinander in Einklang zu bringen. Bauernwirt­schaften und Genossenschaften waren zwei Seiten einer Medaille: Während die Bauernwirtschaft als ein Unternehmenstypus galt, der an die Anforderungen der zeitgenössischen Agrarentwicklung hervorragend angepasst war, schienen ­Genossenschaften jene Probleme zu kompensieren, die mit der Ausübung einer landwirtschaftlichen Tätigkeit in bäuerliche Familienwirtschaften einhergingen: fehlende Möglichkeiten zur Realisierung von wirtschaftlichen Skalenerträgen und eine unterordnete Marktposition. Zugleich war die Beschäftigung mit den Genossen­ schaften Schauplatz der liberalen Auseinandersetzung über die Bedeutung von 169 170 171 172

Tolstoj, in: „Anketa“ (1), S. 59. Levickij, in: „Anketa“ (4), S. 64. Ancyferov, in: „Anketa“ (3), S. 59. Trudy Pervogo Vserossijskogo S-ezda dejatelej po melkomu kreditu i sel’skochozjajstvennoj kooperacii, S. 36. 173 Rodgers, Atlantic Crossings, S. 324 – 343.

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Persönlichkeitsrechten und gesellschaftlichen Freiräumen. Vertreter des Genossenschaftsdiskures artikulierten die Überzeugung, Wirtschaftsentwicklung setze individuelle Freiheit und die Existenz von Märkten voraus. Für viele von ihnen besaß das optimistische Freiheitspostulat des Liberalismus jedoch keine uneingeschränkte Gültigkeit. Vielmehr hofften sie, die Expansion des Genossenschaftswesens würde zur Beschränkung von Wettbewerb und Konkurrenz führen und einen Mittelweg zwischen enthemmtem Monopolkapitalismus und staatlicher Überregulierung, ­zwischen laisser faire und opeka aufzeigen. Der Genossenschaftsdiskurs des aus­ gehenden Zarenreichs ist damit zugleich ein Beispiel für den Zuspruch, den die Idee des „Dritten Wegs“ an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert länderübergreifend und besonders in den agrarisch geprägten Ländern des östlichen Europas erlangte.174

1. 3  Ag r a r i s mu s a l s ge s el l s ch a f t l iche B e weg u ng 1.3.1  Die Mission der Agronomen Die Bedeutung des Agrarismus beschränkte sich nicht auf seine Etablierung als wissenschaftliches Paradigma. Nachdem die Hungersnot von 1891/92 alle romantischen Illusionen über die Bauern zerstört hatte, hingen die Vertreter der gebildeten Schichten des Zarenreichs der Vorstellung an, die Landwirtschaft müsse durch die Intervention von Experten zu einem effektiven und krisenfesten Sektor ausgebaut werden. Diese Auffassung vertraten auch die Anhänger des Agrarismus, für die sich mit der gesellschaftlichen Konjunktur der Landwirtschaft zahlreiche berufliche Perspektiven ergaben. Ähnlich wie Sozialreformer in Westeuropa oder in den Vereinigten Staaten, deren landwirtschaftlichen Entwicklungsprogramme dem Traum von neuen gesellschaftlichen Kooperations- und Organisiations­formen jenseits der Städte folgten, sahen sie in der Modernisierung des Dorfes einen umfassenden Auftrag: Landwirtschaftsspezialisten sollten den Bauern nicht nur den nötigen Sachverstand zur Rationalisierung ihrer Wirtschaften vermitteln, sondern sie zugleich zu Trägern eines auf Eigeninitiative und freiwilligem Engagement beruhenden Gemeinwesens machen. Damit war der Agrarismus eine Mission zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation des ländlichen Russlands. Sichtbar wurde das Selbstverständnis der Wissenschaftler im Programm der „Sozialagronomie“ (obščestvennaja agronomija). Der Begriff der Sozial­ agronomie stand für den Glauben an die prinzipielle Modernisierungsfähigkeit

174 Gerasimov, Modernism, S. 113. Das Konzept des „Dritten Weges“ war auch für den Agrarismus in Ostmitteleuropa von entscheidender Bedeutung. Schultz, Einleitung, S. 12f.; Holec, Agra­rdemokratie.

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aller Bauernwirtschaften 175 und verkörperte damit die Suche nach einer Alternative zur staatlichen Modernisierungsagenda, die die Bauernwirtschaften nach den Maßstäben der Stolypinschen Reformer hierarchisierte und Individualbauern gegenüber obščina-Bauern privilegierte.176 So begrüßte der Moskauer Ökonom L. N. Litošenko auf dem Moskauer Agronomenkongress im Jahr 1911 zwar die hohen Summen, die der Zentralstaat für die Entwicklung der Landwirtschaft bereitstellte. Er sprach sich jedoch dafür aus, die lokalen Behörden stärker in die Verteilung der Gelder einzubinden und diese unabhängig davon zu investieren, ob die Bauern privates Bodeneigentum besaßen, oder ob ihr Land einer Umteilungsgemeinde gehörte.177 Das Konzept der Sozialagronomie transportierte zugleich den über die technische Modernisierung hinausgehenden Anspruch des Agrarismus. Nach Ansicht Fortunatovs beschränkte sich der Auftrag von Agronomen nicht darauf, der ländlichen Bevölkerung in landwirtschaftlichen Fragen zur Seite zu stehen. Sie sollten zugleich die „intellektuelle und bürgerliche Entwicklung“ der Bauern (umstvennoe i graždanskoe razvitie) fördern.178 Für die Anhänger des Agrarismus war der Agronom daher kein technischer Spezialist, sondern ein „gesellschaftlicher Aktivist und Bürger“ (obščestvennyj dejatel’ i graždanin)179, der die ländliche Bevölkerung den Idealen der Aufklärung gemäß zur gesellschaftlichen Mündigkeit erzog. Hinter der Agenda der Sozialagronomie standen das Bewusstsein für den lokalen Charakter landwirtschaftlicher Praxis und eine grundsätzliche Wertschätzung landwirtschaftlichen Erfahrungswissens.180 Dass ihre Vertreter mit dem Anspruch auftraten, die Bauern zu effizienten Produzenten und selbstbewussten Bürgern zu erziehen, bedeutete nicht, dass sie die ländliche Bevölkerung zu einem passiven Objekt ihres Modernisierungsprojektes herabstuften. Die Experten waren sich

175 Die Ansicht, dass potenziell alle Bauernwirtschaften modernisiert werden konnten, war für die Vertreter des Agrarismus ein wichtiges Argument für die Kritik an der staatlichen Agronomie. So sollten sich agronomische Angebote nach Auffassung K. A. Maceevičs nicht nur an einige ­progressive Wirtschaften, sondern an die Kleinwirtschaften insgesamt richten („planomernaja rabota nad melkim chozjajstvom v polnom ego ob-eme“). Trudy 1-go Vserossijskogo sel’skochozjajstvennogo s-ezda, S. 4. 176 Seitens des Zentralstaats hatte es explizite Anweisungen gegeben, chutor- und otrub-Bauern bevorzugt zu behandeln. Matsuzato, Agronomists, S. 181f. Zur Konkurrenz zwischen Zemstvo-Agro­ nomen und staatlichen Agronomen siehe Gerasimov, Modernism, S. 78 – 81. 177 [Moskovskij oblastnoj S-ezd dejatelej agronomičeskoj pomošči,] Trudy S-ezda, Bd. 1, S. 79f. 178 Fortunatov, Kto on?, S. 14. 179 Vnutrennoe obozrenie, S. 127. Es ist also zu einseitig, das Anliegen der Agrarexperten als „techno­ kratische Utopie“ zu bezeichnen, wie dies Stanziani tut. Stanziani, Ėkonomika, S. 143. 180 Sie gleicht damit der Modernisierungsagenda deutscher Agrarwissenschaftler und -politiker am Beginn des 20. Jahrhunderts und dem Anspruch der Entwicklungspolitik seit den 1970er Jahren. Vgl. Harwood, Green Revolutions.

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darüber bewusst, dass Gelehrsamkeit keine Garanatie landwirtschaftlichen Erfolgs darstellte und das Gelingen ihrer agronomischen Mission letztlich davon abhing, ob die ländliche Bevölkerung einen Sinn in den Ratschlägen von Fremden sah: „Wissenschaftliche Gesetze können den Verstand des Landwirts nicht mit einem Rezept oder einer Schablone ersetzen.“181 Die Notwendigkeit einer Verbindung von wissenschaftlichem Wissen und bäuerlicher Erfahrung war daher ein wiederkehrender Topos des zeitgenössischen Expertendiskurses. Die Agronomie, so Čajanov auf dem Moskauer Agronomenkongress im Jahr 1911, diene dazu, die Methoden der Landwirtschaft und der Viehzucht zu verbessern, die betriebliche Struktur der Bauernwirtschaften bestmöglich auf die allgemeine wirtschaftliche Lage abstimmen und die ländliche Bevölkerung in Genossenschaften zu organisieren. Die persön­liche und ökonomische Unabhängigkeit der Bauern müsse dabei jedoch unangetastet bleiben. Die Agronomen sollten der ländlichen Bevölkerung einen „emotionalen Impuls“182 versetzen und sich ferner auf die Rolle von Ratgebern beschränken: „Die Sozialagronomie führt keine eigene Wirtschaft; durch ihr Wollen und Wünschen allein kann sie noch keine Programme realisieren. Ihre Methode besteht darin, durch die Einwirkung auf den Verstand und den Willen der wirtschaftenden Bevölkerung deren Selbsttätigkeit zu wecken und ihr dabei zu helfen, diese Selbsttätigkeit so rational wie möglich zu gestalten.“183

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bilanzierten Vertreter der Sozialagronomie erste Erfolge. Wie ein Autor in einer einflussreichen zeitgenössischen Agrarzeitschrift feststellte, standen die Bauern den Anregungen von populärwissenschaftlichen Broschüren und Agronomen aufgeschlossen gegenüber. Das Fehlen finanzieller Mittel, mangelnder Bodenbesitz, das Veto älterer Familienmitglieder oder auch der gemeinsame Bodenbesitz könnten die unmittelbare Umsetzung von agronomischen Verbesserungsvorschlägen allerdings verhindern.184 Auch in der Moskauer G ­ esellschaft zur Verbreitung landwirtschaftlicher Kenntnisse im Volke registrierte man, dass die Bauern der agronomischen Beratung gegenüber nicht gleichgültig waren. Im Bericht über das Jahr 1911 unterstrich die Leitung der Gesellschaft das rege Interesse, auf das eine Wanderausstellung in den Dörfern des Moskauer Gouvernements gestoßen war. Auch wenn sich bei der Durchführung praktische Schwierigkeiten ergeben hätten, weil die Fuhrwerke der Bauern nicht zum Transport des benötigten Geräts taugten oder sich ihre Pferde nur schwer an die neuen Pflüge gewöhnten, wertete man die 181 182 183 184

Čajanov, Neobchodimost’, S. 13. [Moskovskij oblastnoj S-ezd dejatelej agronomičeskoj pomošči,] Trudy S-ezda, Bd. 1, S. 38. Ebd., S. 37. G-v, Derevnja.

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Ausstellung als Erfolg. Positive Erwähnung fanden auch die von der Gesellschaft veranstalteten sonntäglichen Vorlesungen im Moskauer Polytechnischen Institut mit anschließenden Exkursionen in das Moskauer Landwirtschaftliche Institut, zu denen sich regelmäßig mehr als 100 Personen eingefunden hätten.185 Čajanov konstatierte 1914 Anzeichen einer „neuen landwirtschaftlichen Kultur“: „Das bäuerliche Russland hat sich vom toten Punkt des jahrhundertelangen Stillstands, der Hungersnöte und der allgemeinen Finsternis (temnota narodnaja) fortbewegt und macht erste Schritte zum gesamtgesellschaftlichen Gedeihen (obščenarodnoe blagopolučie).“186 Auch wenn derartige Erfolgsberichte nicht zuletzt der professionellen Selbstlegitimierung dienten,187 deuten sie an, dass sich die in der Historiographie lange tradierte Vorstellung von den Bauern als entwicklungsresistenten Fatalisten kaum halten lässt.188 Vielmehr bestätigen sie das Ergebnis jüngerer Studien, demzufolge eine wachsende Zahl von Bauern im späten Zarenreich an der Reformierung ihrer Wirtschaftsweise interessiert war, wenn sich ihnen entsprechende Anreize boten, und sie auf eigene Initiative oder Anregung von Agronomen mit verschiedenen Fruchtfolgesystemen oder Anbaumethoden experimentierten.189 Angesichts der sich häufenden Begegnungen zwischen ländlicher Bevölkerung und Angehörigen landwirtschaftsbezogener Professionen wirkt auch das Bild von den Agronomen als einer Elite, die das Dorf modernisieren wollte, ohne es überhaupt zu kennen, überholt.190 Die Konjunktur der Landwirtschaft in der ­gesellschaftlichen Wahrnehmung trug dazu bei, dass die Distanz zwischen dörflichen und städtischen Lebenswelten im ausgehenden Zarenreich zunehmend geringer wurde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren längere Aufenthalte auf dem Dorf für angehende Agrarwissenschaftler ein regulärer Bestandteil ihres Curriculums. Während Studierende im 19. Jahrhundert auf den Gütern der pomeščiki ausgeholfen hatten, etablierten sich nun das sozialagronomische Praktikum und die studienbegleitende Mitarbeit in den Zemstvos. Auf Bitten des Moskauer Kreisagronomen M. N. Vonzblejn begann A.

185 Bericht der Gesellschaft über das Jahr 1911, CIAM f. 1575, op. 1, d. 3. 186 Čajanov, Vojna, S. 3f. 187 Ähnliches bemerkt Strobel für die Selbstdarstellung vorrevolutionärer Hygieneexperten. Strobel, Gesundung, S. 538 – 543. 188 Pipes, Rußland. Zum Paradigma der bäuerlichen Rückständigkeit in der Historiographie siehe den ausführlichen Überblick in Schedewie, Selbstverwaltung, S. 22 A31. Schedewie kommt zu dem Ergebnis, dass die Bauern ein aktives Interesse an der Verbesserung ihrer Lebenssituation zeigten und entsprechend an der Entscheidungsfindung lokaler Zemstva partizipierten. Ebd., S. 344f. 189 Gerasimov verwendet in diesem Zusammenhang sogar den Begriff einer „neuen Bauernschaft“ (new peasantry). Gerasimov, Modernism, S. 108. Vgl. auch Moon, Plough, S. 256f., 276. 190 So gab es etwa nach Auffassung von Emmons im vorrevolutionären Russland „zwei Kulturen“: „the traditional culture of peasant Russia, and the European culture that emanated from its towns“. Emmons, Zemstvo S. 427.

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G. Dojarenko unmittelbar nach dem Abschluss seines Studiums mit der Durchführung von Lehrveranstaltungen für ortsansässige Bauern.191 Im Jahr 1907 gründeten Studierende des Moskauer Landwirtschaftlichen Instituts einen Arbeitskreis für Sozialagronomie, der den Austausch zwischen Studenten, berufstätigen Agronomen und Professoren förderte und damit die Verbindung zwischen Wissenschaft und landwirtschaftlicher Praxis institutionalisierte. Seine Mitglieder organisierten Vortragsveranstaltungen, unterhielten Kontakte zu Zemstvo-Agronomen und zur Gesellschaft für die gegenseitige Hilfe unter russischen Agronomen (Obščestvo vzaimopomošči russkich agronomov), führten Exkursionen durch und vermittelten Sommerpraktika.192 Die Memoiren N. P. Makarovs illustrieren, dass auch Studierende der Politischen Ökonomie regelmäßig mit der Lebenswelt des Dorfes in Berührung kamen.193 Im Sommer 1907 meldete sich Makarov, der damals an der Juristischen Fakultät der Moskauer Universität studierte, zu einer von Lev Tolstoj initiierten Hilfsaktion in dem von Missernten betroffenen Gouvernement Ufa. Die Sommermonate des ­Jahres 1908 verbrachte er auf einer statistischen Expedition in den Dörfern des Gouvernements Kostroma. Hier lernte Makarov seinen Freund und künftigen Kollegen A. A. Rybnikov kennen, der ebenfalls an der Juristischen Fakultät der Moskauer Uni­versität studierte und wie Makarov vorübergehend als Statistiker arbeitete. Makarovs Wahrnehmung des Dorfes war ambivalent. So erinnerte er sich später zwar an die „herzlichen, freundschaftlichen Beziehungen“, die sie im Verlauf ihrer statistischen Expedition zu den Bauern aufgebaut hätten.194 Mit einigem Unverständnis dachte der Ökonom jedoch daran zurück, wie die Bewohner eines ­Dorfes nachts drei Mal auf den Knien um einen See krochen, weil sie meinten, Gott habe auf dessen Grund eine Stadt vor den Tataren versteckt, oder wie Frauen während einer sommer­lichen Trockenperiode nackt an den Dorfrand rannten, damit es bald regnete. Dass die bäuer­liche Volksfrömmigkeit so wenig mit seinem eigenen wissen­schaftlichen Weltbild gemein hatte, machte die Begegnung mit den Bauern für Makarov aus der Retrospektive zu einer Erfahrung kultureller Differenz: „Finster, sehr finster war Russland damals, und das war klar und gleichzeitig traurig anzusehen.“195 Trotzdem sah Makarov in der praktischen Erfahrung der Bauern eine für 191 Dojarenko, Iz agronomičeskogo prošlogo, S. 62 – 67. 192 A. N. Minin, N. I. Kostrov und A. V. Čajanov gehörten der Leitung des Kreises an. Unter den Vortragsgästen befanden sich A. F. Fortunatov, V. I. Anisimov, N. P. Oganovskij, A. I. Ancyferov und der Moskauer Agronom M. N. Vonzblejn. Otčet o sostojanii Moskovskogo Sel’skochozjajstvennogo Instituta za 1909 god, S. 44f. Siehe auch die gleichnamigen Berichte der Folgejahre. 193 Makarov hat seine Memoiren in den 1940er Jahren verfasst. Nach eigenen Angaben waren sie für seine Söhne bestimmt. Ein Auszug wurde jüngst veröffentlicht. Kalinova; Savinova, Iz vospominanij. 194 Erinnerungen Makarovs [1948], RGAĖ f. 766, op. 1, d. 32a, l. 51f. 195 Ebd, l. 55.

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die Modernisierung der Landwirtschaft unverzichtbare Ressource: „Wir sind“, so schrieb er 1917 in einem Zeitungsartikel, „aufrichtig davon überzeugt, dass man in der Tiefe des Volkes viel Weisheit findet. Anstatt des Volk mit schablonenhaften Programmen zu konfron­tieren, muss man ihm vielmehr dabei helfen, diese Weisheit an den Tag zu bringen.“196 Der Austausch zwischen Experten und Bauern war aus seiner Sicht folglich eine notwendige Voraussetzung für die Realisierung der ländlichen Moderne. Mit der allgemeinen Konjunktur der Landwirtschaft im öffentlichen Diskurs entwickelten Vertreter der Agrarwissenschaften und ihrer Nachbardisziplinen ein elitäres Sendungsbewusstsein. Viele von ihnen schätzten landwirtschaftsbezogene Berufe nicht nur dank der zunehmend lukrativer werdenen Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt. Vielmehr sahen sie sich dazu berufen, die Zukunft des ländlichen Russlands zu entwerfen: „Der Natur mit Bedacht gegenüber stehen, die Landwirtschaft hoch schätzen, bis zum Tode stetig lernen, und Erbauung in der Erkenntnis suchen. Das ist unser Auftrag, auch wenn der Sturm des Lebens donnert, soll er doch donnern; in uns lebt ein Glaube, und dieser Glaube ist unsere Stärke, dass die Zukunft uns gehört.“197

Dieses Gedicht, das aus der Feder A. F. Fortunatovs stammte und in einer Vertonung A. G. Dojarenkos als Hymne des Moskauer Landwirtschaftlichen Instituts interpretiert wurde, ist symptomatisch für den Habitus der Agrarspezialisten im ausgehenden Zarenreich. An die Stelle des Wunsches, von den Bauern zu lernen bzw. die Bauern zu verstehen, war eine moderne Zivilisierungsmission getreten,198 die das Ethos des legalen narodničestvo mit dem Glauben an die Gestaltbarkeit der Welt durch Wissen und Vernunft verband. Im Unterschied zu den populistischen

196 Makarov, Obščestvennaja agronomija, S. 4. 197 Der russische Originaltext des Gedichts lautet: Zavet petrovcam / Soznatel’no k prirode otnosit’sja, / soznatel’no chozjajstvo ocenjat’, / do grobovoj doski vsegda učit’sja / i v ponimanii utech sebe iskat’. / S takim zalogom, čem by ni grozila nam žizni burja, / pust’ sebe gremit. / V nas vera est’, ta vera naša sila, / čto buduščee nam prinadležit. Text: A. F. Fortunatov; Musik: A. G. Dojarenko. Notenmanuskript Dojarenkos, RGAĖ f. 9474, op. 1, d. 195, l. 5. 198 Vgl. Osterhammel, Zivilisierungsmission, S. 364f.

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Intellektuellen der 1860er und 1870er Jahre, die als „Befreier“ einer unterdrückten Dorfbevölkerung aufgetreten waren, beriefen sich die Angehörigen des Agrarismus auf ihren exklusiven Zugang zu landwirtschaftlich relevantem Wissen. Sie präsentierten sich als „Modernisierer“, die das Dorf mit wissenschaftlichem Sachverstand in die Zukunft führten.199

1.3.2  Strategien der professionellen und sozialen Vernetzung Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlangten die Wegbereiter und Vordenker des Agrarismus nicht nur im akademischen Milieu wachsende Autorität. Indem sie sich untereinander vernetzten und Plattformen für kollektives Handeln etablierten, gelang es ihnen, die ländliche Moderne in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit als agrarpolitisches Leitbild zu etablieren. Dank der Konjunktur der Landwirtschaft im öffentlichen Diskurs und der Blüte der lokalen Gesellschaft fanden die Anhänger des Agrarismus eine wachsende Zahl von Fürsprechern, die sich für die Realisierung ihres Modernisierungsprojekts mobilisieren ließen und die Vision der ländlichen Moderne jenseits der Moskauer oder Petersburger intelligencija zu einem öffent­ lichen Anliegen machten. Der Agrarismus entwickelte sich somit von einer eli­ tären intellektuellen Strömung zu einer weithin sichtbaren gesellschaftlichen Kraft. Eine entscheidende Voraussetzung für diese Entwicklung war die Verankerung des sozialwissenschaftlichen Ansatzes im wissenschaftlichen Agrardiskurs. Dass dies nicht nur in Moskau der Fall war, wo A. I. Čuprov seit den 1870er Jahren dem neuen Blick auf das Dorf zu breiter Popularität verholfen hatte, ging wesentlich auf Čuprovs akademischen Schüler A. V. Fortunatov zurück. Der Agrarwissenschaftler, der nach der Schließung der Petrovka im Jahr 1893 mehrmals seinen Wohn- und Arbeitsort wechselte, gehörte an der Wende zum 20. Jahrhundert zu den wichtigsten Autoritäten seiner Disziplin. Zwischen 1894 und 1899 leitete Fortunatov den Lehrstuhl für Allgemeine, Land- und Forstwirtschaftliche Statistik am Land- und Fortwirtschaftlichen Institut in Novaja Aleksandrija.200 Unter den Absolventen des Instituts, die hier während Fortunatovs Anwesenheit studierten, befanden sich u. a. die Agrarökonomen B. D. Bruckus, A. N. Čelincev,201 V. I. ­Anisimov und K. A. Maceevič sowie der spätere Moskauer Zemstvo-Agronom M. N.

199 Die Gegenüberstellung von „Erziehern“ und „Modernisierern“ stammt von Gerasimov, Russians into Peasants?, S. 240. Siehe auch Stanziani, Ėkonomika, S. 139 – 141. 200 Fortunatov; Fortunatov, Aleksej Fedorovič Fortunatov, S. 17f.; Alov, K istorii; „Institut sel’skogo chozjajstva i lesovodstva v Novoj Aleksandrii“, S. 238f. 201 Lebenslauf Čelincevs [ohne Datierung, nicht vor 1932], RGAĖ f. 771, op. 1, d. 249, l. 3. Čelincev war als Fernstudent am Institut eingeschrieben.

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Vonzblejn.202 Zwischen 1899 und 1902 war Fortunatov Professor für Agrarökonomie und -­ statistik und Leiter der landwirtschaftlichen Abteilung des Kiever Polytechnischen Instituts, das auch nach seinem Weggang ein intellektuelles Zentrum des neuen Paradigmas blieb. 1903 übernahm V. G. Bažaev, der in den 1880er Jahren in Moskau bei ­Fortunatov studiert hatte, dessen Lehrstuhl und 1905 die Leitung der landwirtschaftlichen Abteilung des Instituts.203 Auch der dortige Lehrstuhl für Poli­ tische Ökonomie wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts regelmäßig von Wissenschaftlern besetzt, die dem neuen agrarökonomischen Paradigma nahestanden. Seit 1901 lehrte hier der Ökonom S. N. Bulgakov, der sich als einer der ersten marxis­ tischen Ökonomen mit der Überlebensfähigkeit der Bauernwirtschaften beschäftigt ­hatte.204 1909 wurde V. A. Kosinskij, einer der Begründer des Agrarismus in der öko­n­omischen Theorie, Inhaber des Lehrstuhls.205 Am Moskauer Landwirtschaftlichen Institut fand der Agrarismus ebenfalls wachsenden Zuspruch. Obwohl die ­zarische Regierung die Übernahme von Professoren und Studenten der ehemaligen ­Petrovka-Akademie in das Kollegium des Instituts verboten hatte, entwickelte sich diese bald zu einer Anlaufstelle für Agrarwissenschaftler und Ökonomen, die ihre Auseinandersetzung mit der Landwirtschaft als Dienst an den Bauern verstanden. 1895 übernahm der ehemalige Narodnik und Zemstvo-Statistiker K. A. Verner die Professur für Agrarökonomie. Nach dem Abschluss seines Studiums im Jahr 1901 war A. G. Dojarenko an Verners Lehrstuhl vorübergehend als Assistent tätig.206 N. A. Kablukov und A. A. Manujlov, die zeitgleich an der Moskauer Universität ­lehrten, kamen für einzelne Vorlesungsreihen an das Moskauer Landwirtschaftliche Institut.207 A. F. Fortunatov kehrte 1902 an das Institut zurück und übernahm bald darauf die Professur für Agrarökonomie und Statistik.208 Enge Kontakte zwischen Professoren und Studierenden begünstigten die Verankerung des Agrarismus im akademischen Diskurs. Das Engagement in g­ elehrten Gesellschaften, die Teilnahme an Lesezirkeln und private Treffen mit Kollegen und Studierenden waren für viele Hochschullehrer im ausgehenden 19. Jahr­hunderts selbstverständliche Bestandteile des professionellen Alltags.209 Da viele Ange­ hörige des Moskauer Landwirtschaftlichen Instituts auf dem Anwesen in

202 Solonenko, Adresnyj Ukazatel’, S. 16, 22, 25, 26. 203 Otčet o sostojanii Kievskogo Politechničeskogo Instituta za 1903 god, S. 3; Otčet o sostojanii Kievskogo Politechničeskogo Instituta za 1905 i 1906 gody, S. 3. 204 Otčet o sostojanii Kievskogo Politechničeskogo Instituta za 1901 god, S. 3. 205 Otčet o sostojanii Kievskogo Politechničeskogo Instituta za 1907, 1908 i 1909 gody, S. 4. 206 Kurenyšev, On slyšal muzyku polej, S. 25. 207 Moskovskaja Sel’skochozjajstvennaja Akademija, S. 73. 208 Fortunatov; Fortunatov, Aleksej Fedorovič Fortunatov, S. 20. 209 Niks, Moskovskaja professura, S. 94, 155 – 171, 196 – 203.

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Petrovsko-­Razumovskoe lebten, gestaltete sich der Austausch hier besonders intensiv. Dojarenko erinnerte sich später an Musik- und Tanzabende in den Wohnungen der Professoren. Zur winterlichen Butterwoche sei in Petrovkso-Razumovskoe „jeder bei jedem“ zu Besuch gewesen; selbst die Professoren hätten zu diesem Anlass ­Maskeraden getragen.210 Im Umfeld von Fortunatov entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein enges Netzwerk von etablierten und angehenden Agrar- und Wirtschafts­wissenschaftlern, die bald darauf als Protagonisten des Agrarismus auftreten sollten. Bei den regelmäßigen Teestunden des Professors begegneten sich A. V. Čajanov, A. N. Čelincev, V. I. Anisimov, P. A. Vichljaev, A. O. Fabrikant, N. N. Suchanov, A. N. Minin und N. P. Makarov.211 Ein dichtes Geflecht von kollegialen und privaten Beziehungen entwickelte sich zeitgleich an den Lehrstühlen von A. A. Manujlov und N. A. Kablukov, zwei Wegbereitern der sozialwissenschaftlichen Wende im gelehrten Agrardiskurs. So ging die Bekanntschaft der Ökonomen N. P. Makarov, A. A. Rybnikov, L. N. Litošenko, Z. S. Kacenelenbaum und L. B. Kafengauz, die noch in den 1920er Jahre zusammen arbeiten sollten, auf die Zeit ihres Studiums an der Moskauer Universität zurück.212 Im Zusammenhang mit einem der größten Skandale im Hochschulleben des ausgehenden Zarenreichs zeigte sich, dass Agrar- und Wirtschaftswissenschaftler auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Brücke zwischen dem akademischen Diskurs und dem Milieu der lokalen Selbstverwaltung bildeten. Nachdem der Bildungs­minister L. A. Kasso im Jahr 1911 Studentenunruhen in Moskau mit der Einschränkung der studentischen Versammlungsfreiheit beantwortet und die Polizei die Universität gestürmt hatte, trat der Ökonom A. A. Manujlov von seinem Amt als Hochschuldirektor zurück. Auf die anschließende Enthebung Manujlovs von seiner Professur reagierten zahlreiche seiner Kollegen mit ihrem Rücktritt.213 Zu ihnen zählte auch N. A. Kablukov. Die Ökonomen Makarov, Kafengauz, Kacenelenbaum, Litošenko, Rybnikov, Golgovskij und Pervušin, die sich damals an den Lehrstühlen Kablukovs und Manujlovs auf eine akademische Laufbahn vorbereiteten, verließen die Hochschule ebenfalls.214 Fast alle von ihnen fanden Anstellungen in den Organen der lokalen Selbstverwaltung. Makarov arbeitete vorübergehend als Statistiker im Moskauer Gouvernements-­Zemstvo,215 ­Rybnikov übernahm die Stelle des leitenden Ökonomen im statis­tischen Büro

210 Dojarenko, Iz agronomičeskogo prošlogo, S. 37f. Vgl. auch Gerasimov, Modernism, S. 37 – 39. 211 Čajanov, Petrovsko-Razumovskoe, S. 74 – 76. 212 Siehe das 1909 entstandene Foto mit Teilnehmern eines Seminars an der Moskauer Universität auf Seite 84. 213 Dazu Maurer, Hochschullehrer, S. 793 – 799. 214 Erinnerungen Makarovs, RGAĖ f. 766, op. 1, d. 32a, l. 58. 215 Lebenslauf Makarovs, RGAĖ f. 766, op. 1, d. 196, l. 5.

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des S ­ molensker Gouvernements-Zemstvo. In den folgenden Jahren führte er statistische Erhebungen in den Gouvernements Kostroma, Smolensk und Moskau durch und beschäftigte sich mit dem Handwerk und dem Leinenanbau der Bauern.216 Kafengauz war vorübergehend als Statistiker in der Moskauer Städtischen Selbstverwaltung beschäftigt. Gemeinsam mit Kacenelenbaum wurde er außerdem Assistent am Moskauer Handelsinstitut.217 Die politische Konjunktur begünstigte die Akademisierung des Agrarismus. Nach dem Beginn der Stolypinschen Reform weitete das Agrarministerium sein Programm zur Förderung von landwirtschaftlicher Bildung und Forschung deutlich aus. Fortan besetzten Schüler Kablukovs, Fortunatvos und Manujlovs die neu entstehenden 216 Biographie A. A. Rybnikovs, verfasst von seiner Frau Z. A. Rybnikova [ohne Datierung]. RGAĖ f. 9470, op. 1, d. 134, l. 4 – 5. 217 Autobiographische Skizze L. B. Kafengauz’ [ca. 1935], RGAĖ f. 772, op. 1, d. 71, l. 6f. Übersicht über den beruflichen Werdegang Z. S. Kacenelenbaums [1927], RGAĖ f. 782, op. 1, 52, l. 1.

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A. V. Čajanov während seiner Studienjahre am Moskauer Landwirtschaftlichen Institut (um 1910)

oder personell aufgestockten Lehrstühle für Agrarökonomie und Agrarstatistik. A. N. Čelincev war seit 1908 Dozent und seit 1913 Professor für Ökonomie und landwirtschaftliche Organisation am Novo-Aleksandrijsker Institut.218 B. D. Bruckus lehrte seit 1908 Agrarökonomie, -geschichte und -politik am Petersburger Land- und Forstwirtschaftlichen Institut.219 A. V. Čajanov zählte seit 1913 zu den planmäßigen Dozenten des Moskauer Landwirtschaftlichen Instituts.220 N. P. Makarov und A. A. Rybnikov, die einer akademischen Laufbahn 1911 den Rücken gekehrt hatten, setzten diese an zwei neu gegründeten landwirtschaftlichen Hochschulen fort. Nach der Eröffnung des Landwirtschaftlichen Instituts in Voronež erhielt Makarov das Angebot, die dortige Dozentur für Politische Ökonomie und Statistik zu übernehmen. 218 Lebenslauf Čelincevs, RGAĖ f. 771, op. 1, d. 249, l. 3. 219 Lebenslauf B. D. Bruckus’ [wahrscheinlich verfasst von seiner Ehefrau, 1979], RGAĖ f. 9598, op. 3, d. 28, l. 47. 220 Otčet o sostojanii Moskovskogo Sel’skochozjajstvennogo Instituta za 1913 god, S. 71.

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Seminar des Ökonomen I. M. Gol’dštejn an der Moskauer Universität (1909). Unter den Teil­nehmern befinden sich L. N. Litošenko (erste Reihe, Vierter v. r.), L .B. Kafengauz (erste Reihe, Dritter v. r.), Z. S. Kacenelenbaum (erste Reihe, rechts außen) und A. A. Rybnikov (zweite Reihe, Dritter v. r.)

Seine Rückkehr an die Hochschule verdankte Makarov der Initiative Čelincevs, der dem Direktor des Instituts K. D. Glinka die Kandidatur Makarovs nahegelegt hatte, obwohl dieser noch nicht über den erforderlichen akademischen Grad verfügte.221 Makarov trat seine Stelle in Voronež im Juli 1914 an und blieb dort bis Ende 1919 beschäftigt.222 Rybnikov wurde fast zeitgleich Dozent für Agrarökonomie an den neu eröffneten Höheren Landwirtschaftlichen Kursen in Saratov.223 Die Karrieren dieser Wissenschaftler zeugen nicht nur davon, dass sich die Beschäftigung mit den Bauernwirtschaften, die vorher in den Zemstvos angesiedelt war, fest im akademischen Diskurs etablierte. Angesichts der rasanten Expansion landwirtschaftlicher Hochschulen und Fakultäten waren sie zugleich symptomatisch für die Verbreitung des Agrarismus über das gesellschaftliche Milieu seiner intellektuellen Wegbereiter und die Zentren des Russischen Reichs hinaus. Die wachsende Bedeutung von Bildungseinrichtungen, die sich nicht dem staatlichen Bildungswesen zurechneten und sich vor allem an Personen richteten,

221 Čelincev an Makarov [ohne Datierung], RGAĖ f. 766, op. 1, d. 150, l. 3. 222 Bescheinigung des Voronežer Landwirtschaftlichen Instituts [1948], RGAĖ f. 766, op. 1, d. 57, l. 15. 223 Rybnikov an Makarov [4. Oktober 1914], RGAĖ f. 766, op. 1, d. 14, l. 2.

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denen der Zutritt zu staatlichen Hochschulen oder Instituten erschwert oder untersagt war, trug ebenfalls zur Multiplikation des Agrarismus bei. Besonders deutlich zeigte sich dies in Moskau, wo führende Vertreter des Agrarismus regelmäßig an nichtstaatlichen Instituten unterrichteten. So entwickelten sich die Golicynschen Landwirtschaft­lichen Kurse für Frauen vor dem Ersten Weltkrieg zu einem wichtigen Ort für den Austausch zwischen Anhängern des neuen Paradigmas und an­ gehenden Agrar­spezialisten. Direktor der Einrichtung war der Agrochemiker D. N. Prjanišnikov, der zugleich eine Professur am Moskauer Landwirtschaftlichen Institut innehatte. Unter den Dozenten befanden sich u. a. die Agronomen A. F. ­Fortunatov, A. G. Dojarenko und A. P. Levickij sowie der Agrarökonom V. I. Anisimov.224 Das Zentrum für die Popularisierung des Agrarismus war die Moskauer Städtische Volkshochschule. Kablukov hielt hier seit 1909 einen Kurs in Politischer Öko­ nomie, Fortunatov unterrichtete Statistik. Anisimov war seit 1910 mit einem Kurs in Agrarökonomie betraut, Manujlov übernahm 1912 für mehrere Jahre den Kurs in Politischer Ökonomie, während Kablukov eine regelmäßige Vorlesung in Handelsund Industrietheorie und einige Spezialkurse für Zemstvo-Angestellte anbot. Ende 1910 fanden an der Šanjavskij-Universität erstmals „Kurse zur gesellschaftlichen Unterstützung der Kleinwirtschaft und zum Genossenschaftswesen“ statt, an deren Einrichtung Fortunatov sowie die Genossenschaftsaktivisten V. N. Zel’gejm, A. N. Ancyferov und V. F. Totomianc beteiligt waren. Wenig später liest sich das Lehrprogramm der Kurse wie ein „Who-is-Who“ des russischen Agrarismus. Unter den Dozenten befanden sich nun außerdem die Ökonomen und Agrarwissenschaftler B. D. Bruckus, A. V. Čajanov, V. A. Bažaev, M. I. Tugan-Baranovskij, N. P. M ­ akarov, S. N. Prokopovič, A. N. Minin, K. A. Maceevič sowie die Genossenschafts­aktivisten V. V. Chižnjakov und V. A. Kil’čevskij. Später unterstützten auch Z. S. Kacenelenbaum, L. B. Kafengauz und A. A. Evdokimov das Programm.225 Das Lehrprogramm der Šanjavskij-Universität spiegelte die sozial- und wirtschaftspolitischen Anliegen des Agrarismus. Die Wegbereiter des neuen Paradigmas hofften auf die Errichtung einer kleinbäuerlichen Agrarordnung, in denen Bauern rationale Produktionsentscheidungen trafen, Teile der Produktion, des Einkaufes und des Absatzes in Genossenschaften organisierten und auf diese Weise Träger landwirtschaftlichen Wachstums werden würden. Die Kurse der Šanjavskij-Universität richteten sich daher gezielt an Personen, die in ihrem beruflichen Alltag andauernd mit den Bauern in Kontakt standen. An der Volkshochschule gab es Schulungen für Mitarbeiter von Konsumgenossenschaften 226 und Personen, die 224 Otčet Golicynskich ženskich sel’skochozjajstvennych kursov za 1911 god, S. 2f. 225 Siehe die jährlich erstellten Übersichten über das Lehrpersonal: Otčet Moskovskogo Gorodskogo Narodnogo Universiteta za … akademičeskij god (1911 und Folgejahre). 226 Otčet Moskovskogo Gorodskogo Narodnogo Universiteta za 1913 – 1914 akademičeskij god, S. 69f.

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genossenschaftliche Weiterbildungen in der Provinz anbieten wollten. 1913 wurde die Einrichtung eines regelmäßigen genossenschaftlichen Seminars beschlossen,227 dessen Leitung S. N. Prokopovič übernahm. Seit 1915 gab es dann einjährige Höhere Genossenschaftliche Kurse, für die sich angehende Genossenschaftsaktivisten mit einem höheren Bildungsabschluss registrieren konnten.228 In Kooperation mit der Moskauer Landwirtschaftlichen Gesellschaft und der Gesellschaft zur gegenseitigen Hilfe russischer Agronomen wurde das Programm der Šanjavskij-Universität 1916 um mehrwöchige Kurse zur Sozialagronomie erweitert. Als Dozenten wirkten hier u. a. die Agronomen A. V. Tejtel, A. G. Dojarenko, V. E. Brunst und A. P. Levickij und die Ökonomen B. D. Bruckus, A. V. Čajanov und A. N. Minin.229 Die wachsende Zahl von Absolventen landwirtschaftsbezogener wissenschaft­ licher Disziplinen begünstigte ihre Konstituierung als Berufsgruppe. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts häuften sich Initiativen zur Herstellung eines ­professionellen Kommunikationsraums. Mit Hilfe des 1903 veröffentlichten „Adressbuchs der Agronomen und Forstwirte des Novo-Aleksandrijsker Instituts“ ließ sich in Erfahrung bringen, wer in welchem Jahr und in welchem Fach seinen Abschluss gemacht hatte und wo die Absolventen des Instituts beruflich tätig waren.230 Im Rahmen der Gesellschaft für die gegenseitige Hilfe unter russischen Agronomen, die 1894 mit Beteiligung von I. A. Stebut und A. F. Fortunatov gegründet worden war, publizierten Fortunatov und Dojarenko eine Übersicht über die Tätigkeitsorte von Agronomen. Dojarenkos „Landwirtschaftsbote“ richtete zudem eine ständige Rubrik ein, in der über Arbeitsstellenwechsel von Agronomen und freie Stellen berichtet wurde.231 Darüber hinaus schufen Vertreter landwirtschaftsbezogener wissenschaftlicher Disziplinen und Genossenschaftsaktivisten Foren, die der überregionalen Vernetzung und der Durchsetzung kollektiver Interessen dienten. Die Moskauer Gesellschaft zur Verbreitung landwirtschaftlicher Kenntnisse im Volke kümmerte sich um die Beschaffung von Unterlagen, die für die offizielle Zulassung eines Agronomen benötigt wurden, und übernahm damit Aufgaben einer beruflichen Interessen­ vertretung gegenüber dem Staat. Wie die Gesellschaft für die gegenseitige Hilfe unter russischen Agronomen, auf deren Jahresversammlungen nach 1905 manchmal über 700 Teilnehmer anwesend waren,232 war die Gesellschaft zur Verbreitung landwirtschaftlicher Kenntnisse im Volke auch eine wichtige Plattform für den

227 Protokoll einer Sitzung der Leitung der Šanjavskij-Universität [1. November 1913], CIAM f. 635, op. 3, d. 61, l. 36. 228 Broschüre über die Genossenschaftskurse, CIAM f. 635, op. 3, d. 71, l. 61 – 67. 229 Lehrprogramm für das Lehrjahr 1916/17, CIAM f. 635, op. 3, d. 71, l. 74 – 89. 230 Solonenko, Adresnyj Ukazatel’. 231 Dojarenko, Iz agronomičeskogo prošlogo, S. 125 – 133. 232 Ebd.

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Austausch der Agrarexperten untereinander. Zu ihren Mitgliedern zählten etwa die Agrarökonomen A. V. Čajanov und N. I. Kostrov, die Moskauer Professoren D. N. Prjanišnikov und A. I. Ugrimov, die Agronomen S. P. Fridolin, A. A. Zubrilin und M. E. Šaternikov sowie P. A. Sadyrin und A. A. Evdokimov, die beide aktiv in der Genossenschaftsbewegung engagiert waren. Die Agronomen A. G. Dojarenko, V. P. Kočetkov und A. P. Levickij gehörten dem Leitungsgremium der Gesellschaft an.233 Die Konstituierung der Agrarspezialiten als berufliche Interessengruppe verhalf den gesellschaftspolitischen Anliegen des Agrarismus zu öffentlicher Sichtbarkeit. Der 1901 von der Moskauer Landwirtschaftlichen Gesellschaft ein­berufene Kongress zur agronomischen Hilfe wurde zu einer der ersten überregionalen Zusammen­künfte der Zemstvo-Angestellten.234 Neben der Frage, ob man nicht kleinere ständeüber­ greifende Zemstvo-Einheiten schaffen könnte, kamen hier vor allem konkrete Probleme der Zemstvo-Agronomie zur Sprache. Čajanov bezeichnete diesen Kongress später als Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung der russischen Agrarwissenschaft.235 Auf dem Moskauer Agronomenkongress von 1911 war bereits offenkundig, dass das im akademischen Diskurs beschworene Bild von den „nichtkapitalistischen“ Bauernwirtschaften als Fundament einer modernisierten Agrarordnung die öffentliche Auseinandersetzung mit dem ländlichen Russland dominierte. Thematisch deckte die Veranstaltung alle Felder ab, die die Vision von der ländlichen Moderne auf die eine oder andere Weise berührten: das ökonomische Studium bäuerlicher Familienwirtschaften, die Sozialagronomie, die Verbreitung landwirtschaftlichen Wissens, das Genossenschaftswesen. Unter den Rednern befanden sich Professoren und Studierende, die bald darauf zu den wichtigsten wissenschaftlichen Autoritäten des Agrarismus zählen sollten: N. P. Makarov, A. A. Rybnikov. S. A. Pervušin und L. N. Litošenko, allesamt Schüler des ebenfalls anwesenden N. A. Kablukov, sowie A. G. Dojarenko, A. V. Čajanov, A. N. Čelincev und B. D. Bruckus. Der Kongress stellte einen Dialog her zwischen praktisch tätigen Agronomen, Wissenschaftlern und Vertretern der Genossenschaftsbewegung, die hier u. a. durch V. F. Totomianc, V. N. Zel’gejm, dem Leiter der Moskauer Zeitschrift „Verbrauchervereinigung“ (Sojuz potrebitelej), und N. P. Gibner, dem Begründer des Moskauer Verbands der Konsumgenossenschaften, vertreten war.236 Er zeugte damit von den engen ­per­sonellen Verflechtungen zwischen Wissenschaft und gesellschaftlicher Öffentlichkeit im vorrevolutionären Agrardiskurs.

233 Sitzungsprotokolle und Jahresberichte der Gesellschaft, CIAM f. 1575, op. 1, d. 1, 3, 23. 234 Zur Bedeutung des Kongresses für die „Befreiungsbewegung“, aus der später die Partei der ­Kadetten hervorging, siehe Galai, Liberal Movement, S. 110 – 113. 235 Čajanov, Osnovnye linii, S. 237. Auch Dojarenko wertete den Kongress später als einen Schlüsselmoment in der öffentlichen Auseinandersetzung mit der Agrarfrage. Dojarenko, Iz agronomičeskogo prošlogo, S. 68f. 236 [Moskovskij oblastnoj S-ezd dejatelej agronomičeskoj pomošči,] Trudy S-ezda, Bd. 1, 2.

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Die dynamisch an Bedeutung gewinnende landwirtschaftliche Presse wirkte sich ebenfalls zuträglich auf die Verbreitung des Agrarismus aus. Während ­Tugan-Baranovskijs „Genossenschaftsbote“ (Vestnik kooperacii) aufgrund seiner theoretischen Ausrichtung vornehmlich Medium eines elitären Diskurses war,237 wurde der „Landwirtschaftsbote“ (Vestnik sel’skogo chozjajstva), den die Moskauer Landwirtschaftliche Gesellschaft einmal wöchentlich herausgab, im frühen 20. Jahrhundert zur Plattform einer breiten Debatte über die Perspektiven der bäuerlichen Landwirtschaft. Neben Artikeln fast aller namhaften Professoren des Moskauer Landwirtschaftlichen Instituts wurden hier Beiträge von Zemstvo-Agronomen oder Mitarbeitern landwirtschaftlicher Versuchsstationen in der Provinz veröffentlicht. A. G. Dojarenko, seit 1905 Redaktionsleiter des „Landwirtschaftsboten“, gelang es, mit A. A. Manujlov, A. A. Kaufman und A. P. Levickij führende Protagonisten des intellektuellen Agrardiskurses zur Mitarbeit heranzuziehen, die die theoretische Auseinandersetzung mit der bäuerlichen Wirtschaft einer breiteren landwirtschaftlich interessierten Öffentlichkeit vermittelten.238 Eine ähnliche Funktion erfüllte die „Agronomische Zeitschrift“ (Agronomičeskij žurnal), die 1913 unter dem Dach der Char’kover Landwirtschaftlichen Gesellschaft von einer Agronomengruppe um A. N. Čelincev, A. V. Čajanov, B. D. Bruckus, A. F. Fortunatov, P. P. Maslov und K. A. Maceevič gegründet wurde 239 und sich schnell zu einem der bedeutendsten Medien des Agrarismus entwickelte. Anders als der „Genossenschaftsbote“ wies die „Agronomische Zeitschrift“ keinerlei Ähnlichkeit mit den „dicken Journalen“ des 19. Jahrhunderts auf. Die Redakteure verstanden die Zeitung als Brücke zu den Vertretern der so genannten „Dorfintelligenz“ – Lehrern, Ärzten und Priestern – und der wachsenden Schicht lesekundiger Bauern. Wie der von Aleksandr V. Tejtel mitherausgegebene „Samaraer Ackerbauer“ (Samarskij zemledelec) und der „Zemstvo-Agronom“ (Zemskij agronom), dessen Redaktion Tejtel seit 1910 leitete,240 zeugte die „Agronomische Zeitschrift“ daher von der Etablierung des Agrarismus als gesellschaftlicher Bewegung und seiner Rezeption jenseits der gesellschaft­ lichen und politischen Zentren des Russischen Reichs.241 Die Konstituierung des Agrarismus als gesellschaftliche Bewegung ging auf die erfolgreiche Institutionalisierung, Vernetzung und Multiplikation ­seiner führenden Vertreter zurück. Hatte sich die Auseinandersetzung mit den

237 Dies war nach Auffassung Yanni Kotsonis das zentrale Kennzeichen des russischen Genossenschaftsdiskurses. Kotsonis, Peasants, S. 3. 238 Dojarenko, Iz agronomičeskogo prošlogo, S. 114, 122 – 125. 239 Galas, Sud’ba, S. 28. 240 „Aleksandr Vladimirovič Tejtel “, S. 10. 241 Zur „Regionalisierung“ des zeitgenössischen Agrardiskurses siehe Gerasimov, Modernism, S. 14. Zur Entwicklung des Agrojournalismus siehe ebd., S. 11 – 17.

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Bauernwirtschaften im ausgehenden 19. Jahrhunderts auf das Milieu der regierungs­ kritischen ­Zemstvo-Intelligenz beschränkt, trugen die Expansion nichtstaatlicher Bildungseinrichtungen, die dynamische Expansion des landwirtschaftlichen Presse­ wesens und die Verdichtung der Kommunikation zwischen Akademikern, Genossen­ schaftsaktivisten und Vertretern der lokalen Öffentlichkeit zur Aufwertung der Bauernwirtschaft im gesellschaftlichen Diskurs bei. Dass sich die „werktätige“ Landwirtschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem gesellschaftlich akzeptierten agrarpolitischen Leitbild etablieren konnte, war zugleich eine unintendierte Folge der staatlichen Agrarpolitik: Mit dem Ausbau des landwirtschaftlichen Bildungswesens gelangten zahlreiche Vertreter des Agrarismus in Positionen, die ihnen ein Monopol in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Agrarfrage und der Ausbildung von Landwirtschaftsspezialisten verschafften. Erkennbar wurden die Folgen dieser Entwicklung auf dem Ersten Allrussischen Landwirtschaftskongress 1913 in Kiev. Nach einem Vortrag V. A. Kosinskijs stimmten die Anwesenden dafür, dass den nichtkapitalistischen Bauernwirtschaften besondere Unterstützung zuteil werden müsse; diese könnten sich vergrößern und landwirtschaftlichen Fortschritt erzeugen, ohne dabei ihren „werktätigen“ Charakter zu verlieren (ostovajas’ trudovymi).242 Der Konsens über Kosinskijs Vortrag zeugte nicht nur davon, dass die „bäuerliche Landwirtschaft“ auch jenseits des akademischen Diskurses im Zentrum agrarpolitischer Debatten stand. In ihm kam zugleich die neue Rolle zum Vorschein, in der sich die intellektuellen Wegbereiter des Agrarismus am Vorabend des Ersten Weltkriegs befanden: Sie waren nun Sprecher einer gesellschaftlichen Bewegung, deren Ausstrahlungskraft über die Zentren des Reichs hinausreichte und die Vision von der ländlichen Moderne in die Provinzen des Imperiums trug.

1.3.3  Agrarismus als politisches Programm Die Etablierung des Agrarismus führte nicht nur zur Integration einer breiteren Öffentlichkeit in die Debatte über die Zukunft des russischen Dorfes. Er veränderte auch die politischen Kräfteverhältnisse des Zarenreichs. Die Vision der ländlichen Moderne richtete sich gegen die gesellschaftliche und politische Verfasstheit des Russischen Reichs, in der die Bauern einem eigenen Stand angehörten, einer eigenen Gerichtsbarkeit unterstanden und selbst in den Gremien der lokalen Selbstverwaltung unterrepräsentiert waren. Für die Anhänger der Bewegung stand fest, dass die Bauern gleichberechtigt an der Regulierung von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik partizipieren sollten. Indem sie an der Etablierung von überregionalen und

242 Trudy 1-go Vserossijskogo sel’skochozjajstvennogo s-ezda, S. 11.

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ständeübergreifenden Kommunikationsplattformen mitwirkten, machten sie die Ideen des Agrarismus zu einem öffentlichen Anliegen und weiteten den politischen Kommunikationsraum des Reichs aus.243 Auch wenn die Anhänger des Agrarismus ihren Anspruch auf gesellschaftliche Autorität mit dem Verweis auf den vermeintlich „apolitischen“244 Charakter ihrer Expertise legitimierten, waren ihre Ansichten und ihre Formen des öffentlichen Handelns daher Teil einer politischen Agenda. Der Wunsch nach einer Integration der Bauern in Politik und Gesellschaft hatte bereits die Vordenker des Agrarismus in Konflikt mit den Eliten des Landes gebracht. Im Beamtenapparat wurde die „Entdeckung der Bauern“ im ausgehenden 19. Jahrhundert mit Argwohn verfolgt. Da sich unter den ersten Zemstvo-Statistikern zahlreiche aus der Verbannung oder dem Exil zurückgekehrte Narodniki befanden, die untereinander rege Beziehungen unterhielten und zugleich direkt mit der bäuer­ lichen Bevölkerung in Kontakt kamen, befürchteten Vertreter von Regierung und Beamtenschaft eine Gefährdung der zentralstaatlichen Autorität. Zusammenstöße mit den Behörden gehörten daher zum beruflichen Alltag vieler Statistiker.245 Zu Beginn der 1880er Jahre wurde A. F. Fortunatov in Samara Zeuge, wie V. I. Orlov erst nach längeren Verhandlungen mit dem Gouverneur eine Erlaubnis für seine Erhebungen erhielt. Erschwert wurde ihr Anliegen durch den Umstand, dass kurz zuvor ein ehemaliger Student der Petrovka-Akademie verhaftet worden war, der unter Verdacht stand, aufrührerische Parolen in der ländlichen Bevölkerung verbreitet zu haben. Im Juni 1881 wurden Fortunatov und sein Begleiter K. A. Verner, der 1895 die Professur für Agrarökonomie am Moskauer Landwirtschaftlichen Institut übernehmen sollte, auf einer statistischen Expedition kurzzeitig verhaftet,246 während die Arbeiten von Verners Bruder im Kursker Gebiet öffentlich verbrannt ­wurden, nachdem konservative Zemstvo-Abgeordnete Beschwerde gegen ihn erhoben ­hatten.247 Im Jahr 1887 erhielt N. A. Kablukov die Mitteilung, der Moskauer Generalgouverneur verbiete ihm die Leitung der statistischen Abteilung des Moskauer Zemstvos. Kablukov könne sich im Rahmen anderer Abteilungen zwar weiterhin mit Statistik beschäftigen, es sei ihm jedoch untersagt, selbst zur Datenerhebung auf das Land zu fahren. Erst nach zweijährigen Verhandlungen mit dem Gouverneur und dem Polizeidepartment des Innenministeriums in Sankt Petersburg wurde das Verbot aufgehoben.248 Ein ähnliches Schicksal ereilte A. V. Pešechonov, der 1897 nach einem Streit mit der lokalen Administration die Leitung der 243 Zum Konzept des politischen Kommunikationsraumes siehe Frevert, Politische Kommunikation. 244 Gerasimov spricht daher von „apolitischer Politik“. Gerasimov, Modernism, S. 17 – 24. 245 Johnson, Professionals, S. 353 – 355; Kingston-Mann, Statistics, S. 124, 130. 246 Fortunatov, Iz vospominanij, S. 244f. 247 Johnson, Professionals, S. 355. 248 Kablukov, Avtobiografija, S. XVII.

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Zemstvo-Statistik im Gouvernement Kaluga abgeben musste. Im folgenden Jahr wurde Pešechonov aus seinem neuen Arbeitsort Poltava verbannt, weil er sich gemeinsam mit 26 weiteren Statistikern gegen die Zusammenarbeit mit Vertretern des Zentralstaats ausgesprochen hatte.249 Mit der Wende zu einer interventionistischen Agrarpolitik unter Zar ­Alexander III. nahmen die Behörden eine zunehmend pragmatische Haltung gegenüber den Statistikern ein. Da die Zemstvo-Statistiken im Unterschied zu den Agrarstatistiken der Zentralbehörden detaillierte Angaben über die Entwicklung der Landwirtschaft enthielten, lernte man die Datensammlungen der Selbstverwaltungen in Regierungskreisen zu schätzen. Die erste Hochphase der Zemstvo-Statistik fiel daher ausgerechnet in eine Zeit, in der andere Tätigkeitsfelder der Zemstvos maßgeblich eingeschränkt wurden.250 Mit der Verabschiedung des Steuer-Statuts im Juni 1893 verpflichtete die Zentralregierung die ländlichen Selbstverwaltungsorgane zur Erhebung von Daten über das Einkommen der lokalen Bevölkerung. Für die Arbeit der Statistiker erwiesen sich das Statut und die ein Jahr später durch das Finanzministerium verabschiedeten Instruktionen zur Zemstvo-Besteuerung als ausgesprochen vorteilhaft. Mit den neuen Gesetzen erhielten sie zwar einen staatlichen Auftrag, was dem Selbstverständnis der intelligenty eigentlich widersprach. Tatsächlich versetzten sie die staatlichen Vorgaben jedoch in die Lage, ihre Erhebungen über die Bauernwirtschaften in einem rechtlich abgesicherten Rahmen durchzuführen.251 Die Spannung zwischen staatlicher Regulierung und dem Wunsch nach professioneller Autonomie prägte auch die Beziehungen zwischen Behörden und Zemstvo-Agronomen. Vor allem in der Frühphase der Zemstvo-Agronomie wurde die Tätigkeit der Agronomen andauernd überwacht. Bis 1903 durften Lehrveranstaltungen für Bauern nicht ohne die Anwesenheit eines lokalen Staatsvertreters abgehalten werden. Wie sich A. G. Dojarenko später erinnerte, kam es dabei regelmäßig zu Konflikten zwischen Vortragenden und Beamten.252 1906 wurde die Durchführung von Lehrveranstaltungen unter Bauern, die ein beliebtes Instrument zur Popularisierung agrarwissenschaftlicher Kenntnisse war, zwar gesetzlich legitimiert. Die Gouverneure der entsprechenden Region mussten die einzelnen Agronomen jedoch bestätigen und verfügten damit über die Möglichkeit, die Lehrerlaubnis zu verweigern. Auch wenn die zarische Regierung die Dringlichkeit agronomischer Schulungen erkannte und den Aktionsradius der Agronomen deutlich erweiterte, blieben diese immer von den staatlichen Behörden abhängig. 1907 erteilte die Kanzlei des Innenministeriums im Gouvernement Moskau den Agronomen A. G. 249 Protasova, Pešechonov, S. 17f. 250 Johnson, Professionals, S. 346f. 251 Ebd.; Darrow, Politics, S. 59. 252 Dojarenko, Iz agronomičeskogo prošlogo, S. 63f.

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Dojarenko, I. S. Šupov, D. L. Rudzinskij, N. M. Tulajkov, V. I. Lemus, G. I. Gurin, A. M. Gedda und M. E. Šaternikov die Genehmigung für die Durchführung von landwirtschaftlichen Kursen und Gesprächsrunden. A. A. Zubrilin, einem bekannten Moskauer Agronomen, wurde die Teilnahme hingegen untersagt.253 Im Januar 1912 musste die Gesellschaft zur Verbreitung landwirtschaftlicher Kenntnisse im Volke die Bitte der Smolensker Landwirtschaftlichen Gesellschaft um die Veranstaltung von Vorlesungen aufschieben, weil der Gouverneur die vorgesehenen Agronomen noch nicht bestätigt hatte.254 Das pragmatische Arrangement zwischen Bürokratie und Experten geriet vor allem dann an seine Grenzen, wenn die Tätigkeit der Agrarexperten die Entstehung von staatlich nicht kontrollierten öffentlichen Räumen nach sich zog. Besonders deutlich zeigte sich dies im Zusammenhang mit der Expansion des Genossenschaftswesens. In der genossenschaftlichen Presse gab es zahlreiche Beschwerden über unzulässige Eingriffe von Polizeibeamten oder Vertretern der Lokaladministration in die Angelegenheiten einzelner Genossenschaften. Auch die bürokratischen Hürden bei der Zulassung von Kooperativen riefen regelmäßig den Ärger von Genossenschaftsvertretern hervor.255 In seiner 1913 veröffentlichten Monographie zur Entwicklung der Genossenschaftsbewegung in Russland konnte S. N. Prokopovič eine lange Liste von Fällen anführen, in denen staatliche Behörden die Entwicklung des Genossenschaftswesens offenkundig behindert hatten. Demnach konnte sich die Gründung einer Genossenschaft mitunter über mehrere Jahre hinziehen. Manche Gouverneure lehnten ihre Einrichtung systematisch ab. Es war zudem keine Selten­ heit, dass Polizeivertreter Mitgliederversammlungen auflösten oder einzelnen Personen die Mitarbeit in den Leitungsgremien der Kooperativen untersagten.256 Nach Auffassung Prokopovičs waren es die genossenschaftlichen Prinzipien selbst, die mit der herrschenden politischen Ordnung nicht vereinbar waren und daher den Widerstand polizeilicher und administrativer Behörden hervorriefen: „Als eine der eindeutigsten Formen kollektiver Selbstständigkeit im Bereich des wirtschaftlichen Lebens ist die Genossenschaft in keiner Weise mit einem bürokratischen Regime oder bürokratischer Überwachung zu vereinbaren. Es ist daher nur allzu verständlich,

253 Schreiben der Kanzlei des Innenministeriums an die Gesellschaft zur Förderung der landwirtschaftlichen Ausbildung von Frauen und zur Verbreitung landwirtschaftlicher Kenntnisse in der Bevölkerung, RGAĖ f. 9474, op. 1, d. 220, l. 1. 254 Protokoll der Kommission zur Organisation von Ausstellungen, Kursen und Vorlesungen der Gesellschaft [30. Januar 1912], CIAM f. 1575, op. 1, d. 1, l. 5. 255 Siehe z. B. Omič, Opeka; Chižnjakov, Charakternyj ėpizod; Posse, Kooperativnoe dviženie; Kataev, Krest’janskaja sel’skochozjajstvennaja kooperacija. 256 Prokopovič, Kooperativnoe dviženie, S. 370 – 388.

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dass die Vertreter des gegenwärtigen politischen Regimes die Genossenschaften mit Misstrauen behandeln und in diesen ein feindliches Prinzip ausmachen.“257

Diese Einschätzung diente nicht nur Prokopovičs Selbstvergewisserung als An­­ hänger einer regierungskritischen Öffentlichkeit. Bei Versuchen zur Etablierung über­regionaler Kommunikationsplattformen gerieten die Anhänger des Agrarismus regelmäßig in Konflikt mit Vertretern des Zentralstaats. So scheiterte die Durchführung eines für 1907 in Moskau geplanten Agronomenkongresses, weil die staatlichen Behörden den Veranstaltern die erforderliche Erlaubnis verweigerten. Auch die Einberufung des ersten Allrussischen Genossenschaftskongresses wurde von offizieller Seite blockiert. Das Organisationskomitee erhielt die erforderliche Genehmigung des Innenministeriums erst zwei Tage vor dem geplanten Beginn des Kongresses am 2. Januar 1908.258 Da die verbleibende Zeit nicht mehr ausreichte, um die Teilnehmenden zu versammeln, musste der Kongress verschoben werden. Als er dann im April 1908 stattfand, wurden einzelne Sektionen durch die An­­ wesenheit von Polizisten und Vertretern der städtischen Administration behindert, die sich direkt in das Tagungsgeschehen einmischten und mehrfach mit der Auf­ lösung der Veranstaltung drohten. Obwohl das Vortragsprogramm im Vorfeld durch das Innenministerium gebilligt worden war und die Leitung des K ­ ongresses die Teil­nehmenden gemahnt hatte, auf politische und religiöse Debatten zu verzichten, sahen die Moskauer Behörden in dem Kongress eine Gefährdung der staatlichen Autorität. Die Sitzung der Kommission für Genossenschaftspropaganda sowie alle Vorträge über Genossenschaftsverbände und Fragen eines einheitlichen Genossenschaftsgesetzes wurden verboten.259 Als gesellschaftliche Kraft, die sich gegenüber dem Zentralstaat auf rechtlich einklagbare Garantien berufen konnte, war die Genossenschaftsbewegung demnach nicht geduldet. Trotz des anhaltenden Misstrauens der Behörden gehörten Kongresse zu den wichtigsten Erscheinungsformen des Agrarismus. Nachdem die Durchführung eines Allrussischen Genossenschaftskongresses für Vertreter aller Genossenschafts­formen

257 Ebd., S. 420. 258 Neben N. P. Gibner waren zahlreiche Landwirtschafts- und Genossenschaftsaktivisten an der Vorbereitung des Kongresses beteiligt. Zu den Mitgliedern des Organisationsbüros zählten u. a. V. N. Zel’gejm, V. A. Perelešin, V. I. Anisimov, A. E. Kulyžnyj, A. I. Ugrimov und A. P. Levickij. P. A. Sadyrin war Sekretär des Organisationskomitees. Die Leitung des Kongresses übernahmen an­­ erkannte Autoritäten des intellektuellen Agrar- und Genossenschaftsdiskurses. Der Ökonom A. S. Posnikov, der als Vertreter des legalen narodničestvo und enger Kollege A. I. Čuprovs bekannt war, wurde zum Vorsitzenden gewählt. Unter den Präsidiumsmitgliedern befand sich S. N. Prokopovič. V. F. Totomianc war Mitglied des Sekretariats. 259 Zu den Vorbereitungen und zum Ablauf des Kongresses siehe Pervyj Vserossijskij Kooperativnyj S-ezd, S. I-VII.

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verboten worden war, fand im März 1912 ein Allrussischer Kongress für die Vertreter der Kredit- und Agrargenossenschaften statt.260 Ein Jahr später konnten in Kiev sogar zwei Allrussische Kongresse mit landwirtschaftlichem Bezug einberufen werden: der Erste Allrussische Landwirtschaftskongress und der Zweite All­russische Genossenschaftskongress. Wie die Vertreter anderer gesellschaftlicher Interessengruppen nutzten die Anhänger des Agrarismus öffentliche Versammlungen und Kongresse zur politischen Willensbekundung.261 So verabschiedeten die Teilnehmer des Kiever Landwirtschaftskongresses eine Resolution, die die „unbedingte Durchsetzung der Prinzipien des Zarenmanifests vom 17. Oktober“262 forderte, in dem der Zar die Garantie der Bürgerrechte und die Einrichtung eines Parlaments mit gesetzgeberischen Kompetenzen zugesagt hatte. Die Vertreter des Agrarismus sahen in den Kongressen zugleich die Gelegenheit zur Herstellung einer landesweiten ständeübergreifenden Öffentlichkeit. Auch wenn sich der Zusammenschluss von Genossenschaften auf Reichsebene ausgesprochen schwierig gestaltete, weil entsprechende Versuche von der Polizei behindert wurden und über die Formen und Kompetenzen von Zentralorganen selbst große Unstimmigkeiten bestanden, zählte die Etablierung einer landesweiten obščestvennost’ zu den wichtigsten Anliegen der Genossenschaftsaktivsten. So betonte ein Teilnehmer des Petersburger Kongresses emphatisch, die Genossenschaftsbewegung „[kenne] weder territoriale […] noch nationale Grenzen, die die Bürger eines Landes einzelnen Stämmen zuordnet“263. Im Anschluss an den Kiever Genossenschaftskongress unterstrich ein zeit­genössischer Kommentator die Bedeutung der Genossenschaftsbewegung als Katalysator gesellschaftlichen Wandels: „Es war beinahe kein Kongress mehr, es war ein Meer durcheinanderwogender Menschen aller Stände, aller Konfessionen und aller Nationen, die das russische Zarenreich in seinen Grenzpfählen aufzuzählen hatte. Hier drängte sich der Pope mit dem Kreuz neben dem schwarzen mützengeschmückten Tataren, der sibirische Mongole neben dem deutschen Kolonisten, der Professor und Journalist neben dem Analphabeten aus der kirgisichen Steppe oder dem Altaier Gebirge.“264

260 Zum Kongress siehe Merkulov, Kooperativnoe dviženie; Trudy Pervogo Vserossijskogo S-ezda dejatelej po melkomu kreditu i sel’skochozjajstvennoj kooperacii. 261 Bradley, Parliament. 262 Trudy 1-go Vserossijskogo sel’skochozjajstvennogo s-ezda, S. 3. 263 Trudy Pervogo Vserossijskogo S-ezda dejatelej po melkomu kreditu i sel’skochozjajstvennoj kooperacii, S. 270. 264 Fuckner, Genossenschaftsbewegung, S. 69.

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Dass reichsweite Zusammenkünfte der gesellschaftlichen Öffentlichkeit den Behörden genau deswegen ein Dorn im Auge waren, weil sie die Standes- und Rang­ kategorien des Russischen Reichs in Frage stellten, zeigte sich im Anschluss an den Kongress. Die Regierung erließ ein landesweites Verbot zur Verbreitung von Ab­­ bildungen, die den Demonstrationszug der Genossenschaftler durch Kiev zeigten.265 Vereinzelt nutzten Vertreter des Agrarismus auch die mit der Etablierung eines Parteiensystems entstehenden sozialen Räume zur Artikulation ihrer politischen Interessen. Einige von ihnen hatten bereits an der Begründung der liberalen Bewegung im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts mitgewirkt. S. N. Prokopovič war Mitglied der „Partei des Volksrechts“ (Partija narodnogo prava), zu der sich Anhänger der Zemstvo-Opposition, des liberalen narodničestvo und der radikalen Peters­ burger intelligencija 1893 zusammenschlossen.266 A. V. Pešechonov stand mit den ­Parteigründern in engem Kontakt.267 Beide gehörten im Jahr 1904 dem Rat des „Befreiungs­bundes“ (Sojuz osvoboždenija) an, der mit deutlich höherer Breitenwirkung als die bereits 1894 polizeilich aufgelöste „Partei des Volksrechts“ die Bildung einer Konstituante auf der Grundlage freier und gleicher Wahlen einforderte.268 1905 schlossen sich einige Anhänger des Agrarismus der neu gegründeten „Partei der Konstitutionellen Demokraten“ (Kadetten, seit 1906 „Partei der Volksfreiheit“) an, deren Mitglieder überwiegend aus den Reihen der intelligencija stammten. A. S. Posnikov, einer der Ahnen der volkstümlichen Agrarökonomie, war Mitglied der 1906 ins Leben gerufenen Agrarkommission der Kadetten. N. N. Černenkov, auf den die neopopulistische Theorie der demographischen Differenzierung zurückging, wurde ihr Sekretär. A. A. Manujlov war ebenfalls in die Tätigkeit der Agrarkommission involviert.269 Mit dem Begründer der Budgetstudien F. A. Ščerbina 270 und dem Kiever Agrarökonomen V. A. Kosinskij gehörten der Partei weitere intellektuelle Wegbereiter des Agrarismus an.271 Zulauf erhielten die Kadetten auch von Vertretern des „legalen Marxismus“, die die Vision der ländlichen Moderne aus einer revisionistischen Perspektive begründeten. Im Vorfeld der Parteigründung hatte S. N. Bulgakov mit seinen Ausführungen zur Agrarfrage das spätere Agrarprogramm der 265 „Vnutrennoe obozrenie“, S. 107f. 266 Galai, Liberation Movement, S. 59 – 65. 267 Bei der polizeilichen Auflösung der Partei im Jahr 1894 wurde A. V. Pešechonov ebenfalls ­verhaftet. Protasova, Pešechonov, S. 17. 268 Galai, Liberation Movement, S. 191f. 269 [Agrarnaja Komissija Partii Narodnoj Svobody,] Agrarnyj vopros. 270 Emmons, Political Parties, S. 394. 271 Über die Parteimitgliedschaft Kosinskijs gibt es nur wenige Angaben. 1917 wurde er von den ­Kadetten in den Provisorischen Rat der Russischen Republik (Vremennyj Sovet Rossijskoj Respubliki) entstandt. GARF f. 1799, op. 1, d. 22, l. 66. Auch Stanziani geht von Kosinskijs Mitgliedschaft in der Partei der Konstitutionellen Demokraten aus. Stanziani, Ėkonomika, S. 140.

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Partei in wesentlichen Zügen vorweggenommen.272 M. I. Tugan-Baranovskij 273 und sein enger Freund A. A. Kaufman zählten ebenso zu den Mitgliedern der Partei. Das Gleiche gilt für den Agronomen P. A. Sadyrin, Protagonist der Genossenschaftsbewegung und langjähriger Sekretär der Moskauer Šanjavskij-Universität.274 Nicht immer ließen sich ideologische und parteiliche Affinitäten eindeutig einander zuordnen. Vielmehr war es der politische Stil einer Partei, der über deren Attraktivität entschied. Die unter den Sozialrevolutionären und einem Großteil der Sozialdemokraten verbreitete Neigung zu Elitismus und Terror fand bei den Befürwortern demokratischer Reformen, wie sie die Anhänger einer bäuerlichen Agrarmodernisierung mehrheitlich vertraten, keine Zustimmung. Auch wenn die Vision einer „werktätigen“ Agrarordnung auf die Ideen des narodničestvo rekurrierte, konnte die Sozialrevolutionäre Partei fast gar keine Anhänger des Agrarismus an sich binden. N. P. Oganovskij stand der Partei zwar nahe und publizierte regel­mäßig in sozialrevolutionären Organen. Für eine dauerhafte Parteimitgliedschaft ließ er sich jedoch nicht mobilisieren.275 A. V. Pešechonov, der den Beginn der sozial­revolutionären Parteiarbeit zunächst mit großer Sympathie begleitet hatte, vollzog kurz nach ihrer Gründung einen offenen Bruch mit der Partei.276 Gemeinsam mit dem Statistiker und Publizisten N. F. Annenskij rief er im Sommer 1906 die Volkssozialistische Partei (Trudovaja narodno-socialističeskaja partija) ins Leben, die als legal operierende, demokratisch aufgebaute Organisation konzipiert war. Zu ihren Mitgliedern zählte der Agrarökom V. I. Anisimov.277 Der Einfluss der Partei blieb jedoch auf eine kleine Gruppe von Intellektuellen beschränkt, so dass sich das legale narodničestvo letztlich nie als eine eigenständige politische Kraft profilierte.278 Während der Revolution von 1905/06 schlossen sich einige jüngere Vertreter des Agrarismus dem politischen Untergrund an. Als Gymnasiast verbrachte N. P. Makarov viel Zeit in einem illegalen marxistischen Zirkel der Char’kover Sozial­demokraten. Auf den Zusammenkünften las man Kautsky, Marx und Plechanov und distanzierte sich von der als überkommen und ungerecht empfundenen gesellschaftlichen Ordnung: „Im Scherz sagten wir, dass wir einen Bund zum Kampf gegen die Eltern gründeten.“279 Als Makarov 1906 nach Moskau zog, empfand er zunächst wenig

272 Emmons, Political Parties, S. 33f.; Galai, Liberal Movement, S. 185 – 187. 273 Stanziani, L’économie, S. 131. 274 Die Parteimitgliedschaft P. A. Sadyrins erwähnt Emmons, Political Parties, S. 311. 275 Hildermeier, Sozialrevolutionäre Partei, S. 80A. Stanziani geht hingegen von einer Parteimitgliedschaft Oganovskijs aus. Vgl. Stanziani, Ėkonomisty, S. 171. 276 Pešechonov, Počemy my togda ušli. 277 Političeskie dejateli Rossii, S. 21. 278 Hildermeier, Sozialrevolutionäre Partei, S. 149f. 279 Erinnerungen Makarovs, RGAĖ f. 766, op. 1, d. 32a, l. 26.

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Sympathie für die dortige Universität; in den Vorlesungen schien es ihm, als würde dort nur die „veraltete bourgeoise Theorie“ gelehrt. Während der Studentenstreiks im selben Jahr unterstützte er die studentische Fraktion der Sozialdemokraten, wo sein späterer Kommilitone Z. S. Kacenelenbaum als Redner auftrat.280 Nach dem Studienbeginn ließ Makarovs Begeisterung für die Sozialdemokraten nach. Erst nach der Februarrevolution sollte der Ökonom wieder Interesse an politischen Parteien zeigen. Bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung Ende 1917 stand er als Kandidat auf der Voronežer Liste von Pešechonovs Volkssozialistischer Partei.281 Ganz ähnlich vollzog sich die politische Sozialisation von Makarovs Kommi­litonen L. B. Kafengauz. Auch für diesen stellte der Marxismus in seiner Jugendzeit ein attraktives intellektuelles Angebot dar: „Ich genieße“, notierte er 1906 in einem Tagebuch, „die Lektüre des ‚Kapitals‘. Abgesehen von allem anderen ist das ein wahrhaftes Kunstwerk. Jetzt habe ich verstanden, dass Schönheit und logische Grazie ästhetischen Genuss bereiten können.“282 Nachdem sich Kafengauz einer bolschewistischen Organisation angeschlossen hatte und 1905 deswegen vorrübergehend verhaftet worden war, suchte er die Nähe zu den legalen Marxisten. Nach der Februarrevolution trat er den Menschewiki bei und engagierte sich in einem politischen Zirkel unter der Leitung S. N. Prokopovičs und E. D. Kuskovas.283 Auch N. D. Kondrat’ev unterhielt als junger Mann Verbindungen zum revolutionären Untergrund. 1905 trat er der Char’kover Zelle der Sozialrevolutionären Partei bei und übernahm die Leitung politischer Arbeiter- und Studentenzirkel.284 Bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung Ende 1917 erhielt der Ökonom als Vertreter der Sozialrevolutionären Partei in der Region Kostroma ein Mandat.285 Anhand der Parteizugehörigkeit seiner Anhänger lässt sich die politische Bedeutung des russischen Agrarismus nicht eindeutig bestimmen. Zum einen waren die partei­ politischen Bekenntnisse seiner Anhänger ausgesprochen heterogen. Zum anderen 280 Ebd., l. 36. 281 Kandidatenliste der Werktätigen Volkssozialistischen Partei zu den Wahlen für die Verfassung­ gebende Versammlung im Voronežer Gouvernement, RGAĖ f. 766, op. 1, d. 43, l. 1. 282 N. L. Kafengauz, Erinnerungen an L. B. Kafengauz [ca. 1990], RGAĖ f. 772, op. 1, d. 71, l. 14. 283 Autobiographische Skizze L. B. Kafengauz’ [wahrscheinlich 1935], RGAĖ f. 772, op. 1, d. 71, l. 8. Kafengauz gehörte auch der Redaktion der seit 1917 erscheinenden Zeitschrift Vlast‘ Naroda. Gazeta demokratičeskaja i socialističeskaja an. Unter den Redaktionsmitgliedern befanden sich außerdem L. I. Aksel’rod, V. I. Anisimov, M. Gor’kij, V. G. Groman, V. N. Zel’gejm, L. B. Kafengauz, A. E. Kuyžnyj, E D. Kuskova, E. O. Lenskaja, N. P. Makarov, P. P. Maslov, K. A. Maceevič, A. V. Merkulov, A. N. Minin, N. P. Oganovskij, S. N. Prokopovič, A. V. Pešechonov, V. V. Chižnjakov, N. V. Čajkovskij, A. V. Čajanov und V. M. Černov. 284 Autobiographische Skizze N. D. Kondrat’evs, RGAĖ f. 769, op. 1, d. 61, l. 1 – 2. 285 Mitteilung über die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung im Gouvernement Kostroma (Izvestija Kostromskogo Gubernskogo Zemstva No. 36, 8 dekabrja 1917g.), RGAĖ f. 769, op. 1, d. 66, l. 1.

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entschieden sich führende Vertreter der Bewegung gegen die Mitgliedschaft in einer politischen Partei. S. N. Prokopovič, der die Gründung der Kadetten unterstützt hatte und sogar in das Zentralkomitee gewählt worden war, zog sich bald aus der Partei zurück.286 Auch A. A. Kaufman schied bald schon nach kurzer Zeit der aktiven Parteiarbeit der Kadetten aus, trat jedoch in den Monaten nach der Februarrevolution wieder als Anhänger der Partei auf.287 Trotz enger Kontakte zur Befreiungsbewegung gehörten A. F. Fortunatov und N. A. Kablukov nie einer politischen Partei an, ebenso wenig wie A. V. Čajanov, A. N. Čelincev, A. G. Dojarenko, L. N. Litošenko und A. A. Rybnikov.288 B. D. Bruckus, der sich als Mitglied des Befreiungsbundes offen zur liberalen Bewegung bekannt hatte, entschied sich gegen den Beitritt zu den Kadetten.289 Dass sich die Anhänger des Agrarismus im Russischen Reich nicht zu einer eigenen Partei zusammenschlossen, bedeutet nicht, dass dieser keine politische Relevanz besaß. Während die Vision der ländlichen Moderne die politische und gesellschaftliche Ordnung auf programmatischer Ebene in Frage stellte, forderten die öffentlichen Aktionsformen ihrer Anhänger den staatlichen Anspruch auf Hegemonie im öffentlichen Raum heraus. Hinter der uneindeutigen Haltung, die Anhänger des Agrarismus gegenüber politischen Parteien einnahmen, stand die allgemeine Vertrauenskrise des russischen Parlamentarismus am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Entgegen der positiven Erwartungen, die das Oktobermanifest von 1905 geweckt hatte, waren Parteien und Parlament kaum handlungsfähig. Die Duma wurde von den traditionellen Eliten des Landes dominiert, wiederholt aufgelöst und bei grundsätzlichen Entscheidungen umgangen.290 Die Mitgliedschaft in einer politischen Partei stellte daher nur eine Form des politischen Engagements dar. Da die Räume und Institutionen der offiziellen Politik nur geringe Einflussmöglichkeiten boten, waren Gesellschaften, Vereine, Genossenschaften, Kongresse oder Zeitschriftenredaktionen mindestens ebenso bedeutsame Orte des politischen Handelns. Die Anhänger des Agrarismus hoffen auf die Herbeiführung politischen Wandels durch die Mobilisierung der Gesellschaft jenseits von staatlichen Strukturen und Parteien. Indem sie die Anliegen des Agrarismus zum Gegenstand der öffent­lichen Debatte machten und sich in überregionalen und s­ tändeübergreifenden Foren vernetzten, machten sie der zarischen Regierung politische Konkurrenz.

286 Političeskie dejateli Rossii, S. 260f. 287 Stanziani, Ėkonomisty, S. 171. 288 Stanziani, Ėkonomika, S. 140. Stanziani ist überzeugt, dass die Professionalisierung der jüngeren Agrarexperten an die Stelle der Politisierung der vorherigen Generation getreten ist. Stanziani, L’économie, S. 135f. Eine derartig eindeutige Einteilung des Agrarismus in Generationen lässt sich jedoch anhand des Kriteriums der Parteizugehörigkeit kaum festmachen. 289 Rogalina, Bruckus, S. 16. 290 Hosking, Constitutional Experiment.

2 .   „ B Ü RG E R P F L I C H T “ U N D „ R E T T U N G RU S S L A N D S “ – AG R A R E X P E R T E N I N W E LT- U N D B Ü RG E R K R I E G

2 .1  Au f s t ieg z u r Ex p e r t e nel it e 2.1.1  Der parastaatliche Komplex als Karriereoption Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs eröffneten sich den Anhängern des Agrarismus neue Tätigkeitsfelder. Waren sie bei der Berufswahl und der öffentlichen Artikulation ihrer Anliegen bisher auf Bildungseinrichtungen und die Foren der gesellschaftlichen Öffentlichkeit beschränkt gewesen, wurden viele von ihnen im Verlauf des Krieges in die Lösung konkreter administrativer Probleme eingebunden. Hinter dieser Entwicklung standen strukturelle Veränderungen in der zentralstaatlichen Wirtschafts- und Versorgungspolitik. Da die zarische Regierung den bürokratischen und logistischen Anforderungen der Krieg­führung nicht gewachsen war, trat sie zahlreiche Kompetenzen an gesellschaftliche Orga­nisationen ab. Vielerorts übernahmen Zemstvos, städtische Selbstverwaltungen und Genossenschaften die Versorgung von Verwundeten und Kriegsflücht­lingen sowie die Beschaffung und Verteilung von Lebensmitteln für Armee und Zivil­bevölkerung.1 Während der Kriegsjahre arbeiteten führende Vertreter des Agrarismus in den ökonomischen und statistischen Abteilungen der Selbstverwaltungsorgane und deren landesweiten Zusammenschlüssen sowie in den neu ent­stehenden genossenschaftlichen Zentralverbänden. Für die Statistiker, Ökonomen und Agrarwissenschaftler war die Einbindung in den parastaatlichen Komplex 2 nicht nur eine willkommene Möglichkeit, um einer Einberufung in die Armee zu entgehen. Die Kriegsjahre bedeuteten auch einen allgemeinen Zugewinn an Autorität. Mit der Versorgungskrise des Landes wurde öko­nomisches, landwirtschaftliches und statistisches Wissen zu einer entscheidenden Herrschaftsressource. Vormals Theoretiker oder staatskritische obščestvenniki, wurden die Anhänger des

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Hierzu Fallows, Politics; Gleason, All-Russian Union of Towns. Den Begriff des „parastaatlichen Komplexes“ übernehme ich von Peter Holquist, der damit das Zusammenwirken von staatlichen und nichtstaatlichen Organen während des Ersten Weltkrieges bezeichnet. Holquist, War, S. 21.

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Agrarismus nun gefragte Spezialisten, deren Expertise als entscheidender Faktor für die erfolgreiche Fortführung des Krieges galt.3 Die Bereitschaft zur Untersützung der Regierung folgte aus der in allen kriegsführenden Ländern verbreiteten Wahrnehmung des Krieges als „Volkskrieg“, der alle Schichten der Bevölkerung unmittelbar betraf. „Die gegenwärtige Armee“, hieß es in einem Bericht der Allrussischen Zemstvo-Union aus dem Jahr 1916, „ist wirklich ein Teil des Volkes, und sogar ein bedeutsamer, ihm nahestehender und mit ihm verschmolzener, ein Teil, der ohne die Unterstützung des Volkes kraftlos ist, so, wie das Volk ohne seine Armee dem Feind schutzlos gegenüber stehen würde. Heute kämpfen keine Armeen, heute kämpfen Völker.“4 In diesem Kontext kamen die Unterstützung der Armee und die Mobilisierung der Wirtschaft für die Kriegführung einer moralischen Verantwortung gleich, die sich logisch aus dem Vertretungsanspruch der intelligencija gegenüber dem „Volk“ ableitete. „Der Krieg“, schloss der Statistiker N. P. Oganovskij einen Vortrag, den er im November 1916 bei einer Zusammenkunft der ökonomischen Abteilung der Allrussischen Zemstvo-Union gehalten hatte, „bürdet den geschwächten Schultern des russischen Volkes eine doppelte Last auf, – und die Bürgerpflicht (graždanskij dolg) ruft uns dazu auf, dass wir durch die energische und planvolle Organisation der landwirtschaftlichen Produktion unverzüglich die Stärkung der Wirtschaftskraft des Volkes in Angriff nehmen“5. Für die Vertreter der Expertenelite war das Engagement für die Kriegs­führung keine Loyalitätserkärung gegenüber der zarischen Regierung, sondern ein Bekenntnis zum Russischen Reich als einer vorgestellten gesellschaftlichen Entität.6 Auch wenn sie nun faktisch zu einem Teil der imperialen Administration wurden, bemühten sie sich, ihre Unabhängigkeit von der Regierung zu unterstreichen. Mit der Schaffung von versorgungs- und kriegswirtschaftlichen Komitees entstanden neue öffentliche Arenen, in denen Forderungen nach einer allgemeinen Demokratisierung des Landes artikuliert werden konnten. Nach Auffassung des Moskauer Ökonomen A. A. Manujlov, Vorsitzender des Ökonomischen Rats des Allrussischen Städtebundes, bedeutete der „Burgfriede“ zwischen Regierung und Experten nicht, dass sich die gesellschaftliche Öffentlichkeit dem uneingeschränkten Machtanspruch von Autokratie und Staat unterwarf. Wenn die Gesellschaft der mit der Versorgung

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Die Rolle der Agrarexperten während des Ersten Weltkriegs wurde bereits mehrfach thematisiert. Stanziani, L’économie, S. 151 – 182; ders., Spécialistes; Gerasimov, Modernism, S. 148 – 155; Yaney, Urge to Mobilize, S. 442 – 458. [Glavnyj Komitet Vserossijskogo Zemskogo Sojuza,] Kratkij očerk, S. 5. [Glavnyj Komitet Vserossijskogo Zemskogo Sojuza,] Trudy Soveščanija po organizacii posevnoj ploščadi, S. 59. Gerasimov, Modernism, S. 153 – 155; Fallows, Politics, S. 90.

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von Armee und Zivilbevölkerung überforderten Regierung unter die Arme greifen sollte, mussten vielmehr die „ungerechtfertigten Hindernisse für die gesellschaftliche Selbsttätigkeit und Initiative [beseitigt werden]“7. Ähnlich argumentierte der menschewistische Wirtschaftswissenschaftler V. G. Groman, der während des Krieges die Leitung der Wirtschaftsabteilung des Städtebundes übernahm und in dieser Funktion zu einem der einflussreichsten Vertreter seines Faches aufstieg: „[…] die Überwindung der wirtschaftlichen Zerrüttung des Landes und die erfolgreiche Niederringung des äußeren Feindes [setzen] gleichermaßen die Selbstorganisation aller gesellschaftlichen Kräfte [voraus].“8 Auch die Vertreter der Genossenschaftsbewegung verbanden ihr kriegswirtschaftliches Engagement mit Forderungen nach rechtlich einklagbaren Garantien und einer Einschränkung der staatlichen Kontrolle. Der Ausbruch des Krieges stürzte viele Genossenschaften zunächst in eine tiefe Krise. Mitglieder forderten ihre Anteile zurück, die Mobilisierung hatte negative Auswirkungen auf die Zahl aktiver Genossenschaftler. Territoriale Verluste, der Rückgang der landwirtschaftlichen Exporte und die Überlastung des Transportsystems verschlechterten die Marktposition der Kooperativen. Obwohl sich die Lage nach einigen Monaten stabilisierte, konnten sich die Genossenschaften nur schlecht in der Situation des Krieges behaupten. Lediglich ein geringer Teil der Lieferungen an die Armee, ein sich mit dem Ausbruch des Krieges dynamisch entwickelnder Wirtschaftszweig, wurde von den Genossenschaften übernommen. Auch der Teuerung von Lebensmitteln und Massenkonsumartikeln standen die Genossenschaften in den ersten Kriegsmonaten hilflos gegenüber.9 Führende Genossenschaftsaktivisten intensivierten nun ihre Bemühungen zur Institutionalisierung und Zentralisierung der Genossenschaftsbewegung. Nachdem entsprechende Pläne bereits in den ersten Kriegsmonaten geäußert worden waren,10 sprach sich der Moskauer Genossenschaftsaktivist V. N. Zel’gejm auf dem Allrussischen Städtekongress im Juli 1915 für die Gründung eines Zentralorgans aus, das die ökonomischen Aktivitäten der Genossenschaften koordinieren und sich an der Regulierung der Kriegswirtschaft beteiligen sollte.11 Zel’gejms Initiative rief allgemeine Zustimmung hervor. Im August 1915 wurde das Zentrale Genossenschaftskomitee ins Leben gerufen. Dieses war dafür bestimmt,

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[Glavnyj Komitet Vserossijskogo Sojuza Gorodov,] Trudy Soveščanija po ėkonomičeskim voprosam, S. 28. 8 Ebd., S. 160. 9 Korelin, Kooperacija, S. 287 – 291. Siehe auch die zeitgenössischen Kommentare von Kulyžnyj, Sojuzy; Zaletnyj, Kooperacija; Merkulov, Kooperativnoe dviženie (1915). 10 „Moskva, 10-e sentjabrja 1914 goda“, S. 132 – 134. 11 [Glavnyj Komitet Vserossijskogo Sojuza Gorodov,] Trudy Soveščanija po ėkonomičeskim voprosam, S. 275.

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kriegsrelevante Aufgaben, wie die Belieferung der Armee, die Stabilisierung der Lebensmittelpreise und die Unterstützung von Kriegsopfern, zu übernehmen und die Interessen der Genossenschaftsbewegung, allem voran die Verabschiedung eines allgemeinen Genossenschaftsgesetzes, gegenüber dem Zentralstaat zu vertreten.12 Die Gründung des Zentralen Genossenschaftskomitees war Teil der „Selbstmobilisierung“13 der russischen Öffentlichkeit. Wie die Agrarexperten in den ­Kommissionen des Zemstvo- und des Städtebundes appellierten die Genossenschaftsaktivisten an das Pflichtbewusstsein der in den Genossenschaften orga­nisierten Bevölkerung. Dabei benutzten auch sie das Argument vom Krieg als „Volkskrieg“, der die Genossenschaften als „der Bevölkerung am nächsten stehende[n] wirtschaftliche[n] Organisationen“14 besonders in die Pflicht nahm: „Gebt Euch nicht der Verzweiflung hin“, rief V. A. Kil’čevskij, langjähriger Vorsitzender des Moskauer Verbands der Kredit- und Sparkassenverbände, im September 1914 die russischen Genossenschaftler auf, „zerstört nicht die wirtschaftliche und finan­zielle Kraft des Landes. Diese zu bewahren und zu stärken ist nun eure Pflicht gegenüber denen, die ihr Blut vergießen.“15 Selbst erklärte Kritiker einer An­­näherung von Genossen­schaften und Regierung stellten sich hinter die Mobi­lisierung. Der Agronom K. A. Maceevič, der die „Staatsorientierung“ (gosudarstvennost’) des Genossenschaftlichen Komitees mit Unbehagen registrierte, ließ keinen Zweifel daran, dass die Genossenschaften alles tun müssten, um „den Krieg und alle mit ihm zusammenhängenden Arbeiten zur Sache des Volkes zu machen, das ganze Volk zu einer einzigen Kraft zu verbinden, die durch einen gemeinsamen Gedanken zusammen­gehalten wird: dem allgemeinen Wunsch zum Sieg […]“16. Derartiger patriotischer Bekenntnisse ungeachtet erregte die Initiative der Genossen­schaftler das Miss­fallen der Regierung. Anfang November 1915 wurde das Zentrale Genossenschafts­komitee durch den Moskauer Stadthauptmann aufgelöst und seine Mitglieder, unter ihnen die Genossenschaftsaktivisten V. N. Zel’gejm, V. A. Kil’čevskij, S. L. Maslov sowie die Ökonomen S. N. Prokopovič und V. I. ­Anisimov, für die unerlaubte Gründung einer gesellschaft­lichen Organisation gerichtlich zu Verantwortung gezogen. Obwohl sie in der Folge wiederholt auf die Bedeutung der Kooperativen für die Versorgung der Armee hinwiesen, verweigerte das Innen­ministerium die Neugründung des Komitees.17 Trotz derartiger Spannungen mit der staatlichen Bürokratie waren die Anhänger des Agrarismus in zahlreichen kriegswirtschaftlichen Organen vertreten. Seit Juli 1915 12 13 14 15 16 17

Chižnjakov, Istorija, S. 1 – 6; Korelin, Kooperacija, S. 291 – 294. Holquist, War, S. 46. Kil’čevskij, Čto že teper’?, S. 135. Ebd., S. 135. Maceevič, Ob-edinennaja kooperacija, S. 6. Chižnjakov, Istorija, S. 5f.; Korelin, Kooperacija, S. 293f.

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gehörten der Ökonom V. I. Anisimov, die Kablukov-Schüler L. N. Litošenko und S. A. Pervušin sowie der Moskauer Professor A. A. Manujlov dem öko­nomischen Rat des Allrussischen Städtebundes an, der mit vielen versorgungsrelevanten Aufgaben betraut war. Die Genossenschaftsaktivisten A. A. Evdokimov, V. N. Zel’gejm, V. A. Kil’čevskij und A. E. Kulyžnyj waren ebenfalls Mitglieder des Gremiums.18 N. P. Makarov gehörte dem Voronežer Komitee des Allrussischen Städtebundes an.19 Die Agronomen V. E. Brunst, K. A. Maceevič, P. A. Vichljaev und die Agraröko­nomen A. N. Čelincev und A. V. Čajanov waren Mitglieder der im Frühjahr 1916 ins Leben gerufenen Ökonomischen Abteilung der Allrussischen Zemstvo-Union, die die kriegswirtschaftlichen Aktivitäten der Zemstvos koordinierte und die Wirtschaftsentwicklung des Landes insgesamt förderte. Auf den Sitzungen, die die Abteilung im Jahr 1916 abhielt, begegneten die Vertreter des Agrarismus, die sich bereits aus der Zusammenarbeit in Hochschulen, Zeitschriftenredaktionen, wissen­schaftlichen Gesellschaften oder den Organen der Genossenschaftsbewegung kannten, einander regelmäßig wieder. Als Vertreter des Moskauer Gouvernement-­Zemstvos wohnte A. N. Minin den Versammlungen der Abteilung bei. N. P. Oganovskij und A. P. Levickij vertraten hier abwechselnd die Moskauer Landwirtschaftliche Gesellschaft, D. N. Prjanišnikov, A. F. Fortunatov und A. G. Dojarenko das Moskauer Landwirtschaftliche Institut. N. P. Makarov wurde vom Voronežer Landwirtschaftlichen Institut delegiert. V. G. Groman und L. N. Litošenko hatten Mandate der Allrussischen Städtevereinigung.20 Im Verlauf des Krieges wurden zahlreiche Agrarexperten zu Befürwortern einer dirigistischen Wirtschaftspolitik. Angesichts der sich ständig verschärfenden Versorgungskrise erschien ihnen die Regulierung der Wirtschaft mindestens ebenso wichtig wie die allgemeinwirtschaftliche Entwicklung des Landes. Wie in den Jahren vor dem Krieg richteten sich ihre agrarpolitischen Vorschläge weiterhin auf die Belebung der Agrarproduktion durch die Herstellung und Verbreitung von Düngemitteln, die Entwicklung der Viehzucht, den Ausbau der tierärztlichen Versorgung oder die Organisation des Absatzes.21 Darüber hinaus verständigten sie sich jetzt auch über die Notwendigkeit einer zentralen Regulierung des landwirtschaftlichen Arbeitskräfteangebots durch die Kontrolle der saisonalen Abwanderung der Bauern in die Städte oder die koordinierte Nutzung von Kriegsgefangenen,

18 [Glavnyj Komitet Vserossijskogo Sojuza Gorodov,] Trudy Soveščanija po ėkonomičeskim voprosam, S. 299. 19 Schreiben der Voronežer Duma an N. P. Makarov [5. Dezember 1916], RGAĖ f. 766, op. 1, d. 40, l. 1. 20 [Glavnyj Komitet Vserossijskogo Zemskogo Sojuza,] Ėkonomičeskie soveščanija, S. 3 – 6. Die Teilnehmerlisten der einzelnen Versammlungen befinden sich ebd., S. 126f., 236. 21 [Glavnyj Komitet Vserossijskogo Zemskogo Sojuza,] Ėkonomičeskie soveščanija, S. 195 – 199.

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Flüchtlingen und Reservearmisten für die Landwirtschaft. Auch die Bereiche der Beschaffung und des Absatzes von Agrarprodukten bedurften nach Auffassung vieler Mitglieder der Versorgungsgremien einer verstärkten Organisation: An die Stelle der im Verlauf des Krieges außer Kontrolle geratenen Lebensmittelmärkte sollte das planvolle Handeln von Genossenschaften und Selbstverwaltungsorganen treten. Diese würden Angebot und Nachfrage miteinander in Einklang bringen, indem sie etwa landwirtschaft­liche Maschinen erwarben und verteilten oder den Verkauf von Lebensmitteln über­nahmen.22 In der vorübergehenden Regulierung der Agrarmärkte durch die Fest­setzung von Preisen und die Steuerung des Konsums erkannten Agrar­wissenschaftler und Ökonomen ein wirkungsvolles Instrument zur Linderung der Ver­sorgungskrise.23 So gab es nach Auffassung Čajanovs gute Argumente, die Vorteile freier Markt­beziehungen zugunsten einer zentralen Regulierung der Gesamtwirtschaft vorüber­gehend aufzugeben. Am Ende des ersten Kriegsjahres versuchte der Ökonom sogar, den durchschnittlichen Lebensmittelkonsum der gesamten russischen Bevölkerung zu ermitteln und einen Versorgungsplan zu erstellen, der alle Regionen Russlands erfasste.24 Anfang 1917 übernahm der Ökonom dann eine Führungsrolle bei den Planungen zur Einführung von Lebensmittelkarten im Moskauer Gebiet.25 Mit ihrer Einbindung in die staatliche Versorgungspolitik räumten die ­An­hänger des Agrarismus den Interessen des Staates oberste Priorität ein.26 Als die All­russische Zemstvo-Union im Juli 1916 eine Versammlung zur Fleischversorgung der Armee abhielt, erklärte der stellvertretende Vorsitzende der Ökonomischen Abteilung, dass die Konsumbedürfnisse der Truppe gegenüber den Ansprüchen der übrigen Bevölkerungsgruppen Vorrang hatten: Hinsichtlich der Armee an der Front „[sei] die Frage klar; allen angemeldeten Bedürfnissen [müsse] widerspruchslos und unverzüglich nachgekommen werden, von Einschränkungen [könne] überhaupt keine Rede sein“. Bei den Truppen im Hinterland sei die „teilweise Ersetzung der benötigten Lebensmittel durch Surrogate“ in Betracht zu ziehen. Mit Hospitälern und Rüstungsfabriken sollten Verhandlungen über die Einschränkung ihres angemeldeten Bedarfs geführt werden, während für die allgemeine Bevölkerung nach 22 Dies verdeutlichen die Resolutionen der Versammlungen. Ebd., S. 11 – 17. 23 Holquist, War, S. 30 – 42; Stanziani, Spécialistes, S. 84 – 86; Gerasimov, Modernism, S. 154f. Siehe z. B. N. P. Makarovs Plädoyer für die Regulierung des Milch- und Fleischmarktes: [Glavnyj Komitet Vserossijskogo Zemskogo Sojuza,] Materialy po voprosam organizacii prodovol’stvennogo dela. Vypusk IV, S. 3 – 40. 24 Čajanov, Materialy po voprosam razrabotki, S. 7. 25 [Glavnyj Komitet Vserossijskogo Zemskogo Sojuza,] Materialy po voprosam organizacii prodovol’stvennogo dela. Vypusk V, S. 81 – 95. 26 Laut Gerasimov begannen die Experten während des Krieges „wie ein Staat zu sehen“ (seeing like a state). Gerasimov, Modernism, S. 153.

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Möglichkeit „Verbrauchsnormen“ aufgestellt werden müssten: „Die Befriedigung aller Konsumansprüche der Bevölkerung [wäre] eine fürchterliche Gefahr für die Viehzucht.“27 Das von der Zentralregierung in Anspruch genommene Recht, während des Krieges sogar in die Verbrauchs­gewohnheiten der Bürger einzu­greifen, stellten die anwesenden Agrarexperten nicht in Frage. Im Verlauf der Debatte, die sich an die einführenden Bemerkungen des Vorsitzenden anschloss, wurde die Hierarchi­ sierung der Konsumentengruppen in Abhängigkeit von ihrer Bedeutung für die Kriegsführung nicht hinterfragt. Die Agrarwissenschaftler P. A. Vichljaev und A. N. Čelincev setzten sich in ihren Vorträgen lediglich mit den Fragen ausein­ander, wie die Konsumbedürfnisse der einzelnen Gruppen konkret zu ermitteln seien und wie man die Beschaffung bzw. die unter Umständen notwendige Requirierung des Fleisches organisieren könnte, ohne die Viehzucht längerfristig zu schädigen.28 Die wachsende Akzeptanz wirtschaftlicher Regulierung zeigte sich auch im Bereich des Genossenschaftswesens. Vertreter der Genossenschaftsbewegung dachten in den Jahren des Krieges immer häufiger über eine Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft mit Hilfe eines zentralisierten Genossenschaftsapparats nach.29 Ihre Anliegen fielen mit den antikommerziellen Einstellungen innerhalb der zarischen Regierung zusammen, deren Mitglieder bei Kriegsbeginn befürchteten, „Speku­lanten“ könnten einen Vorteil aus der ökonomischen Krise ziehen und die angespannte Versorgungslage des Landes zusätzlich verschärfen.30 So erklärt es sich, dass die zarische Regierung, die die Gründung einer zentralen Genossenschaftsvertretung 1915 als oppositionelle Handlung bestraft hatte, den Zentralisierungsbestrebungen einzelner Genossenschaftszweige während des Krieges deutlich entgegenkam. Angesichts der Desintegration der Agrar- und Lebensmittelmärkte sollten G ­ enossenschaften die Funktionen des Einkaufes, des Absatzes und der Verteilung koordinieren und die Marktkräfte ersetzen. Auf diese Weise würden die kriegsbedingten Versorgungsschwierigkeiten behoben und die Möglichkeiten für kapitalistische Selbstbereicherung verringert werden. Nachdem die Gründung von Genossenschaftsverbänden in den Vorjahren mit einem großen bürokratischen Aufwand verbunden gewesen war, genehmigte der Ministerrat am 31. März 1915 überraschend die Einrichtung von 17 neuen Kredit- und Sparkassenverbänden. Vertreter der Genossenschaftsbewegung werteten dies als wichtige Zäsur in der Genossenschaftspolitik der Regierung.31 Vor

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[Glavnyj Komitet Vserossijskogo Zemskogo Sojuza,] Ėkonomičeskie soveščanija, S. 237. Siehe die Vorträge P. A. Vichljaevs und A. N. Čelincevs in ebd., S. 199 – 206. Stanziani, Spécialistes, S. 73, 85. Die Sorge, dass sich „Spekulanten“ an der kriegsbedingten ökonomischen Unsicherheit bereichern könnten, war weit verbreitet. Pažitnikov, Vlijanie vojny. Zum antikommerziellen Diskurs in der Regierung siehe Holquist, War, S. 18 – 20. 31 „Novye Sojuzy“, S. 217 – 218; Kulyžnyj, Novye 17 sojuzov, S. 218 – 221.

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allem im Bereich der Konsum- und der Kreditgenossenschaften entwickelte sich die Zahl überregionaler Verbände von nun an ausgesprochen dynamisch. In vielen Fällen erhielten die neugegründeten Zusammenschlüsse von Genossenschaften erhebliche finanzielle Beihilfen durch den Staat.32 Im Bereich der Agrargenossenschaften zeigte sich ein ähnlicher Trend. Der Krieg ermöglichte die Umsetzung von bereits in den Vorjahren entwickelten Plänen zur Zentralisierung des Genossenschaftswesens. Besondere Aufmerksamkeit schenkten zeitgenössische Kommentatoren den Entwicklungen im Bereich der Flachswirtschaft. Flachs war ein wichtiges Exportgut, das überwiegend in bäuerlichen Wirtschaften erzeugt wurde. Während die Weiterverarbeitung der Kultur seit Beginn des Jahrhunderts genossenschaftlich organisiert worden war, hatte der Absatz lange ein Problem dargestellt. Nachdem einige regionale Zusammenschlüsse von Flachsproduzenten den Vertrieb und sogar den Export ihrer Erzeugnisse mit Hilfe der auf Initiative des Ersten Allrussischen Genossenschaftskongresses gegründeten Moskauer Volksbank organisiert hatten, wurde im September 1915 eine zentrale Vereinigung der Flachsproduzenten ins Leben gerufen, die fortan den Absatz von Flachs im In- und Ausland koordinierte.33 Der neue Verband war symptomatisch für das zunehmende Ineinandergreifen von Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik unter den Bedingungen des K ­ rieges. Bedeutenden Anteil an seiner Gründung hatte der Agrarökonom V. I. Anisimov. A. V. Čajanov übernahm auf Beschluss der Gründungsversammlung den Vorsitz des neuen Verbands. S. L. Maslov und V. G. Zel’gejm gehörten dem Rat der Vereinigung an.34 Für den russischen Agrarismus erwies sich der Erste Weltkrieg als entscheidende Zäsur. Der Krieg begünstigte den Aufstieg von Wissenschaftlern und Intellektuellen in Organisationen, die in Abstimmung mit zentralstaatlichen Behörden wirtschafts- und versorgungspolitische Aufgaben übernahmen. Die Experten erkärten die Kooperation mit dem Staat zur „Bürgerpflicht“ und integrierten sie damit in ihr professionelles Selbstbild, demzufolge sie als Vertreter der „werk­ tätigen Bevölkerung“ handelten. Im ökonomischen Diskurs löste der Krieg einen paradigmatischen Wandel aus. Unter dem Eindruck der Versorgungskrise plädierten die einstigen Befürworter einer wirtschaftlichen Entwicklung „von unten“ zunehmend für die Beschränkung von Wettbewerb und Konkurrenz. Führende Theoretiker zogen sogar eine Fortsetzung des wirtschaftlichen Interventionismus 32 Korelin, Kooperacija, S. 289, S. 297f. 33 „Učreždenie Central’nogo Tovariščestva L’novodov“, S. 517f.; Maslov, Central’noe tovariščestvo; ders., Učreždenie central’nogo tovariščestva; Čajanov, L’janoj rynok. 34 B., Kooperativnoe dviženie, S. 73 – 79. Kondrat’ev erwähnt seine Tätigkeit in der Vereinigung in seinem Lebenslauf. Avtobiografija [ohne Datierung], RGAĖ f. 769, op. 1, d. 61, l. 2.

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(wenn auch nicht notwendigerweise durch den Staat) in der Zeit nach Kriegsende in Betracht.35 Darüber hinaus war die unmittelbare Inanspruchnahme ihres Wissens durch parastaatliche Organisationen für die Vertreter des Agra­rismus eine völlig neue berufliche Erfahrung. Der Erste Weltkrieg führte nicht nur zur Verdichtung und Formalisierung ihrer personellen Netzwerke, sondern ging auch mit einer Zunahme an Verantwortung und Prestige einher. Als Mitglieder zahlreicher versorgungspolitischer Gremien agierten die Vertreter des Agrarismus nun in der Rolle von Experten, deren Sachverstand als Ressource für die Lösung der wichtigsten Probleme des Landes anerkannt war.

2.1.2  Agrarismus als staatliche Ideologie Im Jahr 1917 stand der russische Agrarismus vor seiner politischen Bewährungsprobe. Als Zar Nikolaus II. Anfang März abdankte und eine Provisorische Regierung gebildet wurde, die die Macht bis zur Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung kommissarisch übernehmen sollte, hielten die Ideen und die Träger des Agrarismus Einzug in die höchsten Instanzen der Macht. Was im späten 19. Jahrhundert als eine hinsichtlich ihrer Träger und ihrer Reichweite begrenzten Debatte staatskritischer Intellektueller begonnen hatte, wurde nun zur Staatsräson. Auf eigene Initiative oder auf Bitten von Regierungsmitgliedern besetzten führende Vertreter der Bewegung Schaltstellen in der staatlichen Administration, wo sie in die Ausarbeitung einer bevorstehenden Agrarreform eingebunden wurden. Sie trugen dazu bei, „den politischen Willen als wissenschaftliche Prognose und rationalen Sachzwang [zu legitimieren]“36. Ihr Aufstieg symbolisierte damit den optimistischen Glauben an die Realisierbarkeit einer Politik, die ausschließlich auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhte. Agrarpolitik, so die Selbstdarstellung der Provisorischen Regierung, würde fortan nicht mehr an die Interessen einer bestimmten politischen Klientel gebunden sein, sondern der Maßgabe objektiver Fakten folgen und damit zugleich der längst überfälligen Demokratisierung des Landes Vorschub leisten. Führende Vertreter des Agrarismus nahmen die Februarrevolution als Beginn einer neuen agrarpolitischen Ära wahr. Darüber, dass das Ende des Ancien Régime über kurz oder lang auch die Agrarordnung des Landes verändern würde, bestand unter den Angehörigen der neuen Regierung, Vertretern professioneller Gruppen und auch 35 Stanziani, Spécialistes, S. 84 – 86; Gerasimov, Modernism, S. 154. Hierin unterschieden sie sich nicht von Angehörigen anderer Berufsgruppen, die im Ersten Weltkrieg eine Chance zur Transformation der Gesellschaft nach Maßgabe von Wissen und Vernunft sahen. Hoffmann, Masses, S. 43f. 36 Raphael, Verwissenschaftlichung, S. 169.

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unter den Bauern kein Zweifel. Obwohl viele Agrarexperten mit der Einbindung in den parastaatlichen Komplex faktisch bereits nach Beginn des Weltkrieges zu einem Teil der zentralstaatlichen Administration geworden waren, entstanden aus ihrer Perspektive erst mit dem Sturz der zarischen Regierung die Voraus­setzungen, um den Traum von der ländlichen Moderne in die Realität umzusetzen: „Die Agrarfrage“, reagierte Aleksandr V. Čajanov auf die Ablösung des zarischen Regimes, „ist jetzt aus der Welt abstrakter Ideen und Prinzipien in den Bereich der praktischen wirtschaftlich-organisatorischen Arbeit übergegangen.“37 Etwas sorgenvoll angesichts der bevorstehenden Herausforderungen, aber zugleich hoffnungsfroh äußerte sich Čajanovs Kollege und Freund Aleksandr A. Rybnikov 1917: „Froh und bange zugleich […]. Froh, dass all das, was uns verhasst war und das r­ ussische Leben niedergedrückt hat, vorüber ist, froh, weil sich unglaubliche Möglichkeiten zur schöpferischen Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens eröffnet haben. Das, wovon Generationen von Kämpfern für die russische Freiheit, für das nationale Glück geträumt haben, ist der Vollendung nahe […]. Wir sind vom Schicksal dazu aufgerufen, die Testamente der Vergangenheit umzusetzen. Unsere Taten und Entscheidungen sollen der Größe des von uns gegenwärtig durchlebten Moments würdig sein. […] Auf der Schwelle zum neuen Leben steht – das Pfand einer besseren Zukunft, das Fundament des stabilen Wohlstands der Volksmassen – die Agrarfrage.“38

Die Provisorische Regierung fand jedoch keine tabula rasa vor. Zwar wurde die Revolution von breiten Kreisen der Bevölkerung euphorisch als Beginn einer neuen Ära begrüßt, in der das öffentliche Leben von Grund auf erneuert werden konnte. Angesichts der andauernden internationalen Kampfhandlungen war die Übergangsregierung jedoch gezwungen, ihre politische Agenda an kriegsbedingten Handlungszwängen auszurichten und der Lebensmittelversorgung der Bevölkerung höchste Priorität einzuräumen. Die Einbindung landwirtschaftlich versierter Wissenschaftler und Intellektueller in die Reihen der Regierung und ihrer Berater war daher vor allem eine Reaktion auf die angespannte Versorgungslage des Landes. Nur wenige Tage nach dem Sturz der Zarenmacht begann die Provisorische Regierung mit der Reorganisation der entsprechenden staatlichen Strukturen. Am 6. März 1917 überführte sie die Zuständigkeit für die Lebensmittelversorgung von Zivilbevölkerung und Armee aus dem Innen- in das Agrarministerium. Wenig später wurde die Gründung eines Staatlichen Versorgungskomitees veranlasst, das direkt dem Agrarminister unterstand und einen Plan für die Lösung der Versorgungsprobleme erarbeiten

37 Čajanov, Agrarnyj vopros, S. 9. 38 Rybnikov, „Über die Agrarfrage“ [1917], RGAĖ f. 9470, op. 1, d. 47, l. 2.

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sollte.39 Es lag nahe, dass man sich in dieser Situation auf Personen besann, die dank ihrer vorangegangenen Tätigkeit im parastaatlichen Komplex bereits Erfahrungen auf dem Gebiet besaßen. Auf der Ebene der staatlichen Administration blieb die Versorgungspolitik für die Anhänger des Agrarismus daher auch nach dem Sturz des Zaren eines der wichtigsten Tätigkeitsfelder. Am 20. März wurde der Genossenschaftsaktivist V. N. Zel’gejm versorgungspolitischer Berater des Agrarministers. Der Ökonom V. I. Anisimov und das Leitungsmitglied der Moskauer Volksbank A. E. Kulyžnyj wurden Berater des stellvertretenden Agrarministers im Bereich der Versorgungspolitik.40 A. N. Čelincev übernahm die Leitung der Abteilung für Agrarökonomie und -statistik im Agrarministerium,41 der Moskauer Agronom A. P. Levickij wurde Direktor der Abteilung für Staatsgüter.42 Im Mai 1917 wurde A. V. Pešechonov Versorgungsminister,43 Anisimov, seit 1906 Mitglied in der von ­Pešechonov gegründeten Volkssozialistischen Partei, sein Stellvertreter.44 Auch wenn die Provisorische Regierung den Fokus zunächst auf die Lösung der Versorgungskrise richtete, beeilte sie sich zu demonstrieren, dass die Landwirtschaftspolitik nicht auf die Regulierung von Lebensmittelangebot und -nachfrage beschränkt bleiben würde. In einer Erklärung vom 19. März erkannte sie die Vorbereitung einer Bodenreform, über die dann letztlich die Verfassunggebende Versammlung abstimmen würde, als eine ihrer wichtigsten Aufgaben an.45 Vertreter des Agrarismus nahmen dies zum Anlass, um ihren bislang weitgehend informellen Austausch über die Agrarfrage zu institutionalisieren. Im Rahmen des Allrussischen Genossenschaftskongresses wurde Ende März 1917 die Gründung einer Liga für Agrarreformen (Liga agrarnych refom) beschlossen, die die anstehende Agrar­reform als unabhängiges Expertengremium begleiten sollte. Im Organisa­ tionskomitee der Liga versammelten sich die führenden Vertreter der Bewegung: die jungen Agrarökonomen Čajanov und Makarov, der menschewistische Ökonom P. P. Maslov, der sozial­revolutionäre Politiker und spätere Agrarminister der Provisorischen Regierung S. L. Maslov, der Agronom K. A. Maceevič, die Statistiker N. P. Oganovskij und A. V. Pešechonov sowie der Petersburger Ökonom und 39 Gill, Peasants, S. 47f. Auch Čajanov sah in der Versorgungsfrage das dringlichste Problem der Provisorischen Regierung: „Die erste Staatsaufgabe, in der das demokratische Russland eine ökonomische Reifeprüfung ablegen muss, ist die Versorgungsfrage.“ Čajanov, Prodovol’stvennyj vopros, S. 3. 40 Ukaz der Provisorischen Regierung vom 20. März 1917, GARF f. 1797, op. 1, d. 27, l. 4. 41 Ukaz der Provisorischen Regierung vom 15. Mai 1917, GARF f. 1797, op. 1, d. 27, l. 14. 42 Ukaz der Provisorischen Regierung vom 4. Juni 1917, GARF f. 1797, op. 1, d. 27, l. 26. 43 Protasova, Pešechonov, S. 117. 44 Političeskie dejateli Rossii, S. 21. 45 “The Government Declaration of March 19”, in: Browder; Kerensky (Hg.), Provisional G ­ overnment, S. 524f. Hierzu auch Chitrina, Agrarnaja politika, S. 23f.

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Genossenschaftstheo­retiker M. I. Tugan-Baranovskij. Zum eigentlichen Gründungskongress der Liga für Agrar­reformen vom 16. bis 17. April 1917 reisten dann 136 Teilnehmer aus 20 Gouvernements an. Auch hier waren Wissenschaftler und Intellektuelle, die sich in der Debatte über die Modernisierung der bäuerlichen Landwirtschaft bereits einen Namen gemacht hatten, prominent vertreten.46 Die Liga für Agrarreformen war nicht nur personell, sondern auch ideell eine der sichtbarsten Manifestationen des Agrarismus. Bereits im März verständigten sich ihre Mitglieder über die wesentlichen Grundsätze einer Agrarreform: „Wir sind der Meinung, dass 1. die werktätige Bauernwirtschaft das Fundament der russischen Agrarordnung sein und ihr die Böden unseres Vaterlandes übergeben werden sollen; 2. die Übergabe des Bodens auf der Basis eines staatlichen Flurbereinigungsplans erfolgen soll, der die Lebensumstände und ökonomischen Besonderheiten der einzelnen Regionen unseres Vaterlandes berücksichtigt, eines planvoll und organisiert umgesetzten Plans, der die Produktionsanstrengungen unserer Volkswirtschaft nicht beeinträchtigt; 3. die Bodenfrage nur einen Teil der Lösung des Agrarproblems darstellt. Dieses umfasst alle Fragen, die mit den allgemeinen Bedingungen der landwirtschaftlichen Produktion, der Organisation der werktätigen Wirtschaften und der Verbindungen dieser ­Wirtschaften mit dem Weltmarkt zusammenhängen.“47

Das Programm brachte auf den Punkt, was im Verlauf des vorangegangenen Jahrzehnts in Zeitschriften, gelehrten Gesellschaften und Hochschulen diskutiert worden war und unter den Anhängern des Agrarismus als common sense galt: Die Entwicklung der Landwirtschaft sollte von den „werktätigen Bauernwirtschaften“ getragen werden, die dafür ausreichend landwirtschaftlichen Boden erhalten würden. Ganz im Sinne der Provisorischen Regierung, die jegliche Formen gewaltsamer Land­ nahmen verurteilte und eine gesetzliche Lösung der Bodenfrage in Aussicht stellte,48 appellierte die Liga an das rechtsstaatliche Bewusstsein der Bauern. Die Neuordnung der Agrarbeziehungen galt als Aufgabe des Staates, der nicht nur die normativen

46 [Liga agrarnych reform,] Organy, S. 23 – 28. Chitrina, Agrarnaja politika, S. 43 – 57. Zu den Mitgliedern der Liga zählten die Agrarökonomen V. I. Anisimov, B. D. Bruckus, A. N. Minin, A. N. Čelincev, A. A. Rybnikov, A. N. Ancyferov, V. A. Kosinskij, N. A. Kablukov, L. B. Kafengauz, Z. S. Kacenelenbaum, L. N. Litošenko, S. A. Pervušin, A. S. Posnikov, die Agronomen P. A. ­Vichljaev, A. V. Tejtel, A. P. Levickij und A. G. Dojarenko, die Genossenschaftsaktivisten P. A. Sadyrin und V. A. Kil’čevskij, M. I. Tugan-Baranovskij sowie der Ökonom und Genossenschaftstheoretiker S. N. Prokopovič und seine Lebensgefährtin E. D. Kuskova. Auch der Agrarminister A. I. Šingarev gehörte zu den Mitgliedern der Liga. 47 [Liga agrarnych reform,] Organy, S. 25f. 48 “The Government Declaration …”, S. 525.

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Kriterien für die Bodenreform entwickeln, sondern auch deren rechtmäßige Umsetzung kontrollieren würde. Darüber hinaus akzentuierte das Programm der Liga die Notwendigkeit, Maßnahmen zur Entwicklung des ländlichen Russlands nicht auf die Neuordnung der ländlichen Eigentumsbeziehungen zu beschränken. Vielmehr müssten die ökonomischen Bedingungen der Landwirtschaft sowie die Bauernwirtschaften selbst so organisiert werden, dass sich die Produktion und die Vermarktung von Agrargütern bezahlt machten. Die nach den Maßstäben von Wissenschaft und Vernunft organisierten Bauernwirtschaften galten demnach als wichtigste Motoren landwirtschaftlichen Wachstums. Die Provisorische Regierung war nicht minder an einer Verbindung von Agrarwissenschaft und Agrarpolitik interessiert als die Vertreter des Agrarismus selbst. In Reaktion auf eine von Čajanov gestellte Bitte um die finanzielle Unter­ stützung der Liga für Agrarreformen nannte der stellvertretende Agrarminister A. G. Chruščov den Aufbau des Gremiums „ausgesprochen wünschenswert“. Anfang Mai wurde die erbetene Summe von 10 Tsd. Rubeln in voller Höhe ausgezahlt.49 Zugleich wurden Vertreter des Agrarismus an prominenter Stelle im Apparat der Provisorischen Regierung tätig. Im April richtete Agrarminister A. I. Šingarev einen landwirtschaftlichen Expertenrat ein, dem mit A. S. Posnikov und A. V. Pešechonov zwei führende Vertreter des gesellschaftlichen Agrar­diskurses der vorangegangenen Jahrzehnte vorstanden. Pešechonov sprach sich im Rahmen des Gremiums dafür aus, lokale Landkomitees mit weitgehenden Vollmachten einzurichten, um die Unberührbarkeit der ländlichen Eigentumsverhältnisse bis zu einem endgültigen Entscheid über die Bodenreform sicherzustellen. 50 Am 21. April kündigte das Ministerium die Gründung eines Zentralen Land­komitees (Glavnyj zemel’nyj komitet) an. Dieses sollte ein Gesetzesprojekt für die Bodenreform zur Vorlage bei der künftigen Konstituante ausarbeiten und die Arbeiten ebenfalls einzurichtender regionaler und lokaler Landkomitees koordinieren.51 Als das neue Organ am 19. Mai 1917 zu seiner konstituierenden ­Sitzung zusammen­trat und einen Provisorischen Rat wählte, zeigte sich, dass die Vertreter des Agrarismus zu Hoffnungsträgern einer „demokratischen Agrar­politik“ geworden waren. Den Vorsitz des Gremiums übernahm mit A. S. P ­ osnikov einer der Ur­­väter der populistischen Ökonomie. Seine Stellvertreter wurden der Ökonom V. I. Anisimov 49 Schreiben des Agrarministeriums an das Finanzministerium [5. Mai 1917], GARF f. 1796, op. 1, d. 117, l. 3f. 50 Chitrina, Agrarnaja politika, S. 55f. 51 Erklärung der Provisorischen Regierung zur Einrichtung von Landkomittes [21. April 1917], GARF f. 1796, op. 1, d. 5, l. 1 – 4. Den nachgeordneten Organen des Komitees auf der Gouvernements- und Bezirksebene fiel neben der statistischen Erfassung des bäuerlichen Bodenbedarfs die Aufgabe zu, die Einhaltung der bestehenden Agrargesetzgebung sicherzustellen und im Falle ungeklärter Eigentumsverhältnisse zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln.

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und der sozialrevolutionäre Politiker S. L. Maslov. Der Agrarwissenschaftler P. A. Vichljaev gehörte dem Rat in seiner Funktion als stellvertretender Agrarminister an, der Agronom A. P. Levickij übernahm die Geschäftsführung. Der Agronom K. A. Maceevič, die Statistiker N. P. Oganovskij, A. V. ­Pešechonov und N. N. Černenkov und die Ökonomen N. P. Makarov, P. P. Maslov und A. N. Čelincev nahmen als gewählte Mitglieder an der Arbeit des Gremiums teil.52 Später zählten auch N. A. Kablukov, L. N. Litošenko, A. V. Čajanov, B. D. Bruckus, A. A. Kaufman, N. D. Kondrat’ev, A. N. Minin und A. A. Rybnikov zu den ständigen Mitgliedern des Rats.53 Neben einer Loyalitätsbekundung gegenüber der Provisorischen Regierung war das Engagement der Wissenschaftler und Intellektuellen in regierungsnahen bzw. von der Regierung initiierten Gremien Ausdruck ihres neuen professionellen Selbstbewusstseins. In der Auseinandersetzung mit der Agrarfrage war die gesellschaftliche Autorität landwirtschaftsbezogenen Fachwissens seit dem Beginn des Jahrhunderts stetig angestiegen. Für die Anhänger des Agrarismus bot die Februar­ revolution nun die Möglichkeit, die agronomische Zivilisierungsmission zum regulären Bestandteil der staatlichen Politik zu machen, und so präsentierten sie sich als rechtmäßige „Erbauer des neuen Russlands“ (stroiteli novoj Rossii)54. Sie verwiesen auf die gleichrangige Bedeutung von Gesetz und professionellem Sachverstand 55 und positionierten sich damit als Experten, die dank ihrer langjährigen praktischen Erfahrung als Vermittler zwischen den Bauern und den Trägern des neuen Staates auftreten konnten: „Und so erwächst vor der russischen Sozialagronomie als gesellschaftlicher und beruf­licher Gruppe ein neuer, frischer aber dankbarer Auftrag: Der Bauernschaft als einer neuen politischen Kraft dabei zu helfen, die eigenen politischen und ökonomischen Interessen und Probleme zu erkennen. Mit dem Volk gemeinsam über seine agrar­politischen Interessen und Anliegen nachzudenken, Probleme der lokalen Agrarpolitik zu identifizieren und mittels der neuen Volkszemstvos zu lösen, sich mit Fragen der staatlichen Agrar­politik auseinanderzusetzen und diese als Stimme und Meinung des Volkes auf die Ebene des Gesamtstaats zu bringen – das sind die neuen großen Aufgaben und Perspektiven, die sich der russischen Agronomie stellen.“56

52 „Sostav Vremennogo Soveta Glavnogo Zemel’nogo Komiteta“, S. 19. Zur Tätigkeit des Zentralen Landkomitees Chitrina, Agrarnaja politika, S. 118 – 125. 53 „Vtoraja Sessija Glavnogo Zemel’nogo Komiteta“, S. 10f.; „Sovet Glavnogo Zemel’nogo Komiteta“, S. 16. 54 Čajanov, Zemel’nyj vopros, S. 2. 55 Ebd. 56 Makarov, Obščestvennaja agronomija, S. 4.

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Die argumentative Verknüpfung von ökonomischen und gesellschaftlich-politischen Zielvorstellungen unterschied den Agrarismus von einer rein technokratischen Utopie: „[…] wenn vor uns eine Aufgabe von ausschließlich organisatorischem oder produktionstechnischem Charakter stehen würde,“ verwies A. G. Dojarenko im Mai 1917 auf den sozialpolitischen Anspruch der Reformer, „[…] könnten wir auch zu organisatorischen Vorstellungen gelangen, die dem Prinzip ‚allen Boden dem arbeitenden Volk‘, das auf die Verteilungsgerechtigkeit und nicht auf das Produktions­ maximum zielt, völlig fremd sind.“57 Hinter dem Programm der Agrarexperten stand also kein blinder Fortschrittsoptimismus, sondern der Glaube, ökonomisches Kalkül und gesellschaftspolitische Visionen, Fortschritt und Gerechtigkeit ließen sich in Einklang bringen. Die Anhänger dieser Vision beriefen sich auf die im wissen­ schaftlichen Diskurs der Vorjahre vielfach beschworene Überzeugung von der ökonomischen Leistungsfähigkeit der bäuerlichen Landwirtschaft. Diese, zeigte sich A. A. Kaufman 1917 zuversichtlich, werde mit der Ausweitung der agro­nomischen Hilfe und dem Ausbau des Genossenschaftswesens offen zutage treten.58 Von einer Stärkung der bäuerlichen Agrarwirtschaft versprachen sich die Anhänger des Agrarismus eine „demokratische Verteilung des Volkseinkommens“59. Die Verbindung von Wissenschaft und Politik, so die Implikation dieser Annahme, werde eine neue gesellschaftliche Ordnung auf den Weg bringen, in der Eigentum und Macht nicht in den Händen einer kleinen Elite konzentriert und die Bauern in der Lage sein würden, ihre Interessen selbst zu vertreten. Die Befürworter einer „demokratischen“ Agrarreform standen jedoch vor einem Dilemma. Da die Provisorische Regierung die Macht nur kommissarisch über­ nommen hatte, fehlten ihr die rechtlichen Vollmachten zur Lösung der Agrarfrage. Dass diese nach dem Sturz des Zaren auf der politischen Tagesordnung stand und die anerkanntesten Spezialisten des Landes zu Regierungsberatern auf­stiegen, wirkte sich daher weder auf die Entwicklungen auf dem Dorf noch auf die Entscheidungsfindung in der Regierung aus. Die Regierung begnügte sich mit all­gemeinen Absichts­erklärungen und unverbindlichen Verweisen auf ein zukünftiges Parlament. Als sich im Verlauf des Frühjahrs gewaltsame Übergriffe auf Gutsbesitzer, illegale Enteignungen und Vandalismus auf dem Dorf häuften, hatte ihnen der Agrarminister nichts anderes entgegenzusetzen als einen Appell an die Geduld der ländlichen Bevölkerung.60 Der Minister und seine frisch in die Ränge der Regierung berufenen

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Dojarenko, Pod-em proizvoditel’nosti, S. 3. Kaufman, Krest’janin, S. 15. Čajanov, Agrarnyj vopros, S. 16. So mahnte A. I. Šingarev: „Angesichts unserer großen Verantwortung für die Zukunft unserer Heimat werden wir ruhig bleiben und uns auf den Machtantritt des wahren Organisators des ­russischen Bodens vorbereiten – der vom Volk gewählten Verfassunggebenden Versammlung,

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Berater waren überzeugt, dass die ländliche Bevölkerung das Demokratieverständnis der Eliten teilte und rationalen Gründen für das Aufschieben der Bodenreform zugänglich sein würde. Trotz des sprunghaften Anstiegs der bäuerlichen Landnahmen hielten sie an der Überzeugung fest, dass die Bauern ihre Bodenansprüche geduldig zurückstellen würden. „Im Bewusstsein des Volkes existiert der ausdrückliche Wunsch, sich den Boden nicht durch eigenmächtige Aneignungen und Gewalt, sondern ‚durch Gewissen und Gesetz‘ zu sichern. Die Aufgabe der Landkomitees“, betonte der stellvertretende Agrarminister A. G. Chruščov auf der ersten Zusammenkunft des Zentralen Landkomitees, „besteht darin, dem Volkswillen entgegenzukommen, indem sie mehr Licht und leidenschaftslose objektive Fakten in die landwirtschaftlichen Verhältnisse bringen […].“61 Noch im September 1917 mahnte Oganovskij, bei der Vorbereitung der Bodenreform müsse man besser „sieben Mal nachmessen, als ein Mal abschneiden“62. Von „leidenschaftslosen objektiven Fakten“ konnte jedoch keine Rede sein. Auf den zahlreichen Zusammenkünften der Experten zeigte sich, dass sie auf die Frage, wie die ideale Agrarordnung überhaupt realisiert werden konnte, keine eindeutige Antwort wussten. Die Festlegung konkreter Normen der Bodennutzung erwies sich in der Praxis als ein ausgesprochen komplexes Problem. Zwar hatte sich das Zentrale Landkomitee während seiner ersten Zusammenkunft darauf verständigt, alle landwirtschaftlichen Böden der „werktätigen landwirtschaftlichen Bevölkerung“ (trudovoe zemledel’českoe naselenie) zur Nutzung zu überlassen,63 und damit an die antikapitalistische Rhetorik der intelligencija und deren Selbstbild angeknüpft, man handele im Namen des „werktätigen Volkes“.64 In einer von S. L. Maslov und A. N. Čelincev geleiteten Kommission zur Umverteilung des Bodenbestands zeigte sich jedoch, dass es trotz des Konsenses über die grundlegenden Ziele der Reform zahlreiche Unklarheiten gab. Nach Auffassung N. P. Makarovs etwa musste die Reform sowohl die Konsumbedürfnisse der Bauern (potrebitel’naja norma) als auch den Umfang des Bodens berücksichtigen, den eine Familie mit Hilfe der ihr zur Verfügung stehenden eigenen Arbeitskraft bearbeiten konnte (trudovaja norma). Die Umverteilung sollte dann anhand des Bedarfs einer statistisch er­­mittelten r­ egionalen Durchschnittswirtschaft erfolgen.65 B. D. Bruckus war hingegen ü­ berzeugt, dass am

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die eine gerechte Lösung der Bodenfrage finden und die neue Agrarverfassung bestimmen wird.“ „Vozzvanie ­Vremennogo Pravitel’stva (21 aprelja 1917g)“, S. 3. „Pervaja Sessija Glavnogo Zemel’nogo Komiteta (19 – 20 maja 1917 g.)“, S. 15. Oganovskij, Kak sleduet, S. 18. „Postanovlenija Učreditel’nogo Sobranija Glavnogo Zemel’nogo Komiteta …“, S. 17. Beyrau, Einführung, S. 17. Sitzung der Kommission zur Umverteilung landwirtschaftlicher Böden vom 28. Juni 1917, GARF f. 1796, op. 1, d. 18a, l. 70f.

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Schreibtisch konstruierte Bodennormen unter den Bauern keine Autorität besäßen; die Bauern erhoben schließlich keine abstrakten Forderungen, sondern beanspruchten ihnen gut bekannte Ländereien, die sie sich mitunter sogar illegal aneigneten.66 Da die Mehrheit der Kommissionsmitglieder an dem Glauben festhielt, die anstehende Bodenreform könne objektiven Maßstäben genügen, einigte man sich darauf, dass die Bodennutzung der „durchschnittlichen lokalen Konsum-Arbeits-Wirtschaft [srednee mestnoe potrebitel’no-trudovoe chozjajstva]“ den Ausgangspunkt für die Festlegung von Normvorgaben für die Umverteilung des Bodens darstellen ­sollte.67 Das im Diskurs von Agrarwissenschaftlern und Ökonomen entworfene Konstrukt der „werktätigen Bauernwirtschaft“ wurde damit zur Leitkategorie staatlicher Agrargesetzgebung bestimmt. Die Verständigung auf das Leitbild einer bäuerlichen Landwirtschaft machte jedoch noch keine Agrarreform. In seiner Funktion als Vorsitzender der Kommission zur Umverteilung des Bodens hatte Čelincev im Juli auf den Zusammenhang von Agrar- und Bodenfrage hingewiesen und erklärt, dass die Umverteilung des Bodens nicht automatisch mit einer Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktivität einhergehen musste.68 Auch A. A. Kaufman hatte Sorge, dass eine übereilte Enteignung der Gutsbesitzer die Agrarentwicklung gefährden könnte.69 N. P. Makarov und N. D. Kondrat’ev wiederum suchten nach Kriterien, um eine Wirtschaft eindeutig als „kapitalistisch“, „halbkapitalistisch“ oder „werktätig“ zu klassifizieren. Dieses Problem war alles andere als trivial. Einerseits wollten die Ökonomen sicher­stellen, dass eine Bodenreform jede Form von kapitalistischen Produktions­beziehungen beendete. Andererseits fürchteten sie, dass ein vorschnelles Eingreifen in die bestehenden Besitzverhältnisse die Landwirtschaft nachhaltig schädigen könnte.70 Als Kompromiss verständigte sich die Kommission schließlich darauf, Güter von „besonderem volkswirtschaftlichen Wert“ vorerst von der Bodenreform auszunehmen. Dies betraf Anwesen, die Agrarprodukte erzeugten, zu deren Herstellung die Bauern nicht in der Lage waren, Hersteller von landwirtschaftlichen Produktionsmitteln sowie besonders produktive Agrarbetriebe.71 Diese Festlegung spiegelte das Dilemma, in dem sich die Anhänger des Agrarismus nach

66 Ebd., l. 39f. 67 „Dejatel’nost’ komissij …“, S. 13. 68 Vortrag Čelincevs in der Kommission zur Organisation der landwirtschaftlichen Produktivkräfte am 26. Juli 1917, GARF f. 1796, op. 1, d. 16, l. 21. 69 Kaufman, Krest’janin, S. 23f. 70 Siehe die Vorträge Kondrat’evs und Makarovs auf den Sitzungen der Kommission zur Umverteilung des landwirtschaftlichen Bodens: [Glavnyj Zemel’nyj Komitet,] Trudy Komissii po podgotovke Zemel’noj Reformy, S. 4 – 40. 71 „Dejatel’nost’ komissij …“, S. 13.

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Rat des Zentralen Landkomitees (1917). Zu den Mitgliedern zählten A. A. Rybnikov (letzte Reihe, Zweiter v. l.), A. N. Čelincev (Dritter v. l.), N. P. Makarov (Mittelreihe, Fünfter v. l.), Z. S. ­Kacenelenbaum (Mittelreihe, Zweiter v. r.)

der Februarrevolution befanden. In der Rolle politischer Berater erkannten sie, dass der Traum von einer „werktätigen“ Landwirtschaft eine Utopie war, solange die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bauern jener der spezialisierten Agrarunternehmen nachstand. Offensichtlich ließ sich die ländliche Moderne nicht mit Hilfe abstrakter Modelle und statistischer Kennziffern verwirklichen. Vielmehr brauchte man Zeit für die Fortführung der agronomischen Mission, die aufgrund der Mobilisierung bzw. die Einbindung vieler Agronomen in die staatliche Versorgungspolitik ins Stocken geraten war.72 Die Schwierigkeiten bei der Festlegung von Reformparametern waren jedoch nur ein Teil des Problems. Entscheidender waren die Entwicklungen auf dem Dorf, wo spontane Aneignungen von Adelsland durch die Bauern die Idee einer von demokratischen Institutionen legitimierten Lösung der Agrarfrage unterhöhlten. Schon im Frühjahr 1917 wurde die Sorge vor einem Machtvakuum (bezvlastie) auf dem Dorf in Regierungs- und Expertenkreisen zum alles beherrschenden Thema.73 Wie

72 Matzusato, Agronomists, S. 185. 73 Oganovskij, Čerez vlast’, S. 1.

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hilflos man der Situation gegenüberstand, zeigte sich vor allem, nachdem mit V. M. Černov ein Politiker das Amt des Agrarministers übernommen hatte, der sich als Sprecher der Bauern verstand und Hoffnungen auf eine schnelle Neuordnung der Eigentumsverhältnisse beflügelte. Dass die Hinhaltetaktik der Regierung Gewalt und Willkür auf dem Dorf hervorrief und die politische Stabilität des Landes gefährdete, stand zwar auch für die Mehrheit der Experten außer Frage. Trotzdem reagierten sie empfindlich auf Černovs nachsichtige Haltung gegenüber den Asprüchen der ­Bauern. Als der Minister den regionalen und lokalen Landkomitees im Juli 1917 zugestand, sie könnten den Forderungen der Bauern entgegenkommen, solange keinerlei volkswirtschaftliche Schäden entstünden, kündigten der Vorsitzende des Zentralen Landkomitees A. S. Posnikov und dessen Geschäftsführer A. P. Levickij kurzerhand ihren Rücktritt an. Zwar sollten beide auf Bitten der anderen Ratsmit­glieder 74 in ihren Positionen verbleiben. Ihre Reaktion brachte jedoch zum Ausdruck, wie groß die Befürchtung war, Černovs Politik könne der Konstituante vorgreifen und eine Rechtslage schaffen, die nicht durch eine demokratische Institution legitimiert war. Auch wenn die meisten Agrarexperten Černovs Sympathie für die ländliche Bevölkerung teilten und deren Forderungen nach Grund und Boden anerkannten, werteten sie die Stellungnahme Černovs als Verstoß gegen das demokratische Credo der Februarrevolution. In seiner Funktion als Ernährungsminister beantwortete A. V. Pešechonov das Zirkular des Agrarministers mit einem Plädoyer für die kompromisslose Beibehaltung der kodifizierten Eigentumsverhältnisse. Bis zur Ein­ berufung des Parlaments sollte das private Bodeneigentum unangetastet bleiben.75 Die Provisorische Regierung war nicht unbeteiligt daran, dass sich die S ­ ituation im Spätsommer 1917 zu einer schwerwiegenden Herrschaftskrise auswuchs. Um der angespannten Versorgungslage Herr zu werden, hatte sie im März ein Getreide­ monpol eingeführt und die Getreidepreise festgesetzt. Den im gleichen Zuge eingerichteten Versorgungskomitees auf der regionalen und lokalen Ebene war das Recht eingeräumt worden, Getreidevorräte oberhalb einer bestimmten Norm zu requirieren.76 Doch die Maßnahmen schlugen fehl. Die weitreichenden ­Kompetenzen der Versorgungskomitees und die mitunter gewaltsame Eintreibung des Getreides lösten den Widerstand der ländlichen Bevölkerung aus. Eine unerwartete Verdopplung der Getreidepreise im August, eigentlich gedacht als ein Mittel zur Versöhnung der

74 Erklärung des Rats des Zentralen Landkomitees vom 28. Juli 1917, GARF f. 1796, op. 1, d. 5, l. 94. 75 Gill, Peasants, S. 99 – 102. 76 Im Laufe des Frühlings wurden die Kompetenzen der Versorgungskomitees sukzessive a­ usgeweitet. Sie erhielten das Recht, die Bestellung der Felder zu kontrollieren, und konnten somit in die Produktionsentscheidungen der Besitzer eingreifen. Nach dem Übergang zur Getreiderationierung Ende April waren die Versorgungskomitees auch für die Verteilung des Getreides verantwortlich. Ebd., S. 49 – 64.

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­ auern, untergruben die Autorität lokaler Staatsvertreter und spielten den Kritikern B der Regierung in die Hände.77 Hinzu kam, dass diese bereits im Frühjahr eine Bodenreform angekündigt hatte, aber keine für die Bevölkerung erkennbaren Maßnahmen zur Realierung dieses Plans ergriff. Die Bauern, die das Demokratieversprechen der Februarrevolution als Billigung ihrer Bodenforderungen auslegten, agierten daher in Eigenregie und eigneten sich das Land gewaltsam an.78 In Petrograd verfolgte man die Situation mit wachsender Nervosität. In einem alarmierenden Brief an die Regierung warnte der Rat des Zentralen Landkomitees im August vor einer Zuspitzung der Lage: Geltendes Recht und bäuerliches Rechtsverständnis stünden im Widerspruch zueinander. Die Regierung dürfte nicht länger die Augen davor verschließen, dass sich die Bodenordnung auf dem Dorf längst im Umbruch befand. Zudem gefährdeten die unklaren Kompetenzen und die Willkür der Staatsorgane in der Provinz alle Versuche, die Situation bis zur Einberufung der Konstituante zu stabilisieren: „Die Zeit rennt, und das Zögern der Regierung, ihre unbestimmte Haltung in Bezug auf die sich derzeit herausbildenden Bodenverhältnisse kann nur zur Verschärfung der gegenwärtigen Lage führen.“79 Als sich die Unruhen auf dem Dorf im Juli und August ihrem Höhepunkt näherten, war die Regierung bereits völlig gelähmt. Nach der zweiten Auflösung des Kabinetts Ende August gab es für mehrere Wochen weder einen Agrar- noch einen Versorgungsminister. Bei der Bildung der dritten Koalitionsregierung im September 1917 war dann nicht nur der Enthusiasmus der ersten Revolutionstage verflogen. Infolge mehrerer Regierungskrisen hatte sich auch das personelle Kontingent der Parteien erschöpft. Das Kabinett wurde nun von Parteilosen und wenig bekannten Politikern besetzt.80 Diese glaubten allem Anschein nach nicht einmal selbst daran, dass sie das Land befrieden könnten. S. L. Maslov, Mitglied der PSR , bekannt vor allem als Genossenschaftsaktivist, wurde Agrarminister in Kerenskijs letztem Kabinett. Seine Tochter erinnerte sich später, sie habe damals eine Postkarte von ihrem Vater erhalten, auf der sich Maslov wenig beglückt über seine Ernennung zum Minister geäußert hätte.81 Auch A. V. Čajanov, den Maslov gemeinsam mit Čelincev 82 zu seinem Stellvertreter berief, glaubte nicht, dass seine unmittelbare Einbindung in die Politik von besonderem Nutzen sein werde. Kurz bevor die Personalie offi­ziell bekannt wurde, wandte er sich in einem Brief an seine Freunde

77 Lih, Bread, S. 105 – 110. 78 Zusammenfassend Gill, Failure. 79 „Dejatel’nost’ Soveta …“, S. 8. 80 Gill, Peasants, S. 132f.; Hildermeier, Sowjetunion, S. 101. 81 G. S. Maslova, Erinnerungen an ihren Vater S. L. Maslov [1960er Jahre], RGAĖ f. 1055, op. 1, d. 27, l. 40. 82 Ukaz der Provisorischen Regierung vom 11. Oktober 1917, GARF f. 1797, op. 1, d. 27, l. 43.

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und Kollegen ­Rybnikov, Čelincev und Makarov: „S. L. Maslov drängt mich, sein Stellvertreter zu werden, und die Genossenschaftler bestehen auf mein Einverständnis.“83 ­Čajanov schlug vor, dass an seiner Stelle der Agronom K. A. Maceevič das Amt über­nehmen könnte, trat dieses letztlich aber selbst an. Die politischen Karrieren Maslovs und Čajanovs waren jedoch nur von kurzer Dauer. Bereits wenige Wochen nach ihrer Bestellung wurde die Regierung von den Bolschewiki gestürzt. Die selbst ernannten Machthaber profitierten von den Versäumnissen der vergangenen Monate und präsentierten sich erfolgreich als Vertreter der Bauern. Das „Dekret über den Boden“, das sie einen Tag nach dem Beginn ihrer Herrschaft verkündeten, sanktionierte die entschädigungslose Enteignung von Adels- und Kirchenland und übergab den Boden in die vorläufige Zuständigkeit der lokalen Landkomitees und Bauern­deputiertenräte. Die Hoffnungen auf eine geordnete und demokratisch legitimierte Umverteilung des Bodens waren damit zerstört.84 Das Jahr 1917 war der tragische Höhepunkt in der Geschichte des russischen Agrarismus. Nach dem Sturz des Zaren wurden die führenden Vertreter der Bewegung in die höchsten agrarpolitischen Organe des Landes berufen. Die Regierung trug ihnen die ehrenvolle Aufgabe an, eine neue Ordnung für das ländliche Russland zu ent­ werfen. Doch was mit größtem Optimismus begonnen wurde, endete in einem Desaster. Die Anhänger des Agrarismus waren Teil einer Regierung, die in endlosen Richtungskämpfen das Vertrauen verspielte, das ihr die ländliche Bevölkerung zunächst entgegengebracht hatte. Zudem waren die Vertreter des Agrarismus selbst nicht auf ihre neue Rolle vorbereitet. Im Zuge ihrer langen Debatten über die Bodenreform trat zutage, dass sie für das aus Sicht der Bauern drängendste Problem keine Lösung parat hatten. Während man in Sankt Petersburg über Arbeits- und Verbrauchsnormen diskutierte, wurden die Bauern selbst aktiv. Die Vertreter des Agrarismus standen dieser Entwicklung hilflos gegenüber. Angetreten mit dem Anspruch, die Interessen der breiten Bevölkerung durchzusetzen, wurden sie zu Geiseln ihres demokratischen Selbstverständnisses. In seiner Rolle als Agrarminister verabschiedete Maslov noch im Oktober eine Erklärung, in der er die Unantastbarkeit des privaten Bodeneigentums anmahnte. Der von Bauernvertretern und Maslovs eigener Partei erhobenen Forderung, die Zuteilung der landwirtschaftlichen Böden in die Zuständigkeit der lokalen Landkomitees zu überführen, kam er nicht nach.85 Der Versuch, alle Entscheidungen in die Zukunft zu verlagern, scheiterte an der Realität des Dorfes. Als die Provisorische Regierung gestürzt wurde, hatte sich das Dorf in einen staatsfernen Raum verwandelt, in dem Gewalt und Willkür herrschten. Den Vertretern des Agrarismus war es nicht

83 Čajanov an Rybnikov, Makarov und Čelincev, in: Čajanov, Čajanov, S. 194. 84 Hildermeier, Sowjetunion, S. 122f. 85 Gill, Peasants, S. 136.

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gelungen, mit der Dynamik der Ereignisse Schritt zu halten. Sie hatten ein Programm entwickelt, das auf eine graduelle Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft zielte und in Friedenszeiten sichtbare Erfolge gezeigt hatte. Unter den Bedingungen von Krieg und Revolution erwies sich der gemäßigte Charakter ihrer Agenda aber als gravierendes Hindernis. Die Sternstunde des russischen Agrarismus wurde daher zum Beginn seiner Marginalisierung.

2.1.3  Die politische Mobilisierung des Agrarismus Auch wenn sich der russische Agrarismus nie als eine Partei konstituierte, wurde er in den Monaten nach der Februarrevolution als eine eigenständige politische Kraft sichtbar. Die entscheidenden Impulse hierfür gingen von der Genossenschafts­ bewegung aus, deren Vertreter nach dem Sturz des Zaren von einer euphorischen Aufbruchsstimmung erfasst wurden und versuchten, die Bewegung als politischen Akteur zu etablieren. Bereits wenige Tage nach dem Sturz der zarischen Regierung ergriff eine kleine Gruppe bekannter Genossenschaftsaktivisten die Gelegenheit zur Neugründung des 1915 von den staatlichen Behörden aufgelösten Zentralen Genossen­schaftskomitees. Unter seinen Mitgliedern befanden sich der Vorsitzende V. N. Zel’gejm, die Ökonomen V. I. Anisimov und S. N. Prokopovič, die bekannten Genossenschaftsaktivisten V. V. Chižnjakov, V. A. Kil’čevskij, A. E. Kulyžnyj sowie der sozialrevolutionäre Politiker S. L. Maslov. Während das Komitee im Sommer 1915 vorrangig mit dem Ziel gegründet worden war, Versorgungsengpässe zu lindern und die Interessen der Genossenschaften gegenüber staatlichen Organen zu vertreten, sollte das neue Organ dazu beitragen, die Genossenschaftsbewegung unmittelbar in die politische Entscheidungsfindung einzubinden. In einem Schreiben an die Provisorische Regierung baten die Mitglieder um die Erlaubnis, künftig bei der Arbeit von Regierungskommissionen berücksichtigt zu werden; nach dem Sturz der Monarchie könnten sich die Genossenschaften schließlich nicht mehr auf wirtschaftliche oder administrative Funktionen beschränken: „[…] neben Aufgaben des genossenschaft­ lichen Aufbaus und alten Formen der Unterstützung der Staatsmacht bei der Versorgung der Armee und im Kampf gegen den wirtschaftlichen Verfall macht der gegenwärtige Augenblick in erster Linie die Unterstützung der breiten Bevölkerungsmassen im Sinne des gesellschaftlichen Aufbaus (obščestvennoe stroitel’stvo) notwendig, der für die Verankerung des neuen Staatswesens notwendig ist.“86 Auf der Agenda der Genossenschaftsbewegung stand folglich nicht mehr die Verwaltung des Mangels, sondern der Aufbau einer neuen gesellschaftlichen und politischen Ordnung.

86 Chižnjakov, Istorija, S. 7.

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Die Verabschiedung eines allgemeinen Genossenschaftsgesetzes am 20. März 1917 beflügelte diese Hoffnungen. Ein solches Gesetz war bereits im Jahr 1908 zum Bestandteil des politischen Forderungskatalogs der Genossenschaftsbewegung erklärt worden. Alle Versuche zur Realisierung eines solchen Vorhabens hatten jedoch erfolglos geendet. Ein während des Krieges in Regierung und Parlament diskutiertes, allerdings nie verabschiedetes Gesetzesprojekt hatte in der Bewegung starke Kritik hervorgerufen, da sich die Regierung unwillig zeigte, die staatliche Kontrolle der Genossenschaften einzuschränken.87 Das nach der Februarrevolution verabschiedete Gesetz beendete die unmittelbare Abhängigkeit der G ­ enossenschaften von den zentralstaatlichen Behörden, indem es die Formalitäten bei der Gründung einer Genossenschaft auf die Registrierung bei einem lokalen Gericht sowie einen Eintrag ins Genossenschaftsregister beschränkte. Das Gesetz legalisierte darüber hinaus den Zusammenschluss von verschiedenen Genossenschaftstypen zu so genannten „Mischverbänden“ und erweiterte das mögliche Tätigkeitsspektrum von Genossenschaften: Dem Genossenschaftsdiskurs der Vorjahre folgend, waren diese nicht nur für das ökonomische sondern auch für das „geistige Wohl­ergehen“ (duchovnoe blagosostojanie) ihrer Mitglieder verantwortlich.88 Führende Genossen­ schaftsvertreter werteten die Verabschiedung des Gesetzes als Indikator eines erneuerten Verhältnisses von Staat und Genossenschaften. Der Char’kover Ökonom und Genossenschaftsaktivist A. N. Ancyferov war überzeugt, dass die Genossenschaften fortan die Entwicklung des Landes mitgestalten würden: „Der Weg ist offen, der Weg ist frei. Die Stärke der wirtschaftlichen Entwicklung und die Zukunft Russlands liegen auf diesem Weg. […] die Genossenschaft leuchtet wie die Sonne und wärmt alle mit ihren lebendigen Strahlen.“89 „Das freie Russland“, reagierte ein anderer Zeitgenosse auf das Gesetz, „hat die Genossenschaft befreit.“90 Bald darauf gab es erste Initiativen, um die Genossenschaftsbewegung fest im politischen Kommunikationsraum zu verankern. Vom 25. bis zum 28. März 1917 tagte in Moskau der Allrussische Kongress der Genossenschaftsverbände. Die 464 Teilnehmenden der Veranstaltung wählten einen Rat (Sovet Vserossijskich Kooperativnych S-ezdov), der die Interessen der Genossenschaftsbewegung nach außen vertreten sollte.91 Die Idee zur Schaffung eines solchen Zentralorgans der Genossenschaftsbewegung stammte bereits aus der Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. 1916 hatte eine Gruppe von 49 Dumaabgeordneten sogar einen 87 Korelin, Kooperacija, S. 317 – 331. 88 [Sovet Vserossijskich Kooperativnych S-ezdov,] Sbornik Postanovlenij, S. 1 – 12; Korelin, ­Kooperacija, S. 332f. 89 Ancyferov, Novyj kooperativnyj zakon, S. 22. 90 Dobrochotov, Kooperativnyj zakon, S. 3. 91 Korelin, Kooperacija, S. 333 – 335.

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entsprechenden Gesetzesvorschlag auf den Weg gebracht, der in Regierungskreisen jedoch keine Unterstützung gefunden hatte und nie umgesetzt worden war.92 Die personelle Zusammensetzung des neuen Leitungsgremiums war symptomatisch für das enge Netzwerk von Experten, die in den Kommissionen der Provisorischen Regierung mitarbeiteten und als Professoren oder Dozenten höherer Bildungseinrichtungen fest in der Wissenschafts- und Bildungslandschaft etabliert waren. Viele von ihnen standen spätestens seit dem Ausbruch der Versorgungskrise miteinander in beruflichem Kontakt. Zu den ständigen Mitgliedern des Rats der Allrussischen Genossenschaftskongresse, dessen Vorsitz S. N. Prokopovič übernahm, zählten die Agrarökonomen V. I. Anisimov, N. A. Kablukov und A. V. Čajanov, die Genossenschaftsaktivisten V. N. Zel’gejm, V. A. Kil’čevskij und V. V. Chižnjakov sowie der Politiker und Publizist S. L. Maslov. Im Anschluss an die erste Sitzung wurden weitere Agrarspezialisten in das Leitungsorgan der Genossenschaftsbewegung berufen. Unter ihnen befanden sich die Agronomen A. G. Dojarenko und K. A. Maceevič sowie die Ökonomen L. B. Kafengauz, Z. S. Kacenelenbaum, A. N. Minin, A. N. Čelincev und S. A. Pervušin. A. N. Ancyferov und M. I. Tugan-Baranovskij gehörten dem Rat als Regionalvertreter an.93 In der Öffentlichkeit gaben sich die Sprecher der Genossenschaftsbewegung nach der Februarrevolution zunehmend selbstbewusst. Viele von ihnen waren der Auffassung, dass sich die zentralen Genossenschaftsorgane nicht länger darauf beschränken konnten, die Interessen der Kooperativen gegenüber staatlichen Behörden durchzusetzen. Sie sahen in der Genossenschaftsbewegung vielmehr eine gesellschaftliche Kraft, die für sich in Anspruch nehmen konnte, zwischen der „werktätigen“ in G ­ enossenschaften organisierten Bevölkerung und der Provisorischen Regierung zu vermitteln und auf diese Weise an der Neuordnung des Landes mitzuwirken. Die öffentlichen Äußerungen von Genossenschaftsvertretern demonstrieren, wie das Konzept der „Demokratie“ nach dem Sturz der zarischen Regierung für politische Akteure aller Couleur zu einem der wichtigsten Identifikationsangebote avancierte. Unabhängig von ihrer ideologischen Orientierung rechtfertigten sie ihre Forderungen nach politischer Teilhabe, indem sie sich auf ihre Nähe zum „Volk“ beriefen.94 „In einem freien Russland“, hieß es in der ersten Ausgabe der „Nachrichten des Rats der Allrussischen Genossenschaftskongresse“ (Izvestija Soveta Vserossijskich Kooperativnych S-ezdov), „[ist] die Genossenschaftsbewegung als große gesellschaftliche Kraft durch das Leben selbst dazu aufgefordert, eine herausragende Rolle bei der Wiedergeburt des Landes zu 92 Ebd., S. 326. 93 „Otdely Soveta Vserossijskich Kooperativnych S-ezdov“, S. 11. In der ökonomischen Abteilung des Rats waren u. a. die Ökonomen A. A. Rybnikov, P. P. Maslov, der Agronom A. F. Fortunatov, der Statistiker N. P. Oganovskij und der Genossenschaftsideologe V. F. Totomianc vertreten. 94 Kolonitskii, “Democracy”, S. 99 – 103.

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spielen.“ Der Rat der Genossenschaftskongresse werde daher alle seine Anstrengungen darauf richten, dass das Potential der Genossenschaften „im Interesse der russischen Demokratie“95 genutzt werden könne. „Die Genossenschaftsbewegung“, kommentierte Tugan-Baranovskij im Anschluss an den Kongress, „hat ihre gesellschaftliche und politische Reife bewiesen und sich als würdige Führung für Millionen russischer Arbeiter und Bauern präsentiert.“96 Hinter der Vorstellung, die Genossenschaftsbewegung sei ein Bindeglied zwischen Regierung und Bevölkerung, stand die idealisierte Wahrnehmung der neuen politischen Ordnung als eine „Volksherrschaft“ (narodovlastie), in der die Interessen von Regierung und Bevölkerung deckungsgleich waren: Engagement im Sinne des Staates bedeutete aus dieser Perspektive Engagement im Sinne seiner Bürger und vice versa. Auch wenn sich die Protagonisten der Genossenschaftsbewegung darüber im Klaren waren, dass die Provisorische Regierung nicht durch eine gewählte Volks­ versammlung legitimiert worden war, glaubten viele von ihnen, dass mit dem Sturz der zarischen Regierung das Zeitalter der Demokratie angebrochen sei. Die politische Partizipation der breiten Bevölkerung schien bereits durch den Sturz des Zaren Rea­ lität geworden zu sein: „Der Traum von Generationen ist wahr geworden“, formulierte der Genossenschaftsaktivist V. V. Chižnjakov diese Vorstellung: „Die Revolution hat uns ein Vaterland gegeben. Wir, die Halbsklaven von gestern, können Bürger sein, die ihr Leben nach ihrem Verstand frei gestalten.“97 Der Hinweis auf die vermeintliche Übereinstimmung der Interessen von Regierung und Bevölkerung diente zugleich als Argument, um die Bevölkerung auf die Fortführung des Krieges einzuschwören. Kurz nach seiner Gründung rief der Rat des Allrussischen Genossenschaftskongresses die „Bürger-Genossenschaftler“ (graždane-kooperatory) zur Zeichnung von Kriegsanleihen auf. Die Genossenschaftsbewegung, deren Vertreter vor der Revolution von Bekenntnissen zur Regierung abgesehen und ihre Einbindung in die Kriegswirtschaft aus ihrer vermeintlichen moralischen Verantwortung gegenüber der Bevölkerung abgeleitet hatten, wurde nun zum Sprachrohr der patriotischen Propaganda: „Ohne darauf zu achten, dass ein verhasstes Regime über uns regierte, habt Ihr Eurer Heimat in den Jahren dieses beispiellosen Krieges großherzig Eure Leben, Euer Leid, Eure Arbeit zur Verfügung gestellt. Jetzt, wo die Führung des Landes an Euch selbst übergegangen ist, wo ihr wisst, dass jede von Euch gegebene Kopeke für Eure eigenen Bedürfnisse ausgegeben wird, werdet Ihr daher umso großherziger sein und alles geben, alles, was Ihr könnt. Geben könnt Ihr nun umso froher, denn der Staat, der mit all ­seiner

95 Izvestija Soveta Vserossijskich Kooperativnych S-ezdov Nr. 1, 1917, S. 2. 96 Tugan-Baranovskij, Vserossijskij s-ezd, S. 110. 97 Chižnjakov, Ob otečestve, S. 1.

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Würde für den Aufruf der Anleihen verantwortlich ist, das sind wir selbst, wir, freie ­Bürger eines großen freien Russlands […].“98

Treuezusicherungen gegenüber der Provisorischen Regierung gehörten nach der Februarrevolution fest zum rhetorischen Repertoire der Genossenschaftsvertreter. Als die Zunahme der bäuerlichen Unruhen, der bewaffnete Aufstand der Bolschewiki und die Auflösung der ersten Koalitionsregierung Anfang Juli die Instabilität der Machtverhältnisse aufzeigten, reagierten die Genossenschaftler mit Loyalitätsbekundungen. Gemeinsam appellierten die Leitungen der Moskauer Volksbank, des Allrussischen Verbandes der Flachsproduzenten und des Moskauer Verbandes der Konsumgenossenschaften Mitte Juli, jeder solle der revolutionären Regierung „auf seinem Posten“ zur Hilfe kommen und gegen die „Störenfriede der öffentlichen Ordnung“ kämpfen. Der Erhalt des staatlichen Zusammenhalts erhielt nun oberste Priorität: „Kameraden, dieser schwere Augenblick fordert von allen Bürgern, dass sie ihre persönlichen Interessen vergessen; denn jetzt müssen die Interessen des Ganzen, die Interessen unseres Staates an erster Stelle stehen.“99 In ihren öffentlichen Proklamationen präsentierte sich die Genossenschaftsbewegung als Gegner aller Versuche, den politischen Status quo gewaltsam zu verändern. So, wie sich die Experten in den agrarpolitischen Beratungsgremien der Regierung gegen Eingriffe in die ländlichen Eigentumsverhältnisse wandten, sprachen sie sich als Vertreter der zentralen Genossenschaftsorgane gegen jegliche Formen des spontanen Aufstands aus, die zur Herstellung demokratisch nicht legitimierter politischer Tat­ sachen führen konnten. Im Juli 1917 schickten führende Genossenschaftsverbände ein Telegramm an den Ministerpräsidenten A. F. Kerenskij, in dem sie erklärten, dass ihre Bewegung die Regierung mit allen Mitteln „im Kampf gegen Anarchie und Konterrevolution [unterstütze]“100. Mit der Zuspitzung der Staatskrise gewann das Bild von den Genossenschaften als klassenübergreifende demokratische Organisationen für das Selbstverständnis und die öffentliche Inszenierung ihrer Vertreter weiter an Bedeutung. Nach der Auflösung der ersten Koalitionsregierung Anfang Juli war die Einberufung einer Staatsversammlung (Gosudarstvennoe soveščanie) anberaumt worden, die Repräsentanten aller wichtigen gesellschaftlichen Gruppen an einen Tisch bringen und das Land aus der politischen Sackgasse führen sollte. Auch die Genossenschaftsbewegung war zur Entsendung ihrer Vertreter in die Versammlung aufgerufen. Als diese vom 12. bis 15. August zusammentrat, erklärte A. M. Berkengejm, der Sprecher der Genossenschaftler, woraus sich das

98 Izvestija Soveta Vserossijskich Kooperativnych S-ezdov, Nr. 1, 1917, S. 7f. 99 „Vozzvanie ot central’nych kooperativnych organizacij kooperatorov vsej Rossii“. 100 „Telegramma, poslannaja kooperativnymi učreždenijami …“, S. 4.

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politische Selbstverständnis der Genossenschaftler ableitete: Als „Träger der Zivilgesellschaft“ (nositel’ obščestvennosti) hätte die Genossenschaftsbewegung unter der Herrschaft des Zaren zahlreiche jener „hervorragenden Kräfte [in sich vereint], die dann in den Tagen der Revolution hervorgetreten [seien]“. Indem er die Genossenschaftsbewegung als entscheidende Triebkraft der Februarrevolution darstellte, legitimierte er den von Genossenschaftsvertretern artikulierten Anspruch, als Vertreter der breiten Bevölkerung aufzutreten: „Wir, die Genossenschaftler, sind die Kärner der russischen Zivilgesellschaft.“101 Die Einladung der Genossenschaften zur Demokratischen Versammlung (Demokratičeskoe soveščanie) wirkte wie eine Bestätigung dieses Selbstbilds. Die Versammlung, anberaumt für die Zeit vom 14. bis zum 22. September, war eine weitere Initiative zur Überwindung der sich zuspitzenden politischen Krise. Die Hinzu­ ziehung von Genossenschaftsvertretern konnte glauben machen, dass sich die Genossenschaftsbewegung tatsächlich als eine eigenständige gesellschaftliche Kraft etabliert hatte. In genossenschaftlichen Kreisen löste die schrittweise Einbindung der Genossenschaftsbewegung in die Lösung der politischen Krise intensive Debatten aus. Bislang war der Verweis auf die politische Neutralität ein fester Bestandteil der genossenschaftlichen Rhetorik gewesen. Die neue Situation löste daher einige Legitimationsprobleme aus. Als sich im September 1917 der Eindruck verstärkte, dass den Parteien die Überwindung der politischen Zersplitterung des Landes kaum gelingen würde, neigte eine wachsende Zahl von Genossenschaftsaktivisten der Auffassung zu, dass es nun an den Genossenschaften war, die Integrität des Landes sicherzustellen: „Sie [die Genossenschaftsbewegung] steht vor einem riesigen Auftrag von allgemeindemokratischer Bedeutung: dem Auftrag, das Land zu retten. Das Land geht unter. Es befindet sich nicht nur am Rande des Todes, es stirbt.“102 Auf dem Allrussischen Genossenschaftskongress am 11. September wurde die politische Rolle der Genossenschaften offen diskutiert. Der Ökonom S. N. Prokopovič rief die Anwesenden auf, die Konstituierung der Genossenschaftsbewegung als poli­ tische Kraft zu unterstützen: „Ihr – die wahre Kraft Russlands – seid auch die einzige Kraft, die nun in der Lage ist, Russland zu retten.“103 Tatsächlich entschlossen sich die Protagonisten der Genossenschaftsbewegung zur aktiven Mitarbeit in der Demokratischen Versammlung. Die Genossenschaftsbewegung war hier mit 120 Mandaten vertreten. Als „Genossenschaftliche Gruppe“ (Kooperativnaja gruppa) sollten 18 von ihnen, darunter die Agrarökonomen V. I. Anisimov und A. I. ­Čajanov sowie die Publizistin E. D. Kuskova anschließend in den Provisorischen Rat der 101 Rede A. M. Berkengejms, GARF f. 3529, op. 1, d. 4, l. 180. Vgl. auch die Berichterstattung in der zeitgenössischen genossenschaftlichen Presse: „Gosudarstvennoe soveščanie …“, S. 3. 102 Merkulov, Kooperacija, kak političeskaja sila, S. 3. 103 Osorgin, Črezvyčajnyj vserossijskij kooperativnyj s-ezd, S. 3.

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Russischen Republik (Vremennyj Sovet Rossijskoj Respubliki) entsandt werden, auf dessen Gründung sich die Versammlung verständigt hatte.104 Die endgültige Entscheidung für die Etablierung der Genossenschaftsbewegung als einer eigenständigen politischen Kraft fiel auf einem weiteren außerordent­lichen Genossenschaftskongress Anfang Oktober 1917. Der Anlass für den Kongress war die bevorstehende Zusammenkunft des Provisorischen Rats, der bis zur Ein­berufung der Konstituante als „Vorparlament“ (Predparlament) regieren sollte. Nach dem Entschluss für die Mitwirkung in einem quasiparlamentarischen Organ stellte sich für die Vertreter der Bewegung die Frage, ob und in welcher Form diese auch bei den anstehenden Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung vertreten sein sollte. Der Agrarökonom Anisimov plädierte für die Positionierung der Genossen­schaften als „allgemeindemokratische Plattform“, die sich für die Durchsetzung von Demokratie, die öffentliche Ordnung, die Demokratisierung der lokalen Selbstverwaltungs­ organe, das Selbstbestimmungsrecht nationaler Minderheiten sowie die Fortführung des Krieges bis zum Abschluss eines gerechten demokratischen Friedens einsetzte. Čajanov unterstützte diese Idee. Seiner Meinung nach verfügten einzig die Genossen­ schaftsaktivisten über die nötige praktische Erfahrung zur Steuerung des Landes.105 Auch wenn die Haltung der beiden Ökonomen nicht ohne Kritik blieb, bestand unter der Mehrheit der Kongressteilnehmer Konsens d­ a­rüber, dass die Genossenschaften politisch aktiv werden mussten. Die „Genossen­schaftliche Gruppe“ sollte eine wählbare politische Gruppierung werden: „Der All­russische Genossenschaftskongress“, so die abschließende Resolution, „ […] lädt alle genossen­schaftlichen Organisationen dazu ein, aktiv am Wahlkampf teilzunehmen und sich mit allen Mitteln dafür einzusetzen, dass durch unsere Vertreter praktische Arbeiter, die die wirtschaftlichen und alltäglichen Bedingungen des russischen Lebens kennen, in die Verfassunggebende Versammlung gelangen“106. Unmittelbar im Anschluss begann die „Genossenschaftliche Gruppe“ mit dem Wahlkampf. In neun Gouvernements wurde eine genossenschaftliche Liste aufgestellt. In acht weiteren Gouvernements schlossen sich die Genossenschaftler dem demokratischen Block an. Auf dem ersten Listenplatz der Genossenschaftler stand Čajanov, dessen Kandidatur damit begründet wurde, dass er praktische Erfahrung und wissenschaftlichen Sachverstand besaß und keiner der untereinander zer­strittenen politischen Fraktionen angehörte:

104 „Stranički iz žizni Kooperativnoj gruppy“; Chejsin, Vystuplenie, S. 56 – 66; Chižnjakov, Istorija, S. 26 – 31. 105 Chejsin, Vystuplenie, S. 56f.; „Črezvyčajnyj vserossijskij kooperativnyj s-ezd“ (1 – 3). 106 Chejsin, Vystuplenie, S. 64.

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„Čajanov, A. V.: Vertreter der Genossenschaften im Rat der Russischen Republik. Mitglied des Rats der Allrussischen Genossenschaftskongresse. Dozent an der Landwirtschaftlichen Akademie in Petrovsko-Razumovskoe. Mitglied des Zentralen Landkomitees. Stellvertretender Agrarminister. Genossenschaftler. Mitglied des Rats der Zentralen Vereinigung der Flachsproduzenten in Moskau. Bekannt für seine Arbeiten zur Bodenfrage, zur Bauern­ wirtschaft und zu Genossenschaften. Politische Orientierung – parteiloser Sozialist.“107

Ähnlich wie am Beginn des Ersten Weltkrieges, als sie das kriegswirtschaftliche Engagement der Kooperative als Beitrag zum Erhalt der staatlichen Integrität des Russischen Reichs gerechtfertigt hatten, stellten die Genossenschaftler ihre politische Initiative als eine moralische Pflicht dar, der sie sich angesichts der dramatischen Entwicklungen in ihrem Land nicht entziehen dürften: „Diese Verpflichtung ist unendlich schwer für uns, denn nun müssen wir uns an diesem Kampf beteiligen, der verschiedene Klassen und Schichten des Volkes spaltet und der unserer Überzeugung nach so viel Schlechtes für unseren Staat bringt und auf den wir daher mit dem Gefühl tiefster Trauer sehen.“108 Trotzdem traten auch sie mit einer gesellschaftlichen Vision in den Wahlkampf ein. Das Wahlversprechen der Genossenschaftler rekurrierte auf den tradi­ tionellen Antikapitalismus der intelligencija und den diffusen Wunsch nach einer neuen gesellschaftlichen und politischen Ordnung: „Die Genossenschaftsbewegung erschafft neue Formen des gesellschaftlichen Lebens nach den Prinzipien der Soli­darität. Auf diese Weise verwirklicht sie die strahlenden Ideale des Sozialismus.“109 Ganz ähnlich präsentierten sich die Anhänger des russischen Agrarismus auch in anderen politischen Zusammenschlüssen. Die Agrarökonomen Pešechonov, Anisimov, Makarov und der Genossenschaftsaktivist Chižnjakov befanden sich auf der Wahlliste der Werktätigen Volkssozialistischen Partei (Trudovaja narodno-socialističeskaja partija) im Gouvernement Voronež. Diese rief „alle, die für die Interessen der werktätigen Bauernschaft, sowie der Arbeiter und der Verstandesarbeiter (intelligentnye truženiki), alle, die für die Herstellung des inneren Friedens und der Ordnung in einem freien Russland, alle, die für ein Ende der inneren Zwistigkeiten und der Anarchie und alle, die für die Verteidigung des Vaterlandes [waren]“110, an die Wahlurnen, konnte aber nur wenige Wählerstimmen für sich vereinigen. Die Konstituierung des Agrarismus als politische Fraktion scheiterte. Nach dem Oktoberumsturz, der die Mitglieder der „Genossenschaftlichen Gruppe“ mitten im Wahlkampf überraschte, präsentierten sich die Genossenschaftler vergeblich 107 „Golosujte za spisok No. 6“, S. 1. 108 „Čego my chotim? …“, S. 2. 109 Ebd. 110 Kandidatenliste und Wahlprogramm der Werktätigen Volkssozialistischen Partei, RGAĖ f. 766, op. 1, d. 43, l. 1.

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als revolutionäre Avantgarde: „Wir haben doch nicht den Zarismus gestürzt, damit eine Gruppe von Gewalttätern und Verrätern uns erneut Fesseln anlegt und den Deutschen ausliefert. Nein, Genossen Bauern und Arbeiter. Erhebt die Stimme des Protests. Wir, Eure Stellvertreter im Rat der Republik, die die dunklen Leninschen Soldaten am ersten Tag des Aufstandes aufgelöst haben, wir, verdiente Revolutionäre, die wir über Jahre gegen den Zaren für Boden und Freiheit gekämpft haben, rufen Euch auf zum Kampf gegen Gewalttäter, Okkupanten und Kriminelle.“111 Doch der Appell zeigte keine Wirkung. Der erhoffte Widerstand gegen die Bolschewiki blieb aus, und bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung konnte die „Genossenschaftliche Gruppe“ nur wenige Wähler für sich mobilisieren. Lediglich in Moskau erreichte der demokratische Block unter Beteiligung der Genossenschaftler mehr als 35.000 Stimmen. Diese genügten jedoch nicht einmal, um den ersten Listenkandidaten, den Ökonomen und Genossenschaftsaktivisten Prokopovič, in die Verfassunggebende Versammlung zu entsenden.112 Das Wahlergebnis brachte zutage, dass die ehrgeizigen politischen Ziele, die die Vertreter des Agrarismus in der Euphorie der Februarrevolution formuliert hatten, im Kontext von Revo­lution und beginnendem Bürgerkrieg keine Glaubwürdigkeit besaßen. Zwar waren mehrere Millionen Menschen genossenschaftlich organisiert. Ein Instrument zur Durch­ setzung ihrer politischen Interessen sahen sie in der Genossenschafts­bewegung jedoch nicht. In der Auseinandersetzung um die politische Macht waren die An­­ hänger des Agrarismus zu Opfern ihrer eigenen Ideologie geworden.

2 . 2   D a s E nd e d e r G e w i s sheit 2.2.1  Inkorporation in die sowjetische Öffentlichkeit Während die Machtübernahme der Bolschewiki aus der Retrospektive vielfach als eine der größten politischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts gilt, fehlte dem Ereignis aus der Perspektive vieler Zeitgenossen jegliche Eindeutigkeit. Auch wenn sich mit dem Oktoberumsturz die Hoffnungen auf eine baldige Lösung der politischen Krise vorerst zerschlugen, stimmten die Anhänger des Agrarismus in der Auffassung überein, dass die politische Zukunft Russlands mit dem Sturz der Provisorischen Regierung bei Weitem nicht entschieden war. Vielmehr glaubten sie, dass mit ihm der Kampf um die Macht erst begann. S. N. Prokopovič hatte bereits auf dem 111 „Vozzvanie kooperativnoj gruppy … “, S. 2. Siehe auch den Aufruf zum Widerstand gegen die Bolschewiki, den der Rat der Allrussischen Genossenschaftskongresse wenige Tage später ver­ öffentlichte. [Sovet Vserossijskich Kooperativnych S-ezdov,] Ko vsem kooperatoram. 112 Chižnjakov, Istorija, S. 36f.; „Učastie kooperacii v političeskoj žizni ….“, S. 17 – 20.

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Allrussischen Genossenschaftskongress Anfang September die Befürchtung geäußert, dass eine Machtübernahme der Bolschewiki das Land in einen Bürgerkrieg stürzen werde.113 Kurz nach dem Oktoberumsturz schrieb A. V. Čajanov an seinen Freund N. P. Makarov: „So, wie ich im Oktober behauptet habe, dass die Bolschewiki die Macht übernehmen würden, so behaupte ich jetzt, dass sie oder eine bolschewistisch gestimmte Regierung sich einige Monate halten wird. Danach wird diese Regierung natürlich stürzen, und ihr Sturz wird noch furchtbarer sein, als ihr Aufstieg. Aber das braucht eine lange Zeit, denn im Augenblick gibt es keine aktiven sozialen Kräfte, die ein Gegengewicht zu den Bolschewiki darstellen könnten.“114 Zunächst ließen die Anhänger des Agrarismus ihre politischen Strategien weitgehend unverändert. Wie in den vorangegangenen Monaten nutzten sie die agrarpolitischen Expertengremien, die auf Initiative oder mit Unterstützung der Provisorischen Regierung gegründet worden waren, um ihre Interessen öffentlich zu artikulieren. Auf diese Weise demonstrierten sie, dass sie ihr politisches Selbstverständnis aus der Februarrevolution herleiteten und im Coup der Bolschewiki keine endgültige Lösung der Machtfrage sahen. Auch wenn das „Dekret über den Boden“ eine neue Ära in der Agrarpolitik ankündigte und eine Umverteilung des landwirtschaftlichen Bodens vor der ersten Zusammenkunft der Konstituante zu befürchten war, hielten die Agrarexperten an der Überzeugung fest, die zukünftige Agrarordnung des Landes müsse auf der Grundlage wissenschaftlicher Maßstäbe erarbeitet und durch eine gewählte Volksvertretung legitimiert werden. Einen Tag nach dem Erlass des Dekrets erklärte der Rat des Zentralen Landkomitees den Versuch, die Bodenfrage vor der Zusammenkunft der Verfassunggebenden Versammlung zu lösen, für „gesetzeswidrig und ungültig“115. Nach Ansicht der im Komitee versammelten Experten musste die Politik der Bolschewiki weitere Unruhen und Willkür auf dem Dorf nach sich ziehen. Das Festhalten an den demokratischen ­Idealen der Februarrevolution erschien nun als Gebot der Stunde, und so appellierte das Zentrale Landkomitee wie in den vorangegangenen Monaten an die Vernunft und die Geduld der ländlichen Bevölkerung: „Möge die Bevölkerung in ruhiger Gewissheit die nahe Stunde erwarten, in der die Bodenfrage entschieden und der Boden auf Geheiß der Verfassunggebenden Versammlung dem werktätigen Volk übergeben wird! Mögen die Landkomitees den ihnen zugedachten großen Auftrag, die Vorbereitung der Bodenreform, weiter ausführen!“116 Auch in der Liga für Agrarreformen nahm man den Oktoberumsturz nicht zum Anlass für eine Änderung der politischen Aktionsformen. Anfang Oktober hatte 113 Osorgin, Črezvyčajnyj vserossijskij kooperativnyj s-ezd, S. 3. 114 Čajanov an Makarov, in: Čajanov, Čajanov, S. 197. 115 „Ot Glavnogo Zemel’nogo Komiteta“. 116 Ebd.

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man Vorbereitungen für eine dritte Zusammenkunft der Liga begonnen. Diese sollte vom 21. bis 23. November 1917 stattfinden, um den Mitgliedern der Konstituante, die ursprünglich einige Tage später erstmals zusammentreten sollte, die Teilnahme zu ermöglichen. Auf diese Weise, so Čajanov in einem Brief an Makarov, würde die Versammlung der Liga den Charakter eines „Vorparlaments für die Agrarfrage“ (predparlament po agrarnomu voprosu) erhalten.117 Als der Kongress der Liga in der letzten Novemberwoche tagte, herrschte Zuversicht, dass die Bolschewiki ihren Herrschaftsanspruch über kurz oder lang aufgeben müssten. Die Bedeutung landwirtschaftlicher Expertise werde daher sogar noch zunehmen: „[…] jene demokratische Macht, die früher oder später die Anarchie, die wir derzeit durchleben, ablöst, wird vor den Scherben des alten Regimes stehen und gezwungen sein, auf die eine oder andere Art eine neue Bodenordnung zu installieren.“118 Der von den Teilnehmern des Kongresses einhellig gefasste Beschluss über die Fortführung aller begonnenen Projekte zur Bodenreform war ein eindeutiges Signal. Die Mitglieder der Liga für Agrarreformen gaben sich nicht der Illusion hin, sie könnten mit den neuen Machthabern zusammenarbeiten. Dass deren politische Ziele nicht mit der Vision einer ländlichen Moderne auf der Basis von bäuerlichen Wirtschaften, Genossenschaften und lokaler Selbstverwaltung vereinbar waren, stand außer Frage. Die Liga erhielt ihre Bestimmung nun vielmehr aus der Erwartung, dass die Bolschewiki scheitern und durch eine demokratische Regierung abgelöst werden würden. Ende 1917 machten sich unter den Anhängern des Agrarismus Anzeichen eines Stimmungsumschwungs bemerkbar. Das Potential gesellschaftlichen Engagements und demokratischer Reformpolitik schien erschöpft, die Wahrscheinlichkeit einer massenhaften Erhebung gegen die Bolschewiki gering. Mutlos und enttäuscht setzte man sich mit dem Gedanken auseinander, dass der Oktoberumsturz die politische Zukunft des Landes möglicherweise doch tiefgreifender veränderte als zunächst angenommen. Ende Dezember 1917 berichtete Makarov in der Zeitschrift „Volksmacht“ (Vlast’ Naroda), wie die Bolschewiki die Tätigkeit der Landkomitees einzudämmen bzw. durch die Abordnung eigener Vertreter zu kontrollieren versuchten. Der Staat, war Makarov überzeugt, werde „von einer demagogischen und anarchistisch-­revolutionären Flut überschwemmt“. Er werde nun noch unbrauchbarer werden, als er dies während der zarischen Herrschaft gewesen sei.119 Kurz darauf schilderte der Petersburger Ökonom P. N. Peršin, Sekretär des Zentralen Land­komitees, in einem Brief an Makarov die Auflösung des Ersten Allrussischen Kongresses der Land­komitees Anfang Januar 1918. Nach Angaben Peršins hatten 117 Schreiben der Liga für Agrarreformen an Makarov [20. Oktober 1917], RGAĖ f. 766, op. 1, d. 149, l. 13. Siehe auch Čajanov, Čajanov, S. 194. 118 Čajanov, III. s-ezd, S. 2. 119 Makarov, Na poslednich pozicijach, S. 1.

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sich zu der Veranstaltung etwa 500 Delegierte eingefunden. Auf der Rednerliste standen u. a. der Statistiker Oganovskij, der Petersburger Agrarökonom Bruckus sowie Peršin selbst. Mit Ärger berichtete Peršin nun, wie der linke Sozialrevolutionär Kolegaev, zu diesem Zeitpunkt Volkskommissar für Landwirtschaft, den Verlauf des Kongresses dominiert hatte. Kolegaev habe die Vertreter der Landkomitees in das ­Smolnyj-Institut eingeladen, wo sie an einer Debatte über das „Gesetzesprojekt über die Sozialisierung des Bodens“ teilnehmen sollten: „Die mužiki sind mit offenem Herzen dorthin gegangen. Aber welch eine Überraschung: Dort hat man ihnen nicht erlaubt, ‚das Maul aufzureißen‘, sondern sie gezwungen, ohne Diskussion die Hände zu heben.“ Als die Bauern daraufhin enttäuscht zum Kongress der Landkomitees zurückkehrten, wurde dieser polizeilich aufgelöst: „Noch einer unserer Versuche wurde erfolgreich liquidiert.“120 Für Oganovskij hatte die Zusammenkunft bereits im Vorfeld ein erfolgloses Unterfangen dargestellt: „Dieser Kongress“, notierte er in seinem Tagebuch, „ist unsere letzte Hoffnung, um die Bodenreform in das richtige Fahrwasser zu bringen. Diese Hoffnung, muss man zwar gestehen, ist trügerisch: Trotzdem haben sich alle der dort Versammelten zur Teilnahme entschieden, denn es ist ja unsere bürgerliche Pflicht. Wie viele dieser ‚bürgerlichen Pflichten‘ haben wir schon auf uns geladen. Es ist an der Zeit, dass sich die Bürger der ‚freiesten Republik der Welt‘ eingestehen, dass sie hoffnungslos ruiniert sind.“121 Im Januar 1918 war auch der Agrarökonom A. A. Rybnikov völlig desillusioniert. Mutlos berichtete er seinem Freund Makarov von der Verhaftung vieler seiner Bekannter: „Ob auch ich an die Reihe komme und wann, weiß ich nicht.“122 Nach der Entmachtung der Landkomitees blieb die Liga für Agrarreformen eine der letzten Nischen zum Austausch über agrarpolitische Fragen. Peršin hatte bereits im Januar gegenüber Makarov behauptet, man müsse sich nun „vor die Liga spannen“; dort habe man große Pläne.123 Im Frühjahr 1918 folgten erste Initiativen zur Stärkung des Gremiums. Ende März berichtete Čajanov seinen Freund Makarov erfreut, die Liga für Agrarreformen werde die Schriften des Zentralen Landkomitees herausgeben und „auch sonst aufblühen“. Die allgemeine Stimmung in Moskau nannte Čajanov jedoch „verzweifelt“124. Nach der Einsicht, dass die Hoffnung auf eine von ­Bauernwirtschaften getragene Agrarentwicklung vorerst begraben war, unternahmen die Anhänger des Agrarismus sogar Maßnahmen, um ihre Ideen für zukünftige Generationen zu ­fixieren. In seiner Funktion als Vorsitzender des Organisationskomitees der Liga forderte ­Čajanov Makarov auf, er möge seine Erinnerungen 120 121 122 123 124

Peršin an Makarov [21. Januar 1918], RGAĖ f. 766, op. 1, d. 145, l. 1. Oganovskij, Dnevnik, S. 169f. Rybnikov an Makarov [9. Januar 1918], RGAĖ f. 766, op. 1, d. 147, l. 14. Peršin an Makarov [21. Januar 1918], RGAĖ f. 766, op. 1, d. 145, l. 1. Čajanov an Makarov [16./29. März 1918], in: Čajanov, Čajanov, S. 197f.

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und Eindrücke über die Geschichte der russischen Agrarbewegung niederschreiben: „Wir wenden uns mit dieser Bitte an Sie, weil das von uns Erlebte, wenn es nicht auf Papier festgehalten wird, schnell aus dem Gedächtnis verschwindet. Ohne die persönlichen Eindrücke von Teilnehmern werden unsere Archivunterlagen die Hälfte ihrer Bedeutung verlieren.“125 Obwohl sie die Herrschaft der Bolschewiki mit dem vorläufigen Ende ihres Programms zur Modernisierung des ländlichen Russlands gleichsetzten, waren die Anhänger des Agrarismus nicht bereit, sich aus der öffentlichen Debatte zurückzuziehen. Anfang Mai 1918 berichtete Čajanov Makarov von der Reorganisation der Zeitschrift „Landsache“ (Zemel’noe delo), die bis dahin von der Allrussischen Vereinigung der Landvermesser herausgegeben worden war. An der Zeitschrift sollten künftig auch die Liga für Agrarreformen sowie eine Kommission der Moskauer Landwirtschaftlichen Gesellschaft mitwirken. Nachdem bereits Peršin, Čajanov und Oganovskij ihre Zustimmung gegeben hatten, wurde auch Makarov in das Redaktionskollegium eingeladen.126 In den folgenden Monaten entwickelte sich das neue Publikationsorgan der Liga für Agrarreformen zu einer Plattform für die kritische Auseinandersetzung mit der Agrarpolitik der Bolschewiki. An der Herausgabe der Zeitschrift beteiligten sich zahlreiche Vertreter des Agrar- und Genossenschaftsdiskurses der Vorjahre: der Politiker S. L. Maslov sowie die Agrarwissenschaftler und Ökonomen A. N. Minin, A. F. Fortunatov, V. I. Anisimov, B. D. Bruckus, N. A. Kablukov, A. A. Kaufman, Z. S. Kacenelenbaum, N. D. Kondrat’ev, A. P. Levickij, P. P. Maslov, A. A. Rybnikov, M. I. Tugan-Baranovskij und A. N. Čelincev. Die größte Aufmerksamkeit der Autoren galt dem „Gesetz über die Sozialisierung des Bodens“, das die endgültige Abschaffung privaten Bodenbesitzes regeln sollte. Das Gesetz, monierte der Statistiker und Ökonom Kaufman auf den Seiten der Zeitschrift, sei „kein ernsthafter gesetzgeberischer Akt, den man ernsthaft kritisieren könnte; es [sei] nicht die Frucht irgendeiner […] prinzipiellen Position oder kreativen Denkens. Es [sei] einfach ein hervorragender Schachzug im Kampf um die Stimmen der Bauern, im Kampf um die Unterstützung durch die bäuerlichen Massen, in dem sich unsere extremen linken Parteien schon seit mehr als zehn Jahren üben […].“127 Makarov nannte die Sozialisierung des Bodens eine staatlich sanktionierte „schwarze Umteilung“.128 Maslov war überzeugt, die ­Bolschewiki hätten mit ihrer Bodengesetzgebung das Chaos auf dem Dorf nur verstärkt und die „will­kürliche Rechtsetzung“ befördert. Die entschädigungslose Enteignung von Landbesitzern musste seiner Auffassung 125 Leitung der Liga für Agrarreformen an Makarov [4. April 1918], RGAĖ f. 766, op. 1, d. 149, l. 14. 126 Redaktion der Zeitschrift „Zemel’noe Delo“ an Makarov [8. April 1918], RGAĖ f. 766, op. 1, d. 149, l. 15. 127 Kaufman, O socializacii zemli, S. 2. 128 Makarov, Kritiki žizni.

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nach bürgerkriegsähnliche Zustände hervorrufen.129 Čajanov wies die Politik der Bolschewiki, die den Bauern zwar Land versprach, jedoch keine Maßnahmen zu einer technischen Modernisierung der Landwirtschaft unternahm, auf den Seiten der Zeitung als „ungeheuren staatlichen Hohn“ (črezvyčajnoe gosudarstvennoe izdevatel’stvo) zurück.130 Wie die meisten Plattformen der vorrevolutionären Öffentlichkeit wurden auch die Organe des Agrarismus nach dem Oktoberumsturz in die Hierarchien des Zentral­ staats eingegliedert und durch Partei- und Sicherheitsorgane kontrolliert.131 Am 10. September 1918 beschloss das Kollegium des Narkomzem, man müsse sich gegenüber dem Präsidium des Zentralen Exekutivkomitees (CIK) für die Auflösung der Liga für Agrarreformen und ihres Organs „Landsache“ einsetzen. Die Mitglieder der Liga sollten darüber hinaus gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden.132 Allem Anschein nach wurde die Liga für Agrarreformen aber nicht aufgelöst, sondern formal in die Strukturen der bolschewistischen Bürokratie inkorporiert. 1921 existierte in der Abteilung für Agrarökonomie und -statistik des Narkomzem eine gleichnamige wissenschaftliche Gesellschaft. Ihr Vorsitzender war A. V. Čajanov.133 Ein ähnliches Schicksal ereilte die Moskauer Landwirtschaftliche Gesellschaft. Im Oktober 1918 veranlasste das Kollegium des Narkomzem eine Überprüfung der Gesellschaft und die Nationalisierung ihres Vermögens.134 Die Gesellschaft, die damals unter der Leitung von A. I. Ugrimov stand, war nun von den finanziellen Zuwendungen zentralstaatlicher Behörden abhängig. Im Verlauf des Jahres 1918 bemühte sich das der Gesellschaft angehörende Komitee zur Verbreitung landwirtschaftlicher Kenntnisse regelmäßig um die Zuweisung staatlicher Mittel. In einer Aufstellung über die geplanten Ausgaben des Gremiums für das Jahr 1919 hieß es, dass im Unterschied zur zarischen Regierung, die eine finanzielle Unterstützung der Gesellschaft immer strikt abgelehnt hätte, „die neue Macht“ den Anliegen des Komitees entgegenkomme. Die Volkskommissariate für Landwirtschaft, Bildung und Sozialwesen zwängen das Gremium jedoch, seine Tätigkeit auf die staat­ lichen Vorgaben abzustimmen.135 In seiner Sitzung vom 13. Februar 1919 lehnte 129 Maslov, Zemel’naja reforma. 130 Čajanov, Skol’ko budet stoit’ agrarnaja reforma, S. 2. 131 Andrews, Science, Kap. 3; Il’ina, Obščestvennye organizacii, S. 59 – 69. Zur Situation von Genossen­ schaften und landwirtschaftsbezogenen Gesellschaften siehe Finkel, Ideological Front, S. 82 – 88. 132 Protokoll der Kollegiumssitzung des Narkomzem [10. September 1918], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 26, l. 64. 133 Fragebogen zur Liga für Agrarreformen [1921], RGAĖ f. 478, op. 2, d. 29, l. 1f. 134 Protokoll der Kollegiumssitzung des Narkomzem [24. Oktober 1918], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 26, l. 86f. 135 Kostenplan des Komitees zur Verbreitung landwirtschaftlicher Bildung der Moskauer Landwirtschaftlichen Gesellschaft für das Jahr 1919, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 119, l. 98.

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das ­Kollegium des Narkomzem die Bereitstellung von Mitteln für die Moskauer Landwirtschaftliche Gesellschaft ab.136 Zwar bestand die Gesellschaft bis zum Ende der 1920er Jahre fort. Wie die überwiegende Zahl der Vereine und Gesellschaften war jedoch auch sie von der zunehmenden Kontrolle öffentlicher Räume durch Partei- und Staatsorgane betroffen. So trug sie zwar zur Übernahme einiger Traditionen der vorrevolutionären Öffentlichkeit bei. Ihre Bedeutung als politische Plattform büßte sie jedoch zunehmend ein.137 Die Neutralisierung des Agrarismus nach dem Oktoberumsturz spiegelte sich auch in der Situation der Genossenschaftsbewegung. Ähnlich wie in den agrarpolitischen Expertenkommissionen hielt man in den Leitungsgremien der Bewegung an den erprobten Formen öffentlichen Handels fest. Unter der Leitung V. I. Anisimovs gelang Anfang Februar 1918 die Einberufung eines außerordentlichen Genossenschaftskongresses. Die Delegierten bekannten sich zur Unabhängigkeit der Genossenschaftsbewegung und artikulierten mit der einhelligen Verurteilung jeglicher Versuche zur Nationalisierung oder Sozialisierung von genossenschaft­lichem Vermögen ihre Ablehnung gegenüber den Bolschewiki.138 Auch wenn zahlreiche Regionalverbände aufgrund schlechter Verkehrsverbindungen auf dem Kongress nicht vertreten waren, war die genossenschaftliche Selbstdarstellung betont zuversichtlich. Der Vorsitzende des Zentralverbandes der ­Konsumgenossenschaften A. M. Berkengejm gab sich optimistisch: „Wir werden in Russland viel zu sehr gebraucht, wir sind viel zu unersetzlich, eine viel zu grundlegende Voraussetzung für das Fortbestehen des russischen Lebens, als dass wir uns um unsere unmittelbare Zukunft sorgen müssten.“139 Tatsächlich war die Integration der genossenschaftlichen Zentralorgane in die Strukturen des neuen Staates bereits im Gange. Im Januar 1918 hatte Lenin ein Gesetzesprojekt vorgestellt, das die Mitgliedschaft der gesamten Bevölkerung in den zu verstaatlichenden Konsumgenossenschaften und deren Eingliederung in ein zentrales Versorgungssystem vorsah. Der Allrussische Genossenschaftskongress bezeichnete das Vorhaben als ein für die ­Genossenschaften „tödliches [Projekt]“140, konnte die Order jedoch nicht verhindern. Das im April verabschiedete Dekret über die Konsumgenossenschaften (Dekret o kooperativnych potrebitel’nych obščestvach) schränkte die Handlungsmöglich­keiten von Genossen­schaftlern empfindlich ein. 136 Protokoll der Kollegiumssitzung des Narkomzem [13. Februar 1919], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 250, l. 15. 137 Die Moskauer Landwirtschaftliche Gesellschaft bestand offiziell bis in das Jahr 1929, als sie wie zahlreiche andere Gesellschaften aufgelöst wurde. Il’ina, Obščestvennye organizacii, S. 82 – 95. 138 Vgl. die Resolution des Kongresses zum Projekt über die Verbrauchskommunen in Izvestija Vserossijskich Kooperativnych S-ezdov 2 (1918) 3, S. 5f. 139 Vortrag A. M. Berkengejms auf dem Allrussischen Genossenschaftskongress, RGAĖ f. 533, op. 1, d. 4, l. 18. 140 Izvestija Vserossijskich Kooperativnych S-ezdov (1918) 3, S. 5.

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Zwar hatte man von der ursprünglich beabsichtigten obligatorischen Mitgliedschaft Abstand genommen.141 Das Dekret schuf jedoch einen künstlichen Anreiz zum Beitritt in Konsumverbände, indem es deren Mitgliedern Steuererleichterungen zusagte. Zugleich unterstellte es die Kooperative der Zuständigkeit der Volkskommissariats für Versorgungswesen und des Obersten Volkswirtschaftssrats, die fortan für die Zuweisung von Lebensmitteln und industriell gefertigten Konsumgütern sowie die Aufstellung von Verteilungsnormen verantwortlich waren.142 Die Konsumgenossenschaften, einst gegründet als freiwillige Zusammenschlüsse von Konsumenten zur gemeinsamen Beschaffung von Verbrauchsgütern oder Produktionsmitteln, wurden so zu einem Instrument der bolschewistischen „Versorgungsdiktatur“.143 Angesichts der zunehmenden Regulierung der Märkte bemühten sich die Protagonisten der Genossenschaftsbewegung um verbindliche Garantien s­ eitens der neuen Machthaber. Im März 1918 einigte sich der Rat der Allrussischen Genossenschaftskongresse auf die Entsendung eigener Vertreter in alle staatlichen Ausschüsse, deren Tätigkeit die Interessen der Genossenschaften direkt berührte.144 Fortan vertrat zunächst V. V. Chižnjakov und anschließend A. N. Minin die Genossenschaften in der Genossenschaftsabteilung des VSNCh. A. V. Čajanov und A. N. Minin wurden in das 1918 eingerichtete Zentralkomitee für Düngemittel des Volkswirtschaftsrats entsandt. V. I. Anisimov war Genossenschaftsvertreter im Wirtschaftskomitee des Bezirks Moskau.145 Zwar gelang es in Einzelfällen, offizielle Stellungnahmen gegen die unrechtmäßigen Verhaftungen, Durchsuchungen und Konfiszierungen zu erwirken, denen eine wachsende Zahl von Genossenschaften ausgesetzt war. Es fehlte den Genossenschaftsvertretern jedoch an Einfluss, um die Durchsetzung der entsprechenden Richtlinien gegenüber Polizeibeamten oder Parteivertretern in der Provinz einzufordern. Auf Initiative des Rats der Allrussischen Genossenschaftsverbände verbot der Oberste Volkswirtschaftsrat am 12. April zwar die Verfolgung von Genossenschaften.146 In den folgenden Monaten berichtete das Zentralgremium der Genossenschaftsbewegung jedoch weiterhin von der zum Teil gewaltsamen Behinderung lokaler Genossenschaften durch Partei- oder Staatsvertreter.147 Auch im folgenden Jahr blieb die Situation unverändert. Im Oktober 1919 wandte sich

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Kabanov, Kooperacija, S. 83f. Bilimovič, Kooperacija, S. 98; Veselov, Cooperative Movement, S. 56. Zum Konzept und zur Etablierung der „Versorgungsdiktatur“ siehe Lih, Bread, S. 126 – 137. Siehe das Protokoll zur Sitzung des Rats vom 16. März 1918: Izvestija Vserossijskich Kooperativnych S-ezdov (1918) 4, S. 6f. Zur schwierigen Lage der Genossenschaften siehe ebd., S. 1 – 3. 145 [Sovet Vserossijskich Kooperativnych S-ezdov,] Dejatel’nost’ Soveta, S. 6, 8. 146 „Presledovanija kooperacii i rasporjaženie ob ich prekraščenii“ (1), S. 27f. 147 „Presledovanija kooperacii“ (2, 3); „Dejatel’nost’ Soveta V. K. S.: Soveščanii 26-go oktjabrja pri Sovete VKS po voprosu o predstavitel’stve i zaščite interesov kooperacii“, S. 2 – 4.

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der Rat der All­russischen Genossenschaftskongresse an den Volkskommissar für Landwirtschaft, damit dieser etwas gegen die regelmäßigen Verhaftungen von Genossenschaftsmitarbeitern unternähme.148 Auch in der Wirtschaftspolitik blieb das Einflussvermögen der Genossenschaftler minimal. Als die Bolschewiki im Herbst 1918 die systematische Requirierung von Getreide zu festgesetzten Nominalpreisen (prodrazverstka) einleiteten,149 äußerten sich die Vertreter der Genossenschaftsbewegung überaus kritisch. Das Ansinnen, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Dorf und Stadt per Dekret (Dekret o vvedenii objazatel’nogo tovaroobmena v sel’skich mestnost’jach chleborodnych gubernij) zentral zu regulieren, erschien ihnen verfehlt. S. N. Prokopovič, der zwar grundsätzlich die Auffassung teilte, dass die Bauern durch ein erweitertes Angebot von Konsumartikeln zur Ausweitung und Abgabe ihrer Produktion motiviert werden müssten, glaubte, dass der staatlich regulierte Warenaustausch an dem Mangel an verfügbaren Industriewaren scheitern würde. N. D. Kondrat’ev fürchtete, dass das Dekret eine Maßnahme war, um die Genossenschaften in ein Instrument bolschewistischer Herrschaftsausübung zu verwandeln. In einem Schreiben an den VSNCh und das Narkomprod forderte der Rat der Allrussischen Genossenschaftskongresse schließlich die Aufschiebung und die Überarbeitung des Dekrets.150 Die Initiative blieb jedoch erfolglos. Das am 21. November 1918 vom Rat der Volkskommissare erlassene „Dekret über die Organisation der Versorgung“, das faktisch die Abschaffung des Privathandels vorsah, verstärkte unter den Genossenschaftsvertretern den Eindruck, dass die Wirtschaftspolitik der Bolschewiki nicht mit den Interessen der Genossenschaftsbewegung vereinbar war.151 Auf dem Gebiet der Finanzpolitik erlagen die Organe der Genossenschaftsbewegung ebenfalls dem Druck der Bolschewiki. Nachdem V. N. Zel’gejm und A. V. Čajanov in einer persönlichen Unterredung mit Lenin vergeblich versucht hatten, die Nationalisierung der Moskauer Volksbank zu verhindern, verlor die Genossenschaftsbewegung ihre wichtigste ökonomische Stütze.152 Ende 1918 befand sich die Stimmung unter den Genossenschaftsvertretern auf einem Tiefpunkt. Kondrat’ev glaubte, dass die Wirtschaftspolitik der Bolschewiki das Land auf den „ökonomischen Friedhof“ führte“153. Zugleich setzte sich die Einsicht durch, dass die Macht des Rats der Allrussischen Genossenschaftskongresse,

148 Schreiben vom Rat der Allrussischen Genossenschaftskongresse an den Volkskommissar für Landwirtschaft [8. Oktober 1919], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 301, l. 1. 149 Zur Etablierung des razverstka-Systems siehe Lih, Bread, Kap. 7; ders., Bolshevik Razverstka. 150 Izvestija Soveta Vserossijskich Kooperativnych S-ezdov Nr. 8, 1918, S. 1 – 9. 151 Izvestija Soveta Vserossijskich Kooperativnych S-ezdov Nr. 12, 1918, S. 7. 152 Izvestija Soveta Vserossijskich Kooperativnych S-ezdov Nr. 11, 1918, S. 1 – 3. 153 Izvestija Soveta Vserossijskich Kooperativnych S-ezdov Nr. 12, 1918, S. 7.

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der die Interessen der Bewegung gegenüber dem Staat vertreten sollte, marginal war. Dem Gremium war es nicht gelungen, die Rolle eines ökonomischen und ideellen Zentrums der Genossenschaftsbewegung, als das es nach der Februarrevolution gegründet worden war, einzunehmen. Ein Jahr nach dem Sturz der Provisorischen Regierung verfügte der Rat weder über Verbindungen zu den regionalen und lokalen Genossenschaftsverbänden noch über die nötige Autorität, um als Sprachrohr der gesamten Genossenschaftsbewegung auftreten zu können. Aus Sicht Čajanovs glich er einer „perfekt ausgestatteten Mühle“, in der schon das Getreide zum Mahlen bereitläge, aber das Wasser fehlte.154 In einer Broschüre über die Tätigkeit des Zentralorgans der Genossenschaften im Jahr 1918 war von tausenden Fällen die Rede, in denen Genossenschaften durch die Staatsmacht bedrängt worden waren. Das Jahr 1918, hieß es resigniert, habe „zu den schwersten und dunkelsten ­Perioden unserer gesellschaftlichen Bewegung [gezählt]“155. Trotzdem setzten die Protagonisten der Bewegung ihre Versuche zur Stärkung der Kooperativen fort. Um die mit der Nationalisierung der Moskauer Volksbank entstandene Leerstelle zu füllen, gründeten sie im Dezember 1918 die All­russische landwirtschaftliche Einkaufsgenossenschaft (Vserossijskij Zakupočnyj Sojuz Sel’sko-Chozjajstvennoj Kooperacii, kurz: Sel’skosojuz), die die Beschaffung von landwirtschaftlichen Produktionsmitteln, die Weiterverarbeitung, die Lagerung und den Transport von Agrarprodukten sowie deren Absatz regulieren sollte.156 Der zeitgleich eingerichtete Rat der vereinigten Agrargenossenschaften (Sovet Ob-edinennoj Sel’skochozjajstvennoj kooperacii, kurz: Sel’skosovet) sollte als „­ideelles Zentrum“157 des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens fungieren und sich gegenüber dem Staat für die Agrargenossenschaften einsetzen. Auf der Agenda des Sel’skosovet stand darüber hinaus die Einberufung von Genossenschaftskongressen sowie die Verbreitung landwirtschaftlicher und betriebswirtschaftlicher Kenntnisse. Wie auch im Rat der Allrussischen Genossenschaftskongresse versammelten sich im Sel’skosovet die führenden Köpfe des Agrarismus. S. L. Maslov wählte man zum Vorsitzenden. N. P. Makarov und A. N. Minin wurden Maslovs Stellvertreter.158 Zu den stimm­ berechtigten Mitgliedern des neuen Gremiums zählten außerdem A. V. Čajanov, M. N. Vonzblejn, N. D. Kondrat’ev, V. A. Perelešin, N. P. Gibner und A. I. Ugrimov.159

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Izvestija Soveta Vserossijskich Kooperativnych S-ezdov Nr. 12, 1918, S. 12. [Sovet Vserossijskich Kooperativnych S-ezdov,] Dejatel’nost’ Soveta, S. 3. Statuten des Sel’skosojuz, RGAĖ f. 7018, op. 1, d. 1, l. 1 – 19. „O zadačach našego žurnala“, S. 3. Zur Gründung und Zusammensetzung des Sel’skosovet siehe Kondrat’ev, Sovet Ob-edinennoj Sel’skochozjajstvennoj Kooperacii. 159 Schreiben einzelner Genossenschaftsverbände an den Sel’skosovet, RGAĖ f. 7018, op. 1, d. 1, l. 25, 29, 30, 31, 36; Protokolle des Sel’skosovet 1919, RGAĖ f. 7018, op. 1, d. 6.

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Kurzzeitig schien es, als sei mit der Etablierung des Sel’skosojuz eine Möglichkeit gefunden worden, um zumindest das Fortbestehen des ländlichen Genossen­ schaftswesens sicherzustellen. Čajanov war überzeugt, der Verband sei „unter einem glücklichen Stern“ geboren.160 Der Vorsitzende des neuen Gremiums Maslov glaubte, dass die Agrargenossenschaften „unter den Schlägen und dem Druck ihr feindlich gesonnener Kräfte ihre Arbeit im Dienste der werktätigen Massen Russlands [fortsetzen] und diese an neue Formen des wirtschaftlichen Lebens gewöhnen [würden]“161. Da die Genossenschaften der ständigen Gefahr ausgesetzt waren, in die Strukturen des Staatsapparats eingegliedert zu werden, sollten genossenschaftliche Zentralverbände für politische Rahmenbedingungen kämpfen, die die Unabhängigkeit der Genossenschaftsbewegung und die ökonomische „Selbsttätigkeit“ (samodejatel’nost) der Bevölkerung garantierten. Damit wiederum wurde das Anliegen der Genossenschaftler zu einem Programm politischen Wandels: „Die allgemein staatsbürgerliche Stimme (obščegraždanskij golos) der landwirtschaftlichen Genossenschaften muss sich mit dem allgemeinen Kampf für ein freies und einiges Russland und für seine Wiedergeburt verbinden. Nur in einem freien Land ist die Existenz einer unabhängigen vereinigten Genossenschaft möglich, nur in einem solchen Land ist eine volkswirtschaftliche Blüte überhaupt denkbar.“162 Die Rhetorik der Genossenschaftsvertreter hatte sich nach dem Oktoberumsturz nicht verändert. In öffentlichen Stellungnahmen präsentierten sich die Genossenschafts­ aktivisten weiterhin als Vorkämpfer von Freiheit und Demokratie. Unter den Mitgliedern des Sel’skovet herrschte Unklarheit darüber, welche Beziehungen das Gremium in die staatliche Bürokratie unterhalten sollte. Als sich Anfang Februar 1919 die Nachricht von der bevorstehenden Gründung eines Genossen­ schaftlichen Komitees im Volkskommissariat für Landwirtschaft verbreitete, plädierte Čajanov mit Nachdruck für die Entsendung von Vertretern des Sel’skosovet. N. P. Makarov stand einem solchen Schritt skeptisch gegenüber, solange der institutionelle Status des Komitees noch nicht geklärt war, während A. I. Ugrimov pessimistisch war, dass Genossenschaftsaktivisten im Narkomzem überhaupt etwas ausrichten könnten – dieses sei schließlich nicht mehr als ein „lebloser Körper“163. Trotz d­ ieser Bedenken nahmen Mitglieder des Sel’skosovet seit Juni 1919 regel­mäßig an den Sitzungen des Genossenschaftlichen Komitees teil.164 Hinsichtlich der gesellschaftlichen Rolle von Genossenschaften waren Vertreter von ­Genossenschaften 160 161 162 163 164

Čajanov, Zadači sel’skosojuza, S. 11. Maslov, Ob-edinenie sel’skochozjajstvennoj kooperacii, S. 5. Ebd., S. 9. Protokoll der Sitzung des Sel’skosovet [14. Februar 1919], RGAĖ f. 7018, op. 1, d. 6, l. 15 – 19. Sitzungsprotokolle der Genossenschaftsabteilung des Narkomzem [Juni bis August 1919], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 281, l. 11 – 16, 19, 30 – 35.

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und Narkomzem geteilter Auffassung. Während die Genossenschaftsvertreter die Einrichtung eines unabhängigen Genossenschaftsbüros forderten, bestand der Volkskommissar für Landwirtschaft S. P. Sereda darauf, das Genossenschaftliche Komitee der Abteilung für die Vergesellschaftung der landwirtschaftlichen Produktion (Otdel obobščestvlenija) anzugliedern. Die Leitung des Narkomzem beabsichtigte demnach, die genossenschaftlichen Strukturen für die Etablierung einer hierarchisch organisierten sozialistischen Landwirtschaft in Anspruch zu nehmen. Zum gleichen Zweck forderte Sereda die Entsendung von Narkomzem-Mitarbeitern in die Leitungsgremien lokaler Genossenschaften.165 Im Zuge von Verhandlungen über das gemeinsame Vorgehen von Narkomzem und Genossenschaften bei der Verteilung von Saatgut trat der Gegensatz deutlich hervor. Aus einem Plan über die künftige Zusammenarbeit im Bereich der Saatgutbeschaffung und -verteilung wurde die ursprüngliche Bezeichnung der Genossenschaften als „gesellschaftliche Orga­ nisationen“ (obščestvennye organizacii) herausgestrichen.166 Das im vorrevolutionären Genossenschaftsdiskurs ausgeprägte Verständnis von Genossenschaften als Foren der organisierten obščestvennost’ fand im Narkomzem offensichtlich keinen Zuspruch. Hier verstand man diese als ein Werkzeug sozialistischer Agrarpolitik. Trotz der engen Verbindungen in den Narkomzem gelang es den Vertretern der Agrargenossenschaften nicht, die Agrarpolitik in ihrem Interesse zu beeinflussen. Im Gegenteil: In den Jahren des Bürgerkriegs war Agrarpolitik vor allem Versorgungspolitik. Auch wenn das Volkskommissariat für Landwirtschaft bereits 1918 zu einer der größten Behörden Sowjetrusslands aufgestiegen war, blieb seine politische Bedeutung marginal. Die Leitlinien der staatlichen Versorgungspolitik wurden im VSNCh und im Narkomprod, das für die Lebensmittelversorgung der Roten Armee zuständig war, festgelegt. Folglich stammten auch die wichtigsten agrarpolitischen Entscheidungen in der Regel nicht aus dem Narkomzem, sondern aus einer der beiden anderen Behörden.167 Im Streit um die Zuständigkeit für die Registrierung der Agrargenossenschaften führte diese Situation sogar zu einer kurzzeitigen Interessenkoalition zwischen Narkomzem und Genossenschaftsvertretern.168 Auch in Bezug auf die zunehmende Regulierung der Lebensmittelmärkte agierten Narkomzem und Genossenschaften mitunter gemeinsam. Auf einer Versammlung des Genossen­schaftlichen Komitees am 25. Juli 1919 stimmten Genossenschaftsvertreter und die Leitung des Volkskommissariats für Landwirtschaft einhellig gegen die Ausweitung des Dekrets über den obligatorischen Warenaustausch. Die 165 166 167 168

Sitzungsprotokoll der Genossenschaftsabteilung [25. Juni 1919], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 281, l. 19. Sitzungsprotokoll der Genossenschaftsabteilung [18. Juli 1919], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 281, l. 11 – 13. Heinzen, Soviet Countryside, S. 34 – 36. Dossier über die Zusammenarbeit von VSNCh und Narkomzem in Genossenschaftsfragen, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 281, l. 17f.

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Motivationen für dieses Votum waren freilich verschieden. Während die Genossenschaftsvertreter eine Vertiefung der ökonomischen Kluft zwischen Dorf und Stadt befürchteten, hatte der Narkomzem-Vorsitzende Sereda rein pragmatische Bedenken: „Aus sozialistischer Perspektive“ werfe das Gesetz zwar keine Zweifel auf, praktisch sei es jedoch nicht umsetzbar.169 Jedoch konnten weder die Genossenschaften, die sich als Vertreter der Bauern verstanden, noch der Narkomzem, der die Interessen der Landwirtschaft gegenüber den Interessen anderer Wirtschaftsbereiche stark zu machen versuchte, die Politik des „Kriegskommunismus“ wirksam eindämmen. Im Laufe des Jahres verringerte sich die Zahl der Agrargüter, die nicht vom Dekret über den Warenaustausch erfasst wurden. Die Bauern waren gezwungen, den größten Teil ihrer Erzeugnisse an die staatlichen Beschaffungsorgane abzugeben. Das Versprechen, sie würden dafür eine Kompensation in Form von industriegefertigten Konsumgütern und Produktionsmitteln erhalten, wurde hingegen nicht eingelöst.170 In den Genossenschaftsvertretungen registrierte man diese Entwicklungen mit Sorge. Čajanov, Maslov, Makarov und Kondrat’ev hatten sich auf den Sitzungen des Sel’skosovet Anfang 1919 nachdrücklich gegen die Politik fixer Getreidepreise und für den freien Handel ausgesprochen.171 Am 25. und 26. Mai 1919 lud der Sel’skosovet Vertreter regionaler und lokaler Genossenschaftsorganisationen zu einer Versammlung ein, auf der die angereisten Gäste die Lage der Landwirtschaft in düsteren Farben schilderten. Infolge der staatlichen Beschaffungspolitik gingen die Saatflächen in vielen Regionen deutlich zurück. Bauern und Genossenschaften wirtschafteten mit verschlissenem Inventar, das sie wegen des mangelnden Angebots an Industriewaren nicht durch neues ersetzen könnten. Durch die Mobilisierung der Roten Armee sei der Viehbestand der Bauern erheblich reduziert worden, Requisitionen hätten zur massenhaften Abschlachtung des Viehs geführt. Der Vertreter des Zentralverbands der Getreidegenossenschaften machte darüber hinaus auf die Verletzung der Genossenschaftsprinzipien durch die Beschaffungsorgane des Staates aufmerksam: Vielerorts legten staatliche Vertragspartner a priori fest, welche Menge an Lebensmitteln die Genossenschaften abzuliefern hätten, oder nutzten die genossenschaftlichen Strukturen für Vorhaben, die den Interessen der Anteils­ eigner zuwiderliefen.172 Angesichts der zunehmenden Regulierung des Agrarmarkts herrschte Ende 1919 im Sel’skosovet eine ähnlich mutlose Stimmung wie ein Jahr

169 Sitzungsprotokoll der Genossenschaftsabteilung [9. September 1919], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 281, l. 35 – 37. 170 Zur Rivalität zwischen Narkomzem und Narkomprod sowie zum razverstka-System siehe P ­ atenaude, Peasants, S. 553 – 559. 171 Vgl. die Protokolle der Sitzungen des Sel’skosovet vom 18. und 25. Februar 1919, RGAĖ f. 7018, op. 1, d. 6, l. 20 – 21, l. 22 – 25. 172 Protokoll der Zusammenkunft, RGAĖ f. 7018, op. 1, d. 6, l. 44 – 58.

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zuvor im Rat der Allrussischen Genossenschaftskongresse. „Wir befinden uns“, erklärte Kondrat’ev, „auf dem Weg zum Untergang des wirtschaftlichen Lebens.“ Für den Ökonomen stellte die Ausweitung der genossenschaftlichen Propaganda in Kursen, Vorlesungen und eigenen Publikationen nun die einzigen Tätigkeits­ bereiche dar, in denen Genossenschaftsaktivisten weitgehend unbehindert agieren konnten: „Wenn man uns die ökonomische Tätigkeit mit Gewalt entzieht, müssen wir als Gegenmaßnahme die kulturelle und aufklärerische Tätigkeit ausbauen.“173 Der gesellschaftliche Handlungsspielraum der Genossenschaften wurde jedoch zusehends geringer. Am 27. Januar 1920 verabschiedete der Rat der Volks­kommissare das Dekret über die Vereinigung aller Genossenschaftstypen (Dekret ob ob-edinenii vsech vidov kooperativnych organizacij), das die Abschaffung der Kreditgenossenschaften und die Einbindung von Agrar- und Handwerksgenossenschaften in den bereits verstaatlichen Verband der Konsumgenossenschaften Centrosojuz vorsah. Im gleichen Zuge wurde die Zuständigkeit für das Genossenschaftswesen dem Zentralen Komitee für Genossenschaftsangelegenheiten des Narkomprod unterstellt.174 Das Dekret verdeutlichte ein weiteres Mal, dass die politische Führung und die Ver­ treter der Genossenschaftsbewegung gegensätzliche Auffassungen über die Funktion von Genossenschaften vertraten. Hatte die Aufgabe einer Genossenschaft nach dem Genossenschaftsgesetz vom März 1917 darin bestanden, „das materielle und geistige Wohlergehen ihrer Mitglieder […] zu fördern“175, bezeichnete das Dekret vom 27. Januar 1920 Genossenschaften als „gute[n] technische[n] Apparat für die Verwirklichung staatlicher Ziele im Bereich der Verteilung und […] bei der Herstellung von Lebensmitteln und anderen landwirtschaftlichen Gütern“176. Der Unterschied konnte deutlicher nicht sein: Während die Entwicklung der Wirtschaft für die Ver­ treter der Genossenschaftsbewegung davon abhing, ob sich Einzelpersonen freiwillig zur Kooperation entschieden, sahen die Bolschewiki in den Genossenschaften einen Hebel zur Durchsetzung staatlicher Kontrolle in Wirtschaft und Gesellschaft. Zu Beginn des Jahres 1920 schien die ländliche Moderne in weiterer Ferne als je zuvor. Das Dekret vom 27. Januar zog einen Schlussstrich unter die bisherige Geschichte der russischen Genossenschaftsbewegung. Von der Entwicklung eines unabhängigen Genossenschaftswesens, das die Protagonisten des Agrarismus immer als Voraussetzung nachhaltiger Agrarmodernisierung angesehen hatten, konnte nun keine Rede mehr sein. Darüber hinaus stand auch die bäuerliche Agrarstruktur des Lands zunehmend zur Disposition. Am Ende des Bürgerkriegs entwickelten bolschewistische 173 174 175 176

Protokoll des Sel’skosovet [30. Dezember 1919], RGAĖ f. 7018, op. 1, d. 6, l. 106 – 111. Kabanov, Kooperacija, S. 128f. [Sovet Vserossijskich Kooperativnych S-ezdov,] Sbornik, S. 3. „Dekret Soveta Narodnych Komissarov ob ob-edinenii vsech vidov kooperativnych organizacij“, S. 2.

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Wirtschaftspolitiker Pläne für die umfassende Regulierung der Landwirtschaft durch den Staat.177 Es war jedoch nicht nur die Agrarpolitik der neuen Machthaber, die die Aussichten auf die Realisierung einer ländlichen Moderne verringerte. Zwei Jahre nach dem Oktoberumsturz waren die medialen und sozialen Räume, in denen sich der Agrarismus konstituiert hatte, fast völlig verschwunden. Für seine Anhänger wurde es zu einem zunehmenden Problem, sich über ihre agrarpolitische Vision zu verstän­ digen und diese öffentlich zu kommu­nizieren. Das Dekret über die Zusammenführung der Genossenschaften zeigte, dass gerade dies im Kalkül der Bolschewiki lag. Die im gleichen Zusammenhang ausgegebene Direktive zur Auflösung des Sel’skosovet und des Rats der Allrussischen Genossenschaftskongresse richtete sich weniger gegen die Genossenschaften als unabhängige wirtschaftliche Organisationen als gegen die Sichtbarkeit der Genossen­schaftsbewegung im öffentlichen Raum. Dass diese im Namen der „werktätigen“ Bevölkerung an der Aushandlung eines neuen Gemeinwesens parti­ zipieren würde, war nun definitiv ausgeschlossen. Das Dekret war folglich nicht nur ein wichtiger wirtschaftspolitischer Markstein. Es spiegelte auch die Marginalisierung des Agrarismus als gesellschaftliche Bewegung.

2.2.2  Arrangements mit den Bolschewiki Die Jahre des Russischen Bürgerkriegs waren nicht nur eine Zeit, in der die führenden Vertreter des Agrarismus um ihre öffentliche Sichtbarkeit kämpften. Sie stellten auch eine Periode dar, in der Agrarwissenschaftler, Ökonomen und Genossen­ schaftsaktivisten trotz ihrer Kritik an den Bolschewiki die Möglichkeiten für ein Arrangement mit den neuen Machthabern ausloteten. Noch vor dem Beginn der Neuen Ökonomischen Politik im Frühjahr 1921 profitierten Anhänger des Agrarismus von dem Mangel an Verwaltungs- und Wirtschaftsspezialisten, der die Bolschewiki dazu veranlasste, beim Ausbau der staatlichen Administration auf die Expertise der „alten“ professionellen Intelligenz zurückzugreifen. Der Aufbau des sowjetischen Interventionsstaats begünstigte die soziale Aufwärtsmobilität von Vertretern der gebildeten Schichten, die vor dem Sturz des Zaren in der Verwaltungshierarchie entweder untere Positionen besetzt oder außerhalb des Staatsapparats gearbeitet hatten.178 Im Volkskommissariat für Landwirtschaft zeigte sich dieser Zusammenhang besonders deutlich. Der Bedarf an Fachkräften war hier so eklatant, dass die Leitung der Behörde im September 1918 sogar beschloss, „keinen einzigen Spezialisten aus

177 Patenaude, Peasants, S. 562 – 566; Wehner, Bauernpolitik, S. 87f. 178 Zur Beschleunigung des sozialen Wandels durch die Revolution siehe Rowney, Transition, S. 106 – 118; Bailes, Technology, Kap. 1, 2.

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dem Dienst des Narkomzem zu entlassen“179. Zugleich begann der Narkomzem mit der gezielten Anwerbung von Agrarexperten. Bis zum Ende der 1920er Jahre zählte ein verhältnismäßig großer Anteil der Belegschaft zu den sog. „fremden“ (čužye), d. h. parteilosen Spezialisten.180 Neben neuen beruflichen Perspektiven eröffnete diese Situation den An­­hängern des Agrarismus die Möglichkeit, sich am Aufbau des neuen Staatswesens zu betei­ ligen. Mitunter gelang es ihnen, das von den Behörden entgegengebrachte Vertrauen zur Durchsetzung eigener Vorhaben zu nutzen. Als Vertreter des „Büros zum Schutz für landwirtschaftliches Versuchswesen“ wurden A. G. Dojarenko, damals Professor an der Moskauer Petrovka-Akademie, A. P. Levickij, Leiter der landwirtschaftlichen Versuchsstation des Moskauer Gebiets, und V. P. Kočetkov, langjähriges Mitglied der Gesellschaft zur Verbreitung landwirtschaftlicher Kenntnisse im Volke, schon im August 1918 regelmäßig zu Konsultationsgesprächen in den Narkomzem eingeladen. Das Interesse an dieser Zusammenarbeit war beidseitig. Gleich nach der Gründung des Büros im März 1918 hatte dieses in Aussicht gestellt, einen Ver­ treter des Narkomzem in seine Reihen aufzunehmen, und dem Volkskommissariat seine beratende Unterstützung angeboten. Im Gegenzug hatte das Büro finanzielle Zuwendungen für den Ausbau seiner Tätigkeit gefordert.181 Die Strategie ging auf. Nach der Gründung einer Abteilung für Versuchswesen am Narkomzem Anfang 1919 wurde das von Dojarenko und Levickij geleitete „Büro für landwirtschaft­ liches Versuchswesen“, das inzwischen vollends aus Staatsmitteln finanziert wurde, in einschlägigen Fragen des Versuchswesens zum ständigen Kooperationspartner des Narkomzem.182 Für die vorrevolutionären Experten gestaltete sich die Zusammenarbeit durchaus vorteilhaft. Zwar übernahm der Narkomzem im Februar 1919 die administrative Kontrolle über das landwirtschaftliche Versuchswesen. Über dessen konkrete Entwicklung entschieden jedoch die Spezialisten um Dojarenko, die nun zu unverzichtbaren Beratern der neuen bürokratischen Elite avancierten.183 Aus der Sicht der bolschewistischen Führung stellte die Dominanz der parteilosen und überwiegend nichtmarxistischen Spezialisten zunächst kein Problem dar. Im Oktober 1920 konstatierte eine Revisionskommission der Arbeiter-Bauern-­Inspektion,

179 Protokoll der Kollegiumssitzung vom 10. September 1918, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 26, l. 64. 180 Heinzen, “Alien” Personnel. 181 Bericht über eine Versammlung von Vertretern des landwirtschaftlichen Versuchswesens [1918], RGAĖ f. 478, op. 5. d. 2, l. 32 – 33. 182 Materialien über die Abteilung für landwirtschaftliches Versuchswesen des Narkomzem, GARF R-4085, op. 9a, d. 35, l. 7, 10. 183 Zum landwirtschaftlichen Versuchswesen nach der Revolution siehe Elina, Ot carskich sadov, Bd. 2, Kap. 4 und 5.

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dass es sowohl unter den Mitarbeitern der Abteilung für Versuchswesen und des Büros für Versuchswesen „Personen mit Hochschulbildung und von hohem wissenschaftlichen Rang [gebe], die ihrer Tätigkeit tief ergeben sind“. Bekannt für ihre meist rigorosen Vorschläge zur Personalkürzung an sowje­tischen Institutionen schlug die Kommission im Fall beider Einrichtungen für das landwirtschaftliche Versuchswesen sogar die Ausweitung des Personal­bestandes vor.184 Der Umstand, dass in beiden Gremien Experten dominierten, die ihre beruf­liche Karriere im späten Zarenreich begonnen hatten und bekennende Anhänger der Provisorischen Regierung gewesen waren, hat ihrer posi­tiven Begutachtung demnach nicht geschadet. Im Vordergrund stand stattdessen der ­wissenschaftlich-technische Sachverstand der Mitarbeiter. Mit ihrer frühen Entscheidung für die Mitarbeit im sowjetischen Staatsdienst bildeten Dojarenko und Levickij keine Ausnahme. 1920 wurde A. I. Ugrimov Mitarbeiter im Stab des Staatsplans zur Elektrifizierung Russlands (GOĖLRO). Ugrimov war ein typischer Vertreter der vorrevolutionären obščestvennost’. Nachdem er zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Landwirtschaftsstudium in Deutschland absolviert hatte, wurde er kurz vor dem Ersten Weltkrieg Dozent an der Moskauer Šanjavskij-Universität. Er übernahm außerdem die Leitung der Moskauer Landwirtschaftlichen Gesellschaft, die er bis zu seiner Ausweisung aus Sowjetrussland im Jahr 1922 innehaben sollte.185 Auch A. V. Čajanov, nach dem Oktoberumsturz ein erklärter Kritiker der Bolschewiki, stand bereits vor dem Beginn der Neuen Ökonomischen Politik regelmäßig in Kontakt mit sowjetischen Behörden. Zwar sollte Čajanov erst 1921 fester Mitarbeiter des Volkskommissariats für Landwirtschaft werden. Die Behörde betraute ihn jedoch schon in den Jahren des Bürgerkriegs mit kleineren Forschungs- und Beratungsaufträgen. 1920 führte Čajanov für den Narkomzem Untersuchungen über die landwirtschaft­lichen Erträge von Bauernwirtschaften durch, zu denen er auch seine Kollegen N. D. Kondrat’ev und L. N. Litošenko heranzog.186 Čajanovs Tätigkeit beschränkte sich jedoch nicht auf Fragen der bäuerlichen Landwirtschaft. Als die Vergesellschaftung der Agrarproduktion in den Jahren des Bürgerkriegs kurzzeitig auf die agrarpolitische Agenda rückte, setzte sich der Ökonom mit den Perspektiven einer staatlich regulierten Landwirtschaft auseinander.187 Im September 1920 hielt Čajanov im Kollegium des Volkskommissariats einen Vortrag über die Aufgaben und Methoden der Rechnungsführung in Sowchosen, der unter den Anwesenden auf allgemeine Zustimmung stieß.188 Auch 184 Rabkrin-Bericht über die Untersuchung der Abteilung für Versuchswesen im Narkomzem [Oktober 1920], GARF R-4085, op. 9a, d. 35, l. 21. 185 Ugrimov, Moj put’, S. 83 – 89. 186 Čajanov, Čajanov, S. 168f. 187 Siehe hierzu das Kapitel 2.3.1 „Die politische Ökonomie des Sozialismus“ in dieser Arbeit. 188 Protokoll der Kollegiumssitzung vom 22. September 1920, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 364, l. 45.

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der Moskauer Ökonom L. B. Kafengauz entschied sich sehr früh für eine Laufbahn in sowjetrussischen Behörden. Kafengauz war ein leidenschaftlicher Befürworter der Februarrevolution. Nach der Ernennung S. N. Prokopovičs zum Minister für Handel und Industrie im Juli 1917 hatte er das Amt des Stellvertreters übernommen und dieses auch nach dem Wechsel Prokopovičs in das Versorgungsministerium behalten. Die Machtübernahme der Bolschewiki hatte für Kafengauz in zweifacher Hinsicht negative Folgen. Sie markierte nicht nur das Ende einer politischen Vision, sondern auch einen tiefen Einschnitt in seiner beruflichen Karriere. Kafengauz fand sich jedoch schnell in den neuen Verhältnissen zurecht. Kurz nach dem Sturz der Provisorischen Regierung legte er seine Mitgliedschaft in der Partei der Menschewiki nieder. Im Jahr 1919 übernahm er eine Tätigkeit im Obersten Volkswirtschaftsrat. 1923 ernannte man ihn dann zum Leiter der Statistischen Abteilung des VSNCh.189 Während der Mangel an Spezialisten zwar erklären kann, warum der bolschewistische Staat parteilosen Experten berufliche Perspektiven bot, liefert er noch keine Antwort auf die Frage, welche Motive diese dazu bewegten, den neuen Macht­habern ihre Sachkenntnis zur Verfügung zu stellen. Angesichts der vehementen Kritik, mit der viele von ihnen auf den Sturz der Provisorischen Regierung reagiert hatten, scheint die Annahme einer ideologischen Kehrtwende sehr unplausibel. Zumindest für Kafengauz lässt sie sich mit einiger Sicherheit ausschließen. Zwar hatte der Ökonom nach Angaben seines Sohnes 1919 aufgehört, offen gegen die Bolschewiki Stellung zu beziehen. Gemeinsam mit dem Ökonomen Ja. M. Bukšpan erklärte sich Kafengauz jedoch dazu bereit, im Auftrag der Moskauer Abteilung des antibolschewistischen Nationalen Zentrums ein „Programm zur ökonomischen Wiedergeburt des Landes“ für die Zeit „nach dem bolschewistischen Experiment“ zu entwerfen. In ihrem Manifest nannten die Ökonomen den Sturz der Proviso­rischen Regierung eine „innere Katastrophe“ und prangerten die Wirtschaftspolitik der Bolschewiki als eine der größten Gefahren für die ökonomische Lebensfähigkeit des Landes an.190 Im Winter 1920/21 wurde Kafengauz, der selbst kein Mitglied der Untergrund­ organisation war, verhaftet, nach einigen Wochen jedoch wieder frei­gelassen.191 Dies war wahrscheinlich kein Einzelfall. Es ist anzunehmen, dass viele der vorrevolutionären Wirtschafts- und Agrarexperten an ihrer kritischen Haltung gegenüber den Bolschewiki festhielten. Solange sie sich nicht dazu hinreißen ließen, ihren Unmut öffentlich kundzutun, war ihre Karriere im Staatsapparat jedoch nicht gefährdet. Wie der Fall Kafengauz’ bestätigt, zogen die vorrevolutionären Experten erst dann die Aufmerksamkeit der Sicherheitsorgane auf sich, wenn sie die Verhaltensregeln 189 Autobiographie L. B. Kafengauz’ [um 1935], RGAĖ f. 772, op. 1, d. 71, l. 6 – 10. 190 Bukšpan; Kafengauz, Rossija. 191 Gerasimov, Modernism, S. 195. Über diesen Vorfall berichtete auch der Sohn Kafengauz’ in seinen Erinnerungen. RGAĖ f. 772, op. 1, d. 71, l. 6 – 10.

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der sowjetischen Öffentlichkeit verletzten und das Macht­monopol der Bolschewiki durch die Etablierung einer Gegenöffentlichkeit mit eigenem Deutungsanspruch zu gefährden drohten.192 Die erfolgreiche Etablierung der vorrevolutionären obščestvenniki im Staatsapparat zeugte demnach weniger von einem beginnenden ideologischen Einvernehmen mit den Bolschewiki, als von ihrer zunehmenden Anpassung an die neuen Regeln der öffentlichen Kommunikation. Ein nicht zu unterschätzendes Motiv für die Zusammenarbeit „bürgerlicher“ Spezialisten mit den Bolschewiki war der Umstand, dass das berufliche Arrangement eine Reihe von Privilegien und Garantien mit sich brachte, die angesichts der Erosion der öffentlichen Ordnung in den ersten Jahren nach der Revolution für die Organisation des beruflichen und privaten Alltags beständig an Relevanz gewannen.193 So erinnerte sich die Tochter S. L. Maslovs, dass ihre Familie während des Bürgerkriegs vor allem deswegen nicht habe hungern müssen, weil ihrem Vater als Professor eine besondere Lebensmittelration zustand.194 Die berufliche Einbindung in die Strukturen des Staatsapparats machte sich vor allem in Hinblick auf den privaten Wohnraum bezahlt. Nachdem eine akademieinterne Versammlung zur Wohnungsfrage im April 1918 beschlossen hatte, dass das wissenschaftliche Personal der Petrovka-Akademie Wohnflächen oberhalb einer bestimmten Norm abzugeben habe, fürchteten zahlreiche Professoren die Beschränkung (uplotnenie) ihrer privaten Wohnräume.195 Im September 1918 setzte sich dann der Narkomzem für die Professoren ein und wies das Wohnraumkomitee der Akademie an, Personen, die „im Dienst des Narkomzem“ an der Petrovka-Akademie arbeiteten, von jeg­lichen Konfiszierungen ihres Wohnraums auszunehmen. Auf einer entsprechenden Liste befanden sich u. a. N. A. Kablukov und A. G. Dojarenko.196 Den betreffenden Personen selbst wurde schriftlich versichert, dass ihre Wohnung und ihr Besitz aufgrund ihrer Funktion als „verantwortliche Mitarbeiter einer sowjetischen Einrichtung“ nicht beschlagnahmt werden würden.197 Vergleichbare Privilegien kamen auch den Angestellten anderer sowjetischer Bildungseinrichtungen zugute.

192 Finkel, Ideological Front, S. 88. 193 Auf dieses Moment verweist exemplarisch Gerasimov, Modernism, S. 194f. Die Wirkung des sowjetischen Anreizsystems verdeutlicht Barbara Walker am Beispiel von Literaten, die nach dem Oktoberumsturz ein Arrangement mit den Bolschewiki fanden. Walker, Kruzhok Culture. Das ­gleiche Phänomen am Beispiel der technischen Intelligenz zeigt Bailes, Technology, Kap. 2. 194 G. S. Maslova, Erinnerungen an ihren Vater [späte 1960er Jahre], RGAĖ f. 1055, op. 1, d. 27, l. 53. 195 Protokoll einer Sitzung zur Wohnungsfrage an der Petrovka-Akademie [22. April 1919], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 101, l. 29. 196 Schreiben des Narkomzem an die Wohnungsabteilung der Akademie [25. September 1918], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 101, l. 156f. 197 Ein entsprechendes Schreiben ist in den Unterlagen Dojarenkos erhalten. RGAĖ f. 9474, op. 1, d. 217, l. 8

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Als „ausgesprochen wertvoller Dozent“ der Kommunistischen Sverdlovsk-Universität in Moskau erhielt A. V. Čajanov im Jahr 1920 die schriftliche Garantie, dass seine Wohnräume von Konfiszierungen ausgenommen seien.198 Die Anstellung in einer sowjetischen Behörde konnte sogar mit einer Freistellung vom Militärdienst einhergehen. A. G. Dojarenko wurde im März 1919 versichert, dass er dank seiner Anstellung an der Petrovka-Akademie nur mit deren Zustimmung zum Kriegsdienst eingezogen werden könne.199 Die von den Vertretern des Agrarismus artikulierte Bereitschaft zur Mitarbeit im Staatsapparat lässt sich jedoch nicht allein auf das Privilegiensystem der Bolschewiki zurückführen. Die Kooperation mit den staatlichen Behörden eröffnete den Experten den Zugang zu finanziellen und administrativen Ressourcen, die sie für die Rea­lisierung ihrer lange vor der Revolution entwickelten Vision zur Modernisierung der Landwirtschaft benötigten. Da einige von ihnen zu den anerkanntesten Vertretern ihrer Disziplinen zählten, wurden sie bei der Neugründung oder Reorganisation wissenschaftlicher Institutionen regelmäßig zu Rate gezogen. Im April 1918 beschloss der Narkomzem die Reorganisation der Saratover Landwirtschaftlichen Kurse zu einem Landwirtschaftlichen Institut. Dieser Schritt ging wesentlich auf die Intervention von A. G. Dojarenko, V. Ja. Železnov und D. N. Prjanišnikov, drei Professoren aus Moskau, zurück, die sich auf der entscheidenden Sitzung des Volkskommissariats nachdrücklich für eine Aufwertung der Einrichtung ausgesprochen hatten.200 Während dieser Erfolg zunächst nur von kurzer Dauer war, weil das Institut zu Beginn des neuen Lehrjahres der Saratover Staatlichen Hochschule angegliedert und erst im Frühling 1922 wieder den Status einer eigenständigen Bildungseinrichtung erhielt,201 erwirkten Vertreter des Agrarismus in einem anderen Fall eine längerfristige Veränderung der Bildungs- und Forschungslandschaft. Bereits im Juli 1917 hatten N. P. Makarov, K. A. Maceevič, A. A. Rybnikov, A. N. Čelincev und A. V. Čajanov die Einrichtung einer Abteilung für Agrarökonomie an der Moskauer Petrovka-Akademie in die Wege geleitet. Nachdem der Rat der Akademie im November 1918 für die Gründung eines Seminars für Agrarökonomie und -politik unter Leitung Čajanovs gestimmt hatte,202 wandte sich dieser mit der Bitte um finanzielle Unterstützung an den Narkomzem. Seine Bitte fand Gehör. Kurz nach Erhalt des Briefes wies Sereda an, den Etat der Petrovka-­Akademie

198 Schreiben der Kommunistischen Akademie an Čajanov [1920], RGAĖ f. 731, op. 1, d. 95, l. 1. 199 Bestätigung über den Status Dojarenkos an der Petrovka-Akademie [25. September 1918], RGAĖ f. 9474, op. 1, d. 217, l. 7. 200 Medvedev, Očerk. 201 Schriftwechsel zwischen dem Narkomzem und dem Staatlichen Landwirtschaftlichen Institut in Saratov im Verlauf des Jahres 1918, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 133. 202 Informationen über das Institut, RGAĖ f. 731, op. 1, d. 46, l. 1.

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für das erste Halbjahr 1919 im Umfang der geforderten Summe von 66.000 Rubel aufzustocken.203 Die Zusammenarbeit zwischen Experten und Staat beruhte auf einem beider­ seitigen pragmatischen Interesse. Die bolschewistische Elite erkannte im Fachwissen der Experten ein entscheidendes Instrument zur Ausübung politischer Macht. Die Einbindung von Agrar- und Wirtschaftswissenschaftlern in die staatliche Bürokratie versetzte die neuen Machthaber in die Lage, deren Sachverstand für administrative Zwecke zu nutzen und die Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung durch die Gewährung oder Verweigerung entsprechender Mittel zu kontrollieren. Auch für die Experten war die Kooperation von Vorteil. Mit Hilfe staatlicher Unterstützung konnten sie ihre Forschungstätigkeit fortsetzen und, wie im Falle des von Čajanov und seinen Kollegen initiierten Seminars, mitunter sogar ausweiten. Zwar ging dies mit der stillschweigenden Einwilligung einher, auf öffentliche Kritik am sowje­tischen Staat zu verzichten.204 Angesichts der zunehmenden Kontrolle der Bolschewiki über die strategischen Ressourcen des Landes stellte der Verzicht auf ein solches Arrangement jedoch keine realistische Alternative dar. Dies war umso mehr der Fall, als Vertreter der professionellen Intelligenz immer wieder verhaftet wurden. In solchen Fällen konnten persönliche Verbindungen zu hochrangigen Mitgliedern des Staats- und Parteiapparats helfen, um Strafminderungen oder Freilassungen zu erwirken.205 Auch wenn die Kooperation zwischen Experten und Bolschewiki also eher einer „Verstandes-“ denn einer „Liebesheirat“206 glich, etablierten sich in den ersten Jahren der bolschewistischen Herrschaft zwischen vorrevolutionären Experten und revolutionärer Elite relativ belastbare Beziehungen. Opportunismus und Pragmatismus erklären den bereitwilligen Eintritt der Agrar­ experten in den Staatsdienst allerdings nur zum Teil. Auch wenn die Bolschewiki ihre Herrschaft mit Einschüchterungsversuchen und Gewalt durchsetzten, hatten die Vertreter der vorrevolutionären obščestvennost’ auch positive Motive für eine Kooperation. Experten und neue Machthaber stimmten darin überein, dass Russland nach Maßgabe von Wissenschaft und Vernunft umgestaltet werden müsse.207

203 Schreiben Čajanovs vom 29. November 1919 und Bestätigung des Antrags durch Sereda, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 113, l. 29f. 204 Zur Aufgabe der intellektuellen Freiheit als Preis für persönliche Sicherheit und relative materielle Unabhängigkeit siehe Walker, Kruzhok Culture, S. 122 sowie Finkel, Ideological Front, S. 88. 205 So wurde N. D. Kondrat’ev am Beginn der bolschewistischen Herrschaft zwei Mal verhaftet und anschließend auf Intervention sowjetischer Behörden (Narkomfin und Narkomzem) vorzeitig aus der Haft entlassen. Wehner, Bauernpolitik, S. 102. Zur Protektion technischer Spezialisten siehe auch Bailes, Technology, S. 45 – 48. 206 Bailes, Technology, S. 44. 207 Nach Auffassung Hoffmanns trafen sich Bolschewiki und vorrevolutionäre intelligenty in ihrem Wunsch nach einer gesellschaftlichen Transformation und dem Anspruch, die „Massen zu

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Ähnlich wie andere Berufsgruppen sahen die Agrarexperten im Staatsapparat ein Vehikel für die Modernisierung des Landes. So deutete A. I. Ugrimov seine Tätigkeit in der ­Elektrifizierungs- und Planungsbehörde GOĖLRO rückblickend als logische Fortsetzung seiner wissenschaftlichen und beruflichen Karriere vor der Revolution. Ugrimov hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Heidelberg und Leipzig studiert und war mit dem damaligen Stand der landwirtschaftlichen Techik bestens vertraut. Noch in den 1960er Jahren, als er seine Erinnerungen aufzeichnete, war der Agronom von dem hohen Lebensstandard begeistert, den er während einer Exkursion in den Schwarzwald kennengelernt hatte: In den Dörfern brannte elektrisches Licht, und in der Landwirtschaft kamen mit Strom betriebene Maschinen zum Einsatz: „Da sah man eine so hoch entwickelte Kultur, wie man sie nicht einmal heute auf unseren Dörfern findet.“208 Die Mitarbeit im GOĖLRO, für den er gemeinsam mit seinem Bruder einen elektrisch betriebenen Pflug entwickeln sollte, war für Ugrimov nicht mit einem politischen Glaubensbekenntnis verbunden. In seinen Erinnerungen führte er vielmehr seinen Traum von einer elektrifizierten Landwirtschaft als Motiv für sein bereitwilliges Mitwirken in der ersten sowjetischen Planungsbehörde an. Zwar dürfte Ugrimov, der 1948 nach mehr als 20 Jahren in der Emigration in die Sowjetunion zurückkehrte, ein Interesse daran gehabt haben, seine frühe Begeisterung für die Bolschewiki zu demonstrieren. Da er an dieser Stelle eben nicht auf seine angeb­liche ideologische Nähe zu den neuen Machthabern, sondern auf eine technokratische Vision verwies, können seine Aufzeichnungen in diesem Punkt durchaus Glaubwürdigkeit beanspruchen. Die Aussicht, ihre Modernisierungs­agenda nun mit Hilfe des Staatsapparats voranzutreiben, machte die Zusammen­arbeit mit den Bolschewiki für die Vertreter des Agrarismus offensichtlich zu einer attraktiven Option.209 Hinter diesem Arrangement stand die positive Einstellung der professionellen Intelligenz gegenüber dem Staat als höchster gesellschaftlicher Ordnungsinstanz. Die Abwehrhaltung gegenüber der Reichsordnung, die Anhänger des Agrarismus vor der Revolution artikuliert hatten, war nie auf eine grundlegende Ablehnung staatlicher Strukturen zurückgegangen. Vielmehr war die Auffassung, Modernisierung und Wandel müssten sich im Rahmen einer staatlichen Ordnung vollziehen, wenn sie nicht im Chaos enden sollten, ein integrativer Bestandteil ihres politischen und professionellen Selbstverständnisses.210 Hinzu kam die veränderte Einstellung der

kultivieren“. Vgl. Hoffmann, Masses, S. 8. 208 Erinnerungen Ugrimovs an seine Zeit in Deutschland, RGAĖ f. 9950, op. 1, d. 11, l. 6. 209 Dies galt beileibe nicht nur für Landwirtschaftsspezialisten. Auch Vertreter technischer oder naturwissenschaftlicher Disziplinen profitierten von der bolschewistischen Machtübernahme. Vgl. Josephson et al., Environmental History, S. 64 – 68; Bailes, Technology, S. 56 – 58; Beyrau, ­Intelligenzija, S. 579. 210 Hoffmann, Masses, S. 32.

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Experten gegenüber dem Staat als einem beruflichen Tätigkeitsfeld. Nach ihrer Mitarbeit im parastaatlichen Komplex und im Apparat der Provisorischen Regierung beschränkte sich die professionelle Erfahrung vieler Agrar- und Wirtschaftswissenschaftler nicht mehr auf die Foren der obščestvennost’. In den staatlichen Behörden sahen sie nun ein legitimes Betätigungsfeld,211 das ihnen möglicherweise sogar die Umsetzung eigener Interessen erlauben könnte. Der Statistiker V. A. Pešechonov schrieb später über seinen Entschluss zur Zusammenarbeit mit den Bolschewiki: „[…] ich habe meinen Beruf als ziemlich neutral empfunden. Wenn alle Stränge reißen, dachte ich, werde ich einfach rechnen und über das, wovon sie reden, vor mich hinschmunzeln. Aber lediglich, wenn alle Stricke reißen. Im besten Fall […], dachte ich, gelingt es mir durch meine Mitarbeit im sowjetischen Dienst, Einfluss auf das russische Leben zu nehmen und nach meinen Kräften seiner Wiedergeburt zu dienen. Anders gesagt: Indem ich im sowjetischen Dienst blieb, hoffte ich, Russland zu dienen.“212 Aus der Perspektive des Statistikers bildete die Ideologie der Bolschewiki demnach kein Ausschlusskriterium für eine Zusammenarbeit. Vielmehr entdeckte er in den Strukturen des neuen Staates ein mögliches Forum für die Artikulation und die Durchsetzung eigener gesellschaftspolitischer Anliegen. Zugleich war vielen Vertretern der professionellen Intelligenz im Zuge der Revolution der Glaube abhanden gekommen, die breite Bevölkerung ließe sich in der näheren Zukunft für die Vision einer auf demokratischen Grundsätzen beruhenden Gesellschaftsordnung mobilisieren. Die monatelangen Unruhen auf dem Dorf und die ausbleibende Massenerhebung gegen den bolschewistischen Coup hatten die Hoffnungen auf eine Einbindung breiter Bevölkerungsschichten in eine landesweite ­obščestvennost’ zerstört.213 Im November 1917 beklagte sich der Genossenschafts­ aktivist A. V. Merkulov, dass von der Euphorie, die der Sturz des Zaren ausgelöst hatte, nur noch „Revolutionsstaub“ geblieben war. Die Lethargie der Bevölkerung schockierte ihn: „Wo ist unsere Organisiertheit, unser Aktionismus […]? Wo sind unsere Meetings, D ­ emonstrationen, Petitionen – ganz zu schweigen von aktiveren Formen des Kampfes? Wo ist unser Wille zur Macht? […] Bürger, wo sind wir?“214 Nach der Machtübernahme der Bolschewiki schien die Vorstellung, intelligenty und „Volk“ strebten in eine gemeinsame Richtung, überholt: „Die allgemeine Kultur der Massen und deren fehlende Vertrautheit mit der Aufgabe, ein großes gesellschaftliches

211 Stanziani betont, während des Krieges hätte sich unter den Experten ein „Staatsbewusstsein“ (­gosudarstvennost’) eingestellt. Stanziani, Spécialistes, S. 74. Ebenso Gerasimov, Modernism, S. 153. 212 Pešechonov, Počemu ja ne ėmigriroval?, S. 42. 213 Gerasimov, Modernism, S. 182 – 184. Siehe das gleiche Argument bei Holquist, Violent Russia, S. 642f. 214 Merkulov, Graždane, S. 2.

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Anliegen durchzuführen“, war nach Auf­fassung A. N. Minins der Grund dafür, dass die Zemstvos und mit ihnen die Strukturen der Sozialagronomie so einfach hatten abgeschafft werden können.215 „Das russische Volk“, konstatierte A. V. Čajanov 1918 resigniert, „ist nur ein Demos – eine dunkle Menschenmasse –, obwohl es eigentlich eine Demokratie sein sollte, ein Volk, das sich seiner selbst bewusst ist.“216 Zwar waren führende Vertreter des Agrarismus empört, weil die neuen Machthaber die traditionellen Plattformen der o­ bščestvennost’ durch die Abschaffung der Zemstvos, die Kontrolle der Genossenschaften und die Verstärkung des Zensurwesens verdrängten. Angesichts des Phlegmatismus der ländlichen Bevölkerung hatte der „Pakt mit dem Teufel“217 jedoch einen Teil seines Schreckens eingebüßt.

2.2.3  Kollektive Irritation: der Bürgerkrieg Für die Anhänger des Agrarismus bedeutete die Machtübernahme der Bolschewiki einen Verlust der Gewissheiten, auf denen ihr professionelles und politisches Selbstverständnis bislang beruht hatte. Zum einen hatten die spontanen Landnahmen der Bauern und deren politische Gleichgültigkeit den Glauben an eine Interessen­koalition zwischen der breiten Bevölkerung und ihren selbsternannten Für­sprechern zerstört. Zum anderen machten die Herrschaftsmethoden der Bolschewiki die Hoffnungen auf eine demokratisch legitimierte politische Ordnung zunichte. Dekrete und die massenhafte Ausübung von Gewalt ließen die politischen Strategien der obščestvennost’ naiv und unzeitgemäß erscheinen. Hinzu kam, dass die poli­tischen Machtverhältnisse durch den Sturz der Provisorischen Regierung bei Weitem nicht geklärt waren. In vielen Regionen des Landes stellten Gegenregierungen oder aufständische Bauern den Herrschaftsanspruch der Bolschewiki in Frage. Der unklare Ausgang des Machtkampfes schuf eine Situation der Uneindeutigkeit, in der die Zeitgenossen in völliger Ungewissheit Entscheidungen für oder gegen die Unterstützung eines existierenden oder potenziellen Souveräns treffen mussten.218 Im Zuge des Bürgerkriegs gerieten die Vertreter des Agrarismus daher in einen Zustand der Orientierungslosigkeit. An die Stelle des Fortunatovschen Glaubens, „dass die Zukunft uns gehört“, trat die irritierte Frage, wie man am besten auf die unübersichtliche politische Lage des Landes reagieren sollte. Der Verlust der Eindeutigkeit trug zum Verschwinden des Agrarismus als gesellschaftliche Bewegung bei. Seine Anhänger agierten nun überwiegend allein und nicht 215 Minin, Perspektivy kooperativnoj agronomii, S. 9. 216 Čajanov, Obščestvennaja Agronomija, S. 101. Zitiert auch bei Gerasimov, Modernism, S. 184 und Stanziani, L’économie, S. 193. 217 Finkel, Ideological Front, S. 68. 218 Zu diesem Problem siehe Lih, Bread, S. 3f.

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unbedingt in Absprache mit den bisherigen Freunden und Kollegen. Weit verbreitet war der Versuch, den neuen Machthabern innerhalb der Grenzen des ehe­maligen Zarenreichs zu entgehen. A. A. Manujlov, ehemaliger Rektor der Moskauer Universität und Bildungsminister der Provisorischen Regierung, ging Ende 1917 nach Georgien und nahm eine Professorenstelle am neu gegründeten Polytech­nikum in Tiflis an. Wie lang sich Manujlov in Tiflis aufhielt, lässt sich nicht zweifels­frei rekonstruieren. Entgegen der Behauptung, er sei bereits kurz nach seiner Ausreise mit einem Kooperations­ angebot an Lenin herangetreten und im Januar 1918 nach Moskau zurückgekehrt,219 gibt es verschiedene Hinweise darauf, dass der Ökonom mehrere Jahre in Georgien lebte.220 Im Herbst 1919 gelangte auch V. F. Totomianc, einer der wichtigsten Ideo­ logen der Genossenschaftsbewegung, in die georgische Hauptstadt. Totomianc hatte zu diesem Zeitpunkt bereits einen weiten Weg hinter sich. Dank guter Verbindungen nach Deutschland hatte er 1918 eine offizielle Genehmigung für eine Reise von Moskau in die Schweiz erhalten, um dort, so stellte er die Motivation seiner Ausreise rück­ blickend dar, eine schwere Augenkrankheit zu kurieren. Nach einem kurzen Aufenthalt in Rom übernahm der Genossenschafts­propagandist im Herbst 1919 die Professur für Geschichte des ökonomischen Denkens und Genossenschaftswesen in Tiflis. In Georgien fand Totomianz ein v­ ertrautes soziales Umfeld vor. Bereits im Vorfeld hatte er regelmäßig in Verbindung zu Vertretern der georgischen Genossenschaftsbewegung gestanden. Aus seiner Zeit in Sankt Petersburg war er zudem gut mit einigen Mitgliedern der georgischen Regierung bekannt. Darüber hinaus traf Totomianc in Tiflis eine Reihe ehemaliger Universitätskollegen, die nach dem Oktoberumsturz ebenfalls aus Sowjetrussland geflohen waren, unter ihnen auch Manujlov.221 Der Agrarökonom A. N. Čelincev nahm zu Beginn des Bürgerkriegs eine abwartende Haltung ein. Čelincev hatte 1917 in verschiedenen Kommissionen der Provisorischen Regierung gearbeitet und war gemeinsam mit A. V. Čajanov zum Stellvertreter des Agrarministers ernannt worden. Kurz vor dem Oktoberumsturz hatte er sich aus der Politik in die, wie er sich selbst ausdrückte, „reine, politikfreie Wissenschaft“ (v čistuju vne politiki nauku) zurückgezogen 222 und seinen Lebensmittelpunkt nach Char’kov verlagert, wo er seine Lehr- und Forschungstätigkeit am dortigen Landwirtschaftlichen Institut wieder aufnahm.223 Die Gründe für Čelincevs abrupte Abkehr von jeglicher politischer Tätigkeit sind unklar. Obwohl er sich im

219 Političeskie dejateli Rossii, S. 204. 220 So hielt sich Manujlov nach Angaben einer in Berlin erscheinenden Emigrantenzeitschrift sogar noch nach dem Einmarsch der Roten Armee in Tiflis auf: „Sud’ba i raboty …“ (1), S. 38. 221 Totomianc, Iz moich vospominanij, S. 169 – 172; ders., 40 Jahre, S. 21 – 23. 222 Kramar, Čelincev, S. 45. 223 Das Institut war kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 von Novo-Aleksandrija nach Char’kov verlegt worden. Lebenslauf Čelincevs, RGAĖ f. 771, op. 1, d. 249, l. 4.

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Agrarministerium der Provisorischen Regierung und im Zentralen Landkomitee als führender Vertreter einer an den Interessen der „werktätigen Bauernschaft“ orientierten Agrarreform profiliert hatte, war er früh darum bemüht, sich als apolitischer Spezialist zu präsentieren, der sein Fachwissen unabhängig von der politischen Linie einer Regierung zur Verfügung stellte. Gegenüber Makarov hatte Čelincev schon im September 1917 bemerkt, er wolle seine Posten im Regierungsapparat aufgeben, um zu vermeiden, dass man seine Arbeit mit einer politischen Tätigkeit verbinde.224 Der Umstand, dass er in Char’kov über eine sichere Anstellung verfügte, erwies sich in dieser Situation als ausgesprochen vorteilhaft. Dank seiner beruflichen Kontakte befand sich Čelincev in der privilegierten Lage, die politische Entwicklung in Russland aus einer, so schien es damals, sicheren Entfernung zu verfolgen. Allem Anschein nach war auch N. P. Makarov lange unsicher, wie er sich zu der veränderten politischen Situation in Russland verhalten sollte. Im Juni 1919 beschloss die Leitung der Šanjavskij-Universität, den Dozenten Makarov auf eine einjährige Dienstreise in die Vereinigten Staaten zu entsenden. Dort sollte dieser eine Studie zur Entwicklung der nordamerikanischen Landwirtschaft anfertigen.225 Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Makarov mit seinem Besuch in den USA tatsächlich ein wissenschaftliches Anliegen verfolgte; schließlich zählte Nordamerika seit dem Beginn des Jahrhunderts zu den Regionen, für die sich Agrarexperten aus Russland besonders interessierten.226 Makarovs Reise glich jedoch eher einer Flucht vor den Bolschewiki. Der Ökonom verließ Moskau im Sommer 1919 und gelangte über Omsk, Irkutsk, Wladiwostok und Vancouver im März 1920 nach New York. Diese Route war nicht ungefährlich. Sibirien wurde damals von weißen Truppen kontrolliert, die sich angesichts des Vormarschs der Roten Armee gemeinsam mit Tausenden von Flüchtlingen nach Osten bewegten. Während seiner beschwerlichen Reise begegnete Makarov einem alten Bekannten, dem ehemaligen agrarpolitischen Berater der zarischen Regierung Andrej [Karl] A. Kofod, mit dem er seinen Weg fortsetzte.227 Ihr Fortkommen wurde durch die Dynamik des Bürgerkriegs bestimmt. Aufgrund des hohen Flüchtlingsaufkommens bewegten sich die Züge meist nur wenige Kilometer am Tag, so dass Makarov und Kofod weite Wegstrecken zu Fuß oder mit dem Pferdeschlitten zurücklegten. Um nicht der Roten Armee in die Hände zu fallen, hielten sie sich dabei meist abseits der Trasse. Kofod erinnerte sich später daran, wie Makarov aus Angst vor den herannahenden Bolschewiki um sein Leben gebangt hatte.228 Vor diesem Hintergrund lässt sich nicht ausschließen, dass Maka224 Čelincev an Makarov [25. September 1917], RGAĖ f. 766, op. 1, d. 150, l. 7. 225 Sitzung der Hochschulleitung vom 22. Mai 1919, CIAM f. 635, op. 3, d. 142, l. 17. 226 Elina, Ot carskich sadov, Bd. 2, S. 83 – 93. 227 Galas, Sud’ba, S. 47f. 228 Kofod, 50 let, S. 364 – 367.

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rov mit dem Gedanken spielte, Sowjetrussland endgültig den Rücken zu kehren. Möglicherweise wollte er die Option der Rückkehr jedoch gänzlich nicht verspielen, so dass er seiner Reise im Vorfeld einen offiziellen Vorwand gab. Einige Vertreter des Agrarismus schlossen sich einer der antibolschewistischen Bürgerkriegsparteien an. Während Čelincev in der Hoffnung auf eine politikferne Karriere als Wissenschaftler in die Ukraine zurückgekehrt war, zeigten der Ökonom M. I. Tugan-Baranovskij und der Agronom K. A. Maceevič seit 1917 hier ein reges politisches Engagement. Ihr Fall illustriert die vielfältigen, häufig situations­ abhängigen Vorstellungen individueller Zugehörigkeit im ausgehenden Zarenreich. So bildeten die Agrarexperten neben intellektuellen, professionellen oder politischen mitunter auch nationale Loyalitäten aus.229 Mit dem Aufwind, den die ukrainische Nationalbewegung durch die Veränderung der politischen Landkarte 1917 erfuhr, brachten beide ihre Sympathien für die Idee einer nationalen Autonomie der Ukraine offen zum Ausdruck. Tugan-Baranovskij und Maceevič waren in der Ukraine geboren und kehrten als begeisterte Unterstützer der Zentralrada, die bereits im Sommer 1917 von der Provisorischen Regierung als ukrainische Volksvertretung anerkannt worden war, aus Petrograd nach Kiev zurück. Noch vor dem Oktoberumsturz übernahm Tugan-Baranovskij das Amt des Finanzministers in der ukrainischen Regierung.230 Maceevič trat etwa zeitgleich das Amt des stellvertretenden Generalsekretärs für landwirtschaftliche Angelegenheiten der Rada an, erarbeitete ein Gesetz zur Agrarreform und engagierte sich als Organisator landwirtschaftlicher Genossenschaften.231 Beide gehörten außerdem zu den Ini­ tiatoren eines Genossenschaftsinstituts, das 1920 in Kiev eröffnet wurde.232 Sollten Tugan-Baranovskij und Maceevič nach dem Oktoberumsturz die Hoffnung gehegt haben, die politischen Visionen der Februarrevolution ließen sich zumindest auf nationaler Ebene realisieren, so wurde diese spätestens mit der Installierung einer deutschen Marionettenregierung unter Hetman Skoropadskij zerstört. 1918 kehrte Tugan-Baranovskij der Politik vollends den Rücken. Er übernahm eine Professur an der Universität Kiev und engagierte sich in der ukrainischen Genossenschaftsbewegung.233 Maceevič wurde nach der Abdankung Skoropadskijs und der Wieder­ herstellung der Ukrainischen Volksrepublik vorrübergehend in der Außenpolitik aktiv. Seit Ende 1918 führte er im Auftrag des Direktoriums Verhandlungen mit Vertretern der Entente. Nach einer kurzen Zeit als Außenminister wurde er 1919

229 Hierzu Gerasimov, Modernism, S. 139 – 141. 230 Milow, Ukrainische Frage, S. 29A. 231 Ebd., S. 505; Gerasimov, Modernism, S. 141f. 232 Gerasimov, Modernism, S. 189. 233 Kondrat’ev, Tugan-Baranovskij, S. 121 – 125.

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Gesandter der separatistischen Regierung S. V. Petljuras, bevor er in den frühen 1920er Jahren in die Tschechoslowakei emigrierte.234 N. P. Oganovskij ergriff während des Bürgerkriegs offen gegen die Herrschaft der Bolschewiki Partei. Als Mitglied der sozialrevolutionären Fraktion war er noch Anfang Januar 1918 bemüht, eine gemäßigte Agrarreform auf den Weg zu bringen. Hatte er zunächst an ein baldiges Ende der bolschewistischen Herrschaft geglaubt, weil sich diese lediglich auf „deklassierte Soldaten“ stütze, die nur „oberflächlich vom Bolschewismus infiziert“ seien, gestand er sich einige Monate später ein, „dass die Bolschewiki nicht nur nicht verschwunden sind, sondern anscheinend auch an Stärke gewinnen“. Trotzdem ging Oganovskij nicht davon aus, dass den neuen Machthabern eine glanzvolle Zukunft beschieden sein würde; in den meisten Gebieten Russlands sei die Bevölkerung schließlich bereits „entbolschewisiert“235. Die Einberufung einer von den Sozialrevolutionären dominierten K ­ onstituierenden Versammlung (Komuč) in Samara schien seine Hoffnungen zu bestätigen.236 Im Sommer 1918 begab sich Oganovskij über die Frontlinie des Bürgerkriegs in das Wolgagebiet. Als die Rote Armee wenig später in die Region vorrückte, floh er mit den Sozialrevolutionären nach Ufa, wo sie erfolglos versuchten, das sozialrevolutionäre Parlament wiederzubeleben.237 Am 4. November 1918 übernahm Oganovskij das Amt des stellvertretenden Agrarministers der Allrussischen Provisorischen Regierung (Vserossijskoe Vremennoe Pravitel’stvo) in Omsk.238 Auch dieses Unterfangen war jedoch nur von kurzer Dauer; die Omsker Regierung wurde bereits zwei Wochen später durch den weißen General Kolčak gestürzt. Der Bürgerkrieg raubte Oganovskij die letzten Illusionen. Ende Dezember schrieb er in einer sibirischen Genossenschaftszeitschrift: „[…] alle unsere strahlenden Träume sind in Blut und Schmutz versunken. Wir haben den Glauben an die Menschen, an die Reinheit der Ideale und Prinzipien, vor denen wir uns verneigt haben, verloren. Wie Geisteskranke pendeln wir nun zwischen dem Bolschewismus zur Rechten und dem Bolschewismus zur Linken, ohne im Stande zu sein, ein festes, stabiles demokratisches Zentrum zu finden.“239 Bitter konstatierte er, dass man sich nach der Februarrevolution nicht den Prinzipien der „wahren Volksherrschaft“ (istinnoe narodovlastie) angenähert, sondern sich dem entgegengesetzten Prinzip, „der Herrschaft einzelner Persönlichkeiten“ (vlast’ edinoličnosti) zugewandt habe. Trotz seiner Enttäuschung hielt Oganovskij

234 Milow, Ukrainische Frage, S. 207f., 505. 235 Oganovskij, Dnevnik, S. 171. 236 Hierzu Figes, Tragödie, S. 611 – 622. 237 Političeskie dejateli Rossii, S. 241f. 238 Schreiben der Provisorischen Allrussischen Regierung über die Ernennung Oganovskijs zum Stellvertretenden Agrarminister vom 13. November 1918, GARF f. 3694, op. 1, d. 4, l. 38 – 39. 239 N. P. Oganovskij, Stylye mysli [1918], GARF f. 3694, op. 1, d, 2, l. 5.

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an seiner politischen Vision fest: „Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert, in dem die Demokratie triumphiert.“240 In den geschilderten Fällen erwies sich der Versuch, der Herrschaft der Bolschewiki innerhalb der Grenzen des ehemaligen Russischen Reichs zu entgehen, nur als vorübergehende Lösung. Der Verlauf des Bürgerkrieges zwang die Anhänger des Agrarismus wiederholt dazu, sich zu den Veränderungen der politischen Verhältnisse zu positionieren. Als die Rote Armee Ende 1918 in die Ukraine vordrang, entschied sich Tugan-Baranovskij für die Emigration nach Paris, erlag jedoch auf dem Weg von Kiev nach Odessa im Januar 1919 einem Herzschlag.241 Auch ­Čelincev ergriff die Flucht vor den Bolscheweiki. 1919 lebte der Ökonom vorübergehend in Novočerkassk, einem Zentrum des antibolschewistischen Widerstands.242 1920 konnte er nach Jugoslawien fliehen. Dank der liberalen Einwanderungspolitik der jugoslawischen Regierung 243 erhielt er hier bald eine Professur für Statistik und landwirtschaftliche Organisation an der Belgrader Universität.244 Zu den Anhängern des Agrarismus, die das Gebiet des ehemaligen Russischen Reichs in den Jahren des Bürgerkriegs verließen, zählten auch die Kiever Agrarökonomen V. A. Kosinskij und A. I. Ancyferov sowie der aus Char’kov stammende Genossenschaftsaktivist I. V. Emel’janov.245 Als sich der Bürgerkrieg zugunsten der Bolschewiki wendete, entschied sich dann auch V. F. Totomianc für die Flucht ins europäische Ausland. Kurz bevor Tiflis Anfang 1921 von der Roten Armee eingenommen wurde, setzte er sich nach Italien ab.246 Zu Beginn der 1920er Jahre entschlossen sich einige Anhänger des Agrarismus zur Rückkehr in ihr Heimatland. Ähnlich wie ihre Freunde und Kollegen, die bereits 1918 oder 1919 Tätigkeiten im Staatsapparat übernommen hatten, profitierten die Bürgerkriegsflüchtlinge von dem anhaltenden Mangel an Fachkräften, die für den Ausbau des Wirtschafts- und Verwaltungsapparats vonnöten waren. Zu dieser Gruppe zählte Manujlov, der sich im Unterschied zu ­Totomianc beim Einmarsch der Roten Armee nach Tiflis nicht ins europäische Ausland absetzte. Offensichtlich stand der Ökonom in enger Verbindung mit Vertretern der sowjetischen Administration. Im Mai 1921 erklärte das Kollegium des ­Narkomzem die Mitarbeit Manujlovs in der neu gegründeten landwirtschaftlichen

240 Ebd. 241 Kondrat’ev, Tugan-Baranovskij, S. 7. 242 Galas, Sud’ba, S. 49. 243 Tesemnikov, Belgrad, S. 88 – 90. 244 Lebenslauf Čelincevs, RGAĖ f. 771, op. 1, d. 249, l. 5. 245 Zu den Schicksalen Kosinskijs, Ancyferovs und Emel’janovs siehe den Abschnitt 4.1. „Agrar­ experten in der Emigration“ in dieser Arbeit. 246 Totomianc, Iz moich vospominanij, S. 172.

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Planungs­kommission für „unverzichtbar“ und beauftragte den stellvertretenden Volkskommissar für Landwirtschaft I. A. Teodorovič, Manujlovs Rückkehr aus Tiflis in die Wege zu leiten.247 Tatsächlich traf dieser bald darauf in Moskau ein.248 Der langjährige Anhänger der Kadetten und Bildungsminister der Provisorischen Regierung gehörte bis zu seinem Tod zum festen Mitarbeiterstab des Narkomzem. Nicht einmal die offene Kooperation mit einer antibolschewistischen Regierung stand dem Wechsel in den sowjetischen Staatsapparat im Wege. Trotz seiner ausgeprägten Ablehnung der Bolschewiki schloss sich Oganovskij beim Vormarsch der Roten Armee nach Sibirien nicht dem Flüchtlingstreck nach Osten an. Stattdessen übernahm er eine Professur am 1918 gegründeten Landwirtschaftlichen Institut in Omsk und leitete die ökonomische Abteilung des sibirischen ­Verbandes der Konsumgenossenschaften. Seine Expertise verhalf Oganovskij zu einem Arrangement mit den neuen Machthabern. Nach der Einrichtung einer sibirischen Abteilung der staatlichen Planungskommission Gosplan beteiligte er sich an der Entwicklung eines Plans zur regionalen Wirtschaftsentwicklung. Im Herbst 1921 wechselte er dann in die zentrale Planungskommission des Narkomzem nach Moskau.249 Einige Zeit später kehrten auch die beiden Agrarökonomen Čelincev und Makarov nach Russland zurück. Makarov lebte seit Juli 1924, Čelincev seit Anfang 1925 wieder in Moskau.250 Die unterschiedlichen Biographieverläufe illustrieren einen ­paradoxen Zusammenhang. Obwohl die Vertreter des vorrevolutionären Agrar- und Genossenschaftsdiskurses ausnahmslos mit vehementer Kritik auf die Macht­übernahme der Bolschewiki reagierten, hatte der Oktoberumsturz keine gemeinschaftsstiftende, sondern eine vereinzelnde Wirkung. An die Stelle des frühen Zusammengehörigkeitsgefühls, das sich aus der gemeinsamen Ablehnung der zarischen Regierung und der Euphorie über deren Sturz gespeist hatte, trat nun eine allgemeine Orientierungslosigkeit. Während Ereignisse wie der Erste Weltkrieg oder die Februarrevolution zu einer Zunahme kollektiven Handelns geführt hatte, zerfiel das intellektuelle und professionelle Netzwerk, in dem die Anhänger des Agrarismus bislang agiert hatten, nach dem Machtantritt der Bolschewiki. Ausschlaggebend für die Auflösung des kollektiven Zusammenhangs der Elite war nicht nur der

247 Protokoll der Kollegiumssitzung vom 17. Mai 1921, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 473, l. 133. 248 Über diesen Wechsel berichtete auch die Emigrantenpresse. „Sud’ba i raboty …“ (1), S. 38. 249 Zur Biographie Oganovskijs siehe Lunden, Oganovskij. Eine von Rabkrin erstellte Mitarbeiterliste des Narkomzem führte Oganovskij bereits 1922 als „parteilosen Professor für Öko­nomie und Statistik“. GARF f. R-4085, op. 9a, d. 897, l. 118. Auch in Oganovskijs Fall war die ­russische Emigrantengemeinde über dessen Wechsel nach Moskau informiert: „Sud’ba i raboty …“ (2), S. 36. 250 Galas, Sud’ba, S. 115.

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Verlust vertrauter Kommunikationsplattformen infolge der Überwachung von Genossenschaften, Gesellschaften oder Zeitschriften­redaktionen, sondern auch die Erschütterung politischer und ideologischer Gewissheiten, die zuvor die Grundlage ihres gemeinsamen Handelns dargestellt hatten. Der unbestimmte Ausgang des Bürgerkriegs verstärkte die allgemeine Irritation. Die andauernde Unsicherheit führte dazu, dass viele Zeitgenossen die Entscheidung über ihre Haltung gegenüber den Bolschewiki aufschoben oder mehrfach revidierten. Zwar bestanden persönliche und berufliche Kontakte zwischen einzelnen Vertretern des Agrarismus mitunter weiterhin fort. Als öffentlich wahrnehmbare Gruppe traten sie vorerst jedoch nicht in Erscheinung.251

2 . 3   G r e n z e n d e r Ve r s t ä nd ig u ng 2.3.1  Die politische Ökonomie des Sozialismus Für die Anhänger des Agrarismus waren die Jahre des Bürgerkriegs nicht nur eine einschneidende biographische Erfahrung. Sie veränderten auch ihr intellektuelles Koordinatensystem. Angesichts der Verstaatlichung des Bankenwesens und der Industrie, erster Versuche zur Abschaffung von Märkten und Geld sowie Maß­nahmen zur Etablierung einer kollektivierten Agrarordnung vollzog sich auf dem Gebiet der theoretischen Ökonomie zu Beginn der 1920er Jahre eine bedeutende Wende: Waren (agrar-)ökonomische Probleme in den vorangegangenen Jahrzehnten im Rahmen marktwirtschaftlicher Modelle diskutiert worden, wandten sich viele Öko­nomen nun den Funktionslogiken einer markt- und geldfreien Wirtschaftsordnung zu. Zwar besaßen Debatten über die Perspektiven von Kapitalismus und Sozialismus in Russland eine lange Tradition. Anders als in den vorangegangenen Jahrzehnten gehörten die Versuche zur Realisierung einer sozialistischen Wirtschaftsordnung im Sinne eines durch den Staat und nicht durch den Markt regulierten Systems nun jedoch zum Erfahrungshorizont der Zeitgenossen. Der „Kriegskommunismus“ wurde somit zu einem entscheidenden Faktor bei der Genese einer politischen Ökonomie des Sozialismus.252 Das Thema war keinesfalls eine Domäne der Marxisten. Der von den Bolschewiki proklamierte Anspruch zur Errichtung einer sozialistischen Wirtschaft und die

251 Ebenso kommt Gerasimov zu dem Ergebnis, dass die Gemeinschaft der obščestvenniki in den ­Jahren des Bürgerkriegs zerbrach. Gerasimov, Modernism, S. 185 – 191. 252 Allg. Barnett, History, Kap. 7; Sutela, Economic Thought, S. 8 – 11. Zur bolschewistischen Wirtschaftspolitik während der Zeit des Kriegskommunismus siehe Hildermeier, Sowjetunion, S. 144 – 149.

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ökonomischen Experimente der Bürgerkriegsjahre riefen auch Ökonomen anderer intellektueller Traditionen auf den Plan. Der Aufsatz „Die Probleme der Volkswirtschaft in der sozialistischen Ordnung“, den B. D. Bruckus in den ersten drei Ausgaben der 1922 gegründeten Zeitschrift „Ėkonomist“ veröffentlichte,253 war eines der bedeutendsten Beispiele einer dezidiert nichtmarxistischen Auseinandersetzung mit dem Sozialismus. Der Aufsatz basierte auf einem Vortrag, den Bruckus erstmals im August 1920 und anschließend auf einer Reihe von geheimen Versammlungen in Petrograd und Moskau gehalten hatte.254 Zweifelsohne war die Erfahrung des „Kriegskommunismus“ für den Agrarökonomen der entscheidende Anlass, um sich dem Problem einer sozialistischen Wirtschaftsordnung zu widmen. Die Politik der Bolschewiki selbst war in Bruckus’ Aufsatz jedoch von zweit­rangiger Bedeutung. Im Mittelpunkt stand vielmehr der Versuch, den theoretischen Nachweis für die Unmöglichkeit des Sozialismus zu erbringen. Die Notwendigkeit eines solchen abstrakten Zugangs ergab sich für den Ökonomen aus dem Umstand, dass marxistische Theoretiker zwar eine ausgefeilte Kapitalismuskritik geliefert, jedoch keinerlei Überlegungen darüber angestellt hatten, ob und wie eine sozialistische Wirtschaftsordnung überhaupt funktionieren konnte. Die Bolschewiki wanderten daher „von Experiment zu Experiment“255. Für Bruckus erklärten sich die katastrophalen Folgen der bolschwistischen Wirtschaftspolitik nicht aus mangelnder Erfahrung oder der unsicheren politischen Lage, in der die neuen Machthaber den Umbau der Wirtschaft in Angriff nahmen. Das Problem läge vielmehr in der Sache selbst: Bereits beim Versuch, eine Wirtschaft ohne Märkte und Preise zu ­modellieren, zeige sich, dass eine solche die Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsprinzips, das heißt, die Übereinstimmung von Kosten und Erträgen, nicht garantiere und damit ökonomisch zum Scheitern verurteilt sei. Augenscheinlich werde dies, wenn man das kapitalistische mit dem sozialistischen Anreizsystem vergleiche. Während ein kapitalistischer Unternehmer für jede seiner Entscheidungen am Markt zur Verantwortung gezogen werde und daher um größtmögliche Effizienz bemüht sei, fehle im Sozialismus ein entsprechender Mechanismus. Hier werde das ökonomische Risiko vom einzelnen Unternehmer auf die gesamte Gesellschaft verlagert, so dass Misswirtschaft weitgehend folgenlos blieb.256 Mangelnde Anreize zur wirtschaftlichen Unternehmensführung machten nach Auffassung Bruckus’ jedoch nicht den Kern des Problems aus. Ähnlich wie der österreichische Ökonom Ludwig von Mises, der in einem Aufsatz aus dem Jahr 1920 die Realisierbarkeit einer rationalen Wirtschaftsführung in einer geldfreien 253 Bruckus, Problemy (1 – 3). 254 Dies erwähnt Bruckus in der deutschen Fassung seines Aufsatzes, die er bereits in der Emigration veröffentlichte. Bruckus [Brutzkus], Lehren des Marxismus, S. 4. 255 Bruckus, Problemy (1), S. 51. 256 Ebd., S. 52 – 54.

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Wirtschaftsordnung bestritt,257 stellte Bruckus das Problem der Wirtschaftsrechnung in den Mittelpunkt seiner Sozialismuskritik. Im Unterschied zu den Theoretikern des Marxismus, für die sich der Wert eines Gutes aus der bei der Produktion investierten Arbeitskraft ergab und somit eine feststehende Größe bildete, betrachtete Bruckus den Wert als eine Variable, die aus dem Aufeinandertreffen von Angebot und Nachfrage resultierte und im Marktpreis sichtbar wurde.258 Für Bruckus war die subjektive Natur des Werts der ausschlaggebende Grund dafür, dass sich die Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsprinzips in einer Wirtschaft ohne Märkte und Preise nicht sicherstellen ließ. Um Wirtschaftlichkeit messbar zu machen, müsse für jedes Gut festgelegt werden, welcher Wert ihm im Vergleich mit einem anderen Gut zukam. Für Bruckus waren derartige Tauschverhältnisse jedoch „bedingt und willkürlich“259. Eine verlässliche Grundlage für die Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsprinzips stellten sie aus seiner Sicht daher nicht dar. Die Errichtung einer marktfreien Ordnung erschien dem Ökonomen nicht nur deshalb abwegig, weil sie die koordinierte Festsetzung allgemein gültiger Tauschverhältnisse erforderte. Der eigentliche Irrtum lag für ihn vielmehr in der Idee, der Markt könne ohne weiteres durch einen Plan ersetzt werden. Weder glaubte Bruckus, dass sich die Bedürfnisse einer einzelnen Person, geschweige denn einer ganzen Volkswirtschaft a priori abschätzen ließen, noch hielt er es für möglich, die einzelnen volkswirtschaftlichen Sektoren in der Praxis so aufeinander abzustimmen, dass Produktion und Bedürfnisse letztlich einander entsprachen. Der Sozialis­mus, der in der Theorie Ordnung und Vernunft verkörpere, erzeuge in der Praxis nur Chaos: „Der Sozialismus kann die Volkswirtschaft in eine ‚Superanarchie‘ [superanarchija] verwandeln, in deren Vergleich der kapitalistische Staat ein Bild größter Har­monie abgibt.“260 Als erklärter Verfechter des liberalen Freiheitsgedankens führte ­Bruckus darüber hinaus ein ethisches Argument gegen den Sozialismus an. Seiner Auf­fassung nach negierte eine Planwirtschaft die Freiheit des Indivi­duums; im Sozialis­mus könne der einzelne Mensch weder über den Umfang und die Art seines Konsums noch über seinen Arbeitsplatz frei entscheiden. Er werde damit zu einem Hilfs­arbeiter der Plan­erfüllung. Sozialismus und autoritäre Staatlichkeit waren für B ­ ruckus daher zwei Seiten einer Medaille. Während Marxisten mit dem Sozialismus das Absterben des Staates verbanden, glaubte Bruckus, dass ein sozialis­ tisches System den Staat als disziplinierende Ordnung stärkte.261 Er griff damit nicht 257 von Mises, Wirtschaftsrechnung. Auf die theoretischen Übereinstimmungen zwischen Bruckus und von Mises verweist auch Kojima, Exiled Russian Economists, S. 124. 258 Bruckus, Problemy (1), S. 60 – 65. 259 Ebd., S. 55f. 260 Bruckus, Problemy (2), S. 173. 261 Bruckus, Problemy (3), S. 54 – 62.

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nur westeuropäischen und amerikanischen Theoretikern der 1930er Jahre,262 sondern auch den Soviet Studies des Kalten Krieges voraus.263 Die Erfahrung des „Kriegskommunismus“ wirkte sich auch auf die theoretische Auseinandersetzung mit den Genossenschaften aus. Angesichts der marktfeind­lichen Politik der Bolschewiki stellten Zeitgenossen die Frage, ob Genossenschaften in einer sozialistischen Wirtschaftsordnung überhaupt bestehen konnten. Für den Moskauer Agrarökonomen L. N. Litošenko war die restriktive Haltung der Bolschewiki gegenüber den Genossenschaften nur konsequent, schließlich beruhten diese auf Prinzipien, die im Widerspruch zum Ideal des Kollektivismus standen: Privateigentum und persönliches Interesse. Für den Sozialismus seien Genossenschaften daher „so etwas wie ein verhängnisvolles Geschwür“, dessen „Gift des Individualismus“ eine Gefahr für den Geist des Sozialismus darstellte.264 In seiner Kritik an der Wirtschaftspolitik der Bolschewiki stellte Litošenko die Argumente des vorrevolutionären Genossenschaftsdiskurses auf den Kopf. Die gemeinhin als Argument für die Förderung von Genossenschaften angeführte Behauptung, diese seien keine kapitalistischen Unternehmungen, beruhte seiner Auffassung nach auf einem Irrtum. Kapitalistische und nichtkapitalistische Wirtschaften müssten nicht aufgrund des Kriteriums der Lohnarbeit, sondern anhand ihrer ökonomischen Zielsetzung voneinander unterschieden werden: Während Erstere der Aneignung dienten, beschränkten sich Letztere auf die Bedarfserfüllung. In der ausschließlich auf die Subsistenz ausgerichteten Wirtschaft sah Litošenko in erster Linie ein ideologisches Konstrukt: Selbst in der bäuerlichen Landwirtschaft gäbe es nur selten Wirtschaften, deren ökonomisches Ziel sich im Ausgleich von Kosten und Erträgen erschöpfte.265 Zudem gehe die Bedeutung der Subsistenzwirtschaft mit der Zunahme von Agrargenossenschaften beständig zurück, da diese den „Aneignungsgeist“ (duch priobretatel’stva) förderten und die Bauernwirtschaften in kapitalistische Unternehmen verwandelten.266 Für Litošenko erinnerte nicht einmal die Funktionsweise von Genossenschaften an das im Diskurs der intelligencija entworfene Ideal: Das „schön klingende Attribut der Solidarität“ verdecke die kapitalistische Motivation der Genossenschaftler.267 Genau diese jedoch mache die Genossenschaften zu einem Motor wirtschaftlicher Entwicklung. Ihre Bedeutung bestand aus der Sicht L ­ itošenkos nicht darin, dass sie eine „bourgeoise Ordnung“ überwanden, sondern darin, dass sie diese stabilisierten. Die Förderung von Genossenschaften sei daher eines der 262 Vgl. van Laak, Planung, S. 316. 263 Kojima, Exiled Russian Economists, S. 127, 130. 264 Litošenko, Kooperacija, S. 190. 265 Ebd., S. 193f. 266 Ebd., S. 194. 267 Ebd., S. 195.

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sinnvollsten Instrumente zur Etablierung eines dynamischen Wirtschaftsystems, in dem kleine und mittelgroße Unternehmen dominierten.268 Während Bruckus und Litošenko Interventionismus und Planung für unvereinbar mit kleinwirtschaftlichen Strukturen hielten, legte sich Čajanovs in diesem Punkt weniger eindeutig fest. Der Ökonom ging davon aus, dass bäuerliche Agrarstruk­ turen und ein unabhängiges Genossenschaftswesen auch in einer staatlich regulierten Wirtschaftsordnung Bestand haben könnten. Den Grund hierfür sah er in der Spezifik bäuerlicher Familienwirtschaften. Aufgrund des Verzichts auf Lohnarbeit ließen sie sich nicht dem kapitalistischen Wirtschaftssystem zuordnen, angesichts ihres individualwirtschaftlichen Charakters jedoch ebenso wenig als sozialistische Wirtschaftsform einstufen.269 Bäuerliche Wirtschaften konnten nach Auffassung ­Čajanovs unter kapitalistischen, d. h. marktwirtschaftlichen, und sozialistischen Bedingungen gleichermaßen bestehen; sie verkörperten ein „drittes Prinzip“270, das sich nicht mit den abstrakten Konzepten von Kapitalismus und Sozialismus beschreiben ließ. Čajanov identifizierte am Beginn der 1920er Jahre zwei Szenarien für die weitere Entwicklung des ländlichen Russlands: die gewaltsame Einrichtung von „Brot­ fabriken“ (fabriki zerna) oder aber die Etablierung eines dualen Wirtschaftssystems mit einer staatlich gesteuerten Industrie und einer genossenschaftlich organisierten bäuerlichen Landwirtschaft. Čajanov, der dem „volkswirtschaftlichen System der kooperativen Bauernwirtschaft“271 eindeutig den Vorzug gab, ließ keinen Zweifel daran, dass eine solche Agrarordnung nur funktionieren würde, wenn der Staat die diskriminierende Genossenschaftspolitik aufgab. Čajanov lehnte staatliche Interventionen weniger kategorisch ab als seine Kollegen Bruckus und Litošenko. Seiner Meinung nach musste der Staat in der Landwirtschaft jedoch an seine Grenzen stoßen; genossenschaftliche Institutionen agierten hier deutlich erfolgreicher: „Wir nutzen die Kraft des Marktes auf ähnliche Weise, wie der Staat den Zwang nutzt. In einem kann man sicher sein: Unsere Arbeit führt nicht zu Getreideablieferungsstellen oder Lagern für Saatgut und Maschinen.“272 Für Čajanov waren Genossenschaften Elemente eines „Dritten Wegs“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Seine Vision verband die Traditionen des vorrevolutionären Genossenschaftsdiskurses mit dem ökonomischen Planungsdenken, das im russischen Wirtschaftsdiskurs seit dem Ersten Weltkrieg Konjunktur hatte. Der Ökonom war zuversichtlich, dass eine bäuerliche Agrarordnung auch unter den 268 Ebd., S. 198. 269 Čajanov, Gosudarstvennyj kollektivizm, S. 6 – 9. 270 Diesen Begriff gebrauchte Čajanov in der leicht abweichenden Manuskriptfassung des Artikels. RGAĖ f. 7018, op. 1, d. 27, l. 6. 271 Čajanov, Gosudarstvennyj kollektivizm, S. 10. 272 Ebd., S. 12.

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Bolschewiki fortbestehen könnte. Landwirtschaftliche Entwicklung hing seiner Auffassung nach von der bäuerlichen „Selbsttätigkeit“ im Rahmen von Genossenschaften ab, die ihrerseits als Schnittstelle zwischen regulierendem Staat und unabhängiger Bauernschaft fungierten. Da eine weitere Schwächung der Landwirtschaft nicht im Interesse der Regierung stehen könnte, nahm Čajanov an, dass Bauernwirtschaften und Genossenschaften das ländliche Russland auch in der Zukunft prägen würden. Die Machtübernahme der Bolschewiki musste folglich nicht automatisch das Ende des landwirtschaftlichen Entwicklungsprogramms der obščestvennost’ bedeuten. Wenn sich Genossenschaftsvertreter und staatliche Organe auf einen gemeinsamen Kurs verständigten, könnte die Vision des Agrarismus vielmehr zur Staatsräson werden: „Beim Aufbau der sowjetrussischen Volkswirtschaft müssen wir die Bauern­wirtschaft als Basis der Landwirtschaft anerkennen und uns bemühen, sie durch rationelle Organisation zu stärken. Es müssen Formen der Koexistenz von Bauernwirtschaften und den wirtschaftspolitischen Organen des Staates gefunden werden. Eine solche Form stellt die Vergenossenschaftung der Bauernwirtschaft und die Zusammenarbeit der Genossenschaftszentren mit den höheren Staatsorganen dar.“273 Čajanov war überzeugt, dass Wissenschaft und Politik auch unter der Herrschaft der Bolschewiki einander sinnvoll ergänzen konnten. Bereits im Oktober 1920 hatte der Ökonom in der Zeitschrift des VSNCh zwei Artikel über die Perspektiven einer sozialistischen Rechnungsführung auf gesamtwirtschaftlicher Ebene veröffentlicht und den Staatssozialismus als eine riesige Naturalwirtschaft entworfen.274 Kurz darauf erschien eine ausführliche Abhandlung über das Thema. Im Unterschied zu Bruckus, der in seiner theoretischen Sozialismuskritik einen mikroökonomischen Rentabilitätsbegriff benutzte, vertrat Čajanov die korporatistische Idee, wirtschaftliche Rentabilität lasse sich im Sozialismus nur auf gesamtwirtschaftlicher Ebene bestimmen: „[…] keine sowjetische Wirtschaft, keine Fabrik kann im alten Wortsinne rentabel oder unrentabel sein, ebenso wenig wie ein Pferd, eine Kuh, eine Wiese oder der Arbeiter Ivan rentabel oder unrentabel sein kann.“275 Entscheidend sei vielmehr das Ergebnis der Volkswirtschaft insgesamt. Čajanovs Sozialismuskonzept basierte auf dem Modell der bäuerlichen Familienwirtschaft, das er in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt hatte.276 So, wie die Bauernfamilie ein familiäres Wirtschaftsinteresse verfolgte, verkörperte eine sozialistische Wirtschaft die Interessen des gesamten Volkes: „Wir haben es mit einem durch den Staats­ willen organisierten Volk zu tun, das materielle und andere Güter zur Befriedigung 273 Manuskriptfassung des Artikels, RGAĖ f. 7018, op. 1, d. 27, l. 9. 274 Čajanov, Problema chozjajstvennogo učeta (1, 2). 275 Čajanov, Metody, S. 11. 276 Sutela, Economic Thought, S. 9f.

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seiner Bedürfnisse braucht.“277 Eine sozialistische Wirtschaft funktionierte demnach analog zu einer Bauernwirtschaft: Während der Arbeitsaufwand in einer Bauernwirtschaft auf die Konsumansprüche der Familienangehörigen abgestimmt werde, strebte ein sozialistisches Wirtschaftssystem den Ausgleich von Bedürfnissen und Produktion auf gesamtgesellschaftlicher Ebene an. Eine sozialistische Volkswirtschaft, definierte der Ökonom, sei eine „kolossale naturalwirtschaftliche, werktätige Bedarfswirtschaft“ (kolossal’noe natural’noe potrebitel’skoe trudovoe chozjajstvo).278 Die Implikationen seines Sozialismusverständnisses illustrierte Čajanov in einem 1920 veröffentlichten utopischen Roman. Im „Land der bäuerlichen Utopie“ war die Landwirtschaft bäuerlich geprägt, ihr Entwicklungsstand dem des frühen 20. Jahrhunderts jedoch sowohl organisatorisch als auch technologisch weit überlegen. Die Bauern lebten und wirtschafteten in familiären Betrieben. Sie verfügten über privaten Bodenbesitz, orientierten sich am Kenntnisstand der Agrar- und Naturwissen­ schaften und nutzten die organisatorischen Vorteile von Genossenschaften. Obwohl sie Teile ihrer Produktion, des Einkaufs oder des Absatzes an Genossenschaften ab­gaben, blieben sie ökonomisch eigenständig.279 Die gesellschaftliche und poli­ tische Ordnung war das Resultat eines innenpolitischen Machtkampfes zwischen den kommunistischen Visionären einer städtischen und den Fürsprechern einer ländlichen Moderne. Nach dem Scheitern der Kommunisten wurde Čajanovs utopischer Staat von einer bäuerlichen Regierung geführt. Diese hatte ein progressives Steuer­system eingeführt, durch wissenschaftliche Politikberatung eine hocheffiziente „werktätige“ Agrarpoduktion etabliert und die qualitativen Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Lebenswelten aufgehoben. Nach einem Dekret über die Vernichtung aller Städte mit mehr als 20.000 Einwohnern lebte die Masse der Bevölkerung in wohlhabenden ländlichen Siedlungen, während Städte nur noch als kulturelle und administrative Zentren existierten. Sie waren „Knotenpunkte eines allgemeinen Landlebens“, aber keine Räume, an denen sich soziale Probleme ballten.280 Dieser dezentralen räumlichen Organisationsstruktur entsprach die geringe Konzentration von Einfluss und Macht. In Čajanovs Utopie beschränkte sich die Tätigkeit des Zentral­staats auf einige geringfügige administrative Aufgaben. Das gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Leben wurde hingegen von lokalen und regionalen Selbstverwaltungen, Gesellschaften, Kongressen und Genossenschaften gestaltet.281

277 Čajanov, Metody, S. 13. 278 Ebd., S. 13. 279 Tschajanow, Reise, S. 50 – 53. 280 Ebd., S. 34 – 39, Zitat S. 39. 281 Ebd., S. 64 – 70.

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Čajanovs „Land der bäuerlichen Utopie“ war ein Gegenentwurf zum bolschewistischen Projekt der urbanen Moderne.282 Der Roman verkörperte den von den Vertretern des Agrarismus formulierten Traum, bäuerliche Lebensformen, Wissen, Technik und Kultur miteinander zu verbinden. Zugleich tradierte er die Idee eines sich „von unten“ entwickelnden Gemeinwesens, wie sie im Diskurs der vorrevolutionären intelligencija entworfen worden war. Čajanovs Vision einer landesweiten obščestvennost’ beinhaltete eine unverkennbare Kritik an der Herrschaftspraxis der Bolschewiki, die die öffentlichen Foren und medialen Plattformen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit kontinuierlich einschränkten. Dass seine Utopie bei den Machthabern nicht auf Gegenliebe stoßen würde, war Čajanov deutlich bewusst. In einem Brief, den er im August 1922 an E. D. Kuskova richtete, bat er diese, sie möge sein Pseudonym „nicht allzu breit bekannt machen“283. Mit dem gleichen Anliegen wandte er sich an A. S. Jaščenko, der für eine in Berlin erscheinende Emigrantenzeitschrift eine Rezension zu Čajanovs Buch plante. Es sei ihm, so Čajanov, bereits teuer zu stehen gekommen, dass das Pseudonym nicht mehr ganz geheim sei. Er wolle daher „kein weiteres Öl ins Feuer gießen“.284 Anfang 1923 brachte der Ökonom seine Sorge, der Roman könne einen ernsthaften Konflikt mit den bolschewistischen Machthabern auslösen, in einem weiteren Brief an den Publizisten zum Ausdruck. Čajanov, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits fast ein Jahr dienstlich im Ausland aufgehalten hatte und seine Rückreise nach Russland vorbereitete, befürchtete ernsthafte Schwierigkeiten. Der Autor der zur baldigen Veröffentlichung vorgesehenen Rezension war Čajanovs guter Freund und Kollege Makarov. Seitdem dieser ihm den Inhalt seiner Rezension geschildert habe, befinde er sich, so Čajanov, in heller Panik. Bei seiner Ankunft in Moskau wolle er „nicht in der Lubjanka landen“. Er bestehe daher darauf, die Rezension vor ihrer Veröffentlichung einzusehen. Falls bereits Druckfahnen existierten, müsse die Veröffentlichung gestoppt werden.285 Unter dem Eindruck des „Kriegskommunismus“ verschob sich das thematische Interesse russischer Agrar- und Wirtschaftswissenschaftler. Im Fokus standen nun weniger die Bauernwirtschaften selbst als die Frage, inwieweit kleinbäuerliche Strukturen und wirtschaftliche Eigenständigkeit in einem durch den Staat regulierten Wirtschaftssystem überhaupt denkbar waren. In diesem Zusammenhang veränderte sich auch die Semantik wirtschaftstheoretischer Debatten. Hatte in

282 Zeitgleich entstanden in Russland weitere antiurbane literarische Utopien. Vgl. Clark, City. 283 Čajanov an Kuskova [13. August 1922], in: Čajanov, Čajanov, S. 211. 284 Čajanov an Jaščenko [13. August 1922], in: Ebd., S. 218. 285 Čajanov an Jaščenko [18. Januar 1923], in: Čajanov, Čajanov, S. 218f. Die Rezension erschien im Heft 11/12 (1922) der Zeitschrift „Novaja russkaja kniga“. M[akarov], Rezension, S. 23. Als ­Čajanov den Brief verfasste, war die Zeitschrift offensichtlich noch nicht auf dem Markt.

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den vorangegangenen Jahren eine antikapitalistische Rhetorik dominiert, führte die In­­anspruchnahme des Sozialismusbegriffs durch die Bolschewiki zu dessen Entmystifizierung. Im gleichen Zuge wurde der Kaptalismusbegriff in Ansätzen rehabilitiert. Während Čajanov an seinem negativen Kapitalismusverständnis festhielt, zugleich aber eine Wirtschaftsordnung propagierte, die auf der Eigen­ initiative der Bevölkerung und zumindest in der Landwirtschaft auf individuellen Produktionsformen beruhte, überwanden Bruckus und Litošenko die von der intelligencija kultivierte Abneigung gegenüber dem Kapitalismus. So heterogen die Arbeiten, die Bruckus, Čajanov und Litošenko in den Jahren des „Kriegskommunismus“ verfassten, auf den ersten Blick scheinen mögen, so eindeutig war ihre intellektuelle Stoßrichtung. Als erklärte Kritiker der bolschewistischen Wirtschaftspolitik waren alle drei bemüht, die Gefahren einer allumfassenden Regulierung der Gesamtwirtschaft aufzuzeigen und die Hoffnung auf ein Ende der desaströsen Wirtschaftspolitik theoretisch zu fundieren. Auch wenn der Agraris­ mus als gesellschaftliche Bewegung nicht mehr zu erkennen war und sich seine Vertreter in unterschiedlichem Maß auf die Rhetorik der Bolschewiki einließen: Als intellektueller Referenzpunkt bestand die Idee einer ländlichen Moderne, die bäuerliche Eigenständigkeit, technischen Forschritt und ökonomische Dynamik miteinander verband, in ihren Arbeiten weiter fort.

2.3.2  Der Hunger und die letzte Mobilisierung der obščestvennost’ Der Bürgerkrieg erschütterte das ländliche Russland in seinen Grundfesten. Die Mobilisierung der ländlichen Bevölkerung für den Kriegsdienst, die Requirierung von Pferden für die Armeen der Bürgerkriegsparteien und die Verwüstung weiter Landstriche stürzten die Landwirtschaft in eine tiefe Krise. Die territoriale Des­ integration des Landes warf das Dorf ökonomisch auf sich selbst zurück. In vielen Regionen nahm die Landwirtschaft, die vormals bereits Teil regionaler und über­ regionaler Marktzusammenhänge gewesen war, wieder naturalwirtschaftliche Züge an. Die Agrarpolitik der Bolschewiki verstärkte diese Entwicklungen. Zwangsab­ lieferungen von Getreide und die weitgehende Unterbindung des Handels mit Agrarerzeugnissen nahmen den Bauern die Anreize zur Produktion von Überschüssen. Infolge des Mangels an Industriegütern, insbesondere landwirtschaftlichem Gerät, fiel das technische Niveau der bäuerlichen Produktion zudem deutlich hinter den Stand bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs zurück. Die Ernteerträge und der Umfang der Saatflächen brachen ein. Die Lage spitzte sich zu, weil die Bauern angesichts der hohen Ablieferungsquoten keinerlei Möglichkeit hatten, Vorräte anzulegen oder Saatgut aufzubewahren. In vielen Regionen lebte die ländliche Bevölkerung daher in großer Not, noch bevor zwei aufeinander folgende Missernten in

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den ­Jahren 1920 und 1921 eine verheerende Hungersnot auslösten, die mehrere ­Millionen Opfer forderte.286 Bereits in der Anfangsphase des Bürgerkriegs wiesen führende Vertreter des Agraris­mus auf die dramatischen Entwicklungen in den Dörfern hin. N. D. K ­ ondrat’ev sah Russland schon 1918 „auf dem Weg zur Hungersnot“. Die Verantwortung dafür trugen seiner Meinung nach die neuen Machthaber, die die ohnehin schon angespannte Versorgungslage durch zwangsweise Requirierungen und die künstliche Festsetzung der Agrarpreise verschärften und das Land mit Gewalt und Schrecken überzogen: „Das [Getreide-]Monopol und fixe Preise waren möglich und notwendig, als wir eine riesige Armee zu versorgen hatten, eine demokratische Regierung an der Macht war (obščenarodnaja vlast’) und entsprechende Organisationen zu seiner Durchsetzung existierten. Aber jetzt, wo es nichts mehr davon gibt – was kann da das Monopol bringen außer die Erschießung von mešočniki, deren Zahl eben so groß werden wird wie die Zahl der Landwirte in den Hungergebieten?“287 Als Sozialisten hatten sich die Bolschewiki nach Auffassung Kondrat’evs diskreditiert: „Man muss Abschied nehmen von der Vorstellung, dass Gleichheit in Hunger, Armut und Arbeitslosigkeit sozialistische Gleichheit ist. Man muss Abschied nehmen von der Vorstellung, dass eine Herrschaft, die nicht in der Lage ist, Brot zu geben, und gleichzeitig das Volk erschießt, das sich Brot beschaffen möchte, im Namen des Sozialismus, der Brüderlichkeit und der Freiheit kämpft.“288 Auch die Organe der Genossenschaftsbewegung machten früh darauf aufmerksam, dass die Politik der Bolschewiki die Versorgungsprobleme des Landes verschärfte. Im März 1919 verständigten sich die Mitglieder des Sel’skosovet, unter ihnen S. L. Maslov, N. D. Kondrat’ev und N. P. Makarov, auf einen offenen Brief an den Rat der Volkskommissare. Ihre Warnung war unmissverständlich: Wenn die sowjetische Regierung nicht von der Einmischung in die Wirtschaftsführung der Bauern absehe, die Verfolgungen von Genossenschaftsaktivisten anhielten und die ökonomischen Interessen der Bauern weiterhin verletzt würden, werde sich eine Hungersnot nicht abwenden lassen.289 Auf die politische Agenda gelangte der Hunger erst, als er sich bereits zu einer humanitären Katastrophe ausgewachsen hatte. Obwohl die Regierung bereits Ende 1920 Informationen über Missernten erhielt, verstrich die Gelegenheit zur Prävention der Katastrophe. In offiziellen Stellungnahmen wurde das Ausmaß der Krise heruntergespielt. Vereinzelte Kampagnen zur Verbreitung von Saatgut und 286 Retish, Russia’s Peasants, Kap. 8; Figes, Peasant Russia, S. 274 – 284. 287 Kondrat’ev, Po puti k golodu, S. 259. 288 Ebd., S. 261. 289 Protokoll der Sitzung des Sel’skosovet vom 11. März und Entwurf des Schreibens, RGAĖ f. 7018, op. 1, d. 6, l. 26 – 29.

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Maschinen zeigten kaum Erfolg. Selbst als die Verfehlungen der Wirtschaftspolitik infolge zweier aufeinanderfolgender Dürrejahre offen zu Tage traten und mehrere ­Millionen Menschen vom Hungertod bedroht waren, fand das Thema zunächst kaum Beachtung. Auch der Kurswechsel der sowjetischen Agrarpolitik im Frühjahr 1921 änderte nichts daran, dass die Gefahr einer Hungerepidemie über mehrere Monate ignoriert wurde.290 So erreichten die schockierenden Nachrichten über das Ausmaß der Not die Öffentlichkeit dann auch nicht durch die Regierungsorgane, sondern durch Vertreter des vorrevolutionären Agrarismus. Ende Juni 1921 berichteten A. A. Rybnikov, damals Professor am Landwirtschaftlichen Institut in Saratov, und M. I. Kuchovarenko, Genossenschaftsvertreter aus dem Saratover Gebiet, auf einer Sitzung der Moskauer Landwirtschaftlichen Gesellschaft über die dramatischen Zustände an der Wolga. Die Sitzung bildete den Auftakt für die letzte Mobili­sierung der obščestvennost’. Im Anschluss an den Vortrag rief S. N. Prokopovič die An­­ wesenden dazu auf, eine breite Hilfskampagne für die Hungerleidenden zu starten. Dass sich die Bedingungen kollektiven öffentlichen Handelns seit dem Oktober­ umsturz deutlich verändert hatten, war dem Ökonomen bewusst; das Vorhaben setzte das Einverständnis der Machthaber voraus: „Wir haben kein Recht, nichts zu tun. Kein moralisches Recht. Man muss handeln. Und wenn man handelt, kann man sich nicht von den Bedingungen abwenden, in denen wir unsere Taten vollziehen sollen. Wir können nicht ohne die Zustimmung der Sowjetmacht handeln […].“291 Dass ein solches Anliegen umgesetzt werden konnte, ging vor allem auf die Intervention des Schriftstellers Maksim Gor’kij zurück, der die Idee einer öffentlichen Kampagne gegen den Hunger unterstützte und zwischen den Vertretern der vorrevolutionären obščestvennost’ und der Parteiführung vermittelte. Nach Verhandlungen zwischen dem Kreml’, Gor’kij und Vertretern der gesellschaftlichen Öffentlichkeit einigte man sich auf die Gründung eines Komitees zur Unterstützung der Hungernden (Komitet pomošči golodajuščim), das am 20. Juli 1921 offiziell vom VCIK bestätigt wurde und seine Arbeit aufnahm.292 Neben landesweit bekannten Persönlichkeiten aus Kunst, Wissenschaft und Politik waren die führenden Auto­ ritäten des Agrarismus unter den Mitgliedern des Komitees prominent vertreten. Zwar war das Netzwerk von Agrarexperten, Ökonomen und Statistikern in den Jahren des Bürgerkriegs deutlich loser geworden. Bei der Gründung der Hilfsorganisation zeigte sich jedoch, dass viele der vor der Revolution geknüpften Kontakte die „Zeit der Wirren“ überdauert hatten oder leicht reaktiviert werden konnten. Unter den Mitgliedern des Komitees befanden sich u. a. die Agronomen A. G. Dojarenko, A. 290 Edmondson, Politics of Hunger; Wehner, Bauernpolitik, S. 59 – 66. 291 Zitiert nach Kuskova, Mesjac „soglašatel’stva“ (2), S. 59. 292 Die genaueste Darstellung der Geschichte des Komitees verfasste Finkel, Ideological Front, S. 21 – 39. Siehe auch Wehner, Bauernpolitik, S. 61 – 65.

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P. Levickij, A. V. Tejtel, A. I. Ugrimov, der Genossenschaftsvertreter P. A. Sadyrin sowie die Ökonomen N. D. Kondrat’ev, S. N. Prokopovič, A. A. Rybnikov und A. V. Čajanov.293 Das Komitee knüpfte nicht nur personell an vorrevolutionäre Traditionen an. Da die sowjetische Öffentlichkeit bislang keinerlei Informationen über das Ausmaß des Hungers erhalten hatte, setzten die Mitglieder des neugegründeten Organs alles daran, die breite Bevölkerung für das Thema zu sensibilisieren. Dabei griffen sie auf jene Strategien zurück, die sich bei der Etablierung des Agrarismus bereits bewährt hatten: die Gründung eigener medialer Plattformen und die Bildung eines weit verzweigten personellen Netzwerks. Nur wenige Tage nach der ersten Zusammenkunft aller Mitglieder erschien das Bulletin des Komitees, das die neue Organisation als öffentlichen Akteur erkennbar machte.294 In mehreren Städten ­entstanden zugleich regionale Ableger des in Moskau ansässigen zentralen Komitees. Auch hier erwiesen sich alte Kontakte als hilfreich. So wurde V. A. Perelešin, ein führender Vertreter der vorrevolutionären Genossenschaftsbewegung und Mitglied des Sel’skosovet, beauftragt, eine Zweigstelle des Komitees in Voronež gründen, wo er damals Professor am Landwirtschaftlichen Institut war.295 Trotz ihrer anfänglichen Unterstützung für die Gründung des Komitees war den Bolschewiki an einer engen Kooperation mit der obščestvennost’ nicht viel gelegen. Zwar erkannte man, dass Personen wie E. D. Kuskova, S. N. Prokopovič und der kadettische Politiker N. M. Kiškin im In- und Ausland großen Einfluss besaßen, ihre Initiative also die dringend benötigten Hilfsmittel mobilisieren könnte. Genau aus diesem Grund stellte das Komitee für die Parteiführung allerdings eine Gefahr dar. Obwohl die Mitglieder des Komitees offen ihre Loyalität gegenüber den Bolschewiki zum Ausdruck brachten, bestand die Sorge, diese könnten das Komitee als politische Plattform nutzen. Intern hatte Lenin daher schon im Vorfeld verlauten lassen, „von der Kuskova“ nehme man nur „den Namen und die Unterschrift; ein paar Waggons [mit Lebensmittelhilfe] von denen, die mit ihr (und solchen wie ihr) sympathisieren. Und sonst NICHTS.“296 Dass die politische Führung das Komitee als eine unmittelbare Gefährdung der eigenen Autorität wahrnahm, zeigte nicht nur die parallele Gründung einer dem VCIK unterstellten Zentralen Kommission zur Unterstützung der Hungernden (CK Pomgol),297 sondern auch die Besetzung der

293 Pomošč’, Nr. 1, 16.08.1921, S. 2. 294 Das Bulletin konnte nur zwei Mal, am 16. und am 22. August 1921 erscheinen. Eine dritte Ausgabe, deren Erscheinen für den 28. August geplant war, wurde von den Behörden konfisziert. Finkel, Ideological Front, S. 28f. 295 Pomošč’, Nr. 1, 16.08.1921, S. 2; Finkel, Ideological Front, S. 26f. 296 Zitiert nach Wehner, Bauernpolitik, S. 63. 297 Die Zentralkommission zur Unterstützung der Hungernden des VCIK (Central’naja kommissja pomoščij golodajuščim pri VCIK) besaß Ableger in verschiedenen sowjetischen Zentralbehörden.

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Leitungspositionen des Komitees durch ranghohe Partei- und Staatsvertreter. L. B. Kamenev erhielt den Vorsitz des gesellschaftlichen Komitees. Zugleich entsandten fast alle Volkskommissariate ihre Vorsitzenden in das Gremium.298 Die Schaffung staatlicher Parallelstrukturen zielte auf die Marginalisierung der von der Öffentlichkeit angestoßenen Initiative. Obwohl die leitenden Mitglieder des Komitees Verbindungen zu potenziellen Spendern im Ausland unterhielten, blieb die politische Führung darauf bedacht, dass Verhandlungen über ausländische Hilfen nur von staatlichen Organen geführt wurden. Eine Delegation von Kuskova, Prokopovič und vier weiteren Personen nach England und Deutschland wurde von den Behörden hinausgezögert und letztlich untersagt. Als sowjetische Regierungsvertreter im August Verhandlungen mit Herbert Hoover und Fridtjof Nansen aufnahmen, war das gesellschaftliche Komitee dann isoliert. Das am 20. August 1921 verabschiedete Abkommen zwischen der Regierung Sowjetrusslands und der American Relief Administration besiegelte das Schicksal der öffentlichen Initiative.299 Kurz nachdem die Bolschewiki die Hungerhilfe monopolisiert hatten, entledigten sie sich des von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ins Leben gerufenen Gremiums. Unter dem Vorwand, seine Mitglieder seien konterrevolutionäre Agenten mit Verbindungen zu sowjetfeindlichen Emigrantenkreisen, wurde das Komitee am 27. August 1921 aufgelöst und seine Mitglieder verhaftet.300 Einen Beweis für diesen Verdacht blieb die politische Führung freilich schuldig. Obwohl viele Mitglieder des Komitees jedes Anzeichen auf einen Ansehensverlust der Bolschewiki begrüßt haben dürften, erscheint es wenig plausibel, dass sie die Möglichkeit eines politischen Umsturzes ernsthaft in Erwägung zogen. Ungeachtet ihrer Kritik an den Bolschewiki hatten sich viele von ihnen bereits während des Bürgerkriegs auf eine Kooperation mit den Behörden eingelassen. Nach der Gründung des Komitees hatten sie zumindest kurzzeitig an eine Verständigung mit den Machthabern geglaubt.301 Entsprechend bemüht waren sie daher von Anfang an gewesen, den unpolitischen Charakter der Hilfsaktion öffentlich zu ­demonstrieren. So appellierte der Leitartikel der vom Komitee herausgegebenen Zeitschrift: „Bevor wir über die Formen des gesellschaftlichen und staatlichen Vgl. GARF f. 1064, op. 1, d. 178. Zur Gründung und Tätigkeit einer entsprechenden Kommission im Narkomzem siehe RGAĖ f. 478, op. 1, d. 2098, 2099, 2100. 298 Pomošč’, Nr. 1, 16.08.1921, S. 2. 299 Finkel, Ideological Front, S. 29 – 35. 300 Unter den von der VČK festgehaltenen Mitgliedern des Komitees befanden sich z. B. Ė. L. Gurevič (der Schwiegervater A. V. Čajanovs), A. G. Dojarenko, N. D. Kondrat’ev, E. D. Kuskova, A. P. Levickij, S. N. Prokopovič, A. V. Tejtel sowie der Genossenschaftsaktivist V. V. Chižnjakov. Liste der inhaftierten Mitglieder des Pomgol, in: Makarov; Christoforov (Hg.), Vysylka, S. 54 – 56. 301 Nur so erklärt sich Gor’kijs tiefe Enttäuschung über die Auflösung des Komitees. Finkel, ­Ideological Front, S. 34.

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Aufbaus streiten, die sich jeder von uns für Russland wünscht, ist es wichtig, dass Russland als solches fortexistieren kann […].“302 Für die politische Führung war jedoch schon die Möglichkeit, das Komitee könnte für die Gegner der Bolschewiki zum politischen Hoffnungsanker werden, ein Argument für dessen Schließung. In einem lange nach der Auflösung des Komitees von der GPU ange­fertigten Bericht über die Tätigkeit der „antisowjetischen intelligencija“ hieß es, „das politische Kalkül des Komitees zur Hilfe der Hungernden [sei] klar [gewesen]: die Bedeutung der sowjetischen Regierung außerhalb und innerhalb Russlands herabzu­ setzen, die eigene Bedeutung hervorzuheben, die eigene Tätigkeit mit anderen, der sowjetischen Regierung feindlich gesonnenen ausländischen Gruppierungen zu koordinieren […]“303. Die Darstellung der GPU verdeutlicht einmal mehr, dass die Schließung des Komitees keinem strafrechtlichem Tatbestand, sondern machtpolitischen Erwägungen folgte. Sie war Teil des Kampfes um den öffentlichen Raum, den die Bolschewiki seit dem Beginn ihrer Herrschaft führten und nach der Wende zur NĖP mit erhöhter Intensität fortsetzten. Um die Entstehung infor­ meller bzw. nicht in die Strukturen von Staat und Partei eingegliederter personeller Netzwerke zu verhindern, strebten sie danach, das öffentliche Leben unter ihre Kontrolle zu bringen. Die polizeiliche Auflösung des Komitees war eine sichtbare Manifestation dieser Politik. Der Kampf gegen den Hunger wurde nun zu einem Mittel bolschewistischer Herrschaftsausübung.304

2.3.3  Konkurrenz um die öffentliche Deutungsmacht Die Auflösung des Komitees für die Hilfe der Hungernden bildete den Auftakt zu einer Serie von repressiven Maßnahmen gegen Medien und soziale Räume, die sich der Kontrolle von Partei und Staat entzogen und dadurch das von den Bolschewiki beanspruchte Deutungs- und Herrschaftsmonopol unterhöhlten. Hintergrund der Repressionen war die Wiederbelebung der gesellschaftlichen Öffentlichkeit nach dem Ende des Bürgerkrieges. Die Gründung von Zeitschriften und Verlagen und die nach zum Teil mehrjähriger Unterbrechung erneut stattfindenden Zusammenkünfte von Berufs- und anderen gesellschaftlichen Interessengruppen weckten in der Parteiführung die Sorge, Kritiker könnten die Bevölkerung des Landes zum Widerstand gegen die politische Führung mobilisieren. Die Repressionen der frühen 302 Pomošč’, Nr. 1, 16.08.1921, S. 1. 303 GPU-Bericht über die Tätigkeit der antisowjetischen Intelligenz 1921 – 1922, in: Artizov u. a. (Hg.), „Očistim Rossiju nadolgo …“, S. 447. 304 Zuständig war fortan das CK Pomgol. Dieses arbeitete jedoch sehr ineffektiv. Der Hunger konnte letztlich nur mit ausländischer Hilfe gelindert werden. Wehner, Bauernpolitik, S. 67 – 77.

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1920er Jahre richteten sich daher insbesondere gegen Wissenschaftler, Literaten und Intellektuelle, die den Beginn der Neuen Ökonomischen Politik als Signal für die Wiederbelebung des öffentlichen Lebens werteten und als Wortführer in wissenschaftlichen und intellektuellen Debatten auftraten. Hochschulen, das Zeitschriftenund Verlagswesen, politische Parteien, Vereine und Gesellschaften befanden sich andauernd im Visier der sowjetischen Partei- und Sicherheitsorgane. Auch wenn die Parteiführung mit der Wende zur NĖP auf dem Gebiet der Wirtschaft von der repressiven Politik des Bürgerkriegs Abstand nahm, blieben Überwachung, Verhaftungen und Verbote weiterhin ein regulärer Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens.305 Der Kampf um die öffentliche Deutungsmacht betraf auch die Vertreter des Agrarismus. Obwohl die meisten von ihnen die wirtschaftspolitische Wende zur NĖP begrüßt hatten und mitunter bereits seit mehreren Jahren in sowjetischen Behörden arbeiteten, waren sie der Parteiführung durch ihre Präsenz an höheren Bildungseinrichtungen, in Gesellschaften und der publizistischen Öffentlichkeit ein Dorn im Auge. Erste Anzeichen für die sukzessive Einschränkung ihrer Handlungsspielräume gab es im Bereich des Hochschulwesens. Nach der Reorganisation der früheren historischen, philologischen und juristischen Fakultäten zu Sozialwissenschaftlichen Fakultäten bemühte sich das Volkskommissariat für Bildung um die Ernennung kommunistischer Dozenten, die das ideologische Monopol der Bolschewiki auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften durchsetzen sollten.306 Zwar blieb der Anteil nichtmarxistischer Lehrkräfte an den neuen Fakultäten bis zum Ende der 1920er Jahre sehr hoch. Diese konnten ihrer Lehrtätigkeit jedoch nicht ohne Einschränkung nachgehen. Im September 1921 sandte das Volkskommissariat für Bildung ein Schreiben an die Moskauer Universität, das genaue Angaben darüber enthielt, welche Personen künftig welche wirtschaftswissenschaftlichen Kurse unterrichten durften. Vertreter des vorrevolutionären Agrardiskurses sollten von Kursen, denen die sowjetische Führung offensichtlich eine besondere Bedeutung zumaß, ausgeschlossen werden: „[…] L. B. Kafengauz – Wirtschaftspolitik, aber nicht sowjetische Wirtschaft, Z. S. Kacenelenbaum – Wirtschaft im Europa und Russland der Neuzeit, aber nicht in Sowjetrussland, S. A. Pervušin – nur Spezialkurse in Politischer Ökonomie oder Statistik, […] S. N. Prokopovič – Geschichte der Volkswirtschaft, aber nicht Geschichte des ökonomischen Denkens; A. V. Čajanov – nur beschreibende Kurse.“307 L. N. Litošenko wurde der Kurs in Agrarökonomie vollständig ent­zogen. Hinter diesen Bestimmungen stand allem Anschein nach die 305 Allgemein hierzu Finkel, Ideological Front; Il’ina, Obščestvennye organizacii; Makarov, ­Istoriko-filosofskij analiz. 306 Fitzpatrick, Education, S. 68 – 74. 307 Das Dokument ist im persönlichen Nachlass von Z. S. Kacenelenbaum erhalten. RGAĖ f. 782, op. 1, d. 41, l. 4.

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Befürchtung, die genannten Ökonomen könnten die Vorlesungen zur politischen Agitation nutzen. Die hochrangigen Parteifunktionäre N. I. Bucharin, M. A. Larin und V. P. Miljutin erhielten im gleichen Zuge unbeschränkte Dozentenrechte.308 Derartige Maßnahmen zielten nicht nur auf die Erringung der ideologischen Lufthoheit. Bei den Versuchen, den Einfluss vorrevolutionärer Wissenschaftler in der Hochschullehre zu verringern, ging es vor allem um die Einschränkung jeg­­­licher Formen von Öffentlichkeit, die sich dem Zugriff des Staates entzogen. Aus Sicht der politischen Führung war diese Gefahr an den höheren Bildungseinrichtungen besonders groß, weil hier die heranwachsende Generation mit Wissenschaftlern und Intellektuellen zusammentraf, die für ihre Kritik an den Bolschewiki all­gemein bekannt waren. So warnten Beamte des GPU davor, N. P. Oganovskij, seit ­November 1921 Professor für Agrargeschichte und Wirtschaftsgeographie an der Moskauer Staatlichen Universität,309 könnte „nun, wo sich die intellektuelle obščestvennost’ wieder zusammenfindet, die kleinbürgerliche Jugend um sich herum [versammeln]“310. Auch von den Professoren der Petrovka-Akademie ging aus Sicht des Geheimdienstes die Gefahr aus, sie könnten an der Hochschule eine antibolschewistische Gegenöffentlichkeit etablieren. Vertreter des Agrarismus standen im Verdacht, ihre Schüler zum Widerstand gegen die Bolschewiki zu mobi­lisieren: „Die alten Agronomen und Vertreter der Moskauer Landwirtschaftlichen Gesellschaft“, hieß es in einem VČK-Bericht vom 16. Dezember 1921, „rechnen auf die Studenten der Petrovka wie auf eine heranwachsende junge Reserve für ihre schwarze Truppe, eine Reserve, die ungeachtet der kommunistischen Keimlinge und dem Druck der Arbeiter-Bauern-Macht eifrig und wie Heilige die Vermächtnisse der ‚alten Petrovcy‘ verkünden wird. Was diese Vermächtnisse der Pro­fessoren Dojarenko, Prjanišnikov, Fortunatov, Čajanov & Co. sind, darüber sind wir hervorragend unterrichtet.“311 Das von den Bolschewiki verfolgte Ansinnen, die Deutung der Gegenwart zu monopolisieren und das gesellschaftliche Leben unter die Kontrolle des Partei- und Staatsaparats zu bringen, zeigte sich auch im Umgang mit den klassischen Artikulations- und Geselligkeitsformen der vorrevolutionären obščestvennost’. Gelehrte Gesellschaften und Publikationsorgane, die die Etablierung einer homogenen sowjetischen Öffentlichkeit zu behindern drohten, standen in den 1920er Jahren unter der Überwachung durch die Sicherheitsorgane.312 1922 wurden die Zeitschriften „Der Ökonom“ (Ėkonomist) und „Ökonomische Wiedergeburt“ (Ėkonomičeskoe 308 Ebd. 309 Bestätigung über Oganovskijs Professorenstatus an der MGU, CAGM f. 1609, op. 1, d. 382, l. 18. 310 Sitzungsprotokoll einer Politbürokommission zur Frage der Ausweisungen [13. Juli 1922], in: Artizov u. a. (Hg.), „Očistim Rossiju nadolgo …“, S. 204. 311 Dossier des VČK über öffentliche Gesellschaften, in: Ebd., S. 22. 312 Finkel, Ideological Front, Kap. 4 und 5; Il’ina, Obščestvennye organizacii, S. 70 – 81.

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vozroždenie), in denen Bruckus und Litošenko ihre Kritik an der bolschewistischen Wirtschaftspolitik zur Sprache gebracht hatten, zur Zielscheibe der politischen Führung.313 Ein Bericht der VČK über die Tätigkeit von gelehrten Gesellschaften zeugt eindeutig davon, wie stark das Misstrauen der politischen Führung gegenüber den Vertretern der vorrevolutionären Agronomie, der sog. „Agronomenkaste“ (kasta agronomov), war. In der Allrussischen Agronomengesellschaft (Vserossijskoe obščestvo agronomov), so die Befürchtung, könnten sich Personen versammeln, „die durch ihre Vergangenheit und ihr ideologisches Verständnis einer feindlichen Klasse – der Bourgeoisie – nahe stehen“314. Nicht minder besorgt war die politische Führung angesichts der wieder auflebenden Tradition öffentlicher Zusammenkünfte von Berufsgruppen. Anfang 1922 fand in Moskau der III. Allrussische Agronomenkongress statt, in dessen Verlauf sich B. D. Bruckus, A. I. Ugrimov und A. A. ­Rybnikov für die Wiederherstellung privaten Bodeneigentums aussprachen und Bruckus die sowjetische Führung beschuldigte, mit den Getreiderequirierungen während des Bürgerkriegs die Hungersnot ausgelöst zu haben.315 Dies war ein offener Angriff auf das öffentliche Deutungsmonopol der Partei. Auf dem Agronomenkongress, so eine spätere Einschätzung des GPU, habe sich die Sozialagronomie „als entschiedene Gegnerin der Sowjetmacht und Befürworterin einer Wiederherstellung der bourgeoisen Ordnung [gezeigt]“316. Angesichts der wachsenden Sorge vor einem gesellschaftlichen Stimmungsumschwung lancierte die Parteiführung konkrete Maßnahmen zur Marginalisierung kritischer Vertreter aus Wissenschaft, Kunst und Politik. Im Frühling 1922 begannen geheime Vorbereitungen für die Aussiedlung „antibolschewistischer Intellektueller“317. Nachdem Lenin in einem Brief an die Mitglieder des Politbüros vom 16. Juli 1922 die Beschleunigung der Aktion mit dem Ziel, „Russland auf lange Sicht [zu säubern]“ (Očistim Rossiju nadolgo), angemahnt hatte,318 konkretisierten sich die Planungen im Verlauf der kommenden Wochen. Am 31. Juli 1922 verabschiedete eine Kommission des Politbüros eine Liste mit Personen, die als „Anhänger feindlicher intellektueller Gruppierungen“ aus Sowjetrussland ausgewiesen werden sollten. Neben zum Teil weltberühmten Philosophen, Schriftstellern und Publizisten führte die Liste auch Vertreter des russischen Agrarismus auf. A. I. Ugrimov befand sich wegen seiner Funktion als Vorsitzender der Moskauer Landwirtschaftlichen Gesellschaft sowie seines

313 Denkschrift des GPU über die Tätigkeit der antisowjetischen Intelligenz, in: Artizov u. a. (Hg.), „Očistim Rossiju nadolgo …“, S. 454. 314 Dossier des VČK über öffentliche Gesellschaften, in: Ebd., S. 21. 315 Finkel, Ideological Front, 83f. 316 Denkschrift des GPU …, in: Artizov u. a. (Hg.), „Očistim Rossiju nadolgo …“, S. 463. 317 Makarov; Christoforov, Predislovie. 318 Lenin an Stalin [16. Juli 1922], in: Artizov u. a. (Hg.), „Očistim Rossiju nadolgo …“, S. 162.

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Engagements in der Freien Ökonomischen Gesellschaft und in der Redaktion des von A. G. Dojarenko herausgegebenen „Landwirtschaftsboten“, einem nach Einschätzung der GPU „Organ antisowjetisch eingestellter Agronomen“, unter den zur Ausweisung vorgesehenen Personen. A. A. Rybnikov hatte durch sein Plädoyer für die Unabhängigkeit von Genossenschaften die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich gezogen, N. D. Kondrat’ev durch seine Mitarbeit in der Zeitschrift „Landwirtschaftsbote“ sowie seine frühere Mitgliedschaft in der Sozialrevolutionären Partei. Der Genossenschaftsaktivist V. A. Kil’čevskij wurde hier als „Gegner der Sowjetmacht“ geführt. N. P. Oganovskij und A. V. Pešechonov sollten aufgrund ihrer kritischen publizistischen Tätigkeit zum Verlassen des Landes gezwungen werden. B. D. Bruckus galt wegen seiner Mitarbeit in der Redaktion des „Ökonom“ als ein „schädlicher Mensch“319. Parallel zu den geheimen Vorbereitungen der Aussiedlungsaktion wurde die Partei­öffentlichkeit darauf eingestimmt, dass das gesellschaftliche Leben künftig stärker durch die Partei kontrolliert werden würde. In seiner Rede auf der 12. All­ russischen Parteikonferenz schwor G. E. Zinov’ev die Genossen im August 1922 auf die Notwendigkeit ein, „mit Hilfe einer Reihe von systematischen Maßnahmen die Liquidierung organisierter antisowjetischer Kräfte als politische Faktoren vorzubereiten“320. Zinov’ev nannte die Redaktion der Zeitschrift „Ėkonomist“ in diesem Zusammen­hang einen „theoretischen Generalstab der NĖP-Bourgeoisie“ und ­Bruckus einen „offenkundigen Feind“. Auch die Vertreter der Agrarwissen­schaften fanden in der Rede des Funktionärs Erwähnung. Auf dem Agronomenkongress Anfang des Jahres seien Äußerungen gefallen, die „hinsichtlich ihrer antirevo­lu­tionären Ausrichtung nichts zu wünschen übrig ließen“321. Die abschließende Resolution spiegelte das Misstrauen gegenüber außerparteilichen gesellschaft­lichen Foren: Im politischen Klima der NĖP versuchten antisowjetische Parteien und Strömungen, die „sowjetische Legalität für ihre konterrevolutionären I­nteressen zu nutzen“ und die politische Ordnung „im Geist der bourgeoisen Demokratie zu verändern“. Die Presse, das Hochschulwesen und die Genossenschaften seien „Kommando­höhen“, die in Zukunft von der Partei kontrolliert werden müssten. Damit standen alle Bereiche, in denen die Vertreter des Agrarismus bisher tätig gewesen waren, unter Generalverdacht. Die systematische Beschränkung von Wissen­schaftlern und Intellektuellen wurde nun offiziell zum politischen Prinzip erklärt: Nicht nur gegen Sozialrevolutionäre und Menschewiki, so der abschließende P ­ assus der Resolution, auch gegen die „politisierenden Anführer der angeblich partei­losen, bourgeois-demokratischen Intelligenz, die für ihre konterrevolutio­nären Ziele die ehrlichen Interessen ganzer

319 Protokoll einer Politbürossitzung zur Aussiedlungsaktion [31 Juli 1922], in: Ebd., S. 196 – 210. 320 Auszug aus dem Stenogramm der 12. Parteikonferenz, in: Ebd., S. 259. 321 Ebd., S. 237f.

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Korporationen missbrauchen, die für die wahren Anliegen von Wissenschaft, Technik, Pädagogik und der Genossenschaften nur leere Worte übrig haben und sie als politische Deckung nutzen“, müsse man nun mit Repressionen vorgehen.322 Kurz darauf begann die systematische Verhaftung der zur Ausweisung vorge­ sehenen Intellektuellen. Am 10. August 1922 unterrichtete der stellvertretende Vorsitzende der GPU I. S. Unšlicht den Generalsekretär der Partei I. V. Stalin über den bevorstehenden Beginn der Verhaftungen am 16. August.323 Am 17. und 18. August wurden in Moskau 30 Personen, unter ihnen der Ökonom N. D. Kondrat’ev und der Genossenschaftsaktivist V. A. Kil’čevskij, festgenommen. Neun weitere Personen, darunter A. A. Rybnikov und A. I. Ugrimov, wurden unter Hausarrest gestellt. N. P. Oganovskij hielt sich zum Zeitpunkt der Verhaftungen in Batumi auf. Die dortigen Sicherheitsorgane wurden damit beauftragt, den Statistiker ausfindig zu machen.324 Zur gleichen Zeit wurde B. D. Bruckus zusammen mit 29 weiteren Petersburger Intellektuellen verhaftet.325 A. V. Pešechonov war bereits am 28. Juli 1922 auf offener Straße festgenommen worden.326 Die sowjetische Öffentlichkeit wurde wenige Tage nach der Verhaftungswelle über die geplante Ausweisung der Intellektuellen informiert. In einem in der Pravda veröffentlichten Interview, das L. D. Trockij einer amerikanischen Journalistin gegeben hatte, nannte der Parteifunktionär die Auszuweisenden „potenzielle Waffen in den Händen unserer möglichen Feinde“. Im Vergleich zu einer Situation, in der die Bolschewiki gezwungen sein könnten, die betreffenden Personen nach Kriegsrecht zu erschießen, sei ihre Ausweisung ein Akt „vorausschauender Humanität“ (predusmotritel’naja gumannost’)327. Ob eine Person letztlich des Landes verwiesen wurde oder nicht, war mit der Tatsache der Verhaftung allein noch nicht entschieden. In einigen Fällen bewirkte die Fürsprache eines hochrangigen Parteiangehörigen, dass von der Ausweisung Abstand genommen wurde.328 So wurde die Entscheidung zur Aussiedlung R ­ ybnikovs nach einem Gesuch der Leitung des Narkomzem rückgängig gemacht und der Ökonom aus der Haft entlassen.329 Im Fall N. D. Kondrat’evs bewirkte die Fürspra-

322 Resolution der 12. Parteikonferenz, in: Ebd., S. 264. 323 I. S. Unšlicht an I. V. Stalin [10. August 1922], in: Ebd., S. 280 – 281. 324 GPU-Bericht über den Verlauf der Aussiedlungsaktion, in: Ebd., S. 292 – 295. 325 Bericht für den stellvertretenden Vorsitzenden des GPU [22. August 1922], in: Makarov; ­Christoforov (Hg.), Vysylka vmesto rasstrela, S. 115. 326 GPU-Bericht über die Verhaftung A. V. Pešechonovs [28. Juli 1922], in: Artizov u. a. (Hg.) ­„Očistim Rossiju nadolgo …“, S. 192f. 327 Auszug aus dem Trockij-Inverview, in: Ebd., S. 317. 328 Zur Bedeutung von Patronage-Beziehungen in den frühen 1920er Jahren siehe Walker, Kruzhok Culture. Für eine exemplarische Studie für die Zeit des Stalinismus vgl. Fitzpatrick, Intelligentsia. 329 G. G. Jagoda an V. I. Lenin [18. September 1922], in: Artizov u. a. (Hg.) „Očistim Rossiju nadolgo …“, S. 347.

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che durch den Narkomzem,330 dass die Entscheidung zur Ausweisung aufgehoben wurde. Gleichzeitig wurde gegen Konrat’ev jedoch ein Verfahren aufgrund seiner früheren Mitgliedschaft in der Sozialrevolutionären Partei eröffnet.331 Dank der Protektion durch führende Partei- und Staatsvertreter entging auch N. P. Oganovskij einer Ausweisung. Für den Statistiker und Ökonomen setzten sich der sibirische Genossenschaftsaktivist L. M. Chinčuk, der Rektor der Moskauer Universität, V. P. Volgin sowie der amtierende Volkskommissar für Landwirtschaft, I. A. Teodorovič, ein. Auch wenn der stellvertretende Vorsitzende der GPU Unšlicht mit Nachdruck auf die Ausweisung Oganovskijs bestand, da dessen weiterer Verbleib in Moskau „die antisowjetische Tätigkeit der obščestvenniki“ in der Freien Ökonomischen Gesellschaft und der Moskauer Landwirtschaftlichen Gesellschaft verstärken würde, konnte Oganovskij im Lande bleiben.332 In den anderen Fällen erfolgte die Zwangsexilierung nach den Plänen der politischen Führung. Ende 1922 gelangte B. D. Bruckus mit einer Gruppe verhafteter Intellektueller per Schiff nach Stettin und anschließend mit dem Zug nach Berlin. Dort hielten sich damals bereits S. N. Prokopovič und E. D. Kuskova auf, die nach ihrer mehrmonatigen Verbannung innerhalb Russlands im Juni von der Möglichkeit der selbstständigen Ausreise Gebrauch gemacht hatten. Die in Moskau verhafteten Intellektuellen verließen das Land ebenfalls im Herbst 1922. A. V. Pešechonov traf Ende September in Riga ein.333 Etwa zur gleichen Zeit gelangte der Vorsitzende der Moskauer Landwirtschaftlichen Gesellschaft A. I. Ugrimov nach Berlin. In seinem Fall zeigte sich, wie uneins sich die politische Führung im Umgang mit der vorrevolutionären Intelligenz war. Der allgemeine Expertenmangel war auch in den Auslandsvertretungen sowjetischer Behörden ein Problem. Obwohl die Anstellung von zwangsexilierten Intellektuellen in sowjetischen Institutionen im Ausland durch das ZK untersagt worden war, arbeitete Ugrimov vorübergehend in der Berliner Vertretung des sowjetischen Zentralverbands der Konsumgenossenschaften Centrosojuz. Während man die Neugründung der in Sowjetrussland verbotenen Gesellschaft und des gleichnamigen Verlags „Zadruga“ im Ausland mit Argwohn beobachtete,334 wusste man den technischen Sachverstand der vorrevolutionären Intelligenz offensichtlich zu schätzen. Nachdem der mit der Aussiedlungsaktion betraute GPU-Mitarbeiter Unšlicht wiederholt angemahnt hatte, Ugrimovs Tätigkeit im Berliner Centrosojuz zu verbieten, entschlossen sich die Mitglieder des ZK-­ Sekretariats im Mai 1923, das Politbüro um eine entsprechende Sondergenehmigung 330 Gesuch N. Osinskijs an das Politbüro [23. August 1922], in: Ebd., S. 303f. 331 G. G. Jagoda an V. I. Lenin [18. September 1922], in: Ebd., S. 347. 332 Ebd., S. 422, 435, 440 – 441. 333 Ebd., S. 594. 334 GPU-Bericht vom 4. Februar 1923, in: Ebd., S. 480 – 485.

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für die Anstellung des Agronomen zu bitten. Ugrimovs Kompetenzbereich im Centrosojuz sollte jedoch auf „rein technische Aufgaben“ (uzko techničeskaja rabota) beschränkt bleiben.335 In Russland als Staatsfeind diffamiert, wurde ­Ugrimov im Ausland von sowjetischen Behörden als Spezialist kooptiert. Die Zwangsausweisung von Wissenschaftlern und Intellektuellen aus Russland ist symptomatisch für das neue Verhältnis zwischen der politischen Führung und den Anhängern des Agrarismus. Zwar konnten einige seiner führenden Vertreter der Ausweisung entgehen. Die systematische Überwachung von Intellektuellen und die breit angelegte Verhaftungsaktion im Sommer 1922 ließen jedoch keinen Zweifel daran, dass es für die Medien und sozialen Räume der obščestvennost’, die vormals die Konstituierung des Agrarismus als gesellschaftliche Bewegung ermöglicht hatten, künftig keine Freiräume geben würde. Dies war umso bedeutsamer, weil die einstigen Anhänger der Bewegung mit der Abschaffung der Zemstva und der weitgehenden Verstaatlichung des Genossenschaftswesens fast alle Optionen auf berufliche Karrieren außerhalb des von der Partei und dem Staat kontrollierten Kommunikationsraums verloren hatten. Der kompromisslose Umgang der Behörden mit den Vertretern der vorrevolutionären Intelligenz zeigte diesen, dass ein abgesichertes Berufs- und Privatleben in Sowjetrussland ein Arrangement mit der politischen Führung voraussetzte. Wollten sie ihre Rolle als Experten beibehalten, mussten sie auf die Äußerung von Kritik sowie alternative Formen von Öffentlichkeit verzichten. Wenn überhaupt, so konnte der Agrarismus künftig nur im Rahmen staatlicher Strukturen fortbestehen.

335 I. S. Unšlicht an I. V. Stalin [13. April 1923]; Beschluss des ZK-Sekretariats über die Tätigkeit von Emigranten in sowjetischen Institutionen im Ausland, in: Ebd., S. 516f.

3.  „ 25 JA H R E M I T D E M G E S I C H T Z U M D O R F E “ – VO R R E VO L U T I O N Ä R E E X P E R T E N U NTER DEN BOLSCH EW I K I

3.1  D ie Ve r s t a at l ichu ng d e s Ag r a r i s mu s 3.1.1  Karriere und Patronage Nach dem Oktoberumsturz boten sich Akademikern, die verwaltungstechnisch oder wirtschaftspolitisch relevante Kenntnisse hatten, ausgesprochen positive Berufs­ perspektiven. Die Bolschewiki hatten den Anspruch, Wirtschaft und Gesellschaft mit Hilfe von Wissenschaft und Vernunft zu transformieren und Russland aus seiner viel beklagten zivilisatorischen Rückständigkeit zu befreien. Indem sie den während des Ersten Weltkriegs begonnenen Ausbau des Interventionsstaats fortsetzten, förderten sie den Elitenwechsel in der staatlichen Administration, der bereits in der späten Zarenzeit begonnen hatte. Die vormals von adligen Generalisten dominierte Bürokratie entwickelte sich zu einer Technokratie, deren Schaltstellen von Vertretern professioneller Eliten besetzt wurden.1 In den Jahren nach der Revolution wurden Akademiker, deren berufliche Karrieren in die späte Zarenzeit zurückreichten, in allen Bereichen von Bürokratie und Verwaltung tätig.2 Von diesen Entwicklungen profitierten auch die Anhänger des Agrarismus. Zahlreiche Ökonomen, Statistiker und Agrarwissenschaften, die durch ihre Mitarbeit oder ihr außerberufliches Enga­ gement in Zemstvos, Genossenschaften, nichtstaatlichen Bildungseinrichtungen oder gelehrten Gesellschaften in das landwirtschaftliche Modernisierungsprogramm der obščestvennost’ involviert gewesen waren, fanden in den 1920er Jahre den Weg in die Bürokratie. Der Agrarismus wurde verstaatlicht. In den 1920er Jahren wurde der Narkomzem zu einem der wichtigsten Arbeitgeber für Agrarexperten. I. A. Teodorovič, seit 1922 stellvertretender Leiter der Behörde, und A. P. Smirnov, Volkskommissar für Landwirtschaft zwischen 1923 und 1928, förderten die Anstellung parteiloser und zumeist antimarxistisch ein­ gestellter Experten. Teodorovič begann bereits unmittelbar nach seiner Ernennung 1 2

Zur wachsenden Rolle von Experten in der zarischen Administration siehe Rowney, Transition, Kap. 2. Hoffmann, Masses, S. 48f. Am Beispiel der Statistiker untersuchen diese Entwicklungen Blum; Mespoulet, Bjurokratičeskaja anarchija.

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Vorrevolutionäre Experten unter den Bolschewiki

zum Kollegiumsmitglied im Dezember 1920 mit der Anwerbung von ­Agrarexperten.3 Ende Februar 1921 wurde A. V. Čajanov als ständiger stimmberechtigter ­Berater in das Kollegium des Narkomzem berufen.4 Dank seines wissenschaftlichen I­ nteresses an bäuerlichen Agrarstrukturen und seiner langjährigen Erfahrungen im Genossenschaftswesen schien er dafür prädestiniert zu sein, das Volkskommissariat bei der Implementierung der Neuen Ökonomischen Politik zu unterstützen. Čajanov gehört daher bald zu den gefragtesten Spezialisten der Behörde. Im April übertrug man ihm die Leitung der prestigeträchtigen Abteilung für Agrarökonomie und -statistik, die für die Sammlung und Auswertung statistischer Daten zur landwirtschaftlichen Entwicklung zuständig war. Darüber hinaus übernahm der Ökonom leitende Tätigkeiten beim Aufbau der landwirtschaftlichen Planungskommission Zemplan und einer abteilungsübergreifenden ökonomischen Versammlung, die die Aktivitäten des Narkomzem im Bereich der wirtschaftlichen Planung mit denen anderer Volkskommissariate abstimmen sollte.5 Im Oktober 1921 erhielt Čajanov für seine Tätigkeiten im Narkomzem eine Sonderprämie.6 Vormals stellvertretender Agrarminister der Provisorischen Regierung, war der Ökonom nun fest in die Landwirtschaftsadministration der Bolschewiki eingebunden. Die Anwerbung von Agrarspezialisten führte zur Rekonstituierung des vor­ revolutionären Expertennetzwerkes innerhalb der sowjetischen Bürokratie. ­Parallel zur wachsenden Anerkennung Čajanovs fand eine bedeutende Zahl seiner früheren Mitstreiter den Weg in den Apparat des Narkomzem. Im Frühjahr 1921 beschloss das Kollegium, A. A. Manujlov aus Tiflis in die neu gegründete Planungs­kommission des Volkskommissariats zu berufen. Bald darauf gehörte Manujlov zum festen Mitarbeiter­stab der Behörde.7 Im Herbst 1921 wurde die Leitung des ­Narkomzem auch auf Čajanovs enge Bekannte, die Agrarökonomen N. P. Makarov und A. N. Čelincev, aufmerksam, die sich damals noch in der Emigration befanden. Am 16. September entschied das Kollegium, Makarov aus Amerika und Čelincev aus Serbien nach Russland zurückzuholen und für die Mitarbeit im Narkomzem zu gewinnen. Für die Finanzierung des Umzugs der beiden Experten sollten sowjetische Behörden 7000 Rubel in Gold bereitstellen.8 Offensichtlich sah die Leitung des ­Volkskommissariats

3 4 5 6 7 8

Heinzen, Soviet Countryside, S. 65 – 69; ders., “Alien” Personnel. Protokoll der Kollegiumssitzung vom 25. Februar 1921, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 473, l. 56. Protokoll der Kollegiumssitzung vom 15. April 1921, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 474, l. 60. Protokoll der Kollegiumssitzung vom 13. Oktober 1921, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 473, l. 281. Siehe hierzu die vorangegangenen Ausführungen zu A. A. Manujlov während des Bürgerkriegs im Abschnitt 2.2.3 dieser Arbeit. Protokolle der Kollegiumssitzungen vom 17. Mai und 16. September 1921, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 473, l. 133, l. 265. Letztlich sollten Čelincev und Makarov erst einige Jahre später nach Russland zurückkehren.

Die Verstaatlichung des Agrarismus

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für Landwirtschaft in Čajanov ein Verbindungsglied zu russischen Agrarspezialisten im Ausland. Im Oktober 1921 betraute man den Ökonomen mit einer Reise nach Reval und Riga, wo er Wissenschaftler zur Unterstützung des Narkomzem in Fragen der Agrarökonomie anwerben sollte.9 Infolge dieser konzilianten Personalpolitik erinnerte die personelle Zusammensetzung einiger Abteilungen bald an die Zusammenkünfte von Agronomen und Genossenschaftsaktivisten in der vorrevolutionären Zeit. Nach einer im April 1922 erstellten Liste waren alle Mitarbeiter der Abteilung für Agrarökonomie, Statistik und Planungsarbeiten, die damals unter der Leitung des Ökonomen N. D. Kondrat’ev stand, parteilos. Die meisten von ihnen hatten vor der Revolution zu den intellektuellen Köpfen des Agrarismus gehört und bereits in den Foren der vorrevolutionären obščestvennost’ oder in den agrarpolitischen Gremien der Provisorischen Regierung persönlich Bekanntschaft geschlossen. In den Jahren der NĖP zählten u. a. die Ökonomen A. A. Manujlov, L. N. Litošenko, A. A. Rybnikov, V. A. Rozenberg und A. E. Vajnšteijn, die ehemaligen Zemstvo-Statistiker N. N. Černenkov und N. P. Oganovskij sowie die Agronomen A. G. Dojarenko, A. P. Levickij und A. V. Tejtel zum Planungsstab des Narkomzem.10 A. V. Pešechonov war noch wenige Tage vor seiner Verhaftung im Juli 1922 in die Tätigkeit von Zemplan involviert.11 Da der Narkomzem im Wettbewerb der Zentralbehörden um staatliche Finanzzuweisungen nur wenig Einfluss besaß, bestimmten personelle und finanzielle Engpässe den beruflichen Alltag der Experten. Obwohl die Zuständigkeiten der Behörde in der ersten Hälfte der 1920er Jahre stetig zunahmen, musste die Leitung den im Vergleich zu anderen Zentralbehörden ohnehin verhältnismäßig geringen Etat wiederholt gegen drohende Streichungen verteidigen. Nachdem die Arbeiter-­ Bauern-Inspektion den Narkomzem 1924 zu Personalkürzungen verpflichtet hatte, entspann sich zwischen beiden Behörden ein langjähriges bürokratisches Tauziehen, das sich angesichts des wachsenden politischen Einflusses von Rabkrin zu einer Auseinandersetzung über die Entscheidungshoheit auf dem Gebiet der Agrarpolitik entwickelte.12 Die Leitung und die Mitarbeiter des Narkomzem waren einhelliger Auffassung, dass die Ausstattung der Behörde den Anforderungen, die die politische 9 Protokoll der Kollegiumssitzung vom 26. Oktober 1921, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 473, l. 288f. 10 Mitarbeiterliste der Abteilung für Agrarökonomie und Planungsarbeiten des Narkomzem [29. April 1922], GARF R-4085, op. 9a, d. 897, l. 118; Aufstellung über die Spezialisten und wissenschaftlichen Mitarbeiter von Zemplan [1924 – 1925], RGAĖ f. 478, op. 2, d. 286, l. 1 – 5. In den Jahren 1923 – 24 beschäftigte sich Rybnikov im Auftrag der Planungskommission mit den Perspektiven des russischen Flachsmarktes, RGAĖ f. 478, op. 2, d. 195, l. 386 – 405. 11 Protokoll einer Plenarsitzung von Zemplan vom 22. Juli 1922, Fond 478, op. 1, d. 146, l. 1 – 5. 12 Zur wachsenden Bedeutung der Arbeiter-Bauern-Inspektion für die sowjetische Agrarpolitik siehe Rees, State Control, S. 123 – 127, 156 – 161. Den Konflikt zwischen Narkomzem und Rabkrin beschreibt Heinzen, Soviet Countryside, S. 107 – 115.

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Vorrevolutionäre Experten unter den Bolschewiki

Führung an sie stellte, nicht gerecht wurde. Laut einem Dossier über die Zentrale Landwirtschaftsadministration, die mit der Ausarbeitung des landwirtschaftlichen Perspektivplans betraut war und die Umsetzung der agrarpolitischen Leitlinien der NĖP steuern sollte, sei man infolge der von Rabkrin angeordneten Einsparungen kaum in der Lage, das Arbeitspensum zu bewältigen. Nach der Liquidierung einer Unterabteilung für Konjunkturfragen gelinge nicht einmal die Erstellung einer eigenen laufenden Agrarstatistik. Das niedrige Lohnniveau verhindere zudem die Gewinnung qualifizierter Spezialisten.13 Für Manujlov, Verwaltungsleiter der Abteilung für Agrarökonomie und -statistik, standen die personalpolitischen Vorgaben von Rabkrin in keinem Verhältnis zu den Aufgaben seiner Abteilung. Um die Daten, die drei Mal im Jahr von rund 2000 Korrespondenten an den Narkomzem gemeldet wurden, zumindest ansatzweise auszuwerten, benötige die statistische Sektion anstelle eines vorgesehenen Statistikers mindestens fünf qualifizierte Statistiker. Der Bedeutungszuwachs des Genossenschaftswesens mache zudem eine personelle Aufstockung der Genossenschaftssektion erforderlich.14 Manujlov bediente sich der 1924 von G. E. Zinov’ev geprägten Losung „Mit dem Gesicht zum Dorfe“ (licom k derevne), mit der die Partei ihre bauernfreundliche Politik präsentierte, und stellte die personalpolitischen Vorgaben von Rabkrin als einen Beleg für das politische Unvermögen der Behörde dar: Angesichts der herausragenden Bedeutung der Landwirtschaft bezeuge der Sollstellenplan die „völlige Unkenntnis und das völlige Unverständnis jener Herausforderungen, vor denen die Sowjetmacht im Dorf [stehe], dem sich Rabkrin womit auch immer, ganz sicher aber nicht mit dem Gesicht [zuwende]“15. Bei der Auseinandersetzung ging es keineswegs um die Verteidigung alter Pfründe. Tatsächlich nahmen die Zuständigkeiten der Narkomzem-Mitarbeiter in den 1920er Jahren stetig zu. Die Überlastung des Volkskommissariats ging vor allem auf den Beginn der staatlichen Wirtschaftsplanung zurück, die in allen involvierten Zentralbehörden finanzielle und vor allem personelle Ressourcen band. Seit Herbst 1923 war die landwirtschaftliche Planungskommission mit der Ausarbeitung des ersten Perspektivplans für die Landwirtschaft betraut, der die landwirtschaftliche Entwicklung der RSFSR über einen Zeitraum von fünf Jahren projektieren sollte. Dieser Auftrag war immens. Zum einen reichten die historischen Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg, als Agrarexperten zunächst unter der zarischen und später unter der Provisorischen Regierung Pläne zur Regulierung der Lebensmittelversorgung 13 Angaben zur Zentralen Landwirtschaftsverwaltung des Narkomzem, GARF f. A-406, op. 9, d. 26, l. 59 – 73. 14 Schreiben des Vorsitzenden der Abteilung Manujlov an den Leiter der Zentralen Landwirtschaftsverwaltung Senin [ohne Datierung, ca. Anfang 1925], RGAĖ f. 478, op. 5, d. 3255, l. 19. 15 Stellungnahme Manujlovs [28. Februar 1925], RGAĖ f. 478, op. 5, d. 3255, l. 53.

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entwickelt hatten, nicht an den Maßstab des neuen Vorhabens heran. Zum anderen wurde die zusätzliche Beanspruchung des Narkomzem nicht durch eine entsprechende Ausweitung seines Etats kompensiert. Angesichts der ständig wachsenden Arbeitslast befanden sich die Mitarbeiter der Behörde daher in einem andauernden Kampf um Ressourcen und Arbeitserleichterungen. In einem Schreiben an den Vorsitzenden der Landwirtschaftsadministration V. I. Senin wies A. A. Manujlov Anfang 1925 darauf hin, dass das Personal des Kommissariats durch die Erstellung des landwirtschaftlichen Perspektivplans derart beansprucht würde, dass mitunter die laufenden Verpflichtungen vernachlässigt werden müssten.16 Im Mai 1925 forderten die wissenschaftlichen Mitarbeiter von Zemplan, in diesem Jahr ihren gesetzlichen Anspruch auf eine einmonatige Sommerpause, die ihnen im vorangegan­ genen Jahr offensichtlich verwehrt worden war, einlösen zu dürfen.17 Im November 1925 erwähnte Kondrat’ev während einer Kollegiumssitzung, dass Čelincev durch seine Tätigkeit in der Planungsabteilung derart in Anspruch genommen sei, dass man befürchten müsse, dieser würde „in drei Monaten tot umfallen“.18 Auch die materiellen Mittel standen offensichtlich in keinem Verhältnis zur Auslastung des Narkomzem. So monierten der Vorsitzende von Zemplan Teodorovič und der Verwaltungsleiter Manujlov im Februar 1926 die schlechte Ausstattung der Abteilung. Obwohl Zemplan einen Anspruch auf neun Büroräume habe, stünden lediglich vier Räume zur Verfügung. Manche der wissenschaftlichen Mitarbeiter besäßen nicht einmal einen eigenen Schreibtisch.19 Die größten Probleme ergaben sich für die Spezialisten im Narkomzem jedoch nicht durch die chaotischen Zustände des überlasteten Apparats. Ihr beruflicher Alltag wurde vielmehr regelmäßig dadurch überschattet, dass sie aufgrund ihrer mangelnden Parteimitgliedschaft und der vorrevolutionären Karrieren nach den Maßstäben der Bolschewiki als „fremde Elemente“ galten und der ständigen Gefahr ausgesetzt waren, als deren „Feinde“ denunziert zu werden. Aus diesem Grunde hing der Handlungsspielraum der Experten entscheidend davon ab, inwieweit es der Leitung der Behörde gelang, das eigene Personal gegen Kritik oder die direkte Intervention durch andere Institutionen in Schutz zu nehmen. Welche Unsicherheit diese Situation mit sich brachte, zeigte sich erstmals, als führende Mitarbeiter des Narkomzem im Zusammenhang mit den Prozessen gegen die Sozialrevolutionäre und der Auflösung des Komitees zur Hilfe der Hungernden in den Jahren 1921 und 1922

16 Manujlov an Senin [28. Februar 1925], RGAĖ f. 478, op. 5, d. 3255, l. 54. 17 Protokoll einer Sitzung der wissenschaftlichen Mitarbeiter von Zemplan [25. Mai 1925], RGAĖ f. 478, op. 2, d. 346, l. 32. 18 Bericht Kondrat’evs über Zemplan [17. November 1925], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1560, l. 6. 19 Teodorovič und Manujlov an den Volkskommissar für Landwirtschaft [Februar 1926], RGAĖ f. 478, op. 2, d. 366, l. 15.

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festgenommen wurden. Die Leitung des Narkomzem verfügte zu diesem Zeitpunkt jedoch über genug Einfluss, um sich gegen die Sicherheitsorgane durchzu­setzen, so dass die inhaftierten Mitarbeiter der Behörde nach dem Einspruch ­Smirnovs und Teodorovičs aus der Haft entlassen wurden.20 1924 gerieten die Experten dann in das Visier der Arbeiter-Bauern-Inspektion, deren Mitarbeiter bereits in der ersten Hälfte der 1920er Jahre in überdurchschnittlichem Maße Angehörige der Partei waren und für die konziliante Haltung gegenüber „bürgerlichen“ Spezialisten wenig Nachsicht aufbrachten.21 Der Apparat des Landwirtschaftskommissariats, so ein Untersuchungsbericht der Kontrollbehörde, sei „durch und durch von einem fremden, und der Partei zudem teilweise feindlich gesonnenen Element durchdrungen“. Anstoß erregte nicht nur die Präsenz ehemaliger pomeščiki, zarischer Beamter, kirchlicher Würdenträger und weißer Offiziere, sondern auch der Umstand, dass selbst Führungspositionen durch parteilose Spezialisten besetzt wurden. Als Beispiel verwies der Bericht auf die Personalpolitik des Leiters der Abteilung für Agrarökonomie und -statistik, eines „prominente[n] Spezialist[en], ehemalige[n] SR […]“ – gemeint war N. D. Kondrat’ev. Nach Auffassung der Inspektoren war die Belegschaft von Kondrat’evs Abteilung alles anderes als akzep­tabel. Der Leiter der statistischen Unterabteilung sei ein Offizier der Kolčak-Armee, der technische Zeichner ein ehemaliger pomeščik. An der Spitze der Unterabteilung für Planungsarbeiten im Kreditwesen stehe ein Agronom, der einst zu den Weißen übergelaufen sei, und die Steuerkommission werde von einem Adligen geleitet, der für Kolčak gearbeitet habe und zudem ein „schwacher und initiativloser ­Mitarbeiter“ sei. Zu ähnlichen Schlüssen kamen die Inspektoren auch in anderen Abteilungen des N ­ arkomzem. Das abschließende Urteil des Rabkrin über die personelle Zusammen­setzung der Behörde war verheerend: „in sozialer wie politischer Hinsicht völlig unbefriedigend“22. Nach diesem vernichtenden Urteil stand die Führungsspitze des Narkomzem vor einem Problem. Sie musste die Leitungen des Rabkin und der Partei von der eigenen politischen Integrität überzeugen, ohne vorangegangene Personalentscheidungen revidieren zu müssen. Der Volkskommissar für Landwirtschaft A. P. Smirnov beherrschte die Sprache der Bolschewiki und benutzte die sozialen Kategorien, die die Revisoren bei der Evaluierung seines Personals angelegt hatten. In den schriftlichen Stellungnahmen, mit denen Smirnov auf die Vorwürfe der Untersuchungskommission reagierte, stellte er die Bewertungsmaßstäbe der Inspektion nicht in Frage. Stattdessen monierte er, dass die Mitarbeiter von Rabkrin veraltete 20 Wehner, Bauernpolitik, S. 95 – 98. Von den Verhaftungen waren u. a. N. D. Kondrat’ev, A. A. ­Rybnikov und N. P. Oganovskij betroffen. Kondrat’ev und Rybnikov hatten ursprünglich aus Russland ausgewiesen werden sollen. 21 Rees, State Control, S. 82f. 22 Rabkrin-Bericht über die Revision des Narkomzem, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1534, l. 8 – 13.

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Daten benutzt hatten, als sie den Narkomzem überprüften. Für Smirnov zeugten die schlechten Noten, die seine Behörde erhielt, vor allem von der Unfähigkeit der Inspektoren selbst. Während seiner Amtszeit, so der Volkskommissar gegenüber der Leitung des Rabkrin, habe er die Strukturen seiner Behörde verschlankt und die Position der Partei gestärkt.23 Nach Auffassung Smirnovs übertrieb der Bericht des Rabkrin die Bedeutung „fremder Elemente“ im Apparat des Narkomzem: Der Anteil von pomeščiki und weißen Offizieren sei im Verlauf seiner Amtszeit deutlich zurückgegangen, mit Erfolg habe er sich außerdem dafür eingesetzt, „Bauern vom Pflug“ (krest’jan’e ot sochi) in die Arbeit des Narkomzem einzubinden.24 Smirnov reagierte mit einem pragmatischen Argument auf die Vorwürfe von Rabkrin. Er ließ keinen Zweifel daran, dass auch er es für geboten hielt, den Anteil von Parteimitgliedern im Staatsapparat zu verstärken. Versuche, diesen Anspruch mit Nachdruck durchzusetzen, erschienen ihm jedoch verfrüht. Angesichts der geringen Zahl landwirtschaftlich spezialisierter Parteimitglieder sei die massenhafte Einsetzung von Bolschewiki im Narkomzem bislang eine Utopie. Die endgültige „Säuberung“ des Apparats von „Personen sozial unerwünschter Kategorien“ würde dem Narkomzem nur überflüssigen „Rummel und Nervosität“ einbringen.25 Auf die gleiche Weise argumentierte Smirnov, als der Narkomzem wegen der Berufung Makarovs und Čelincevs in die landwirtschaftliche Planungs­kommission Zemplan in die Kritik geriet.26 Beide Ökonomen hatten einige Jahre in der Emigration gelebt und waren 1924 bzw. 1925 auf Initiative des Volkskommissariats für Landwirtschaft nach Moskau zurückgekehrt. Offensichtlich profitierten sie von dem Einfluss, den ihre früheren Kollegen inzwischen in der Behörde erlangt hatten. Makarov zählte bereits im Januar 1925 zu den Präsi­diumsmitgliedern von Zemplan.27 Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung war Čelincev 1925 Vorsitzender einer Kommission für Garten- und Gemüsebau.28 Die Anstellung der Ökonomen, die als Vertreter einer nichtmarxistischen Strömung der Agrarökonomie und seit ihrer Mitarbeit in der Provisorischen Regierung als Ideologen einer „demokra­tischen“ Agrarreform bekannt waren, erregte unter bolschewistischen Agrarpolitikern solches Aufsehen, dass sich Smirnov gezwungen sah, seine Personalpolitik gegenüber hochrangigen Parteipolitikern zu verteidigen. In einem Schreiben an den Präsidenten des Zentralkomitees E. M. Jaroslavskij beklagte

23 24 25 26 27 28

Smirnov an Rabkrin [10. Oktober 1924], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1534, l. 2 – 7. Smirnov an Rabkin [nicht vor Mai 1925], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1742, l. 6 – 12. Smirnov an Rabkin [10. Oktober 1924], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1534, l. 7. Siehe hierzu Wehner, Bauernpolitik, S. 240f. Protokoll der Präsidiumssitzung von Zemplan [9. Januar 1925], RGAĖ f. 478, op. 2, d. 335, l. 1. Protokoll einer Sitzung der wissenschaftlichen Mitarbeiter von Zemplan [25. Mai 1925], RGAĖ f. 478, op. 2, d. 346, l. 32, 36.

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sich der Vorsitzende des Narkomzem im April 1925 über den bolschewistischen Ökonomen Ju. Larin, der den wachsenden Einfluss parteiloser Spezialisten im Narkomzem angeprangert hatte. Der Volkskommissar rechtfertigte seine Personalentscheidungen mit dem Hinweis auf den Mangel an bolschewistischen Agrarspezialisten: Unter den wenigen Parteipolitikern, die sich in Agrarfragen zu Wort meldeten, befänden sich nur „Schwätzer“. Er habe daher einen Vertreter des Narkomzem in Berlin beauftragt, unter den Emigranten nach geeigneten Mitarbeitern für seine Behörde zu suchen. Nachdem die Wahl auf Makarov und Čelincev gefallen sei, habe man deren Einreise mit dem Zentralkomitee, der OPGU und dem Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten abgestimmt.29 Smirnovs Strategie war eindeutig. Um die zahlreichen Anfeindungen seiner Personal­politik abzuwenden, präsentierte er sich als loyaler Anhänger der Partei­ linie, der Professionalismus und Dienstbeflissenheit höher schätzte als oppurtunistische Glaubensbekenntnisse. Zwar verwies er gegenüber der Leitung des Rabkrin mit einigem Stolz darauf, dass abgesehen von V. I. Senin, dem Leiter der Zentralen Landwirtschaftsadministration, die Vorsitzenden aller Zentralabteilungen des N ­ arkomzem den Bolschewiki angehörten. Dass man im Abschlussbericht des Rabkrin ausgerechnet die fehlende Parteimitgliedschaft Senins, der aufgrund seiner vorangegangenen Tätigkeit auf dem Gebiet der Versorgungspolitik in der Parteiführung höchstes Ansehen genoss, beanstandet und diesen als einen Menschen von „unbestimmter politischer Physiognomie“ bezeichnet hatte, war Smirnov jedoch schier unverständlich. Senins fehlende Parteimitgliedschaft sei schließlich nur eine Formalität (formal’no bezpartijnnyj). Wenn man diesem nun daraus einen Vorwurf mache, so Smirnov, wisse er nicht, welcher Wert den Schlussfolgerungen der Arbeiter- und Bauerninspektion überhaupt beigemessen werden könne.30 Die gleiche Haltung nahm der Volkskommissar für Landwirtschaft in Hinblick auf die Anstellung Makarovs und Čelincevs ein: „Als ich die Professoren Makarov und Čelincev einlud, habe ich sie nicht nach ihrer Vergangenheit gefragt und sie auch nicht darum gebeten, sich von absichtlich oder unabsichtlich begangenen Fehlern loszusagen. Ich habe sie nur nach dem einzig Wichtigem gefragt: Würden sie bereit sein, in Zukunft den Interessen des sowjetischen Staates zu dienen […]. Auf diese Frage erhielt ich eine positive Antwort.“31 Mit seinen Stellungnahmen wandte Smirnov die Einwände gegen die Personalpolitik des Narkomzem in ihr Gegenteil. In seiner Argumentation erschien die Kritik an den parteilosen Spezialisten als Ausdruck eines formalistischen Verständnisses von Parteilichkeit. Während er für

29 Smirnov an Jaroslavskij [7. April 1925], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1812, l. 40 – 42. 30 Smirnov an Rabkrin [10. Oktober 1924], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1534, l. 2 – 7. 31 Smirnov an Jaroslavskij … RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1812, l. 41.

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sich selbst in Anspruch nahm, ausschließlich mit Blick auf die Interessen seines Landes zu handeln, stellte er die Rabkrin-Mitarbeiter als Opportunisten dar, denen Lippenbekenntnisse zur Partei wichtiger waren als das konkrete Engagement für den sowjetischen Staat. Die wachsende Bedeutung parteiloser Experten im Apparat des Narkomzem zog nicht nur den Argwohn der Kontrollbehörde Rabkrin auf sich. Während die Leitung des Narkomzem immer wieder die fachliche Kompetenz der Experten hervorhob, wurden deren Arbeiten in zunehmendem Maße danach beurteilt, ob sie der ideologischen Linie der Partei genügten. 1925 erreichten die Anfeindungen gegen die Experten des Narkomzem ihren ersten Höhepunkt. Der marxistische Agrar­ theoretiker und Gosplanmitarbeiter L. N. Kricman nutzte eine Debatte über den landwirtschaftlichen Perspektivplan des Narkomzem zur öffentlichen Diskre­­di­ tierung Kondrat’evs, der federführend an der Erstellung des Plans beteiligt gewesen war.32 Kricman bezeichnete Kondrat’evs Plädoyer für eine parallele Entwicklung von Landwirtschaft und Industrie als „populistische Phantasie“ (­narodničeskaja vydumka).33 Angesichts des Verbots der Sozialrevolutionären Partei war dies ein vernichtender Vorwurf; ­Kondrat’ev stand nun im Ruf, die Ideologie einer Partei zu vertreten, deren Mitglieder die Bolschewiki kurz zuvor als ihre größten Feinde dargestellt hatten. Im gleichen Zusammenhang stellte Kricman auch die p­ rofessionelle Autorität des Ökonomen in Frage. In einem polemischen Artikel bezichtete er Kondrat’ev und Oganovskij, die für die von Zemplan erstellten „Grundlagen für den Perspektivplan zur Entwicklung der Land- und Forstwirtschaft“ verantwortlich zeichneten, der Nachlässigkeit und Schlamperei. Besonders aggressiv reagierte er auf Rechenfehler, die den beiden bei der Kalkulation der Saatflächen für das Jahr 1924 unterlaufen waren: „[…] von elf Berechnungen sind neun fehlerhaft. Neun von elf!!! Kein übler Anteil. Da kann sich die Sowjetunion ja beruhigt schlafen legen.“34 Nach Kricmans öffentlicher Polemik regte sich auch innerhalb des ­Narkomzem Widerstand gegen die Experten von Zemplan. Das Fachwissen der Experten galt als wertlos, wenn es nicht mit einem offenen Bekenntnis zum gesellschaftlichen Leitbild der Bolschewiki und den Maximen des Marxismus einherging. Im Juli 1926 wandte sich der stellvertretende Vorsitzende der landwirtschaftlichen Planungs­kommission L. Margolin an das Kollegiumsmitglied M. I. Lacis, um diesen auf eine „ganze Reihe von Fehlern politischen Charakters“ im Zehnjahresplan zur Flurbereinigung hinzuweisen. Die Autoren des Plans, so Margolin, maßen den Formen der privaten Bodennutzung durch Einzelwirtschaften, deren Überwindung

32 Kondrat’ev, Osnovy. 33 Plenarnoe zasedanie Prezidiuma Gosplana, S. 179f. 34 Kricman, Arifmetika, S. 88.

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auch in den Jahren der NĖP nicht von der agrarpolitischen Agenda gestrichen war, eine viel zu hohe Bedeutung bei. Zudem gebe es Anzeichen dafür, „dass der Plan nicht von einem Marxisten verfasst [worden sei]“: Die Zitate von Marx und Lenin stünden im Widerspruch zur eigentlichen Aussage des Texts. Zudem beruhe dieser auf der falschen Annahme des apolitischen Charakters der Flurbereinigung und der „natürlichen Evolution“ der Landwirtschaft.35 Um den Verdacht zu entkräften, der Narkomzem protegiere eine Gruppe von unprofessionellen ideologischen Abweichlern, leitete der stellvertretende Volkskommissar für Landwirtschaft A. I. Sviderskij eine Untersuchung der von Kricman erhobenen Vorwürfe ein. In seiner Funktion als Verwaltungsleiter der Abteilung für Agrarstatistik und -ökonomie wurde A. A. Manujlov beauftragt, den Anschuldigungen im Detail nachzugehen und die Fehlerquellen in den von Oganovskij und Kondrat’ev veröffentlichten Materialien zu identifizieren. Manujlov fand heraus, dass sich die Narkomzem-Mitarbeiter, insbesondere Oganovskij, tatsächlich Rechen- und Flüchtigkeitsfehler hatten zuschulden kommen lassen.36 Die Leitung des Narkomzem ließ sich jedoch nicht auf Kricmans Rhetorik ein. Als dieser die parteilosen Spezialisten des Narkomzem während der Beratungen über den landwirtschaftlichen Perspektivplan öffentlich anfeindete, nahm Sviderskij seine Mitarbeiter gegen die „Fehlerbuchhaltung“37 Kricmans in Schutz: Auch Kricman könnten Rechenfehler nachgewiesen werden: „Das passiert nicht nur parteilosen Autoren, sondern auch Parteimitgliedern.“38 Sviderskij hielt es jedoch für ausgeschlossen, dass die Arbeit von Zemplan falschen theoretischen Annahmen folgte; der landwirtschaftliche Perspektivplan des Narkomzem werde schließlich bereits mit Erfolg umgesetzt. Für die aggressive Kritik Kricmans hatte er daher nur Spott übrig: „Man muss weder von theoretischen Fehlern sprechen, noch zum Schluss kommen, dass der Narkomzem nicht richtig arbeitet oder nicht in die richtige Richtung geht. […] Aber es kann natürlich sein, dass alle, außer den Genossen Kricman, Dubrovskij und ein paar jungen Theoretikern, Fehler gemacht haben.“39 Auch die Ökonomen selbst bemühten sich, den Schaden aus der Affäre zu begrenzen. In einem öffent­ lichen Leserbrief erklärte Oganovskij die von Kricman beanstandeten Rechen- und Druckfehler mit ungenügenden Arbeitsbedingungen: Die Statistiker von Zemplan

35 Schreiben des stellvertretenden Vorsitzenden von Zemplan an das Kollegiumsmitglied des ­Narkomzem M. I. Lacis [1926], RGAĖ f. 478, op. 2, d. 366, l. 6. 36 Smirnov an die Redaktion der Zeitschrift „Na agrarnom fronte“, ARAN f. 528, op. 3, d. 46, l. 2 – 8. 37 Die Praxis der „Fehlerbuchhaltung“, d. h. die Artikulation von Kritik durch die Hinweise auf die Fehler intellektueller Gegner, war im sowjetischen Diskurs der 1920er Jahren eine weit verbreitete Praxis. Erren, „Selbstkritik“, S. 143. 38 Obsuždenie „Osnovy perspektivnogo plana …“, S. 188. 39 Ebd., S. 189.

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seien unterbezahlt, die Abteilung stehe unter großem Druck durch die zentralen Planungsbehörden. Er selber habe den Text nur nachts abfassen können; tagsüber sei er seinem Dienst im Narkomzem nachgegangen. Abends habe er an Sitzungen teilgenommen oder Vorlesungen gehalten.40 Kondrat’ev räumte in seiner öffentlichen Stellungnahme zwar ein, dass ihnen im Vorfeld der Veröffentlichung ihrer Planungsdaten Fehler unterlaufen seien. Zweifel an seiner Professionalität wies er jedoch zurück. Vielmehr wertete er Kricmans Auftreten als ein „Beispiel verantwortungsloser, destruktiver Kritik“41. Für die Leitung des Narkomzem war die Zusammenarbeit mit den parteilosen Experten ein schwieriger Balanceakt. Wenn es darum ging, Haftstrafen oder Kün­ digungen zu verhindern, setzten sich Smirnov, Teodorovič und Sviderskij regelmäßig für ihre Angestellten ein. Sie standen jedoch unter dem andauernden Druck, sich in der Konkurrenz mit Vertretern anderer Zentralbehörden zu behaupten und ihre Loyalität gegenüber der Parteilinie glaubwürdig zu präsentieren.42 Es gab daher wiederholt Situationen, in denen sie sich nach außen von den „fremden Elementen“ in ihrer Behörde distanzierten. So versuchte Smirnov, Rabkrin mit dem Hinweis zu beschwichtigen, dass „die Kondrat’evs […] u. s. w.“, deren Einfluss bei den Inspektoren großen Anstoß erregt hatten, keine weitergehenden Befugnisse hätten und lediglich als wissenschaftliche Mitarbeiter, Berater oder technische Assistenten tätig seien.43 Smirnov, der in Kondrat’ev einen seiner wichtigsten Mit­arbeiter sah, hielt es offensichtlich für geboten, seine Wertschätzung zu verbergen und sich als linientreues Parteimitglied zu präsentieren, um die Kritik von Rabkrin als gegenstandslos darzustellen. Teodorovič wiederum beeilte sich, die Fehler in den „Grundlagen für den Perspektivplan“, die Oganovskij auf schlechte Arbeitsbedingungen zurückgeführt hatte, dem Ökonomen selbst anzulasten: Oganovskij habe ihm vor der Veröffentlichung des Manuskripts versichert, alle enthaltenen Zahlenangaben vollständig korrigiert zu haben. Damit hätte er ihn bewusst getäuscht.44 Zwar dürften derartige Äußerungen in erster Linie dazu gedient haben, die Kritiker des Narkomzem zu beschwichtigen. Sie zeugen jedoch davon, dass sich die Leiter des Volkskommissariats für Landwirtschaft der eigenen Position nicht unein­ geschränkt sicher waren. Offenbar sahen sie sich gezwungen, die eigene Integrität zu demonstrieren, indem sie den Ruf ihrer Mitarbeiter schädigten. Nach ihrer Einbindung in den bolschewistischen Staatsapparat befanden sich die Vertreter des Agrarismus in einer ambivalenten Lage. Zwar gelang es ihnen, 40 41 42 43 44

Oganovskij, Pis’mo. Kondrat’ev, Po povodu stat’i L. Kricmana, S. 186. Zu diesem Problem siehe Wehner, Bauernpolitik, S. 25 – 30. Smirnov an Rabkrin … RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1534, l. 2 – 7. Teodorovič, Pis’mo, S. 199f.

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das vorrevolutionäre Expertennetzwerk innerhalb der staatlichen Strukturen wiederzubeleben. Die Bedingungen ihrer Zusammenarbeit unterschieden sich allerdings von jenen vor der Revolution. Hatten sie vormals in informellen Netzwerken oder im Rahmen von selbst gegründeten Organisationen agiert, waren sie nun Teil der staatlichen Bürokratie. Zwar ging die Einbindung in den Staatsapparat mit einem Maß an beruflicher Verantwortung einher, das ihre bisherigen Erfahrungen deutlich überstieg. Das berufliche Fortkommen der Experten war jedoch an den Verzicht auf die Unabhängigkeit gebunden, die in den Jahren vor der Revolution einen zentralen Bestandteil ihres professionellen Selbstverständnisses ausgemacht hatte. Erschwert wurde diese Lage dadurch, dass sie nach den Maßstäben der Bolschewiki als „sozial fremde“ oder „politisch unzuverlässige Elemente“ galten. Sie konnten sich daher keinerlei Konflikte mit der Leitung des Narkomzem, der sie ihre Anstellung verdankten, erlauben. Die parteilosen Experten waren jedoch nicht nur von der Gunst ihrer Patrone an der Spitze des Narkomzem abhängig, sondern auch von deren Stellung innerhalb des parteilichen Machtgefüges. Ihr gesellschaftliches und berufliches Ansehen war unmittelbar daran gebunden, ob ihre Förderer das nötige Gewicht besaßen, um sie wirksam gegen Anfeindungen und Verleumdungen in Schutz zu nehmen.45 Die Experten des Narkomzem, denen jeglicher Einfluss auf die poli­tische Konjunktur fehlte, mussten folglich unmittelbar davon betroffen sein, wenn sich die politische Tektonik zu Gunsten oder zu Ungunsten des Narkomzem und seiner Führungsetage verschob. Entsprechend begrenzt war daher auch ihr Handlungsspielraum. Der Agrarismus war nun eine staatliche Veranstaltung.

3.1.2  Nationalisierung von Wissenschaft und Bildung Für Vertreter agrar- und wirtschaftswissenschaftlicher Disziplinen war die Anstellung in den agrarpolitischen Organen des Zentralstaats nicht die einzige Karriere­option. Dank der Expansion des Hochschulwesens, dem Ausbau der beruflichen Fachausbildung und der Ausweitung der staatlichen Forschungsförderung entwickelte sich der Arbeitsmarkt für Akademiker im ersten Jahrzehnt der bolschewistischen Herrschaft ausgesprochen dynamisch. Obwohl das höhere Bildungswesen durch die Abschaffung der Hochschulautonomie, die Entlassung und Aussiedlung nichtmarxistischer Professoren sowie die Besetzung der Universitätsleitungen durch Parteivertreter zu Beginn der 1920er Jahre einen

45 Diese Konstellation betraf zahlreiche Vertreter der vorrevolutionären Intelligencija. Fitzpatrick, Intelligentsia, S. 49f.

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entscheidenden Teil seiner Unabhängigkeit eingebüßt hatte,46 konnte eine große Zahl der Dozenten und Professoren ihre zumeist vor der Revolution begonnenen akademischen Karrieren ohne nennenswerte Probleme fortsetzen.47 Dies traf auch auf die führenden Vertreter des Agrarismus zu. An den landwirtschaftlichen Hochschulen und Forschungsinstitutionen bewegten sich die Agrarwissenschaftler, Statistiker und Ökonomen, die in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten die Auseinandersetzung über die ländliche Ökonomie dominiert hatten, in den gleichen intellektuellen und personellen Netzwerken wie vor der Revolution. In mehreren Fällen gelang ihnen sogar die Gründung eigener Forschungsinstitute, an denen sie ihren wissenschaftlichen Interessen weitgehend unbehelligt nachgehen konnten. Die Sowjetisierung Russlands bedeutete für sie eine Festigung ihrer Position als Akademiker. Die institutionellen Voraussetzungen hierfür entstanden im Zuge des zeitgleich auch in anderen Ländern zu beobachtenden Trends zur „Nationalisierung der Wissen­schaften“48. Der von den Bolschewiki artikulierte Anspruch, die Landwirtschaft, stärker als das während der Herrschaft der zarischen Regierung der Fall gewesen war, zu einem Feld staatlicher Intervention zu machen, erforderte nicht nur den Ausbau entsprechender staatlicher Organe. Er führte auch zu einer erhöhten Nachfrage nach landwirtschaftlich geschulten Fachkräften. Nachdem Mitarbeiter des Narkomzem bereits während des Bürgerkriegs angemahnt hatten, die Ausbildungsmöglichkeiten für angehende Agrarspezialisten zu erweitern,49 kam es am Beginn der 1920er Jahre zur Neugründung, Zusammenlegung und Vergrößerung landwirtschaftlicher Bildungs- und Forschungseinrichtungen. Auf eine Anweisung des Volkskommissariats für Bildung wurde die Moskauer Petrovka-Akademie im Jahr 1922 grundlegend umstrukturiert. Neben einer Reorganisation der Fakultäten wurde ihr eine Reihe kleinerer landwirtschaftlicher Bildungseinrichtungen angegliedert, die bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend eigenständig existiert hatten. Zu ihnen zählten die traditionsreichen Golicynschen Landwirtschaftlichen Kurse für Frauen, die Höheren Wiesenwirtschaft­lichen Kurse, die Höheren Kurse für Bodenkunde und Flurbereinigung sowie die Abteilung 46 Hierzu Finkel, Ideological Front, Kap. 2; Fitzpatrick, Commissariate of Enlightenment, Kap. 4. 47 Auch Sheila Fitzpatrick konstatiert, dass die „alte“ Professorenschaft in den 1920er Jahren über relativ große Freiräume verfügte: “Between the deportations of 1922 […] and the campaign against ‘bourgeois specialists’ which began in 1928, the old professors lived increasingly comfortable and relatively independent lives in their own sphere, dealt with the Soviet government as negotiators rather than petitioners, and enjoyed privileges which, mutatis mutandis, put them in much the same positions vis-à-vis the society as a whole as they had before the revolution.” Fitzpatrick, Education, S. 67. 48 Diesen Begriff übernehme ich von Edgerton, Science, insb. S. 761. 49 Plan der Bildungsabteilung des Narkomzem [1918], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 113, l. 1 – 12.

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für Melioration des Instituts für Vermessungswesen.50 Ähnliche Prozesse fanden zeitgleich in Petersburg, wo drei Institute mit landwirtschaftlicher Ausrichtung zusammengelegt wurden, sowie in kleineren Städten mit landwirtschaftlichen Bildungseinrichtungen statt.51 Die Ausbildung von Landwirtschaftsspezialisten war ein wichtiger Schauplatz der Bildungsexpansion im sowjetischen Russland. Die Aufhebung der Zulassungsbeschränkungen an Hochschulen und die Gründung von so genannten Arbeiter-­ Fakultäten (Rabfak) führten landesweit zu einer Ausweitung der weiterführenden Bildung,52 die sich auch an den landwirtschaftlichen Bildungseinrichtungen bemerkbar machte. Mit fast 22.000 Studierenden waren im Jahr 1923 landesweit mehr als doppelt so viele Personen an landwirtschaftlichen Instituten und Fakul­ täten immatrikuliert wie vor dem Machtantritt der Bolschewiki.53 An der Moskauer Petrovka-Akademie, der führenden agrarwissenschaftlichen Bildungseinrichtung Russlands, entwickelte sich die Zahl der Studenten nach der Revolution besonders dynamisch. Hatten hier im Jahr 1914 1332 Personen studiert, erhöhte sich ihre Zahl im Jahr 1923 vorübergehend auf 5120.54 Da die rasante Zunahme der Hörer die Kapazitäten der Akademie überstieg,55 unternahm deren Leitung sogar Schritte zur Beschränkung der Studentenzahl. Im August 1923 meldete der Rektor der Akademie V. R. Vil’jams dem Rat für landwirtschaftliche Ausbildung und Propaganda im Narkomzem, die Zahl der Studierenden sei von 4740 zu Beginn des Lehrjahres 1922/23 auf 3416 am 1. August 1923 zurückgegangen.56 Die Maßnahme änderte jedoch nichts am allgemeinen Trend. Auch in den folgenden Jahren waren deutlich mehr Studenten an der Moskauer Landwirtschaftsakademie immatrikuliert als vor der Revolution.57 Für die Vertreter des Agrarismus hatten diese Entwicklungen widersprüchliche Folgen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der bäuerlichen Landwirtschaft konzentrierte sich weiterhin an der Moskauer Petrovka-Akademie (seit Ende 1923 Timirjazev-Akademie). Mit der Eröffnung einer Fakultät für Agrarökonomie

50 Übersicht über die Lage der Akademie im Zeitraum 1915 – 1925, CAGM f. r-691, op. 1, d. 1, l. 90 – 104. Allg. siehe Flagman agroėkonomičeskogo obrazovanija, S. 9 – 24. 51 Kamenskij, Položenie s.ch. obrazovanija. 52 Fitzpatrick, Education, S. 49, 61 – 63. 53 „Chronika s.-ch. Obrazovanija“, S. 23. 54 „Petrovskaja s.-ch. Akademija“, S. 11 – 14. 55 Vortrag auf einer Sitzung des Rats für landwirtschaftliche Bildung und Propaganda des ­Narkomzem [13. Februar 1924], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1339, l. 9 – 12. 56 Schreiben der Akademieleitung an den Rat für landwirtschaftliche Bildung und Propaganda des Narkomzem [10. August 1923], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1099, l. 2. 57 Übersicht über die Zahl der Studierenden und das Lehrpersonal der Akademie bis 1955, CAGM f. r-691, op. 1, d. 2, l. 1; Flagman agroėkonomičeskogo obrazovanija, S. 23.

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und -politik im Oktober 192258 ging hier ein von den Vertretern des ­Agrarismus lange vor der Revolution gehegter Wunsch in Erfüllung. Als Wegbereiter der „sozial­ wissenschaftlichen Wende“ in der Agrarwissenschaft hatten sie wiederholt versucht, die Kanonisierung ihres wissenschaftlichen Paradigmas durch die Schaffung ent­ sprechender institutioneller Strukturen abzusichern. Es war ihnen jedoch nicht gelungen, die Agrarökonomie aus ihrer marginalen Position zu lösen.59 Die Gründung der Fakultät, die eigentlich auf die Traditionen der vorrevolutionären obščestvennost’ zurückging, zeugte von der zunehmenden Vereinnahmung von Wissenschaft und Bildung durch den sowjetischen Staat. Der neue Fachbereich unterstand den Statuten für sozialwissenschaftliche Fakultäten, denen nach einer Entscheidung der Rat der Volkskommissare die Ausbildung von wissenschaftlich geschulten Kadern für den „sozialistischen Aufbau“ zukam.60 Im Narkomzem hatte man die Notwendigkeit des neuen Fachbereichs durch den „Mangel an Agrarökonomen mit marxistischer Ausbildung“ begründet.61 Das Studium der ­Agrarökonomie sollte der Schulung von Fachleuten dienen, die sich die Umgestaltung der Landwirtschaft nach den ideologischen Leitlinien der Bolschewiki zur Aufgabe machen würden. In der Einrichtung des neuen Fachbereichs kamen demnach zwei parallel verlaufende Trends zum Tragen: die Institutionalisierung des Agrarismus und die zunehmende Inanspruchnahme der Agrarwissenschaften und ihrer Nachbar­disziplinen durch Staat und Partei. Auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Soziallehre zeigten die Versuche zur Etablierung des Marxismus in der Hochschulbildung zunächst nur mäßige Erfolge. Obwohl mit dem Kollegiumsmitglied des Narkomzem P. A. Mesjacev ein bekennender Marxist und Bolschewik zum Dekan der Fakultät für Agrarökonomie und -politik ernannt wurde, entwickelte diese sich in den 1920er Jahren zum Zentrum einer nichtmarxistischen Agrarökonomie. Da der Marxismus erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in der sowjetischen Agrarökonomie kanonisiert wurde und die Auseinandersetzung mit Fragen der ländlichen Ökonomie unter den An­­hängern der Bolschewiki ohnehin nicht besonders verbreitet waren, befanden sich unter den Lehrkräften des neuen Fachbereichs nur wenige Vertreter der Parteilinie. Auch 58 Die Fakultät ging aus der 1920 ins Leben gerufenen Ökonomischen Abteilung hervor. Im Februar 1923 wurde die neue Fakultät für Agrarökonomie und -politik feierlich eröffnet. „Otkrytie fakul’teta s.ch. ėkonomii i politiki“, S. 19f. 59 Von diesen Anstrengungen zeugten etwa die Gründung der Čuprov-Gesellschaft und die Einrichtung der Genossenschaftskurse an der Šanjavskij-Universität. A. F. Fortunatov hatte sich 1912 für die Schaffung einer ökonomischen Fakultät am Moskauer Landwirtschaftlichen Institut eingesetzt, dieses Vorhaben aber nie realisieren können. Fortunatov; Fortunatov, Aleksej Fedorovič ­Fortunatov, S. 23. 60 Beschluss des SNK zur Organisation von FON (März 1921), CAGM f. 1609, op. 1, d. 488, l. 1. 61 Bericht über die Lage der Akademie in den Jahren 1915 – 1925, CAGM f. r-691, op. 1, d. 1, l. 120.

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diese prägten das Fakultätsleben nur marginal. Da die bolschewistischen Intellektuellen hohe Funktionen in der sowjetischen Administration oder der Partei innehatten oder an mehreren höheren Bildungsinstitutionen gleich­zeitig unterrichteten, blieb ihnen für ihre Lehrtätigkeit nur wenig Zeit. So zählte der stellvertretende Volkskommissar für Landwirtschaft Teodorovič zwar offiziell zum Personal der Fakultät für Agrarökonomie und -politik. Als Dozent trat er jedoch faktisch nicht in Erscheinung.62 Ähnlich wie manche Sektionen des Narkomzem erinnerte die Personalstruktur der neuen Fakultät an vorrevolutionäre Agronomen- oder Genossenschaftskongresse oder die agrarpolitischen Beratungsgremien der Provisorischen Regierung. Čajanov, Kondrat’ev, Makarov und Čelincev lehrten am 1923 eingerichteten Lehrstuhl für landwirtschaftliche Organisation. Ebenso unterrichteten Litošenko und Fabrikant, ehemaliger Student Fortunatovs in Kiev und Mitarbeiter des Narkomzem, am neu gegründeten Fachbereich. Rybnikov gehörte zwischenzeitlich sogar der Fakultätsleitung an.63 Eine vergleichbare Konstellation ergab sich an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Moskauer Universität. Zwar gelang es der politischen Führung, mit N. I. Bucharin, L. N. Kricman und S. G. Strumilin führende marxistische Ökonomen an der Fakultät unterzubringen. Die Lehre wurde jedoch weiterhin von „bürgerlichen“ Professoren bestimmt. In den 1920er Jahren lehrten hier Kondrat’ev, Fabrikant, Oganovskij, Manujlov, Rybnikov, Litošenko, Kafengauz und Kacenelenbaum.64 In welchem Maße nichtmarxistische Agrarwissenschaftler und Ökonomen von der zunehmenden Einmischung des Staates in die Organisation von Wissenschaft und Bildung profitierten, zeigte sich nach der Einrichtung zweier eigenständiger Forschungseinrichtungen in den ersten Jahren der bolschewistischen Herrschaft. Čajanovs agrarökonomisches Institut an der Petrovka-Akademie war die deutlichste Spur des vorrevolutionären Agrardiskurses in der russischen Wissenschaftslandschaft. Nachdem auf Initiative des Ökonomen zunächst nur ein Seminar eingerichtet worden war, erfolgte 1922 dessen Aufwertung zu einem eigenständigen Forschungsinstitut (Naučno-issledovatel’skij institut sel’skochozjajstvennoj ėkonomii i politiki). Dieses entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einem auch im Ausland bekannten Zentrum der sowjetischen Agrarökonomie.65 Nicht weniger bedeutsam war das Konjunkturinstitut (Kon-junkturnyj insitut), das 1920 auf einen

62 Fitzpatrick, Education, S. 73. 63 Bericht über die Lage der Akademie …, CAGM f. r-691, op. 1, d. 1, l. 24 – 40; Flagman ­agroėkonomičeskogo obrazovanija, S. 5, 107 – 109. 64 Protokoll des Dekanats der FON, CAGM f. 1609, op. 1, d. 534, l. 46; Protokolle der Fakultätsratssitzung an der FON [1923], CAGM f. 1609, op. 1, d. 533, l. 8, 10, 40; Übersicht über das Lehr­personal der FON für das Jahr 1923/24, CAGM f. 1609, op. 1, d. 692, l. 12 – 17. 65 Bericht über die Lage der Akademie … , CAGM f. r-691, op. 1, d. 1, l. 529 – 533.

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Vorschlag Čajanovs ins Leben gerufen wurde und unter der Leitung Kondrat’evs zu höchstem inter­nationalen Ansehen gelangte.66 Dass sich die führenden Sprecher des Agrarismus in den 1920er Jahren als eine wissenschaftliche Elite etablierten, war für diese selbst wie auch für die neuen Machthaber ausgesprochen vorteilhaft. Für die bolschewistische Elite stellte die Förderung der vorrevolutionären Intelligenz eine Möglichkeit dar, die wissenschaftliche Forschung der staatlichen Kontrolle zu unterstellen und für administrative Zwecke in Anspruch zu nehmen.67 Den Wissenschaftlern bot sich mit diesem Arrangement die Möglichkeit, den vorrevolutionären Agrardiskurs der obščestvennost’ in der Wissenschaftslandschaft zu institutionalisieren und ihre Forschungsinteressen mit staatlichen Mitteln weiterzuverfolgen. Keineswegs strebten die Bolschewiki in den 1920er Jahren danach, vorrevolutionäre Akademiker vollständig aus der Lehre und Forschung auszuschließen. Vielmehr ging es ihnen darum, die Akademiker in die Hierarchien des Zentralstaats zu inkorporieren. Besonders deutlich zeigte sich dies im Fall des Moskauer Genossen­ schaftsinstituts (Kooperativnyj institut). Die Gründung eines solchen Instituts, die seit dem Kiever Genossenschaftskongress von 1912 ein zentrales Anliegen der Genossen­schaftsbewegung gewesen war,68 hatte mehrere Jahre in Anspruch genommen. Auf die genossenschaftlichen Kurse an der Šanjavskij-Universität war im September 1918 ein eigenständiges Genossenschaftsinstitut gefolgt,69 an dem sich die Elite der Genossenschaftsbewegung versammelte. Prokopovič wurde Direktor, der Ökonom Anisimov Dekan. Unter den Dozenten befanden sich die Ökonomen ­Čajanov, Kafengauz, Kondrat’ev, Litošenko, Rybnikov sowie die Genossenschafts­ aktivisten Merkulov und Kil’čevskij.70 Obwohl sich das Personal weitgehend mit der Belegschaft des Instituts für Agrarökonomie und -politik deckte, entwickelten sich beide Einrichtungen sehr unterschiedlich. Das Genossenschaftsinstitut gehörte dem 1917 gegründeten Rat der Allrussischen Genossenschaftskongresse an und war damit kein Bestandteil des staatlichen Bildungssystems. Als im Zuge der Verstaatlichung des Genossenschaftswesens Anfang 1920 der Rat aufgelöst

66 Barnett, Long Wave Goodbye. 67 Die Mitarbeiter des Konjunkturinstituts standen in ständiger Verbindung zu den Leitungsgremien des Volkskommissariats für Finanzen und zu Gosplan. Im Auftrag des Narkomfin führte es Untersuchungen über die sowjetische Konjunkturentwicklung durch. Zugleich wurde es von einzelnen Partei- und Staatsfunktionären wiederholt mit Einzelexpertisen beauftragt. 1925 wandten sich u. a. A. I. Rykov, L. D. Trockij, Ja. A. Jakovlev und G. E. Zinov’ev an das Institut. Siehe: Übersicht über die Arbeiten des Konjunkturinstituts [15. April 1925], RGAĖ f. 769, op. 1, d. 21, l. 5 – 21. 68 [Char’kovskoe Obščestvo Sel’skogo Chozjajstva,] Kooperativnyj Institut. 69 Einladung zur Eröffnung des Genossenschaftlichen Instituts [1918], CIAM f. 635, op. 3, d. 133, l. 3. Zu den Planungen für das Institut siehe Sovet Vserossijskich Kooperativnych S-ezdov, ­Kooperativnyj Institut. 70 Gehaltsliste des Genossenschaftlichen Instituts [1920], RGAĖ f. 533, op. 1, d. 59, l. 1.

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wurde, musste auch das Institut geschlossen werden. Seine Räumlichkeiten und die Bibliothek, die u. a. die Sammlungen A. I. Čuprovs, A. P. Levickijs und des ­Genossenschafts­­­­­akti­visten M. N. Vonzblejn umfasste, wurden an Čajanovs ­Seminar übergeben.71 Nach der Wieder­belebung des Genossenschaftswesens im Jahre 1921 wurde unter der gemeinsamen Ägide des neu gegründeten Sel’skosovet, des VSNCh, des N ­ arkomzem und des Glavprofobr ein Institut für Agrar- und Handwerksgenossen­ schaften zur Ausbildung von genossenschaftlichen Führungskräften eingerichtet.72 Abgesehen von S. L. Maslov befanden sich unter dem Lehrpersonal jedoch keine Vertreter des vorrevolutionären Genossenschaftsdiskurses.73 Dass die Bestimmung des neuen Instituts letztlich nicht von der seines Vorgängers abwich, zeugt davon, dass es weniger die Zusammensetzung der Mitarbeiter und deren vorrevolutionäre Vergangenheit als sein „gesellschaftlicher“ Charakter war, der dem Fortbestand des Genossenschaftsinstituts im Wege gestanden hatte. Die Integration von Bildungsund Forschungseinrichtungen in staatliche Strukturen stellte demnach die einzige Möglichkeit dar, um die Kontinuität des vorrevolutionären Agrardiskurses unter den neuen politischen Bedingungen zu sichern. Die Veränderungen in der landwirtschaftlichen Bildungs- und Forschungslandschaft spiegeln die sukzessive Verstaatlichung des Agrarismus in den 1920er Jahren. Zwar hatte der Zentralstaat bereits vor der Revolution eine wichtige Rolle beim Ausbau landwirtschaftlich orientierter Bildungs- und Forschungseinrichtungen gespielt. Nach dem Beginn der Stolypinschen Reformen hatten viele Anhänger der Bewegung sogar deutlich von der Ausweitung des landwirtschaftlichen Hochschulwesens profitiert. Bei der Ausbildung von Agronomen und Genossenschaftlern und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Agrarfrage hatten außerstaatliche Initiativen von Zemstvos, Genossenschaften oder landwirtschaft­ lichen ­Gesellschaften jedoch bis zum Ende des Ancien Régime eine tragende Rolle gespielt. Dieser Pluralismus löste sich in den 1920er Jahren auf. Mit der Integration nichtstaatlicher Bildungseinrichtungen in das sowjetische Bildungswesen wurde der Staat zum wichtigsten Förderer landwirtschaftlicher Bildung und Forschung. Dies bedeutete zwar noch nicht, dass Wissenschaft und Lehre fortan dem ideo­ logischen Monopol der Partei unterstanden. In den Agrar- und Wirtschaftswissenschaften erwies sich das erste Jahrzehnt der bolschewistischen Herrschaft vielmehr als Blüte­zeit nichtmarxistischer Denkrichtungen.74 Das Arrangement zwischen den Vertretern des vorrevolutionären Agrardiskurses und den Bolschewiki war allerdings ausgesprochen fragil. Den intellektuellen Freiräumen, die sich den vorrevolutionären 71 72 73 74

„Institut sel’sko-chozjajstvennoj ėkonomii v Moskve“, S. 215f. Širjaev, Vysšaja škola sel’sko-chozjajstvennoj kooperacii, S. 19 – 20. „V institute kooperacii“, S. 29. Für einen Überblick siehe Nikonov, Vzgljady na agrarnyj vopros.

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Agrarwissenschaftlern und Ökonomen in den 1920er Jahren boten, lagen keinerlei verbindliche Garantien zu Grunde. Sie stellten vielmehr ein Privileg dar,75 das sich aus dem allgemeinen Mangel an Akademikern und Fachkräften ergab, die die Bolschewiki bei der Ausweitung des staatlichen Interventionismus auf dem Gebiet der Landwirtschaft benötigten.

3.1.3  Expertise international Parallel zu ihrem Aufstieg in Wissenschaft und Bürokratie fanden die Vertreter des Agrarismus Anschluss an die sich zunehmend stärker vernetzende inter­nationale Expertengemeinschaft. In den 1920er Jahren gehörten die Teilnahme an inter­ nationalen Konferenzen, der Austausch von Schriften mit ausländischen Kollegen und die Veröffentlichung eigener Arbeiten im Ausland selbstverständlich zum Berufsalltag von Agrarwissenschaftlern, Ökonomen und Statistikern aus dem sowjetischen Russland.76 Es war gerade die Doppelrolle von Wissenschaftlern und Politikberatern, die es ihnen erlaubte, sich international zu profilieren. Der Narkomzem übernahm die bereits vor der Revolution etablierte Praxis zur Entsendung von Experten in das Ausland,77 und so nahmen Agrarspezialisten aus dem sowjetischen Russland in den 1920er Jahren im Auftrag oder mit expliziter Genehmigung der Behörde regelmäßig an inter­nationalen Konferenzen teil. Im Ausland beschafften sie wissenschaftliche Literatur und machten sich mit neuesten agrartechnischen Erfindungen oder Pflanzenzuchtverfahren vertraut.78 Diese Entwicklungen waren Teil des internationalen Trends zum Aufstieg von Wissen­schaftlern in die staat­ liche Bürokratie und zur Intensivierung der staatenübergreifenden Kommunikation von Fachleuten: Nationalisierung und Internatio­nalisierung von Expertise gingen Hand in Hand.79 75 Fitzpatrick, „Soft Line“, S. 268; Beyrau, Intelligenzija, S. 577. 76 Zwar hatten russische Gelehrte die Entwicklung der internationalen Wirtschafts- und Agrarwissenschaften bereits vor der Revolution verfolgt. Der Höhepunkt ihrer internationalen Vernetzung lag jedoch in den 1920er Jahren. Hierzu Janssen, Russische Ökonomen; Rieter; Širokorad; Zweynert (Hg.), Ökonomen im Dialog. 77 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Mitarbeiter des Gelehrten Komitees des Landwirtschaftsministeriums mehrfach nach Westeuropa oder Nordamerika gereist, wo sie aktuelle Entwicklungen der Agrarwissenschaft oder der Agrartechnologie studierten oder an Konferenzen teilnahmen. Siehe die Angaben zur wissenschaftlichen Tätigkeit der Mitglieder des „Gelehrten Komitees“ [1918], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 79, l. 8 – 10. Vgl. auch Elina, Ot carskich sadov, Bd. 2, S. 83 – 93. 78 Protokolle der Kollegiumssitzungen des Narkomzem vom 13. und 21. Juni 1921, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 473, l. 168f., l. 178. Vgl. auch die Akten über die Dienstreisen von Agrarspezialisten in das Ausland während der Jahre 1923 und 1924, RGAĖ f. 478, op. 5, d. 2608, d. 1888. 79 Kohlrausch, Technologische Innovation; ders.; Steffen; Wiederkehr, Expert Cultures.

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Die Vertreter des Agarismus profitierten von dem Interesse, das die Leitung des Volkskommissariats an den internationalen Entwicklungen von Agrarpolitik, -wissen­ schaft und -technologie zeigte. Ausgedehnte Dienstreisen ermöglichten es ihnen, Verbindungen zu Kollegen im Ausland herzustellen und die internationale Aufmerksamkeit auf die wissenschaftlichen und agrarpolitischen Entwicklungen in Russland zu lenken. Im Zuge einer im Auftrag des Narkomzem und des Außenhandelskommissariats durchgeführten fast zweijährigen komandirovka machte A. V. Čajanov die Bekanntschaft von erstrangigen Agrarwissenschaftlern in Deutschland, England und den USA.80 Diese Kontakte ermöglichten es Agrarökonomen aus Moskau anschließend, sich mit Vertretern der zunehmend international ­orga­­­­­­ni­sierten fachlichen Gemeinschaft zu vernetzen. Während einer mehrmonatigen Auslandsreise stellte auch N. D. Kondrat’ev Verbindungen zu Agrar- und Wirtschafts­wissenschaftlern aus Europa und den Vereinigten Staaten her. Der Ökonom brach im Juli 1924 in Moskau auf und reiste im Anschluss an kurze Aufenthalte in Riga und Berlin nach London. In England machte Kondrat’ev Bekanntschaft mit Ökonomen (u. a. traf er hier John M. Keynes), Statistikern und Agrarexperten. In der Umgebung von London, Oxford und Cambridge besichtigte er Agrargenossenschaften und Bauernhöfe und setzte sich eingehend mit dem System der landwirtschaftlichen Bildung in England auseinander. Von Oktober 1924 bis Januar 1925 befand sich der Ökonom in den USA, wo er u. a. das Department of Agriculture besuchte und Kontakte zu Agrarspezialisten im amerikanischen Regierungsapparat herstellte. Bevor K ­ ondrat’ev im April nach Moskau zurückkehrte, traf er in Deutschland die Agrarökonomen Friedrich Aeroboe und Max Sering.81 In den 1920er Jahren wurden Agrar- und Wirtschaftswissenschaftler aus dem sowjetischen Russland Teil eines internationalen Expertennetzwerks. Die engsten Verbindungen bestanden zu Kollegen in Deutschland. Dies war weniger eine Folge der intensivierten Kontakte beider Länder nach dem Vertrag von Rapallo als das Ergebnis einer bereits mehrere Jahrzehnte währenden Tradition des Austauschs auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaften. M. I. Tugan-Baranovskij, S. N. Prokopovič, der Genossenschaftsaktivist V. F. Totomianc und der Statistiker N. P. Oganovskij hatten bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts im „Archiv für Sozial­wissenschaft und Sozialpolitik“ publiziert und damit die in den 1870er Jahren von russischen Ökonomen wie A. I. Čuprov oder N. A. Kablukov hergestellten

80 Protokoll der Kollegiumssitzung vom 26. Oktober 1921, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 473, l. 288f.; Personal­ akte Čajanovs im Volkskommissariat für Außenhandel [1921 – 1922], RGAĖ f. 731, op. 1, d. 90. Die ursprünglich für die Dauer von zwölf Monaten genehmigte komandirovka war im Februar 1923 bis zum 1. Oktober 1923 verlängert worden. Protokoll der Kollegiumssitzung vom 12. ­Februar 1923, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 973, l. 19 – 22. 81 Bericht Kondrat‘evs [1925], RGAĖ f. 478, op. 2, d. 360, l. 2 – 7.

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Kontakte zu Vertretern des deutschen Historismus gefestigt.82 Auch in den 1920er ­Jahren blieb die Zeitschrift eine wichtige Anlaufstelle für russische Ökonomen. A. V. Čajanov stand seit seinem Aufenthalt in Heidelberg Anfang 1923 in Kontakt mit Emil Lederer und Alfred Weber, die die Zeitschrift damals gemeinsam mit Joseph A. Schumpeter herausgaben. Noch im gleichen Jahr informierte er eine deutsche Leserschaft über die Entwicklungen der russischen Agrarökonomie.83 Im Jahre 1924 veröffentlichte die Zeitschrift Čajanovs „Theorie der nichtkapitalistischen Wirtschaftssysteme“, in der dieser den Versuch unternahm, die potenzielle Stabilität von Wirtschaftsordnungen zu belegen, die anders als kapitalistische Konkurrenz­ wirtschaft funktionierten.84 Auch N. D. Kondrat’ev publizierte in den 1920er Jahren zwei Aufsätze in der Zeitschrift.85 Von den in der Weimarer Republik rezipierten Agrarökonomen aus der Sowjet­ union wurde Čajanov die größte Aufmerksamkeit zuteil. Seine 1923 in deutscher Sprache veröffentlichte „Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft“86 rief in Deutschland ein derart großes Echo hervor, dass der deutsche Agrarwissenschaftler Heinz Haushofer noch am Ende der 1950er Jahre feststellte, es gebe „kaum einen deutschen Agrarpolitiker oder Betriebswirtschaftler von Rang […], der sich in den Jahren von 1923 bis zur großen Wirtschaftskrise nicht mit Tschajanow auseinander gesetzt ­hätte“87. Dass dessen Ideen in der Weimarer Republik auf fruchtbaren Boden fielen, erklärt sich durch die thematischen Konjunkturen in der deutschen Agrarwissenschaft seit dem Ersten Weltkrieg. Es spricht einiges dafür, dass die Veröffentlichung von Čajanovs Arbeit auf die aktive Förderung durch Personen aus dem Umkreis Serings und der mit dessen Beteiligung gegründeten „Osteuropagesellschaft“ zurückging. Die Forschungen Čajanovs ließen sich gut in die wirtschaftspolitische Konzeption Serings und seiner Mitstreiter integrieren. Angesichts der Lebensmittelkrise des Deutschen Reichs hatten deutsche Agrarexperten, allen voran Sering und Friedrich Aeroboe, in den Kriegsjahren Pläne zur Ansiedlung deutscher Kleinbauern in den eroberten Gebieten Ostmitteleuropas entwickelt.88 Im Zentrum ihrer Vision stand der bäuerliche Familienbetrieb, in dem sie das Fundament einer „gesunden“, von den Verwerfungen der Moderne unberührten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung

82 Zur Bedeutung des ASS für Autoren aus Russland bzw. Angehörige russischer Emigrantennetzwerke in Deutschland siehe Janssen, Ökonomen, S. 41 – 43. 83 Tschayanoff, Neueste Entwicklung. 84 Tschayanoff, Wirtschaftssysteme. 85 Janssen, Ökonomen, S. 95. 86 Tschajanow, Lehre. 87 Zitiert nach Schmitt, Tschajanow, S. 187. 88 Zur deutschen Agrarwissenschaft während des Ersten Weltkriegs siehe Oberkrome, Ordnung, S. 32 – 40.

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ausmachten. In den 1920er Jahren verband sich diese Tradition mit Forderungen nach einer Revision der durch die Pariser Verträge festgelegten Grenzen im Osten Europas. Das 1921 von Sering gegründete Deutsche Forschungsinstitut für Agrar- und Siedlungswesen 89 war federführend an der Verwissenschaftlichung des ­Revanchismus beteiligt.90 Die anhaltende Ausrichtung der deutschen Agrarwissenschaft am Primat der Versorgungssicherheit und der Aufstieg Serings zu einem der bedeutenden Landwirtschaftsfachleute der Weimarer Republik wirkten sich ausgesprochen günstig auf die Rezeption Čajanovs in Deutschland aus. Sein Übersetzer, der Agrarwissen­schaftler Friedrich Schlömer, gehörte dem Deutschen Forschungsinstitut für Agrar- und Siedlungswesen an und arbeitete bis in die 1930er Jahre eng mit Sering ­zusammen. Sering selbst stand der Tätigkeit Čajanovs offenbar ausgesprochen wohlwollend gegenüber. So berichtete Schlömer in einem Brief an S. N. Prokopovič, der damals in Berlin lebte, Sering habe Čajanov ihm gegenüber „einen genialen Kopf“ genannt.91 Für Sering war Čajanov eine Brücke in das sowjetische Russland. Offensichtlich gelang es dem deutschen Agrarökonomen, über Čajanov weitere Kooperationen mit sowjetischen Experten auf den Weg zu bringen. Unter der Leitung Čajanovs arbeiteten Spezialisten des Narkomzem, darunter N. P. Oganovskij, 1924 an Beiträgen für einen von Sering initiierten Aufsatzband.92 Neben Sering gehörte der Berliner Agrarwissenschaftler Otto Auhagen zu den aktiven Unterstützern ­Čajanovs. ­Čajanov hatte diesen 1922 in Berlin kennengelernt.93 Kurz darauf verfasste Auhagen das Vorwort zu Čajanovs „Lehre“. Auch in seinem Fall war die Verbindung von National­ konservatismus und wissenschaftlicher Agrarexpertise offenkundig. ­Auhagen war ebenso wie Sering Mitbegründer der Osteuropagesellschaft und Anhänger der Idee eines starken „deutschen Bauerntums“ in Osteuropa. Der Agrarwissenschaftler hatte zu Beginn des Jahrhunderts vorübergehend als Sachverständiger für Landwirtschaftsfragen am deutschen Generalkonsulat in Sankt Petersburg gearbeitet. In den 1920er Jahren war Auhagen Professor an der landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin, bevor er Anfang 1927 erneut die Funktion eines Landwirtschafts­ spezialisten im diplomatischen Dienst, dieses Mal an der deutschen Botschaft in

89 Stoehr, Sering, S. 60 – 63, 73f.; Oberkrome, Ordnung, S. 64 – 75. 90 Serings Mitarbeiter erstellten zahlreiche Studien über die Auswirkungen der Bodenreformen in den neu geschaffenen Staaten Osteuropas auf die dort lebenden deutschen Bauern. Diese dienten dazu, die Forderung nach einer Revision der europäischen Nachkriegsordnung wissenschaftlich zu bekräftigten. Dyroff, Wahrnehmung, S. 81 – 84. 91 Schlömer an Prokopovič [17. Juni 1924], GARF f. 5902, op. 1, d. 255, l. 1. 92 Schreiben Oganovskijs an den Leiter der Zentralen Landwirtschaftsverwaltung des Narkomzem [6. März 1924], RGAĖ f. 478, op. 5, d. 2605, l. 1. 93 Janssen, Ökonomen, S. 99.

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Moskau, übernahm.94 Wie Sering betrachtete auch Auhagen die Agrarpolitik in den Staaten Ost- und Mitteleuropas als eine „deutsche“ Angelegenheit. Aufgrund seines „Fleißes“ und seiner „Tüchtigkeit“, sollte er zu Beginn der 1940er Jahre argumentieren, sei „das deutsche Bauerntum“ in der Sowjetunion besonders stark von der Kollektivierung betroffen gewesen.95 Čajanovs Erfolg in der Weimar Republik ging auf die Anschlussfähigkeit seiner Ideen für den Kulturpessimismus deutscher Wirtschafts- und Agrarwissenschaftler zurück. Sein Versuch, die bäuerliche Wirtschaft als eine spezifische Betriebsform zu modellieren, ließ sich problemlos mit den agrarpolitischen Vorstellungen Weimarer Experten verbinden, die sich für die Verhinderung von „Landflucht“ und eine Stärkung des „deutschen Bauerntums“ in den ehemaligen Reichsgebieten ein­ setzten. Zwar riefen Čajanovs Ausführungen über den nichtkapitalistischen Charakter bäuerlicher Wirtschaften unter deutschen Rezensenten auch Kritik hervor.96 Sein Nachweis der ökonomischen Lebensfähigkeit bäuerlicher Wirtschaften traf jedoch den Nerv der Zeit. Der Leipziger Agrarwissenschaftler Emil Ahnert, der sich in seiner 1931 an der Leipziger Universität eingereichten Habilitationsschrift wiederholt auf Čajanov bezog, erkannte in der bäuerlichen Wirtschaft im Sinne einer „Arbeits- und Tischgemeinschaft einer familiären Wirtschaftsgruppe“97 eine prinzipiell „ewige“ ökonomische und soziale Kategorie.98 Ahnerts Ausführungen entsprachen dem allgemeinen Trend zur Idealisierung bäuerlicher Lebensformen in der Weimarer Republik. Er betrachtete das „breite, gefestigte Volkstum der bäuer­ lichen Landbevölkerung“ als Grundlage jeglicher „Zivilisation“.99 In den 1920er Jahren verstetigten sich auch die sowjetisch-amerikanischen Kontakte auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Agrarwissenschaften. Die institu­tionellen Voraussetzungen hierfür waren günstig. Auch in der amerikanischen Agrarwissenschaft hatte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine „sozialwissenschaftliche Wende“ vollzogen. Diese ging ebenso wie in Russland mit der Etablierung der Agrarökonomie als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin und der professionellen Vernetzung von Vertretern der ländlichen Soziallehre einher. 1910 wurde die „American Farm Management Association“ gegründet, aus der 1919 die „American Farm Economics Association“ hervorging, deren Vertreter auf politische Reformen zu Gunsten der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung und die Popularisierung agrarwissenschaftlicher Erkenntnisse drangen. Die von der Gesellschaft ins Leben 94 95 96 97 98 99

Personalakte Professor Otto Auhagen, AA Rep. IV. Personalia. No. 55 Dr. Auhagen. Auhagen, Schicksalswende, S. V. Skalweit, Familienwirtschaft, S. 244 – 246. Ahnert, Bäuerliche Wirtschaft, S. 28. Ebd., S. 141. Ebd., S. 2.

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gerufene Zeitschrift „Journal of Farm Economics“ wurde bald zum wichtigsten Forum für landwirtschaftliche Mikroökonomie in den Vereinigten Staaten.100 Analog zu den Entwicklungen in Russland folgten auf die Etablierung der Agrarökonomie in der Wissenschaftslandschaft die Einrichtung einer Abteilung für Agrarökonomie im amerikanischen Agrarministerium und der Aufstieg von Vertretern der Disziplin in die staatliche Administration. Die neue agrarökonomische Abteilung am Department of Agriculture unterstand Henry C. Taylor, der 1905 das erste Lehrbuch zur Agrarökonmie veröffentlicht hatte und in den 1920er Jahren ein wichtiger Partner für Agrarexperten aus der Sowjetunion werden sollte.101 Aus Sicht der russischen Besucher hatte man es in den USA mit einem Muster­ beispiel staatlicher Agrarpolitik zu tun. In seinem Bericht für den Narkomzem stellte Kondrat’ev heraus, dass die Mitarbeiter des Department of Agriculture nur gering­fügig mit administrativen Aufgaben beschäftigten waren. Stattdessen könnten sie sich vorrangig der wissenschaftlichen Politikberatung widmen: „Das ist ein mächtiger wissenschaftlich-praktischer Stab, von dem alle führenden Ideen im Bereich der Agrarentwicklung ausgehen.“102 Die Kohärenz und Zuverlässigkeit der amerikanischen Agrarstatistik war nach Kondrat’evs Auffassung ein Allein­ stellungsmerkmal der USA.103 Mit Bewunderung registrierten die Reisenden auch die dezentrale Organisation der staatlichen Agrarpolitik in den USA . Čajanov beschrieb die Tätigkeit des Department of Agriculture mit den Kategorien der russischen „Sozialagronomie“: „Hier gibt es keine zentrale Tätigkeit im großen Maßstab, sondern nur das volle Vertrauen in die Regionen [polnoe doverie k mestam] und die Gewinnung der lokalen Farmer für die eigene Tätigkeit. Wenn man sich an eine konkrete agronomische Organisation der unteren Ebene wendet, sieht man, dass der Agronom nichts organisiert, sondern nur hilft.“104 Kondrat’ev war sogar davon überzeugt, dass die russische Zemstvo-Agronomie das Vorbild für die Etablierung der agronomischen Hilfe in Amerika geliefert hatte; nach dem Besuch eines amerikanischen Agrarexperten im Zarenreich zu Beginn des Jahrhunderts sei das System der Zemstvos in Amerika übernommen und weiterentwickelt worden.105 Auch über das technische Niveau der amerikanischen Landwirtschaft und den Entwicklungsstand des landwirtschaftlichen Versuchswesens äußerten sich die Moskauer Gäste begeistert. Kondrat’ev schilderte seinen Moskauer Kollegen lebhaft, wie eine

100 Siehe hierzu McDean, Professionalism. 101 “The New Bureau …”, S. 152 – 154. 102 Bericht Kondrat’evs [25. Februar 1925], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1547, l. 9. 103 Ebd., l. 11. 104 Bericht Čajanovs [11. Februar 1924], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1208, l. 8. 105 Bericht Kondrat’evs, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1547, l. 11.

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mechanische Kuhtränke funktionierte.106 Für Čajanov stellte der Einsatz von ­Filmen bei der Vermittlung agrarwissenschaftlichen Wissens eine der eindrücklichsten Reise­erfahrungen dar: „Ich habe gesehen, wie eine Wurzel wächst.“107 Für beide Ökonomen wurde der Besuch in den USA zum Anlass für die Reflektion über die Landwirtschaftsadministration im sowjetischen Russland. In der Bewunderung für die amerikanische Agrarpolitik, die sie in ihren Berichten für den Narkomzem zum Ausdruck brachten, spiegelte sich, woran es in Russland offensichtlich fehlte. Aus Sicht der Ökonomen stand das Department of Agriculture für eine ideale Verbindung von regionaler Eigenständigkeit und wirtschaftlicher Freiheit der Landwirte auf der einen und staatlicher Intervention auf der anderen Seite. Čajanov und Kondrat’ev waren fasziniert davon zu sehen, dass die ame­ri­ kanischen Behörden regionale Versuchseinrichtungen großzügig unterstützten, ohne diese jedoch allzu stark zu regulieren. Die Einrichtungen würden somit zu einem ­festen Bestandteil der lokalen Landwirtschaft: „Von einem Farmer wird man nie zu hören bekommen, dass er die Versuchsstation nicht braucht. Jeder Farmer sagt hier, dass die Versuchsstation wichtig ist: ‚Sie [die Versuchsstation – KB] ist unser, und wir können immer einfordern, dass man dort die Fragen klärt, die uns das Leben aufgibt.‘“108 Aus der Sicht der russischen Experten hatte die amerikanische Landwirtschaftsadministration Vorbildcharakter: Das Department of Agriculture, so der Tenor ihrer Reise­berichte, verband die regionale Eigenständigkeit auf dem Gebiet der Agronomie, die in Russland durch die Abschaffung der Zemstvos verloren­ gegangen war, mit einer Verwissenschaftlichung staatlicher Agrarpolitik, für die sie selbst seit dem Sturz der zarischen Regierung eingetreten waren. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahren nahmen die sowjetischen Verbindungen zu den wichtigsten amerikanischen Einrichtungen auf dem Gebiet der Agrarökonomie einen zunehmend formellen Charakter an. George F. Warren, führender amerikanischer Vertreter der landwirtschaftlichen Betriebswirtschaftslehre, und Oliver E. Baker, Agrarökonom und Wirtschaftsgeograph, gehörten Čajanovs Agrarinstitut in Moskau als assoziierte Mitglieder an.109 Kondrat’evs Konjunkturinstitut stand in regelmäßigem Austausch mit verschiedenen statistischen Diensten amerikanischer Hochschulen und mit dem Department of Agriculture.110 Vereinzelt nahmen sowjetische Agrarexperten sogar längerfristige Forschungsaufenthalte in die

106 107 108 109

Ebd., l. 55. Bericht Čajanovs, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1208, l. 9. Bericht Čajaonvs, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1208, l. 10f. Materialien zur Organisation des Instituts für die Organisation von Großbetrieben, RGAĖ f. 8390, op. 2, d. 14, l. 18. 110 Übersicht über die Auslandskontakte des Konjunkturinstituts [1925], RGAĖ f. 769, op. 1, d. 21, l. 7 – 14.

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USA wahr. So befand sich G. A. Studenskij, ein ehemaliger Student Čajanovs an der ­Timirjazev-Akademie, 1929 auf einer mehrmonatigen Forschungsreise in den Vereinigten Staaten, um sich mit der Krise der amerikanischen Landwirtschaft und den Perspektiven der landwirtschaftlichen Großproduktion auseinanderzusetzen.111 Eine ähnliche Gelegenheit hatte kurz vorher L. N. Litošenko wahrnehmen können. Der Moskauer Agrarökonom hatte den Stanforder Historiker und Bibliothekar Frank Golder kennengelernt, als dieser zu Beginn der 1920er Jahre Bücher, Zeitschriften und Manuskripte in Russland sammelte. Unter den Materialien, die Golder damals aus Sowjetrussland ausführte, hatte sich auch eine kritische Auseinandersetzung Litošenkos mit der Bodenpolitik der Bolschewiki befunden, deren Veröffentlichung in Sowjetrussland der Ökonom fürchtete. Durch den Kontakt zu Golder konnte Litošenko 1926 einen einjährigen Studienaufenthalt an der Universität Stanford absolvieren, wo er eine Abhandlung über die Agrarpolitik im ersten Jahrzehnt der bolschewistischen Herrschaft verfasste.112 Am Ende der 1920er Jahre gestaltete sich der Austausch mit ausländischen Kollegen zusehends schwieriger. Die sowjetische Führung war nun darauf bedacht, Kritiker der sowjetischen Agrarpolitik davon abzuhalten, im Ausland ein negatives Bild von den Entwicklungen in der Sowjetunion zu verbreiten. Golders Versuch, L. N. Litošenko 1928 für einen weiteren Aufenthalt an das Stanforder Institut zu holen, erregte die Aufmerksamkeit der politischen Führung. Der stellvertretende Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten M. M. Litvinov, der das Anliegen des Ökonomen im Grunde unterstützte, äußerte die Befürchtung, dieser könne im Ausland ein kritisches Bild von der sowjetischen Agrarpolitik verbreiten. Letztlich wurde Litošenkos Reise mit der formalen Begründung abgelehnt, er könne bei seinen Forschungen auf einen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten verzichten.113 Auch andere Fälle deuten darauf hin, dass die sowjetischen Behörden versuchten, die Auslandskontakte von Agrar­ experten zu kontrollieren. Auf der internatio­nalen Konferenz der Agrarökonomen, zu der der britische Agrarökonom Leonard K. ­Elmhirst im August 1929 führende Vertreter der Diszplin aus Europa und den USA nach Dartington Hill eingeladen hatte, waren keine sowjetischen Wissenschaftler vertreten.114 Elmhirst hatte zwar im Vorfeld in regem Briefwechsel mit N. P. Makarov gestanden. Dieser war jedoch kurzfristig von seinen Reiseplänen zurückgetreten.115 Bei den Vorbereitungen zur Folgekonferenz

111 Studensky, Agricultural Depression. 112 Emmons; Patenaude, Introduction, S. xxiiif. Litošenkos Studie wurde erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion veröffentlicht. 113 Engerman, New Society, S. 31 – 33. 114 Proceedings of the First International Conference of Agricultural Economists, S. 352 – 353. Zur Etablierung der internationalen agrarökonomischen Konferenzen siehe Stanton, Warren, S. 331 – 340. 115 Briefe zur Teilnahme Makarovs an der Konferenz [1929], RGAĖ f. 766, op. 1, d. 121, l. 1 – 5.

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an der Cornell University bemühte sich George F. Warren aktiv um die Teilnahme N. D. Kondrat’evs und N. P. Makarovs, mit denen er vermutlich seit ihren Aufenthalten in den USA persönlich in Kontakt stand.116 Als die Konferenz im August 1930 ­eröffnet wurde, befanden sich beide Ökonomen jedoch bereits seit fast zwei Monaten in Haft. An ihrer Stelle reisten Agrarwissenschaftler und Biologen an, die optimistisch über die Perspektiven einer kollektivierten und mechanisierten Landwirtschaft in der Sowjet­union berichteten.117 Diese Entwicklungen waren Teil des Trends zur Abschottung der Sowjetunion. Sowohl auf institutioneller als auch auf personeller Ebene lösten sich die inter­nationalen Kontakte der sowjetischen Wirtschafts- und Agrarwissenschaften in der Frühphase des Stalinismus auf. Nach der Neuordnung der sowjetischen Wissen­schaftslandschaft und den systematischen Repressionen gegen die führenden Vertreter der Disziplinen in den Jahren 1928 bis 1930 verlor die Sowjetunion den Anschluss an Fachdebatten im Ausland.118 Auf der dritten internationalen Konferenz der Agrarökonomen, die 1934 in Deutschland stattfand und gemeinsam von Sering, Elmhirst und Warren vorbereit worden war, waren dann nicht einmal mehr regime­treue Agrarökonomen aus der Sowjet­union vertreten. Die Moskauer Behörden h­ atten die Teilnahme einer sowjetischen Delegation an der Veranstaltung bereits 1933 abgesagt.119 Auch auf dem Feld der theo­ retischen Wirtschaftswissenschaften verlief die fortschreitende Internationalisierung seit dem Beginn der 1930er Jahre ohne die Beteiligung sowjetischer Wissenschaftler. N. D. Kondrat’ev und sein Kollege E. E. Sluckij hatten zu den Gründungsmitgliedern der 1930 von Irving Fisher initiierten internationalen Ökonometrischen Gesellschaft gehört, Z. S. Kacenelenbaum, der vorher in brieflichem Kontakt mit Fisher gestanden hatte, wurde noch 1931 offi­ziell als Mitglied der Gesellschaft geführt.120 Nach der Verhaftung Kondrat’evs und Kacenelenbaums zählte die Gesellschaft dann jedoch keine sowjetischen Mitglieder mehr.121 Die Agrar- und Wirtschaftswissenschaften der Sowjet­union entwickelten sich nun fernab der internationalen Fachdebatten.

116 Telegramme Warrens an Kondrat’ev [1929], RGAĖ f. 769, op. 1, d. 25. Einladung Makarovs zur zweiten internationalen Konferenz der Agrarökonomen [1930], RGAĖ f. 766, op. 1, d. 121, l. 6 – 8. 117 Zur sowjetischen Delegation gehörten A. I. Gajster, Ja. Anisimov, G. S. Gordeev, L. N. Kricman und N. I. Vavilov. Proceedings of the Second International Conference of Agricultural Economists, S. 1064 – 1074. Zum Verlauf der Konferenz siehe Freund, Agrarkonferenz sowie den wahrscheinlich von A. I. Gajster verfassten Bericht der sowjetischen Delegation. ARAN, f. 528, op. 3, d. 33, l. 1 – 6. 118 Siehe hierzu den Abschnitt III.3. „An der Agrarfront“. 119 Korrespondenz mit Elmhirst, Cume, Warren und Taylor [1933/34], B Arch K, N/1210/8 [ohne Nummerierung]. 120 Korrespondenz Kacenelenbaums mit ausländischen Kollegen. RGAĖ f. 782, op. 1, d. 64, l. 1 – 5; RGAĖ f. 782, d. 65, l. 4 – 7. 121 List of Members of the Econometric Society, in: Econometrica 2 (1934) 4, S. 449 – 460.

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3. 2   Ag r a r i s mu s u nd s oz ia l i s t i s che s Cr e d o 3.2.1  Déjà-vu: die Neue Ökonomische Politik Dass sich das erste Jahrzehnt der bolschewistischen Herrschaft für viele Anhänger des Agrarismus als eine Zeit des beruflichen Aufstiegs darstellte, erklärt sich nicht allein durch den Ausbau der staatlichen Administration und die Expansion von Wissenschafts- und Bildungsinstitutionen. Von mindestens eben­solcher Bedeutung war die wirtschaftspolitische Konjunktur. Spätestens 1920 war nicht mehr zu übersehen, dass sich die Folgen der Versorgungspolitik des Bürgerkrieges zu einer ernsthaften Bedrohung für die Herrschaft der Bolschewiki auswuchsen. Weite Teile des Landes wurden von Bauernunruhen erfasst. Eine Versorgungskrise in den Städten drohte den Bolschewiki das Vertrauen der Arbeiterschaft, der ­sozialen Basis ihrer Macht, zu entziehen. Im Frühjahr 1921 leitete der X. Parteitag einen Kurswechsel ein. Fortan sollten Maßnahmen zugunsten der Industrie mit der Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft verbunden und die Interessen von Proletariat und Bauernschaft durch ein Bündnis beider gesellschaftlicher Gruppen (smyčka) ausgesöhnt werden. Im Laufe der folgenden Jahre wurden einige der zuvor vehement bekämpften marktwirtschaftlichen Prinzipien ansatzweise wiederhergestellt. Die Ersetzung der willkürlichen Zwangsabgaben durch eine festgelegte Natural- und später durch eine Geldsteuer, die Förderung von Genossenschaften und die Entkriminalisierung von Privathandel, Bodenpacht und Lohnarbeit sollten den Bauern Anreize zur Ausweitung ihrer Produktion liefern. 122 Als die OPGU 1924 von der wachsenden Unzufriedenheit der ­Bauern berichtete, die sich angesichts der hohen steuerlichen Belastung durch den Staat kaum zur Konsolidierung ihrer ökonomischen Lage imstande sahen und gegenüber den Arbeitern benachteiligt fühlten, wuchs in der Parteiführung die Bereitschaft, die Konzessionen an die Bauern auszuweiten. „Mit dem Gesicht zum Dorfe“ (licom k derevne), so die Ende 1924 durch G. E. Zinov’ev geprägte Losung, wollte man nun stehen und den Bauern ein Angebot zu ihrer Integration in den sowjetischen Staat machen.123 Die Vertreter des Agrarismus werteten die Wende zur NĖP als eine Wiederaufnahme der vorrevolutionären Traditionen zur Modernisierung der bäuerlichen Landwirtschaft. Ende 1922 veröffentlichte N. P. Makarov in einer Berliner Emigranten­ zeitschrift eine Rezension zu Čajanovs utopischem Roman „Reise ins Land der bäuerlichen Utopie“, in dem dieser die Vision einer hocheffizienten, von kleinen

122 Hildermeier, Sowjetunion, S. 233 – 266; Merl, Agrarmarkt, Kap. II. 123 Zur Politik des „licom k derevne“ siehe Wehner, Bauernpolitik, Kap. III.

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Bauernwirtschaften dominierten Agrarordnung entwickelt hatte. Makarov inter­ pretierte den Roman vor dem Hintergrund der agrarpolitischen Wende. Seit der Veröffentlichung des Romans, so der Ökonom, sei „bereits ein Teil der Utopie Realität geworden“124. Makarovs Interpretation brachte nicht nur die Zuversicht auf eine ökonomische und politische Wiedergeburt Russlands zum Ausdruck, wie sie nach dem Beginn der NĖP unter russischen Emigranten weit verbreitet war. Indem er den neuen agrarpolitischen Kurs als Schritt zur Realisierung einer „bäuerlichen Utopie“ interpretierte, stellte Makarov die NĖP in die Tradition der von der vorrevolu­ tionären obščestvennost’ formulierten Agenda zur Entwicklung der Landwirtschaft. Nicht anders deutete Čajanov selbst die Situation. In Bezug auf die Landwirtschaft, so der Ökonom 1922, seien die Prinzipien der Neuen Ökonomischen Politik von den Mitgliedern der Moskauer Landwirtschaftlichen Gesellschaft „schon lange vor März 1921“ ausgearbeitet worden.125 Nicht nur die ehemaligen obščestvenniki interpretierten die neue Agrarpolitik als Fortsetzung des Agrarismus unter der Ägide des sowjetischen Staates. Als Dojarenko Ende 1926 sein 25-jähriges Dienstjubiläum beging, sandten ihm ehemalige Studenten ein Glückwunschschreiben, in dem sie Dojarenkos berufliche Karriere als ein harmonisches Ganzes darstellten: „Sie stehen all die 25 Jahre ‚mit dem Gesicht zum Dorfe‘. In einem agrarischen Land halten Sie das nur für selbstverständlich.“126 Demnach hatte Dojarenko die Anliegen der NĖP gleichsam vor der Revolution antizipiert. Dass Zeitgenossen in der bolschewistischen Agrarpolitik der 1920er Jahre ­Parallelen zur landwirtschaftlichen Modernisierungsagenda der spätzarischen Öffentlichkeit erkannten, war nicht ganz unbegründet. Die Einbindung vorrevolutionärer Agrarexperten in den Staatsapparat hinterließ deutliche Spuren. Eines der ersten sichtbaren Zeugnisse für die Übernahme ihrer Ideen in die sowjetische Agrarpolitik war der im September 1921 verabschiedete Plan über die Tätigkeit des ­Narkomzem im anstehenden Kalenderjahr. Auch wenn die Autoren des Plans unbekannt sind, deutet alles darauf hin, dass Čajanov wesentliche Teile des Texts verfasste. Der Ökonom hatte einige Jahre zuvor ein Lehrwerk der Sozialagronomie veröffentlicht, in dem er davor warnte, mit vorgefertigten Konzepten an die Bauern heranzutreten: „Die Sozialagronomie steht vor einer großen Masse von Wirtschaftern, die ihre Betriebsgewohnheiten und Vorstellungen von der Landwirtschaft haben – Menschen, denen sie nichts zu belehren hat und die in allem nach ihrem eigenem Willen und eigenem Verständnis zu Werke gehen. Diese Wirte muss sie irgendwie auf die Möglichkeit aufmerksam machen, dass sie ihre gewohnten Arbeitsweisen

124 N[ikolaj] M[akarov], Rezension, S. 23. 125 Čajanov, Iz oblasti, S. 11. 126 Glückwunschkarte an A. G. Dojarenko [1926], RGAĖ f. 9474, op. 1, d. 231, l. 1.

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ändern können.“127 Der Plan des Narkomzem übernahm diese Argumentation fast wortgetreu: „Das Objekt des Plans ist die Landwirtschaft, d. h. Millionen bäuer­ licher Höfe, die ihre Wirtschaft nach eigenem Willen und gemäß ihrer wirtschaftlichen Interessen führen. […] Der Wille und die Interessen der Landwirte liegen außerhalb unseres unmittelbaren Einflusses, sie sind subjektiv, und direkt auf sie einzuwirken steht nicht in unserer Macht.“128 Die Arbeiten der Planungskommission unter Leitung von Kondrat’ev erinnerten ebenso an das agrarpolitische Leitbild des vorrevo­lutionären Agrarismus. Angesichts des Rückgangs von Saatflächen, Viehbeständen und technischen Kulturen konstatierten die Mitarbeiter der Abteilung im Jahr 1922 einen außerordentlichen Verfall der russischen Landwirtschaft. Da zahlreiche Bauern­wirtschaften ihre Marktorientierung aufgegeben und sich in Natural­ wirtschaften verwandelt hatten, sprachen sich Kondrat’ev und seine Kollegen dafür aus, die Anreizstrukturen für bäuerliche Produzenten zu verbessern und so deren „Energie und Initiative“ anzuregen.129 Wie in den zahlreichen agrarpolitischen Schriften, die die Visionäre der ländlichen Moderne in den Jahren vor der Revolution veröffentlicht hatten, galten die Bauern auch in den Arbeiten des Narkomzem als eigenständig handelnde Wirtschaftssubjekte, die in einem entsprechenden Umfeld zu Trägern landwirtschaftlichen Wachstums werden konnten. Es erstaunt nicht, dass man sich nach der Wende zur NĖP auf agrarpolitische Instrumente besann, die bereits in der vorrevolutionären Zeit erprobt worden waren. Partei­lose Experten und bolschewistische Funktionäre, die im ­Narkomzem zusammen­arbeiteten, stimmten darin überein, dass ein funktionierendes Genossenschaftswesen eine entscheidende Bedingung für den Aufschwung der bäuerlichen Landwirtschaft darstellte. Im Juni 1921 votierten vier von sieben Anwesenden einer Kollegiumssitzung des Narkomzem für die Wiederherstellung eines Verbandes der Agrargenossenschaften, der vom Apparat der Konsumgenossenschaften unabhängig sein sollte. Wenig später beschloss der Narkomzem sogar, „verdiente Genossenschaftler“ in die Leitung eines solchen Verbands einzubinden.130 Die Idee, mit der Wiederbelebung des ländlichen Genossenschaftswesens die ökonomischen Anreizstrukturen für die Bauern zu verbessern und den infolge von Bürgerkrieg und Hungersnot stark gesunkenen Marktanteil der landwirtschaftlichen Produktion zu erhöhen, fand die Zustimmung der politischen Führung. Nachdem die Arbeit der Genossenschaften in den Jahren des Bürgerkriegs vielfach gewaltsam behindert worden war, wurden am 16. August 1921 die klassischen Genossenschaftsprinzipien 127 128 129 130

Zitiert nach der deutschen Ausgabe. Tschajanow, Sozialagronomie, S. 7. „Plan dejatel’nosti Narkomzema“, S. 1. „Proekt plana dejatel’nosti Narodnogo Komissariata Zemledelija“, S. 10. Protokolle der Kollegiumssitzungen des Narkomzem Juni-Juli 1921, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 473, l. 184, l. 190.

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wiederhergestellt. Nur wenige Tage später folgte die Neugründung des im Vorjahr aufgelösten Zentralverbandes der Agrargenossenschaften (Sel’skosojuz).131 Diese Politik blieb nicht ohne Folgen. Nach anfäng­lichen Schwierigkeiten stieg die Zahl der landwirtschaftlichen Genossenschaften in den Jahren 1924 und 1925 deutlich an. Waren nach Angaben der Genossenschaftsabteilung des Narkomzem am 1. September 1922 ca. 2,3 Mio. bäuerliche Wirtschaften in Genossenschaften organisiert,132 wurde die Zahl für den 1. Juli 1925 auf 3,9 Mio. geschätzt. Die Verbreitung von Agrar­genossenschaften lag jedoch weiterhin deutlich unter dem Niveau des Jahres 1913.133 Nachdem die politische Führung das Signal für die Wiederbelebung des ländlichen Genossenschaftswesens gegeben hatte, übernahmen Anhänger des Agrarismus prominente Positionen in den neu entstehenden Verbänden. S. L. Maslov, P. A. Sadyrin und A. V. Čajanov wurden im August 1921 in die Leitung des Sel’skosojuz gewählt. Alle drei hatten vor der Zusammenführung von Agrar- und Konsumgenossenschaften Anfang 1920 Leitungsfunktionen im Sel’skosovet besetzt. Auch in anderen wiederhergestellten Genossenschaftsverbänden war die personelle Kontinuität zu den Jahren vor der Revolution nicht zu übersehen. Maslov und Sadyrin wurden Anfang September in den Rat des Verbandes der Kartoffelproduzenten gewählt.134 Gemeinsam mit V. A. Kil’čevskij gehörten beide außerdem dem Rat des Verbands der Flachsproduzenten an.135 Diese Entwicklungen blieben jedoch nicht ohne Kritik. Auch wenn die Unabhängigkeit der Genossenschaftsbewegung gesetzlich verankert war, herrschte in der Parteiöffentlichkeit Konsens darüber, dass die Partei die Genossen­schaften und ihre Zentralverbände stärker kontrollieren müsse.136 Maßnahmen zur Erhöhung des Anteils der Parteivertreter in genossenschaftlichen Leitungsorganen sowie die Verhaftung führender Genossenschaftler führten offenbar bald zu den gewünschten Resultaten. Hatte die erste Zusammenkunft der ­Sel’skosojuz im Jahr 1921 nach Auffassung eines Kommentators noch gänzlich „unter dem Banner eines ausgesprochen angespannten Verhältnisses zur Sowjetmacht“ gestanden, sei die zweite Versammlung im Oktober 1922 von der „sach­lichen Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und parteilosen Genossenschaftlern“ geprägt

131 Merl, Agrarmarkt, S. 143. 132 „Čislo s.-ch. kooperativov v Respublike“, S. 12. 133 Sadyrin, Sel’sko-chozjajstvennaja kooperacija, S. 10f. Auch wenn eine genaue Quantifizierung des ländlichen Genossenschaftswesens während der 1920er Jahre problematisch ist, besteht Konsens über seine dynamische Entwicklung in den Jahren 1924 und 1925. Vgl. die Zahlenangaben bei Merl, Agrarmarkt, S. 151f. 134 „S-ezd kartofelpromyšlennikov“, S. 21. 135 „S-ezd l’novodov“, S. 21. 136 Vgl. Mesjacev, Gosudarstvo, S. 3 – 5; L., Sel.-choz. Kooperacija, S. 1 – 3.

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gewesen.137 1924 registrierte eine Untersuchung des Narkomzem, dass zehn von 28 Mitgliedern des Sel’skosovet Angehörige der bolschewistischen Partei waren. Im Rat des Verbands der Flachsgenossenschaften gehörte die Hälfte, im Verband der Kartoffel­produzenten sogar mehr als die Hälfte der Delegierten den Bolschewiki an.138 Die systematischen Versuche, Parteivertreter in genossenschaftlichen Gremien zu installieren, zeigte das Misstrauen der Bolschewiki gegenüber sozialen Räumen, die sich ihrem unmittelbaren Zugriff entzogen. Während die Vertreter der vorrevolutionären obščestvennost’ die Unabhängigkeit der Genossenschaften als Voraussetzung dafür betrachtet hatten, dass diese ihren ökonomischen Auftrag erfüllen könnten, sahen die Bolschewiki in den Genossenschaften vor allem Foren von Kritik und Widerstand. Die Maßnahmen der neuen Machthaber richteten sich daher darauf, die Bedeutung der Genossenschaften als gesellschaftliche Kommunikationsräume einzuschränken und sie in die von Partei und Staat kontrollierte sowjetische Öffentlichkeit zu integrieren. Neben der Furcht vor alternativen Formen von Öffentlichkeit stand auch ein ideologischer Konflikt hinter dem Argwohn der Bolschewiki. Zwar stimmte man darin überein, dass Genossenschaften einen entscheidenden Hebel zur Ausweitung und Modernisierung der Agrarproduktion bildeten. Hinsichtlich der Zukunft der russischen Landwirtschaft war man jedoch uneins. Die Vertreter des vorrevo­ lutionären Genossenschaftsdiskurses hielten weiterhin an der Vision einer Agrarordnung fest, in der bäuerliche Produzenten Teile des Einkaufs, des Absatzes oder der Weiterverarbeitung mit Hilfe von Genossenschaften organisierten, grundlegende Produktionsentscheidungen jedoch auf der Ebene ihrer Individualwirtschaften fällten.139 Führenden Parteiideologen galt die Förderung der Genossenschaften ebenso wie die Neue Ökonomische Politik überhaupt als eine vorübergehende Maßnahme, auf die früher oder später die Überwindung der Bauernwirtschaften folgen würde. Auch wenn Konsens darüber bestand, dass eine Kollektivierung die Steigerung des agrartechnischen Niveaus voraussetzte und erst in unbestimmter Zukunft erreicht werden könnte, blieb die „sozialistische Transformation“ der Landwirtschaft das Fernziel der bolschewistischen Agrarpolitik.140 Den ideologischen Referenz­rahmen dieser Position bildete ein Anfang 1923 publizierter Aufsatz Lenins, in dem dieser

137 Parfenov, Sel’sko-chozjajstvennaja kooperacija, S. 9 – 11. 138 Aufstellung über die Mitglieder der genossenschaftlichen Leitungsorgane [1924], RGAĖ f. 478, op. 5, d. 2751, l. 4 – 8. 139 Siehe Dojarenkos Leitartikel im „Vestnik sel’skogo chozjastva“, in dem er vom „glühenden Glauben an die genossenschaftliche Zukunft der Landwirtschaft“ schreibt. Dojarenko, Ob očerednoj programme, S. 3f. 140 Dass dieses Fernziel während der Neuen Ökonomischen Politik letztlich nie aufgegeben wurde, unterstreichen Wehner, „Licom k derevne“, S. 39 und Miller, Soviet Agricultural Policy.

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die Vision einer Transformation der Landwirtschaft durch den freiwilligen Zusammenschluss der Bauern in Genossenschaften bis hin zur „vollständigen Vergenossenschaftung“ (polnoe kooperirovanie) der Bevölkerung entwickelt hatte.141 Obwohl Lenin weder definiert hatte, was genau er unter einem solchem Ziel verstand, noch Angaben dazu machte, in welchem Zeitraum dieses verwirklicht werden konnte, war der Hinweis auf den Übergangscharakter der bestehenden genossenschaftlichen Strukturen im Diskurs der Partei ein Allgemeinplatz.142 In der Resolution des 13. Parteitags Ende Mai 1924 wurde die „kolossale und entscheidende Bedeutung [der Genossenschaften] beim Aufbau des Sozialismus“ unterstrichen; durch den Zusammenschluss in Konsum- und Produktionsgenossenschaften würden die Bauernwirtschaften ihren individuellen Charakter automatisch verlieren und sich in Kollektivwirtschaften verwandeln.143 Obwohl die Parteiführung noch 1925 eine baldige Vergesellschaftung der Agrarproduktion ablehnte, diente der Hinweis auf das Fernziel einer kollek­tivierten Landwirtschaft bereits in der ersten Hälfte der 1920er Jahre als Argument gegen die Vertreter der vorrevolutionären Genossenschaftstraditionen. Im Rahmen einer öffentlichen Vortragsveranstaltung im Moskauer Polytechnischen Museum stellte Čajanov im November 1923 seine „Theorie der optimalen Betriebs­größen“ vor. Nach Auffassung Čajanovs konnte eine Bauernwirtschaft ihre Produktion dann maximieren, wenn sie jene Prozesse an Genossenschaften abgab, die besser von größeren betrieblichen Einheiten übernommen werden konnten. Der Ökonom war überzeugt, dass auf diese Weise gesamtwirtschaftliche Einkommens­ steigerungen erzielt werden könnten, ohne dass die Bauern ihre wirtschaftliche Eigenständigkeit aufgaben. Der Leiter der genossenschaftlichen Abteilung des Narkomzem und Dekan der Fakultät für Agrarökonomie und Agrarpolitik an der Timirjazev-Akademie P. A. Mesjacev warf Čajanov daraufhin ein unzeit­ gemäßes Genossenschaftsverständnis vor. Einzelne Bereiche der Landwirtschaft, so Mesjacev, seien bereits während des Kapitalismus vergenossenschaftet worden. Nach der Revolution stelle sich jedoch ein neues Ziel: die Schaffung einer „vielseitigen Kollektivwirtschaft“ (mnogostoronnoe kollektivnoe chozjajstvo), die verschiedene Produktionsprozesse vereine.144 Einen ähnlichen Einwand brachte 141 Lenin, O kooperacii. 142 Zum Stellenwert des Aufsatzes im Parteidiskurs siehe Wehner, „Licom k derevne“, S. 35f. Vgl. auch Merl, Agrarmarkt, S. 152 – 159. 143 Trinadcatyj s-ezd RKP (b), S. 627. 144 „Disput o roli sel’skochozjajstvennoj kooperacii“, S. 9. Čajanovs Ausführungen beruhten auf der Idee der landwirtschaftlichen „Differentialoptima“. Nach Auffassung des Ökonomen existierten für verschiedene landwirtschaftliche Produktionsschritte unterschiedliche optimale Betriebsgrößen. In der Genossenschaft sah er ein Mittel, um diese verschiedenen optimalen Produktionsgrößen herzustellen. Čajanov, Optimal’nye razmery. Unter Entwicklungsökonomen trifft diese Argumentation

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der Volkskommissar für L ­ andwirtschaft A. P. Smirnov gegen P. A. Sadyrin hervor, der als Vorsitzender des Zentralverbands der Agrargenossenschaften regelmäßig an den Kollegiumssitzungen des Narkomzem teilnahm. Als Sadyrin im Oktober 1925 über die Entwicklung der Agrargenossenschaften berichtete, warf der Volkskommissar ein, Sadyrin vertrete „den Standpunkt des geliebten alten Absatzprinzips“. Die Tätigkeit des Sel’skosojuz schien Smirnov halbherzig: „Wir brauchen die Vergenossenschaftung des Bauern selbst (kooperirovanie samogo krest’janina) und nicht den vergenossenschafteten Ankauf von Leinen.“145 Obwohl Smirnov, der ein erklärter Befürworter einer aktiven Genossenschaftspolitik war, die praktische Erfahrung der „alten“ Genossenschaftler schätzte, sah er in diesen offensichtlich Vertreter einer agrarpolitischen Vision, die mit der Machtübernahme der Bolschewiki ihre Fortschrittlichkeit eingebüßt hatte. Eine vergleichbare Konstellation ergab sich in der Auseinandersetzung über die staatliche Förderung agronomischer Beratungsangebote. Vorrevolutionäre Agrarexperten und Parteipolitiker stimmten darin überein, dass das Wachstum der Landwirtschaft nicht allein durch eine Verbesserung der ökonomischen Anreizstrukturen zu erreichen war, sondern auch eine Modernisierung der Produktion erforderte. Die Autoren des 1922 veröffentlichten landwirtschaftlichen Perspektivplans des Narkomzem stellten die Intensivierung und Rationalisierung der bäuer­lichen Landwirtschaft auf die agrarpolitische Agenda. Ebenso wie in den Jahren vor der Revolution verschrieb man sich einer Förderung aller sozialen Schichten auf dem Dorf. Umfassende Programme zur Verbreitung landwirtschaftlich relevanter Kenntnisse sollten wirtschaftspolitische und legale Maßnahmen begleiten.146 Es ist schwer zu übersehen, dass die Erfahrungen der vorangegangenen Dekade bei der Ausarbeitung entsprechender Programme in den 1920er Jahren Pate standen. Viele der durch den Narkomzem initiierten und finanzierten Maßnahmen hatten Vereine, landwirtschaftliche Gesellschaften, Genossenschaften und Zemstvos bereits in den Jahren vor der Revolution erprobt. Dies betraf nicht nur die Organisation von Vorlesungen, Vortragsveranstaltungen und Wanderausstellungen oder die Herausgabe von landwirtschaftlicher Populärliteratur. Selbst der „Leninsche Agrozug“ (agropoezd imeni Lenina), der im Jahre 1925 mit Anschauungstafeln, Flugblättern und Beispielen neuester Agrartechnik durch das Land geschickt wurde, besaß

bis heute auf Zustimmung. In der Landwirtschaft gilt die Familienwirtschaft gerade deswegen als vorteilhaft, weil sie Transaktionskosten für die Planung, Kontrolle und Begleitung der Produktion verringert. Die Nachteile, die sich aus der geringen Größe der Bauernwirtschaften ergeben (mangelnde Größenvorteile und schlechte Marktposition), würden durch Genossenschaften kompensiert. Valentinov, Cooperatives. 145 Rede Smirnovs bei der Kollegiumssitzung des Narkomzem am 17. Oktober 1925, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1557, l. 4f. 146 Generalplan zur Entwickung der Landwirtschaft [1922], RGAĖ f. 478, op. 2, d. 156, l. 37 – 39.

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historische Vorläufer.147 Die Neue Ökonomische Politik glich folglich nicht nur auf konzeptioneller, sondern auch auf praktischer Ebene einer Neuauflage der vorrevo­ lutionären Entwicklungsagenda.148 Trotz dieser Kontinuitäten diente die ländliche Moderne, wie sie Vertreter der vorrevolutionären obščestvennost’ entworfen hatten, nach der Revolution nur bedingt als Leitbild bolschewistischer Agrarpolitik. Ebenso wie die zarischen Beamten hingen führende Staats- und Parteifunktionäre in den 1920er Jahren einem technokratisch-etatistischen Steuerungsoptimismus an,149 der weder den Bauern noch anderen nichtstaatlichen Akteuren nennenswerte Handlungsspielräume einräumte. Nach den Worten des stellvertretenden Volkskommissars für Landwirtschaft Teodorovič stand der sowjetische Agronom einem gesichtslosen „bäuerlichen Massiv“150 gegenüber, dem das elementarste agronomische Wissen fehlte. Bauern waren folglich keine eigenständig handelnden Wirtschaftssubjekte, sondern Objekte einer staatlichen Modernisierungsvision, die sich mit universellen Mittel durchsetzen ließ: „Es wirtschaftet nicht der einzelne Hof, sondern ein Massiv an Bauernhöfen. Das erleichtert die Arbeit des Agronomen.“151 Diese Sicht auf die Bauern verband sich mit dem Anliegen der Bolschewiki, das Dorf in die Hierarchien des Zentralstaates zu integrieren. Wie in der Bildung und Forschung setzte nach der Revolution auch auf dem Gebiet der Popularisierung agrarwissenschaftlicher Kenntnisse ein Prozess der Nationalisierung und Zentralisierung ein. Anstelle der obščestvennost’ agierten nun Institutionen, die unmittelbar der Staatsgewalt unterstanden. Der Verlag des Narkomzem „Das neue Dorf“ (Novaja Derevnja) übernahm die Rolle der vormals dezentral organisierten landwirtschaftlichen Presse. Hatte der Verlag 1918 lediglich elf Veröffentlichungen im Umfang von insgesamt 221 Seiten realisiert, verzeichnete man im Jahr 1924 bereits 285 Publikationen von insgesamt 1351 Seiten, die mit einer Gesamtauflage von 12 Mio. Einzelexemplaren erschienen.152 Auch die agronomische Hilfe wurde nun zu einer staatlichen Domäne. Lokale Ableger des Narkomzem übernahmen in den 1920er Jahren die agronomische Beratung der Bauern 153 und machten die Traditionen des Agrarismus zu einem Instrument sowjetischer Staatsbildung auf dem Dorf. 147 Die ersten Agrozüge gab es kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Bogorodickij, Agronomičeskie poezda, S. 349. Zum Einsatz von Agrozügen während der 1920er Jahre: Protokoll der Kollegiumssitzung vom 20. August 1920, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 363, l. 116; Protokoll der Kollegiumssitzung vom 7. Juli 1921, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 473, l. 158; „Rejs Agropoezda po Severo-Zapadnoj Oblasti“, S. 39; Fridolin, Bol’nye voprosy, S. 3 – 5. 148 Dies betont auch Heinzen, Soviet Countryside, S. 57. 149 Zur Modernisierungsvision spätzaristischer Beamter siehe Holquist, “In Accord …“. 150 Teodorovič, Sovetskij agronom, S. 181. 151 Ebd. 152 Lebedev, Šest’ let, S. 26 – 28. 153 Heinzen, Professional Identity, S. 12 – 16.

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Aus der Sicht vieler Bolschewiki beschränkte sich der Auftrag der Agronomen nicht auf den technischen Aspekt der ländlichen Modernisierung. Die bereits unter spätzaristischen Bürokraten verbreitete Vorstellung, bei der ländlichen Bevölkerung handele es sich um ein formbares Objekt staatlicher Modernisierungsprogramme, erhielt in den 1920er Jahren eine ideologische Dimension. Die Agronomen sollten den Bauern das gesellschaftliche Leitbild der neuen Machthaber vermitteln. Die Agronomie, so stellte das ein Autor in der vom Narkomzem herausgegebenen Zeitschrift „Landwirtschaftliches Leben“ (Sel’skochozjajstvennaja žizn’) dar, sei „ein Werkzeug der gesellschaftlichen Einwirkung auf die massenhafte Bauernwirtschaft, so dass diese nicht nur rentabel wird, sondern ihre Form auch keine Bremse für den sozialistischen Wirtschaftsaufbau darstellt […]“154. Es erstaunt daher nicht, dass agronomische und politische Bildung als „zwei Seiten einer Medaille“155 galten: Agronomen sollten neben landwirtschaftlicher auch politische Bildung vermitteln und die Bauern zu ordentlichen Sozialisten erziehen. 1924 bemerkte ein Vertreter des Narkomzem-Verlags, dass „selbst ein technisches landwirtschaftliches Buch für das Dorf […] nicht ohne das Element der Politik [auskommt]“156. Wenngleich der Narkomzem einen im Vergleich zur Parteiführung moderaten Kurs vertrat und viele seiner Mitarbeiter in den Landwirtschaftsspezialisten in erster Linie Vermittler von technischen und organisatorischen Kenntnisse sahen,157 stieß die Idee, Agronomen im Bereich der politischen Propaganda einzusetzen, auch hier auf allgemeine Zustimmung. Für die Anhänger des Agrarismus war das erste Jahrzehnt der bolschewistischen Herrschaft eine ambivalente Zeit. Unverkennbar knüpfte die staatliche Agrarpolitik in den Jahren der Neuen Ökonomischen Politik an vorrevolutionäre Traditionen an. Für zahlreiche Agrarwissenschaftler, Statistiker und Ökonomen schien nun die Gelegenheit gekommen, um beruflichen Aufstieg und den Traum von einer ländlichen Moderne in Einklang zu bringen. Obwohl es zwischen der agrarpolitischen Vision des vorrevolutionären Agrarismus und der Agenda der NĖP zahlreiche Überschneidungen gab, differierten beide Programme in Bezug auf die grundlegende Frage, welche Rolle den Bauern im Rahmen einer künftigen Agrarordnung z­ u­fallen würde. Während viele Vertreter der vorrevolutionären intelligencija die Bauern als Träger von Agrarwachstum und die Bauernwirtschaften als selbstverständliche Grundlage einer künftigen Agrarordnung ansahen, verbanden führende Bolschewiki die negative Wahrnehmung alles Bäuerlichen mit einem traditionellen Misstrauen 154 Ivanov, Osnovnye zadači, S. 2. 155 So formulierte das der Vorsitzende einer Versammlung des Narkomzem, die im September 1923 über die Moskauer Landwirtschaftsausstellung diskutierte. RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1083, l. 5f. 156 Sokolov, Krest’janskaja kniga, S. 3. 157 Wehner, Bauernpolitik, S. 114 – 117.

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gegenüber wirtschaftlicher Eigenständigkeit und unkontrollierten Intiativen „von unten“. Dass sich die staatliche Wirtschaftspolitik letztlich auf die Überwindung bäuerlicher Agrarstrukturen richten musste, stand daher auch in den Jahren der NĖP nicht zur Disposition. Die eindrucksvollen beruflichen Karrieren, die viele vorrevolutionäre Experten im sowjetischen Apparat absolvierten, waren daher die Folge eines Missverständnisses 158 über die Leitbilder und Methoden staatlicher Agrarpolitik.

3.2.2  Die Ordnung der Zukunft Die Jahre der Neuen Ökonomischen Politik zeichneten sich nicht nur durch eine partielle Rückkehr zu einigen marktwirtschaftlichen Prinzipien aus. Der wirtschaftspolitische Kurswechsel ging zugleich einher mit dem systematischen Ausbau der staatlichen Wirtschaftsplanung. Nachdem die Erstellung von Wirtschaftsplänen in den Monaten nach der Gründung der staatlichen Planungskommission Gosplan im Jahre 1921 zunächst sehr schleppend vorangegangen war, veranlasste der Rat der Volkskommissare im April 1922 einen Umbau des Planungsapparats. In diesem Zusammenhang wurden in allen Volkskommissariaten Planungsabteilungen eingerichtet, die branchenspezifische Wirtschaftspläne erstellen und damit die Vorarbeiten für einen gesamtwirtschaftlichen Plan leisten sollten. 1922 wurde die Abteilung für Agrarökonomie und Planungsarbeiten des Narkomzem durch die landwirtschaftliche Planungskommission (Zemplan) ersetzt,159 die bald darauf zum wichtigsten agrarpolitischen Expertengremium Sowjetrusslands aufstieg. Die Leitung der Abteilung unterstand dem stellvertretenden Volkskommissar für Landwirtschaft I. A. Teodorovič. N. D. Kondrat’ev profilierte sich als intellektueller Kopf von ­Zemplan. Zu seinen ständigen Mitarbeiten zählten führende Vertreter des Agrarismus: N. P. Makarov, A. V. Čajanov, A. N. Čelincev, A. V. Tejtel und A. G. Dojarenko. Auch A. A. Rybnikov und N. P. Oganovskij arbeiteten regelmäßig für Zemplan.160 Allem Anschein verstanden die Experten ihre Mitarbeit im Planungsstab des ­Narkomzem als Auftrag zur praktischen Umsetzung der Neuen Ökonomischen Politik. Als Zemplan 1922 mit der Ausarbeitung eines landwirtschaftlichen Perspektivplans begann und die lokalen Ableger des Narkomzem mit der Erstellung 158 Ähnlich argumentieren Blum und Mespoulet mit Blick auf die Statistiker im sowjetischen Staatsdienst. Diese wären einem Missverständnis erlegen. Während sie daran glaubten, ihre Kenntnisse könnten der Implementierung einer „wissenschaftlichen Politik“ dienen, hätten die Bolschewiki die Statistik stets dem Primat der Politik untergeordnet. Blum; Mespoulet, Bjurokratičeskaja ­anarchija, S. 71 – 73. 159 Beschluss des SNK zum Umbau der Planungsorgane [1923], RGAĖ f. 478, op. 2, d. 201, l. 6. 160 Aufstellung über die Spezialisten und wissenschaftlichen Mitarbeiter von Zemplan [1924 – 1925], RGAĖ f. 478, op. 2, d. 286, l. 1 – 5.

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entsprechender Regionalpläne beauftragte, dominierte das agrarpolitische Leitbild des vorrevo­lutionären Agrarismus. Die Pläne sollten die landwirtschaftlichen Besonderheiten der einzelnen Regionen berücksichtigen und die Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft in den Mittelpunkt stellen. Die Planungskommission forderte die regionalen Planungsstellen dazu auf, mit ihren Maßnahmen das wirtschaftliche Interesse und die Initiative der Bauern „auf indirektem Wege“ (kosvennym metodom) anzuregen.161 In der Tradition der Sozialagronomie wurden die Bauern als ökonomisch selbstständige Akteure behandelt. Obwohl die „Allgemeinen Grundlagen zur Erstellung eines landwirtschaftlichen Perspektivplans durch den Narkomzem“ staatliche Interventionen und längerfristig sogar eine Vergesellschaftung der Landwirtschaft vorsahen, legten die Mitarbeiter von Zemplan Wert darauf, dass der Schwerpunkt ihrer Pläne auf der Entwicklung von Agrarmärkten und einer Erhöhung des Marktanteils der bäuerlichen Produktion lag. Wenn es im „Generalplan des Narkomzem zur Entwicklung der Landwirtschaft“ hieß, man müsse die „spontanen Prozesse“ der landwirtschaftlichen Entwicklung durch „Planmäßigkeit“ (planomernost’) ersetzen, so hatten die Autoren dabei weder die Abschaffung marktwirtschaft­licher Tauschbeziehungen noch die Überwindungen der bäuerlichen Agrarordnung im Sinne. Vielmehr sahen sie den Plan als Mittel, um den „Wiederaufbau“ (vosstanovlenie) und die „Entwicklung“ (razvitie) der Landwirtschaft zu stimulieren.162 Planung bedeutete hier also wenig mehr als die Festlegung strategischer Bereiche der Agrarpolitik mit dem Ziel, die landwirtschaftlichen Schäden von Bürgerkrieg und Hungersnot zu beseitigen. Die grundlegenden Parameter der Agrarordnung standen hingegen nicht zur Disposition. Für die Agrarspezialisten bedeutete der Ausbau des Planungsapparats zunächst nicht mehr als eine Subventionierung der empirischen Wirtschaftsforschung. Im Auftrag des Staates setzten sie sich nun mit Fragen auseinander, die bereits vor der Machtübernahme der Bolschewiki im Zentrum ihres Interesses gestanden hatten. Sie erstellten Agrarstatistiken, entwickelten Methoden zur Auswertung quantitativer Daten und erarbeiteten Vorschläge zur Umsetzung ihrer agrarpolitischen Vorstellungen. Unter der Leitung Kondrat’evs verfolgte die Konjunkturkommission des ­Zemplan die Entwicklung von in- und ausländischen Agrarmärkten. Die Außenhandelskommission, die Makarov unterstand, entwickelte Richtlinien für den sowjetischen Außenhandel, eine statistische Kommission unter der Leitung Čelincevs bemühte sich um die Vereinheitlichung des Datenmaterials, das die verschiedenen Abteilungen des Narkomzem erstellten.163 Der Arbeitsplan von Zemplan für das Jahr 161 Materialien für den Plan zum Wiederaufbau und zur Entwicklung der Landwirtschaft [1923], RGAĖ f. 478, op. 2, d. 201, l. 97f., 158 – 168. 162 Generalplan des Narkomzem zur Entwicklung der Landwirtschaft, RGAĖ f. 478, op. 2, d. 156, l. 1f. 163 Bericht über die Arbeit von Zemplan im Jahr 1924/25, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1560, l. 7 – 18.

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1925/26 sah vor, dass Čelincev Vorschläge zur Überwindung der ländlichen Überbevölkerung erarbeitete. Makarov fiel die Aufgabe zu, die Ausstattung der Bauern­ wirtschaften mit Produktionsmitteln zu quantifizieren. Gemeinsam mit Manujlov sollte er zudem die Geschichte und die möglichen Perspektiven der landwirtschaftlichen Mechanisierung untersuchen. Tejtel erhielt den Auftrag, den Zustand der agronomischen Organisationen im In- und Ausland zu evaluieren.164 Ähnlich wie die Statistiker der Zentralen Statistikbehörde sahen die Mitarbeiter des Narkomzem in der Einbindung in den Staatsapparat offensichtlich eine Gelegenheit, um sich am Aufbau eines nach rationalen Maßstäben geordneten Staatswesens zu beteiligen.165 Da den Wirtschaftsplänen umfassende empirische Studien vorausgingen und die Pläne wiederum die Grundlage künftiger agrarpolitischer Maßnahmen liefern sollten, schien die Realisierung einer an wissenschaftlichen Kriterien orientierten Agrarpolitik mit dem Ausbau der Planwirtschaft in greifbare Nähe zu rücken. In einer Kollegiumssitzung des Narkomzem bezeichnete Kondrat’ev die Planungskommission als „wissenschaftlich-operatives Organ“166. Paradoxerweise war es also die Ausweitung der Planwirtschaft unter den Bolschewiki, die die Anhänger des Agrarismus dem Ideal einer „wissenschaftlichen Politik“, die sie immer als Voraussetzung für die Realisierung einer ländlichen Moderne betrachtet hatten, näher zu bringen schien. Da es keine einheitliche Planungsmethoden gab und die Zuständigkeiten der einzelnen Planungsinstanzen nicht genau voneinander abgegrenzt waren, gestaltete sich die Erarbeitung der landwirtschaftlichen Perspektivpläne in der Praxis ausgesprochen schwierig. 1925 beklagten Vertreter von Zemplan, dass das statistische Material aus den Regionen häufig verspätet eintraf. Die detaillierte Abstimmung der einzelnen Pläne erschien ihnen daher illusorisch.167 Darüber hinaus wurde die Erstellung eines landwirtschaftlichen Gesamtplans durch den Umstand erschwert, dass die lokalen Ableger des Narkomzem RSFSR und die Landwirtschaftskommissariate in den einzelnen Sowjetrepubliken mit unterschiedlichen Planungszeiträumen und Begrifflichkeiten operierten.168 Derartige Probleme bestanden nicht nur innerhalb der Strukturen des Narkomzem, sondern auch zwischen dem N ­ arkomzem und anderen Planungsbehörden, die an eigenen landwirtschaftlichen Plänen arbeiteten bzw. deren Planungsvorhaben die Landwirtschaft betrafen. Die unklare Ver­treilung der Kompetenzen führte wiederholt zu Konflikten. Schon 1923 machte die Leitung des Narkomzem die politische Führung auf die parallelen Zuständig­keiten innerhalb des 164 165 166 167 168

Arbeitsplan des Zemplan für das Jahr 1925/26, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1560, l. 22 – 31. Blum; Mespoulet, Bjurokratičeskaja anarchija, S. 71f. Kondrat’ev im Kollegium des Narkomzem [17. November 1925], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1560, l. 5f. Bericht über die Arbeit von Zemplan im Jahr 1924/25, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1560, l. 7 – 18. Zu diesem Ergebnis kam eine Untersuchung des Rabkrin im Jahr 1927. Bericht über die Unter­ suchung des Zentralapparats des Narkomzem [1927], GARF f. A-406, op. 9, d. 509, l. 1 – 6.

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staatlichen Planungsapparats aufmerksam.169 1925 monierten ­Zemplan-­Mitarbeiter, dass Materialien, die man an die landwirtschaftliche Kommission im Gosplan weiter­geleitet hatte, dort über ein halbes Jahr lang nicht b­ e­arbeitet worden waren.170 Wie eine Untersuchungskommission der Arbeiter-Bauern-­Inspektion 1927 feststellte, zogen ungeklärte Zuständigkeiten in der landwirtschaftlichen Planung die Vergeudung finanzieller und personeller Ressourcen nach sich. Die Über­prüfung des Planungsapparats hatte ergeben, dass die Abteilungen von mindestens drei Zentralbehörden mit der Aufstellung von Agrarplänen beschäftigt waren: die landwirtschaftliche Sektion des Gosplan, die landwirtschaftliche Sektion von Promplan des VSNCh und die landwirtschaftliche Planungskommission des ­Narkomzem. Die Arbeit dieser Gremien erfolge unkoordiniert. So habe Gosplan einen Plan erstellt, der mit dem 1925 von Gosplan selbst gebilligten Perspektivplan des Narkomzem kollidierte. Promplan kalkuliere wiederum mit Entwicklungsprognosen, die von keiner der beiden anderen Behörden bestätigt worden waren.171 Diese Schwierigkeiten zeigten nicht nur, dass der Narkomzem innerhalb des Staatsapparats in einer andauernden Konkurrenz um Einfluss stand.172 Sie verweisen auch auf ein Grundproblem des Planungswesens überhaupt: die Koordinierung von Branchen-, Regional- und Zentralplänen. Das landwirtschaftliche Entwicklungsszenario, das die Mitarbeiter von Zemplan entwarfen, erinnerte an die Visionen der vorrevolutionären obščestvennost’. Die Experten brachten die Erstellung staatlicher Wirtschaftspläne nicht mit der Errichtung einer hierarchisch organisierten Ökonomie in Verbindung, in der es keine Märkte gab und alle ökonomischen Entscheidungen a priori von Wirtschaftswissenschaftlern und Statistikern gefällt wurden. Die 1924 von Zemplan veröffentlichten „Grundlagen des Perspektivplans zur Entwicklung der Land- und Forstwirtschaft“ erteilten agrarpolitischen Zwangsmaßnahmen eine offene Absage. Die Politik des Narkomzem sollte sich vielmehr am wirtschaftlichen Interesse der Bauern orien­ tieren und deren „Selbsttätigkeit“ fördern.173 Auch die Existenz eines Marktes stellten die Mitarbeiter von Zemplan nicht in Frage. Dieser sollte zwar reguliert, jedoch auf keinen Fall durch ein zentral gesteuertes Verteilungssystem ersetzt werden. Die meisten Arbeiten aus dem Umfeld von Zemplan folgten der Idee, Agrarwachstum lasse sich durch eine entsprechende Preispolitik, die die Marktposition der Bauern

169 Dokumente zur Struktur und zum Personalbestand des Narkomzem, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1078, l. 26f. 170 Bericht über die Arbeit von Zemplan im Jahr 1924/25, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1560, l. 7 – 18. 171 Rabkrin-Dossier über die Organisation der Planung im Bereich der Landwirtschaft [März 1927], GARF f. A-406, op. 9, d. 510, l. 142 – 194. 172 Zur Konkurrenz sowjetischer Behörden Wehner, Bauernpolitik, S. 30. 173 [Narodnyj Komissariat Zemledelija,] Osnovy, S. 78.

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verbesserte, sowie die Intensivierung und Rationalisierung der Agrarproduktion erzeugen.174 Markt und Planung gehörten in dieser Konzeption untrennbar zusammen. Im „Perspektivplan zur Entwicklung der Land- und Forstwirtschaft“ hieß es sogar, die Notwendigkeit einer „planmäßigen Regulierung“ der Wirtschaft habe sich durch die Wiederherstellung der „spontanten Kräfte“ des Marktes während der NĖP erhöht. Nach Auffassung der Autoren wurde Planung durch die Existenz einer marktwirtschaftlichen Ordnung überhaupt erst möglich; als Grundlage jeder sinnvollen Wirtschaftsrechnung sei mit der Wiederherstellung der Marktpreise überhaupt erst die Voraussetzung für einen „rationalen Plan“ geschaffen worden.175 Im Verlauf der 1920er Jahre war das Leitbild der staatlichen ­Wirtschaftspolitik Gegenstand anhaltender Diskussionen. Als Vertreter der staatlichen Planungs­ behörden zwischen Juli und September 1925 über den landwirtschaftlichen Perspektiv­plan des Narkomzem debattierten,176 zeigte sich, dass die Leitlinien von Zemplan keine uneingeschränkte Unterstützung fanden. Dass Zemplan der landwirtschaftlichen eine der industriellen Entwicklung mindestens ebenbürtige, wenn nicht sogar übergeordnete Bedeutung beimaß, rief Widerspruch hervor. Während der Leiter der landwirtschaftlichen Sektion von Gosplan P. I. Popov zurückhaltend darauf hinwies, dass die Zukunft der Landwirtschaft entscheidend von der Entwicklung der Industrieproduktion abhing, und Zemplan nahelegte, die Interessen der Industrie stärker zu berücksichtigen, forderte der marxistische Agrartheo­retiker und Gosplanmitarbeiter L. N. Kricman eine vollständig revidierte Neufassung des Plans: „Unser Agrarland leidet unter dem Entwicklungsrückstand der Industrie, und unsere Aufgabe besteht darin, diesen Mangel zu beheben.“ ­Kricman nutzte die Debatte zur öffentlichen Diskreditierung Kondrat’evs. Er monierte den „volkstümlich-mystischen Gehalt der Harmonie zwischen Landwirtschaft und Industrie“177 in Kondrat’evs Vortrag und stellte damit nicht nur die professionelle Autorität, sondern auch die ideologische Integrität des Ökonomen in Frage. Ähnlich positionierte sich der bolschewistische Wirtschaftshistoriker S. M. Dubrovskij, der den Perspektivplan des Narkomzem als Traumgespinst zurückwies.178 Trotz der zum Teil heftigen K ­ ritik gelang es den Zemplan-Vertretern jedoch, eine leicht korrigierte 174 Nach Auffassung N. P. Oganovskijs stellte der Markt den entscheidenden Faktor landwirtschaftlicher Entwicklung dar. Oganovskij, Pod-em (1), S. 6 – 8; ders., Pod-em (2), S. 8 – 10; ders., Sel.-choz. ėvoljucija, S. 4 – 7. Die Eroberung des Außen- und die Ausweitung des Binnenmarkts“ war aus Oganovskijs Sicht 1925 die größte agrarpolitische Herausforderung Sowjetrusslands. Oganovskij, Ėvoljucija sel’skogo chozjajstva, S. 9. Siehe auch den Bericht über die Zemplan-Sitzung im Januar 1924 „V Planovoj Komissii“, S. 6. 175 [Narodnyj Komissariat Zemledelija,] Osnovy, S. 5. 176 Als Sprecher von Zemplan trat N. D. Kondrat’ev auf. Kondrat’ev, Osnovy. 177 „Plenarnoe zasedanie Prezidiuma Gosplana“, S. 179f. 178 Obsuždenie „Osnovy perspektivnogo plana …“, S. 207 – 209.

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Fassung ihres Plans durchzu­setzen. Am 1. September 1925 nahm das Präsidium von Gosplan den Perspek­tivplan des Narkomzem an. Die abschließende Reso­lution der zentralen sowjetischen Planungsbehörde würdigte die „gewaltige Arbeit“ des Narkomzem.179 Die Leitideen des Entwicklungsprogramms der vor­revolutionären obščestvennost’ waren damit als Bestandteil der sowjetischen Agrarpolitik anerkannt worden. Um ihre agrarpolitischen Vorstellungen gegenüber den höchsten Instanzen der sowjetischen Wirtschaftsadministration durchzusetzen, mussten sich die vorrevolutionären Agrarexperten den Konventionen der politischen Rhetorik anpassen. Im Unterschied zu den Jahren vor der Revolution, als sie außerhalb staatlicher Strukturen gearbeitet und sich als Kritiker der Regierung positioniert hatten, waren sie nun auf die Zielvorstellungen der politischen Führung festgelegt. Auch wenn die Vertreter des Agrarismus und ihre Förderer in den sowjetischen Behörden dem Leitbild einer vollständig kollektivierten Landwirtschaft wenig abgewinnen konnten, war der Verweis auf eine solche Perspektive sowohl in der Leitung als auch unter den Mitarbeitern des Narkomzem eine gängige Praxis. 1924 lobte Smirnov, dass die Arbeit der landwirtschaftlichen Planungskommission „völlig zu Recht auf die Kollektivierung ausgerichtet“ sei.180 Im Perspektivplan des Narkomzem hieß es, die Hoffnungen zur Überwindung der landwirtschaftlichen Rückständigkeit müssten auf die Kollektivierung gesetzt werden (sdelat’ stavku na kollektivizaciju).181 Der Text machte jedoch eine wichtige Einschränkung: „Die sozialistische Landwirtschaft ist nur auf einem solchen Niveau der Bevölkerungsorganisation und auf einem solchen technologischen Entwicklungsstand vorstellbar, in dem die individuelle Wirtschaftsform die Entwicklung bremst.“182 Da die baldige Kollektivierung angesichts des technischen und kulturellen Entwicklungsniveaus der sowjetischen Landwirtschaft für die Experten von Zemplan ausgeschlossen war, blieb das Ziel der Kollektivierung in ihren Arbeiten letztlich immer vage. Auch wenn Kondrat’ev die Kollektivierung als zentrales Anliegen der Planungskommission bezeichnete,183 blieb er zurückhaltend: „Wir stellen uns keine utopischen Aufgaben. Wir denken nicht, dass der Prozess der Kollektivierung auf Wunsch oder Befehl verwirklicht werden kann. Wir halten es im Augenblick für realistisch, im Laufe der kommenden Jahre diese Losung [der Kollektivierung – K. B.] in die Losung einer landwirtschaftlichen

179 „Osnovy perspektivnogo plana …“, S. 167. 180 Protokoll der Kollegiumssitzung vom 26. Juni 1924, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1212, l. 203. 181 [Narodnyj Komissariat Zemledelija,] Osnovy, S. 30. 182 Ebd. 183 Kondrat’ev vor dem Kollegium des Narkomzem [17. November 1925], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1560, l. 6.

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Genossenschaftsentwicklung zu verändern: im Bereich der Produktion, des Absatzes und im Bereich der Kreditbeziehungen.“184 Kondrat’evs Verweis auf die Perspektive einer kollektiven Landwirtschaft war weder eine leere Formel noch stellte er ein blindes Bekenntnis zur Idee der Kollektivierung dar. Natürlich machten die Vertreter des vorrevolutionären Agrardiskurses mit der regelmäßigen Verwendung von Begriffen wie „kollektive Formen der Bodennutzung“, „kollektive Nutzung von landwirtschaftliche Maschinen“ oder auch „Kollektivwirtschaft“185 Zugeständnisse an die Sprache der Bolschewiki. Die Idee, dass sich der Zusammenschluss von Bauern vorteilhaft auf die Agrarproduktion auswirken konnte, hatte jedoch ältere Wurzeln; sie war die theoretische Rechtfertigung für die Förderung des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens. Es fiel den „bürgerlichen“ Spezialisten im Narkomzem deshalb wahrscheinlich nicht besonders schwer, die von den Bolschewiki favo­ risierten Begrifflichkeiten zu verwenden. Hinter ihrem Bekenntnis zum abstrakten Fernziel der Kollektivierung verbarg sich ein Plädoyer für eine breitflächige Etablierung genossenschaftlicher Strukturen. Čajanov sprach in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre vom „Weg der genossenschaftlichen Kollektivierung“ (­kooperativnaja kollektivizacija) im Sinne der „allmähliche[n] und konsequente[n] Abspaltung einzelner Bereiche der individuellen Produktion und ihrer Organisation in höheren Formen großer gesellschaftlicher Betriebe“186. Von einer vollständigen Überwindung der individuellen Produktion war bei ihm jedoch keine Rede. Ähnlich wie Čajanov vermieden es auch die Autoren des ersten Perspektiv­ plans der Landwirtschaft, die kollektivierte Landwirtschaft als einen Zustand zu beschreiben: Die „kollektive Bodenbearbeitung“ solle „nicht statisch [verstanden werden], nicht als eine Form, die auf Wunsch vollständig eingeführt werden und in jedem beliebigen Moment umgesetzt werden kann, sondern dynamisch, als eine Form, die geboren wird und im landwirtschaftlichen Entwicklungsprozess wächst […]“187. Für die Mitarbeiter des Narkomzem besaß die Perspektive einer vollständigen Vergesellschaftung der landwirtschaftlichen Produktion offensichtlich keine unmittelbare Relevanz. Indem sie die Kollektivierung als Bestandteil einer nur vage zu beschreibenden Zukunft darstellten, hielten sie die sprachlichen Regeln des offiziellen Diskurses ein, ohne sich vollends auf die agrarpolitische Vision der Bolschewiki festzulegen. Hinter der Akzentuierung von Prozess und Entwicklung stand ein spezifisches Verständnis von Planung. Führende Experten des Zemplan äußerten Vorbehalte 184 185 186 187

Kondrat’ev, Osnovy, S. 194. Fabrikant, O kollektivnom ispol’zovanii; Manujlov, Očerednye zadači. Čajanov, Osnovnye idei i formy organizacii, S. 24. [Narodnyj Komissariat Zemledelija,] Osnovy, S. 30.

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gegenüber der Idee, die zukünftige Wirtschaftsentwicklung lasse sich a priori bestimmen. 1925 gab Makarov zu bedenken, dass ökonomische Prognosen letztlich nur gerechtfertigt seien, wenn sie die prinzipielle Offenheit der Zukunft einkalkulierten. Ökonomen müssen sich daher mit allgemeinen Ausagen begnügen: „Je gröber und allgemeiner die Annahmen, desto größer die Chancen, dass sie der Realität nahe kommen. Je konkreter die Annahmen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie der Realität nicht entsprechen werden.“188 Auch wenn Zemplan immer ­wieder quantitative Angaben über bevorstehende landwirtschaftliche Entwick­lungen machte, zweifelten die Mitarbeiter der Abteilung am Sinn genauer Planvorgaben. Während einer Kollegiumssitzung des Narkomzem drückte Kondrat’ev sogar seine Über­raschung darüber aus, dass sich die Prognosen über die Entwicklung der Saat­ flächen, die Zemplan aufgestellt hatte, überhaupt bewahrheitet hatten: „Ich war selbst erstaunt, wie richtig wir gelegen haben.“189 Angesichts dieser Skepsis gegenüber quantitativen Aussagen über die Zukunft erregten die umfassenden Zahlen­ werke, die die sowjetischen Planungsbehörden in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre erstellten, im Narkomzem Ärger und Spott.190 Nach Auffassung Kondrat’evs waren die zahllosen Tabellen und Statistiken Ausdruck einer allgemeinen „Hypnose der Zahlen und der Arithmetik“191. Für den Ökonomen existierten nur zwei Möglichkeiten: „Entweder wollen wir ernsthafte und realistische Pläne. Dann können wir in ihnen nur darüber reden, wofür es eine wissenschaftliche Begründung gibt. Oder wir werden fortfahren, alle möglichen kühnen, unbegründeten Rechnungen über die Zukunft aufzustellen. Dann müssen wir uns damit abfinden, dass unsere Rechnungen willkürlich sein und die entsprechenden Pläne ihren Bezug zur Wirklichkeit einbüßen werden.“192 Die wachsende Kritik, die Narkomzem-Experten an der sowjetischen Wirtschaftsplanung in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre formulierten, resultierte weniger daraus, dass sie die Festlegung ökonomischer Entwicklungsziele grundsätzlich ab­­ lehnten. Schon vor der Revolution hatte der moderne Glaube an die Gestaltbarkeit der Zukunft, wie er zu Beginn des 20. Jahrhunderts für Wissenschaftler und Intellektuelle in Europa und Amerika charakteristisch war, im Zentrum ihres Selbstverständnisses als Wissenschaftler gestanden. Dieses emphatische Zukunftsverständnis bildete die Grundlage für die Zusammenarbeit der Agrarexperten mit den Bolschewiki. Was viele Experten im Narkomzem jedoch von den tonangebenden Wirtschaftsplanern 188 Makarov, Perspektivy s.-ch. ėksporta, S. 8. 189 Kondrat’ev vor dem Kollegium des Narkomzem [17. November 1925], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1560, l. 5. 190 Makarov, Voprosy, S. 37. 191 Kondrat’ev, Plan, S. 22. 192 Ebd., S. 31.

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unterschied, war das Ausmaß, mit dem sie glaubten, die Zukunft voraussagen und auf sie einwirken zu können. Da die Landwirtschaft aus der Sicht der vorrevo­ lutionären Agrarexperten eigenen Entwicklungsgesetzen folgte und darüber hinaus unvorhersehbaren externen Einwirkungen – der Entwicklung der nationalen und internationalen Märkte, der Infrastruktur, Dürren etc. – ausgesetzt war, schienen den Gestaltungsmöglichkeiten der Planer verhältnismäßig enge Grenzen gesetzt. Im ersten Generalplan zur Entwicklung der Landwirtschaft hatten die Mitarbeiter von Zemplan daher betont, „es [könne] lediglich die Rede davon sein, zu defi­nieren, in welche Richtung die Entwicklung der Landwirtschaft verlaufen sollte“193. Staatliche Wirtschaftspläne sollten also als politische Richtungsweiser fungieren. Čelincev etwa definierte einen Wirtschaftsplan als ein „System von Handlungen des Staates und seiner lokalen Organe, die die Anforderungen einer größtmöglichen Effek­­­­ti­ vität dieser Handlungen für die gesamte Volkswirtschaft erfüllt“194. Sein Freund und Kollege Makarov sah im Plan ein „wirtschaftspolitisches System, das auf die wünschenswerte Reorganisation der Wirtschaft im Rahmen ihrer Evolution […] zielt“195. Die Möglichkeiten einer allumfassenden Planung der Zukunft hielt er jedoch für begrenzt. Ein Plan, war Makarov überzeugt, sei „Ausdruck der wünschenswerten Resultate des wirtschaftlichen Aufbaus im Rahmen des Möglichen“196. Die Mitarbeit in den Planungsstäben setzte kein ideologisches Bekenntnis zum Staatssozialismus voraus. Der hohe Anteil von Experten, die in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten so emphatisch für die Entwicklung landwirtschaftlicher Märkte und die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Bauern plädiert hatten, in den Planungsinstitutionen der frühen Sowjetunion erklärt sich durch den weit verbreiteten Glauben an die gesellschaftliche Gestaltungskraft der Wissenschaft und die Krisenerfahrung von Welt- und Bürgerkrieg. Infolge des verheerenden Einbruchs der Agrarproduktion und der Hungersnot am Beginn der 1920er Jahre setzte sich unter russischen Experten die Auffassung durch, dass die wirtschaftliche Entwicklung nicht dem Zufall überlassen bleiben dürfe. Der Ausbau der Planwirtschaft gab ihnen nun die Möglichkeit, als Gestalter der Zukunft aufzutreten. Keineswegs orientierten sich die Agrarexperten bei ihrer neuen Tätigkeit an der Vision einer zentralistischen Kommandoökonomie, die wirtschaftlichen Akteuren jeglichen Entscheidungs- und Handlungsspielraum nahm. Ihre Bereitschaft zur Aufstellung staatlicher Pläne folgte der Idee, die Unabsehbarkeit der Zukunft lasse sich durch Wissenschaft und koordiniertes staatliches Handeln eindämmen, wie sie in Europa 193 Generalplan des Narkomzem zur Entwicklung der Landwirtschaft [1922], RGAĖ f. 478, op. 2, d. 156, l. 1f. 194 Čelincev, K voprosu o metodach, S. 47. 195 Makarov, Voprosy, S. 42. 196 Kondrat’ev, Plan, S. 7.

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und den USA systemübergreifend und ideologieunabhängig im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts an Einfluss gewann.197 Ähnlich wie andere Experteneliten agierten die Agrarexperten im bolschewistischen Staatsapparat demnach als Sozial­ingenieure, die daran glaubten, dass Menschen zu vernünftigem Handeln motiviert und auf diese Weise in die Errichtung einer rationell organisierten und krisenfesten Gesellschaft eingebunden werden konnten.198

3.2.3  „Bürgerliche Spezialisten“ und bolschewistischer Antiintellektualismus Die wachsende Bedeutung vorrevolutionärer Agrarexperten in Wissenschaft und Bürokratie ging nicht mit einem Anstieg ihres öffentlichen Ansehens einher. Vielmehr waren Agronomen, Statistiker und Ökonomen, deren Karrieren in die Jahre vor der Revolution zurückreichten, seit dem Beginn der 1920er Jahre regelmäßig Gegenstand polemischer Kritik. In Zeitungsartikeln, während öffentlicher Diskussionsveranstaltungen oder in internen Stellungnahmen von Parteifunktionären wurden sie als eine konservative Elite mit einer zweifelhaften politischen Identität dargestellt. Dass die führenden Agrarexperten der NĖP-Jahre weder der bolschewistischen Partei angehörten noch sich bei der Abfassung agrarpolitischer Projekte oder wissenschaftlicher Aufsätze strikt an die marxistische Rhetorik der Machthaber hielten, erklärt den paradoxen Widerspruch zwischen beruflichem Einfluss und öffentlicher Reputation allerdings nur zum Teil. Mindestens ebenso bedeutsam waren die Tradition des Antiintellektualismus und die demonstrative Distanzierung der Bolschewiki von den gebildeten Eliten der späten Zarenzeit.199 Obwohl sich das Studium der Agrarwissenschaft in den Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs als eine Option sozialen Aufstiegs erwiesen hatte, riefen bolschewistische Funktionäre in den 1920er Jahren wiederholt das Klischee vom Elitarismus des zarischen Bildungswesens auf, um die vorrevolutionären Experten zu diskreditieren. In ihren Darstellungen waren die landwirtschaftlichen ­Hochschulen des späten Zarenreichs hermetische Einrichtungen privilegierter Schichten, die der breiten Bevölkerung entrückt waren. Wie M. I. Kalinin in seiner Rede anlässlich der feierlichen Eröffnung der Fakultät für Agrarökonomie und Agrarpolitik an der Moskauer Landwirtschaftlichen Akademie zum Ausdruck brachte, würde die Diktatur des Proletariats der Exklusivität in den Agrarwissenschaften ein Ende setzen: 197 van Laak, Planung, S. 308 – 311; Doering-Manteuffel, Ordnung. 198 Etzemüller, Social engineering, S. 21f. 199 Zum Antiintellektualismus und der Abwertung der vorrevolutionären Bildungstraditionen durch die Bolschewiki siehe Stites, Revolutionary Dreams, S. 71 – 76, 227f.; David-Fox, Revolution, S. 201 – 210.

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„Das Studium der Wissenschaft ist ein Handwerk, das jedem einfachen Menschen zugänglich ist. Ein Mensch der Wissenschaft erlangt natürlich besondere Qualitäten, aber das gibt ihm nicht das Recht, sich über andere zu erheben, ein Priester zu sein. Eine unserer grundlegenden Aufgaben besteht darin, sie [die Wissenschaft – K. B.] von ihrem Hochsitz herunter zu holen, sie zu demokratisieren, zu vereinfachen, so dass ihr der Bauer solchen Respekt zollt, wie einem Schuster.“200

Mitunter dienten antiintellektuelle Stereotype auch dem Nachweis ideologischer Rechtschaffenheit. So unterstrich eine 1929 veröffentlichte Broschüre, die sich an potenzielle Studenten der Timirjazev-Akademie richtete, das man an der Akademie pflichtbewusste Erbauer des Sozialismus ausbilde und keine „prinzipienlosen Intelligenzler (bespočvennye intelligenty) mit ungewisser Ideologie“201. Nach dem Oktoberumsturz stand die vorrevolutionäre Agrarwissenschaft im Ruf der Selbstzweckhaftigikeit und Weltfremdheit. Die Mehrheit der vor der Revolution ausgebildeten Agronomen, so ein geläufiger Vorwurf, hätte während ihres Studiums zwar große Wissensmengen angehäuft, dieses jedoch kaum zur prak­ tischen Anwendung gebracht. Die vorrevolutionären Lehrpläne „enzyklopädischen Typs“, so ein Mitglied des Rats für landwirtschaftliche Bildung und Propaganda des Narkomzem, hätte die „Gattung des Sozialagronomen [hervorgebracht], der ein bisschen Vermesser, Tierarzt, Tier- und Pflanzenzüchter – eben von allem ein bisschen [gewesen sei]“202. Auch dem Bodenkundler V. P. Bušinskij, der neben seiner Professorentätigkeit an der Timirjazev-Akademie das Narkompros in Fragen der landwirtschaftlichen Bildung beriet, waren die vor der Revolution ausgebildeten „Enzyklopädisten“ ein Dorn im Auge: Diese seien mit oberflächlichen technischen Kenntnissen in das Dorf gekommen und von den praktischen Problemen der Bauern überfordert gewesen. Sie hätten sich daher als unfähig erwiesen, die Landwirtschaft nach den Maßstäben der Wissenschaft zu modernisieren.203 Bušinskijs Argumentation erschöpfte sich nicht in der Forderung nach einem verpflichtenden Produktions­ praktikum für Agronomiestudenten, um Theorie und Praxis bereits während des Studiums miteinander zu verzahnen. Vielmehr verband er seine Einwände gegen die agronomische Ausbildung der Zarenzeit mit einem ideologischen Argument: So hätten sich die meisten der damaligen Agronomen nicht durch ihre technischen oder ökonomischen Kenntnisse, sondern durch die Propagandierung populistischer

200 „Otkrytie fakul’teta …“, S. 20. 201 Sokolov, Kogo i kak, S. 27. 202 Protokoll einer Sitzung des Rats für landwirtschaftliche Bildung und Propaganda des Narkomzem am 13. Februar 1924, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1339, l. 9. 203 Ebd., l. 4.

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Losungen einen Namen gemacht.204 Die vorrevolutionären Agronomen waren damit in doppelter Hinsicht stigmatisiert: als Vertreter einer vergeistigten Elite ohne Bodenhaftung sowie als Anhänger einer politischen Strömung, deren Protagonisten die Bolschewiki kurz zuvor den Prozess gemacht hatten. Selbst in der Leitung des Narkomzem, deren Mitglieder in den 1920er Jahren als Patrone der vorrevolutionären Agrarexperten auftraten, gab es Anzeichen für die Geringschätzung jener Tradition, aus der die wissenschaftlichen Angestellten der Behörde ihre professionelle Identität herleiteten. Das utilitaristische Wissenschaftsverständnis bolschewistischer Funktionäre kollidierte mit der von Vertretern der vorrevolutionären Bildungsschichten geteilten Überzeugung, Wissen und Erkenntnis besäßen einen Eigenwert. Forderungen nach einer stärkeren Praxis­orientierung der weiterführenden Bildung brachten gerade analytische Disziplinen, für deren Etablierung an den landwirtschaftlichen Hochschulen sich die vorrevolutionären Agrarexperten engagiert hatten, in Verruf. Bereits zwei Jahre nach ihrer Gründung debattierte man im Narkomzem über die Schließung der Fakultät für Agraröko­ nomie und -politik an der Timirjazev-Akademie, die nicht nur das deutlichste Symbol für die Institutionalisierung des Agrarismus, sondern auch einer der wichtigsten Arbeitsorte vorrevolutionärer Agrarexperten war. Zwar sprach sich das Kollegium letztlich für den Erhalt der Fakultät aus.205 In der Diskussion trat jedoch zutage, dass die Einrichtung vor allem deswegen angefeindet wurde, weil man in ihr eine elitäre Bildungsanstalt sah, an der vermeintlich keinerlei praktisches ­Wissen vermittelt wurde. Dass viele Absolventen der Fakultät eine Anstellung in den Volkskommissariaten für Innen- oder Außenhandel der Tätigkeit in ­agrarpo­­­li­tischen Einrichtungen vorzogen, hatte nach Auffassung A. I. Sviderskijs nur bedingt mit den höheren Gehältern der beiden Zentralbehörden zu tun. Ein entscheidender Grund liege vielmehr darin, dass das Studium an der Fakultät nicht entsprechend auf eine landwirtschaftsbezogene Tätigkeit vorbereite. Das Studienprogramm sei eine „[…] gesellschaftlich-historische und philosophische Ausbildung mit einigen landwirtschaftlichen Kenntnissen ohne speziellen Charakter. In der Folge ist der Student, der die Fakultät für Agrarökonomie und -politik abgeschlossen hat, zwar ein gebildeter Mensch. Einen Agronomen (specialist-agronom) wird man ihn jedoch kaum nennen können.“206 Die Distanzierung vom humanistischen Bildungsideal im Diskurs der Bolschewiki ging mit der Abwertung des landwirtschaftlichen Hochschulstudiums als ausschlaggebender Qualifikation eines Agrarspezialisten einher. Anders als in den 204 Ebd., l. 4. 205 „V Kollegii Narkomzema“, S. 20. 206 Sviderskij über die Lehrpläne der Tirmijazev-Akademie [6. Juni 1925], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1549, l. 7.

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Jahren zuvor galt der erfolgreiche Abschluss eines Agronomiestudiums nach der Oktoberrevolution zwar als notwendiger, jedoch nicht als hinreichender Nachweis professioneller Autorität. Das Ansehen eines Agronomen stieg, wenn er eine revo­ lutionäre Vergangenheit vorweisen konnte oder Mitglied der bolschewistischen Partei war. Für den Dekan der Fakultät für Agrarökonomie und -politik P. A. Mesjacevs war der „neue“ Agronom der Sowjetordnung „[…] mit Leib und Seele verwachsen. Er [hatte] auf seinen Schultern den revolutionären Kampf ausgehalten und gemeinsam mit der Arbeiter-Bauern-Macht gelitten.“207 Neben seinem Engagement für den Sieg der Revolution zeichnete sich ein sowjetischer Agronom durch seine ergebene Haltung gegenüber den Maximen der neuen Staatsideologie aus. Im bolschewistischen Diskurs war die Agronomie daher nicht nur eine Profession, sondern auch ein politisches und ideologisches Bekenntnis: „Der neue Agronom muss Marxist sein, er muss die Marxsche Lehre in Vollkommenheit beherrschen und in der Lage sein, auf alle schwierigen Situationen des wirtschaftlichen und insbesondere des landwirtschaftlichen Lebens die Methode des dialektischen Materialismus anzuwenden. […] Wirtschaft und Politik müssen untrennbar miteinander einhergehen.“208 Den gleichen Anspruch transportierte auch der Topos des „alten Genossenschaftlers“ (staryj kooperator), der zwar langjährige praktische Erfahrungen besaß, die Tragweite der Revolution jedoch nicht verstand und in „sektiererischer Ablehnung alles Neuen“ (v sektantskom otricanii vsego novogo) die sowjetische Genossenschaftspolitik sabotierte.209 Als Čajanov 1925 eine Neufassung seiner kurzen Einführung in das Genossenschaftswesen veröffentlichte, monierte ein Rezensent, dass sich die vorrevolutionären Genossenschaftler zwar gedanklich weiterentwickelten, in grundsätzlichen Fragen des Genossenschaftswesens aber „alles beim Alten“ (vse po-staromu) beließen.210 Aussagen dieser Art waren mehr als ein formelhaftes Bekenntnis zur Ideologie der Bolschewiki. Die diskursive Entwertung vorrevolutionärer Traditionen stellte die professionelle Autorität nichtbolschewistischer Agrarspezialisten in Frage. So, wie der bolschewistische Diskurs die intelligenciija nach dem Oktoberumsturz als rückständiges Gegenüber des fortschrittlichen Proletariats entwarf,211 so diente das Stereotyp des „alten“ Experten nun als Negativfolie für den „neuen“ sowjetischen Agrarmodernisierer. Die Diskreditierung der Handlungs- und Wertmaßstäbe vorrevolutionärer Experten zeigte sich auch in der Zurschaustellung pragmatischer Entscheidungsfähigkeit und einem Kult des Zupackens. Die vorrevolutionären Agrarexperten und 207 Mesjacev, Bližajščie puti, S. 3. 208 Ebd., S. 4. 209 Dejatkin, Bezpartijnye v kooperacii [frühe 1920er Jahre], RGAĖ f. 533, op. 1, d. 34, l. 9 – 11. 210 S. U., Rezension, S. 182. 211 Halfin, Darkness, S. 193 – 204.

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Genossenschaftler, die im vorangegangenen Jahrzehnt das Selbstbild von „Menschen der Tat“ kultiviert hatten, galten nach der Oktoberrevolution als selbstherrliche Intellektuelle, deren Wissen ohne jeden praktischen Nutzen blieb. Als A. P. Smirnov im Oktober 1924 auf die Kritik von Rabkrin reagierte, stellte er seine Zeit an der Spitze des Narkomzem als einen Kampf gegen die Weltabgewandheit vergeistigter Intelligenzler dar. Erst durch die Umstrukturierungen des Planungsapparats des Narkomzem, so Smirnov, sei das „Missverhältnis zwischen Plan und Praxis aufgehoben [worden], ebenso wie das Primat inhaltsloser Theoretisiererei mit seinem eindeutig sozialrevolutionärem Einschlag über die praktische Arbeit“212. Es ist unerheblich, ob Smirnov der „inhaltslosen Theore­tisiererei“ tatsächlich überdrüssig war, oder ob er mit seiner offenen Distan­zierung von den Agrarexperten die eigene politische Loyalität demonstrieren und auf diese Weise seine Mitarbeiter schützen wollte. Dass er in seiner Stellungnahme gegenüber Rabkrin das wissenschaftliche Personal des Narkomzem mit Praxisferne in Verbindung brachte und ihre intellektuelle Nähe zu den bereits stigmatisierten Sozialrevolutionären betonte, deutet allerdings darauf hin, dass der Topos von den vorrevolutionären Experten als einer abgehobenen und den Bolschewiki potenziell gefährlichen Elite gemeinhin akzeptiert war. Spätestens beim Übergang zur Kollektivierung waren die vorrevolutionären Traditionen im Bereich der Agrarexpertise dann vollends diskreditiert. Als N. A. Kubjak im Jahr 1928 die Leitung des Narkomzem übernahm, stellte er die Jahre der NĖP, in denen die vorrevolutionären Agrarexperten die Schaltstellen der Behörde besetzt hatten, als eine Periode des ewigen Aufschiebens und Hinauszögerns dar. Von einer evolutionären Agrarpolitik wollte Kubjak nichts wissen. Die Errichtung von Kolchosen war für ihn ein „kämpferischer Auftrag“, der „nicht durch ewiges Lamentieren, sondern durch praktische Arbeit“ (ne putem razgovora, a putem praktičeskoj raboty) erfüllt werden sollte.213 Nach der Machtübernahme der Bolschewiki haftete den Anhängern des ­Agrarismus der Ruf Ewiggestriger an. Die demonstrative Abrechnung mit den intellektuellen und professionellen Traditionen, die das Selbstverständnis von Wissen­ schaftlern wie Čajanov, Dojarenko oder Kondrat’ev ausmachten, unter­höhlte deren prominente Position in Wissenschaft und Bürokratie. Nach der Oktober­revolution zählten sie zur Schicht der intelligencija. Anders als in den Jahren vor der Oktoberrevolution galt diese nun jedoch nicht mehr als gesellschaftliche und politische Avantgarde, sondern als konservative Elite, deren Vertreter allenfalls als Werkzeug für den Aufbau eines sozialistischen Staates Verwendung finden konnten.214 Dies 212 Smirnov an Rabkrin [10. Oktober 1924], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1534, l. 3. 213 Kubjak, Organizacija kolchozov, S. 3. 214 Halfin, Darkness, S. 196. Die Parallelen zu anderen Berufsgruppen sind nicht zu übersehen. Vgl. Schattenberg, „Uniformierte Schädlinge“.

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stellte nicht nur das von den obščestvenniki entwickelte Selbstverständnis, sie seien Vorkämpfer und Träger gesellschaftlicher Modernisierung, in Abrede. Im Kontext der andauernden Desavouierung humanistischer Werte standen sie im Verdacht, eine Gesellschaftsordnung zu befürworten, deren Überwindung sich die Bolschewiki auf die Fahne geschrieben hatten. Die vorrevolutionären Agrarexperten galten daher als potenzielle Verräter der Revolution. Auch wenn sie an Bildungs- und Forschungseinrichtungen und in staatlichen Behörden verantwortungsvolle Positionen besetzten, blieb ihre gesellschaftliche Lage immer unsicher; profes­sionelle Kompetenz und symbolisches Kapital waren unter den Bedingungen der bolschewistischen Herrschaft nicht mehr kongruent.

3. 3  „ A n d e r Ag r a r f r o nt “ 3.3.1  Die marxistische Wende der Agrarökonomie Von Beginn an verfolgten bolschewistische Intellektuelle mit eifersüchtiger Kritik, wie vorrevolutionäre Ökonomen, Statistiker und Agronomen leitende Funktionen in Wissenschaft und Verwaltung übernahmen. Fast zeitgleich mit der Offensive, die der Parteiideologe Ju. Larin angesichts der Einstellung Makarovs und ­Čelincevs im Narkomzem gestartet hatte, unternahmen Ökonomen und Statistiker ener­gische Versuche, die Präsenz „bürgerlicher“ Wissenschaftler zurückzudrängen und eine marxistische Agrarlehre zu etablieren.215 Die institutionellen Rahmenbedingungen waren ausgesprochen günstig. Nachdem die Bolschewiki zu Beginn der NĖP die Versuche, das Hochschulwesen unter die Kontrolle der Partei zu stellen, eingeschränkt hatten, begannen sie in den frühen 1920er Jahren mit dem Aufbau parteieigener Hochschulen und wissenschaftlicher Institute, die parallel zu den etablierten Bildungs- und Forschungsstätten bestanden. Längerfristig versprach man sich von den Parteiinstituten die Ausbildung einer „roten intelligencija“, deren Vertreter leitende Positionen in Wissenschaft, Partei und Verwaltung übernehmen und die bolschewistische Deutungshegemonie in allen Bereichen des politischen und geistigen Lebens durchsetzen würden. Der Ausbau der Parteihochschulen veränderte die institutionelle und personelle Struktur der sowjetischen Agrarökonomie, die bis dahin von Wissenschaftlern aus dem Umkreis des Instituts für Agrarökonomie und -politik an der Timirjazev-­Akademie 215 Die Etablierung einer agrarmarxistischen Schule in der sowjetischen Agrarökonomie und die intellektuellen Auseinandersetzungen zwischen Agrarmarxisten und Vertretern der Organisations-­ Produktions-Schule war bereits wiederholt Gegenstand der Forschung. Gross, Agrarian Debate; dies., Scholars; Cox, Peasants.

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und Experten des Narkomzem dominiert worden war. Unter dem Dach der Kommunistischen Akademie in Moskau, dem Zentrum einer explizit gegen die Tradition der „bourgeoisen“ Wissenschaft gerichteten „marxistischen“ Wissen­schaft,216 fand sich in der Mitte der 1920er Jahre eine Gruppe bolschewistischer Intellektueller zusammen, die aktiv auf die Kanonisierung des Marxismus in der Agrarökonomie hinarbeitete. Offensichtlich ging es auf die gemeinsame Initiative des bolschewistischen Wirtschaftsfunktionärs V. P. Miljutin, des Agrarhistorikers S. M. Dubrovskij und des langjährigen Parteimitglieds und Gosplan-Mitarbeiters L. N. Kricman zurück, dass die Leitung der Kommunistischen Akademie im Dezember 1924 beim Rat der Volkskommissare anregte, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der russischen Agrargeschichte zu intensivieren. Das Anliegen stieß auf offene Ohren, und so beschloss der SNK, die Strukturen der Kommunistischen Akademie durch die Einrichtung einer „Kommission zur Erforschung der Agrarrevolution und ihrer sozioökonomischen Auswirkungen“ (Komissija po izučeniju agrarnoj revoljucii i ee social’no-ėkonomičeskich posledstvij) zu erweitern. Zu ihren Mitgliedern zählten leitende Funktionäre des sowjetischen Wirtschafts- und Verwaltungsapparats.217 Im Mai 1925 wurde die Kommission dann in eine eigenständige Landwirtschaftssektion umgewandelt. Diese war dazu aufgerufen, sich der Geschichte der Agrarfrage und der Bauernbewegung „aus dem Blickwinkel des Marxismus und des Leninismus“ zu widmen.218 Die Vertreter der marxistischen Agrarökonomie steckten sich hohe Ziele. Aus Anlass des bevorstehenden zehnjährigen Jubiläums der Oktoberrevolution im Jahre 1927 plante man die Veröffentlichung einer vierbändigen „Geschichte der Agrar­ revolution in Russland“, die die revolutionären Entwicklungen auf dem russischen Dorf bis in die Jahre der Neuen Ökonomischen Politik nachzeichnete.219 Hinter diesem Anliegen stand das Verlangen, das öffentliche Gedenken an die Revolution zu monopolisieren. So hatten die Initiatoren des Vorhabens im Vorfeld argumentiert, man könne die Erforschung der Agrarrevolution „nicht den zukünftigen Histo­rikern überlassen, wie das etwa bei der Französischen Revolution geschehen [sei]. […] Im Unterschied zu allen vorangegangenen soll sich die russische Revolution fortwährend selbst erforschen.“220 Der Wunsch nach einer „revolutionären“ Deutung 216 David-Fox, Revolution, Kap. 4. 217 Bericht über die Kommission zur Erforschung der Agrarrevolution an der Kommunistischen Akademie, ARAN f. 528, op. 3, d. 18, l. 1 – 9. Zu den ursprünglichen Mitgliedern der Kommission zählten V. G. Groman, S. M. Dubrovskij, L. P. Kricman, D. V. Kuzovkov, P. I. Ljaščenko, V. P. Miljutin, V. V. Osinskij, P. I. Popov, S. P. Sereda, S. G. Strumilin und I. A. Teodorovič. 218 Satzung der Landwirtschaftssektion [1925], ARAN f. 353, op. 1, d. 1. l. 7. 219 Bericht über die Arbeit der Landwirtschaftssektion im Jahr 1926, ARAN f. 353, op. 1, d. 7, l. 1 – 3. 220 Dossier über die Kommission zur Erforschung der Agrarrevolution [ohne Datierung, 1924/25], ARAN f. 353, op. 1, d. 2, l. 13. Den gleichen Wortlaut findet man in dem vermutlich von Kricman

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der Revolution folgte einem orthodox-marxistischen Wissenschaftsverständnis, demzufolge Wissen und Wissenschaft nie unabhängig von den Interessen der herrschenden Klasse existierten. Das Neutralitätspostulat, zu dem sich russische Gelehrte vor der Revolution bekannt hatten, galt folglich nicht mehr als Ausweis wissenschaftlicher Güte, sondern als Versuch, die Klasseninteressen der „­ Bourgeoisie“ zu verschleiern.221 Entsprechend standen Agrarwissenschaftler und Ökonomen, die nicht mit marxistischen Kategorien operierten, im Verdacht, „antiproletarische“ Bevölkerungsgruppen auf dem Dorf ideologisch zu unterstützen. 1924 bezeichnete Kricman die Bauernwirtschaftstheorie Čajanovs als eine „politische Ökonomie, die den Standpunkt des reaktionären Kleinbourgeois [vertritt]“222. Im gleichen Jahr verurteilte Dubrovskij die Tätigkeit „kleinbürgerlicher“ Theoretiker wie Čajanov, Makarov, Čelincev, Litošenko oder Kondrat’ev mit der Begründung, ihr wissenschaftliches Interesse an den Bauernwirtschaften diene der „bourgeoisen“ bzw. der „kapitalistischen“ Bauernschaft: „Die theoretischen Auseinandersetzungen spiegeln jene sozialen Veränderungen, oder besser, Veränderungstendenzen wider, die man gegenwärtig auf dem russischen Dorf beobachten kann.“223 Die Kritik an den nichtmarxistischen Agrarexperten war folglich Teil der Kritik an der Neuen Ökonomischen Politik. Die Institutionalisierung des Agrarmarxismus zielte auf Etablierung einer neuen wissenschaftlichen Elite. Die revolutionären Umwälzungen auf dem Dorf, so ein internes Konzeptpapier der Kommunistischen Akademie, seien bislang kaum von Vertretern des „revolutionären Marxismus“ erforscht worden. Stattdessen dominierten Spezialisten „mit einer kleinbürgerlichen, ganz und gar nicht marxistischen Orientierung, die viel Kraft und freie Zeit aufbringen können und zudem viele Kommandohöhen im sowjetischen Apparat besetzen“224, die Wissenschaft. Aus diesem Grunde fasste man vor allem landwirtschaftlich interessierte Parteimitglieder, Absolventen des Instituts der Roten Professur und kommunistische Studenten als Kooperationspartner ins Auge. Da die Verantwortlichkeit für die geplanten Forschungen bei „Vertretern des revolutionären Marxismus“ liegen würde, zeigte man sich anfänglich sogar bereit, nichtmarxistische Wissenschaftler „ohne genaue Orientierung“ (ne imejuščich svoej opredelennoj orientacii) in die Arbeit der neugeschaffenen Strukturen an der Kommunistischen Akademie einzubinden. Auch

verfassten Manuskript „Die Erforschung der Agrarrevolution und ihrer sozioökonomischen Folgen“, ARAN f. 528, op. 3, d. 18, l. 245. 221 David-Fox, Revolution, S. 201f. 222 Kricman, Predislovie, 5. 223 Dubrovskij, Melkoburžuaznye teorii, S. 87. 224 „Die Erforschung der Agrarrevolution und ihrer sozioökonomischen Folgen“, ARAN f. 528, op. 3, d. 18, l. 245.

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hinter diesem Zugeständnis stand das Bestreben, den Einfluss nichtmarxistischer Agrarexperten zurückzudrängen. Die Kommission zur Erforschung der Agrarrevolution werde „neutrale wissenschaftliche Kräfte in eine für uns wünschenswerte Richtung [lenken] und ihre Inanspruchnahme durch die fest zusammenfügte volkstümlerische Gruppe unmöglich [machen]“225. Entsprechend warb die Kommunistische Akademie gezielt jüngere Agrarwissenschaftler an. Unter der Leitung ­Kricmans fand seit 1925 ein regelmäßiges Forschungsseminar zu Fragen der ­sozialen Differenzierung auf dem Dorf statt, das viele Studierende und Absolventen des ­Čajanovschen Instituts anzog.226 1926 wurden mit M. Kubanin, I. A. Vermeničev, A. I. Gajster und G. Raevič vier jüngere Agrarwissenschaftler in die Kommission zur Erforschung der Agrarevolution aufgenommen.227 Zu den Mitarbeitern des 1928 an der Kommunistischen Akademie eingerichteten Agrarinstituts zählten dann bereits mehrheitlich Agrarwissenschaftler, die während der bolschewistischen Herrschaft studiert hatten und der Kommunistischen Partei angehörten.228 Die Kanonisierung des Marxismus in der sowjetischen Agrarökonomie war demnach nicht nur ein wissen­schaftsgeschichtlicher, sondern auch ein sozialer Prozess. Sie führte zum Aufstieg einer Generation von bolschewistischen Ökonomen, für die die Verknüpfung von Wissenschaft und Parteilichkeit ein zentraler Bestandteil ihres professionellen Selbstverständnisses war.229 Auch wenn die Wissenschaftler an der Kommunistischen Akademie mitunter mit dem von Čajanov geleiteten Institut kooperierten,230 richtete sich ihre Strategie darauf, eine hegemoniale Position auf dem Gebiet der Agrarökonomie einzu­ nehmen. Ihr Missfallen an den bisherigen Protagonisten des wissenschaftlichen Agrar­diskurses artikulierten sie auf den Seiten der 1925 gegründeten Zeitschrift „An der Agrarfront“ (Na agrarnom fronte), die sich bald als öffentliches Sprachrohr des Agrarmarxismus etablierte und zugleich der zunehmenden Kritik an den Leit­lininen der Neuen Ökonomischen Politik ein Forum bot. Der Titel der Zeitschrift war Programm: Während der sowjetischen Agrarpolitik angesichts der „Wiedergeburt kapitalistischer Beziehungen“ auf dem Dorf die Aufgabe zufalle, eine „proletarische“ Agrarordnung durchzusetzen, müssten ideologisch zuverlässige Wissenschaftler,

225 Ebd., l. 246. 226 Bericht über die Tätigkeit der Agrarsektion im Jahr 1926, ARAN f. 353, op. 1, d. 7, l. 8. 227 Sitzung der Kommission zur Forschung der Agrarrevolution vom 21. April 1926, ARAN f. 528, op. 3, d. 18, l. 129. 228 Aufstellung über die Mitarbeiter des Agrarinstituts [1929], ARAN f. 353, op. 3, d. 1, l. 1, 3. 229 Auch Gross betont, dass die Agrarmarxisten überwiegend Vertreter jüngerer Jahrgänge waren, die bereits unter der Herrschaft der Bolschewiki ausgebildet wurden. Gross, Agrarian Debate, S. 24f.; Appendix B: Agrarian-Marxist (and Other Marxist) Scholars, S. 188f.; dies., Scholars, S. 134. 230 Cox, Peasants, S. 119.

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so der Leitartikel der ersten Ausgabe, die Verantwortung dafür übernehmen, dass die Auseinandersetzung mit dem Dorf den Interessen des „ländlichen Proletariats“ folgte.231 Entsprechend betrachteten die Agrarmarxisten ihr Publikationsorgan nicht als Plattform des wissenschaftlichen Austauschs, sondern als Mittel zur Kano­ nisierung marxistischer Kategorien in den Sozialwissenschaften. Dass sich der von den Herausgebern postulierte „Kampf gegen die antiproletarische Ideologie, gegen die antiproletarische Betrachtung und Interpretation der Prozesse auf dem Dorf“232 vorrangig gegen die Professoren der Timirjazev-Akademie und die Experten des Narkomzem richtete, zeigte bereits die erste Ausgabe der Zeitschrift, in der K ­ ricman seine Polemik gegen Oganovskij und Kondrat’ev platzierte. Zwar beschränkte er sich darauf, den Ökonomen Nachlässigkeit und mangelnden Sachverstand vorzuwerfen. Nach seiner einführenden Bemerkung über die Notwendigkeit, nicht­marxistische Spezialisten „aus der Perspektive des Proletariats, aus der Perspektive des Marxismus“233 zu bewerten, konnte jedoch kein Zweifel mehr daran bestehen, dass der ideologische Standpunkt eines Wissenschaftlers nun auch über dessen fachliche Qualifikation Auskunft gab. Die Etablierung des Agrarmarxismus versetzte die Leitung des Narkomzem in Aufruhr. Da Kricman und seine Kollegen enge Verbindungen zur Parteiführung unterhielten und leitende Positionen im sowjetischen Verwaltungs- und Planungsapparat besetzten, blieb ihre publizistische Offensive nicht unbemerkt. Als sich der Leiter des Volkskommissars für Landwirtschaft Smirnov im April 1925 an den Partei­ideologen E. M. Jaroslavskij wandte, um seine Entscheidung für die Anstellung von Makarov und Čelincev im Narkomzem zu rechtfertigen, brachte er auch die öffentliche Anfeindung seiner Mitarbeiter durch die Agrarmarxisten zur Sprache. Er halte es zwar für eine „erfreuliche Tatsache“, dass „eine Reihe von Genossen [auftauchten], die sich als marxistischer Agrartheoretiker [ansähen]“ (rjad ­tovariščej, sčitajuščich sebja teoretikami-markistami v sel’skom chozjajstve). Ihm sei jedoch unverständlich, warum diese der „wirklichen Agrarfront“ fernblieben und sich damit begnügten, die Mitarbeiter des Narkomzem öffentlich zu attackieren. Die Leitung des Kommissariats werde ausgesprochen schwierig, wenn sich fortwährend Außenstehende in seine Arbeit einmischten: „Diese ganzen kleinen Sticheleien bei jedem gegebenen Anlass bringen nichts außer überflüssiger Nervosität.“234 Dass die Zeitschrift „An der Agrarfront“ ohne vorherige Absprache mit dem Narkomzem gegründet worden war und sich nun als Plattform zur Diffamierung seiner Mit­arbeiter etablierte, stellte der Volkskommissar als einen persönlichen Affront dar. Er habe, so Smirnov 231 „Ot redakcii“, S. 3. 232 Ebd., S. 4. 233 Kricman, Arifmetika, S. 86. 234 Smirnov an Jaroslavskij [7. April 1925], RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1812, l. 42.

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in einem Schreiben an das Zentralkomitee, nichts dagegen einzuwenden, dass die Tätigkeit des Narkomzem in einer so wichtigen theoretischen Zeitschrift beurteilt wurde. Er bestehe jedoch auf eine institutionalisierte Kooperation zwischen seiner Behörde und den Herausgebern der Zeitschrift. Künftig sollten zwei bis drei Mitarbeiter des Landwirtschaftskommissariats im Redaktionskollegium der Zeitschrift vertreten sein.235 Seinen Plan, Teodorovič und Sviderskij in die Redaktion der Zeitschrift zu entsenden, konnte Smirnov jedoch nicht realisieren. Zwar wurde Teodorovič in den ersten Heften als Redaktionsmitglied aufgeführt. Mög­licherweise war dies jedoch eine Formalität, die darauf zurückging, dass ­Teodorovič offiziell der Kommission zur Erforschung der Agrarrevolution angehörte, die im Dezember 1924 vom Rat der Volkskommissare bestellt worden war. Bereits in der vierten Ausgabe der Zeitschrift zählte der stellvertretende Volkskommissar für Landwirtschaft nicht mehr zur Redaktion. Den Vertretern des Agrarmarxismus gelang es schnell, sich wissenschaftlich zu profilieren. Ausgehend von der Annahme, dass sich Gesellschaften in verschiedene Klassen gliederten, die fortwährend in einem Klassenkampf standen, stellten sie die soziale Stratifizierung des Dorfes in das Zentrum ihrer Untersuchungen. Ihr Ziel bestand darin, auf der Basis einer sozioökonomischen Typologie der Bauernwirtschaften das Ausmaß und die Dynamik kapitalistischer Ausbeutung auf dem sowjetischen Dorf zu messen. Damit richtete sich der Agrarmarxismus zum einen gegen die vorrevolutionären Traditionen der Agrarökonomie, deren Vertreter Wohlstandsunterschiede auf dem Dorf nicht auf unterschiedliche Klassenzugehörigkeiten der Bauern zurückgeführt hatten.236 Zum anderen entstand er in Abgrenzung zu den Arbeiten marxistischer Statistiker und Ökonomen, die angesichts der gewaltsamen Umverteilung der Böden während der Revolution in den frühen 1920er Jahren nur ein geringes Maß an sozialer Differenzierung ausmachen konnten.237 Das Problem war nicht nur von theoretischer, sondern auch politischer Relevanz. Seit Lenins „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“ galt das antagonistische Gegenüber von ländlichen „Proletariern“ und „Kapitalisten“ unter marxistischen Ökonomen als entscheidendes Merkmal einer kapitalistischen Agrarordnung. Angesichts der partiellen Liberalisierung des Agrarmarktes und der Zulassung von Pacht und Lohnarbeit während der NĖP wurde die Beantwortung der Frage, ob die sozioökonomische Differenzierung auf dem Dorf zunahm, daher zum Prüfstein dafür, ob sich die bauernfreundliche Agrarpolitik mit der Vision einer klassenlosen Gesellschaft überhaupt vereinbaren ließ. Der Agrarmarxismus war folglich auch eine Auseinandersetzung mit der NĖP.

235 Ebd., l. 44. 236 Zu dieser Tradition siehe Cox, Peasants, 38 – 40. 237 Stellvertretend hierfür stehen die Arbeiten der Statistikerin A. I. Chrjaščeva. Cox, Peasants, S. 49 – 53.

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Die Agrarmarxisten bemaßen den Erkenntniswert agrarökonomischer Forschungen daran, ob diese die Annahmen des marxistischen Gesellschaftsmodells bestätigten. In einer der ersten Ausgaben der Zeitschrift „An der Agrarfront“ übte G. Meerson heftige Kritik daran, dass die Čajanovsche Bauernwirtschaftstheorie „die Historizität des bäuerlichen Differenzierungsprozesses [negierte]“238. Nach seiner Auffassung war Čajanov ein schwerwiegender Fehler unterlaufen: Er hatte die demographische Differenzierung mit der eigentlichen Ursache für die unterschiedlichen Einkommensniveaus auf dem Dorf – der „ökonomischen Differenzierung“ – verwechselt und das romantische Bild einer konfliktfreien ländlichen Gesellschaft gezeichnet. Anstatt die Entwicklung der Produktivkräfte und die Verteilung der Produktionsmittel zu berücksichtigen, argumentiere Čajanov mit den „absoluten, ewigen Gesetzen der Bauernfamilie“. Seine Theorie sei daher „zutiefst reaktionär, ahistorisch und folglich unwissenschaftlich“239. Nach Auffassung führender Agrarmarxisten zementierten zeitgenössische Ökonomen und Statistiker das falsche Bild einer homogenen bäuerlichen Gesellschaft und spielten damit den Feinden der Revolution in die Hände. So warf Kricman dem Ökonomen L. N. Litošenko vor, „die von den Motten angenagte Fiktion des ‚Mittelbauern‘“ zu vertreten. Durch Litošenkos Untersuchungen über die Entwicklung bäuerlicher Budgets nach der Revolution und die Veröffentlichungen der Statistikerin A. I. Chrjaščeva, die Kricman ebenfalls eingehender Kritik unterzog, werde die sowjetische Statistik zu einer „Ideologie der Leibeigenschaft“. Indem Litošenko und Chrjaščeva die Klassengegensätze auf dem Dorf ignorierten (vneklassovaja statistika), verwandelten sie die sowjetische Statistik in ein Instrument der „Ausbeuter“.240 Die statistische Konstruktion der ländlichen Klassengesellschaft erwies sich als ein ausgesprochen komplexes Unterfangen. Differenzierung war für die Agrar­ marxisten kein biologisches oder demographisches, sondern ein sozioökonomisches Phänomen, das sich in den Sozialbeziehungen auf dem Dorf zeigte.241 Gruppierte man die bäuerlichen Wirtschaften nach der jeweiligen Bedeutung von Lohnarbeit, wie es das marxistische Kapitalismusverständnis nahelegte, zeigte sich allerdings, dass die Annahme eines sich verschärftenden Klassenkampfes auf dem sowje­ tischen Dorf nicht ohne Weiteres bestätigt werden konnte. Lohnarbeit, bei Marx der ausschlaggebende Indikator des Kapitalismus, war in den 1920er Jahren eine Randerscheinung; die unterstellte Zunahme kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse ließ sich auf ihrer Grundlage daher gar nicht beweisen. Dass der Lohnarbeit 238 Meerson, Semejno-trudovaja teorija (1), S. 33. 239 Meerson, Semejno-trudovaja teorija (2), S. 145. 240 Kricman, Perežitki, S. 97 – 99. Zu Chrjaščeva siehe Blum; Mespoulet, Bjurokratičeskaja anarchija, S. 191 – 194. 241 Zum Forschungsansatz der Agrarmarxisten siehe Gross, Agrarian Debate, S. 91 – 110.

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in der Landwirtschaft keine große Bedeutung zukam und die landwirtschaftlichen Böden nach der Revolution unter den Bauern relativ gleichmäßig verteilt waren, belegte nach Auffassung der Agrarmarxisten jedoch nicht, dass auf dem russischen Dorf keine Klassengegensätze bestanden. Deren Ausmaß, so argumentierte ­Kricman in einem seiner ersten Artikel zu dieser Frage, müsse stattdessen mit Hilfe indirekter Parameter – der Verteilung von Inventar und Vieh und ihrem Verleih – bestimmt werden.242 Hinter diesem Vorschlag stand die Vorstellung, in der sowjetischen Landwirtschaft resultierten die kapitalistischen Ausbeutungsbeziehungen vornehmlich aus der ungleichen Verteilung landwirtschaftlicher Produktionsmittel. Diese zwinge ärmere Bauern, die zur Bearbeitung ihres Bodens erforderlichen Maschinen, Werkzeuge oder Pferde gegen Bezahlung anzuleihen. In den folgenden Jahren entwickelten Kricman und seine Kollegen ausgefeilte Modelle, um die konflikthafte Situation zwischen „verdeckten Proletariern“ und „verdeckten Kapitalisten“ sichtbar zu machen.243 Als sich führende Agrarökonomen im Frühling 1927 an der Timirjazev-Akademie versammelten, um über die sozialen Entwicklungen auf dem Dorf zu diskutieren, konnten Agrarexperten, die dem Dogma des Klassenkampfes folgten, und jene, die das Konzept ablehnten, keinen Konsens herstellen.244 Ausschlaggebend hierfür war weniger die Frage, ob es ökonomische Differenzierung auf dem sowjetischen Dorf überhaupt gab oder nicht. Die Existenz stabiler wirtschaftlicher Ungleichgewichte in ländlichen Regionen stand auch für Ökonomen, die sich nicht an die Interpre­tationsvorgaben des Marxismus hielten, außer Frage. Einige von ihnen hatten sich sogar dem Trend zu Erforschung sozialer Unterschiede auf dem Dorf ­angeschlossen.245 Die Meinungen gingen vielmehr in Bezug auf die Gründe, das Ausmaß und die Dynamik der Differenzierung auseinander. In der Tradition der populistischen Zemstvo-Statistiker unterstrichen Čajanov, Makarov und ­Čelincev in ihren Beiträgen die Bedeutung demographisch bedingter Wohlstandsunterschiede. Aus ihrer Sicht war das Ausmaß der ökonomischen Differenzierung auf dem sowjetischen Dorf in den 1920er Jahren deutlich geringer als in den Jahren vor der Revolution. Anzeichen eines sich verschärfenden ländlichen Klassenkampfes sahen sie nicht. Vielmehr warnten sie davor, Leih- und Verleihbeziehungen automatisch als kapitalistische Ausbeutung zu deuten; hierbei handele es sich, so Čajanov, häufig

242 Kricman, K voprosu. 243 Gross, Agrarian Debate, S. 93 – 110; Cox, Peasants, S. 85 – 91. 244 Hierzu auch Wehner, Bauernpolitik, S. 323 – 325; Gross, Agrarian Debate, S. 113 – 125. 245 Čajanov hatte gemeinsam mit einigen Agrarmarxisten eine Expedition durchgeführt. Das Gleiche tat sein Student G. A. Studenskij. Vgl. Cox, Peasants, S. 119 – 127. Čelincev widmete sich dem Problem der ländlichen Stratifizierung im Rahmen seiner Tätigkeit im Zemplan. Vgl. den Arbeitsplan von Zemplan für das Jahr 1925/26, RGAĖ f. 478, op. 1, d. 1560, l. 22 – 31.

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um eine Form der vorkapitalistischen Arbeitsteilung.246 Für die anwesenden Agrar­ marxisten bildete das Konzept des Klassenkampfes hingegen den analytischen Schlüssel zum Verständnis ländlicher Sozialbeziehungen. Auf Čajanovs Über­legung, warum ein Bauer, der seine Rüben in die Fabrik brachte und die Rüben seines Nachbarn mitnahm, ein Kapitalist sei, warf ihm sein ehemaliger Student Vermeničev vor, mit der „Idylle der Nachbarschaftshilfe“ (idillija sosedskich uslug) die Gegensätze zwischen Bauern, die Pferde besäßen, und Bauern, denen es an Zugvieh mangelte, zu übertünchen.247 Die weitgehendsten Versuche, die Deutungshoheit des Marxismus in der Agrarökonomie zu markieren, gab es auf dem Gebiet der Mikroökonomie. Am Ende der 1920er Jahre trat M. Kubanin, Mitarbeiter des Agrarinstituts der Kommunistischen Akademie, mit einigen Arbeiten über die sozialen Beziehungen innerhalb bäuerlicher Wirtschaften hervor. Der junge Ökonom war der Überzeugung, dass die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft in den Bauernfamilien fortwirkten: Mit der Einbindung der Bauernwirtschaften in marktwirtschaftliche Tauschbeziehungen werde der Haushaltsvorsteher, dem die Entscheidung über die Verwendung des Familieneinkommens oblag, zum kapitalistischen Unternehmer, der aus der Arbeit seiner Familienmitglieder einen persönlichen Mehrwert gewann.248 Kubanins Begeisterung für die materialistische Weltsicht des ­Marxismus ging jedoch weiter. In einem Schreiben an G. Meerson, der in den ersten Nummern der Zeitschrift „An der Agrarfront“ gegen Čajanov polemisiert hatte, unterbreitete er diesem den Vorschlag eines gemeinsamen Forschungsvorhabens: Im Rahmen von Feldforschungen solle Meerson der Frage nachgehen, ob sich die Klassengegensätze auf dem russischen Dorf auch biologisch manifestierten. Kubanin hatte bereits genaue Vorstellungen davon, welche Arbeitsschritte dafür erforderlich waren: „Erstens – untersuchen, wen ein junger Mann aus einer Kulaken-, Serednjaken- oder Bednjakenfamilie heiratet – eine Frau aus seiner sozialen Umgebung, oder nicht. Zweitens – der physische Typus des Kulaken, Serednjaken und Bednjaken (sogar durch anthropologische Aufnahmen ihrer Schädel). Herausfinden, ob die jeweilige Schicht so weit ausdifferenziert ist, dass sich dies auf den Körperbau auswirkt. Es ist klar, dass man dafür einen Bednjaken oder Kulaken nehmen muss, der schon vor der Revolution ein solcher war. (man braucht drei Generationen). Drittens – Krankheiten (im medizinischen Sinne des Wortes) der Dorfarmut usw. […].“249

246 Čajanov, O differenciacii; Makarov, Differenciacija; Čelincev, K voprosu o differenciacii. 247 Vgl. „Diskussija o klassovych gruppirovkach“ (1 – 3). Für das Zitat Vermeničevs siehe „Diskussija o klassovych gruppirovkach“ (1), S. 144. 248 Kubanin, Social’no-ėkonomiceskaja suščnost’, S. 27. 249 Kubanin an Meerson [ohne Datierung], ARAN f. 353, op. 1, d. 30, l. 3.

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Die Kubanins Vorhaben zu Grunde liegende Überlegung, Eigenschaften, die ein Mensch aufgrund seiner sozialen Lage erworben hatte, würden an seine Nachkommen vererbt, erinnern an den vulgären Materialismus Lysenkos, der sich in den 1930er Jahren in der sowjetischen Biologie durchzusetzen begann.250 Es ist unklar, ob der Ökonom sein Vorhaben je realisierte. Auch wenn seine Kollegen die Forschungen Kubanins begrüßten, nahm er mit der These vom Klassenkampf innerhalb der Bauernfamilie eine eher randständige Position ein.251 Der Zuschnitt des Forschungsprojekts zeugte jedoch eindeutig davon, dass sowjetische Sozial­ wissenschaftler den Marxismus bereits 1928 als unhinterfragtes Dogma akzeptierten.

3.3.2  Die Marginalisierung der alten Eliten Die Debatte über die Sozialstruktur auf dem Dorf beschränkte sich nicht auf die Wissenschaft. Angesichts andauernder Schwierigkeiten bei der Realisierung der staatlichen Getreidekampagnen 252 kehrten führende Vertreter der Bolschewiki in der Mitte der 1920er Jahre zur Klassenkampfrhetorik des Bürgerkriegs zurück. Dass die staatlichen Organe die Beschaffungsziele regelmäßig verfehlten, schien das traditionelle Unbehagen der Bolschewiki gegenüber Kleinunternehmern und Bauern zu bestätigen: Allem Anschein nach hatte die Neue Ökonomische Politik zum Aufstieg von „Kulaken“ geführt, die nun ihr Getreide zurückhielten und damit die Versorgungssicherheit der sowjetischen Bevölkerung gefährdeten. Lange bevor Stalin Ende 1929 die Losung von der „Liquidierung der Kulaken als Klasse“ ausgab, avancierte der Begriff des „Kulaken“ zu einem politischen Kampfbegriff. Nachdem die Sicherheitsorgane bereits zu Beginn der „Mit dem Gesicht zum Dorfe“-Kampagne davor gewarnt hatten, „Kulaken“ könnten die Bauernschaft zum offenen politischen Widerstand gegen die Bolschewiki mobilisieren,253 entwickelte es sich unter Parteipolitikern zur gängigen Praxis, die Dorfbewohner nach ­marxistischen Maßstäben zu klassifizieren und den Kategorien „Freund“ oder „Feind“ zuzuordnen. Zunächst mussten wirtschaftlich erfolgreiche Bauern für die Vertreter der Parteiopposition um G. E. Zinov’ev und L. B. Kamenev als Sündenböcke für das regelmäßige Verfehlen der Getreidekampagnen herhalten. Die Sorge vor einem Erstarken der Kulaken blieb jedoch nicht lange auf die Parteilinke beschränkt. N. I. Bucharin, der im Frühling 1925 mit seiner Losung „Bereichert euch!“ die Förderung wirtschaftsstarker Bauernwirtschaften verteidigt hatte, sprach sich auf der 15. Parteikonferenz 250 Zusammenfassend zu Lysenko siehe Beyrau, Intelligenz, Kap. 8. 251 Cox, Peasants, S. 202 – 206. 252 Zu den Schwierigkeiten der staatlichen Getreidebeschaffung siehe Merl, Agrarmarkt, S. 59 – 80. 253 Hudson, Kulakization, S. 41 – 47.

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im November 1926 für eine stärkere Besteuerung von NĖP-­Männern und Kulaken aus. Wenig später bezeichnete er den Kulaken als „Hauptfeind auf dem Dorf“254. Mit der zunehmenden Kritik an der NĖP entwickelte sich das Konzept der „Klasse“ von einer analytischen zu einer rechtlichen Kategorie.255 Welche Klassen­ zugehörigkeit man ihnen zuschrieb, war für die Bauern in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre immer häufiger mit realen Konsequenzen verbunden. Hatte der ökonomische Erfolg der ländlichen Bevölkerung vorübergehend als Voraussetzung der „sozialistischen Akkumulation“ gegolten, häuften sich nun Maßnahmen zur Diskriminierung von Bauern, die aufgrund ihres Einkommens oder ihres Status in der ländlichen Gesellschaft der Klasse der „ländlichen Bourgeoisie“ bzw. der „Kulaken“ zugerechnet wurden. Die Einführung einer stark progressiven Landwirtschaftssteuer versprach die Begrenzung der kapitalistischen Differenzierung auf dem Dorf und die relative Besserstellung der „Dorfarmut“ (bednota).256 Von dem Wahlrechtsentzug für Kulaken bei der Sowjetwahl 1927 erhoffte sich die Parteileitung, den politischen Einfluss „ländlicher Kapitalisten“ zurückzudrängen, den die Sicherheitsdienste seit 1924 monierten. So galt eine Bauernwirtschaft im Rahmen des neuen Gesetzes dann als „kulakisch“, wenn die in Anspruch genommene Lohnarbeit den Einsatz der eigenen Arbeitskraft überstieg. Auch die „Knechtung“ der ländlichen Bevölkerung durch den Verleih von Produktionsmitteln (Maschinen, Vieh etc.) oder die private Vergabe von Krediten galten als Beleg für den „para­sitären“ Charakter einer Wirtschaft.257 Hinter diesen Gesetzen stand die Vision einer homogenen sozialistischen Gesellschaft. L. N. Kricman, der viel Mühe darauf verwandt hatte, die sowjetische Klassengesellschaft diskursiv zu konstruieren, rief auf dem XV. Parteitag im Jahr 1927 dazu auf, „die Klassen zu vernichten, eine klassenlose Gesellschaft zu bauen“258. Experten, die das Dogma des ländlichen Klassenkampfes und die Diskriminierung erfolgreicher Bauernwirtschaften ablehnten, gerieten nun zunehmend ins Hinter­ treffen. Als die Rufe nach einer Abkehr von der NĖP lauter wurden und sich das Kräfteverhältnis in der Partei zugunsten Stalins verschob, verloren die parteilosen Mitarbeiter des Narkomzem die Rückendeckung durch einflussreiche Funktionäre, auf der ihr Einfluss und ihre intellektuelle Autonomie bislang beruht hatten. Wieder­ holt warnten Mitarbeiter des Narkomzem vor einer politischen Instrumentalisierung der marxistischen Gesellschaftskategorien; Maßnahmen gegen „Kulaken“ könnten

254 Bronger, Kampf, S. 47 – 82. Für das Bucharin-Zitat siehe ebd. S. 94. 255 Die Nutzung von Klassenzuschreibungen als rechtswirksame Kategorien wurde nicht nur in Hinblick auf die ländliche Bevölkerung praktiziert. Fitzpatrick, Ascribing Class, S. 752f. 256 Zur Verschärfung des klassenpolitischen Standpunkts bei der Besteuerung der Landwirtschaft siehe Wehner, Bauernpolitik, S. 306 – 308. 257 Merl, Agrarmarkt, S. 427. 258 XV S-ezd Vsesojuznoj Kommunističeskoj Partii – (b), S. 1197.

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den bescheidenden landwirtschaftlichen Aufschwung wieder zunichte machen und die sowjetische Landwirtschaft erneut in eine Phase der Stagnation treiben.259 Diese Einwände fanden jedoch keine Unterstützung, sondern wurden zum Anlass für publizistische Offensiven durch führende Vertreter des Agrarmarxismus.260 Auch die Parteispitze bedachte die parteilosen Agrarexperten zunehmend mit Kritik. Nach dem Bekanntwerden eines vertraulichen Gutachtens über die Lage der Landwirtschaft, das Kondrat’ev im Auftrag M. I. Kalinins, damals Vorsitzender des CIK , angefertigt hatte, nannte V. M. Molotov den Ökonomen einen „Ideo­logen der Kulakenschaft“. Weder Kalinin, der Kondrat’evs Zurückhaltung gegenüber einer forcierten Industrialisierung teilte, noch die Leitung des Narkomzem ergriff Partei für den Ökonomen. Offensichtlich rechneten sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr damit, dass ihr Eintreten für Kondrat’ev Erfolg haben könnte.261 Dass sich das politische Klima zu Ungunsten der Experten im Narkomzem verschob, zeigte sich auch im Zusammenhang mit einem viel beachteten Beitrag, den Zinov’ev 1927 im Parteiorgan „Bol’ševik“ veröffentlichte. In seinem Artikel bezeichnete er Kondrat’ev als geistigen Kopf einer kulakenfreundlichen Schule sowjetischer Wirtschaftswissenschaftler, zu der er auch die Ökonomen Litošenko, Čajanov, Čelincev, Makarov und Studenskij zählte. Zwar warf die Redaktionsleitung der Zeitschrift Zinov’ev vor, den Einfluss der Professoren zu überschätzen.262 Diese Kritik war jedoch kein Bekenntnis zu den Agrarexperten. Vielmehr folgte sie der Logik des innerpartei­ lichen Machtkampfes, in dessen Verlauf das politische Gewicht Zinov’evs zusehends geringer wurde. Die Anschuldigungen, die der Funktionär gegen die Experten des Narkomzem erhob, fielen mit den Ansichten der neuen Parteispitze zusammen und wurden daher beständig reproduziert. Am Beginn der 1930er Jahre war das von Zinov’ev geprägte Schlagwort von der „Kondrat’evščina“ dann bereits ein geläufiges Mittel, um potenzielle Kritiker der Stalinschen Führung als poli­tische Feinde zu stigmatisieren.263 Die Agrarmarxisten profitierten von dem Stimmungsumschwung in der politischen Führung. Ranghohe Parteivertreter bedienten sich ihrer Forschungen, um Forderungen nach einer Abkehr von den Grundsätzen der NĖP wissenschaftlich zu begründen. Für die Mitarbeiter der Kommunistischen Akademie wurde die

259 Vgl. etwa die Auftritte Kondrat’evs, Makarovs und Čelincevs auf einer öffentlichen Diskussion über eine Gesetzesvorlage zur Bodennutzung und Flurbereinigung im Herbst 1926: „K voprosu o zakonoproekte …“. Auch die Statistikerin A. I. Chrjaščeva warnte davor, die ländliche Differenzierung zu überschätzen. Chrjaščeva, Pod-em sel’skogo chozjajstva; dies., Proizvodstvennye tipy. 260 Siehe etwa Kubanin, Buržuaznaja programma. 261 Wehner, Bauernpolitik, S. 325 – 328; Blum; Mespoulet, Bjurokratičeskaja anarchija, S. 185 – 188. 262 Zinov’ev, Manifest kulackoj partii. 263 Zum Entstehungshintergrund Wehner, Bauernpolitik, S. 325 – 328.

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Politikberatung ein fester Bestandteil des wissenschaftlichen Alltags.264 Im Vorfeld des 15. Parteitags gehörten L. N. Kricman, M. Kubanin und I. A. Vermeničev einer durch das Politbüro eingesetzten Kommission an, die unter Leitung V. M. Molotovs die Grundsätze des neuen agrarpolitischen Programms der Partei ausarbeiten sollte.265 Kricman erhielt in diesem Zusammenhang den Auftrag, eine Übersicht darüber zu erstellen, wie sich die Abgabenlast der Bauern seit der Oktoberrevolution verändert hatte. Besonderen Wert legte Molotov, der den Auftrag gab, auf den „Klassenaspekt“ dieser Entwicklung (s učetom klassovoj storony dela): Die geforderten Angaben sollten für die einzelnen sozialen Gruppen der Bauern – Bednjaken, Serednjaken und Kulaken – erstellt werden.266 Auch wenn Kricman immer ein Gegner derart simpler Differenzierungsschemata gewesen war und sich kurz zuvor dagegen ausgesprochen hatte, die Kommunistische Akademie zu einem verlängerten Arm von Partei und Komintern zu machen,267 wurde er durch seinen orthodoxen Glauben an die Existenz einer bäuerlichen Klassengesellschaft von der neuen Parteispitze als ideologischer Steigbügelhalter in Anspruch genommen. Der XV. Parteitag im Dezember 1927 markierte die Abkehr von den Grundsätzen der Neuen Ökonomischen Politik. Zwar versicherte Molotov, der in seinem Referat die Leitlinien des neuen agrarpolitischen Kurses entwarf, dass man an der NĖP im Sinne ökonomischer Zugeständnisse an die Kleinbauern so lange festhalten werde, wie es in der Sowjetunion noch Kleinbauern gebe.268 Die abschließende Reso­lution ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass der Staat nun gezielte Anstrengungen zur Kollektivierung der Landwirtschaft unternehmen würde.269 Die Losung von der „sozialistischen Umgestaltung“ der bäuerlichen Landwirtschaft, die nun zum agrarpolitischen Schlagwort avancierte, stand für den Traum von einer hochgradig rationalisierten Landwirtschaft, in der anstelle bäuerlicher Einzelwirtschaften kollektive Großbetriebe, ausgestattet mit neuesten Maschinen und modernster Technik, die Agrarproduktion ins Unermessliche steigerten. Dies war zwar nichts Neues; die Vision einer kollektivierten Landwirtschaft hatte seit der Revolution im Zentrum bolschewistischer Agrarvisionen gestanden und war seither als politisches Fernziel beschworen worden.270 Der Beschluss des Parteitags stellte jedoch insofern eine Zäsur dar, als er die Vision auf die agrarpolitische

264 David-Fox, Revolution, S. 212 – 215. 265 Wehner, Bauernpolitik, S. 354. 266 Schreiben aus dem Büro Molotovs an Kricman [2. September und 24. November 1927], ARAN f. 528, op. 4, d. 43, l. 1, 2. Hierzu auch David-Fox, Revolution, S. 215. 267 David-Fox, Revolution, S. 221f. 268 XV S-ezd Vsesojuznoj Kommunističeskoj Partii – (b), S. 1053. 269 Ebd., S. 1308. 270 Siehe etwa Miljutin, O bor’be, S. 3 – 8.

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Tagesordnung setzte und die Angehörigen des Staatsdienstes auf die Umsetzung dieses Ziels festlegte. Im Anschluss an diese programmatische Wende veränderten sich die insti­ tutionellen Rahmenbedingungen der sowjetischen Agrarpolitik. Mit dem Aufstieg Stalins und Molotovs verloren die Befürworter einer gemäßigten Linie im Politbüro jeglichen Handlungsspielraum. Der neuen Parteispitze gelang es in kurzer Zeit, den Narkomzem als agrarpolitischen Akteur auszuschalten und die Verbindungen zwischen parteilosen Agrarexperten und hochrangigen Parteifunktionären aufzulösen. Die Machtverschiebung in der Parteiführung zeigte sich daran, dass die freundschaftlichen Beziehungen, die Smirnov zu den Politbüromitgliedern M. I. Kalinin und M. P. Tomskij unterhielt, nicht verhindern konnten, dass Smirnov, Teodorovič und Sviderskij Anfang 1928 von ihren Ämtern im Narkomzem entbunden wurden.271 Die Leitung der Behörde übernahmen nun Anhänger Stalins oder zweitrangige Funktionäre, von denen keine eigenmächtigen Entscheidungen zu erwarten waren. Volkskommissar für Landwirtschaft wurde der ZK-Sekretär N. A. Kubjak. Als erklärter Befürworter gewaltsamer Methoden der Getreidebeschaffung betrachtete Kubjak Konservatismus und Trägheit als die entscheidenden Hindernisse der Kollektivierung, und so drängte er ungeduldig darauf, die Umgestaltung der Landwirtschaft „auf revolutionäre Art“ anzugehen.272 Seine Stellvertreter wurden I. E. Klimenko, vormals Volkskommissar für Landwirtschaft in der Ukraine, und A. I. Muralov, der bislang nur unbedeutende Positionen in der Parteihierarchie besetzt hatte.273 Die politische Marginalisierung des Narkomzem gipfelte in der Gründung eines Allunionskommissariats für Landwirtschaft (Narkomzem SSSR) im Dezember 1929. An die Spitze der neuen Zentralbehörde trat der stellvertretende Vorsitzende der Arbeiter-Bauern-Inspektion Ja. A. Jakovlev, der sich 1927 von der bauernfreundlichen Politik der NĖP abgewandt hatte und zu Beginn der 1930er Jahre als Protagonist bei der Umsetzung des Stalinschen Kollektivierungskurses auftreten sollte.274 Die Organe einer sowjetischen „Bauernpolitik“ hatten damit jeglichen Einfluss verloren. Mit der Abkehr von der NĖP gerieten auch die parteilosen Experten des Volkskommissariats für Landwirtschaft in das Visier der Parteispitze. Dies zeichnete sich bereits auf dem XV. Parteitag ab, als Molotov die „Agrarprofessoren des ­Narkomzem“ bezichtigt hatte, eine „der Sowjetmacht gegenüber feindliche ökonomische Linie,

271 Zum Führungswechsel im Narkomzem siehe Heinzen, Soviet Countryside, S. 195f.; Wehner, Bauern­ politik, S. 374 – 382. 272 Kubjak, Organizacija kolchozov, S. 3. 273 „Nikolaj Afanas’evič Kubjak “, S. 1; Klimenko, Ivan, S. 1. 274 Wehner, Bauernpolitik, S. 376; Heinzen, Soviet Countryside, S. 212f. Zur Rolle Ja. A. Jakovlevs siehe auch Rees, State Control, S. 191 – 194.

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die Linie des Kulakentums, die Linie der Bourgeoisie“ zu vertreten.275 Durch den Austausch der Führungsriege des Volkskommissariats verloren die parteilosen Experten ihre Fürsprecher an der Spitze des Staates. Als „bürgerliche“ Spezialisten im Zusammen­hang mit dem Šachty-Prozess unter den Generalverdacht der Konspiration gestellt wurden,276 war auch das wisssenschaftliche Personal des Narkomzem betroffen. Im Laufe der Jahre 1928 und 1929 führten Kommissionen von Rabkrin und OPGU im ­Narkomzem umfassende Untersuchungen durch.277 Die Parteizelle der Behörde unterstützte die Arbeit der Arbeiter-Bauern-Inspektion mit kompromittierendem Material über die wissenschaftlichen Mitarbeiter. Laut einem Dossier über die ideologische Orientierung der Spezialisten, das ein Mitglied der Parteizelle in diesem Zusammenhang angefertigte, neigten diese dazu, sich dem Kollektiv zu entziehen. Zwar komme die politische Haltung der Spezialisten nicht offen zum Ausdruck. Es sei jedoch „un­bestritten, dass einzelne Landwirtschaftsspezialisten unseren Kurs nicht teilen und in jeder Hinsicht einen eher rechten Kurs begrüßen würden. Sie vertreten die Hoffnungen der bäuer­lichen Schichten und der Kleinbourgeoisie in den Städten.“278 Diese Charakteristik war verheerend. Nach der Kampagne gegen die Ingenieure und Berg­arbeiter kam die Feststellung, die Experten bildeten „exklusive Zünfte“ (zamknutye cechy), dem Vorwurf der Sabotage und der Verschwörung gleich. Verstärkt wurde dies dadurch, dass man die Mitarbeiter des Narkomzem mit dem rechten Parteiflügel um den Ökonomen M. I. Bucharin brachte, der gemeinsam mit den Politbüromitgliedern A. I. Rykov und M. P. Tomskij 1928 in die Kritik der Parteiführung geriet und 1929 politisch entmachtet wurde.279 Die innerparteilichen Machtverhätnisse bestimmten folglich über das Ansehen der Agrarexperten im Narkomzem. Mit der Marginalisierung von Kritikern des wirtschaftspolitischen Kurses Stalins in der Parteispitze galten sie nicht mehr als Vertreter einer ideologisch uneinsichtigen Elite, sondern als politische Gegner der Staatsführung. Die Kampagne gegen die „bürgerlichen“ Spezialisten führte zu einem Eliten­ wechsel in der sowjetischen Agrarpolitik. Auf die Absetzung der Leitung des ­Narkomzem folgte eine umfassende „Säuberung“ der Belegschaft. In den Jahren 1928 und 1929 wurden zahlreiche Mitarbeiter lokaler agrarpolitischer Behörden, die ihre berufliche Karriere in den Zemstvos begonnen hatten und das

275 XV S-ezd Vsesojuznoj Kommunističeskoj Partii – (b), S. 1059. 276 Vgl. Bailes, Technology, Kap. 3; Fitzpatrick, New Elite. 277 Akte zur Untersuchung des Narkomzem-Personals [1928 – 1929], GARF f. A-406, op. 25, d. 1165. Siehe auch Heinzen, Soviet Countryside, S. 198 – 210. 278 „Zum ideologischen Zustand der Narkomzem-Spezialisten“, GARF f. A-406, op. 25, d. 1165, l. 116 – 118. 279 Hildermeier, Sowjetunion, S. 384f.

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landwirtschaftliche Modernisierungsprogramm der Zemstvo-Intelligenz unterstützt hatten, entlassen.280 Im gleichen Zeitraum verloren die führenden Vertreter des Agrarismus ihre Positionen im Zentralapparat der Behörde. Anfang 1929 wies die landwirtschaftliche Planungskommission Zemplan nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem Gremium hochqualifizierter Agrarexperten der Vorjahre auf. Kondrat’ev, bislang der führende Experte auf dem Gebiet der landwirtschaftlichen Planung, hatte seine Stellung bereits im März 1928 aufgeben müssen. Nach der Entlassung ­Teodorovičs und Senins Anfang 1928 blieben die beiden leitenden Positionen von Zemplan über Monate vakant. Auch Čajanov zählte Anfang 1929 nicht mehr zu den Mitarbeitern von Zemplan, während Tejtel, Makarov und Čelincev vorerst den Status von Beratern (konsul’tant) behielten. Von den Verhaftungen im kommenden Jahr sollten jedoch auch sie nicht verschont bleiben.281 Zum Teil wurden die Vertreter des vor­­­revo­lutionären Agrardiskurses von Vertretern des Agrarmarxismus ersetzt, mit denen sie sich in den vergangenen Jahren einen wissenschaftlichen Schlag­abtausch ge­­liefert hatten. Die ökonomische Sektion von Zemplan unterstand fortan der Leitung von I. A. Vermeničev.282 M. Kubanin erhielt eine leitende Position bei Zemplan.283 Zwischen 1929 und 1932 gehörte er sogar dem Kollegium des Narkomzem RSFSR an.284 A. I. Gajster, der über mehrere Jahre in der landwirtschaftlichen Sektion von Gosplan arbeitete, war Mitte der 1930er Jahre sogar vorübergehend stellvertretender Leiter des N ­ arkomzem SSSR.285 Parallel zur Demontage der agrarpolitischen Organe, die von der politischen Konjunktur der bäuerlichen Landwirtschaft während der NĖP unmittelbar profitiert hatten, begann die Umstrukturierung der landwirtschaftlichen Bildungs- und Forschungslandschaft. Waren Ideen zum revolutionären Umbau der Wissenschaft bislang nur an den Parteihochschulen umgesetzt worden, wurden die Maßnahmen zur Transformation außerparteilicher Bildungs- und Forschungseinrichtungen am Ende der 1920er Jahre intensiviert.286 Als im Zuge des ersten Fünfjahresplans die Rufe nach einer Unterordnung von Wissenschaft und Hochschullehre unter das Ziel des „sozialistischen Aufbaus“ lauter wurden, verloren die Vertreter des vor­revolutionären Agrardiskurses den Rest ihrer verbliebenen Autonomie. Die Rhetorik des XV. Parteitags bestimmte

280 Heinzen, Soviet Countryside, S. 203f. 281 Übersicht über das Narkomzem-Personal zum 1. Januar 1929, GARF f. A-406, op. 25, d. 1165, l. 1 – 34. 282 Ebd. 283 Übersicht über die Narkomzem-Mitarbeiter mit Doppelbeschäftigung [1929], GARF f. A-406, op. 25, d. 1184, l. 30 – 33. 284 Danilov et al (Hg.), Tragedija sovetskoj derevni, Bd. 3, S. 929. 285 Ebd., S. 923. 286 David-Fox, Revolution, S. 254 – 266.

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die konkreten Schritte zum Umbau des agrarwissen­schaftlichen Bildungswesens. Im Juli 1928 sprach sich der neue Direktor der ­Timirjazev-Akademie M. E. Šefler gegenüber der Leitung des Narkomzem dafür aus, die Struktur der Akademie an die Erfordernisse der Agrarproduktion anzupassen und dem „sozialistischen Sektor“ der Landwirtschaft stärkere Beachtung zukommen zu lassen. Der Vorschlag traf auf allgemeine Zustimmung,287 und so wurde die Akademie nach Maßgabe der „sozialistischen Rekonstruktion“ reorganisiert. Noch im gleichen Jahr folgte die Auflösung der Fakultät für Agrarökonomie und -politik, deren Gründung einst die Institutionalisierung des Agrarismus in der Agrarwissenschaft symbolisiert hatte. An ihre Stelle traten zwei Fakultäten, von denen eine die Auseinandersetzung mit Kolchosen (kolchoznyj fakl’tet) und die andere das Studium von Sowchosen (­sovchoznyj fakul’tet) vorantreiben sollte.288 Noch bevor die vollständige Kollektivierung der Landwirtschaft auf die politische Tagesordnung gesetzt wurde, galten Kenntnisse über die bäuerliche Landwirtschaft demnach als nicht mehr zeitgemäß.289 Dass diese Maßnahmen auf die Etablierung einer neuen technokratisch-­ administrativen Elite zielten, zeigte sich auch während der Planungen zum Zusammen­schluss der führenden agrarwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen. Agrarwissenschaftler und Parteifunktionäre hatten seit der Revolution Überlegungen zur Zentralisierung der Agrarwissenschaften angestellt. Doch obwohl der Rat der Volkskommissare bereits 1924 einen Beschluss über die Gründung einer All­unionsakademie für Agrarwissenschaften gefasst hatte, war das Vorhaben nie über das Planungsstadium hinaus gelangt. Nach dem 15. Parteitag nahmen die Vorbereitungen konkrete Gestalt an. Im April 1929 richtete Ja. A. Jakovlev, der sich inzwischen als Agrarpolitiker profiliert hatte, ein Schreiben an den Rat der Volkskommissare, in dem er die verschiedenen Optionen für die Errichtung eines agrarwissenschaftlichen Zentrums diskutierte. Eine Variante, so Jakovlev, bestehe in der Gründung einer der Akademie der Wissenschaften vergleichbaren Einrichtung, in der eine kleine Zahl von Akademikern die Kontrolle über die agrarwissenschaftliche Forschung übernähme. Jakovlev befürwortete die Idee, den Anteil jüngerer Fachleute, die bereits während der Herrschaft der Bolschewiki ausgebildet worden waren und mit Enthusiasmus für deren gesellschaftliche Visionen einstanden (naša molodež’), in wissenschaftlichen und staatlichen Institutionen anzuheben. Seiner Meinung nach stand man bei der Gründung einer agrarwissenschaftlichen Akademie nach dem Vorbild der traditionsreichen Akademie jedoch vor einem schwerwiegendem Problem: Da es nicht genügend Nachwuchswissenschaftler

287 „Sostojanie i Perspektivy …“, S. 30f. 288 Flagman agroėkonomičeskogo obrazovanija, S. 6. 289 Gross, Agrarian Debate, S. 156 – 160.

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gebe, die als Akademiker in Frage kämen, würde man darauf angewiesen sein, „bourgeoise Gelehrte vom Kondrat’ev-Makarov-Typ zum Leninschen Akademiker (leninskij akademik) zu erklären, […] man [müsste] aus dem bekannten konter­ revolutionären P ­ rofessor Dojarenko einen Leninschen Akademiker machen […]“290. Die Vehemenz, mit der Jakovlev die akademische Auszeichnung der genannten Professoren ablehnte, zeugt von den veränderten Konventionen des sowjetischen Diskurses am Ende der 1920er Jahre. Die Namen der Wissenschaftler waren bereits gebräuchliche Chiffren für alle Formen von Wissenschaft, die nicht dem Gebot der Parteilichkeit folgten. Den Ausweg aus diesem Dilemma sah Jakovlev in der Bildung eines ­hierarchisch organisierten Zusammenschlusses aller agrarwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen unter der Leitung des Allunionskommissariats für Landwirtschaft, über dessen bevorstehende Gründung Jakovlev bereits offensichtlich informiert war, als er sein Schreiben verfasste. Nach Auffassung ­Jakovslevs bot ein solcher Forschungsverbund der sowjetischen Führung die Möglichkeit, die Agrarwissenschaften unmittelbar zu steuern und „die Akademie an die uns gegenüber loyal eingestellten wissenschaftlich-praktischen Arbeiter [­predannye nam naučo-praktičeskie rabotniki] in den Versuchsstationen und ländlichen Einrichtungen anzunähern“291. Jakovlev entwarf die künftige Akademie als ein Instrument zur Mobilisierung von Agrarspezialisten in der Provinz. Zugleich sah er in ihr ein Mittel, die von der Partei beanspruchte Deutungshoheit in Agrar­ wissenschaft und -politik endgültig durchzusetzen. Ein zentralistisches Orga­ nisationsmodell gefiel dem bolschewistischen Politiker vor allem deswegen, weil es möglichen Missverständnissen über den Status „bürgerlicher“ Wissenschaftler vorbeugte: „Wenn die Asso­ziation den Namen Lenins trägt, werden wir nicht gezwungen sein, uns fremde, aber nützliche Gelehrte als Leninsche Akademiker zu bezeichnen; sie werden lediglich Mitglieder ihrer Forschungsinstitute sein.“ 292 Offensichtlich folgte der SNK bei seiner Entscheidung zur Schaffung einer agrarwissenschaft­lichen Metastruktur am 25. Juni 1929 den Vorschlägen ­Jakovlevs. Die ­Leninsche Agrarwissenschaftliche Allunionsakademie (­Vsesojuznaja akademija ­sel’skochozjajstvennych nauk imeni Lenina, VASChNIL), bis zum Ende der Sowjetunion das Leitungsorgan der Agrarwissenschaften, war ein zentralisierter Verbund agrarwissenschaft­licher Forschungsinstitute. Die Direktoren der einzelnen Institute sowie einige F ­ unktionäre des sowjetischen Staatsapparats erhielten den Status von Akademiemitgliedern. Wie Jakovlev, damals noch

290 Jakovlev an den SNK [16. April 1929], RGAĖ f. 8390, op. 4, d. 4, l. 1. 291 Ebd. 292 Ebd.

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stellvertretender Vorsitzender der Arbeiter-Bauern-Inspektion, vorgeschlagen hatte, wurde die Akademie nach der Gründung des sowjetischen Volkskommissariats für Landwirtschaft Anfang 1930 in dessen Zuständigkeit überführt.293 Die Agrarwissenschaften waren seither endgültig in die Strukturen des sowjetischen Parteistaats eingegliedert.294 Mit der Sowjetisierung der Agrarwissenschaften verloren auch die Forschungseinrichtungen, die die Vertreter des vorrevolutionären Agrardiskurses in den frühen 1920er Jahren erfolgreich etabliert hatten, ihre führende Rolle in der Wissen­ schaftslandschaft. Das Konjunkturinstitut Kondrat’evs fiel dem politischen Kurswechsel als Erstes zum Opfer. Auf Beschluss des Politbüros hatte Kondrat’ev seine Position als Direktor bereits 1928 aufgeben müssen. Das Institut selber wurde aus der Zuständigkeit des Narkomfin in die Strukturen der Zentralen Statistischen Behörde überführt und kurz darauf geschlossen.295 Čajanovs Institut für Agrarökonomie und -politik wurde am Ende der 1920er Jahre schrittweise marginalisiert. Bereits im April 1927 hatte eine durch das Zentralkomitee eingerichtete Untersuchungskommission, der u. a. L. N. Kricman und Ja. A. Jakovlev angehörten, beanstandet, dass die wissen­schaftlichen Forschungen zu den Bauern­ wirtschaften „nicht in den Händen von Kommunisten, sondern in den Händen Čajanovs“ lägen. Hierin bestehe der Grund für die Verbreitung wissenschaftlicher Ansichten, die mit dem Marxismus nicht vereinbar seien (čuždye marksizmu).296 Nach der Entscheidung zur Einrichtung von VASChNIL wurde auf der Basis des Čajanovschen Instituts ein Institut für die Organisation landwirtschaftlicher Großbetriebe und Agrarökonomie (Institut organizacii krupnogo chozjajstva i sel’skochozjajstvennoj ėkonomii) gegründet, dessen Forschungsprofil am Leitbild des kollektiven landwirtschaftlichen Großbetriebs ausgerichtet war.297 Die institutionellen Rahmenbedingungen, in denen parteilose Agrarwissenschaftler und Ökonomen bislang agiert hatten, waren damit zerstört. Die Marginalisierung der Agrarexperten in Wissenschaft und Politik verstetigte das Stigma des Reaktionismus, das den „bürgerlichen“ Agrarexperten im Diskurs der Bolschewiki anhaftete.298 Mit der Konzentration der politischen Macht bei Stalin verloren Kritiker seines agrarpolitischen Kurswechsels alle Möglichkeiten zum kollektiven öffentlichen Handeln. Das Bündnis zwischen bolschewistischen

293 Bychovskij u. a. (Hg.), Organizacija sovetskoj nauki, S. 342f. 294 Mironowa, Sturm, S. 108 – 112. Zur Gründung des VASChNIL siehe auch Nikonov, Istoričeskij put’ VASChNIL, S. 6f. 295 Wehner, Bauernpolitik, S. 375f.; Barnett, Long Wave, S. 414. 296 Dies geht hervor aus der Untersuchungsakte Čajanovs, RGAĖ f. 731, op. 1, d. 100, l. 5 – 8. 297 Gross, Agrarian Debate, S. 156f. 298 Heinzen, Soviet Countryside, S. 214.

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Agrarpolitikern und parteilosen Experten, das die sowjetische Agrarpolitik in den vorangegangenen Jahren bestimmt hatte, löste sich auf. Zeitgleich verschwanden nichtmarxistische Agrarwissenschaftler und Ökonomen als wissenschaftliche Elite. Zwar konnten einige von ihnen nach den Umstrukturierungsmaßnahmen zwischen 1928 und 1930 zunächst in wissenschaftlichen Institutionen verbleiben.299 Parteivertreter unternahmen jedoch gezielte Schritte, um die Bedeutung ­nichtmarxistischer Experten durch die Förderung loyaler Kommunisten einzudämmen. Schon im Oktober 1929 wandte sich der stellvertretende Leiter des VASChNIL N. P. ­Gorbunov mit der Bitte an das Zentralkomittee, ihn dabei zu unterstützen, das Personal des Instituts für landwirtschaftliche Großbetriebe durch „führende marxistische Kader“ (rukovodjaščimi marksistskimi kommunističeskimi kadrami) aufzustocken.300 Die Maßnahmen zur Marginalisierung der „alten“ Eliten zeigten an, dass die intellektuellen Traditionen des Agrarismus desavouiert waren. Nach der Wende zum „sozialistischen Umbau“ der Landwirtschaft und der Intensivierung staatlicher Wirtschaftsplanung schien die Auseinandersetzung mit der bäuerlichen Landwirtschaft ebenso überflüssig und rekationär zu sein wie die Prognose konjunktureller Zyklen, die sich staatlich nicht regulieren ließen. Die Neuordnung der agrar- und wirtschaftswissenschaftlichen Forschungslandschaft, deren Struktur teilweise durch die Vertreter des vorrevolutionären Agrardiskurses geschaffen worden waren, war eine logische Folge des wirtschaftspolitischen Umbruchs, den die Parteispitze zeitgleich vollzog. Die Leitideen der neuen Wirtschaftsdoktrin wurden nun zu einem wissenschaftlichen Paradigma.

3.3.3  Stalins Verdikt Im Zuge der schrittweisen Marginalisierung der parteilosen Experten profilierten sich die Agrarmarxisten als Meinungsführer auf dem Gebiet der Agrarökonomie. Während die Forschungseinrichtungen ihrer wissenschaftlichen Konkurrenten zwischen 1927 und 1930 an Bedeutung verloren, wurde die Agrarsektion der Kommunistischen Akademie 1928 zu einem eigenständigen Institut aufgewertet (Agrarnyj institut Kommunističeskoj Akademii). Die neue Einrichtung stand unter der Leitung L. N. Kricmans. Ihr Programm folgte der agrarpolitischen Konjunktur. Neben Fragen der ländlichen Sozialstruktur, die bislang im Fokus agrarmarxistischer Forschungen gestanden hatten, wandte man sich jetzt auch den praktischen Fragen zu, 299 So gehörten dem Institut Kondrat’ev, Čajanov, Vajnštejn, Čelincev, Makarov und Rybnikov an. Dojarenko war außerplanmäßiges Mitglied des Instituts. Aufstellung über die Mitarbeiter des Instituts am 1. Februar 1930, RGAĖ f. 8390, op. 2, d. 38, l. 46 – 47. 300 Gorbunov an das CK VKP [3. Oktober 1929], RGAĖ f. 8390, op. 4, d. 6, l. 29.

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die sich mit der „sozialistischen Rekonstruktion“ der Landwirtschaft ergaben – der Verbreitung von Maschinen sowie der Einrichtung und Funktionsweise von Kolchosen und Sowchosen.301 Die Agrarökonomen an der Kommunistischen Akademie beschränkten ihre Rolle nicht auf die wissenschaftliche Begleitung der neuen Agrarpolitik. Vielmehr präsentierten sie sich als intellektuelle Avantgarde, die die Parteibasis auf die neue agrarpolitische Richtung einschwor. Die Institutsleitung plante bereits 1928 eine Vortragsveranstaltung zum Thema „Die Kondrat’evščina und die rechte Abweichung“, die sich an eine breitere Parteiöffentlichkeit richten sollte (dlja širokogo partijnogo aktiva).302 Der Vortragstitel belegt, dass die marxistische Agrarökonomie mit der Abkehr von der Neuen Ökonomischen Politik und dem Aufstieg Stalins in günstiges politisches Fahrwasser geraten war. Dass es zwischen den Auffassungen ihrer nichtmarxistischen Kollegen und den agrarpolitischen Ansichten der Parteirechten Überschneidungen gab, war für die Agrarmarxisten von doppeltem strategischen Nutzen: Zum einen verlieh es ihren publizistischen Attacken gegen die nichtmarxistischen Experten zusätzliche Legitimität, wenn sie sich auf den Kurs der Parteispitze beriefen. Zum anderen konnten sie den wissenschaftlichen Diskurs als Schauplatz des innerparteilichen Machtkampfs darstellen und somit ihre Loyalität gegenüber der Parteiführung demonstrieren. Obwohl die Agrarmarxisten von den Umstrukturierungen in der sowjetischen Agrarwissenschaft profitierten, war ihre Stellung nicht unangefochten. Wiederholt mussten sich Kricman und seine Mitarbeiter vorwerfen lassen, die Erfolge bolschewistischer Agrarpolitik kleinzureden und die Perspektiven einer sozialistischen Rekonstruktion der Landwirtschaft zu vernachlässigen. Mit der Wende zur Kollek­tivierung gerieten die Agrarmarxisten daher in den Ruf engstirniger Dogmatiker, die hinter der politischen Entwicklung zurückstanden.303 Wie sehr sie diese ­Situation verunsicherte, zeigte sich im Vorfeld jener Konferenz, während der Stalin im Dezember 1929 schließlich sein vernichtendes Urteil über die sowjetische Agraröko­nomie sprechen und das Primat der Partei in allen agrarwissenschaftlichen Fragen verkünden sollte. Die Veranstaltung ging auf eine Initiative des Agrar­instituts der Kommunistischen Akademie zurück, deren Mitarbeiter mit der Konferenz die Hegemonie des Marxismus in der sowjetischen Agrarökonomie demonstrieren wollten. Im Zuge der Konferenz sollten lokale Agrarexperten zusammengebracht und Bilanz gezogen werden, wie sich „der Kampf gegen verdeckte Versuche, bürger­liche oder kleinbürgerliche, grundsätzlich nichtproletarische Ansichten in die Theorie und Praxis unseres wirtschaftlichen und kulturellen Aufbaus [einzuschmuggeln]“, 301 Protokoll der Präsidiumssitzung des Agrarinstituts vom 1. Oktober 1928, ARAN f. 353, op. 1, d. 27, l. 1 – 3. 302 Plan zur Tätigkeit des Instituts im Jahr 1928/29, ARAN f. 353, op. 1, d. 28, l. 4. 303 Gross, Agrarian Debate, S. 148 – 152; Cox, Peasants, S. 210 – 214.

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bislang gestaltet hatte.304 Dass man nach den theoretischen Auseinandersetzungen der vorangegangenen Jahre nun die Aufmerksamkeit auf Agrarexperten in der Provinz richten musste, schien den Vertretern des Agrarmarxismus deshalb geboten, weil gerade die landwirtschaftlichen Praktiker, so formulierte es A. I. ­Gajster, voll­kommen durch die „Čajanovščina, die Čelincevščina und Kondrat’evsche Ideen verdorben“ (splošnaja zasorennost’ našich praktičeskich sch rabotnikov ­Čajanovščinoj, ­Čelincevščinoj i Kondrat’evskimi mysljami) seien.305 Als Kricman und seine Mit­arbeiter mit den konkreten Vorbereitungen der Konferenz begannen, waren sie überaus nervös. Bereits 1928 hatte sich die Leitung des Agrarinstituts auf einen Termin im Januar 1929 verständigt.306 Dieser wurde jedoch abgesagt und die Konferenz auf den Mai 1929 verlegt. In einem vertraulichen Brief an Kricman äußerte sich Gajster besorgt. Obwohl die Konferenz bereits in der Pravda annonciert worden war, erschien es ihm zu riskant, diese bereits im Mai abzuhalten: Man dürfe sich „nicht den kleinsten Fehler erlauben“ und müsse alles „mit maximaler Kraft und Anstrengung“ durchführen. Gajster maß der Veranstaltung eine außerordentlich große Bedeutung für die künftige Entwicklung der sowjetischen Agrarökonomie bei. Eine übereilte Einberufung der Konferenz zum angekündigten Termin, so schrieb er an Kricman, könnte „vieles verderben“307. Seine Einwände fanden Gehör. Die Konferenz wurde abgesagt und ein weiteres Mal verschoben. Im Mai einigte sich das Organisationskomitee auf einen Termin im Dezember 1929.308 Als die Konferenz stattfand, schien es zunächst, als könnten die Agrar­marxisten ihre intellektuelle Führungsposition in der Agrarökonomie behaupten. Die von den Agrarmarxisten gefeierte „Zersetzung der reaktionären, kleinbürgerlichen ideo­ logischen Front des neonarodničestvo“309 war jedoch ein Pyrrhussieg. De facto waren die langwierigen Diskussionen über die Rolle und die Auslegung des Marxis­mus in der Agrarökonomie, in die sich die Teilnehmer der Konferenz vertieften, bereits gegenstandslos. Im Gegensatz zum Selbstbild der Agrarmarxisten, die für sich beanspruchten, die Inhalte und Ausrichtung der sowjetischen Agrarökonomie zu definieren, entschied sich deren Entwicklung nicht in akademischen ­Debatten, sondern in der Parteiführung. Nachdem Stalin bereits einige Wochen vor der Konferenz die Wende zur forcierten Kollektivierung vollzogen und das Schicksal der Landwirtschaft

304 Aufruf „An die Agrarmarxisten“, verfasst vom Organisationskomittee der Konferenz [1929], ARAN f. 353, op. 1, d. 39, l. 6. 305 Gajster an Kricman [14. März 1929], ARAN f. 528, op. 4, d. 10, l. 1 ob. 306 Protokoll der Präsidiumssitzung des Agrarinstituts am 1. Oktober 1928, ARAN f. 353, op. 1, d. 27, l. 3. 307 Gajster an Kricman [14. März 1929], ARAN f. 528, op. 4, d. 10, l. 1. 308 Protokoll der Sitzung des Organisationskomittees am 2. Mai 1929, ARAN f. 353, op. 1, d. 39, l. 18. 309 „Rezoljucija I vsesojuznoj konferencii agrarnikov-marksistov“, S. 118.

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besiegelt hatte, erteilte er in einer aufsehenerregenden ­An­sprache am letzten Tag der Zusammenkunft allen Forschungen über die bäuerliche Landwirtschaft eine klare Absage. Der Generalsekretär wetterte nicht nur gegen die „antiwissenschaft­lichen Theorien der ‚Sowjet‘ökonomen vom Schlage eines ­Tschajanow“310, sondern warf der Agrarökonomie insgesamt erhebliche Versäumnisse vor. Der Hinweis auf die „gewisse Kluft zwischen den praktischen Erfolgen und der Entwicklung des theo­ retischen Denkens“ sprach auch den Agrarmarxisten, die sich kurz zuvor gegen ihre akademischen Konkurrenten durchgesetzt hatten, ihre Legitimität ab. Mit der Losung von der „Liquidierung des Kulakentums als Klasse“, die Stalin im Rahmen der Konferenz zum ersten Mal ausgab, verlor nicht nur die Auseinandersetzung mit der bäuerlichen Landwirtschaft, sondern auch die Beschäftigung mit der ländlichen Klassengesellschaft, der Forschungsschwerpunkt der Agrarmarxisten, jegliche Relevanz.311 Die Konferenz zog damit nicht nur einen Schlussstrich unter die Traditionen des vorrevolutionären Agrardiskurses, die in der sowjetischen Agrarökonomie bis dahin fortgelebt hatten, sondern versetzte auch dem wissenschaftlichen Selbstverständnis der Agrarmarxisten einen heftigen Schlag. Ideologischer Purismus war nun für den Status eines Agrarökonomen nicht mehr entscheidend. Fortan bestimmte sich dieser durch das Urteil Stalins.312 Am Ende der 1920er Jahre wuchs unter den parteilosen Agrarexperten das Bewusstsein, dass sich der politische Wind gegen sie drehte. Angesichts des Autoritätsverlusts ihrer Patrone in der Parteispitze und der eigenen Marginalisierung in Wissenschaft und Bürokratie waren sie bereits vor dem Richtspruch Stalins zutiefst verunsichert. Anfang März 1930 erhielt P. A. Sorokin, der damals in den USA lebte, einen alarmierenden Brief von seinem Jugendfreund Kondrat’ev: „Ich befinde mich in einer ausweglosen Situation. Eine Welle nie dagewesener Verfolgungen entwickelt sich. Im Dorf – Terror und Schrecken. In den Städten Gewalt und Misshandlungen; von der Intelligencija fordern sie öffentliche Buße, die Leugnung ihrer Ansichten, sklavische Unterordnung. Überall herrscht Panik. Die Selbstmorde nehmen zu. Die Mehrheit gibt sich geschlagen. Verweigerer gibt es nur vereinzelt, und ihr Schicksal ist furchtbar. Ich bin unter ihnen, und meine Lage ist schrecklicher denn je zuvor.“313

Während Kondrat’ev eine öffentliche Unterwerfungsgeste gegenüber den Bolschewiki ausschloss, begegneten Čajanov und Čelincev dem wachsenden Druck, indem 310 Stalin, Fragen der Agrarpolitik, S. 134. 311 Zur Bedeutung von Stalins Auftritt für die Agrarmarxisten siehe Cox, Peasants, S. 216 – 218. 312 Auch in anderen Bereichen wurde Stalins Urteil fortan zur entscheidenden Richtschnur, an der Wissenschaftler und Intellektuelle ihr Handeln ausrichteten. Erren, „Selbstkritik“, S. 159 – 175. 313 Zitiert nach Dojkov, Sorokin, S. 29f.

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sie Selbstkritik übten und ihre früheren Positionen revidierten. Zwischen 1928 und 1930 veröffentlichten sie Artikel, in denen sie ihr Interesse an den Bauernwirtschaften als überholt darstellten und die ökonomischen Vorteile landwirtschaftlicher Großbetriebe priesen.314 Unter ihren engen Vertrauten löste dieses Verhalten Befremden aus. Wie Čajanov in einem Verhör später angeben sollte, entschloss er sich gegen den Rat Rybnikovs und Makarovs zur öffentlichen Distanzierung von seinen früheren Auffassungen.315 In der Resolution, die die Konferenz der Agrarmarxisten im Dezember 1929 verabschiedete, wurde das öffentliche Schuldgeständnis der beiden Agrarwissenschaftler zwar als „positive Entwicklung“ goutiert. Ihr Widerruf wurde jedoch als „unvollständig“ abgetan. In Bezug auf den Ausbau des Kolchos-­Systems hätten Čajanov und Čelincev „falsche, nichtmarxistische Positionen“ (ložnye nemarksistskie položenija) vertreten. Dies belege die „Notwendigkeit entschiedener Offensiven auf allen Gebieten der Agrarwissenschaft, wo kleinbourgeoise Ansichten und Vorurteile Zuflucht finden“316. Letztlich war es bedeutungslos, ob jemand ein öffentliches Schuldbekenntnis abgelegt hatte oder nicht. Im Sommer 1930 kulminierte die Marginalisierung der parteilosen Agrar- und Wirtschaftsexperten in einer breiten Verhaftungsaktion, der alle führenden Vertreter des vorrevolutionären Agrarismus zum Opfer fielen.317 Die Inhaftierungen waren Teil einer gezielten Aktion zur Ausschaltung der alten technischen Eliten. Diese wollte die Stalinsche Führung offensichtlich deshalb aus dem öffentlichen Leben verdrängen, weil sie sich aufgrund ihrer fachlichen Autorität, ihres professionellen Zusammengehörigkeitsgefühls sowie des Umstands, dass sich einige ihrer Auffassungen mit der Kritik der „rechten Opposition“ deckten, als mögliches Hindernis des neuen Kurses erweisen konnten.318 Im August 1930 erhielten hochrangige Parteifunktionäre Kenntnis über die fingierten Anschuldigungen, die gegen die Agrarexperten ins Feld geführt wurden. Seit 1926 hätten diese eine konter­ revolutionäre Verschwörung gegen die sowjetische Führung geplant und sich zu diesem Zweck in der „Werktätigen-Bauern-Partei“ (Trudovaja-Krest’janskaja ­Partija, TKP ) zusammengeschlossen. Diese wiederum habe Kontakte zu den Gegnern der sowjetischen Führung im Ausland unterhalten und die Stalinsche Wirtschafts­politik durch gezielte Sabotageakte gestört. Da die Beschuldigten berufliche und zum Teil 314 315 316 317

Čajanov, Segodnjašnij i zavtrašnij den’; Galas, Sud’ba, S. 159f. Galas, Sud’ba, S. 159; „Delo trudovoj krest’janskoj partii …“, S. 22. „Rezoljucija I vsesojuznoj konferencii agrarnikov-marksistov“, S. 119. Unter den 1930 verhafteten Agrarexperten befanden sich A. G. Dojarenko, N. D. Kondrat’ev, A. V. Čajanov, N. P. Makarov, A. N. Čelincev, A. A. Rybnikov, A. N. Minin, P. A. Sadyrin, L. N. Litošenko, L. B. Kafengauz, Z. S. Kacenelenbaum, A. V. Tejtel, S. L. Maslov, A. O. Fabrikant. 318 Diese Motive werden als Hintergrund für den inszenierten Prozess gegen die fiktive „Industrie­ partei“ angeführt. Bailes, Technology, Kap. 4. Zur Ausschaltung der vorrevolutionären technischen Intelligenz siehe auch Schattenberg, Ingenieure, S. 85 – 91.

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freundschaftliche Beziehungen miteinander unterhielten, die mitunter bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückreichten, fiel es den Initiatoren der Kampagne leicht, die Kontakte als Konspiration darzustellen und daraus eine zielgerichtete Widerstandstätigkeit abzuleiten. In die offizielle Vision passte zudem, dass einige der parteilosen Agrarspezialisten persönlich mit dem während des Bürgerkrieges emigrierten Sozialrevolutionär S. S. Maslov bekannt waren. Dieser hatte 1928 in der Tschechoslowakei eine „Werktätigen-Bauern-Partei“ gegründet und zum Widerstand gegen die sowjetische Führung aufgerufen. Die Beteiligung der Experten an einer internationalen Verschwörung gegen die sowjetische Führung schien somit belegt.319 In der Parteispitze bestand keinerlei Klarheit über das weitere Vorgehen gegen die Inhaftierten. Am 2. September 1930 räsonierte Stalin in einem Brief an M ­ olotov, ob man den „,Fall‘ Kondrat’ev“ (‚delo’ Kondrat’eva) überhaupt vor Gericht bringen solle. Offensichtlich war Stalin unsicher, ob die verhafteten Experten in einem Prozess glaubhaft als Konterrevolutionäre vorgeführt werden könnten. Die Verhöre dauerten ihm zu lang: „Sind die Herren Angeklagten denn nicht bereit, ihre Fehler zuzugeben und sich bei der Gelegenheit politisch nach Gebühr zu besudeln […]? Das wäre doch ganz hübsch.“320 Nachdem er in seinem Schreiben an ­Molotov zunächst Bedenken gegen eine öffentliche Verlautbarung zu den Verhaftungen geäußert hatte, entschloss sich Stalin offensichtlich am selben Tag, die Ausschaltung der technischen Eliten als Kampf gegen eine antisowjetische Verschwörung zu inszenieren. Auf Beschluss des Politbüros 321 meldete die Pravda am 3. September, dass Kondrat’ev, Čajanov, Makarov, Sadyrin sowie eine Reihe weiterer Wirtschafts- und Agrarexperten als Initiatoren und führende Mitglieder „konterrevolutionärer Organisationen, die das Ziel verfolgten, die sowjetische Herrschaft zu stürzen und die Macht der pomeščiki und der Kapitalisten wiederherzustellen“ verhaftet wurden und ihre Schuld bereits gestanden hätten.322 Die Vorbereitungen für den geplanten Schauprozess gerieten jedoch bald ins Stocken. Möglicherweise in Reaktion auf die kritische Berichterstattung im Ausland, wo ein Teil der Verhafteten hohes Ansehen genoss,323 bat Stalin Molotov noch im September, mit der Übergabe des Falls an ein Gericht zu warten; die Angelegenheit sei „nicht ganz ungefährlich“324. Während die Mitglieder zweier fingierter konterrevolutionärer Organisationen – der „Industriepartei“ (Prompartija) und des so genannten „Verbindungsbüros“ (­Sojuznoe

319 Die detaillierteste Schilderung der Intrige liefert Galas, Sud’ba, Kap. 4. 320 Stalin an Molotov [2. September 1930], in: Kljukin u. a. (Hg.), Suzdal’skie Pis’ma, S. 688. 321 Politbüro-Beschluss zur Veröffentlichung von Informationen über die Inhaftierungen [2. September 1930], in: Ebd., S. 692. 322 Pravda, 03.09.1930, S. 7. 323 Diese These vertritt Galas, Sud’ba, S. 163f. 324 Stalin an Molotov [22. September 1930], in: Kljukin u. a. (Hg.), Suzdal’skie pis’ma, S. 691.

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bjuro) der Menschewiki – Ende 1930 und Anfang 1931 in Schauprozessen verurteilt wurden, ließ Stalin die Idee einer öffentlichen Abrechnung mit den vermeintlichen Verschwörern der „Werktätigen-Bauern-Partei“ fallen. Im Januar 1932 wurden diese in einen geheimen Verfahren des OGPU verurteilt: N. D. Kondrat’ev, N. P. ­Makarov, L. N. Jurovskij zu acht Jahren Haft, A. V. Čajanov, A. A. Rybnikov und A. G. Dojarenko zu fünf Jahren Haft, L. N. Litošenko, S. K. Čajanov, L. B. Kafengauz zu drei Jahren Haft mit einer anschließenden administrativen Verbannung von drei Jahren, A. V. Tejtel und I. N. Leont’ev zu je drei Jahren Haft mit einer anschließenden Beschränkung bei der Wahl des Wohnorts von ebenfalls drei Jahren, A. O. Fabrikant zu drei Jahren Haft.325 Die Aufdeckung der TKP wurde zu einem medialen Ereignis, an dem weite Teile der sowjetischen Öffentlichkeit partizipierten. Nach der Nachricht, Vertreter der wissen­ schaftlichen und technischen Intelligenz hätten Pläne zum Sturz der poli­tischen Führung verfolgt, häuften sich in der Presse Beiträge über die Zusammenarbeit der Inhaftierten mit dem rechten Parteiflügel und die Vorbereitungen eines Coups.326 In einem ­Pravda-Artikel erinnerte der Parteiideologe E. M. Jaroslavskij im Oktober 1930 an Čajanovs utopischen Roman, um die Wahrhaftigkeit der Umsturzvorwürfe zu belegen.327 Zugleich wurden die angeblichen Umstürzler zu Namensgebern für das Szenario einer allgegenwärtigen Bedrohung des Landes durch innere Feinde. Im ganzen Land warnten Broschüren und Aufsatzbände vor lokalen Ablegern der K ­ ondrat’evščina, der ­Čajanovščina, der Makarovščina oder der Rybnikovščina.328 Dass die mediale Konjunktur der angeblichen Verschwörung nicht allein das Resultat einer erfolgreich lancierten Pressekampagne der Parteispitze war, sondern zu großen Teilen auf die „Selbst­ mobilisierung“ der sowjetischen Öffentlichkeit zurückging, zeigt die Beflissenheit, mit der sich Maksim Gor’kij an eine dramaturgische Verarbeitung der Nachrichten machte. Der Schriftsteller befand sich 1930 im Ausland und arbeitete an einem Theaterstück über das „Schädlingswesen“ in der sowjetischen Industrie. Nachdem Stalin, der die Entstehung des Werks aufmerksam verfolgte, versprochen hatte, Gor’kij bald „neues Material“ zukommen zu lassen, bat dieser, Stalin möge ihm auch die Aussagen „der Idioten von der Bauern­partei Čajanov, Suchanov u. a.“ zur Ver­fügung stellen. Gor’kij 325 Diese Angaben stammen aus den Unterlagen zur Rehabilitierung Čajanovs, RGAĖ f. 731, op. 1, d. 105, l. 6 – 9. 326 Popov, N.: Na rešajuščem ėtape likvidacii kulačestva, in: Pravda, 15.09.1930, S. 2 – 3; Krylov, S.: Agrarnaja platforma kondrat’evcev. „Ora et labora“ – „Molis’ i trudis!“, in: Pravda, 02.10.1930, S. 4; Vermeničev, Buržuaznye ėkonomisty. 327 Jaroslavskij, E.: Mečty Čajanovych i sovetskaja dejstvitel’nost’, in: Pravda, 18.10.1930, S. 2. Vgl. auch den Beitrag Jaroslavskijs auf einer Vortragsveranstaltung, die im Oktober 1930 im Inter­ nationalen Agrarinstitut in Moskau stattfand. [Meždunarodnyj agrarnyj institut,] ­Kondrat’evščina, S. 78 – 85. 328 [Kabinet Partraboty pri Kul’tprope Obkom VKP (b),] Kondrat’evščina; Kurskij (Hg.), ­Kondrat’evščina.

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nahm die Nachrichten über die TKP zum Anlass, um seine loyale Haltung gegenüber der Parteiführung zu demonstrieren: „Als ich gelesen habe, wie diese Abenteurer hinter Ihnen und G. G. Jagoda her sind, war ich wütend und erstaunt: Um den persönlichen Schutz der Parteiobersten ist es schlecht bestellt. Da gehen von morgens bis abends Leute mit Bomben über die Lubjanka spazieren, und niemand sieht sie! ­Merkwürdig.“329 Ob Gor’kij der offiziellen Version der Vorgänge Glauben schenkte oder nicht, wird sich kaum feststellen lassen. Seine retrospektiv fast grotesk wirkende Äußerung war jedoch ein Paradebeispiel für die Funktions­logik sowjetischer Herrschaft, in der das Bekenntnis zum Diktator einen ritualisierten Bestandteil der öffentlichen Kommu­ nikation darstellte.330 Um seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft loyaler Untertanen zum Ausdruck zu bringen, ergriff Gor’kij daher sogar aus dem Ausland Partei für den Diktator. Nach der Verhaftungswelle im Sommer 1930 wurde die Distanzierung von den vermeintlichen Verschwörern zu einem öffentlichen Ritual. Im Oktober fanden in Moskau gleich zwei Veranstaltungen statt, auf denen Agrarökonomen die Verhaf­ teten anprangerten und vor weiteren Saboteuren in wissenschaftlichen Einrich­tungen warnten. Bei derartigen Veranstaltungen ging es weniger darum, die Idee einer alternativen landwirtschaftlichen Entwicklung zu diskreditieren, für die nichtmarxistische Agrarexperten eingestanden waren. Vielmehr dienten entsprechende Vorträge und Schriften dazu, die Loyalität ihrer Verfasser gegenüber der politischen Führung zu beglaubigen. Die Vertreter der Agrarökonomie stellten ihre Wissenschaft nun als Beitrag zum Kampf gegen den „inneren Feind“ der Sowjetunion dar. Ähnlich wie die Angehörigen anderer Berufsgruppen und wissenschaftlicher Disziplinen folgten sie der Praxis der Selbstkritik und rügten sich dafür, dass sie den Einfluss „bürgerlicher“ Theoretiker so lange geduldet hatten.331 Der Kampf gegen deren Gleichgesinnte und Verbündete, mahnten sie, müsse nun mit besonderer Härte geführt werden. „Wir haben“, so der Mitarbeiter eines Moskauer Agrarinstituts S. G. Užanskij auf einer Veranstaltung der Kommunistischen Akademie, „bourgeoise Wissenschaftler noch nie toleriert, wir haben sie immer gehasst, aber jetzt muss unsere Unversöhnlichkeit ihren Höhepunkt erreichen: Wir müssen hinter jeder uns fremden Theorie, hinter den kleinsten Verdrehungen unserer Theorie den Klassenfeind sehen.“332 Nachdem der Direktor des Instituts, an dem die als Initiatoren der TKP angeklagten Agrarexperten

329 Gor’kij an Stalin [nicht vor dem 17. November 1930], in: Kljukin u. a. (Hg.), Suzdal’skie Pis’ma, S. 699. 330 Erren, „Selbstkritik“, S. 136 – 141. 331 Schattenberg, Stalins Ingenieure, S. 87f. 332 Užanskij auf der Versammlung der Inhaber von agrarökonomischen Lehrstühlen am 15. Oktober 1930, ARAN f. 353, op. 1, d. 49, l. 12. Die überarbeiteten Beiträge wurden kurz nach der Ver­ anstaltung veröffentlicht. [Agrarnyj Institut,] Kondrat’evščina.

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bis zu ihrer Verhaftung gearbeitet hatten, Ende 1930 beanstandet hatte, die Mit­ arbeiter stünden „durchweg unter dem Einfluss der Čajanovschen Ideologie und des rechten Opportunismus“333, plante man eine propagandistische Ausstellung. Unter der Losung „Mit glühendem Eisen merzen wir die Wurzeln der Kondrat’evščina und Čajanovščina aus“ sollte diese ­Studenten und Doktoranden zum Kampf gegen „Schädlinge“ (vrediteli) in den eigenen R ­ eihen mobilisieren.334 Die Kampagne gegen die verhafteten Spezialisten erwies sich als effektives Mittel, um die gezielte Ausschaltung vorrevolutionärer Eliten in Agrarpolitik und Agrarwissenschaft zu legitimieren. Zwar hatten die Bolschewiki bereits in den 1920er Jahren auf die Ausbildung parteitreuer Agrarexperten hingearbeitet. Nach der Wende zur Kollektivierung erhielten entsprechende Maßnahmen jedoch einen zunehmend systematischen Charakter. Die Leitung von VASChNIL förderte gezielt jüngere Spezialisten, von denen keine öffentlichen Einwände gegen den Kurs der Partei zu befürchten waren. Im Dezember 1930 bat die Parteizelle der Akademie regionale und lokale Parteizellen, „erprobte und den Anliegen des Proletariats ergebene Genossen“ für die Institute des VASChNIL zu gewinnen. Dabei berief man sich auf einen Beschluss des Parteiplenums, dem zufolge künftig mindestens 70% der Doktoranden der VASChNIL aus den Reihen von Parteimitgliedern, Parteikandidaten und Komsomolzen stammen sollten.335 Zeitgleich begannen die VASC hNIL -Institute damit, ihre Doktoranden in kurzen Beurteilungsbögen zu erfassen, die neben Informationen zum Bildungsstand auch Angaben zur sozialen Herkunft und zur politischen Orientierung enthielten.336 Im Zuge der hysterischen Suche nach weiteren antisowjetischen Verschwörern in agrarwissenschaftlichen Lehr- und Forschungseinrichtungen wurden insbesondere „alte“ Spezialisten, die in Verdacht standen, die agrarwissenschaftliche und -politische Wende des ­Regimes nicht zu unterstützen, als Anhänger der Kondrat’evščina, Čajanovščina oder der Makarovščina denunziert.337 Parallel dazu machte der Geheimdienst im ganzen Land vermeintliche Parteizellen der „Werkätigen-Bauern-Partei“ ausfindig. Allein im Archangel’sker Gebiet wurden 1931 107 angebliche Mitglieder der TKP verhaftet. A. N. Minin, ein ehemaliger Kommilitone A. V. Čajanovs, wurde zu Beginn der 1930er Jahre als Mitglied einer Parteizelle im Zentralen Schwarzerdegebiet inhaftiert.338 Bis

333 Plan für das Institut im Jahr 1931, RGAĖ f. 8390, op. 2, d. 132, l. 68. 334 Plan für die Ausstellung „Bor’ba s Čajanovščinoj i Kondrat’evščinoj“ [1931], RGAĖ f. 8390, op. 2, d. 132, l. 4. 335 Schreiben der Parteizelle des VASChNIL-Präsidiums [17. Dezember 1930], RGAĖ f. 8390, op. 4, d. 3, l. 56. 336 Beurteilungen zu einzelnen Doktoranden, RGAĖ f. 8390, op. 4, d. 3, l. 24 – 42. 337 Mironowa, Sturm, S. 110. 338 Dojkov, Evdokimov, S. 104f.; ders., Archangel’skie teni, S. 317.

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September 1931 sollen landesweit fast 1300 Personen als vermeintliche Angehörige der TKP verhaftet worden sein. Viele von ihnen waren lokale Agrar­experten, die in den Jahren vor der Revolution in den Zemstvos gearbeitet hatten.339 Das Jahr 1930 setzte einen Schlussstrich unter die Tradition des russischen Agrar­ismus. Seine Vertreter waren nun personae non gratae, von denen sich die Zeit­genossen distanzierten, um ihre Loyalität gegenüber der Parteiführung zum Ausdruck zu bringen. Die Entlarvung führender Agrar- und Wirtschaftswissenschaftler als Drahtzieher weit vernetzter Widerstandsorganisationen zielte darauf, potenziellen Kritikern des Stalinschen Modernisierungskurses die Möglichkeit zur öffentlichen Artikulation ihrer Ansichten zu nehmen und die sowjetische Gesellschaft für den „sozialistischen Aufbau“ zu mobilisieren. Die systematische Marginalisierung der ehemaligen obščestvenniki war Teil eines durch die Stalinsche Führung lancierten Elitenaustauschs, der darauf abzielte, Wirtschaft und Gesellschaft durch „neue“, loyale Kader zu transformieren.340 Die Folgen dieser Politik waren nachhaltig. Mit dem Beginn des Stalinismus wurden Agrarwissenschaft und Agrarpolitik zu Schauplätzen eines durch den Staat vollzogenen Generationenwechsels, mit dem die Traditionen des Agrarismus aus dem sowjetischen Diskurs verdrängt wurden.

339 Gerasimov, Modernism, S. 213. 340 An Dynamik gewann die Politik des vydviženie (Beförderung) besonders im Kontext des Ersten Fünfjahresplans. Fitzpatrick, New Elite. Für die Vertreter der neuen Elite wurde der Bildungsaufstieg ein wichtiger autobiographischer Topos. Schattenberg, Stalins Ingenieure, S. 140 – 180.

4.  „ … D E R S C H W E R E WAG E N D E R G E S C H I C H T E “ – KO N T E X T E D E S E R I N N E R N S U N D V E RG E S S E N S

4.1   Ag r a r ex p e r t e n i n d e r E m ig r at io n 4.1.1  Sehnsucht nach der „Welt von gestern“ In den 1920er Jahren bestanden die Traditionen des vorrevolutionären Agrarismus nicht nur im sowjetischen Russland fort. Nachdem führende Vertreter der Bewegung während des Bürgerkriegs geflohen und andere 1922 zum Verlassen ihres Heimatlandes gezwungen worden waren, lebte das vorrevolutionäre Expertennetzwerk in Berliner und Prager Emigrantenzirkeln wieder auf. Wie sie es aus den Jahren vor der Revolution gewöhnt waren, fanden sich russische Agrarexperten und Genossenschaftsvertreter auf Kongressen zusammen, gründeten Z ­ eitschriften und veröffentlichten wissenschaftliche Monographien. Mit der Unterstützung von Ministerien, Wissenschaftlern und Intellektuellen in Deutschland und der Tschechoslowakei gelang ihnen sogar die Gründung eigener wissenschaftlicher Institutionen. Diese dienten den Emigranten nicht nur als materielles Standbein. Sie ermöglichten es ihnen zugleich, ihre durch Flucht oder Ausweisung unterbrochenen Karrieren sowie die intellektuelle Beschäftigung mit dem bäuerlichen Russland fortzusetzen. Bei der Institutionalisierung des Agrarismus jenseits der Grenzen Russlands ging es keineswegs um die Etablierung langfristiger Strukturen. Vielmehr versprachen sich die Emigranten von ihren Initiativen einen Beitrag zur Bewahrung der kulturellen und geistigen Traditionen Russlands, um nach dem Ende der bolschewistischen Herrschaft die Suche nach der ländlichen Moderne eben dort fortzusetzen.1 In Prag begann die Wiederherstellung des vorrevolutionären Netzwerks von Agrarexperten und Genossenschaftsaktivisten im Jahre 1921. Auf Initiative einiger aus Russland emigrierter Anhänger der Genossenschaftsbewegung wurde im Mai das „Russische Institut für landwirtschaftliches Genossenschaftswesen“ (Russkij ­institut sel’skochozjajstvennoj kooperacii) gegründet, das führenden Genossenschafts­ aktivisten und -ideologen des späten Zarenreichs fortan ein berufliches Auskommen

1

Zur Rolle der Bildung im Selbstverständnis russischer Emigranten siehe Raeff, Russia Abroad, Kap. 3.

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bot.2 Aufbau und Ausrichtung des Instituts orientierten sich am Vorbild der genossen­ schaftlichen Kurse, wie sie im Vorfeld in mehreren Städten Russlands entstanden waren. Das Institut sollte die praktische Ausbildung von Genossenschaftsmit­ arbeitern übernehmen und den in Prag versammelten Genossenschaftsexperten die theoretische Auseinandersetzung mit genossenschaftlichen Fragen ermöglichen. Die Leitung des Instituts übernahm der Agronom S. V. Marakuev, der ursprünglich aus dem Don-Gebiet stammte und Russland während des Bürgerkriegs verlassen hatte. Viele Dozenten des Instituts waren bereits aus ihrer Tätigkeit in den Zentralorganen der vorrevolutionären Genossenschaftsbewegung miteinander bekannt. Unter ihnen befanden sich der Char’kover Ökonom A. N. Ancyferov, Mitbegründer der Moskauer Volksbank und langjähriger Vorkämpfer eines zentralen genossenschaftlichen Instituts im Zarenreich, der langjährige Genossenschaftstheoretiker und -aktivist I. V. Emel’janov, der Agronom V. E. Brunst sowie V. F. Totomianc, der als einer der wichtigsten Genossenschaftstheoretiker bekannt war und enge Beziehungen zu Vertretern der internationalen Genossenschaftsbewegung unterhielt. N. P. Makarov war hier nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten ebenso kurzzeitig als Dozent tätig und führte die Hörer des Instituts in die Getreidewirtschaft der Vereinigten Staaten ein.3 A. N. Čelincev, der zwischen 1920 und 1923 eine Professur für Statistik und Agrarodnung an der landwirtschaftlichen Fakultät der Universität Belgrad innegehabt hatte, übernahm am Prager Genossenschaftsinstitut eine Professur für Agrargeographie und Obstbau.4 Seine Legitimität bezog das Institut aus dem allgemeinen Glauben an die Umkehrbarkeit des Oktoberumsturzes. In offiziellen Darstellungen unterstrich die Institutsleitung, dass das Institut auf die Ausbildung von Genossenschaftsaktivisten zielte, die im Anschluss an die bevorstehende Absetzung der Bolschewiki nach Russland zurückkehren und sich der Reorganisation des zerstörten ländlichen Genossenschaftswesens annehmen würden.5 A. N. Ancyferov widmete die 1922 herausgegebene Neuauflage seiner einst in Russland veröffentlichten Einführung in das genossenschaftliche Kreditwesen den „zukünftigen Vertretern der russischen Genossenschaftsbewegung“6. Dass die Gründung des Genossenschaftsinstituts eigentlich das Resultat der sozialen und politischen Umwälzungen in Russland war, schlug sich weder in der wissenschaftlichen Tätigkeit seiner Mitarbeiter noch im Lehrplan nieder. Die in der institutseigenen Zeitschrift „Genossenschaft und Landwirtschaft“ 2 3 4 5 6

Telycin, „Pervyj i edinstvennyj“; Andreyev; Savický, Prague, S. 94f.; Postnikov, Russkie v Prage, S. 90 – 93; Marakujeff [Marakuev], Institut. Siehe den Lehrplan des Instituts: Obozrenie prepodovanija … 1923 – 1924 god. Unterlagen über Čelincevs Laufbahn in Jugoslawien, RGAĖ f. 771, op. 1, d. 197, l. 1 – 3. Obozrenie prepodovanija … 1923 – 1924 god, S. 3. Ancyferov, Kooperativnyj kredit, S. 5.

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(Kooperacija i sel’skoe chozjajstvo) veröffentlichten Beiträge setzten die Traditionen der Agrarpresse des späten Zarenreichs fort.7 Auch das ­Studien­programm des Instituts folgte den Maximen vorrevolutionärer Debatten über die Perspektiven des russischen Dorfes und war letztlich kaum vom Lehrplan der 1913 eingerichteten Genossenschaftlichen Kurse an der Moskauer Šanjavskij-Universität zu unterscheiden. Neben Einführungen in die Politische Ökonomie, Agrarstatistik und Agrarökonomie besuchten Studenten des Prager Instituts auch Spezialkurse über die Geschichte des Genossenschaftswesens und die Funktionsweise verschiedener Genossenschaftstypen. Darüber hinaus gab es obligatorische Veranstaltungen zur „Agronomischen Hilfe“ mit Unterrichtseinheiten über die Agrarpolitik der spätzarischen Regierung und die Methoden der Zemstvo-Agronomie.8 Die Anhänger des Agrarismus profitierten von der gezielten Anwerbung russischer Wissenschaftler, Intellektueller und Ingenieure durch die tschechoslowakische Regierung.9 Mit Unterstützung der Vereinigung russischer Zemstvo- und Stadtabgeordneter (Zemgor), die von der tschechoslowakische Regierung mit der Koordinierung der „Russischen Hilfsaktion“ betraut worden war, konnte im Herbst 1924 ein Institut zur Erforschung Russlands (Institut izučenija Rossii) gegründet werden. Hervorgegangen aus dem von S. S. Maslov und A. N. Čelincev kurz zuvor ins Leben gerufenen Institut für bäuerliche Kultur (Institut krest’janskoj kul’tury) bzw. dessen Nachfolger, dem Russischen wissenschaftlichen Institut für ländliche Kultur (Russkij naučnyj institut sel’skoj kul’tury), lag der Fokus der Einrichtung auf der jüngeren Agrargeschichte Russlands. Čelincev übernahm die Abteilung für Agrarökonomie. A. V. Pešechonov, zugleich Geschäftsführer des Instituts, leitete die landwirtschaftliche Abteilung.10 Durch ihren Fokus auf die russische Agrargeschichte des frühen 20. Jahrhunderts verpassten die Mitarbeiter des Instituts die Chance, sich ein dauerhaftes Standbein in der europäischen Wissenschaftslandschaft zu sichern. Wie am Prager Genossenschaftsinstitut zeigte sich auch am Institut zur Erforschung Russlands, dass den Emigranten wenig daran gelegen war, das nach der Oktoberrevolution verstärkte internationale Interesse an ihrem Heimatland zu bedienen. Vielmehr setzten sie jene Debatten, die sie zuvor in Russland geführt hatten, im Kontext der Emigration einfach fort.11 Die Publikationen des Instituts erschienen in russischer Sprache und kreisten um Themen

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Im Mittelpunkt standen theoretische Fragen des Genossenschaftswesens sowie die Entwicklung von Landwirtschaft, Genossenschaften und Agronomie im vorrevolutionären Russland. Vgl. E ­ mel’janov, O prirode; Brunst, Očerki; Čelincev, Sel’skoe chozjajstva. 8 Obozrenie prepodovanija … 1925 god, S. 19 – 50, 91. 9 Andreyev; Savický, Russia Abroad, Kap. 2; Chinyaeva, Russians, S. 50 – 61. Zur Bedeutung Prags als wissenschaftliches Zentrum der russischen Emigration siehe Sládek, Prag. 10 „Chronika instituta“ (1); „Chronika instituta“ (2). 11 Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangen Andreyev; Savický, Russia Abroad, S. 107 – 109.

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wie die Rolle der Gutswirtschaften im vorrevolutionären Russland oder die Landumteilungen während der Revolution. Pešechonovs „Das gegenwärtige Russland in Zahlen“, eine Sammlung statistischer Daten zur Entwicklung von Bevölkerung, Industrie und Landwirtschaft sowie zur städtischen Berufsstruktur, Hygiene und dem Bildungssystem im sowjetischen Russland bildete eine der wenigen Ausnahmen.12 Dass sich der Diskurs der Emigranten vor allem um die „Welt von gestern“ drehte, zeigte sich besonders deutlich, als der intellektuelle Kopf der Sozialrevolutionären Partei V. M. Černov am Institut eine eigene Abteilung zum Studium der Bauernbewegung während der Regierungszeit der Proviso­rischen Regierung einrichtete.13 Dass es ihm hierbei vor allem um die politische Selbstdarstellung ging, war kaum zu übersehen. Als vorübergehender Agrarminister hatte Černov aufgrund seiner betont bauernfreundlichen Politik für Spannungen in der Provisorischen Regierung gesorgt. Vor dem Hintergrund der bolschewistischen Machtübernahme ging es ihm nun offensichtlich um die retrospektive Legitimierung seiner Politik. Neben Prag entwickelte sich auch Berlin in den 1920er Jahren zu einem Zentrum des russischen Agrar- und Genossenschaftsdiskurses. Zwar verschlechte sich die rechtliche Lage russischer Emigranten mit dem im April 1922 zwischen Sowjet­ russland und der Weimarer Republik abgeschlossenen Vertrag von Rapallo, da mit der offiziellen Anerkennung der Bolschewiki der diplomatische Schutz für die Emigranten weitgehend entfiel und ihre Unterstützung durch Weimarer Behörden das Missfallen der sowjetischen Partner auslösen konnte. Dennoch entfalteten die Einwanderer in Deutschland ein reges kulturelles und geistiges Leben.14 Aktive Unterstützung erhielten sie durch leitende Mitglieder der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas im Umfeld des Historikers Otto Hoetzsch sowie der Agrarwissenschaftler Max Sering und Otto Auhagen, die sich für eine Wieder­belebung des wissenschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Austauschs zwischen Deutschland und Russland einsetzten.15 Dass die Osteuropagesellschaft Kooperationen mit sowjetischen Wissenschaftsinstitutionen anstrebte, hinderte sie nicht daran, sich zugleich für die 1922 aus Sowjetrussland ausgewiesenen Intellektuellen einzusetzen. Unmittelbar nach dem Eintreffen der ersten Gruppe Moskauer Professoren in Deutschland warb Hoetzsch im Auswärtigen Amt und im Preußischen Kultusministerium dafür, die Wissenschaftler zu unterstützen.16 Hoetzsch gelang

12 Pešechonov, Sovremennaja Rossija. 13 „Chronika instituta“ (2), S. 417f. 14 Zur Situation russischer Emigranten in der Weimarer Republik nach dem Vertrag von Rapallo und zur besonderen Rolle Berlins siehe Schlögel, Berlin. 15 Liszkowski, Osteuropaforschung, Bd. 2, S. 493 – 507. 16 Akte des preußischen Kultusministeriums über das Russische Wissenschaftliche Institut in Berlin, GStA PK, I. HA, Rep. 76 Kultusministerium, Sekt. 2, Tit. 23 LITT. A, Nr. 134. Bl. 3 – 8.

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Kontexte des Erinnerns und Vergessens

es, die seitens der deutschen Behörden hervorgebrachten Bedenken zu entkräften, und er regte die Gründung einer eigenständigen wissenschaftlichen Institution an, die den russischen Emigranten als Lehr- und Forschungsstätte dienen würde. Da selbst der sowjetische Kulturattaché keine Einwände gegen ein solches Vorhaben vorbrachte,17 wurde am 17. Februar 1923 in Berlin das Russische Wissenschaftliche Institut (RWI) eröffnet, das sich binnen kurzer Zeit zum wissenschaftlichen Zentrum der russischen Emigrantengemeinde in Berlin entwickelte.18 Wie die Prager Institute fungierte auch das Berliner Institut als Basis für die Wiederherstellung des vorrevolutionären Netzwerks von Agrarexperten und Genossenschaftsvertretern. S. N. Prokopovič übernahm die Leitung der ökonomischen Abteilung des Instituts, die als „Ökonomisches Kabinett“ bald darauf internationale Reputation erlangen sollte. B. D. Bruckus unterrichtete Agrarökonomie und hielt regelmäßig öffentliche Vorträge über die Wirtschaftspolitik der Bolschewiki. Der Moskauer Agronom A. I. Ugrimov war regulärer Dozent am Institut, ebenso wie V. F. Totomianc, der in den 1920er Jahren regelmäßig zwischen Berlin und Prag pendelte. Im Wintersemester 1923/24 gehörte auch N. P. Makarov zum Lehrpersonal des Instituts.19 Offensichtlich bestanden in der Institutsleitung kurzzeitig sogar Pläne, A. V. Čajanov, der sich 1922 und 1923 in Westeuropa aufhielt, an das RWI zu binden. In einem Brief an Prokopovič überlegte der Ökonom im Januar 1923, wie er das Angebot, in Berlin eine Einführung in die Bauernwirtschaftstheorie zu halten, in seine Reisepläne integrieren könnte.20 Da die Gründung von Lehr- und Forschungseinrichtungen nicht nur die offi­zielle Genehmigung in den jeweiligen Gastländern voraussetzte, sondern meist auch mit deren finanzieller Unterstützung erfolgte, waren die russischen Emigranten un­­ mittelbar von der politischen Konjunktur und der Gunst der Behörden in ihren Aufenthaltsländern abhängig. Seit der Mitte der 1920er Jahre wurde der Arbeitsalltag am Berliner RWI von der andauernden Möglichkeit überschattet, die deutschen Behörden könnten ihre Unterstützung für das Institut einstellen. Die Verlegung von Prokopovičs „Ökonomischem Kabinett“ 1924 nach Prag schwächte die Stellung des RWI.21 Nachdem zahlreiche Studierende Stipendien in den USA erhalten hatten und der Lehrbetrieb 1926 radikal eingeschränkt werden musste, geriet das Institut in ernsthafte

17 Liszkowski, Osteuropaforschung, Bd. 2, S. 507. 18 Zur Geschichte des Russischen Wissenschaftlichen Instituts in Berlin siehe Voigt, Hoetzsch; Volkmann, Emigration, S. 129 – 134; Dodenhoeft, Russland, S. 89 – 114. 19 Akte des preußischen Kultusministeriums über das Russische Wissenschaftliche Institut in ­Berlin, GStA PK, I. HA, Rep. 76 Kultusministerium, Sekt. 2, Tit. 23 LITT. A, Nr. 134, Bl. 128. Siehe außerdem Volkmann, Emigration, S. 131f. 20 Čajanov an Prokopovič [3. Januar 1923], GARF f. 5902, op. 1, d. 248, l. 1. 21 Zum „Ökonomischen Kabinett“ siehe Bačurina, Ėkonomičeskoe nasledie, S. 37 – 67.

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Legitimationsschwierigkeiten. 1926 stellte das Preußische Kultus­ministerium seine Förderung ein und entzog dem Institut seine Räumlichkeiten in der Berliner Bauakademie.22 Nachdem das Auswärtige Amt, dem das RWI den größten Teil seiner Finanzierung verdankte, im Herbst 1927 eine deutliche Reduzierung der bislang gewährten finanziellen Mittel angekündigt hatte,23 entbrannte zwischen dem Ministerium und der Osteuropagesellschaft, der das Institut formal angegliedert war, ein dauerhafter Konflikt. Im Herbst 1930 entschied das Auswärtige Amt, die Finanzierung des Instituts im kommenden Jahr vollends einzustellen. Den mög­lichen Schaden schätzten die Mitarbeiter des Ministeriums als gering ein. Rechtlich, so die Argumentation in einem internen Aktenvermerk, stelle die Einstellung der Zahlungen an die Mitarbeiter kein Problem dar; diese habe man sowieso „mehr oder weniger [als] karitative Angelegenheit“ behandelt. Politisch sei die Angelegenheit allerdings „nicht unbedenklich“, da die Professoren angesichts ihrer internationalen Reputation dem Ruf Deutschlands schaden könnten: „Die Herren haben zum großen Teil nicht nur wissenschaftliche Bedeutung, sondern auch als ehemalige Politiker in der russischen Emigration heute noch einen guten Namen. Da die meisten ohne die Bezüge, die sie vom Institut erhalten, hier nicht werden leben können, sollen sie die Absicht haben, nach Prag bzw. nach Paris auszuwandern. Daß sie im Auslande in ihrer Verstimmung Propaganda gegen Deutschland machen werden, ist anzunehmen. In Kauf zu nehmen ist die Preisgabe der Professoren schließlich nur unter dem Gesichtspunkt, daß die Herren infolgen ihres hohen Alters ausnahmslos wohl keine politische Rolle mehr spielen werden.“24 Der schrittweise Rückzug des Auswärtigen Amts aus der finanziellen Förderung des RWI erfolgte mit Rücksicht auf die diplomatischen Beziehungen zwischen der Weimarer Republik und der Sowjetunion. Der Umstand, dass im Umfeld des Instituts am Ende der 1920er Jahre eine Reihe von Studien entstand, die sich kritisch mit der Politik der sowjetischen Führung auseinandersetzten,25 widersprach der politischen Linie des Auswärtigen Amtes, die vom Interesse einer konfliktfreien Kooperation zwischen Deutschland und der Sowjetunion diktiert wurde. Nachdem B. D. ­Bruckus und der Philosophieprofessor I. A. Il’in öffentlich Kritik an der sowjetischen Wirtschaftspolitik und den Repressionen gegenüber Vertretern

22 Max Sering an den Ministerialdirektor Prof. Dr. Richter, Preußisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung [7. März 1931], GStA PK, I. HA, Rep. 76 Kultusministerium, Sekt. 2, Tit. 23 LITT. A, Nr. 134, Bl. 251 – 254. Zu den Schwierigkeiten des Instituts siehe auch Voigt, Hoetzsch, S. 277f. 23 Akten der Gesellschaft zum Studium Osteuropas, GStA PK, I. HA, Rep. 76 Vc Sekt. 1, Tit. 11, Teil 1, Nr. 26c, Bl. 134. 24 Russisches Wissenschaftliches Institut, AA, R 31836, Bl. 57. 25 Voigt, Hoetzsch, S. 277.

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der Intelligenz in der Sowjetunion geübt hatten, wandte sich das Auswärtige Amt im April 1930 mit einer offiziellen Beschwerde an die Gesellschaft zum Studium Osteuropas: „Dem A. A. liegt es selbstverständlich fern, auf die wissenschaftliche Meinungsfreiheit der genannten Professoren irgendeinen Einfluß auszuüben. Da­­ gegen hält es politische und wirtschaftspolitische Auslassungen von Angehörigen des Russischen Wissenschaftlichen Instituts, das bekanntlich durch Reichsmittel unterstützt wird, für unzulässig, wenn diese Auslassungen der von der Reichs­regierung gegenüber der Sowjetunion verfolgten Politik zuwiderlaufen.“26 Die Leitung der Osteuropagesellschaft wurde aufgefordert, „die Herren Professoren Dr. Brutzkus und Iljin vor die Wahl zu stellen, entweder auf ihre Zugehörigkeit zum Russischen Wissenschaftlichen Institut zu verzichten oder sich bei ihrem öffent­lichen Hervor­ treten als Mitglieder des Instituts im Rahmen der offiziellen deutschen Politik gegenüber der Sowjetunion zu halten“27. Aus der Perspektive der deutschen Behörden schien das RWI demnach nur so lange tragbar, wie dessen Mitarbeiter die bei der Institutsgründung getroffene Neutralitätsvereinbarung nicht verletzten. Dass das sowjetische Russland für die Emigranten weiterhin den zentralen intellektuellen Referenzrahmen darstellte, hatte man bei der Einrichtung des Instituts unterschätzt. In der Leitung der Osteuropagesellschaft gingen die Meinungen über den Umgang mit dem Institut auseinander.28 Mit Blick auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen distanzierte sich Hoetzsch entschieden von der antisowjetischen Haltung einiger Institutsmitarbeiter. In einer Präsidialsitzung der Gesellschaft bezeichnete er die Finanzierung des Instituts als einen „Akt der Humanität“ und sprach dem Institut auf diese Weise jeglichen wissenschaftlichen Stellenwert ab.29 Für Max Sering hingegen stand die Bedeutung des Instituts außer Frage. Anfang 1931 versuchte der Agrarwissenschaftler wiederholt, deutsche Behörden für die Unterstützung der Einrichtung zu gewinnen. In einem Schreiben an das preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung hob er die Rolle der Forschungsanstalt für die Bewahrung der russischen Wissenschaftstraditionen hervor und warnte vor einer Schädigung des internationalen Ansehens Deutschlands im Falle einer Schließung des RWI. Seine Argumentation gründete sich auf der Annahme eines ­Machtwechsels in Moskau: „Es unterliegt keinem Zweifel, dass irgendwann in Russland die jetzt dort in die schlimmsten Fesseln geschlagene geisteswissenschaftliche Arbeit wieder ihre Freiheit gewinnen wird und dann überall an die Überlieferungen der Vorkriegszeit anknüpfen muss. Es wäre aber ein schwerer politischer Schaden, wenn es dann heißen dürfte: 26 Russisches Wissenschaftliches Institut, AA, R 31836, Bl. 26f. 27 Ebd. 28 Mick, Propaganda, S. 283f. 29 Akten der Gesellschaft zum Studium Osteuropas, GStA PK, I. HA, Rep. 76 Vc Sekt. 1, Tit. 11, Teil 1, Nr. 26c, Bl. 211.

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Paris, Prag, Belgrad haben dem russischen Volk den unschätzbaren Dienst erwiesen, seine geisteswissenschaftliche Überlieferung lebendig zu erhalten, Deutschland aber hat ihre Vertreter, uneingedenk der ihnen versprochenen Gastfreundschaft, ins Elend geschickt.“30 Serings Appelle blieben jedoch erfolglos. Als Vizepräsident der Osteuropagesellschaft war er 1932 schließlich sogar mit der Liquidierung des Instituts betraut.31 Die ehemaligen Mitarbeiter des Instituts waren nun verstärkt auf ihre Kontakte zu deutschen Wissenschaftsvertretern angewiesen. Bruckus und Ugrimov, die bis zuletzt am RWI in Berlin gearbeitet hatten, profitierten von ihrer Bekanntschaft mit Max Sering. Dieser betrachtete das Schicksal seiner beiden russischen Kollegen als persönliches Anliegen und setzte sich bei verschiedenen Behörden für deren Fortkommen ein. Im Sommer 1933 wandte sich Sering an das „Comité interna­tional pour le placement des intellectuels émigrés“ in Genua und bat, Bruckus bei der Suche einer Anstellung außerhalb Deutschlands behilflich zu sein. In einem weiteren Schreiben, das er mit der gleichen Bitte an den „Academic Assistance Council“ der Royal Society in London richtete, würdigte Sering die Arbeiten des Ökonomen als „beste Zeugnisse unserer Fachliteratur“ und verwies zugleich auf die Probleme, mit denen Bruckus aufgrund seiner jüdischen Herkunft nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland konfrontiert war.32 Tatsächlich reiste Bruckus wenig später nach England aus, wo er sich jedoch nur vorübergehend aufhielt. 1934 bot man ihm eine Professur für Agrarökonomie und -politik an der Hebräischen Universität in Jerusalem an, die er vom Herbst 1935 bis zu seinem Tod im Jahre 1938 innehatte.33 Auch für Ugrimov erwies sich der persönliche Kontakt zu Sering als Vorteil. Bei der Auflösung des RWI gelang es Sering, Teile der Institutsbibliothek dem Institut für Agrar- und Siedlungswesen anzugliedern und die Bestände in den Räumlichkeiten der Berliner Landwirtschaftlichen Hochschule unterzubringen. Gegenüber dem Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft 34 verwandte

30 Sering an den Ministerialdirektor Richter, Preußisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung [7. März 1931], GStA PK, I. HA, Rep. 76 Kultusministerium, Sekt. 2, Tit. 23 LITT. A, Nr. 134, Bl. 251 – 254. 31 Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde in Berlin erneut ein „Russisches Wissenschaftliches Institut“ begründet. Dieses war ein Instrument der antikommunistischen Propaganda der NS-Regierung und erhielt den Auftrag zum „Kampf gegen die Komintern und ihre Verbündeten“. Die Osteuropagesellschaft war nicht mehr beteiligt. Die Vorgänge sind dokumentiert in der Akte Russisches Wissenschaftliches Institut, AA, R 31836, Bl. 165 – 169. Einzelne Belege finden sich auch im Nachlass Serings: Akte zur Bibliothek des Russischen Wissenschaftlichen Institutes, B Arch K, N/1210/143 [ohne Nummerierung]. 32 Sering an die Royal Society [25. Juli 1933], B Arch K, N/1210/143 [ohne Nummerierung]. 33 Rogalina, Bruckus, S. 32. Siehe außerdem den von Bruckus’ Ehefrau verfassten Lebenslauf, RGAĖ f. 9598, op. 3, d. 28, l. 50. 34 Das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft gehörte dem Kuratorium des von Sering geleiteten Deutschen Forschungsinstituts für Agrar- und Siedlungswesen an. Stoehr, Sering, S. 61.

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er sich im Zuge dieser Maßnahmen für Ugrimov, den er als Bibliothekar für die neue Bibliothek ins Auge gefasst hatte. Ugrimov, so Sering in seinem Schreiben, habe „in Deutschland seinen Doktor gemacht und [sei] ein Mann von sehr guten Formen“35. Tatsächlich gelang es Sering, Ugrimov eine Stelle als Bibliothekar zu verschaffen. Lange konnte er seinem russischen Kollegen allerdings nicht behilflich sein. Der Aufstieg Konrad Meyers in der deutschen Agrarwissenschaft zog die Verdrängung Serings aus der Agrarwissenschaft und die Auflösung seines Instituts nach sich.36 Ugrimov arbeitete daraufhin als Dozent an der Berliner Universität.37 1935 wurde der Agronom, der mit einer Jüdin verheirat war, auf der Grundlage des Arierparagraphen entlassen. 1938 reiste er nach Frankreich aus.38 Auch die russische Emigrantengemeinde in Prag geriet am Ende der 1920er Jahre unter Druck. Die „Russische Hilfsaktion“ war mit der Hoffnung auf einen baldigen politischen Wandel in Russland gegründet worden. Mit der Konsolidierung der bolschewistischen Herrschaft und der wachsenden Akzeptanz der Sowjetunion im internationalen Staatensystem lag die Unterstützung von russischen Wissenschaftlern, deren politisches Selbstverständnis auf der tiefen Abneigung gegenüber den Bolschewiki beruhte, immer weniger im Interesse der tschechoslowakischen Regierung. Angesichts der angespannten Lage des tschechoslowakischen Staatshaushalts ließ sich die Förderung von Instituten, die vorrangig die Bedürfnisse der russischen Emigrantengemeinde bedienten, auch innenpolitisch immer schwerer rechtfertigen. Seit 1927 gingen die Mittel für die „Russischen Hilfsaktion“ ständig zurück.39 1929 wurde das Institut zur Erforschung Russlands geschlossen.40 Das Russische Institut für landwirtschaftliches Genossenschaftswesen, das bislang vom politischen Einfluss der tschechoslowakischen Agrarpartei profitiert hatte und über mehrere Jahre hinweg vom Agrarministerium unterhalten worden war, verlor am Ende der 1920er Jahre die Unterstützung der Behörde. Seit 1928 besaß das Institut faktisch keinen Etat für Stipendien mehr. Viele seiner Mitarbeiter begaben sich nun auf die Suche nach alternativen Anstellungsmöglichkeiten.41 1934 wurde die Finanzierung endgültig eingestellt und das Institut, das inzwischen viele Professoren und 35 Schreiben Serings an den Ministerialrat Dr. Weber des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft [April 1932], B Arch K N/1210/143 [ohne Nummerierung]. 36 Stoehr, Sering, S. 64 – 67. 37 Personalakte Alexander Ugrimov, Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin, PA UK U 004, Bl. 1 – 8. 38 Makarov, Istoriko-filosofskij analiz, S. 192f. 39 Chinyaeva, Russians, S. 61 – 63. 40 Ebd., S. 62. 41 Dies geht hervor aus den Briefen V. E. Brunsts an I. V. Emel’janov, vormals Professor am Prager Genossenschaftsinstitut, der 1927 in die USA ausgewandert war. Hoover Institution Archives, Ivan V. Emel’ianov Papers, Box 2, Folder 5, Dokumente 7 – 20.

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Studierende verloren und seit 1928 lediglich in Form von „genossenschaftlichen Kursen“ bestanden hatte, endgültig aufgegeben.42 Prokopovičs „Ökonomisches Kabinett“, das kurzfristig in die Finanzierung des tschechoslowakischen Außenministeriums übernommen worden war, wurde am Beginn des Zweiten Weltkriegs nach Genua verlegt, wo es mit Unterstützung der Carnegie-Stiftung noch einige Jahre weiterbestand.43 Die strukturellen Probleme waren jedoch nicht der einzige Grund für die schrittweise Auflösung des Netzwerks russischer Agrarexperten und Genossenschaftsvertreter. Allem Anschein nach setzte sich unter den Emigranten in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre die Ansicht durch, dass sich der Oktoberumsturz nicht einfach aus der Geschichte Russlands wegdenken ließ. Viele von ihnen begannen daher, noch bevor die Welle der Institutsschließungen einsetzte, mit der Suche nach alterna­tiven Beschäftigungsmöglichkeiten und längerfristigen Aufenthaltsorten außerhalb Russlands. Im Verlauf mehrerer Jahre eruierte Brunst die Möglichkeiten einer Ausreise nach Argentinien.44 Der Direktor des Prager Genossenschaftsinstituts S. N. Marakuev bereitete sich Ende der 1920er Jahre auf eine Anstellung in einer französischen Bank vor,45 während sich Totomianc damals bereits häufig in Berlin aufhielt, wo er Vorlesungen an der dortigen Handelshochschule gab.46 A. N. Ancyferov unterhielt enge Kontakte zu russischen Bildungseinrichtungen in Paris. Am Ende der 1920er Jahre verlegte er seinen ständigen Wohnsitz endgültig nach Frankreich, wo er 1943 verstarb.47 I. V. Emel’janov gelang 1927 die Ausreise in die USA. Als visiting professor leitete er den Lehrstuhl für Agrarökonomie an der Universität Rutgers. Nachdem er im Zuge einer Mittelkürzung im Jahre 1933 entlassen wurde, übernahm er verschiedene Tätigkeiten in amerikanischen Regierungsinstitutionen. 1945 starb Emel’janov in Washington.48 V. A. Kosinskij, der zuvor an der Juris­tischen Fakultät der Prager Universität unterrichtet hatte, erhielt 1928 offensichtlich das Angebot, 42 Chinyayeva, Russians, S. 62f.; Telycin, „Pervyj i edinstvennyj“, S. 189. Nach Angaben Telycins hat das Institut seit 1928 faktisch nicht mehr existiert. Aus den Briefen, die Brunst am Ende der 1920er Jahre an Emel’janov richtete, geht jedoch hervor, dass das Institut, wenn auch in stark reduzierter Form, bis zu Beginn der 1930er Jahre fortbestand. 43 Bačurina, Ėkonomičeskoe nasledie, S. 56; Andreyev; Savický, Russia Abroad, S. 109f.; Raeff, Russia Abroad, S. 63. 44 Bereits 1925 hatte Brunst die Chancen von Einwanderern in Argentinien und Brasilien als aus­ gesprochen günstig bewertet. Vgl. Brunst, Argentinija. 45 Brunst an Emel’janov, Hoover Institution Archives, Ivan V. Emel’ianov Papers, Box 2, Folder 5, Bl. 7 – 20. 46 Totomianc, Iz moich vospominanij, S. 195. 47 Zur Ancyferovs Tätigkeit in Paris siehe Telycin, Ancyferov, S. 175f. 48 Zu den Biographien A. N. Ancyferovs und I. V. Emel’janov siehe Sobolev, Kooperacija, S. 309 – 314, 319 – 324. Zu Emeljanovs Laufbahn in den USA siehe Hoover Institution Archives, Ivan V. ­Emel’ianov Papers, Box 1, Folder 5, Dokumente 6.2 – 6.3.

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eine Professur in Tartu anzutreten.49 Diese Beispiele sind symptomatisch für den Umbruch in der russischen Emigrantengemeinde: Die Anstrengungen der Emigranten richteten sich nun nicht mehr auf die Konservierung ihrer früheren Kontakte im Ausland. Vielmehr versuchten sie auf individueller Ebene, ihre Beziehungen zu internationalen Kontaktpartnern zu verstetigen. Die Suche nach einem dauerhaften Auskommen im Ausland war allerdings nicht die einzige Reaktion der Emigranten auf die Konsolidierung der ­sowjetischen Herrschaft. Zwar teilte die Mehrheit der aus Russland stammenden Agrar­experten und Ökonomen den „Negativ-Konsens des Antibolschewismus“50 der Emigration. Für einige von ihnen wurde die Rückkehr in ihr Heimatland jedoch gerade in dem Moment zu einer realen Option, in dem sich eine Konsolidierung der dortigen Lebens- und Herrschaftsverhältnisse abzeichnete. Der bekannteste Vertreter der so g ­ enannten „Rückkehrwilligen“ (vozvraščency) war A. V. Pešechonov, dessen Broschüre „Warum ich nicht emigriert bin?“51 aufgrund ihrer konzi­lianten Haltung gegenüber den Bolschewiki einst einen Skandal in der russischen Emigranten­ gemeinde ausgelöst hatte. Nachdem er sich mehrere Jahre vergeblich um die Erlaubnis zur Rückkehr in die Sowjetunion bemüht hatte, trat der Statistiker 1927 eine Anstellung als Wirtschaftsberater der sowjetischen Behörden im Baltikum an. Zwar konnte Pešechonov in den späten 1920er Jahren einige Male seinen Urlaub in der ­Sowjetunion verbringen. Eine dauerhafte Rückkehr blieb ihm jedoch Zeit seines Lebens verwehrt.52 Leichter gestaltete sich die Situation für die Agrarökonomen N. P. Makarov und A. N. Čelincev, die offiziell zur Rückkehr in die Sowjetunion aufgefordert worden waren und seit 1924 bzw. 1925 für den Narkomzem tätig waren.53 Auch E. D. Kuskova und S. N. Prokopovič spielten mit dem Gedanken an eine Rückkehr in das sowjetische Russland. B. D. Bruckus, mit dem sie derartige Überlegungen diskutiert hatten, machte den beiden in seinen Briefen regelmäßig Hoffnung.54 Es ist unklar, ob das Ehepaar konkrete Schritte unternahm, um eine Rückreise in die Wege zu leiten. Immerhin stand Prokopovič am Ende der 1920er Jahre mit einflussreichen Vertretern der sowjetischen Bürokratie in Verbindung. 1930 erschien in der Sowjetunion eine Monographie, in der sich Prokopovič mit 49 Brunst an Emel’janov [28. Juli 1928], Hoover Institution Archives, Ivan V. Emel’ianov Papers, Box 2, Folder 5, Bl. 10. 50 Schlögel, Einführung, S. 13. 51 Pešechonov, Počemu ja ne ėmigriroval? 52 Protasova, Pešechonov, S. 202 – 205. A. F. Pešechonova an Kuskova [28. November 1930], GARF f. 5865, op. 1, d. 388, l. 5. 53 Zur Anwerbung Makarovs und Čelincevs durch den Narkomzem siehe das Kapitel 3.3.1 in dieser Arbeit. Nach der Abreise Čelincevs wurde die von ihm geleitete Abteilung für Agrarökomie am Institut zur Erforschung Russlands in Prag geschlossen. „Chronika instituta“ (2), S. 417. 54 Rogalina, Čitaja pis’ma, S. 261.

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der Krisenanfälligkeit der kapitalistischen Staaten in Westeuropa auseinandersetzte. Das Vorwort verfasste S. G. Strumilin, einer der einflussreichsten Funktionäre des sowjetischen Planungsapparats. Zwar nannte Strumilin den wenige Jahre zuvor zwangsexilierten Ökonomen einen „Gefangenen der bourgeoisen Ideologie“55. Dass Prokopovič sein Buch überhaupt in der Sowjetunion veröffentlichen konnte und Strumilin dieses als wertvollen Beitrag zur Analyse kapitalistischer Wirtschafts­ systeme würdigte, deutet jedoch darauf hin, dass beide Seiten eine Zusammenarbeit nicht grundsätzlich ausschlossen. Auf die andauernde Unsicherheit in der Emigration reagierten die Anhänger des Agrarismus mit einer Doppelstrategie. Während sie mit der Gründung von Insti­tuten und Zeitschriften versuchten, die „Welt von gestern“ für ein post­sowjetisches Russland zu bewahren, bauten sie zugleich die Kontakte zu Wissen­schaftlern und Intellektuellen aus, die sie bei der längerfristigen Etablierung im Ausland unterstützten. Am Ende der 1920er Jahre zeigte das Netzwerk der Agrar­experten und Genossenschaftsaktivisten in der Emigration deutliche Auflösungserscheinungen. Mit der Konsolidierung der bolschewistischen Herrschaft und der Etablierung der Sowjetunion im internationalen Staatensystem verschlechterten sich die Bedingungen ihrer beruflichen Kooperation. Aus der Sicht deutscher Außenpolitiker stellten die Emigranten am Ende der 1920er Jahre einen potenziellen Störfaktor der internationalen Beziehungen dar. In der Tschechoslowakei, wo man die Emigranten anfangs als Führungseliten eines künftigen Russlands umschmeichelt hatte, wurden diese nicht zuletzt aufgrund des angespannten Staatshaushaltes am Ende des Jahrzehnts zu einer innen­politischen Last. Hinter der Auflösung des Emigrantennetzwerks standen jedoch nicht nur strukturelle Veränderungen. Mit dem Ende der Hoffnung auf einen baldigen politischen Umbruch verloren die Emigranten die ideologische Grundlage ihrer Koope­ration. Am Ende der 1920er Jahre loteten sie daher die Möglichkeiten aus, um als Einzelpersonen entweder dauerhaft im Ausland Fuß zu fassen, oder aber sich mit den Machthabern in Russland zu arrangieren. Zwar sollten einige von ihnen bis zum Ende ihres Lebens von einer bäuerlichen Agrarmodernisierung und einer Rückkehr nach Russland träumen. Als konkretes Projekt zur Modernisierung des russischen Dorfes gehörte der Agrarismus seit den späten 1920er Jahren jedoch zur „Welt von gestern“.

4.1.2  Divergierende Horizonte In den 1920er Jahren waren die Zentren der russischen Emigration Kontaktzonen, in denen nicht nur Angehörige der Emigrantengemeinde und die Bewohner ihrer

55 Strumilin, Predislovie, in: Prokopovič, Narodnyj dochod, S. 3.

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Gastländer, sondern auch Emigranten und Reisende aus dem sowjetischen Russland einander begegneten. Dass Russland nur allmählich aus dem unmittelbaren Wahrnehmungshorizont der Emigranten verschwand, war daher nicht nur eine Folge dessen, dass diese ein baldiges Ende der bolschewistischen Herrschaft erwarteten bzw. einige von ihnen nach dem Übergang zur NĖP über ein Arrangement mit den neuen Machthabern nachdachten. Hinzu kam, dass sie weiterhin in Verbindung mit ihren früheren Bekannten und Kollegen im sowjetischen Russland standen. Russland blieb Teil des lebenswetlichen Horizonts und diente den Emigranten als intellektuelles Referenzsystem, bis die persönlichen Verbindungen am Ende des Jahrzehnts verloren gingen und die Emigranten ihr Herkunftsland nur noch aus der Ferne erlebten. Ermöglicht wurden diese Kontakte durch das ausgeprägte sowjetische Dienst­ reisewesen in den 1920er Jahren. Während ihrer komandirovki nahmen die Agrar­ experten aus der Sowjetunion regelmäßig Verbindung zu ihren Freunden und ­Kollegen im Ausland auf. A. V. Čajanov stand während seiner fast zweijährigen Dienstreise zu Beginn der 1920er Jahre regelmäßig mit S. N. Prokopovič und ­dessen Frau E. D. Kuskova in Kontakt. Auch seine nächste Auslandsreise, die ihn Ende 1927 nach Frankreich und in die Schweiz führte, nutzte der Ökonom, um Verbindung zu den Prokopovičs aufzunehmen.56 Während seiner ersten Auslandsreise ergriff Čajanov darüber hinaus die Gelegenheit, um die Beziehung zu seinem langjährigen Freund N. P. Makarov, der im Anschluss an seine Reise in den Vereinigten Staaten zu Beginn der 1920er Jahre in Europa lebte, wiederherzustellen.57 Auch N. D. Kondrat’ev setzte sich während seiner Dienstreise mit Freunden und Kollegen, die inzwischen im Ausland lebten, in Verbindung. Während seines mehrmonatigen Aufenthalts in London stellte er im Herbst 1924 brieflichen Kontakt zu Prokopovič her.58 Ende 1924 war der Ökonom dann für mehrere Wochen bei seinem Jugendfreund P. A. Sorokin in Minnesota zu Besuch, wo Sorokin, der ebenso wie Prokopovič 1922 ausgewiesen worden war, nach einem kurzen Aufenthalt in Prag eine Lehrtätigkeit an der Universität Minneapolis aufgenommen hatte.59 A. N. Minin, Kommilitone Čajanovs am Moskauer Landwirtschaftlichen Institut und in den 1920er Jahren 56 Siehe die Briefe Čajanovs an Prokopovič und Kuskova aus den 1920er Jahren: Čajanov, Čajanov, S. 200 – 214. Während der zweiten Reise stand O. Ė. Čajanova brieflich mit Kuskova und ­Prokopovič in Verbindung. Offensichtlich planten die Ehepaare ein Wiedersehen. Ob dieses tatsächlich stattfand, lässt sich nicht ermitteln. Čajanova an Kuskova und Prokopovič [Ende 1927/Anfang 1928], GARF f. 5865, op. 1, d. 549, l. 1 – 5. 57 Hinweise auf Kontakte zwischen Čajanov und Makarov enthalten Briefe Čajanovs und seiner Frau. Čajanova an Kuskova [24.5.1923], GARF f. 5865, op. 1, d. 549, l. 5. Čajanov and Prokopovič [ohne Datierung], GARF f. 5902, op. 1, d. 248, l. 5. 58 Kondrat’ev an Prokopovič und Kukova [1924], GARF f. 5865, op. 1, d. 235, l. 1. 59 Siehe das Foto, das Kondrat’ev und Sorokin mit ihren Ehefrauen in den USA zeigt.

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N. P. Makarov (zweiter v. R.) mit amerikanischen Kollegen (1922)

Professor am Landwirtschaftlichen Institut in Voronež, war wieder­holt in Prag zu Gast, wo er S. N. Prokopovič und den Agronomen V. E. Brunst vom Russischen Institut für Landwirtschaftliches Genossenschaftswesen aufsuchte. Brunst wiederum traf seinen ehemaligen Kollegen, den Moskauer Agronomen V. P. Kočetkov, als dieser mit einer Gruppe von Agrarwissenschaftlern unter der Leitung des Moskauer Agrochemikers D. N. Prjanišnikov in Deutschland unterwegs war.60 Ihre Begegnungen wurden davon überschattet, dass die Besucher aus dem sowjetischen Russland und ihre ehemaligen Kollegen formal betrachtet in ein­ander feindlich gesonnenen Welten lebten: Während die Reisenden aufgrund ihrer Anstellung im sowjetischen Staatsdienst der politischen Führung in Moskau zu Loyalität verpflichtet waren, machten viele der emigrierten oder zwangsexilierten Agrarexperten aus ihrer Ablehnung gegenüber den Bolschewiki keinen Hehl. Um den Besuchern keine Konflikte mit den sowjetischen Behörden zu bereiten, bemühten sich die alten Bekannten daher darum, ihre Verbindungen nicht öffentlich zur Schau zu stellen. Als Čajanov Ende 1922 von Prokopovič das Angebot erhielt, sich an der Herausgabe

60 Dies erwähnt Brunst in seinen Briefen an den 1927 aus Prag nach Amerika ausgereisten Genossen­ schaftsexperten Emel’janov. Hoover Institution Archives, Nikolay V. Emel’janov Papers, Box 2, Folder 5, Bl. 2, 3, 11.

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Kontexte des Erinnerns und Vergessens Wiedersehen: N. D. ­ ondrat’ev (l.) und P. K A. Sorokin mit ihren Ehefrauen in den USA (1924)

einer gemeinsamen Zeitschrift zu beteiligen,61 reagierte er mit Vorsicht. Er würde das Erscheinen der Zeitschrift in jeder Hinsicht begrüßen, so Čajanov in einem Brief an Prokopovič, und sei auch gern bereit, sich zu beteiligen. Er halte es jedoch nicht für sinnvoll, wenn er selbst oder Makarov, den Prokopovič offensichtlich ebenfalls hinzuziehen wollte, als Redaktionsmitglieder bekannt würden. Wenn sich Bruckus beteiligte, sei „ihre Strömung“ (naše tečenie) in der Zeitschrift hinreichend repräsentiert. Čajanov verbarg nicht, dass er mit seiner Absage möglichen Konflikten in Russland aus dem Wege gehen wollte. Der Ökonom wusste, dass führende Bolschewiki seine wirtschafts- und agrarpolitischen Ansichten unterstützten, fürchtete allerdings die Willkür der sowjetischen Sicherheitsorgane: „Ich möchte mir nach meiner Rückkehr nach Moskau keine zusätzlichen Schwierigkeiten bei meinen

61 Hier ging es offensichtlich um die Zeitschrift „Wirtschaftsbote“ (Ėkonomičeskij vestnik), von der letztlich nur zwei Ausgaben erschienen.

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Gesprächen mit der Lubjanka einhandeln. Es versteht sich von selbst, dass für Sie, mich, Rykov, Teodorovič die Beteiligung an der Redaktion einer Wirtschaftszeitschrift kein Verbrechen darstellt, aber der durchschnittliche Tschekist kann kaum zwischen Politik und Wirtschaft unterscheiden.“62 Auch Kondrat’ev und Sorokin gaben sich Mühe, ihr Wiedersehen zu verbergen. Ende 1924 wandte sich Sorokin in einem Brief an den Leiter des Vasser College in der Nähe von New York, wo er nach seiner Ankunft in den USA Englischkurse besucht hatte. In seinem Schreiben bat Sorokin mit Nachdruck, man möge den geplanten Besuch Kondrat’evs geheim halten, um diesem keine Probleme im sowjetischen Russland zu bereiten. Nur vertrauenswürdige Personen dürften von Kondrat’evs Aufenthalt erfahren.63 Mitunter brachten die Besucher aus Moskau bei diesen Begegnungen zur S ­ prache, was ihnen im sowjetischen Russland missfiel. Nachdem Anfang 1923 in Heidelberg ihr Sohn geboren war, dachten die Čajanovs mit Unbehagen an ihre bevorstehende Heimreise nach Moskau. Während Čajanov versuchte, mit Hilfe seiner Verbindungen in Moskau eine angemessen große Wohnung auf dem Gelände der Petrovka-Akademie zu erhalten,64 schrieb seine Frau an E. D. Kuskova, dass sie „mit Grauen“ an ihre Rückkehr denke. Sorge bereitete ihr nicht nur, dass Kinder in Russland deutlich schlechtere Lebensbedingungen hätten als ihre Altersgenossen in Deutschland oder England. Auch die politische Kultur in Moskau erschreckte sie: „[…] in der letzten Zeit konnten wir die Izvestija bekommen. Es wird einem ganz schlecht, wenn man das liest.“65 Ein ähnlicher Verdruss über die Lage in Russland klingt in einem Brief an, den Kondrat’ev während seines Aufenthalts in West­europa an Prokopovič schrieb. Kondrat’ev erwähnte nicht nur, dass ihm die Reise im Vorfeld viele Unannehmlichkeiten bereitet hatte. Aus Sicht des Ökonomen, für den die komandirovka die erste Auslandsreise seines Lebens überhaupt war, schnitten Deutschland und England im Vergleich mit dem sowjetischen Russland deutlich besser ab. „[…] nach dem, was wir durchgemacht haben, hinterlässt das alles hier einen ausgesprochen starken Eindruck, angefangen von der materiellen Kultur über die Bedingungen des sozialen und politischen Lebens bis hin zum Alltag.“66 ­Der­artige Stimmungsbilder bestätigten die in Emigrantenkreisen verbreiteten negativen Vorstellungen über das sowjetische Russland. Im Anschluss an eine Begegnung mit einer Gruppe sowjetischer Agronomen war Brunst davon überzeugt, dass in Russland „tödliche Umstände“ (ubijstvennye porjadki) herrschten. Nachdem er auf die Frage, ob denn die großen wissenschaftlichen Errungenschaften der Sowjetunion 62 63 64 65 66

Čajanov an Prokopovič [3. Januar 1923], GARF f. 5902, op. 1, d. 248, l. 1. Dojkov, Sorokin, S. 72. Čajanov an Klepikov [Anfang 1923], in: Čajanov, Čajanov, S. 225, 230. Čajanova an Kuskova [24. März 1923], GARF f. 5865, op. 1, d. 549, l. 5. Kondrat’ev an Prokopovič [21. September 1924], GARF f. 5865, op. 1, d. 235, l. 1.

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überhaupt zur Anwendung kämen und ob die agronomischen Organisationen richtig funktionierten, eine negative Anwort erhalten hatte, stand für Brunst fest, dass eine baldige Verbesserung der dortigen Lage nicht zu erwarten wäre; dort sei alles „mit bürokratischen Spinnweben umgarnt“. Ein Ende des Emigrantenlebens war für den Agronomen nicht in Sicht: „Jeder muss versuchen, irgendwo unterzukommen. Auf eine Rückkehr kann man nicht mehr setzen.“67 Den Emigranten blieb nicht verborgen, dass sich die Probleme ihrer früheren Freunde und Kollegen nicht nur auf die Gestaltung des Alltags in der Sowjetunion beschränkten. Besorgt verfolgten sie, wie sich der gesellschaftliche und beruf­liche Handlungsspielraum von parteilosen Experten am Ende der 1920er Jahre ver­ ringerte. Im März 1928 machte ein Artikel im „Bulletin“ von Prokopovičs „Ökonomischem Kabinett“ auf die überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit unter Moskauer Intellektuellen aufmerksam. Die Botschaft des Artikels war eindeutig: In der Sowjetunion hatten Akademiker einen zunehmend schweren Stand.68 Dass dieser soziale Wandel Teil der systematischen Ausgrenzung der vorrevolutionären Bildungs­eliten war, realisierten die Emigranten spätestens im Jahr 1930. Im Januar riet ­Bruckus seinen Freunden Prokopovič und Kuskova, angesichts der „Hetze gegen die i­ ntelligencija“ von dem Gedanken an eine Rückkehr in die Sowjetunion Abstand zu nehmen.69 Wenig später berichtete Brunst in einem Brief an Emel’janov, dass einige ihm persönlich bekannte Professoren in der Ukraine der „Schädlingstätigkeit“ angeklagt worden seien. Im gleichen Zusammenhang erwähnte Brunst, dass der Agrarwissen­schaftler Minin in Voronež seine Anstellung als Professor verloren hatte. Der Agronom machte sich Sorgen, dass Minin die Kontakte zu den russischen Emigranten in Prag geschadet haben könnten.70 Zum selben Zeitpunkt unternahm Sorokin angestrengte Versuche, um Kondrat’ev die Ausreise in die USA zu ermöglichen. Kondrat’ev hatte seinen Freund offensichtlich vor längerer Zeit über seine Ausreisepläne informiert. Bereits im Januar 1929 hatte Sorokin den amerikanischen Russlandexperten Samuel N. Harper 71 gebeten, bei anstehenden Personalentscheidungen an seiner Hochschule immer eine Kandidatur Kondrat’evs in Betracht zu ziehen.72 In einem Brief vom 8. März

67 Brunst an Emel’janov [5. August, wahrscheinlich 1928], Hoover Institution Archives. Ivan V. Emel’ianov Papers, Box 2, Folder 5, Bl. 3. 68 „Bezrabotnaja intelligencija“, S. 21 – 25. 69 Bruckus an Kuskova [12. Januar 1930], in: Rogalina, Čitaja pis’ma, S. 261. 70 Brunst an Emel’janov [9. März 1930], Hoover Institution Archives, Ivan V. Emel’ianov Papers, Box 2, Folder 5, Dokument 17. 71 Harper und Sorokin unterhielten in den 1920er Jahren eine regelmäßige Korrespondenz. Dojkov, Ėpistoljarnoe nasledie. 72 Dojkov, Sorokin, S. 29.

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1930 drängte Sorokin, Harper möge Kondrat’ev eine Einladung an die Universität Chicago besorgen. Um die Dringlichkeit dieses Anliegens zu unterstreichen, zitierte Sorokin Zeilen aus einem Brief seines Freundes, der illegal aus der Sowjetunion ausgeführt worden war: „Jetzt haben sie mir jegliche Arbeit genommen. Unter diesen Umständen bedeutet das den Hungertod. Wenn ich mich nicht selbst ergebe, wird es unermeßlich schwieriger. Was passieren wird, weiß ich nicht, aber es kann alles Mögliche passieren, … wirklich alles Mögliche. Ich hoffe, dass Du mich verstehst, alles stehen und liegen lässt und alles Menschenmögliche unternimmst. Es geht hier buchstäblich um meine physische und psychische Rettung.“73

Während Sorokin durch diese Zeilen derart in Sorge war, dass er die Universitäts­ leitung unmittelbar nach Erhalt des Briefes drängte, Kondrat’ev per Telegramm in die Vereinigten Staaten einzuladen, sah Harper keinen unmittelbaren Handlungsbedarf. Harper, einst ein enthusiastischer Anhänger des russischen Liberalismus, war in den 1920er Jahren zu einem Bewunderer der Bolschewiki geworden. Die Sowjetunion galt ihm als Musterbeispiel eines modernen Staates, in dem Rationalität, Kontrolle und Disziplin herrschten.74 Zwar realisierte er, dass die s­ ­­owjetische Modernisierung mit der Einschränkung politischer Partizipation einherging. Sorokins Warnungen hielt Harper allerdings für übertrieben.75 Doch Sorokin sollte Recht behalten. Harper, der sich 1930 für einige Monate in der Sowjetunion aufhielt, wurde buchstäblich Zeuge von Kondrat’evs Verhaftung.76 Harpers zögerliche Reaktion auf die Nachrichten aus der Sowjetunion war sympto­ matisch. Noch bevor die Weltwirtschaftskrise den Glauben an die Über­legenheit der Marktwirtschaft erschütterte, stand die Sowjetunion unter Intellek­tuellen aus Westeuropa und den USA hoch im Kurs. Selbst Kritikern der s­ ozialistischen Ideologie galt das Land als Beispiel einer mustergültig organisierten gesellschaftlichen Ordnung. Dass deren Errichtung mit Gewaltexzessen gegen die Bevölkerung, chronischen Versorgungsengpässen und Hunger einherging, war für viele internationale Beobachter von zweitrangiger Bedeutung.77 So rief auch die Verhaftung sowjetischer Agrarwissenschaftler und Ökonomen im Ausland nur ein verhaltenes Echo hervor. Als der britische Agrarökonom A. W. Ashby auf der Internationalen Konferenz der

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Zitiert nach Dojkov, Sorokin, S. 29f. Engerman, Modernization, S. 129 – 132. Dojkov, Sorokin, S. 31. Harper, Russia, S. 170f. Engerman, Modernization, Kap. 8, 9; Hollander, Political Pilgrims, Kap. 2, 3.

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Agrarökonomen im August 193078 die sowjetische Delegation aufforderte, sich zu den Verhaftungen Čajanovs und Kondrat’evs zu äußern, gaben diese an, nicht über die Vorgänge im Bilde zu sein.79 Zwar versuchten einige Teilnehmer der Konferenz, die Anwesenden zur Verabschiedung einer Resolution gegen die Vorfälle in der Sowjet­union zu bewegen. Ihr Ersuchen fand jedoch keine Unterstützung. Auf Druck der englischen Delegation, die über­wiegend aus Mitgliedern der Labour-Partei bestand, wurde ein entsprechender Vorschlag abgelehnt.80 Auch die Organisatoren der Veranstaltung zeigten kein Interesse an einer entsprechenden Stellungnahme. Zur Erleichterung der sowjetischen Konferenzteilnehmer kamen die Verhaftungen nicht wieder zur ­Sprache. Im Rahmen eines informellen Frühstücks, zu dem die britische Delegation die ­sowjetischen Agrarwissenschaftler einlud, drückte der britische Agrarökonom Elmhirst den Gästen aus Moskau seine Freude über ihre Teilnahme und seinen Wunsch nach einer Fortsetzung ihrer Kooperation aus. Ein Mitglied der britischen Delegation lud die Teilnehmenden aus Moskau anschließend sogar zu einem Vortrag im britischen Parlament ein.81 Nachdem die Pravda Anfang September 1930 über die Verhaftung ­Kondrat’evs, Čajanovs, Sadyrins und weiterer Agrar- und Wirtschaftswissenschaftler berichtet hatte, versuchten Bruckus und Prokopovič, die europäische Öffentlichkeit auf die Vorgänge in der Sowjetunion aufmerksam zu machen. Während ­Prokopovič die Vorgänge in einem Artikel über die Agrarpolitik der sowjetischen Regierung verurteilte,82 setzte sich Bruckus gegenüber Max Sering und Otto ­Auhagen für eine öffentliche Protestaktion ein. Auhagen versprach umgehend, eine gemeinsame Erklärung deutscher Univer­sitäten auf den Weg zu bringen. Als Erstes wollte er dafür den Rektor der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin, Friedrich Aeroboe, gewinnen. Zugleich hoffte er, das Auswärtige Amt zu einer offenen Stellungnahme zu bewegen.83 Auch Max Sering wurde sofort aktiv. Binnen kurzer Zeit gelang es ihm, eine Protesterklärung gegen die Verhaftungen und die fast zeitgleich erfolgte

78 Zu dieser Konferenz waren ursprünglich auch N. D. Kondrat’ev und N. P. Makarov eingeladen worden. 79 Hiervor berichtete ein Teilnehmer der sowjetischen Delegation im Anschluss an die Tagung. „Der internationale Kongress der Agrarökonomen“, ARAN, f. 528, op. 3, d. 33, l. 2f. Es ist nicht auszuschließen, dass der sowjetischen Delegation tatsächlich noch nichts über die Verhaftungen bekannt war. Die offizielle Mitteilung in der Pravda erfolgte erst Anfang September. 80 “Farm Experts hit Soviet ‘Fact Hiding’”, New York Times, 27. August 1930, S. 14. Im Artikel der New York Times ist allerdings nur die Rede von Kondrat’ev und einem weiteren, namentlich nicht genannten Agrarexperten. 81 „Der internationale Kongress der Agrarökonomen“, ARAN, f. 528, op. 3, d. 33, l. 3. 82 „Bor’ba za chleb“, S. 15 – 17. 83 Dies geht hervor aus zwei Briefen, die Bruckus am 15. und 18. September 1930 an Prokopovič verfasste. Rogalina, Čitaja pis’ma, S. 262f.

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standrechtliche Erschießung von 48 sowjetischen Wissenschaftlern, die der Sabotage im Lebensmittelwesen bezichtigt worden waren, zu veröffentlichen. Der Erklärung schlossen sich hoch angesehene Vertreter des wissenschaftlichen, geistigen und kulturellen Lebens in Deutschland an – unter den Unterzeichnern befanden sich Albert Einstein, Wilhelm Furtwängler, Heinrich Mann, Arnold Zweig, Fritz Haber, Otto Hahn, Max Planck, Max Liebermann, Friedrich Meinecke und ­Hermann Oncken.84 Sering und sein Mitarbeiter Friedrich Schlömer, der einst Čajanovs „Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft“ ins Deutsche übersetzt hatte, versuchten außerdem, die deutschen Behörden zur Unterstützung der inhaftierten sowjetischen Wissenschaftler zu überreden. Allem Anschein nach hofften die beiden Agrarwissenschaftler, die Reichsregierung könnte ihre sowjetischen ­Kollegen als politische Flüchtlinge nach Deutschland holen.85 Die Bemühungen, deutsche Regierungsinstitutionen zur Unterstützung der Experten zu bewegen, liefen jedoch ebenso ins Leere wie der Versuch, einen breiten öffentlichen Protest zu organisieren. Trotz der alarmierenden Nachrichten über die Repressionen von Wissenschaftlern und Intellektuellen sowie über den Schau­prozess gegen die Mitglieder der vermeintlichen „Industriepartei“ hielt das Auswärtige Amt an seiner konzilianten außenpolitischen Linie gegenüber der Sowjetunion fest.86 Zugleich löste der von Sering initiierte Protestaufruf in Deutschland eine Welle der Empörung aus. Vertreter der Weimarer Linken reagierten mit harscher Kritik darauf, dass die Unterzeichner die Hinrichtung der 48 sowjetischen Spezialisten verurteilten, ohne deren mögliche Schuld überhaupt in Betracht gezogen zu haben. Die „Gesellschaft der Freunde des Neuen Russlands“ schickte Sering die in der sowjetischen Presse veröffentlichten Geständnisse der vermeintlichen Saboteure.87 Führende deutsche Linksintellektuelle veranstalteten einen Diskussionsabend, an dem sie ihre Loyalität gegenüber der politischen Führung in Moskau kundtaten und, so titelte ein Bericht über die Veranstaltung, „mit dem Märchen vom r­ussischen Blutterror [aufräumten]“88. Arnold Zweig, einer der Mitunterzeichner des ­Seringschen Protestaufrufs,

84 Zum öffentlichen Protestschreiben Serings siehe Mick, Propaganda, S. 331f. Eine Abschrift des Protest­ briefs sowie eine Liste aller Unterzeichner befinden sich im GARF f. 10017, op. 1, d. 43, l. 1. 85 Im März schrieb Schlömer an Prokopovič, er vertrete den erkrankten Sering derzeit bei den Verhandlungen darüber, was die Prager eine „Russische Aktion“ nennen würden. Schlömer an ­Prokopovič [31. März 1931], GARF f. 5902, op. 1, d. 255, l. 29. 86 Mick, Propaganda, S. 333 – 338. 87 Entwurf eines Schreibens von Sering an die Gesellschaft der Freunde des Neuen Rußlands vom 25. Oktober 1930, GARF f. 10017, op. 1, d. 44, l. 1. Es ist nicht auszuschließen, dass Bruckus das Schreiben für Sering entworfen hat. 88 Zeitungsartikel „Münzenberg gegen die Heuchler. Öffentliche Diskussion räumt mit dem Märchen vom russischen Blutterror auf“ [ohne Datierung und Angabe der Zeitschrift], GARF f. 10017, op. 1, d. 49, l. 1.

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ließ sich unter dem wachsenden öffentlichen Druck zu der Aussage hinreißen, dass er die Schuld der Hingerichteten „für gegeben“ hielt,89 was der Publizist Heinz Pol wiederum mit beißendem Spott quittierte. Es leuchte ihm nicht ein, dass Zweig einen Protestaufruf unterzeichnet hatte, „weil die r­ ussische Regierung achtundvierzig Saboteure statt mit zehn Jahren Kerker mit dem Tod bestrafte […]“. Für Pol handelte es sich bei den Erschießungen um eine Lappalie: „[…] was für ein Paradies muß doch dieses Deutschland sein, daß seine Repräsentanten gegen die Barbarei eines fremden Landes in so feierlicher Weise und mit einem solchen Aufwand von Gewicht protestieren. Das Hemd ist uns näher als der Rock, sehr verehrter Herr Arnold Zweig […].“90 Infolge der allgemeinen Aufregung nahm Albert Einstein im Herbst 1931 seine Unterschrift sogar zurück.91 In einer privaten Stellungnahme stellte Einstein die Repressionen gegen sowjetische Intellektuelle als Kollateralschaden dar, der an­gesichts der ehrenwerten Ziele der sowjetischen Führung nicht überbewertet werden dürfe: „Es kann keine Rede davon sein, dass ich es billige, wenn Menschen aufgrund eines unkontrollierbaren Verfahrens getötet werden. Ich bin überhaupt Gegner jedes Terror­ systems und es ist mir nie eingefallen, jene in Russland geübten Methoden zu billigen. Andererseits habe ich aber großen Respekt vor den hohen Zielen, die in Russland verfolgt werden, und vor dem hohen Idealismus, der diesem Beginnen die Kraft gibt. Es dürfte heute nur wenige Menschen geben, die nicht von der Ungerechtigkeit, ja Lebensunfähigkeit des gegenwärtigen wirtschaftlichen Systems überzeugt wären. Ist es da ein Wunder, wenn man dem einzigen ernsthaften Versuch, bessere Zustände herbeizuführen, mit großem Interesse und mit Sympathie gegenübersteht, auch wenn man im einzelnen Vieles, was geschieht, durchaus nicht billigen kann? Ist es angezeigt, einem solchem Sachverhalt gegenüber sich in keiner anderen Weise zu äußern, als durch einen Protest, wenn etwas geschieht, was man missbilligt? Muss dies die­ jenigen, die all ihre Kräfte ehrlich in den Dienst einer guten Sache gestellt haben, nicht verbittern? Muss nicht durch eine solche Stellungnahme eine Vergiftung der internationalen Atmosphäre herbeigeführt werden?“92

89 Bruckus verfasste daraufhin ein empörtes Schreiben an Zweig: „[…] mit welchen moralischen Recht glauben Sie die Beschuldigungen des OGPU gegen ihre Opfer öffentlich bestätigen und damit die ehrlichen Namen der Erschossenen bemakeln zu dürfen? Soviel müssen Sie doch über Sowjet­russland gewiss wissen, dass auch dort die Toten schweigen, und dass gerade dort sich keine Stimme zum Schutze der Ehre der Ermordeten erheben duerfe. Ja, im Gegenteil, die Sowjet­regierung hat Mittel in der Hand, sogar die nächsten Freunde der Ermordeten zu Beifallkundgebungen für die Tätigkeit der GPU zu zwingen.“ Bruckus an Zweig [17. November 1930], GARF f. 10017, op. 1, d. 30, l. 1. 90 Beitrag Pols in der „Weltbühne“, GARF f. 10017, op. 1, d. 52, l. 1. 91 Hierzu Scheideler, Einstein, S. 403. 92 Einstein an Joseph Buschansky [30. September 1931], GARF f. 10017, op. 1, d. 36, l. 1. Offensichtlich hat dieser eine Kopie des Briefes an Bruckus gesandt.

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Einsteins Bereitschaft, die Opfer der sowjetischen Modernisierung mit dem Hinweis auf die hohen Ideale der Bolschewiki zu rechtfertigen, bildete keine Ausnahme. Im Kontext der Weltwirtschaftskrise gehörte der Glaube, in der Sowjetunion werde eine rational organisierte, gerechte gesellschaftliche Ordnung errichtet, zum politischen Selbstverständnis vieler europäischer und amerikanischer Intellektueller. Das ­Er­starken faschistischer Bewegungen in Europa erhöhte in der zeitge­ nössischen Wahrnehmung die politische Attraktivität der Sowjetunion.93 Angesichts der wachsenden Faszination der internationalen Öffentlichkeit für die Sowjetunion verschwanden die Agrarexperten und Ökonomen, die im Verlauf der 1920er Jahre zu einem Teil der internationalen Expertengemeinschaft geworden waren, aus dem Blickfeld des Auslands. Das von Bruckus und Sering in Deutschland und Sorokin in den USA verfolgte Ansinnen, Wissenschaftler und Intellektuelle für die Anliegen der verfolgten Ökonomen zu mobilisieren, erwies sich daher als illusorisch. Sowohl in den Vereinigten Staaten, wo man im sowjetischen Modell Lösungen für die Probleme der eigenen in die Krise geratenen Gesellschaft suchte, als auch in Europa, wo die Kritik an der Sowjetunion leicht als ideologische Kurzsichtigkeit abgetan werden konnte, die der politischen Rechten in die Hände spielte, fehlte einem solchen Protest der gesellschaftliche Resonanzraum. Seit dem Beginn der 1930er Jahre befand sich die Sowjetunion außerhalb des unmittelbaren Wahrnehmungshorizonts der Emigranten. Die Informationskanäle, über die sie sich bislang ein Bild über die Lage in ihrem Heimatland gemacht hatten, waren zerstört. Die spärlichen Angaben zum Verbleib ihrer inhaftierten Freunde und Kollegen beruhten überwiegend auf Gerüchten. So schrieb Bruckus im Februar 1938 an Prokopovič, er habe von einem seiner Studenten gehört, N. N. Suchanov und N. P. Makarov lebten und arbeiteten in Moskau.94 Diese Angaben waren jedoch überholt bzw. falsch: Suchanov war bereits im September 1937 verhaftet worden, während Makarov erst 1955 die Erlaubnis erhalten sollte, wieder eine Arbeit in Moskau aufzunehmen.95 Auch in Amerika herrschte Ungewissheit über das Schicksal der sowjetischen Wirtschafts- und Agrarexperten. Als Sorokin zu Beginn der 1960er Jahre seine Memoiren verfasste, ging er davon aus, dass Kondrat’ev im Anschluss an seine Verhaftung nach Turkestan oder in die Mongolei verbannt worden und dort ums Leben gekommen war. Von der standrechtlichen

93 Zur positiven Wahrnehmung der Bolschewiki und des Fünfjahresplans durch Weimarer Intellek­ tuelle siehe Mick, Propaganda, insb. S. 174 – 178, 222 – 229. Dass der Aufstieg des Faschismus die Sowjetunionfaszination europäischer Intellektueller beflügelte, betont auch Hollander, Pilgrims, S. 79f. 94 Bruckus an Prokopovič [5. Februar 1938], in: Rogalina, Čitaja pis’ma, S. 273. 95 „Žertvy političeskogo terrora v SSSR“. Zu Makarovs späterer Karriere siehe das Kapitel 4.2.3 „Einsame Ankunft im Sozialismus“ in dieser Arbeit.

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Hinrichtung seines engsten Jugendfreundes sollte er nie erfahren.96 Der Agrarökonom Naum Jasny, der während des Bürgerkriegs aus Russland emigriert war und in den 1970er Jahren eine knappe Darstellung über die Tätigkeit von Ökonomen in der frühen Sowjetunion verfasste, konnte über deren Verbleib nach 1931 nur mutmaßen. So hieß es in Jasnys Buch, Čajanov und Kondrat’ev seien möglicherweise 1937 hingerichtet worden. Suchanov hatte einem Gerücht zufolge in der Verbannung Selbstmord verübt. Von Kafengauz nahm Jasny an, dieser sei nach 1930 ins Exil gegangen.97 Dass keine dieser Vermutungen der Wahrheit entsprach,98 ist ein deutliches Indiz dafür, dass die Emigranten ihre persönlichen Verbindungen in das Land ihrer Herkunft verloren hatten. Für die emigrierten oder zwangsexilierten Anhänger des Agrarismus existierte Russland fortan nur noch als ein abstraktes System, dem sie sich allenfalls als Sowjetologen widmeten.

4.1.3  Neue Wege Dass sich die Bindungen an die „Welt von gestern“ im Laufe der Jahre verloren, weil die Hoffnungen auf einen erneuten Umbruch in Russland schwanden und die Aufrechterhaltung persönlicher Kontakte in die Sowjetunion zunehmend schwieriger wurde, spiegelte auch die wissenschaftliche Tätigkeit der emigrierten oder zwangsexilierten Anhänger des Agrarismus. Mit der rückläufigen Finanzierung und letztlich der Schließung russischer Institutionen verschwanden die strukturellen Bedingungen, die zur Tradierung des Agrarismus-Paradigmas außerhalb Russlands beigetragen hatten. Wenn die Anhänger der Vision von der ländlichen Moderne im Ausland eine sichere berufliche Position oder ein stabiles Einkommen erlangen wollten, mussten sie sich seit den späten 1920er Jahren auf die thematischen Konjunkturen ihrer Disziplinen im Ausland einlassen. Nachdem sie einige Zeit in der Emigration gelebt hatten, nahmen viele Anhänger des Agrarismus daher auch als Intellektuelle Abschied von ihrem Herkunftsland. Dieser Wandel vollzog sich parallel zur Auflösung der Emigration im Sinne eines lebensweltlichen Zusammenhangs. I. V. Emel’janov, der sich in den ersten Jahren seiner Emigrationszeit auf theoretische Fragen des Genossenschaftswesens konzentriert hatte, musste nach seiner Auswanderung in die USA feststellen, dass seine Expertise dort wenig wert war. In den 1930er Jahren arbeitete er als Ökonom und Statistiker in verschiedenen amerikanischen Behörden. Als Wissenschaftler 96 Sorokin, Long journey, S. 233. 97 Jasny, Soviet Economists, S. 178, 184, 193, 203. 98 Die Einzelschicksale der Ökonomen sind Gegenstand des Abschnitts 4.2 „Ausgrenzung und ­Vereinzelung in der Sowjetunion“.

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trat er nicht mehr auf.99 Ähnlich stellte sich die Situation im Fall des aus Char’kov stammenden Professors für Politische Ökonomie A. N. Ancyferov dar. Ancyferov, der in der Emigration zunächst Neuauflagen einiger kleinerer Arbeiten zum ­russischen Genossenschaftswesen herausgebracht hatte, profitierte von dem Interesse, mit dem sich die Carnegie-Stiftung in den 1920er Jahren der Aufarbeitung des Ersten Weltkriegs widmete. Die von Ancyferov mitherausgebene Darstellung zur Geschichte der russischen Genossenschaftsbewegung während des Kriegs wurde in die mehrbändige Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Ersten Weltkriegs der Carnegie-­Stiftung aufgenommen.100 Nach der Auflösung des Russsischen Instituts für landwirtschaftliches Genossenschaftswesen in Prag und Ancyferovs Umzug nach Frankreich verwässerte sich sein wissenschaftliches Profil.101 Einzig V. F. Totomianc gelang es, bis zum Ende seines Lebens an seinem Spezialthema festzuhalten. Dank seiner zahlreichen Kontakte zu Vertretern der internationalen Genossenschaftsbewegung konnte er sowohl seine Schriften zum russischen Genossensschaftswesen als auch seine Memoiren in mehreren Ländern publizieren. Als besonders hilfreich er­­wiesen sich seine langjährigen Beziehungen zu Genossenschaftsaktivisten in Südost­europa, wo das Genossenschaftswesen in der Zwischenkriegszeit eine Blüte erlebte und Totomianc als Experte angesehen war. In Bulgarien, seit 1933 sein Lebensmittelpunkt, wurden auf die Initiative von Totomianc sogar einige russische und armenische Genossenschaften gegründet.102 Eine Ausnahme bildete Kondrat’evs 1922 aus Sowjetrussland ausgewiesener Freund Sorokin. Der Soziologe, der während seines kurzen Aufenthalts in Prag an der Gründung der Zeitschrift „Bäuerliches Russland“ (Krest’janskaja Rossija) mitgewirkt und Grundzüge einer Soziologie des Dorfes entworfen hatte,103 wurde nach seinem Umzug in die Vereinigten Staaten zu einem Pionier auf dem Gebiet der Agrarsoziologie. Gemeinsam mit dem amerikanischen Soziologen Carle C. ­Zimmermann veröffentlichte Sorokin im Jahr 1929 eine Einführung in die Soziologie der Stadt-Land-Beziehungen.104 Ihr Buch verankerte den Agrarismus in der amerikanischen Soziologie. Ausgehend von der essentialistischen Idee, Stadt und Land seien zwei gesellschaftliche Teilsysteme mit distinkten Merkmalen, stellten

99 Lebenslauf I. V. Emel’janovs, Hoover Institution Archives, Ivan V. Emel’ianov Papers, Box 1, Folder 4, Dokument 6.2. 100 Kayden; Antsiferov, Cooperative movement. 101 Telycin, Ancyferov, S. 175f. 102 Totomianc, Iz moich vospominanij, S. 205 – 209. 103 Sorokin, Gorod i derevnja; ders., Ideologija agrarizma. In diesen Arbeiten entwickelte Sorokin die Vision einer „Rurbanisierung“, d. h. einer Entwicklung, die die Vorteile von Städten (Bildungseinrichtungen, Technik etc.) mit denen der Dörfer (gesunde Lebensführung, Ruhe) verbinden würde. 104 Sorokin; Zimmermann, Principles.

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die Wissenschaftler das Leben auf dem Land als positive Alternative zu dem entfremdeten, atomisierten und materialistischen Leben in der Stadt dar. Wie dies ­Čajanov am Beginn der 1920er Jahre in seiner Utopie getan hatte, entwarfen Sorokin und Zimmermann eine gesellschaftliche Ordnung, in der das öffentliche Leben dezentral organisiert war und landwirtschaftliche Familienbetriebe mit modernster Technik wirtschafteten. Nach dem Erscheinen ihrer Monographie unterbreitete ihnen das Department of Agriculture das Angebot, eine Gesamtdarstellung über die Geschichte der Agrarsoziologie zu verfassen. In Kooperation mit einem Mitarbeiter des Ministeriums gaben Sorokin und Zimmermann zu Beginn der 1930er Jahre einen dreibändigen Überblick über die Entwicklung des agrarsoziologischen Denkens seit der Antike heraus.105 Das Werk, das neben Darstellungen über die Genese einzelner Themengebiete und Teilsdiziplinen eine Anthologie agrarsoziologischer Schlüsseltexte enthielt, war einer der wenigen Versuche, die russischen Debatten über die Perspektiven bäuerlicher Agrarstrukturen in den internationalen wissenschaft­lichen Diskurs zu integrieren. Nicht nur fanden hier Bruckus, Čelincev, Kosinskij, Pešechonov, Studenskij, Totomianc und Tugan-Baranovskij namentlich Erwähnung. Mit dem Abdruck längerer Auszüge aus dem Werk Čajanovs, Makarovs, ­Emel’janovs, Prokopovičs und Čuprovs ordneten die Herausgeber die genannten Personen zugleich in ein internationales Pantheon agrarischen Denkens ein.106 Dass das intellektuelle Erbe des russischen Agrarismus trotzdem über mehrere Jahrzehnte in Vergessenheit geriet, erklärt sich durch die thematischen ­Konjunkturen der internationalen Agrar- und Wirtschaftswissenschaften. Im Kontext der so ­genannten „farm crisis“ der späten 1920er Jahren erkannten Wissenschaftler und Journalisten aus den USA in der sowjetischen Kollektivwirtschaft den Prototyp des tayloristisch organisierten Agrarbetriebs. Die sowjetische Kollektivierung galt als zukunfts­fähiges Programm einer zügigen Transformation Russlands von einem rückständigen Agrar- zu einem modernen Industriestaat.107 Der Aufschwung der ökonomischen Stadientheorien nach dem Zweiten Weltkrieg stand einer Rezeption agrarischen Gedankenguts ebenfalls im Wege. Wenn Agrar- und Entwicklungsökonomen bäuerliche Wirtschaften nicht ganz ignorierten, stuften sie sie als eine P ­ roduktionsform traditioneller Gesellschaften ein, deren Verschwinden nur eine Frage der Zeit war.108 Hinzu kam, dass die Landwirtschaft in den Wirtschafts­wissenschaften als ein nachrangiges Problem galt. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und verstärkt im Kontext von Weltwirtschaftskrise und dem Beginn des ersten Fünfjahresplans in der Sowjetunion beschäftigten sich Ökonomen zunehmend mit planwirtschaftlichen 105 106 107 108

Sorokin, Journey, S. 222, 233f. Sorokin; Zimmermann; Galpin (Hg.), Source book. Fitzgerald, Blinded by Technology; Nikulin, „Ty teper’ v sovchoze“. Kopsidis, Agrarentwicklung, S. 41 – 55.

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Ordnungsvorstellungen. Die Idee einer Modernisierung ländlicher Regionen „von unten“, das heißt, durch Genossenschaften, Selbst­verwaltung und landwirtschaftliche Bildung, wie sie von den Vertretern des russischen Agrarismus entwickelt worden war, geriet daher in Vergessenheit. B. D. Bruckus vollzog den thematischen Umschwung in den internationalen Wirtschaftswissenschaften in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Der Ökonom, der während des Bürgerkriegs als vehementer Kritiker der neuen Machthaber a­ ufgetreten war, vertrat nach dem Beginn der NĖP die Auffassung, dass wirtschaftliches Wachstum und die Herrschaft der Bolschewiki einander nicht notwendigerweise ­ausschlossen, wenn diese von ihrem radikalen wirtschaftspolitischen Kurs abrückten.109 Der Ökonom reagierte mit Befremden darauf, dass sich die meisten Intellektuellen in der Emigration auf ihren beleidigten Antibolschewismus zurückzogen, ohne die Möglichkeit einer ökonomischen Erholung in Russland in Betracht zu ziehen.110 Als sich am Ende der 1920er Jahre die Wende zur forcierten ­Industrialisierung der Sowjetunion abzeichnete, vermutete der Ökonom, die Sowjetunion stehe kurz vor einem Kollaps: „Das System hat sich erschöpft. Wenn jetzt nicht ein scharfer, sehr scharfer Umbruch in der Politik passiert, wird alles zusammenbrechen.“111 Erneut posi­ tionierte sich Bruckus nun als Kritiker jeglicher Versuche, wirtschaftliches Handeln durch staatliche Regulierung zu beschränken. 1928 veröffentlichte er eine deutsche Fassung seiner Sozialismuskritik, die einst zum Anlass für seine Verhaftung und anschließende Ausweisung aus Russland geworden war. Bruckus hielt es nicht für nötig, neueres Zahlenmaterial aus der Sowjetunion zu ergänzen. Der Verweis auf die dortige Entwicklung diente ihm lediglich dazu, seinen zu Beginn der 1920er Jahre formulierten Zweifel an der ökonomischen Überlegenheit einer markt- und geldfreien Wirtschaftsordnung zu illustrieren: „Die russische Erfahrung veranschaulicht […] in der prägnantesten Weise unsere grundsätzliche Schlußfolgerung, dass das Prinzip des Sozialismus kein schöpferisches sei, dass es das Wirtschaftsleben der Gesellschaft nicht der Blüte, sondern der Zersetzung entgegenführt.“112 Nach dem Ende des ersten Fünfjahresplans sah sich Bruckus in seinem Urteil bestätigt. In einer 1932 in Deutschland herausgegebenen Schrift stellte er die Sowjetunion als Ideokratie dar, in der die Staatsgewalt alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens nach ideologischen Maßstäben geordnet hatte. Den Übergang zur Planwirtschaft wertete er nicht nur als Absage an jegliche wirtschaftliche Rationalität, sondern auch als Bruch mit den Errungenschaften der „abend­ländischen Kultur“113. 109 110 111 112 113

Bruckus, Ob ėvoljucii zemel’noj politiki. Bruckus an Prokopovič [8. November 1925], in: Rogalina, Čitaja pis’ma, S. 250. Bruckus an Prokopovič [28. Februar 1928], in: ebd, S. 252. Brutzkus, Lehren des Marxismus, S. 90. Brutzkus, Fünfjahresplan, S. 104.

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Die Kollektivierung bezeichnete er als „eine der grausamsten Katastrophen, (eine[s] der schauderhaftesten Verbrechen einer Regierung), die in der Weltgeschichte überhaupt verzeichnet sind“114. Bei den Vertretern des Neo­liberalismus stieß Bruckus’ Sicht auf offene Ohren. Für den späteren Nobelpreisträger Friedrich von Hayek, der 1935 ein Vorwort zur englischsprachigen Ausgabe von Bruckus’ sozialismuskritischen Texten verfasste, waren die Arbeiten seines russischen Kollegen ein Meilenstein: Während die meisten Autoren, die sich über den Sozialismus äußerten, ideologisch verblendet seien, liefere Bruckus eine nüchterne wissenschaftliche Analyse. Bruckus’ Arbeiten zählten daher zur „ersten Garde der wirklich wissenschaftlichen Literatur über das gegenwärtige Russland“115. Auch Prokopovič wandte sich im Ausland theoretischen Fragen der Wirtschaftsplanung zu. Sein Ansatz stand dem seines Freundes fast diametral gegenüber. Während Bruckus statistische Angaben zur sowjetischen Wirtschaftsentwicklung rein illustrativ verwandte, stellte Prokopovič die realwirtschaftliche Entwicklung der Sowjetunion an den Anfang seiner Analyse.116 Die Etablierung der Planwirtschaft, so Prokopovič, sei teuer erkauft worden. Die Qualität der Industrieproduktion befinde sich im freien Fall, das Wachstum der Industrie ginge nicht auf einen e­ ntsprechenden Anstieg der Produktivität zurück. Planwirtschaft und Kollektivierung hätten die Landwirtschaft über Jahre zurückgeworfen, so dass in Russland eine Hungersnot erstmals nicht durch die Wetterbedingungen, sondern „durch die Ignoranz und die verbrecherische Leitsinnigkeit der politischen Führer“ hervor­gerufen worden sei.117 Anders als Bruckus, der die Wirtschaftspolitik der Bolschewiki ablehnte, weil er den Markt für unersetzbar hielt, sah Prokopovič den Grund für die s­ chlechten Kennziffern der Sowjetunion nicht in der Idee staatlicher Wirtschaftsplanung als solcher, sondern in den falschen Prioritäten. Die einseitige Fokussierung auf die Schwerindustrie hätte die Bedürfnisse der Bevölkerung und den wirtschaftlich-­ technischen Entwicklungsstand des Landes ignoriert. Ökonomische Anreize und unternehmerisches Geschick, die entscheidenden Motoren wirtschaftlicher Entwicklung, seien dem politischen Willen einer kleinen Elite geopfert worden. Für Prokopivč, der dem Gedanken einer Regulierung der Wirtschaft durch staatliche Intervention einiges abgewinnen konnte, war die sowjetische Erfahrung zwar ein Beispiel für die möglichen Schäden staatlicher Wirtschaftslenkung. Eine generelle Diskreditierung des Planungsdenkens bildete sie jedoch nicht: „Illusionen haben in der Geschichte schon manches Mal eine positive Rolle gespielt. […] Aber nach allem, was in Russland unter der Herrschaft der Räte und der Kommunistischen 114 115 116 117

Ebd., S. 101. Hayek, Foreword, S. xii. Für einen Vergleich von Bruckus und Prokopovič siehe Kojima, Exiled Economists. Prokopovič, Ideja planirovanija, S. 87.

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Partei geschehen ist, sind wir überzeugt, dass die kommunistische Idee nicht zu dieser Art schöpferischer Illusionen zählt.“118 Mit seiner grundsätzlichen Befürwortung wirtschaftlicher Planung positionierte sich Prokopovič in seinen späteren Arbeiten als einer der ersten Revisionisten der westlichen Sowjetologie. In einem zweibändigen Werk über die wirtschaftlichen Entwicklungen bis zum Abschluss des vierten Fünfjahresplans im Jahr 1950 verwies er auf die allmähliche Stabilierung der Wirtschaftslage. Prokopovič hielt wenig davon, die Sowjetunion auf eine Ideokratie zu reduzieren. Zwar sei der Einfluss des Staates auf die Wirtschaft in der Sowjetunion deutlich größer als in kapitalistischen Ländern. Allerdings gebe es auch in der sowjetischen Wirtschaft Faktoren, die sich dem gestalterischen Anspruch der Machthaber entzögen.119 Die Ideologie der Bolschewiki konnte nach Auffassung Prokopovičs nicht allein für die Probleme der Sowjetunion verantwortlich gemacht werden: „Für die Wiederherstellung der sowjetischen Wirtschaft bedurfte es eines Plans, der dem Entwicklungsniveau und den Bedürfnissen des Landes entsprach.“ Da dies in Sowjetrussland nicht der Fall gewesen sei, habe die Herrschaft der Bolschewiki zu Gewalt und Diktatur geführt und die „humanen Ideale“ der Revolution in den Hintergrund gedrängt.120 ­Prokopovičs Urteil fiel gemischt aus: Dass die Wirtschaftspolitik Stalins durch ihren Fokus auf eine rasante Industrialisierung eine humanitäre Katastrophe ausgelöst und das Produktionspotential des Landes zurückgeworfen hatte, stand für den Ökonomen außer Frage. Die Möglichkeit allgemeiner Wohlstandszuwächse im Rahmen der sowjetischen Ordnung hielt Prokopovič jedoch nicht mehr für ausgeschlossen. Voraussetzung dafür sei jedoch, dass die sowjetische Führung von der Vision des „Einholens und Überholens“ Abstand nahm und die Investitionen in die Kriegsindustrie zurückfuhr.121 Obwohl führende Vertreter des russischen Agrarismus nach der Revolution im Ausland lebten, geriet die Vision einer ländlichen Moderne in Vergessenheit. Dies war nicht nur der Fall, weil sich die sozialen und institutionellen Verbindungen der Emigration verloren und die Verständigung untereinander immer schwieriger wurde. Dem Transfer von Ideen und Konzepten standen auch die inhaltlichen Entwicklungen der internationalen Agrar- und Wirtschaftswissenschaften im Wege. Die Wirtschafts-, Agrar- und Genossenschaftsspezialisten, die zuvor von der Konjunktur der „Agrarfrage“ im öffentlichen Diskurs Russlands profitiert hatten, standen in der Emigration vor dem Problem, dass die Perspektive einer bäuerlichen Agrarmodernisierung hier eigentlich keine Rolle spielte. Auch jenseits der Sowjetunion setzte 118 119 120 121

Ebd., S. 115. Prokopovič, Narodnoe chozjajstvo SSSR, Bd. 1, S. 17f. Ebd., S. 18f. Ebd., Bd. 2, S. 345f.

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Kontexte des Erinnerns und Vergessens

sich in den 1920er und 1930er Jahren das Ideal der urbanen Industriemoderne und des hochtechnisierten landwirtschaftlichen Großbetriebs durch. Das Leitbild des russischen Agrarismus wurde damit zum Entwurf einer „Welt von gestern“ ohne Relevanz für die Gegenwart.

4. 2   Au sg r e n z u ng u nd Ve r ei n z elu ng i n d e r Sow je t u n io n 4.2.1  Stigmatisierte Experten In der Sowjetunion nahm das Schicksal der Elite einen eigenen Verlauf. Obwohl führende Vertreter des Agrarismus am Ende der 1920er Jahre als „bürgerliche Spezialisten“ stigmatisiert wurden, blieb ihnen der Zutritt zur sowjetischen Gesellschaft nicht vollständig versperrt. Hintergrund war die Beunruhigung der Stalinschen Führung über den kritischen Zustand der sowjetischen Wirtschaft am Beginn der 1930er Jahre. Die Entwicklung der Industrieproduktion blieb hinter den ehrgeizigen Zielen des ersten Fünfjahresplans zurück. Da es allenthalben an Personal und Produktionsmitteln fehlte, herrschte Chaos in den neu errichteten Industrieanlagen. Versorgungsschwierigkeiten, Wohnraummangel und sinkende Reallöhne wirkten sich negativ auf den Lebensstandard der städtischen Bevölkerung aus, in der die Bolschewiki die soziale Basis ihrer Herrschaft ausmachten. Hinzu kam, dass die Landwirtschaft infolge der Kollektivierung kastastrophale Produktionseinbußen verzeichnete und weite Teile des Landes von Hunger bedroht waren.122 Im Zuge der Korrekturmaßnahmen auf dem Gebiet der Industriepolitik geriet nun die Verfolgung von qualifiziertem Fachpersonal als „Spezialistenhetze“ (speceedstvo) in die Kritik. In zahlreichen Fällen wurden kurz zuvor verhängte Strafen abgemildert oder ganz aufgehoben. Allein zwischen Mai und November 1931 kehrten mehr als 1200 inhaftierte technische Spezialisten vorfristig aus der Haft zurück.123 Obwohl die so genannten „Minireformen“ keine Abkehr von der Generallinie der Partei bedeuteten und die vorzeitigen Entlassungen von Inhaftierten letztlich auf die Mobilisierung technischen Fachpersonals für die Industriepolitik zielten, zogen sie auch für einen Teil der 1930 inhaftierten Agrarwissenschaftler und Ökonomen eine Verbesserung ihrer Lage nach sich. A. N. Čelincev, der gemeinsam mit den Narkomzem-Mitarbeitern O. A. Chauke und N. V. Gendzechadse Anfang 1931 wegen „konterrevolutionärer Tätigkeit“ im Bereich der Agrargesetzgebung angeklagt und zu einer

122 Hildermeier, Sowjetunion, S. 368 – 401. 123 Siehe hierzu Chlevnjuk, Chozjain S. 84 – 90; Bailes, Technology, S. 143 – 156; Schattenberg, ­Ingenieure, S. 91.

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dreijährigen Verbannung nach Voronež verurteilt worden war, wurde im Februar 1932 vorfristig freigesprochen und lebte fortan in Moskau.124 Etwa zeitgleich wendete sich auch das Schicksal A. A. Rybnikovs. Der Agrarökonom war im Januar 1932 zu fünf Jahren Haft verurteilt worden, konnte jedoch bereits im Februar 1932 zu seiner Frau zurückkehren. Als offizieller Grund für Rybnikovs Freilassung galt dessen psychische Erkrankung.125 Auch S. L. Maslov, der letzte Agrarminister der Provisorischen Regierung, befand sich zu Beginn der 1930er Jahre nur vorübergehend in Haft. Maslov wurde 1931 nach Alma-Ata verbannt, erwirkte jedoch bald darauf die Genehmigung, sich in Ufa niederzulassen, wo er sogar seine Pensionsansprüche geltend machen konnte. 1933 kehrte der ehemalige Sozialrevolutionär nach Moskau zurück.126 Die vergleichsweise milden Strafen, die gegen die Angeklagten in der Ange­ legenheit der „Werktätigen-Bauern-Partei“ Anfang 1932 verhängt wurden, zeugten ebenfalls von der Veränderung des politischen Klimas. Waren im Herbst 1930 48 vermeintliche Saboteure im Bereich der Lebensmittelversorgung sofort e­ rschossen worden, wurden die vermeintlichen Mitglieder der TKP trotz der Anklage auf Hochverrat 127 zu Freiheitsentzug von maximal acht Jahren verurteilt. Die Ökonomen L. B. Kafengauz und L. N. Litošenko sowie die Agronomen A. V. Tejtel und A. O. Fabrikant erhielten sogar die Erlaubnis, ihre ein- bis dreijährigen Haftstrafen durch eine ebenso lange Zeit in der Verbannung zu ersetzen.128 Litošenko kehrte 1932 vorfristig aus der Verbannung zurück.129 Dass die milden Strafen offensichtlich durch den Wunsch motiviert waren, die Spezialisten bei der Realisierung einer planwirtschaftlich organisierten Industriemoderne in Anspruch zu nehmen, zeigte sich im Fall Kafengauz’. Dieser arbeitete während seiner Verbannungszeit in Ufa als wirtschaftsstatistischer Berater in der baschkirischen Zentralverwaltung für Wirtschaftsrechnung und im wissenschaftlichen Industrieinstitut Baschkiriens. Zur Überraschung seiner Familie konnte der Ökonom seinen Verbannungsort noch vor dem offiziellen Ablauf der Strafe verlassen. Ende 1932 traf er wieder in Moskau ein.130

124 Diese Angaben stammen aus der Untersuchungsakte Čelincevs [Kopie]. RGAĖ f. 771, op. 1. d. 264, l. 13 – 16. 125 Dies geht hervor aus Bittschriften, mit denen sich Rybnikovs Ehefrau Z. A. Rybnikova in der Folge an verschiedene sowjetische Behörden wandte. RGAĖ f. 9470, op. 1, d. 133, l. 1. Vgl. auch die Bescheinigungen über die Krankheit Rybnikovs, RGAĖ f. 9470, op. 1, d. 126, l. 5 – 7. 126 Biographien Maslovs, zusammengestellt von seiner Tochter N. S. Maslova, RGAĖ f. 1055, op. 1, d. 16, l. 5, 15. 127 Sie wurden nach den Artikeln 58 – 4, 58 – 7, 58 – 11 des Strafgesetzbuchs der RSFSR angeklagt. 128 Dies geht hervor aus den Dokumenten zur Rehabilitierung A. V. Čajanovs, RGAĖ f. 731, op. 1, d. 105, l. 6 – 9. 129 Danilov, Predislovie, S. 44. 130 Belege über die Entlassung Kafengauz’ aus der Haft und das Ende seiner Verbannungszeit, RGAĖ f. 772, op. 1, d. 58, l. 1, 2; Kafengauz, Avtobiografija, S. 624.

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Beim Wiedereinstieg in das Berufsleben waren die 1930 verhafteten Agrarwissenschaftler und Ökonomen mit der Tatsache konfrontiert, dass sie infolge der Kampagne gegen die „bürgerlichen“ Spezialisten den gesellschaftlichen Status von Experten verloren hatten. Zwar war ihr Fachwissen in sowjetischen Behörden oder Betrieben weiterhin gefragt. Der Zugang zu Positionen, die ihrer Qualifi­kation und ihrer langjährigen Berufserfahrung entsprochen hätten, blieb ihnen jedoch v­ erschlossen. Obwohl sie vormals Führungspositionen in Agrarwissenschaft und -politik besetzt hatten, wurden sie nun zu zweitrangigen Hilfsarbeiten herangezogen oder in Berufsfeldern eingesetzt, in denen sie keine berufliche Erfahrung hatten. Rybnikov, in den 1920er Jahren Professor an der Moskauer Timirjazev-Akademie und Berater des Narkomzem, erhielt 1933 eine Anstellung als wissenschaftlicher Mit­arbeiter des Allunions-Leineninstituts in der Stadt Toržok.131 Litošenko arbeitete nach seiner Rückkehr in einem Institut für Stoffwechselund Endokrin­erkrankungen.132 Čelincev kehrte zwar in die Organe der sowjetischen Agrar­politik zurück. Leitende Positionen blieben ihm jedoch verwehrt. Zwischen 1932 und 1934 arbeitete er im Planungsstab der Abteilung für Obst- und Gemüsebau des ­sowjetischen N ­ arkomzem. Anschließend erhielt er eine Anstellung als Ökonom für Agrartechnik in der Planungs- und Finanzabteilung des Narkomzem. 1937 wurde er im Zuge einer Säuberungswelle im Volkskommissariat entlassen.133 Den Ökonomen ­Kacenelenbaum und Kafengauz, die sich in den 1920er Jahren in den Bereichen der Finanz- und Industrieökonomie profiliert hatten, fiel der Berufseinstieg nach der Verhaftung leichter. Zumindest auf dem Gebiet der Wissenschaft erlangten beide nach einiger Zeit ihren früheren Status wieder. Nachdem Kacenelenbaum zwischen 1932 und 1938 in der Finanz- und Planungsabteilung der Zentralverwaltung für den Aufbau des Hohen Nordens (Glavnoe upravlenie stroitel’stva Dal’nego Severa) tätig gewesen war, erhielt er zu Beginn der 1940er Jahre eine Professur an einem finanzwirtschaftlichen Institut in Moskau.134 Kafengauz arbeitete nach der Rückkehr aus der Verbannung zunächst als Dozent am Ordžonikidze-Institut für Industrieökonomie (Promyšlenno-Ėkonomičeskij Institut imeni Oržonikidze) sowie am Stalin-Stahl­institut (Institut Stali imeni Stalina). Als im Zusammenhang mit einer Sabotageaffäre in der Schwermetallindustrie 1937 fast das gesamte Lehrpersonal entlassen wurde, erhielt er dank seiner guten Beziehungen zu G. M. Kržižanovskij, dem damaligen Vizepräsidenten der Akademie der Wissenschaften, binnen kurzem eine Anstellung am Wirtschaftsinstitut der Akademie (Institut Ėkomiki AN SSSR). Hier arbeitete er bis zu seinem Tod im Jahr 1940.135 131 132 133 134 135

Savinova, Dokumenty, S. 69. Danilov, Predislovie, S. 44. Einschätzungen über die Arbeit Čelincevs, RGAĖ f. 771, op. 1, d. 256, l. 5; Galas, Sud’ba, S. 179. Dokumente zur beruflichen Tätigkeit Kacenelenbaums, RGAĖ f. 782, op. 1, 52, l. 3, 6, 7. Autobiographie L. B. Kafengauz’ [ca. 1935], RGAĖ f. 772, op. 1, d. 71, l. 10 – 11; N. L. Kafengauz, Erinnerungen an L. B. Kafengauz, RGAĖ f. 772, op. 1, d. 71.

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Für die als Drahtzieher der „Werktätigen-Bauern-Partei“ verhafteten Agrar­ experten und Ökonomen blieb die Lage trotz der leichten wirtschaftspolitischen Korrekturen der frühen 1930er Jahre ungewiss. Abgesehen von einigen Zugeständnissen an die Kolchosbauern zogen die Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirtschaft keinen grundlegenden Kurswechsel in der Agrarpolitik nach sich.136 Auch die Haltung der politischen Führung gegenüber den einflussreichsten Befürwortern einer agrarpolitischen Alternative blieb unverändert. Während zahlreiche Kulaken aufgrund einer Amnestie in der Mitte der 1930er Jahre aus Verbannung und Haft entlassen wurden,137 blieb führenden Agrarexperten die Rückkehr in ihr ziviles Leben verwehrt. N. D. Kondrat’ev wurde bis zu seinem Tod nicht aus der Haft entlassen.138 N. P. Makarov, A. V. Čajanov und A. G. Dojarenko lebten in einem Zustand andauernder Ungewissheit. Im Fall Makarovs, der ebenso wie Kondrat’ev und Jurovskij 1932 zu einer Haftstrafe von acht Jahren verurteilt worden war, wurde das Strafmaß mehrfach verändert. Höchstwahrscheinlich auf das Einschreiten seines langjährigen Freundes N. I. Vavilov, der als Präsident des VASChNIL und Mitglied des CIK SSSR zu Beginn der 1930er Jahre Zutritt zu den höchsten Vertretern von Partei und Bürokratie besaß, wurde Makarovs Strafmaß bereits im selben Jahr auf fünf Jahre herabgesetzt.139 Kurz vor dem Ablauf dieser Frist wurde sein Fall jedoch ein weiteres Mal verhandelt und der Ökonom zu einer dreijährigen Verbannung im Anschluss an seine Haft verurteilt.140 Auch Dojarenko und Čajanov wurden im Anschluss an ihre Haftzeit verbannt. Beide waren im Januar 1932 zu fünf Jahren Isolationshaft verurteilt worden. Dojarenko verbrachte seine Haft im politischen Gefängnis Suzdal’, in dem auch Kondrat’ev und Jurovskij untergebracht waren. Unmittelbar nach dem Ablauf seiner Strafe im Jahr 1935 wurde er nach Kirov verbannt.141 Čajanov verbüßte einen Teil seiner Strafe in Jaroslavl’, wo er mit seinem

136 Chlevnjuk, Chozjain, S. 90. 137 Ebd., S. 242f. 138 Kondrat’evs Zellennachbar, der Ökonom L. N. Jurovskij, der ebenfalls als führendes Mitglied der TKP veruteilt worden war, wurde Anfang 1935 aus der Haft entlassen. Zur Haft der beiden Ökonomen im politischen Gefängnis Suzdal‘ siehe Efimkin, Dvaždy reabilitirovannye, S. 192 – 199. 139 Makarov und Vavilov hatten seit vielen Jahren in engen Beziehungen gestanden. Makarovs während des Ersten Weltkriegs verstorbene Ehefrau war eine Schwester Vavilovs. Als Makarov im September 1921 in New York ein zweites Mal geheiratet hatte, war Vavilov, der sich damals im Rahmen einer komandirovka in den USA aufhielt, sogar dessen Trauzeuge. Anfang der 1930er Jahre war Vavilov Präsident der Allunion Lenin-Akademie für Agrarwissenschaften und Mitglied des CIK SSSR. Es kann daher angenommen werden, dass er die nötigen Verbindungen besaß, um im Fall Makarovs eine Anpassung des Strafmaßes zu bewirken. Nach Angaben von Makarovs Nachkommen hatte Vavilov die Ehefrau Makarovs bei ihren Bitten um eine Verringerung des Strafmaßes ihres Mannes unterstützt. Makarova; Ponomareva, Pis’ma, S. 83. 140 Galas, Sud’ba, S. 178f. 141 E. A. Dojarenko, Erinnerungen an A. G. Dojarenko, RGAĖ f. 9474, op. 1, d. 254, l. 32, 105 – 119.

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Freund und Kollegen Makarov sogar eine Gefängniszelle teilte. 1934, ein Jahr vor dem Ablauf seiner Frist, wurde Čajanov für den Rest seiner Haftzeit überraschend nach Alma-Ata verbannt. Im Sommer 1935 folgte eine Verlängerung seiner Verbannung um weitere drei Jahre.142 Bei der Rückkehr in das Berufsleben machten die Agrarexperten in der Ver­ bannung ähnliche Erfahrungen wie ihre Freunde und Kollegen, die in den 1930er Jahren wieder in Moskau lebten. Zwar konnten Makarov, Čajanov und Dojarenko an ihren Aufenthaltsorten in Behörden oder Betrieben mit landwirtschaftlichem Bezug tätig werden. Ihre neuen Positionen zeugten jedoch davon, dass sie aufgrund ihrer vorangegangenen Verhaftungen gesellschaftlich stigmatisiert waren. Makarov, bis zu seiner Verhaftung einer der renommiertesten Agrarökonomen des Landes und leitender Mitarbeiter in der landwirtschaftlichen Planungsabteilung des Narkomzem, arbeitete nach 1935 als Agronom in einer Getreidesowchose des Voronežer Gebiets.143 Dojarenko, der ursprünglich darauf gehofft hatte, nach dem Ende seiner Haft wieder wissenschaftlich tätig zu werden, wurde während seiner Verbannung überwiegend zu praktischen und pädagogischen Aufgaben herangezogen. Nach der Ankunft in Kirov traf der Agronom seinen langjährigen Moskauer Bekannten, den Pflanzenzuchtexperten N. V. Rudnickij. Dieser leitete die landwirtschaftliche Experimentalstation in Kirov und unterstützte Dojarenko bei der Arbeitssuche. Im Oktober 1935 wurde Dojarenko, der viele Jahre die Versuchsstation der wichtigsten landwirtschaftlichen Hochschule des Landes geleitet und zu Beginn der 1920er Jahre die Zentralisierung des sowjetischen Versuchswesens begleitet hatte, agrartechnischer Berater in Rudnickijs Einrichtung. Der Agronom knüpfte zudem an eine seiner ersten beruflichen Tätigkeiten an und hielt Vorlesungen für die Mitarbeiter von Maschinen- und Traktorenstationen.144 Für Čajanov stellten sich die beruflichen Perspektiven in der Verbannung zunächst etwas besser da. Unmittelbar nach seinem Eintreffen in Alma-Ata erhielt er eine Anstellung als Dozent am Kasachischen Landwirtschaftlichen Institut. Wenig später wurde er Berater des kasachischen Volkskommissars für Landwirtschaft.145 Trotz seiner zahl­reichen Verpflichtungen nahm Čajanov seine Tätigkeiten als beruflichen Rückschritt wahr. Der Ökonom war entsetzt über die mangelhaften Mathematik- und Statistikkenntnisse seiner Studenten. Verbittert

142 Auszüge aus der Akte Čajanovs bei der Militärstaatsanwaltschaft [Kopie], RGAĖ f. 731, op. 1, d. 100, l. 1 – 4. Zusätzliche Angaben finden sich in den Unterlagen zur Rehabilitierung Čajanovs, RGAĖ f. 731, op. 1, d. 105, l. 6 – 9. 143 Lebenslauf Makarovs [1940], RGAĖ f. 766, op. 1, d. 196, l. 5. 144 E. A. Dojarenko, Erinnerungen an A. G. Dojarenko [1962], RGAĖ f. 9474, op. 1, d. 254, l. 32. Dojarenks Zeit in Kirov beschreibt Kurenyšev, Dojarenko, S. 71f. 145 Čajanov an seine Mutter [11. August 1934], in: Čajanov, Čajanov, S. 246.

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registrierte er zugleich, dass sein Ansehen weiterhin durch das Stigma des Neopopulismus beschädigt war.146 Lokale Parteivertreter und zentralstaatliche Behörden hinderten die Verbannten wiederholt daran, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Im Januar 1935 erhielt die Leitung des kasachischen Landwirtschaftlichen Instituts ein Schreiben des sowjetischen Volkskommissariats für Landwirtschaft mit der Aufforderung, Čajanov von jeglicher wissenschaftlicher Verantwortung zu entbinden und ihm sein Mandat im Institutsrat zu entziehen. Diese Anweisung sollte der Direktor des Instituts „nicht mechanisch und ohne jeden Hinweis auf mich [M. E. Šefler – K. B.] oder den ­Narkomzem SSSR ausführen […]“147. Čajanov, der nach seiner Ankunft in AlmaAta Hoffnung auf eine baldige Wiederherstellung seines gesellschaftlichen und beruflichen Ansehens gehabt hatte, lebte fortan in völliger Isolation. Die Leitung des Instituts für Agrarökononomie untersagte ihm jeglichen Kontakt zu seinen ­Kollegen. Seine im Auftrag des Instituts angefertigten Arbeiten wurden ignoriert.148 Erst nachdem Čajanov Ende 1935 zum Berater des kasachischen Volkskommissars für Landwirtschaft ernannte wurde und eine Studie über kasachische MTS durchführte, fühlte er sich wieder „auf der Höhe [seiner] Maßstäbe“149. Auch im Fall Dojarenkos wirkte sich der Status als administrativ Verbannter erschwerend auf seine beruf­liche Einbindung aus. In Briefen an seine Tochter klagte Dojarenko, dass Rudnickij hinsichtlich seiner Einstellung in der Kirover Versuchsstation Rücksprache mit dem NKVD hielt und sich sein Arbeitsbeginn andauernd verzögerte. Auch nach der Überwindung dieser Anlaufschwierigkeiten war seine berufliche Situation alles andere als sicher. Anfang 1936 setzte man den Agronomen über eine Direktive aus Moskau in Kenntnis, nach der ihm als Verbannten das Abhalten von Vorlesungen verboten war. Wenig später wurde ein geplanter Vortrag Dojarenoks gestrichen und seine Beteiligung an der Organisation einer Landwirtschaftsausstellung untersagt. Der Agrarwissenschaftler bestritt daraufhin einen Teil seines Lebensunterhalts als musikalischer Leiter und Komponist am Jugendtheater Kirov. Als diese Arbeit 1937 zu Ende ging und Dojarenko fast zeitgleich seine Anstellung in der landwirtschaftlichen Versuchsstation verlor, stand sein Auskommen erneut in Frage.150

146 Čajanov an seine Frau Ol’ga, in: Čajanov, Čajanov, S. 261, 263, 265. Siehe auch das Schreiben Čajanovs an den örtlichen Parteisekretär, in dem er sich über seine schwierige berufliche Lage beklagt. Ebd, S. 171 – 173. 147 Das Schreiben ist veröffentlicht ebd., S. 170f. 148 Čajanov an den Sekretär der Kreisparteistelle [20. November 1935], in: Ebd., S. 171f. 149 Čajanov an seine Frau [5. Dezember 1935], in: Ebd., S. 273. Zu Čajanovs wissenschaftlicher Tätigkeit in Kazachstan siehe Nikulin, Tragedy, S. 279 – 283. 150 E. A. Dojarenko, Erinnerungen an A. G. Dojarenko, RGAĖ f. 9474, op. 1, d. 254, l. 32 – 34.

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Obwohl die Agrarexperten und Ökonomen nach der Entlassung aus der Haft oder in den Jahren ihrer Verbannung mit andauernden beruflichen Schwierigkeiten konfrontiert waren, erlebten sie die Jahre vor den größen Säuberungen zumindest in Bezug auf ihre privaten Lebensverhältnisse als eine Zeit beginnender Norma­ lisierung. Die nach Moskau zurückgekehrten Experten lebten wieder mit ihren Familien.151 Manche von ihnen stellten sogar Kontakte zu ihren vormaligen Freunden und Kollegen her. Als Maslov 1938 verhört wurde, gab er an, in den 1930er Jahren u. a. mit dem Genossenschaftsaktivisten V. A. Kil’čevskij in Verbindung gestanden zu haben.152 Der Sohn des Ökonomen Kafengauz erinnerte sich an Besuche Z. S. Kacenelenbaums bei seinem Vater. Seinen Angaben zufolge gehörte auch N. P. Oganovskij, der seit Anfang der 1920er Jahre mit der jüngeren Schwester L. B. Kafengauz̕ verheiratet war, nach seiner Freilassung zu den regelmäßigen Gästen der Familie. Einzig L. N. Litošenko, mit dem Kafengauz seit dem Studium eine enge Freundschaft verbunden hatte, der Kafengauz’ Trauzeuge gewesen und später Pate seines Sohns geworden war, sei allen Treffen mit früheren Bekannten aus dem Weg gegangen. Wenn Litošenko seinem Freund Kafengauz zufällig auf der Straße begegnete, hätte er sich abgewandt.153 Selbst für die Agrarexperten in der Verbannung brachten die Jahre nach dem Ende der Repressionen einige geringfügige private Erleichterungen. Čajanov, ­Makarov und Dojarenko unterhielten eine umfangreiche Korrespondenz mit ihren An­­­­­­ge­ hörigen. Dojarenko konnte die ersten Wochen in Kirov gemeinsam mit seiner ­Tochter verbringen.154 Čajanov hatte nach seiner Ankunft in Alma-Ata fast einen Monat lang seine Frau zu Besuch. Dem Ökonomen gelang es sogar, seine Mutter von dem Gehalt, das er im kasachischen Narkomzem bezog, zu unterstützen.155 Zudem hatte Čajanov beschränkten Zutritt zur Gesellschaft vor Ort. Als die Parteizelle des Landwirtschaftlichen Instituts in Alma-Ata im November 1934 eine Feier anlässlich der 15-jährigen Herrschaft der Bolschewiki in Kasachstan veranstaltete, wurde Čajanov zu seiner eigenen Überraschung auf das Podium der Versammlung gewählt.156 Zwar wurde der Ökonom wenig später erneut ausgegrenzt. Nachdem er im Dezember 1935 Berater des kasachischen Volkskommissars für Landwirtschaft 151 So lebte S. L. Maslov, der bereits das Rentenalter erreicht hatte, nach seiner Freilassung unbehelligt bei seiner Familie. In den 1930er Jahren verfasste er ein Manuskript zur Geschichte der russischen Getreidewirtschaft. Dieses wurde bei seiner erneuten Verhaftung im Jahre 1937 von den Vertretern des NKVD konfisziert. Vgl. Biographien S. L. Maslovs, zusammengestellt von seiner Tochter N. S. Maslova, RGAĖ f. 1055, op. 1, d. 16, l. 5, l. 15. 152 Auszüge aus der Untersuchungsakte S. L. Maslovs, RGAĖ f. 1055, op. 1, d. 21, l. 5. 153 N. L. Kafengauz, Erinnerungen an L. B. Kafengauz, RGAĖ f. 772, op. 1, d. 71, l. 56. 154 E. A. Dojarenko, Erinnerungen an. A. G. Dojarenko [1962], RGAĖ f. 9474, op. 1, d. 254, l. 32. 155 Čajanov an seine Mutter [August 1934], in Čajanov, Čajanov, S. 248. 156 Čajanov an seine Frau Ol’ga [6. November 1934], in: Ebd., S. 270f.

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Noch in den 1930er Jahren in Kontakt mit früheren Kollegen: N. P. Oganovskij und seine Frau S. B. Oganovskaja geb. Kafengauz (Aufnahme aus der Mitte der 1920er Jahre)

geworden war, registrierte er jedoch mit Erleichterung, dass damit auch seine zwischen­zeitliche Isolation ein Ende hatte. Seine ehemaligen Institutskollegen, schrieb Čajanov 1936 an seine Frau, würden bei einer zufälligen Begegnung mit ihm nicht mehr die Straßenseite wechseln.157 Für die von den Repressionen der späten 1920er Jahre betroffenen Agrarexperten und Ökonomen waren die 1930er Jahre eine Zeit der Uneindeutigkeit. Die zögerliche Normalisierung ihrer privaten Lebenslage ging einher mit der andauernden Unsicherheit über ihren Platz in der sowjetischen Gesellschaft. Im Zuge der Marginalisierung der alten Eliten hatten die Agrarwissenschaftler und Ökonomen den Status einer akzeptierten Expertenelite verloren. Da die gesellschaftlichen Räume, die ihnen bislang kollektives Handeln und öffentliche Kommunikation ermöglicht hatten, nach 1930 nicht mehr existierten, veränderten sie die Strategien zur Durchsetzung persönlicher und professioneller Interessen. In zahlreichen Briefen baten sie Vertreter von Partei, Wissenschaftsinstitutionen und staatlichen Behörden um die Unterstützung bei konkreten Problemen. Im November 1935 setzte Čajanov den Parteisekretär in Alma-Ata darüber in Kenntnis, dass er seit Monaten isoliert war

157 Čajanov an seine Frau Ol’ga [1936], in: Ebd., S. 276.

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und keinerlei berufliche Perspektiven für sich sah.158 Makarov, der seine Tätigkeit als Sowchos-Agronom als ausgesprochen unbefriedigend empfunden hatte, wandte sich nach dem offiziellen Ablauf seiner Verbannung wiederholt an die Leitungsgremien der Akademie der Wissenschaften, des VASChNIL sowie des sowjetischen Narkomzem und bat um eine Anstellung, die seiner beruflichen Qualifikation entsprach.159 Nach seiner Entlassung aus dem Narkomzem im November 1937 versuchte Čelincev durch entsprechende Schreiben an Partei- und Staatsvertreter, eine erneute Einstellung zu bewirken.160 Kondrat’ev und seine Frau sandten im Verlauf der 1930er Jahre zahlreiche Briefe an die höchsten politischen Instanzen der Sowjetunion, in denen sie um die Wiederaufnahme des Verfahrens und eine Entlassung des Ökonomen aus der Haft baten.161 Die Bittschriften, deren Erfolg sich im Einzelfall nicht rekonstruieren lässt, dokumentieren die unsichere gesellschaftliche Position, in der sich die vor­revolutionären Eliten nach dem Beginn des Stalinismus wiederfanden. Anders als in den 1920er Jahren, als sie sich meist als unpolitische Experten präsentiert ­hatten, rückte nun die Unterstützung für die politische Linie in das Zentrum ihrer Selbstdarstellung. Durch demonstrative Gesten der Unterwerfung erfüllten sie die Loyalitätsforderung des ­Regimes. In einem Schreiben an den Präsidenten der sowjetischen Akademie der Wissen­schaften V. L. Komarov verwies Makarov 1938 auf die „tiefe Umwandlung [seines] Bewusstseins“ (glubokoe pereroždenie moego soznanija), die dazu geführt habe, dass er den „Marxismus-Leninismus-­Stalinismus als einziges System für wissen­ schaftliche und prak­tische Arbeiten jeder Art“ anerkannte.162 Čelincev erbrachte den Nachweis seiner politischen Integrität, indem er sich als Opfer von Feinden der Sowjetunion darstellte. So erklärte in seinen Briefen, dass seine völlig unerwartete Entlassung aus dem Narkomzem auf die im Zuge der Säuberungen abgesetzte L ­ eitung der 163 Behörde zurück­gegangen war. Kondrat’ev nutzte die Praxis der Selbstkritik, um eine Wieder­aufnahme seines Verfahrens zu erwirken. In einem mehr als 30 Maschinen­seiten um­­fassendenden Schreiben, das er an den Vorsitzenden des OGPU V. R. Menžinskij und in Kopie an Stalin, Molotov und Kalinin richtete, gab K ­ ondrat’ev zu, dass er die Möglichkeiten zum Aufbau des Sozialismus in Russland unterschätzt und tatsächlich die 158 Čajanov an den örtlichen Parteisekretär L. I. Mirzojan, in: Ebd., S. 172f. 159 Korrespondenz Makarovs in Bezug auf seinen Anstellung als Wissenschaftler, RGAĖ f. 766, op. 1, d. 67, l. 1 – 13. 160 Rohfassung von zwei Schreiben Čelincevs an die Parteivertretung des sowjetischen Narkomzem sowie den sowjetischen Volkskommissar für Landwirtschaft vom 21. September 1938 und 16. März 1939, RGAĖ f. 771, op. 1, d. 257, l. 1 – 2. 161 Dokumente 24, 35, 40, 84, 85, in: Kljukin u. a. (Hg.), Suzdal’skie pism’a. 162 Manuskript eines Schreibens von Makarov an den Präsidenten der sowjetischen Akademie der Wissenschaften vom 20.10.1938, RGAĖ f. 766, op. 1, d. 67, l. 1. 163 RGAĖ f. 771, op. 1, d. 257, l. 1, l. 2.

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Interessen der Kulaken vertreten hätte. Auf das Schuldgeständnis folgte das Bekenntnis zum politischen Kurs Stalins. Er sei überzeugt, dass die Industrialisierungs- und Kollektivierungspolitik einschließlich der „Liquidierung des Kulakentums als Klasse“ der einzige Weg zum Sozialismus sei: „Ich habe Fehler gemacht. Ich habe diese Fehler aber vollständig eingesehen und bereue sie. Als Spezialist bin ich bereit, all meine Kraft und all mein Wissen für den Aufbau des Sozialismus unter der Leitung der bolschewistischen Partei mit ihrem Führer, dem Genossen Stalin, einzusetzen.“164 Es ist wohl unerheblich, ob die Agrarexperten die Beteuerungen in ihren Briefen als notwendige Bestandteile einer „systematisch verzerrten öffentlichen Kommu­­­­ni­ kation“165 betrachteten, oder ob sie sich, selbst wenn das wenig wahrscheinlich ist, von der inszenierten Aufbaueuphorie des ersten Fünfjahresplans anstecken ließen. Entscheidend ist vielmehr, dass sie überhaupt auf die Praxis des Bittstellens zurückgriffen. „Der schwere Wagen der Geschichte ist durch unsere Generation gerollt“166, schrieb Kondrat’ev im Jahr 1934 aus dem Gefängnis an seine Frau. Mit diesen Worten ordnete Kondrat’ev seine individuelle in eine kollektive Leidens­erfahrung ein. Zugleich markierte er mit ihnen den Stalinismus als eine Epoche der kollektiven Vereinzelung. Zwar war Kondrat’ev der einzige Vertreter der Gruppe, der sich in den 1930er Jahren ohne Unterbrechung in Haft befand. Der Verlust biographischer Gewissheiten und der Kontrolle über das eigene Leben ebenso wie die Auflösung der vertrauten ­sozialen Umgebung gehörten jedoch zum Erfahrungs­horizont der meisten seiner früheren ­Kollegen: Wenn sie in den 1930er Jahren in ein ziviles Leben zurückkehrten, lebten die Vertreter der ehemaligen Expertenelite am Rande der Gesellschaft. Nunmehr fehlten ihnen nicht nur die Möglichkeiten zum kollektiven Handeln. Nicht einmal als Einzelpersonen besaßen sie die erforderlichen Spielräume, um persönliche und berufliche Ziele eigenständig zu reali­sieren. Ihre gesellschaftliche Stigmatisierung zwang sie in die Rolle von Bittstellern, deren Schicksal von der Gunst und dem Einfluss ihrer Adressaten im Partei- und Staatsapparat abhing.167

4.2.2  Physische Vernichtung und öffentliches Schweigen Die Auflösung des vorrevolutionären Expertennetzwerks kulminierte in der Zeit der großen Säuberungen der Jahre 1937/38. Nachdem Stalin und seine engsten Vertrauten im Zuge inszenierter Schauprozesse und Verhaftungsaktionen vermeintliche 164 Kondrat’ev an Menžinskij [17. November 1932], in Kljukin u. a. (Hg.), Suzdal’skie pism’a, S. 99 – 125, Zitat S. 124. 165 Baberowski, Verbrannte Erde, S. 20. 166 Kondrat’ev an seine Frau [19. Juni 1934], in: Kljukin u. a. (Hg.), Suzdal’skie pism’a, S. 377. 167 Zur Praxis des Briefeschreibens siehe Fitzpatrick, Supplicants, S. 103f.

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„innere Feinde“ in Armee und Staatsapparat beseitigt hatten, folgten die so genannten „Massenoperationen“, in deren Verlauf tausende Menschen von den Mitarbeiten des NKVD verhaftet, gefoltert und getötet wurden. Auf der Ebene der Parteileitung und der Sicherheitsorgane waren seit Anfang 1937 Vorbereitungen für eine Ausweitung der staatlichen Gewalt auf weite Teile der sowjetischen Gesellschaft getroffen worden. Nachdem das Zentralkomittee Anfang 1937 vor einem Erstarken „feindlicher Kräfte“ im In- und Ausland gewarnt hatte, bestätigte das Politbüro Ende Juli dann den berüchtigten Befehl „00447“ zur Inhaftierung, Verbannung und Hinrichtung aller Personen, die den als „schädlich“ eingestuften Kategorien der sowjetischen Gesellschaft angehörten: ehemalige Kulaken, Geistliche, Kriminelle, Mitglieder antisowjetischer Parteien, Angehörige zarischer Eliten. Auf der Grundlage dieses Befehls wurden bis zum November 1938 fast 800.000 Personen verhaftet und in geheimen Verfahren verurteilt. Mehr als 360.000 von ihnen wurden erschossen.168 Die Agrarexperten, die bereits in den späten 1920er Jahren als „feindliche Elemente“ diskreditiert worden waren, zählten automatisch zur Gruppe potenzieller Feinde der Sowjetunion, die mit der „Politik der prophylaktischen Säuberungen“169 beseitigt werden sollten. Zwischen Sommer 1937 und November 1938, als Stalin das Ende des Terrors veranlasste, deckten die Organe des NKVD in allen Teilen des Landes Netzwerke von vermeintlichen Verschwörern auf, die angeblich mit ausländischer Hilfe einen Umsturz in der Sowjetunion vorbereiteten. Im Zuge der massenhaften Verhaftungen wurde auch der Mythos von der „Werktätigen-Bauern-Partei“, deren Mitglieder im In- und Ausland ein Verschwörungskomplott gegen die sowjetische Führung vorbereiteten, wiederbelebt. Agrarexperten und Ökonomen, die bereits 1930 beschuldigt worden waren, Leitungspositionen in der TKP zu besetzen, gerieten erneut in das Visier der sowjetischen Sicherheitsorgane. A. V. Čajanov wurde vor dem Beginn der Massen­ operationen im März 1937 in Alma-Ata verhaftet. Der Agronom A. V. Tejtel befand sich seit Juli, A. A. Rybnikov seit Dezember 1937 erneut in Haft. P. A. Sadyrin und L. N. Litošenko wurden im Januar, S. L. Maslov im Februar 1938 festgenommen.170 Auch das Schicksal N. D. Kondrat’evs, der seit 1930 ohne Unterbrechung inhaftiert war, entschied sich in der Zeit der großen Säuberungen. Vor dem offiziellen Ende seiner Strafe im Juni 1938 wurde das Verfahren gegen den Ökonomen noch einmal aufgerollt. Die Anklageschrift des NKVD vom 30. Juli 1938 hielt fest, dass Kondrat’ev auch nach acht Jahren Haft nicht von seinen „feindlichen Ansichten“ abgerückt sei. Von einer

168 Zahlenangaben nach Shaerer, Policing Stalin’s Socialism, S. 285. Zu den Hintergründen und zum Ablauf der großen Säuberungen der Jahre 1937/38 siehe ebd., Kap. 9, 10; Chlevnjuk, Chozjain, Kap. 6; Baberowski, Verbrannte Erde, S. 317 – 341. 169 Chlevnjuk, Chozjain, S. 315. 170 „Žertvy političeskogo terrora v SSSR“; zu Litošenko siehe Danilov, Predislovie, S. 44.

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Freilassung des Ökonomen konnte daraufhin keine Rede mehr sein.171 Obwohl die Agrarexperten ganz ähnlicher oder zum Teil der gleichen Verbrechen wie zu Beginn des Jahrzehnts angeklagt wurden, hatten die Repressionen der Jahre 1937/38 einen anderen Charakter als die Verhaftungswelle des Jahres 1930. Die Massenoperationen zielten auf die Beseitigung aller potenziellen Widersacher der sowjetischen Führung. Die Bevölkerung sollte von „antisowjetischen Elementen“ gereinigt werden, die die Vision einer homogenen sozialististischen Gesellschaft bedrohten.172 Waren die Ökonomen und Agrarexperten 1930 als Vertreter vorrevolutionärer Eliten verhaftet worden, wurden sie nun Opfer einer Säuberungsaktion, die sich nicht auf bestimmte soziale Milieus beschränkte, sondern alle Schichten der sowjetischen Gesellschaft erfasste.173 Die gefälschten Anklageschriften des NKVD bestätigten die von der S ­ talinschen Führungsriege in Umlauf gesetzten Gerüchte, die Sowjetunion sei von einem weit verzweigten Netz von Saboteuren und Oppositionellen durchzogen, die das Land in allen Bereichen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft destabilisierten und auf einen Sturz der Bolschewiki hinarbeiteten. Wie zahllose andere Opfer der Säuberungen wurden die Agrarexperten und Ökonomen zur Unterzeichnung fingierter Geständnisse gezwungen,174 in denen sie zugaben, als Mitglieder der TKP die ­Tätigkeit von Partei und Staatsorganen gezielt gestört zu haben. Čajanov wurde nach seiner Festnahme 21 Mal verhört und gestand schließlich seine aktiven Verbindungen zu „antisowjetischen Organisationen“ in Kasachstan. In der abschließenden Anklageschrift des NKVD hieß es, er habe gemeinsam mit dem stellvertretenden Direktor des Wirtschaftsinstituts in Alma-Ata die Wirtschaftskraft der Sowjetunion durch „individuellen Terror“ und Sabotage aktiv geschädigt und den Kampf gegen die sowjetische Führung vorbereitet. Außerdem habe er in Kontakt zu einer konter­revolutionären Organisation im kasachischen Narkomzem gestanden. Am 3. Oktober 1937 wurde Čajanov zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde noch am selben Tag vollstreckt.175 Ebenso wie Čajanov erhielten auch dessen ehemalige Kollegen und Freunde, die im Zuge der Massenoperationen verhaftet und als führende Mitglieder der TKP angeklagt wurden, das höchste Strafmaß. Tejtel wurde am 26. November 1937 hingerichtet, der ehemalige Kommilitone Čajanovs Minin am 7. März 1938. Maslov bezahlte für sein angebliches Engagement in einer „­konterrevolutionären terroristischen Organisation“ am 20. Juni 1938 mit seinem

171 172 173 174

Urteilsschrift des NKVD [30. Juli 1938], in: Kljukin u. a. (Hg.), Suzdal’skie pis’ma, S. 725 – 727. Shearer, Stalin’s Socialism, S. 286, 321. So argumentiert auch Mick, Wissenschaft, S. 347 – 349. Zu dieser Praxis siehe Shearer, Stalin’s socialism, S. 352 – 358, Baberowski, Verbrannte Erde, S. 334f. 175 Diese Angaben beruhen auf Auszügen aus der Untersuchungsakte Čajanovs, die in Kopie im persönlichen Nachlass des Ökonomen zugänglich ist. RGAĖ f. 731, op. 1, d. 100, l. 1 – 4.

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Leben. Rybnikov und der langjährige Genossenschaftsaktivist Sadyrin wurden am 16. September 1938 und Kondrat’ev am 17. September 1938 hingerichtet.176 Litošenko wurde im April 1938 zu acht Jahren Lagerhaft veruteilt. Im November 1943 kam er in den Lagern von Kolyma ums Leben.177 Die Angaben über das Schicksal Oganovskijs sind widersprüchlich. Allem Anschein nach starb er Ende der 1930er Jahre in der Verbannung in Ufa.178 Der NKVD bemühte sich um die Geheimhaltung der massenhaften Hinrichtungen. Auch wenn Gerüchte über die Erschießungen von Inhaftierten kursierten, konnte die sowjetische Gesellschaft über den genauen Verbleib der Verhafteten und das Ausmaß der Operationen nur mutmaßen.179 In der Hoffnung, das Los der Inhaftierten zu ver­bessern und genaue Angaben über deren Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen, führten tausende Angehörige am Ende der 1930er Jahre ergebnislose Briefwechsel mit den Behörden. Auch die Ehefrauen und Kinder der hingerichteten Agrarexperten und Ökonomen waren viele Jahre im Ungewissen über das Schicksal ihrer Verwandten. Auf beharrliches Nachfragen erhielt Z. A. Rybnikova Ende 1938 die Standardauskunft, ihr Mann sei zu zehn Jahren Lagerhaft ohne das Recht auf Briefverkehr verurteilt worden. Zwischen 1937 und 1939 wandte sie sich an verschiedene Instanzen der sowjetischen Staatsanwaltschaft und bat um eine Entlassung ihres psychisch kranken Mannes aus dem Lager, woraufhin sie wiederholt darüber in Kenntnis gesetzt wurde, dass man ihre Angelegenheit an eine andere Dienststelle weitergeleitet habe.180 Nachdem sich Rybnikova 1955 mit einem Gesuch zur Rehabilitierung ihres Mannes an die Staatsanwaltschaft gewandt hatte, erhielt sie im August 1956 die amtliche Auskunft, dass dieser 1939 verstorben sei.181 Dass Rybnikov bereits im September 1938 von den Organen des NKVD erschossen worden war, teilte man ihr offensichtlich nicht mit.182 Ebenso wie Rybnikova warteten auch die Ehefrauen Kondrat’evs und Jurovskijs über Jahre auf Informationen über den Verbleib ihrer Ehemänner.183 Die Töchter des im Juni 1938 hingerichteten ­Maslov erhielten viele Jahre nach dem Tod ihres Vaters die falsche Auskunft, Maslov sei 1938 aufgrund von Altersschwäche verstorben.184

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„Žertvy političeskogo terror v SSSR“. Danilov, Predislovie, S. 44. „Žertvy političeskogo terrora v SSSR“. Baberowski, Verbrannte Erde, S. 336. Briefe Z. A. Rybnikovas an verschiedene sowjetische Behörden aus den Jahren 1937 – 1939. RGAĖ f. 9470, op. 1, d. 132, l. 6 – 13. Todesurkunde A. A. Rybnikovs, ausgestellt am 19. August 1956, RGAĖ f. 9470, op. 1, d. 126, l. 14. Rohfassung eines Schreibens von Z. A. Rybnikova, RGAĖ f. 9470, op. 1, d. 133, l. 1. Efimkin, Davždy reabilitirovannye, S. 206. N. S. Maslova, Biographie S. L. Maslovs, RGAĖ f. 1055, op. 1, d. 16, l. 5.

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Die Angehörigen erlebten die Festnahmen in ihren Familien nicht nur als persönliches Trauma, sondern auch Auslöser von materieller Not und sozialer Ausgrenzung. Die Nichte Čajanovs, deren Vater S. K. Čajanov 1930 ebenfalls verhaftet worden war, hatte nach dem Abschluss der siebenten Klasse Probleme bei der Aufnahme in ein Technikum. In einer Maschinenbaufabrik, der sie offiziell zur Arbeit zugewiesen worden war, erklärte man ihr, sie könne nicht eingestellt werden, weil ihr Vater verhaftet worden sei.185 Häufig mussten die Angehörigen der Inhaf­tierten die Beschränkung des Wohnraums und die Umwandlung ihrer Wohnungen zu Gemeinschaftswohnungen erdulden. So erinnerte sich die Tochter S. L. Maslovs daran, wie nach dessen Verhaftung ein Zimmer in ihrer Wohnung beschlagnahmt worden war. Dieser Zustand dauerte 20 Jahre an.186 Die Ehefrau Rybnikovs führte nach der Inhaftierung ihres Mannes einen jahrelangen Briefwechsel mit verschiedenen Behörden, weil ein Teil ihrer Wohnung einem wissenschaftlichen Institut angegliedert wurde. Auch Kondrat’evs Frau beklagte sich nach dessen Inhaf­tierung regelmäßig über die erschwerten Wohnbedingungen.187 Mitunter wurden die Angehörigen selbst Opfer von Repressionen, wie die Ehefrau Čajanovs, die 1938 als Angehörige eines „Volksfeindes“ zu acht Jahren Lagerhaft und 1948 zu weiteren acht Jahren Lagerhaft verurteilt wurde.188 Mit der offiziellen Diskreditierung des Terrors nach dem Tode Stalins hofften die Angehörigen der Opfer auf eine Erleichterung ihrer Lage. Nachdem sie Gewissheit über den Tod ihrer Familienmitglieder erhalten hatten, setzten sich viele Hinterbliebene für die juristische Anerkennung des Unrechts ein, das ihren Familien widerfahren war. Dabei ging es ihnen nicht zuletzt um eine materielle Kompen­sation: Ein im September 1955 vom Rat der Volkskommissare verabschiedeter und durch das Zentralkomitee bestätigter Erlass sah eine Entschädigung von Reha­bilitierten oder ihren Hinterbliebenen vor. Im Falle einer posthumen Reha­ bilitation sollten bedürftige Angehörige eine einmalige Entschädigung im Umfang eines doppelten Monatseinkommens des Opfers, eine Hinterbliebenenrente sowie eine Wohnraumgarantie erhalten.189 Wie tausende andere Hinter­bliebene wandten sich auch die Angehörigen der verfolgten Ökonomen und Agrarwissenschaftler in den späten 1950er Jahren mit ­Rehabilitierungsgesuchen an die Staatsanwaltschaft. Sie sammelten Gutachten, in denen ­Familienmitglieder oder Kollegen

185 Entwurf eines Bittschreibens von G. S. Čajanova [1931], RGAĖ f. 731, op. 1, d. 102, l. 5 – 6. 186 G. S. Maslova, Erinnerungen an S. L. Maslov, RGAĖ f. 1055, op. 1, d. 27, l. 65. 187 Briefmanuskripte Z. A. Rybnikovas an verschiedene Behörden, RGAĖ f. 9470, op. 1, d. 150. Kondrat’ev ermutigt seine Frau, sich bei den Behörden über den Nachbarn zu beschweren, der nun mit ihr in der Wohnung lebte. Kondrat’ev an seine Frau [10. Juni 1932], in: Kljukin u. a. (Hg.), ­Suzdal’skie pis’ma, S. 77. 188 Dokumente zur Rehabilitierung O. Ė. Gur’evič (Čajanova), RGAĖ f. 731, op. 2, d. 15, l. 1 – 5. 189 Vgl. den Gesetzestext in Artizov u. a. (Hg.), Reabilitacija, Bd. 1, S. 257 – 259.

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die loyale Einstellung der Opfer gegenüber der sowjetischen Führung bezeugten, und suchten Unterstützung bei Partei- und Staatsfunktionären.190 Während Čajanov, Minin und Tejtel bereits in den späten 1950er Jahren reha­bilitiert wurden, ging der ­Reha­­­bi­litierung in anderen Fällen ein mehrjähriges Ringen mit den verschiedenen Instanzen der Staatsanwaltschaft voraus. Obwohl die Witwe Rybnikovs bereits im Jahr 1955 einen entsprechenden Antrag eingereicht hatte, wurde dieser erst im Mai 1963 rehabilitiert. Im gleichen Monat wurden auch die 1938 gegen Kondrat’ev, Sadyrin und Litošenko gefällten Todesurteile für rechtswidrig erklärt.191 Die Rehabilitierungspolitik N. S. Chruščevs wurde den Erwartungen der Zeit­genossen nicht gerecht. Nach der Rehabilitierung ihres Mannes legte Z. A. R ­ ybnikova mehrfach Widerspruch ein, weil die ihr zugebilligte einmalige Kompensations­zahlung auf der Basis von dessen letzten Einkommen berechnet worden war. R ­ ybnikov, der eigentlich den Titel eines Professors geführt hatte, war nach seiner ersten Verhaftung in den 1930er Jahren als einfacher Angestellter in einem wissen­schaftlichen Institut tätig gewesen. Dass die Behörden bei der Bemessung der Entschädigung weder das vormalige Professorengehalt R ­ ybnikovs zu Grunde legten noch ihr eine dauerhafte Hinterbliebenenrente zubilligten, empfand Rybnikova als unange­messen.192 Die Grenzen des D ­ estalinisierungsprozesses zeigten sich jedoch nicht nur an den ­Versuchen der Behörden, die materiellen Entschädigungen der Hinterbliebenen so gering wie möglich zu halten. In den meisten Fällen war die Rehabilitierung ein formeller Akt, der das öffentliche Ansehen der Terroropfer unberührt ließ. Die Auseinander­setzung mit dem Erbe des Stalinismus beschränkte sich auf die formelhafte Diskreditierung des Personenkults und der Säuberungen der 1930er Jahre. Angesichts der unge­brochenen Befürwortung des Stalinschen Industriali­sierungskurses fand eine Debatte über mögliche Alternativen nicht statt. Ebenso wie eine k ­ ritische Neu­bewertung der Kollektivierung, für die sich der Historiker V. P. Danilov einsetzte,193 blieb auch die Auseinandersetzung mit den Kritikern der Parteilinie politisch tabu.194

190 Rybnikovs ehemalige Kollegen und sein Bruder verfassten Gutachten, in denen sie die wissenschaftlichen Qualitäten Rybnikovs und dessen Loyalität gegenüber der Sowjetunion bestätigten. RGAĖ f. 9470, op. 1, d. 135, l. 5 – 11. Die Angehörigen Maslovs entwarfen ähnliche Briefe. RGAĖ f. 1055, op. 1, d. 18. 191 „Žertvy političeskogo terrora v SSSR“; Danilov, Predislovie, S. 45. 192 Entwurf eines Beschwerdebriefs Rybnikovas, RGAĖ f. 9470, op. 1, d. 133, l. 5. Die Leitung der sowjetischen Geographischen Gesellschaft, deren Mitglied Rybnikov gewesen war, unterstützte das Rehabilitierungsgesuch Rybnikovas, RGAĖ f. 9470, op. 1, d. 149, l. 10, 12. 193 Marwick, Thaws, S. 183f. 194 Dies zeigt am Beispiel der zögerlichen Wiederannäherung an den während des Terrors hingerichteten bolschewistischen Politiker N. I. Bucharin Junge, Bucharins Rehabilitierung, S. 80 – 88.

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Entsprechend bezog sich die Rehabilitierung der Agrarexperten ausschließlich auf die Hochphase des Terrors 1936/37. Makarovs Berufung gegen seine Verurteilung im Jahr 1932 wurde 1961 zurückgewiesen.195 Ein 1963 im Zusammenhang mit der Rehabilitierung Kondrat’evs verabschiedetes Rechtsgutachten erwähnte zwar, dass dieser bereits 1932 verurteilt worden war.196 Im Oktober 1963 teilte die Staatsanwaltschaft der Witwe des Ökonomen jedoch mit, dass nach einer Überprüfung des Verfahrens von 1932 Kondrat’evs Schuld festgestellt worden sei und es daher keinen Grund für einen juristischen Einspruch gebe.197 Die Logik hinter diesen Ablehnungen war eindeutig: Die Agrarexperten wurden zwar als Opfer des Personenkults und des Terrors rehabilitiert. Dass sie eine von der Generallinie abweichende Politik vertreten hatten, galt hingegen weiterhin als ein Strafbestand. Paradoxerweise wurde das öffentliche Schweigen über die während des ­Stalinismus hingerichteten Agrarexperten ausgerechnet in der Zeit der „Ent­ stalinisierung“ zur allgemeinen Norm.198 Ebenso wie im Fall des Parteiideologen N. I. Bucharin blieb die Rehabilitierung der vorrevolutionären Agrarexperten eine Privatan­gelegenheit der hinterbliebenen Familienmitglieder.199 Die formaljuristische Anerkennung, dass die Todesurteile der Jahre 1937/38 die Prinzipien der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ verletzt hatten, brachte den Hinterbliebenden mitunter materielle Erleichterungen. Sie stellte jedoch weder das öffentliche Ansehen der Opfer wieder her, noch setzte sie eine Auseinandersetzung mit deren intellektuellen Erbe in Gang. Der Einfluss von bekennenden Stalinisten während der Herrschaft L. I. Brežnevs zementierte das Schweigen, das die Agrarexperten umgab. Ihre Theorien wurden nicht gelehrt, und ihre Arbeiten waren in sowjetischen Bibliotheken kaum zugänglich.200 Ein Jubiläums­band zum 100-jährigen Bestehen der Moskauer Landwirtschaftlichen Akademie hob zwar die führende Bedeutung des Lehrstuhls für Agrarökonomie in den 1920er Jahren hervor,201 erwähnte die Namen der 1930 verhafteten Wissenschaftler jedoch an keiner Stelle. Darüber hinaus zogen es auch die wenigen überlebenden Kollegen vor, ihr früheres berufliches Umfeld öffentlich nicht zu thematisieren. Als M ­ akarov anlässlich des Jubiläums des Voronežer 195 Schreiben der Staatsanwaltschaft an Makarov [24. August 1961], RGAĖ f. 766, op. 1, d. 238, l. 6. 196 Beschluss des Obersten Gerichts der Sowjetunion [1963], in: Kljukin u. a. (Hg.), Suzdal’skie pis’ma, S. 736f. 197 Schreiben von der sowjetischen Staatsanwaltschaft an E. D. Kondrat’eva [16. Oktober 1963], RGAĖ f. 769, op. 1, d. 73, l. 2. 198 Shanin, Chayanov’s treble death, S. 90 – 93. 199 Zur Rolle von Bucharins Verwandten im Rehabilitierungsprozess siehe Junge, Bucharins Reha­ bilitierung, S. 90 – 97. 200 Hieran erinnern sich Efimkin, Dvaždy reabilitirovannye, S. 208f. sowie Nikonov, Istoričeskij put’, S. 13. 201 Moskovskaja Sel’skochozjajstvennaja Akademija, S. 198.

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Landwirtschaftlichen Instituts im Jahr 1965 eine autobiographische Skizze anfertigte, erwähnte er zwar, dass er sich wie die meisten Agrarökonomen bis 1927 mit der bäuerlichen Wirtschaft beschäftigt hatte. Der Ökonom nahm aber während des Schreibens Abstand von der Idee, seine ehemaligen Kollegen und Freunde explizit zu benennen. Nach dem Abschluss des Manuskripts strich er die Namen Čajanovs, Rybnikovs, Čelincevs, Minins und ­Kostrovs aus dem Text.202 Makarovs Entscheidung war sympto­matisch: Wer sich an die Traditionen des vorstalinistischen Agrardiskurses erinnerte, sah davon ab, von ihnen zu sprechen – das Erbe des Agrarismus versank in einem kollektiven Schweigen.

4.2.3  Einsame Ankunft im Sozialismus Ohne Zweifel war die Zeit der großen Säuberungen eine Wasserscheide in der Kollektiv­biographie der vorrevolutionären Agrarexperten. Als Angehörige der zarischen Bildungseliten waren diese von der pauschalen Zuordnung ganzer Bevölkerungsgruppen zur Kategorie der „antisowjetischen Elemente“ betroffen. Führende Anhänger des Agrarismus bezahlten die gewaltsame Homogenisierung der ­sowjetischen Gesellschaft mit ihrem Leben. Die Entfesselung der Gewalt gegen die zivile Bevölkerung erfasste jedoch nicht alle Personen, die per definitionem in die als „Feinde“ stigmatisierten Bevölkerungsgruppen fielen. Trotz einer hohen statistischen Wahrscheinlichkeit, Opfer der Verfolgungen zu werden, war der Verlauf des einzelnen Lebenslaufs alles andere als vorherbestimmt. Ungeachtet ihrer öffent­ lichen Diskreditierung am Ende der 1920er Jahre entgingen einige in den Jahren des Terrors einer weiteren Verhaftung. Doch auch für sie waren die 1930er Jahre eine Wendezeit. Nach der Erfahrung von Willkür, Gewalt und Ausgrenzung veränderten sie die Strategien gesellschaftlichen Handels. Sie verzichteten auf die gemeinsame Artikulation ihrer Ansichten und suchten Zuflucht in gesellschaftlichen Nischen, die ihnen als Einzelpersonen ein relativ unbehelligtes Auskommen ermöglichten. Der Prozess der gesellschaftlichen Reintegration verlief im Einzelfall sehr unterschiedlich. Während die Ökonomen Kafengauz und Kacenelenbaum bereits am Ende der 1930er Jahre Positionen erlangten, die ihrem früheren Status und ihrer fach­lichen Spezialisierung annähernd entsprachen, verlief die berufliche Rehabilitierung Čelincevs, Dojarenkos und Makarovs ausgesprochen schleppend. Die vorherige Stigmatisierung als „Volksfeinde“ stand einer Rückkehr in ihre früheren Tätigkeitsfelder über Jahre im Wege. Nach seiner Entlassung aus dem Narkomzem

202 Autobiographische Skizze aus Anlass des Jubiläums des Voronežer Landwirtschaftlichen Instituts, RGAĖ f. 766, op. 1, d. 196, l. 14.

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im Jahre 1937 machte Čelincev die bittere Erfahrung, dass seine gesellschaftliche Reputation durch seine Verhaftung im Jahre 1930 nachhaltig beschädigt war. Čelincev hatte 1937 das Angebot erhalten, als leitender agrartechnischer Berater in der Landwirtschafts­sektion von Gosplan zu arbeiten. Als die Leitung der Behörde während der Säuberungen des Staatsapparats ausgetauscht wurde, verlor diese Zusage jedoch ihren Wert. Der neue Vorsitzende des Gosplan G. I. Smirnov war offensichtlich besorgt, er könne sich verdächtig machen, wenn er einen Ökonomen in seine Behörde aufnahm, der im Vorfeld als „Volksfeind“ angeklagt gewesen war. Mit dem Argument, Čelincev sei „politisch diskreditiert“, lehnte er dessen Einstellung ab.203 Auch Dojarenko hatte nach Ablauf seiner Verbannungszeit Schwierigkeiten, beruflich Fuß zu fassen. Nachdem er sich vergeblich um eine Anstellung in Moskauer landwirtschaftlichen Instituten und agrarpolitischen Behörden bemüht hatte, nahm er 1939 eine Anstellung am Getreidewirtschaftlichen Institut in Saratov an, wo er bis zu seinem Tod leben sollte.204 Makarov wurde bis in die 1950er Jahre wiederholt damit konfrontiert, dass die gesellschaftliche Stigmatisierung das offizielle Ende seiner Strafe überdauerte. Im Auftrag des Allunionsinstituts für Weltwirtschaft war er 1940 mit Vorarbeiten für die Produktionsplanung einer MTS im Gebiet Rostov betraut. Seine Anbindung an das Institut war jedoch nur von kurzer Dauer. 1940 wurde ihm während einer Dienstreise die für den Aufenthalt in Moskau erforderliche polizeiliche Registrierung verweigert, weil er trotz des Ablaufs seiner Strafe noch immer als straffällig galt.205 An seiner Arbeitsstelle wurde er systematisch ausgegrenzt. Die Leitung des Weltwirtschaftlichen Instituts stufte die Arbeiten Makarovs als „politisch schädlich“ ein und verweigerte ihre Veröffentlichung. Makarov, der beschuldigt wurde, die Entwicklung der sowjetischen Landwirtschaft durch die Projektion niedriger Ernte­erträge und übermäßiger Investitionen zu schädigen, musste daher von jeglicher wissenschaftlicher Tätigkeit Abstand nehmen.206 Die Rückkehr in die akademischen Strukturen gelang Čelincev, Makarov und Dojarenko mit der Hilfe von Patronen in sowjetischen Behörden. Nach dem Ende der großen Säuberungen hatte sich das Klima in wissenschaftlichen Institutionen etwas entspannt, und so setzten sich einige Vertreter von Agrarwissenschaft und -politik in den 1940er Jahren für die in Fachkreisen noch immer gut bekannten 203 Entwurf eines Schreibens Čelincevs an das ZK-Mitglied Ja. A. Jakovlev [1937], RGAĖ f. 771, op. 1, d. 257, l. 9. G. I. Smirnov, der das Amt des Vorsitzenden von Gosplan im Februar 1937 übernommen hatte, wurde im Oktober 1937 verhaftet und im folgenden Jahr hingerichtet. 204 E. A. Dojarenko, Erinnerungen an A. G. Dojarenko, RGAĖ f. 9474, op. 1, d. 254, l. 34f. 205 Aufgehoben wurde der Straftatbestand Makarovs schließlich erst im Zusammenhang mit der Amnestie nach dem Tode Stalins. Vgl. Schreiben der Obersten Staatsanwaltschaft an N. P. M ­ akarov [10. Oktober 1953]. RGAĖ f. 766, op. 1, d. 238, l. 5. 206 Entwurf eine Schreibens an den Vorsitzenden des sowjetischen Volkskommissariats für Landwirtschaft I. A. Venediktov, RGAĖ f. 766, op. 1, d. 67, l. 12 – 13.

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Experten ein. Čelincev erhielt aktive Unterstützung durch den Statistiker V. S. Nemčinov, der zwischen 1940 und 1948 die Timirjazev-Akademie leitete. Dass Nemčinov in den 1920er Jahren als einer der schärfsten Kritiker der Bauernwirtschaftstheorie aufgetreten war, hinderte ihn nicht daran, die Wiederherstellung von Čelincevs professioneller Reputation zu fördern. Der Ökonom, der später für seine Vorschläge zur Reformierung der Planwirtschaft bekannt werden sollte,207 sah in der Ausschaltung der alten Eliten offensichtlich einen politischen Fehler. In einem Gutachten über die wissenschaftliche Laufbahn Čelincevs erwähnte Nemčinov zwar dessen frühere „theoretische Irrtümer“. Er würdigte jedoch die Leistungen des Öko­nomen auf dem Gebiet der Wirtschaftsgeographie ländlicher Räume und sprach sich dafür aus, Čelincev den Titel eines Doktors der Wirtschaftswissenschaften zu verleihen, obwohl dieser keine entsprechende Qualifikationsarbeit eingereicht hatte.208 ­Dojarenko wurde von der Leitung des Instituts für Getreidewirtschaft in Saratov protegiert.209 Nachdem er einige Jahre im Labor für Agrochemie und landwirtschaftliche Bodenkunde tätig gewesen war, forderten ihn seine Kollegen in ­Saratov 1947 dazu auf, für die vakante Professur in allgemeiner Landwirtschaftslehre zu kandidieren. Kurz darauf wurde ­Dojarenko „als einer der wichtigsten Vertreter der Agrarwissenschaft“ zum Leiter des Lehrstuhls gewählt.210 Auch für Makarov, der seit der Mitte der 1930er Jahre als Agronom auf Kolchosen, Sowchosen und MTS gearbeitet hatte, verbesserten sich am Ende der 1940er Jahre die Aussichten auf eine Rückkehr in die Wissenschaft. Offensichtlich durch das Einwirken des sowjetischen Agrarministers I. A. Venediktov, der den Ökonomen im Verlauf der 1940er Jahre mehrfach unterstützt hatte,211 erhielt Makarov 1948 eine Anstellung als Dozent am Lehrstuhl für die Organisation sozialistischer Agrarbetriebe am Landwirtschaft­lichen Institut in Vorošilovgrad (Lugansk).212 Die Wiederherstellung ihrer wissenschaftlichen Reputation gelang den Experten jedoch nur bedingt. Als die Lehre des Pflanzenzüchters T. D. Lysenko, der aufgrund einiger Versuche zur Behandlung von Keimlingen und Saatgut eine Revolution der landwirtschaftlichen Erträge versprach, 1948 zum wissenschaftlichen Dogma erhoben 207 Sutela, Economic Thought, S. 62 – 67. 208 Gutachten Nemčinovs über die Arbeiten Čelincevs [28. März 1944], RGAĖ f. 771, op. 1, d. 286, l. 1 – 3. 209 Dies betont Kurenyšev, Dojarenko, S. 73. 210 Schreiben des Instituts an Dojarenko [Mai, August 1947], RGAĖ f. 9474, op. 1, d. 223, l. 8 – 9. 211 Dass sich I. A. Venediktov in den 1940er Jahren wiederholt für die Belange N. P. Makarovs eingesetzt hatte, geht hervor aus Briefmanuskripten Makarovs an den Agrarminister. RGAĖ f. 766, op. 1, d. 66, l. 1 – 2. 212 Anweisung des sowjetischen Ministeriums für Hochschulbildung zur Anstellung Makarovs [14. Januar 1948], RGAĖ f. 766, op. 1, d. 59, l. 7.

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N. P. Makarov (o., Dritter v. r.) in einem Album mit Absolventen des Landwirtschaftlichen Instituts Vorošilovgrad (1950)

wurde, fand die berufliche Rehabilitierung Dojarenkos ein jähes Ende. ­Dojarenko galt als Kritiker des bereits 1946 verstorbenen Bodenkundlers V. R. Vil’jams, auf dessen Arbeiten sich Lysenko mehrfach bezogen hatte. Vil’jams war ein strikter Gegner anorganischer Düngeverfahren gewesen, mit denen sich Dojarenko seit dem Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn auseinandergesetzt hatte. Für Vil’jams führte der Königsweg zur Steigerung der Bodenfruchtbarkeit über den Anbau mehrjähriger Futter­ gräser. Nach der politischen Entscheidung über die wissenschaftliche Führungsrolle Lysenkos wurde auch das von Vil’jams propagierte Fruchtwechselsystem mit Futtergräsern (travopol’naja sistema) zum Dogma erhoben und seine Kritiker aus den wissenschaftlichen Institutionen verdrängt.213 Wie zahlreiche andere Agrarwissenschaftler verlor Dojarenko, der die Bedeutung mehrjähriger Gräser für die Bodenfruchtbarkeit bezweifelte, Ende 1948 seine Anstellung am Institut für Getreidewirtschaft in Saratov.214 Auch im Fall Čelincevs schlug sich der Anschluss an die institutionellen Strukturen der sowjetischen Agrar­wissenschaft nicht in einem entsprechenden Zuwachs an

213 Zu Lysenko siehe Beyrau, Intelligenz, S. 102 – 117. 214 Kurenyšev, Dojarenko, S. 75.

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wissenschaftlicher Autorität nieder. Zwar führte der Agrarwissenschaftler im Auftrag der Timirjazev-Akademie kleinere Forschungsarbeiten durch.215 Die gelegentliche Kooperation mit der Akademie stellte jedoch weder die frühere fachliche Reputation des Ökonomen wieder her, noch erlaubte sie ihm, ausschließlich auf seinem Fachgebiet tätig zu sein. Bis zu seiner Pensionierung bezog Čelincev sein Haupteinkommen aus einer Anstellung am Allunionsinstitut der Konservenindustrie, dessen wissenschaftliche Bedeutung in keinem Verhältnis zur Reputation der Timirjazev-Akademie stand.216 Mit ihrer Rückkehr in das sowjetische Hochschulsystem verbanden die Agrar­ experten mehr als ein berufliches Auskommmen. Trotz ihrer Marginalisierung als wissenschaftliche und intellektuelle Elite bildete die Sowjetunion weiterhin ihr intellektuelles und soziales Bezugssystem. Nicht der Rückzug aus der Gesellschaft oder die Suche nach einer unbehelligten Existenz an derem Rande, sondern das Streben nach Akzeptanz und beruflichem Ansehen kennzeichnete ihr gesellschaftliches Handeln. Ihr Wunsch nach einer Integration in die sowjetische Gesellschaft zeigte sich nicht nur in den Versuchen zur Wiedereingliederung in die institutionellen Strukturen des Forschungs- und Hochschulwesens, sondern auch in der öffentlich artikulierten Akzeptanz gesellschaftlicher Wertmaßstäbe und Verhaltensnormen. Als sie wieder Anschluss an agrarwissenschaftliche Lehr- und Forschungseinrichtungen gefunden hatten, legten Makarov und Čelincev Doktoratsprüfungen ab.217 In beiden Fällen waren die Prüfungen nicht zwingend für das berufliche Fortkommen erforderlich: Čelincev war der wissenschaftliche Grad ohne eine Prüfung zugesagt worden, während Makarov zum Zeitpunkt des Verfahrens längst den Status eines Professors wiedererlangt hatte. Darüber hinaus erfüllten die Agrarexperten nach ihrer Rückkehr an Hochschulen und Forschungseinrichtungen die Anforderungen „gesellschaftlicher Aktivität“. Sie verfassten Beiträge für die Wandzeitungen ihrer Institute, hielten Vorlesungen für Parteiabgeordnete oder organisierten, wie ­Dojarenko, Kulturveranstaltungen.218 Unabhängig davon, ob die Wissenschaftler derartige Aufgaben für sinnvoll erachteten, oder ob sie aus reinem Opportunismus handelten: Ihre Anpassung an die herrschenden Verhaltensmaßstäbe zeigt den Wunsch nach einer formellen Bestätigung ihrer Zugehörigkeit zum sowjetischen Wissenschaftssystem, aus dem sie einst ausgeschlossen worden waren, und die Hoffnung auf eine vollständige gesellschaftliche Rehabilitierung.

215 Empfehlungsschreiben Nemčinovs [16. August 1946], RGAĖ f. 771, op. 1, d. 199, l. 21. 216 Nachweise über die berufliche Tätigkeit Čelincevs in den 1940er Jahren, RGAĖ f. 771, op. 1, d. 200, l. 3, 7, 9, 10. 217 Galas, Sud’ba, S. 179. 218 Dies geht hervor aus verschiedenen Beurteilungsschreiben, die Čelincev, Dojarenko und Makarov von sowjetischen Hochschulen ausgestellt wurden. RGAĖ Fond 771, op. 1, d. 256, l. 1,2; RGAĖ Fond 9474, op. 1, d. 217, l. 70, 74, 80; RGAĖ Fond 766, op. 1, d. 59, l. 1.

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Nach dem Tode Stalins veränderte sich die Situation für die drei Agrarexperten. Obwohl die Grundfesten der sowjetischen Agrardoktrin weiterhin nicht zur Disposition standen, häuften sich seit den späten 1950er Jahren die Anzeichen einer inhaltlichen Öffnung der Agrarwissenschaften. Nachdem der Ministerrat im Februar 1956 das niedrige Niveau der Agrarwissenschaften beklagt hatte, begann eine zögerliche Wiederannäherung an die abgerissenen Traditionen der 1920er Jahre.219 Auch wenn weder der Sinn der Kollektivierung in Frage gestellt noch die Verfolgungen von Agrarwissenschaftlern und Ökonomen offen thematisiert wurden, setzte ein ideologisches Tauwetter ein. Dojarenko, Čelincev und M ­ akarov erlangten nun einen Teil ihrer Reputation zurück. Im Fall Dojarenkos erfolgte die Wiederherstellung des professionellen Ansehens sogar auf die Initiative N. S. Chruščevs. Während eines Besuchs in Saratov bemerkte der Parteisekretär 1954, der sowjetischen Landwirtschaft würde es deutlich besser gehen, wenn Spezialisten wie der 1938 hingerichtete Tulajkov oder Dojarenko das Sagen hätten.220 Nachdem Chruščev Vil’jams’ Traum einer flächendeckenden Einführung des Graslandbrachesystems als haltlos bezeichnet und Dojarenko im Jahr 1961 zu den fähigen Kritikern Vil’jams gezählt hatte, war Dojarenkos wissenschaftlicher Ruf endgültig wiederhergestellt.221 Für den Agronomen kam dies jedoch zu spät. Als der Generalseketär seine entscheidende Rede hielt, war Dojarenko bereits verstorben.222 Čelincev nahm Chruščevs Landwirtschaftsreformen zum Anlass, um sich als agrarpolitischer Experte ins Gespräch zu bringen. Der Agrarwissenschaftler unterbreitete den sowjetischen Behörden Vorschläge zur Erhöhung der wirtschaftlichen Autonomie von Agrarbetrieben sowie zu ihrer stärkeren Einbindung in die landwirtschaftliche Planung. In mehreren Schreiben kritisierte Čelincev außerdem, dass die Vergrößerung der Kolchosen vielerorts zu Produktionseinbußen führte, weil sie ohne Rücksicht auf die in den einzelnen Betrieben verfügbare Arbeitskraft sowie die vorhandenen technischen Produktionsmittel erfolgt sei.223 Zwar ist nicht davon auszugehen, dass Čelincevs Initiativen die Agrarpolitik der sowjetischen Führung beeinflusst haben. Nach seiner Pensionierung verfügte der Agrarwissenschaftler über keinen Status mehr, der ihm die notwendige Autorität gegenüber den Behörden verliehen hätte. Allein dass mehrere Behörden Čelincevs

219 Nikonov, Spiral’, S. 321 – 326. 220 Kurenyšev, Dojarenko, S. 79f. 221 „Reč’ tovarišča N. Chruščeva na soveščanii rabotnikov sel’skogo chozjajstva Sibiri 26 nojabrja 1961 g. v gorode Novosibirske“, in: Pravda, 29.11.1961, S. 1. 222 Dojarenko starb am 8. Mai 1958. Kurenyšev, Dojarenko, S. 80. 223 Čelincevs Forderungen nach einer Einbeziehung der Betriebe in den Planungsprozess wies starke Ähnlichkeit mit dem von Nemčinov während der 1960er Jahre geäußerten Vorschlägen zur Reformierung der sowjetischen Wirtschaftsplanung auf.

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Kontexte des Erinnerns und Vergessens A. N. Čelincev (Anfang der 1960er Jahre)

Schreiben mit dem höflichen Hinweis beantworteten, man habe seine Vorschläge berücksichtigt, deutet jedoch darauf hin, dass dieser zumindest vom Stigma eines Verräters befreit war.224 Einzig Makarov, der Dojarenko und Čelincev um fast zwei Jahrzehnte überlebte, erlangte noch zu Lebzeiten wissenschaftliche Anerkennung. Nachdem Makarov nach fast 20-jähriger Verbannung 1955 die Erlaubnis zur Rückkehr nach Moskau erhalten und dort eine Professur für Wirtschaft und Organisation sozialistischer Agrarbetriebe am Allunionsferninstitut für Agrarwissenschaften übernommen ­hatte,225 profilierte er sich erneut auf dem Gebiet der Agrarökonomie. Zwar sollte er sich nie wieder seinem früheren Interessengebiet, der familiären Agrarproduktion, zuwenden, sondern 224 Briefwechsel Čelincevs mit dem sowjetischen Behörden zu agrarpolitischen Fragen [späte 1950er Jahre bis 1960], RGAĖ f. 771, op. 1, d. 230, d. 231, d. 234. 225 Dokumente zur Tätigkeit Makarovs am Allunionsferninstitut für Agrarwissenschaft, RGAĖ f. 766, op. 1, d. 61, l. 11, 22 – 21.

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A. G. Dojarenko in ­Saratov (1956)

die idealtypische Gliederung der sowjetischen Landwirtschaft in ­Kolchosen und Sowchosen als analytisches Gerüst übernehmen. Makarovs Arbeiten aus den 1960er Jahren waren jedoch alles andere als blinde Bekenntnisse zum Marxismus-Leninismus. Vielmehr spiegelten sie die Wiederbelebung der sowjetischen Wirtschaftswissenschaften in der ersten Hälfte der 1960er Jahre, als Politiker und Ökonomen angesichts rückläufiger Wachstumsraten und andauernder Produktionsrückstände über eine Reformierung der Planwirtschaft nachdachten. Zwar blieb das Moment der Planerfüllung für Makarovs Konzeption sozialistischer Agrarbetriebe zentral. Dass man öffentlich erwog, die Entscheidungskompetenzen von Betrieben auszuweiten und durch eine entsprechende Preispolitik sowie die Erlaubnis von Überschüssen Anreize für wirtschaftliche Eigeninitiative zu schaffen,226 zeigte sich jedoch auch in Makarovs Arbeiten. Die Rehabilitierung von Begriffen wie Rentabilität, Gewinn

226 Sutela, Economic Thought, Kap. 3.

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oder wirtschaftliche Rechnungsführung (chozrasčet) erlaubte ihm die Rückkehr zu Konzepten, die am Beginn der 1930er Jahre aus der sowjetischen Agrarökonomie verbannt worden waren. In seiner 1966 publizierten Monographie über die „Ökonomischen Produktionsbedingungen in Kolchosen und S ­ owchosen“ betonte M ­ akarov, dass sozialistische Agrarunternehmen nach dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit organisiert seien und auf größtmögliche Rentabilität sowie die Erwirtschaftung von Gewinn zielten.227 Freilich ließen derartige Aussagen die Grund­lagen des sowjetischen Wirtschaftsverständnisses unberührt; eine Wiederherstellung marktwirtschaftlicher Konkurrenz blieb vorläufig weiterhin ausgeschlossen. Unverkennbar war nun aber die wachsende Sensibilität für den Zusammenhang von individuellem bzw. unternehmerischem Interesse und gesamtwirtschaftlichem Erfolg. Trotz des anhaltenden Tabus, mit dem die während des Stalinismus marginalisierten Agrarexperten weiterhin belegt blieben, ermöglichte die Entlehnung von Konzepten aus marktwirtschaftlichen Modellen den Rekurs auf intellektuelle Traditionen, die am Beginn der 1930er Jahre abgerissen waren. In den Arbeiten ­Makarovs war dieser Trend kaum zu übersehen. Obwohl der Agrarökonom die zentralen Kate­gorien der marxistischen Wirtschaftslehre benutzte und sich damit dem ideolo­gischen Hegemonialanspruch der Partei unterordnete, nahm er Bezug auf das Erbe der vorstalinistischen Agrarökonomie. In einem 1963 herausgegebenen Lehrbuch zur Organisation sozialistischer Agrarbetriebe entwarfen Makarov und der Moskauer Agrarwissenschaftler L. M. Zal’cman die Grundzüge einer „neuen Wissenschaft“. Diese sollte die Erfahrungen aus der sowjetischen landwirtschaftlichen Praxis mit internationalen Erkenntnissen sowie mit Wissensbeständen aus der vorrevolutionären russischen Agrarwissenschaft verbinden.228 Auch wenn es ­Makarov vermied, seine früheren Kollegen namentlich zu erwähnen, zogen sich deren Ideen wie ein roter Faden durch sein spätes Werk. Dies betraf nicht nur den Hinweis auf die Bedeutung natürlicher Faktoren,229 sondern auch seine Ausführungen zur räumlichen Dimension der Landwirtschaft. Diese erinnerten an die in ­Makarovs früherem Umfeld intensiv rezipierten Arbeiten Johann Heinrich von Thünens sowie Čelincevs und Rybnikovs Forschungen auf dem Gebiet der Agrargeographie. Am auffälligsten war Makarovs Bekenntnis zu den vorstalinistischen Traditionen in Bezug auf die Frage opti­maler Betriebsgrößen. Zwar wagte es Makarov nicht, die 227 Makarov, Ėkonomičeskie osnovy, S. 6. 228 Zal’cman; Makarov, Organizacija, S. 3. 229 „In der Landwirtschaft haben biologische Prozesse, die auf der Nutzung von Sonnenlicht und dem Wachstum des Zellenmaterials der Pflanzen beruhen, eine große Bedeutung.“ Makarov, ­Ėkonomičeskie osnovy, S. 5. Hier erinnert Makarovs Darstellung sogar sprachlich an die früheren Arbeiten Čajanovs, in denen dieser die Landwirtschaft immer dadurch von der Industrie abgegrenzt hatte, dass die Landwirtschaft nichts weiter sei als die „menschliche Nutzung des Sonnenlichts, das auf die Erde fällt“. Vgl. Čajanov, Agrarnyj vopros, S. 22.

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Annahme von der Vorteilhaftigkeit großer landwirtschaftlicher Produktions­einheiten in Zweifel zu ziehen. Er warnte jedoch vor Betriebszusammenlegungen ohne begleitende Maßnahmen zur innerbetrieblichen Spezialisierung und Intensivierung: „Die Erfahrungen der Jahre 1928 – 1932, 1950 – 51 und der Jahre 1958 – 60 zeigen an, dass eine übermäßige Vergrößerung der Kolchosen und Sowchosen nicht zu positiven Resultaten führt. Stattdessen ist es nötig, unter Berücksichtigung der Bedingungen eines jeden Agrar­unternehmens eine rationelle Vergrößerung und optimale Produktionsgrößen anzustreben.“230 Makarovs Kritik an der pauschalen Konzentration der Produktion wies nicht nur deutliche Parallelen zu den Beschwerde­briefen auf, die Čelincev während der 1950er Jahre an agrarpolitische Gremien von Partei und Staatsapparat gerichtet hatte. In ihr zeigte sich auch die Tradition von Čajanovs Theorie der optimalen Betriebsgrößen aus den frühen 1920er Jahren. Auch wenn die hier aufgeführten Lebenswege nur Einzelbeispiele sind, so illustrieren sie doch, dass das Schicksal der spätzarischen Eliten in der Sowjetunion alles andere als determiniert war. Es bleibt unbestritten, dass der Stalinismus für die Agrarexperten, die im späten Zarenreich an die Möglichkeit einer bäuerlichen Agrarmodernisierung geglaubt hatten, einen tiefen Einschnitt bedeutete. Dies zeigte sich sowohl in den individuellen Lebensläufen als auch auf der Ebene ihrer kollektiven Biographie. Am Beginn der 1930er Jahre verloren die Agrarexperten ihren Status als Experten. Für viele von ihnen wurden staatliche Willkür und Gewalt zu einer unmittelbaren Erfahrung. Ihre Marginalisierung und Stigmatisierung führte darüber hinaus zur Auflösung des sozialen Netzwerks und der institutionellen Strukturen, in denen sie sich bis zur ihrer Verhaftung bewegt hatten. Gleichwohl führte der staatlich initiierte Elitenwechsel in Agrarökonomie und -politik weder zur physischen Auslöschung aller Angehörigen der alten Eliten, noch verdammte er die Überlebenden zu einer dauerhaften Existenz am Rande der Gesellschaft. Es entstand vielmehr eine ausgesprochen paradoxe Situation. Obwohl die Agrarexperten ihre gesellschaftliche Marginalisierung und die Auflösung ihres früheren Um­­feldes als eine persönliche und kollektive Tragödie erlebten, so waren es gerade diese Entwicklungen, die ihnen den Weg in die sowjetische Gesellschaft ebneten. Wenn nicht in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre, so zeigte sich spätestens nach dem Tod Stalins, dass eine frühere Zugehörigkeit zu den alten Eliten kein gesellschaftliches Ausschlusskriterium darstellte. Die Integration in die sowjetische Gesellschaft setzte jedoch nicht nur die offen artikulierte Unterordnung unter den Hegemonialdiskurs der Partei voraus. Sie verlangte von den vorrevolutionären Experten auch, dass sie auf kollektives öffentliches Handeln verzichteten: Wenn sie gelang, so war die Ankunft im Sozialismus einsam.

230 Makarov, Ėkonomičeskie osnovy, S. 21.

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4. 3  Ko nju n k t u r e n d e r i n - u nd a u sl ä nd i s che n Re z e pt io n 4.3.1  Čajanov und die Krise der Modernisierungstheorie Obwohl die Ausschaltung der alten Eliten in der Sowjetunion und der Zerfall des russischen Emigrantennetzwerks am Ende der 1920er Jahre die Debatte über eine von Kleinbauern getragene Modernisierung Russlands beendete, geriet das intellektuelle Erbe des russischen Agrarismus nicht unwiederbringlich in Ver­gessenheit. Als in der Mitte der 1960er Jahre in den westlichen Sozialwissenschaften eine Diskussion über das ökonomische Potential von Kleinproduzenten in Entwicklungsländern einsetzte, lebte das Interesse an den Auseinander­setzungen mit der „Agrarfrage“ im späten Zarenreich und der Sowjetunion wieder auf. Nach der Wiederentdeckung ­Čajanovs gehörten dessen Arbeiten bald zum Kanon der von Entwicklungsökonomen, -soziologen und -anthropologen rezipierten Fachliteratur. Unter Wissenschaftlern, die sich mit agrarischen Gesellschaften in Asien und Afrika beschäftigten, war der Verweis auf das Modell von der bäuerlichen Familienwirtschaft bald eine allgemein übliche Praxis. Čajanov wurde zu einer intellektuellen Autorität, die gegen die Modernisierungstheorie ins Feld geführt wurde. Die verspätete Rezeption von Čajanovs Theorie, die außerhalb von Russland bereits seit den 1920er Jahren bekannt war, war eine Folge der hegemonialen ­Stellung der Modernisierungstheorie. Seit den 1950er Jahren hingen Vertreter der westlichen Sozialwissenschaften der Vorstellung an, es gäbe einen globalen, von den westlichen Industrienationen vorgezeichneten Fortschrittspfad, auf dem sich mit einigem Abstand auch die Entwicklungsländer bewegten. Im Zentrum des Paradigmas stand die idealtypische Unterscheidung von Tradition und Moderne. Als charakteristische Merkmale traditioneller Gesellschaften galten ihre agrarische Prägung, Subsistenzproduktion, ein geringes Maß an ökonomischer Differenzierung sowie schwach entwickelte Institutionen der politischen Willensbildung. Demgegenüber zeichneten sich moderne Gesellschaften dadurch aus, dass in ihnen ein städtischer Lebensstil dominierte, der überwiegende Anteil des Volkseinkommens von hochspezialisierten Industrieunternehmen erzeugt wurde und demokratisch gewählte Vertreter politische Entscheidungen fällten.231 Diese Vorstellung war Teil einer bis in die 1970er Jahre anhaltenden Wachstumseuphorie, die auf der Erfahrung anhaltend hoher Wachstums- und Beschäftigungsraten in den westlichen Industriena­tionen nach dem Zweiten Weltkrieg beruhte.232 Die Landwirtschaft galt in diesem ­Kontext 231 Menzel, Ende, S. 98 – 101. 232 Zur Dominanz des Wachstumsparadigmas in der frühen Entwicklungstheorie siehe Hemmer, 40 Jahre Entwicklungstheorie und -politik, S. 514 – 524; Hagemann, Wachstums- und Entwicklungstheorien, S. 187 – 195.

Konjunkturen der in- und ausländischen Rezeption

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als ein „traditioneller“ Sektor, dessen vornehmliche Funktion darin bestand, die für eine dynamische Entwicklung der Industrie erforderlichen Ressourcen wie agrarische Rohstoffe oder Arbeitskraft bereitzustellen. Da bäuerliche Wirtschaften als rückständig galten, richtete sich das Interesse der Entwicklungsökonomen besonders auf die landwirtschaftlichen Großbetriebe als Träger von Effektivitätsund Produktivitätssteigerungen. Hieraus wiederum leitete sich eine eindeutige entwicklungspolitische Strategie ab: Durch gezielte ökonomische Anreize sollten „überflüssige“ bäuerliche Produzenten zur Abwanderung in die Industrie gebracht und eine Umverteilung des Bodens zu Gunsten „rational“ gesteuerter Agrarbetriebe eingeleitet werden.233 In den 1960er Jahren geriet das modernisierungstheoretische Paradigma in eine Krise. Angesichts der Stabilität „fehlentwickelter“ sozialistischer Gesellschaften und der ausbleibenden Konvergenz zwischen Entwicklungs- und Industrieländern begannen Ökonomen und Sozialwissenschaftler mit der Dekonstruktion des Mythos von der Eindeutigkeit der Moderne. Sie fragten nach den Gründen ausbleibender bzw. alternativer Entwicklung und begannen, „Unterentwicklung“ als ein komplementäres Produkt der Moderne zu betrachten.234 Angesichts der Persistenz kleinbäuerlicher Strukturen in vielen Teilen der Welt verlor das stereotype Bild von den Bauern als Vertretern traditioneller Gesellschaften und vormoderner ökonomischer Verhaltensweisen seine Konturen. Als der aus den USA stammende Agrarökonom Daniel Thorner zu Beginn der 1960er Jahre auf Čajanovs „Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft“ aufmerksam wurde, in der dieser die Persistenz bäuerlicher Wirtschaften in einem dynamischen Wirtschaftsumfeld erklärt hatte, erkannte er in den Arbeiten des russischen Ökonomen einen Schlüssel für das Verständnis stabiler bäuerlicher Agrarstrukturen im postkolonialen Indien.235 Nachdem Thorner gemeinsam mit Basile Kerblay, einem französischen Spezialisten auf dem Gebiet der sowjetischen Wirtschaftsgeschichte, und dem britischen Russlandhistoriker R. E. F. Smith eine englische Übersetzung von Čajanovs wichtigsten Werken realisiert hatte,236 wurde der russische Ökonom zu einer der wichtigsten intellektuellen Autoritäten westlicher Anthropologen und Soziologen. Unter Berufung auf den einst von Čajanov formulierten Gedanken, Bauernwirtschaften könnten im Rahmen verschiedener sozioökonomischer Systeme existieren, entwarfen sie die Bauern als distinkte kulturelle und sozioökonomische Kategorie mit feststehenden Eigenschaften.237 233 Siehe Kopsidis, Agrarentwicklung, S. 41 – 64 für eine kritische Diskussion dieser Ansätze. 234 Vgl. Nuscheler, Bankrott; Mansilla, Kritik. Siehe auch Menzel, Ende, S. 103 – 108; Hagemann, Wachstums- und Entwicklungstheorien, S. 196f. 235 Stanziani, Čajanov. 236 Thorner; Kerblay; Smith (Hg.), Chayanov. 237 Zum Essentialismus der peasant studies siehe Bernstein; Byres, Peasant Studies, S. 6 – 8.

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Kontexte des Erinnerns und Vergessens

Auch im Kontext der anthropologischen Debatte über die kulturellen Bedingungen des Wirtschaftens (embededdness) wurde Čajanovs Beschreibung des subsistenz- und nicht-profitorientierten bäuerlichen Haushalts bei der Modellierung nicht-kapitalis­tischen Wirtschaftsverhaltens neu gelesen.238 Als mit der Moder­nisierungstheorie die Idealisierung der Industriemoderne aus der Mode kam, begann die Suche nach gesellschaftlichen und ökonomischen Alternativen. Immer häufiger galten Bauern fortan als Vertreter einer Kultur der ökonomischen Genügsamkeit und des sozialen Friedens.239 In seinem Werk „Stone Age Economics“ entwarf der amerikanische Sozialanthropologe Marshall Sahlins das romantische Bild von nicht-industriellen Überfluss­gesellschaften, deren Vertreter sich durch eine starke Mußepräferenz und ein niedriges Bedürfnis­niveau auszeichneten. Auf der Ebene des einzelnen Haushalts, der zentralen Wirtschaftseinheit nicht-industrieller Gesellschaften, zeigte sich dies nach Auffassung Sahlins’ an der „Čajanov-Regel“ (Chayanov’s rule): Um den sozialen Zusammenhang ihrer Gemeinschaft nicht zu stören, schränkten Haushalte mit einer großen Anzahl arbeitsfähiger Mitglieder ihre Produktion freiwillig ein. Wie viel ein Mensch arbeitete, hing demnach von der Größe bzw. der Struktur seiner Familie ab: „Je größer die relative Arbeitskapazität eines Haushalts, desto weniger arbeiten seine Mitglieder.“240 Zwar haben Vertreter der Disziplin Sahlins Interpretation der Bauernwirtschaftstheorie als reduktionistisch zurückgewiesen.241 Im Anschluss an Sahlins’ Arbeit wurde die Bedeutung des familiären Lebenszyklus für bäuerliche Produktionsentscheidungen jedoch in anthropologischen Einzelstudien untersucht und der heuristische Wert einer adaptierten Variante von Čajanovs Haushaltsmodell bestätigt.242 Nicht zuletzt wurde Čajanovs Theorie zum intellektuellen Referenzpunkt in Debatten über die soziale Stellung von Bauern in den Entwicklungsländern. Eric Wolf, der die Bauern evolutionsgeschichtlich „auf halben Wege von der primi­ tiven Stammes- zur Industriegesellschaft“243 verortete, war überzeugt, dass sich die „bäuerliche Lebensweise“ (peasant mode of existence) aus der asymme­trischen

238 Salisbury, Economic Anthropology, S. 88f.; Groh, Dimensionen, S. 35 – 41. 239 Die Idee von den Bauern als Repräsentanten einer spezifischen Kultur war in der Anthropologie bereits seit den späten 1940er Jahren bekannt. 1948 beschrieb Alfred Kroeber bäuerliche Gemeinschaften als „part-societies with part-cultures“. Mitte der 1950er Jahre prägte Robert Redfield das Schlagwort von den Bauern als „Menschentyp“ (human type). Hierzu siehe Silverman, Peasant Concept, S. 49 – 69. 240 Zitiert nach Durrenberger; Tannenbaum, Chayanov, S. 140. 241 Durrenberger, Chayanov’s Economic Analysis, S. 134f.; Tannenbaum, Misuse of Chayanov. 242 Durrenberger; Tannenbaum, Chayanov. Zur Entwicklung von Čajanovs Modell siehe etwa Perz, Household Demographic Factors. 243 Wolf, Peasants, S. vii.

Konjunkturen der in- und ausländischen Rezeption

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Einbindung der Bauern in die Gesamtgesellschaft ergab. Im Rekurs auf ­Čajanov 244 beschrieb Wolf Bauern als Landwirte, die in familiär organisierten Haushaltsverbänden produzierten. Ihr Dilemma bestehe darin, dass sie sich nicht auf ihr eigentliches Anliegen, die Befriedigung ihrer unmittelbaren Konsumbedürfnisse und die Erfüllung der kulturellen Normen ihrer Gesellschaften, beschränken könnten. Stattdessen seien sie aufgrund ihrer gesellschaftlichen Marginalität dazu gezwungen, einen über ihr kulturell determiniertes Subsistenzniveau hinausgehenden Mehrwert zu erwirtschaften und diesen an gesellschaftliche Funktionsträger abzutreten.245 In Anlehnung an Wolf entwickelte James C. Scott wenig später das Konzept der „bäuer­lichen Moralökonomie“ (moral economy of the peasant), demzufolge B ­ auern ihr Verhalten an einer Subsistenzethik ausrichteten und sich mit den „Waffen der Schwachen“ zur Wehr setzten, wenn ihr Subsistenzinteresse durch nichtbäuerliche Eliten bedroht wurde.246 Der britische Soziologe Teodor Shanin, einer der bedeutendsten Vertreter des unter dem Label peasant studies bekannt gewordenen Forschungsfeldes, verband die internalistische Analyse bäuerlicher Gesellschaften, wie sie in der Anthropologie üblich war, mit der externalistischen Perspektive Wolfs und Scotts. Shanin erkannte in der „Bauernschaft“ (peasantry) eine eigene soziale Kategorie 247 mit vier charakteristischen Merkmalen: die Familien­ wirtschaft als zentrale gesellschaftliche Organisationseinheit, die Landwirtschaft als wirtschaftlicher Kernsektor, die besondere Bedeutung reziproken Verhaltens und sozialer Kontrolle sowie die untergeordnete soziale Positionen der Bauern im Rahmen der Gesamtgesellschaft.248 Die Entdeckung der Bauern im westlichen Entwicklungsdiskurs führte zu einer Annäherung der Disziplinen Agrargeschichte und Entwicklungsökonomie. Öko­nomen und Soziologen wandten sie nun dem ausgehenden Zarenreich bzw. der frühen Sowjetunion als einem historischen Prototyp moderner Entwicklungsländer zu.249 Die Konjunktur der Čajanovschen Bauernwirtschaftstheorie in den westlichen Sozial­ wissenschaften löste zugleich ein wachsendes Interesse an den agrarpoli­tischen Auseinandersetzungen aus, in die der Ökonom nach der Revolution involviert ge­­wesen war.250 So war es kein Zufall, dass die intensive Debatte über die Ursachen für die Per-

244 Wolf kannte Čajanovs Theorie aus der von Sorokin und Zimmermann zu Beginn der 1930er Jahre angefertigten Einführung in die Geschichte der Agrarsoziologie. Ebd., S. 15. 245 Zum sog. „Peasant Dilemma“ siehe ebd., S. 12 – 17. 246 Scott, Moral Economy. 247 Vanhaute, Peasants, S. 314 – 316. 248 Shanin, Introduction, S. 14f. Vgl. auch den Versuch Daniel Thorners, die bäuerliche Wirtschaft als makroökonomische Kategorie zu etablieren. Thorner, Peasant Economy. 249 Shanin, Akward class; ders., Russia. Implizit folgte diesem Ansatz auch Löwe, Lage der Bauern. 250 Gross, Agrarian Debate; Cox, Peasants; Harrison, Chayanov (1); ders., Chayanov and the Marxists.

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sistenz kleinbäuerlicher Wirtschaften, die sich in den 1970er Jahren entspann, einige Parallelen zu den sowje­tischen Agrardebatten der 1920er Jahre aufwies.251 Čajanov wurde nun erneut zum Ziel marxistischer Kritiker. Aus deren Sicht hatte er der Tatsache, dass Bauernwirtschaften durch ihre Einbindung in Märkte Teil des kapitalistischen Gesamtsystems wurden, zu wenig Beachtung geschenkt. Zudem waren sie davon überzeugt, dass die im Rekurs auf Čajanov entwickelte Vorstellung von der Existenz einer genuin bäuerlichen Form des ­Wirtschaftens keiner empirischen Prüfung standhalten könne. Die ungebrochene Dominanz bäuer­licher Wirtschaftsstrukturen in vielen Entwicklungsländern sei vielmehr die Folge ausbleibender oder asymmetrisch verlaufender Entwicklung. ­Neomoarxisten ­wiesen ­Čajanovs Theorie daher als Apologie von Unterentwicklung und Krise zurück, die die ökonomische Zwangslage vieler Bauern ebenso ausblendete wie die ­Stra­­­­­ti­fizierung innerhalb bäuerlicher Familien und Dorfgemeinschaften. Plädoyers für die Stärkung von Bauernwirtschaften gerieten in diesem Zusammenhang in den Ruf einer naiven „Small-is-beautiful“-Ideologie.252 Von den hitzigen Debatten der 1960er und 1970er Jahre ist inzwischen wenig geblieben. Entwicklungsökonomen beschreiben Bauernwirtschaften als haushaltsbasierte Agrarproduzenten, die überwiegend mit den Ressourcen der Familien- bzw. Haushaltsangehörigen operieren. Zwar misst man dem Familienlebenszyklus, der in Čajanovs Modell einen zentralen Platz für die Erklärung bäuerlicher Produktions­ entscheidungen zukam, eine untergeordnete Bedeutung bei. Auch die Annahme eines inversen Arbeitsangebots infolge einer kulturell bedingten Neigung zur Konsumbeschränkung gilt als widerlegt.253 Einige grundlegende Ideen des russischen Theo­retikers wirken in der ökonomischen Literatur jedoch bis heute fort. So sieht die neuere Entwicklungsökonomie im bäuerlichen Haushalt einen anpassungs­ fähigen mikroökonomischen Organismus, der aufgrund der engen Verzahnung von Konsum und Produktion eine analytische Unterscheidung von Einkommen und Gewinn unmöglich macht.254 Der heuristische Wert einer ökonomischen Kategorie der Bauernwirtschaft ergibt sich nach Auffassung von Entwicklungsökonomen aus dem Umstand, dass haushaltsbasierte Formen der landwirtschaftlichen Produktion in vielen Teilen der Welt von anhaltender Bedeutung sind. Aufgrund großer wirtschaftlicher Unsicherheit, etwa infolge politischer Krisen, unsicheren Absatzmöglich­keiten oder einer schlecht entwickelten Infrastruktur, tendieren viele bäuerliche Wirtschaften zu einer flexiblen Verbindung von Subsistenz- und Marktproduktion. Die uneindeutige Position der Bauern zwischen Selbstversorgung und 251 Cox, Peasants, S. 229 – 240. 252 Stellvertretend Patnaik, Neo-Populism; Littlejohn, Peasant Economy; Ennew; Hirst; Tribe, ­‘Peasantry’. 253 Kopsidis, Agrarentwicklung, S. 140 – 142, S. 193f. 254 Ebd., S. 144f.

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Markt­integration gilt nicht mehr als Ausdruck einer genügsamen oder konservativen Wirtschaftsethik, sondern als rationale Reaktion auf unterentwickelte oder unzuverlässig funktionierende Märkte: Da die vollständige Marktorientierung unter unsicheren Bedingungen mit hohen Risiken verbunden ist, stellt die Beibehaltung eines gewissen Anteils von Subsistenzproduktion eine Form der ökonomischen Absicherung dar.255 Im Zuge der entwicklungstheoretischen Debatten ist die Annahme, bäuerliche Agrarstrukturen würden über kurz oder lang an Bedeutung verlieren, unüblich geworden. Weder teilen Sozialwissenschaftler und Ökonomen heute den Essentialis­ mus der frühen peasant studies, noch halten sie die „Entbäuerlichung“, d. h. das Verschwinden haushaltsbasierter Agrarproduktion, für eine notwendige Begleiterscheinung von Urbanisierung und Industrialisierung. Auch die Ökonomen haben das Konzept der „multiplen Modernen“ in ihr theoretisches Portfolio integriert. An die Stelle teleologischer Entwicklungsmodelle mit der impliziten Annahme eines weitgehenden Verschwindens bäuerlicher Produktionsstrukturen ist die Vorstellung getreten, dass Agrarentwicklung ein ergebnisoffener Prozess ist.256 Selbst in Gesellschaften mit einem rückläufigen Anteil der Agrar- an der Gesamtwirtschaft stellt die flächendeckende Etablierung hochspezialisierter, marktorientierter Agrarbetriebe nur eine von vielen Entwicklungsmöglichkeiten dar. Das dauerhafte Fortbestehen bäuerlicher Agrarstrukturen gilt heute als ein mindestens ebenso wahrscheinliches Szenario. Ökonomen verbinden ein solches allerdings nicht notwendigerweise mit der Stabililierung von Armut und Unterentwicklung. Vielmehr gibt es Stimmen, die dafür werben, das Wachstumspotential kleiner bäuerlicher Agrarproduzenten in der Agrarpolitik zu berücksichtigen.257 Auch wenn Čajanov in diesem Zusammenhang nicht mehr explizit Erwähnung findet: Die Vision einer ländlichen Moderne, von der die Anhänger des Agrarismus im ausgehenden Zarenreich geträumt haben, findet auch im gegenwärtigen entwicklungsökonomischen Diskurs einigen Zuspruch.

4.3.2  Die Neuvermessung des sowjetischen Dorfes Wie im westlichen Ausland stand die Erinnerung an das intellektuelle Erbe des russischen Agrarismus auch in der späten Sowjetunion in enger Verbindung mit der öffentlichen Thematisierung von Bauern. Als in den Jahren der P ­ erestrojka 255 Zur Bedeutung von Risikoaversion und Unsicherheit für bäuerliche Produzenten siehe Ellis, ­Peasant economics, Kap. 5; Kopsidis, Agrarentwicklung, S. 137 – 140. 256 Kopsidis, Agrarentwicklung, S. 138; Vanhaute, Peasants, 317f. 257 Hayami, Peasant. Dies belegt auch der Weltagrarbericht aus dem Jahr 2008: Agriculture at a Cross­ roads. Historisch argumentiert Harwood, Green Revolutions.

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Stalins Kollektivierungspolitik in die Kritik geriet, wurden die Anhänger des ­russischen Agrarismus als Vertreter einer historischen Alternative entdeckt. Ökonomen, Politiker und Agrarwissenschaftler, die bis in die 1920er Jahre hinein der Idee einer von Bauernwirtschaften getragenen Agrarentwicklung angehangen hatten, wurden in den späten 1980er Jahren rehabilitiert und ihr Ruf in der ­sowjetischen Öffentlichkeit wiederhergestellt. Daraufhin setzte ein wahrer Erinnerungsboom ein: Zeitungen, Zeitschriften, Konferenzen, öffentliche Vorlesungsreihen und die Neuauflage wissenschafticher Schriften aus der späten Zaren- und der frühen Sowjetzeit riefen die Ideen des Agrarismus in das Bewusstsein der sowjetischen Bevölkerung zurück. In der Folge wurden die Arbeiten der verfolgten Wissenschaftler kanonisiert. Russische Überblicksdarstellungen über die Geschichte des ökonomischen Denkens widmen den berühmtesten von ihnen heute eigene Abschnitte.258 Der Wiederentdeckung des Agrarismus ging ein Prozess voran, der sich in ähn­licher Form auch in der westlichen Entwicklungsökonomie und -soziologie voll­zogen hatte: die schrittweise Integration der Bauern, die zuvor einer „vor­ modernen“ (in sowjetischer Lesart „vorsozialistischen“) Welt zugerechnet worden waren, in ein neues Modell zur Beschreibung der Gegenwart. Hintergrund dieser Entwicklung war der Umstand, dass das Projekt eines sozialistischen Dorfes, in dem Technik, Optimismus und sozialistischer Kollektivgeist herrschten, nie realisiert wurde und die sowjetische Bevölkerung den ländlichen Regionen nach Möglichkeit den Rücken kehrte. Bis zum Ende der Sowjetunion blieb die Landwirtschaft ein Sorgen­kind der politischen Führung. Die Produktivität ent­ wickelte sich nur schleppend, und zwischen dem Lebensstandard in der Stadt und auf dem Land klaffte eine große Lücke.259 Auch die Überwindung der familiär organisierten bäuerlichen Landwirtschaft gelang eigentlich nie. Angesichts der katastrophalen Produktionseinbußen und der Hungers­not unmittelbar nach dem Beginn der Kollektivierung hatten die Dorfbewohner bereits in den 1930er Jahren die privaten Verfügungsrechte über das Hofland und die Haltung von Milch- und Kleinvieh sowie Geflügel erhalten. Seither war die „private Nebenwirtschaft“ (ličnoe podsobnoe chozjajstvo, LPCh) ein wesentlicher Bestandteil der ländlichen Ökonomie.260 Zwischen privaten Neben- und den Kollektivwirtschaften bestand eine stabile Arbeitsteilung. Während die Kolchosen den überwiegenden Anteil des sowjetischen Getreides erzeugten, produzierten die Hofwirtschaften Gemüse, 258 Stellvertretend Abalkin (Hg.), Očerki; Fetisov; Chudokormov (Hg.), Mirovaja ėkonomičeskaja mysl’; Bartenev, Istorija. 259 Leonard, Agrarian Reform, S. 210f., S. 244 – 250; Nove, Economic History, S. 336 – 348. 260 Zur Rolle der privaten Nebenwirtschaft siehe eingehend Lysenko, Podsobnye chozjajstva; Merl, Bauern unter Stalin, Kap. III, 2.

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Eier, Fleisch- und Milchprodukte. Vieh, Gerätschaften und Saatgut erhielten sie in der Regel von den Kollektiv- oder Staatswirtschaften. In den späten 1950er Jahren stammte etwa ein Drittel des sowjetischen Agrarprodukts aus der Hoflandwirtschaft.261 Am Ende der 1980er Jahre lag dieser Anteil bei 24,5%.262 Die zentrale Bedeutung der privaten Landwirtschaft war ein ideologisches Problem. Nicht nur ließen sich die Nebenwirtschaften kaum mit dem Ideal einer vergesellschafteten Wirtschaftsordnung vereinbaren. Sie stellten auch den Mythos von der Überlegenheit der Großproduktion in Frage, der im Zentrum der sowje­ tischen Doktrin stand.263 Als Sozial- und Kulturwissenschaftler in den 1950er Jahren empirische Studien über das kollektivierte Dorf durchführten, standen sie daher vor der Herausforderung, die ländlichen Lebensumstände zu analysieren, ohne dem Sozialismus jegliche Erfolgsaussichten abzusprechen. Ähnlich, wie ihre Kollegen im westlichen Ausland, die in den bäuerlichen Gesellschaften der Dritten Welt Relikte einer vormodernen Zivilisation erkannten, nutzten sowjetische Wissenschaftler evolutionstheoretische Kategorien, um den Widerspruch zwischen Ideal­ vorstellung und Lebenswirklichkeit zu erklären: Was sich nicht in das Bild einer sozialistischen Gesellschaft einfügte, wurde als „Überrest“ (perežitok) deklariert. Die Kategorie des „Überrests“ diente dabei als Chiffre, um Probleme ohne eine Verletzung der ideologischen Rahmenvorgaben zur Sprache zu bringen.264 Der sowjetische Ethnologe P. I. Kušner sah in der Entwicklung des sowjetischen Dorfes einen Hinweis darauf, dass sich die „sozialistische Transformation“ auf dem Land langsamer vollzog als in der Stadt. Kušner und seine Kollegen waren sich im Klaren darüber, dass die Kolchoswirtschaften allein die sowjetische Bevölkerung nicht ernähren konnten, und behandelten die Nebenwirtschaften mit Nachsicht. Um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass die Kolchose eine im Vergleich zur Bauernwirtschaft höherwertige Form der Agrarproduktion darstellte, betonten die Wissenschaftler jedoch, dass dörfliche Familien den größten Teil ihrer Einnahmen aus der Kolchose bezögen.265 Ganz ähnlich ging der Ökonom V. G. Venžer damit um, dass die kollektivierte Landwirtschaft den an sie gestellten Erwartungen nicht gerecht wurde. 1952 hatte Venžer gemeinsam mit seiner Frau, der Ökonomin A. V. Sanina, in mehreren Briefen an Stalin dargelegt, dass die Kolchosen erst dann zu einem profitablen Wirtschaftszweig würden, wenn man das staatliche Monopol

261 Zeitgenössische Sowjetologen werteten dies als Beleg der Überlegenheit der Privatwirtschaft. Newth, Soviet Agriculture. 262 Lysenko, Podsobnye chozjajstva, S. 157. 263 Am Ende der 1950er Jahre unternahm N. S. Chruščev gezielte Versuche zur Beschränkung der privaten Lebensmittelproduktion. Hierzu Konyšev, Gosudarstvennaja politika. 264 Alymov, Ponjatie „perežitok“, S. 262. 265 Kušner u. a., Selo Virjatino, S. 162. Zu Kušner siehe Alymov, Kušner.

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über die Produktionsmittel aufhob und ein auf Preisgrößen beruhendes Buchhaltungssystem einführte.266 Den privaten Nebenwirtschaften wandte sich auch Venžer mit entwicklungstheoretischen Kategorien zu. Aus seiner Sicht kompensierten die Hilfswirtschaften die mangelnde Produktivität in den Kolchosen. Sobald diese jedoch den allgemeinen Lebensmittelbedarf abdecken könnten, werde die private Hoflandwirtschaft von selbst verschwinden.267 Die Auseinandersetzung mit den nichtsozialistischen Realien der sowjetischen Gesellschaft war nicht ohne Risiko. Auch wenn sie sich selbst nicht als besonders kritisch, geschweige denn oppositionell verstanden, gerieten sowjetische Wissenschaftler regelmäßig in Verdacht, die offizielle Definition des Sozialismus in Frage zu stellen.268 Bei Untersuchungen über das sowjetische Dorf war das ein ­andauerndes Problem. T. I. Zaslavskaja, eine Schülerin Venžers, nahm in den 1950er Jahren regelmäßig an Feldforschungen in den ländlichen Regionen der Sowjetunion teil. Noch Jahrzehnte später sollte sich die Soziologin daran erinnern, wie sie die Armut auf dem Dorf, die geringe Bezahlung der Kolchos-Bauern und die immense Bedeutung der privaten Landwirtschaft damals überrascht hatten.269 Dass Vertreter sowjetischer Institutionen und der Parteiöffentlichkeit ausgesprochen empfindlich auf Hinweise einer mangelnden Funktionsfähigkeit des Kolchossystem reagierten, erlebte die Soziologin nicht nur im Vorfeld der Veröffentlichung ihrer Disser­tation, in der sie Vorschläge zur Reformierung des Bezahlungssystems in Kolchosen erarbeitet hatte. 1959 erhielt Zaslavskaja den Auftrag, gemeinsam mit ihrer Kollegin M. I. Sidorova die Arbeitsproduktivität der sowjetischen mit jener der amerikanischen Landwirtschaft zu vergleichen. Als sie einen sowjetischen Rückstand errechneten, der über dem offiziell anerkannten Wert lag, wurden die Ergebnisse ihrer Untersuchungen buchstäblich weggesperrt.270 Wie der Ökonom I. G. Šmelev, ebenfalls ein Mitarbeiter Venžers, feststellen musste, war die private Hoflandwirtschaft ein besonders sensibles Thema. In seiner 1969 vorgelegten Habilitationsschrift vertrat er

266 Dieser Vorschlag stand im Widerspruch zur Doktrin Stalins, der etwa zeitgleich das staatliche Monopol der Produktionsmittel verteidigte und sich gegen jede Art von Wertrechnung in Geld aussprach. Figurovskaja, Problemy reformirovanija, S. 15f. 267 Venžer, Kolchoznyj stroj, S. 41 – 59. 268 So stand der Philosoph S. M. Kovalev, der in den 1950er Jahren nach Gründen für „antigesellschaftliche“ Stimmungen und Hooliganismus in der Sowjetunion suchte, in wiederholtem Verdacht, er mache den sowjetischen Sozialismus für das Fortbestehen von „Überresten“ verantwortlich. ­Alymov, Ponjatie „perežitok“, S. 265 – 268. 269 Zaslavskaja, Stranicy tvorčeskoj biografii, S. 54f. Zur Geschichte der sowjetischen Agrarsoziologie siehe Ryvkina, Sociologija sela. 270 Während Chruščev davon ausging, dass die amerikanische Landwirtschaft im Durchschnitt drei Mal produktiver war als die sowjetische, errechneten Zaslavskaja und Sidorova einen Wert von vier bis fünf. Zaslavskaja, Stranicy tvorčeskoj biografii, S. 64 – 67.

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die Auffassung, dass die Förderung der LPCh erheblich zur Versorgungssicherheit des Landes beitragen könnte. Šmelev musste sich daraufhin wiederholt für seine Arbeit verantworten. Seine Kritiker warfen ihm vor, die Bedeutung der privaten Lebenwirtschaften zu überschätzen und die Agrarpolitik der sowjetischen Führung zu kritisieren. Nach zahlreichen Gutachten und mehrfachem Einspruch gegen die Annahme der Arbeit wurde diese erst 1972 endgültig akzeptiert.271 Die Voraussetzungen für die Beschäftigung mit der Ökonomie des Dorfes veränderten sich, als die sowjetische Führung die schleppende Agrarentwicklung als ein politisches Problem von prioritärer Bedeutung erkannte. Da die die exorbitanten Agrarsubventionen der Regierung Brežnev nach einem kurzen Anstieg der Produktion keine längerfristige Wirkung zeigten,272 nahm diese in den späten 1970er Jahren eine zunehmend konziliante Haltung gegenüber den privaten Nebenwirtschaften ein. 1977 erkärte ein Beschluss von Zentralkomitee und Ministerrat die Förderung von LPCh zum Bestandteil sowjetischer Agrarpolitik. Die privaten ­Nebenwirtschaften sollten der sowjetischen Landwirtschaft aus ihrer Sackgasse helfen.273 Jahrzehnte aus dem öffentlichen Diskurs verbannt, kehrten die Bauern daraufhin durch die Hintertür in die Auseinandersetzung mit der Ökonomie des Dorfes zurück. Vergleichbar mit der Integration der Bauern in ein komplexeres Modell von Moderne, wie es sich unter den Vertretern der peasant studies in der Mitte der 1960er Jahre durchgesetzt hatte, erhielten bäuerliche Produktionsstrukturen in der späten ­Brežnev-Zeit einen ­festen Platz im Sozialismus. 1977 veröffentlichte Šmelev in der Pravda einen langen Artikel, in dem er die LPCh als „integrativen Bestandteil der sozialistischen Landwirtschaft“ (sostavnaja čast’ socialističeskogo sel’skogo chozjajstva) bezeichnete.274 Zwar vermied es Šmelev weiterhin, die Nebenwirtschaften mit dem Attribut „bäuer­ lich“ zu belegen. In zahlreichen Arbeiten bemühte sich der Ökonom jedoch um den Nachweis, dass private Hoflandwirtschaft und ländlicher Sozialismus zusammen­ gehörten: „Die private Nebenwirtschaft ist kein Überbleibsel der bäuerlichen Privatwirtschaft, sondern ein neuer Typus, der mit der sozialistischen Umgestaltung des Dorfes entstanden ist. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil der sozialistischen Wirtschaft, sie wird den sozialistischen Produk­tionsverhältnissen gerecht.“275 Mit 271 Šmelev, Agrarnaja teorija, S. 176 – 180. 272 Leonard, Agrarian Reform, S. 77 – 79. 273 „Postanovlenie CK KPSS, Sovmina SSSR ot 14.09.1977 N 843 o ličnych podsobnych ­chozjajstvach kolchoznikov, rabočich, služaščich i drugich graždan v kollektivnom sadovodstve i ogorodničestve“. Internetressource: http://www.lawrussia.ru/texts/legal_346/doc346a498x330.htm [letzter Zugriff: 25.01.2014]. 274 Šmelev, G. I.: O ličnom podsobnom chozjajstve, in: Pravda, 10.09.1977, S. 3. 275 Šmelev, Ličnoe podsobnoe chozjajstvo (1978), S. 14. Einige Jahre später unterstrich Šmelev, dass die Förderung der privaten Nebenwirtschaft „keinerlei Abweichung von den sozialistischen Prinzipien“ darstelle. Šmelev, Ličnoe podsobnoe chozjajstvo (1983), S. 3.

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solchen Vorstellungen stand Šmelev nicht allein. In einer 1980 herausgegebenen Monographie bezeichneten Zaslavskaja und ihre Novosibirkser Kollegin R. V. Ryvkina die LPCh als „notwendige Bedingung für die Entwicklung des Dorfes“276. Der hohe Anteil der privaten Hoflandwirtschaft war demnach kein Indiz für die Unvollkommenheit des sowjetischen Sozialismus mehr. Er war ­dessen Strukturmerkmal. Parallel zur ideologischen Aussöhnung mit den bäuerlichen Produktionsstrukturen in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften begann die Aufwertung des Dorfes im sowjetischen Diskurs. Die Prosa der derevenčiki stilisierte die länd­lichen Regionen zu einer Lebenswelt, die eines besonderen Schutzes bedurfte.277 Nach der Veröffentlichung seines Pravda-Artikels im Jahre 1977 erhielt Šmelev zahlreiche Zuschriften, aus denen hervorging, dass die Rehabilitierung des Dorfes in der ­sowjetischen Bevölkerung breiten Widerhall fand. Mit Ausnahme eines Lesers, der den Hinweis auf das Produktionspotential der Nebenwirtschaften für übertrieben hielt,278 äußerten sich die Verfasser der Briefe positiv. Der Ökonom wurde aufgefordert, sich gegenüber Presse- und Politikvertretern für die privaten Hofwirtschaften einzusetzen. Schon vor dem Beginn der Perestrojka wurde der Wert der kleinbäuer­ lichen Agrarproduktion zu einem Politikum: „[…] nur sie [die private Hofwirtschaft] kann Fülle in der Lebensmittelversorgung bieten. Unsere Kolchosen und Sowchosen können das Volk zwar mit Getreide, Sonnenblumenöl, Rüben und Kartoffeln versorgen, aber Fleisch, Milch, Gemüse, Früchte – nie im Leben.“279 Die Bewohner eines Dorfes baten ­Šmelev um Hilfe, weil man ihnen untersagt hatte, ihr privat angebautes Gemüse mit Folie vor dem Regen zu s­ chützen. Ihr Anliegen unterstrichen sie mit dem Hinweis auf den sittlichen Charakter jeglicher landwirtschaftlicher Tätigkeit: „Wir leisten alle gesellschaft­liche Arbeit. Dem Gemüseanbau widmen wir uns in unserer Freizeit. Wir wohnen auf dem Land und haben gelernt, dass die Arbeit auf dem Feld eine edle Aufgabe ist. Die Arbeit des Bauern ist ehrbar (Trud krest’janina počoten).“280 Auf einer Konferenz von Agrarwissenschaftlern und Ökonomen im April 1981 nannte der stellvertretende Landwirtschaftsminister der Sowjetunion A. I. Ievlev die Hoflandwirtschaft eine „riesige landwirtschaftliche Zeche“ (krupnyj agrarnyj cech), die nicht nur zur Versorgung des Landes beitrage, sondern – auch er evozierte die Idee vom besonderen Wert einer landwirtschaftlichen Tätigkeit – die Menschen zugleich zur „Liebe zur Natur und zum Boden“ erziehe. Die Arbeit

276 Zaslavskaja; Ryvkina, Metodologija, S. 138. Diese Auffassung entsprach einem allgemeinen Trend. Siehe den Überblick über die Forschungen zu den LPCh in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren: Kurakin, Sel’skoe chozjajstvo SSSR. 277 Hildermeier, Sowjetunion, S. 968. 278 Leserbrief an die Redaktion der Pravda [Oktober 1977], RGAĖ f. 1027, op. 1, d. 80, l. 1. 279 Schreiben an Šmelev [Januar 1978], ebd., l. 2f. 280 Leserbrief an Šmelev [ohne Datierung], ebd., l. 12.

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in den LPC h helfe ihren Besitzern, allen voran den Pensionären, „sich als Menschen zu fühlen, die einer Tätigkeit von gesamtstaatlichem Nutzen nachgehen“281. In den späten 1970er Jahren wurde die private Landwirtschaft demnach nicht mehr als störender Überrest thematisiert. Vielmehr galt sie nun als ein Wirtschaftssektor, der einen genuinen Beitrag zum Sozialismus erbrachte. Die veränderte Auseinandersetzung mit dem Dorf und den privaten Formen der Landwirtschaft war ein Stellvertreterdiskurs über die geringe Leistungsfähigkeit der kollektivierten Landwirtschaft. Er ermöglichte es, öffentlich über Alternativen nachzudenken, ohne an den Grundfesten der sowjetischen Ideologie zur rütteln. Die Etablierung eines Sozialismusmodells, das auch bäuerliche Produktions- und Lebensformen integrierte, legte den Grundstein für die breite Resonanz, die die Wieder­ entdeckung des Agrarismus in den 1980er Jahren hervorrufen sollte. Die Dynamik der Debatte wurde jedoch von der politischen Führung bestimmt. Nachdem M. S. Gorbačev im Jahr 1983, damals noch Landwirtschaftssekretär des Zentralkomitees, die Bildung von familiären Produktionseinheiten gebilligt hatte, die selbstständig Verträge mit den Kollektivbetrieben abschlossen (semejnye podrjady),282 wurde die Familie als „Produktionseinheit“ auch in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur zu einem Thema.283 Nach seiner Wahl zum Generalsekretär der KPdSU öffnete Gorbačev dann die Tür für die Rückbesinnung auf das Erbe jener Theoretiker, die sich am Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem ökonomischen Potential bäuerlicher Familienwirtschaften beschäftigt hatten. Durch das Bekenntnis zur Rede- und Meinungsfreiheit schuf er einen Raum für die öffentliche Auseinandersetzung mit den am Ende der 1920er Jahre stigmatisierten Agrarexperten. Der Impuls für die öffentliche Rückbesinnung auf den Agrarismus ging von einem Agrarwissenschaftler aus. A. A. Nikonov, der den entscheidenden Schritt zur Rehabilitierung der verfolgten Ökonomen unternahm, war nicht nur seit den 1950er Jahren mit deren Schriften vertraut gewesen. Er hatte auch persönlich mit Makarov in Kontakt gestanden, der seit der Mitte der 1950er Jahre erneut als Agrarökonom Fuß gefasst hatte.284 Als lettischer Agrarminister (1951 – 1961) war Nikonov ebenso wie Venžer, Šmelev und Zaslavskaja für die Verbesserung der Anreizstrukturen in den Kolchosen und die Integration marktwirtschaftlicher Elemente in die sowje­ tische Landwirtschaft eingetreten. Nach langwierigen Auseinandersetzungen im lettischen Parteiapparat hatte er jedoch alle politischen Ämter aufgegeben und sich in die Wissenschaft zurückgezogen.285 Die politische Konstellation der 1980er Jahre 281 Ievlev, Dopolnitel’nyj istočnik prodovol’stvija, 4f. 282 Nove, Economic History, S. 382; ders., Studies, S. 303f. 283 Vgl. etwa Šmelev, Sem’ja. 284 Nikonov, Istoričeskij put’, S. 13. 285 Nikonov, Avtobiografija, S. 216f.

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ermöglichte es ihm, den eigenen Anliegen an höchster Stelle Gehör zu verschaffen. Seit 1984 war Nikonov Vorsitzender des VASChNIL, einer Position von politischem Gewicht. Der ehemalige Direktor des Stavropoler Landwirtschaftlichen Instituts hatte Gorbačevs agrarwissenschaftliche Dissertation betreut.286 Nach dessen Wahl zum Generalssekretär der KP dSU besaß Nikonov daher die nötigen Verbindungen, um die Parteispitze auf das Erbe der vergessenen Agrarexperten aufmerksam zu machen. Im September 1986 verfasste er ein Schreiben an Gorbačev, in dem er sich im Namen von VASChNIL für eine Rehabilitierung Čajanovs, Kondrat’evs, Čelincevs und Makarovs aussprach.287 Sein Anliegen rechtfertigte Nikonov mit dem Hinweis auf die Loyalität der Ökonomen gegenüber dem sowjetischen Staat. Diese seien zwar keine Marxisten gewesen, hätten jedoch verantwortungsvolle Positionen in staatlichen Planungsorganen, wissenschaftlichen Instituten und Bildungseinrichtungen besetzt. Auch gegenüber der landwirtschaftlichen Großproduktion hätten sie keine ­grundlegenden Einwände hervorgebracht. Es sei daher an der Zeit, die Leistungen der Wissenschaftler zu würdigen und öffentlich einzugestehen, dass die gegen sie erhobenen Anschuldigungen unbegründet gewesen seien.288 In seinem Schreiben verwies ­Nikonov auch auf Details aus den Familienbiographien der vier Wissenschaftler, die er offensichtlich als Ausweis ihrer persönlichen Integrität und ihrer Loyalität gegenüber der Sowjetunion wertete: Makarov habe während des Krieges die Partisanen­ bewegung unterstützt. Ein Sohn Čajanovs sei im Krieg gefallen, der andere habe eine Kriegsverletzung davongetragen, sei ein aktives Parteimitglied und arbeite in einem Moskauer Institut. Kondrat’evs Tochter sei eine in der ganzen Sowjetunion anerkannte Biologin.289 Die Rehabilitierung der Ökonomen war aus Nikonovs Sicht von „moralisch-politischer“ und wissenschaftlicher Bedeutung. Von ihr versprach er sich eine kritische Auseinandersetzung mit der sowjetischen Geschichte und die Weiterentwicklung der theoretischen Agrarökonomie sowie eine Verbesserung der internationalen Reputation des Landes. Unterstützend wies er darauf hin, dass die Ökonomen im Ausland als fachliche Autoritäten anerkannt seien und dort bereits Vorbereitungen für den anstehenden 100. Geburtstag Čajanovs getroffen würden.290 In der Manuskrip­tfassung eines Schreibens, das Nikonov Anfang 1987 286 Brown, Gorbachev Factor, S. 43. 287 Zwar waren die während des Terrors erfolgten Todesurteile gegen Čajanov und Kondrat’ev im Zuge der Destalinisierung als widerrechtlich anerkannt und die Ökonomen als Opfer des Stalinismus rehabilitiert worden. Die Anklage, sie hätten als Mitglieder der TKP eine Verschwörung gegen die sowjetische Führung vorbereitet, hatte jedoch weiter forbestanden.Vgl. den Entwurf des Schreibens an Gorbačev [16. September 1986], RGAĖ f. 785, op. 1, d. 156, l. 8 – 12. 288 Ebd., l. 8. 289 Entwurf des Schreibens an Gorbačev [16. September 1986], RGAĖ f. 785, op. 1, d. 156, l. 8 – 12. 290 Ebd.

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an das Zentral­komitee der KPdSU richtete, betonte er, dass die Ökonomen trotz ihrer kritischen Haltung gegenüber der Kollektivierung keine Konterrevolutionäre gewesen seien, und ihre Kritik einige Berechtigung besessen hätte.291 Offensichtlich zeigte ­Nikonovs Initiative Wirkung. Im Oktober 1986 wies Gorbačev die Einrichtung einer Kommission von Mitarbeitern des KGB und der Staatsanwaltschaft an, die das Verfahren gegen die vier Ökonomen erneut aufrollen sollte.292 Im Juli 1987 wurden Čajanov, Makarov, Kondrat’ev, Čelincev und mit ihnen zugleich L. N. Litošenko, L. B. Kafengauz, A. G. Dojarenko, A. A. Rybnikov, A. V. Tejtel, A. O. Fabrikant sowie weitere Agrar- und Wirtschaftsexperten aus ihrem Umfeld reha­ bilitiert.293 Im Zuge der umfassenden Rehabilitierungen von Opfern des Stalinismus wurde 1988 auch das Urteil gegen S. L. Maslov und 1989 das Urteil gegen N. P. Oganovskij für ungültig erklärt.294 Nach der politischen Rehabilitierung der Agrarexperten wurden ihre aus dem offiziellen Diskurs verbannten Ideen und Konzepte wiederentdeckt. Wichtige Impulse gingen hierbei von Wissenschaftlern aus, die die Bauern bereits zuvor in das Modell des sowjetischen Sozialismus integriert und über Perspektiven einer Reformierung der Agrarordnung nachgedacht hatten. Als sich Teodor Shanin, führender Vertreter der peasant studies und zugleich einer der wichtigsten Spezialisten auf dem Gebiet der russischen Agrargeschichte, 1987 in der Sowjetunion aufhielt, trat Nikonov mit der Bitte an ihn heran, eine Vorlesung über den kurz zuvor rehabilitierten ­Čajanov zu halten. Die Veranstaltung, zunächst vorgesehen für leitende Mitglieder der Timirjazev-Akademie, wurde zum Ausgangspunkt für die Wiederentdeckung des Ökonomen. Zu Shanins Vortrag, in dem dieser nach einem über fünf Jahrzehnte währenden Schweigen erstmals öffentlich an das tragische Schicksal des Ökonomen erinnerte, fanden sich mehrere Hundert Zuhörer ein.295 Aus Anlass von Čajanovs 100. Geburtstag richtete die Timirjazev-Akademie im Januar 1988 eine Konferenz zu Ehren des Ökonomen aus.296 Zeitgleich wurden Neuauflagen von Čajanovs Schriften vorbereitet. A. A. Nikonov, G. I. Šmelev und A. V. Beljanov, der sich wie Šmelev seit den 1970er Jahren mit den privaten Nebenwirtschaften beschäftigt hatte, waren führend an der Herausgabe ausgewählter Arbeiten beteiligt. Šmelev 291 Entwurf einer Stellungnahme an das CK KPdSU [Februar 1987], RGAĖ f. 785, op. 1, d. 156, l. 13 – 18. 292 Schreiben der Kommission an Gorbačev [31. Oktober 1986], in: Artizov u. a. (Hg.), Reabilitacija, Bd. 3, S. 10. 293 Davies, Perestrojka, S. 165f. 294 Bescheinigung des Obersten Kriegsgerichts der Sowjetunion über die Rehabilitierung S. L. M ­ aslovs vom 17. Oktober 1988. RGAĖ f. 1055, op. 1, d. 20, l. 1. Zur Rehabilitierung Oganovskijs siehe „Žertvye političeskogo terrora“. Angaben zu einer zweiten Rehabilitierung A. N. Minins und P. A. Sadyrins lassen sich nicht ausfindig machen. 295 Shanin, Chayanov’s treble death, S. 83f. 296 „Naučnoe nasledie Čajanova …“, S. 3 – 6.

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wirkte außerdem an einer Neuauflage von Čajanovs Genossenschaftstheorie mit.297 Im gleichen Zusammenhang wurden auch die Schriften von Kondrat’ev, Bruckus und Litošenko einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht 298 und die persönlichen Schicksale einzelner Ökonomen aufgearbeitet.299 Das breite Echo auf die Rehabilitierungen war ein Spiegel der politischen Konjunktur. Seit seinem Amtsantritt im Jahre 1985 hatte Gorbačev versucht, die sowjetische Wirtschaft durch eine Dezentralisierung der Planung, die Ausweitung betrieblicher Entscheidungsspielräume und die Einführung des Wirtschaftlichkeitsprinzips (chozrasčet) zu beleben. Mit der Förderung von Genossenschaften und der Ausweitung des „Vertragssystems“, d. h. der Delegation einzelner Produktionsschritte an kleinere betriebliche Einheiten, hoffte er, die landwirtschaftliche Produktivität zu steigern.300 Flankiert wurde diese Politik von Maßnahmen zur Etablierung einer neuen politischen Kultur. Mit dem Bekenntnis zur glasnost’ setzte Gorbačev 1986 eine Debatte über die sowjetische Vergangenheit in Gang, im Zuge derer die Politik Stalins als Verrat am „wahren“ Leninschen Sozialismus gebrandmarkt wurde. Für einige Zeit galten die Leitideen der NĖP nun als Grundlage eines Sozialismus, der nicht auf Gewalt und Zwang, sondern auf Freiwilligkeit beruhte.301 Die Suche nach Wegen zur Reformierung der Landwirtschaft ging einher mit einer Reevaluierung der sowjetischen Agrarpolitik. Seit 1987 führten Historiker, Ökonomen, Politiker und Publizisten eine intensive Auseinandersetzung sowohl über die Opfer als auch über die Notwendigkeit der Kollektivierung. Auch wenn nur ausgesprochen radikale Reformer die Idee einer kollektivierten Landwirtschaft grundsätzlich in Frage stellten, geriet Stalins kompromissloser Kampf gegen die bäuerlichen Agrarstrukturen in die Kritik.302 1990 erklärte der Ökonom G. I. Šmelev Stalins Kollektivierungspolitik offen zu einem Fehler: Wäre man dem Leninschen Kooperativplan gefolgt, hätte man die ländliche Bevölkerung ohne Gewalt und ökonomische Verluste für den Aufbau des Sozialismus mobilisieren können.303 297 So z. B. Čajanov, Krest’janskoe chozjajstvo (1989); ders.: Osnovnye idei (1991); ders.: Izbrannye trudy (1993). Auch die belletristischen Werke Čajanovs wurden neu ediert. Čajanov, Venecianskoe zerkalo (1989). 298 Kondrat’ev, Izbrannye sočinenija (1993); ders. Osoboe mnenie (1993); Bruckus, Sovetskaja R ­ ossija (1995). In den gleichen Kontext fällt auch die Erstveröffentlichung von L. N. Litošenkos in Amerika angefertiger Studie über die bolschewistische Bodenpolitik, an der u. a. V. P. Danilov, A. A. Nikonov und Teodor Shanin beteiligt waren. Litošenko, Socializacija zemli. 299 Kabanov, Aleksandr Vasil’evič Čajanov; Baljazin, Professor Aleksandr Čajanov; Čajanov, Čajanov; Efimkin, Dvaždy reabilitirovannye; Kagan, Boris Bruckus; Rogalina, Bruckus; Jakovlev, Nikolaj Pavlovič Makarov. 300 Brown, Gorbachev Factor, S. 142 – 145. 301 Davies, Perestrojka, S. 42 – 55; Müller, Blick zurück, S. 95 – 97. 302 Merl, Kollektivierung; Davies, Perestrojka, S. 66 – 79. 303 Šmelev, Kollektivizacija.

Konjunkturen der in- und ausländischen Rezeption

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In diesem Kontext wurde der öffentliche Verweis auf Wissenschaftler und Politiker, die in den 1920er Jahren für einen alternativen Weg zur Modernisierung des Dorfes eingetreten waren, zu einem politischen Bekenntnis. Čajanov und ­Kondrat’ev, denen von allen rehabilitierten Agrarexperten die größte Aufmerksamkeit zuteil wurde, galten am Ende der 1980er Jahre als Vertreter einer sozialis­tischen Tradition, die Stalin für die Errichtung seiner Gewaltherrschaft und die Installierung einer ineffektiven Kommandowirtschaft geopfert hatte. Da sie für eine Verbindung aus staatlicher Wirtschaftsregulierung und marktwirtschaftlichen Anreizstrukturen sowie für die gleichzeitige Existenz von Bauernwirtschaften, Großbetrieben und Genossen­ schaften in der Landwirtschaft eingetreten waren, erkannte man in ihnen ­Propheten jenes entbürokratisierten Sozialismus, der in den Jahren der ­Perestrojka auf der politischen Agenda stand.304 Waren die Ökonomen über Jahrzehnte als „bourgeoise Theoretiker“ bezeichnet worden, wurden sie nun zu verkannten ­Leninisten.305 Hinter dem lebhaften Interesse an den rehabilitierten Ökonomen und Agrarwissenschaftlern stand das Bedürfnis, Forderungen nach einer Reformierung der sowje­tischen Agrarordnung theoretisch zu begründen. Zwar h ­ atten Sozial-, Wirtschafts- und Agrarwissenschaftler den Widerspruch zwischen dem Ideal­bild einer sozialistischen Agrarordnung und der Realität des sowjetischen ­Dorfes bereits seit den 1970er Jahren thematisiert. Mit der politischen Reha­bilitierung der Kollektivierungskritiker standen ihnen nun jedoch Begriffe und Konzepte zur Verfügung, die sich für das neue Modell des sozialistischen Dorfes nutzen ließen.306 Auf der Konferenz, die 1988 zu Ehren Čajanovs veranstaltet wurde, brachte A. A. Nikonov diesen Zusammenhang klar zur Sprache: „Nur, wer den Sozialismus auf dogmatische und beschränkte Weise mit Kolchos- oder Sowchoswirtschaften, ihrem strengen Zentralismus und ihrer Schablonenhaftigkeit verbindet, nur, wer die Vielgestalt kooperativer Formen nicht erkennt, kann Čajanov einen nichtsozialistischen Standpunkt vorwerfen.“307 Nikonovs Aussage zeigte, was die Theoretiker der frühen Sowjetunion in den späten 1980er Jahren so attraktiv machte: Aus ihren Schriften ließ sich ein Sozialismusmodell ableiten, das unterschiedliche Produktions- und Eigentumsformen integrierte. Parallel zur Wiederentdeckung ihres in Vergessenheit geratenden wissenschaftlichen Erbes wurden die bekanntesten Agrarexperten des frühen 20. Jahrhunderts 304 Simonov; Figurovskaja, Ėkonomika zdravogo smysla; Petrikov, O specifike krest’janskogo truda; Frumkin, Uroki Čajanovskich čtenij. Es gab jedoch auch Agrarwissenschaftler, die angesichts der Wiederentdeckung Čajanovs vor einer Idealisierung der bäuerlichen Agrarproduktion warnten. Boev, Razmery proizvodstva. 305 So wurde es üblich, auf inhaltliche Parallelen zwischen Čajanovs Genossenschaftstheorie und Lenins Kooperativplan hinzuweisen. Vgl. etwa Kabanov, Kratkij biografičeskij očerk, in: Čajanov, Krest’janskoe chozjajstvo. Izbrannye trudy (1993), S. 21. 306 Sherlock, Politics, S. 275f. 307 Nikonov, Naučnoe nasledie, S. 46.

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Kontexte des Erinnerns und Vergessens

zum Gegenstand der sowjetischen Erinnerungskultur. Am Ende der 1980er Jahre organisierte die Bibliothekarin der Timirjazev-Akademie O. N. Byčkova eine Dauer­ ausstellung, die auf die Opfer des Stalinismus in den Reihen der Professorenschaft hinwies.308 Auf dem Gelände der Akademie wurden Mahntafeln zur Erinnerung an Kondrat’ev, Čajanov und Dojarenko angebracht. Seit 1994 trägt die Straße, in der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Moskauer ­Städtische Volkshochschule (­Šanjavskij-Universität) befand und heute die Staatliche Humanwissenschaft­ liche Universität (Rossijskij Gosudarstvennyj Gumanitarnyj Universitet, RGGU) unter­gebracht ist, den Namen Čajanovs.309 Nach ihrer Wieder­entdeckung ­wurden ­Kondrat’ev und Čajanov außerdem zu Namensgebern für wissenschaftliche Veranstaltungen oder Auszeichnungen. Seit 1996 verleiht die Russische Aka­demie der Wissenschaften regelmäßig einen „Čajanov-Preis“ für „herausragende L ­ eistungen auf dem Gebiet der Agrarökonomie“.310 2001 wurden an der RGGU die „­Čajanov-Vorlesungen“ begründet – jährlich stattfindende Konferenzen zum Austausch über aktuelle Probleme der russischen Wirtschaftsentwicklung.311 Auf die gleiche Weise wurde die Erinnerung an Kondrat’ev tradiert. Anlässlich seines 100. Geburtstags fand 1992 in Moskau ein internationales ­Symposium statt. Im Rahmen der Veranstaltung wurde die „Internationale Kondrat’ev-­Stiftung“ (­Meždunarodnyj fond N. D. Kondrat’eva) gegründet, die bis zum Jahr 2007 zu dreijährlich stattfindenden „Kondrat’ev-Vorlesungen“ einlud.312 Parallel wurden auch zwei wissenschaftliche Auszeichnungen etabliert, die den Namen des Ökonomen tragen. Gemeinsam mit der Russischen Akademie für Naturwissenschaften verleiht die Kondrat’ev-Stiftung alle drei Jahre eine „Kondrat’ev-Medaille“.313 Die Russische Akademie der Wissenschaften lobt regelmäßig den „Kondrat’ev-Preis“ für hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Wirtschaftstheorie aus.314 Das breite Echo auf die Rehabilitierung der seit den 1930er Jahren aus dem öffentlichen Diskurs verbannten Agrarexperten lässt sich ohne die vorangegangene intellektuelle Neuvermessung des sowjetischen Dorfes kaum erklären. In den

308 Bourgholtzer, Chayanov, S. xi. Teile der Ausstellung sind bis heute im historischen Museum der Timirjazev-Akademie erhalten. 309 Internetressource: http://www.mrm.ru/info/cao/tverskoy/street/5310 [letzter Zugriff: 25.02.2014]. 310 Siehe die Angaben auf der Homepage der russischen Akademie der Wissenschaften: http://www. ras.ru/about/awards/awdlist.aspx?awdid=148 [letzter Zugriff: 25.02.2014]. Unter den Laureaten befanden sich u. a. A. A. Nikonov (1996) und I. G. Šmelev (1999). 311 Berichte über die Čajanov-Vorlesungen auf der Homepage der RGGU: http://ieup.rsuh.ru/section. html?id=3009 [letzter Zugriff: 05.02.2015]. 312 Angaben hierzu befinden sich auf der Homepage der Stiftung: http://ikf2010.ru/ [letzter Zugriff: 25.02.2014]. 313 http://ikf2010.ru/weblog.php?id=32_0_1_0_C [letzter Zugriff: 25.02.2014]. 314 http://www.ras.ru/about/awards/awdlist.aspx?awdid=146 [letzter Zugriff: 25.02.2014].

Konjunkturen der in- und ausländischen Rezeption

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Čajanov-Straße im Moskauer Stadtzentrum

Arbeiten sowjetischer Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler hatte das ­klassische Bild der sozialistischen Moderne bereits vor dem Beginn der Perestrojka seine Konturen verloren. In den späten 1970er Jahren wurde die haushaltsbasierte Agrarproduktion in die sowjetische Ideologie integriert. Diese Entwicklung entsprach einem internationalen ideengeschichtlichen Trend. So, wie die Entdeckung Čajanovs im ­Westen mit der Krise der Modernisierungstheorie zusammengefallen war, so wurden der Ökonom und seine Mitstreiter in der Sowjetunion aktuell, als man sich von der Vision einer eindeutigen sozialistischen Moderne verabschiedete und Hetero­ genität und Uneindeutigkeit als Bestandteile des Sozialismus akzeptiert wurden. Spezifisch sowjetisch war an diesem Prozess, dass der Zeitpunkt dieser Entwicklung von der politischen Führung bestimmt wurde. Nachdem sich Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler lange mit dem Konzept des „Überbleibsels“ oder der „privaten Nebenwirtschaft“ beholfen hatten, wenn sie Unzulänglichkeiten der sowjetischen Agrarordnung thematisierten, fanden sie nach der Rehabilitierung der Experten des frühen 20. Jahrhundert eine neue Sprache. Die Arbeiten der vormals verfolgten Wissenschaftler lieferten Argumente für Forderungen nach einer Reformierung der sowjetischen Agrarordnung. Für Politiker, Wissenschaftler und Intellektuelle war der Verweis auf die Arbeiten der verfolgten Ökonomen nicht nur eine Möglichkeit, um eine historische Tradition jenseits des Stalinismus aufzurufen. Er diente auch als Ausweis der eigenen politischen und moralischen Integrität. In der Folge wurden

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Kontexte des Erinnerns und Vergessens

die Namen Čajanovs und Kondrat’evs zum zweiten Mal in der Geschichte zu Metaphern: Waren sie in den 1930er Jahren Chiffren für „antisowjetische“, „bourgeoise“ Verschwörer gegen die Sowjetmacht, etablierten sie sich am Beginn der 1990er Jahre als akademisches Gütesiegel, das Agrar­wissenschaftler und Öko­nomen bis heute zur Demonstration ihrer fachlichen Autorität in Anspruch nehmen.

4.3.3  krest’ janovedenie: Agrarismus im postsozialistischen Russland Während das breite Echo auf die Wiederentdeckung der verfolgten Agarexperten schnell verhallte und die Namen Kondat’ev und Čajanov zu einer Art wissenschaft­ lichen Markenzeichen wurden, existiert in der Wissenschaftslandschaft Russlands bis heute eine Nische, in der die zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründeten Traditionen des Agrarismus fortbestehen. Seit den frühen 1990er Jahren gibt es eine russische Variante der peasant studies. Als Vertreter der so genannten k­ rest’janovedenie, einer direkten Übertragung der englischsprachigen Disziplinbezeichnung in das Russische, widmet sich eine kleine Gruppe von Historikern, Ökonomen, Sozial- und Agrarwissenschaftlern dem Studium des postsowjetischen Dorfes. Im Zentrum ihrer Arbeit stehen Fragen, die auch die Begründer der peasant studies beschäftigten: die sozialen und ökonomischen Dimensionen ländlicher Lebenswelten, die Rolle der bäuerlichen Familie, die Beziehungen zwischen Land und Stadt, die Bedeutung der ländlichen Selbstverwaltung, die Integration der ländlichen Bevölkerung in die Politik. Die Entstehung der neuen Disziplin ist ein Beispiel für den Transfer wissenschaftlicher Ideen par excellence. Bei einem seiner Forschungsaufenthalte in der Sowjetunion hatte Teodor Shanin, einer der wichtigsten Vertreter der peasant studies, Anfang der 1980er Jahre Kontakt mit dem Agrarhistoriker V. P. Danilov aufgenommen, der sich bereits seit der Tauwetterperiode mit der Geschichte des russischen Dorfes vor der Kollektivierung auseinandergesetzt hatte. Als die beiden einander kennenlernten, befand sich Danilov in einer schwierigen Lage. Nachdem seine Arbeiten zur Kollektivierung in den 1960er Jahren in die Kritik geraten waren und er daraufhin sein Amt als Parteisekretär des Akademieinstituts für Geschichte hatte abgeben müssen, war der Historiker im Kreis seiner Kollegen isoliert. Seitens der Leitung des Instituts, an dem Danilov angestellt war, verfolgte man den Kontakt zwischen Shanin und Danilov mit Argwohn. Die beiden bemühten sich daher darum, ihre Treffen geheim zu halten.315 Ihr Austausch intensivierte sich nach dem Beginn der Perestrojka, als die Auseinandersetzung mit der sowjetischen Agrargeschichte zu einem Politikum und Danilov Mitglied in verschiedenen Expertenkommissionen

315 „Agrarnyj seminar pamjati Viktora Petroviča Danilova“, S. 49 – 52.

Konjunkturen der in- und ausländischen Rezeption

331

wurde, die die Ausarbeitung einer Agrarreform begleiteten.316 Anfang der 1990er Jahre riefen Danilov und Shanin eine Forschergruppe ins Leben, die mehrere Langzeitstudien über das Dorf während der Transformationsperiode durchführte. Im Rahmen des 1993 von Shanin und der Agrarsoziologin T. I. Zaslavskaja eröffneten Interdisziplinären Zentrums für Sozialwissenschaften (Intercentr) gründeten Shanin und Danilov im Jahre 1995 ein Zentrum für krest’janovedenie und Agrarreformen (Centr krest’janovedenija i sel’skich reform).317 Das Anliegen der Wissenschaftler um Shanin und Danilov bestand darin, die ländliche Bevölkerung als „den großen Unbekannten“318 in die Auseinander­setzung mit der Gegenwart und Vergangenheit Russlands zu integrieren. Im Vorwort zur ­russischen Ausgabe eines Sammelbandes, dessen Erscheinen in den 1960er Jahren die Etablierung der peasant studies markiert hatte, warb Shanin dafür, die Geschichte des bäuerlichen Russlands stärker zu thematisieren; nur mit dem Wissen um historische Alternativen ließen sich die Perspektiven für die „Wiedergeburt des Dorfes“ erkennen, von der wiederum die Lösung grundlegender versorgungspolitischer und ökologischer Probleme abhängig sei.319 Seit seiner Gründung beteiligte sich das Zentrum für krest’janovedenie an der Herausgabe von Quelleneditionen, die detaillierte Einblicke in die Geschichte der Bauernaufstände der frühen 1920er Jahre und die gewaltsamen Vorgänge der Kollektivierung lieferten.320 Unter der Leitung Shanins begann man in den frühen 1990er Jahren auch mit systematischen Studien über das postsowjetische Dorf. Ökonomen, Soziologen und Anthropologen führten lebensgeschichtliche Interviews durch, um die Geschichte des ländlichen Russlands auf der Basis bäuerlicher Erinnerungen zu rekonstruieren. Es folgten Projekte über die ländliche Ökonomie während der Transformationsperiode und Untersuchungen zu informellen Wirtschaftsstrukturen, Verwandschaft und sozialen Netzwerken im ländlichen Russland der 1990er und 2000er Jahre.321 Mit der Gründung eines eigenen Jahrbuchs im Jahre 1996 unterstrichen Shanin und Danilov ihren Anspruch, die „Bauernlehre“ als wissenschaftliche Disziplin in Russland

316 Danilov, Iz istorii perestrojki. 317 Das Zentrum für Sozialwissenschaften bildete wiederum die institutionelle Basis der 1995 gegrün­deten russisch-britischen Moskauer Hochschue für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (­Moskovskaja vysšaja škola social’nych i ėkonomičeskich nauk, MVŠSĖN), die heute unter dem Namen ­„Shaninka“ bekannt ist. Siehe hierzu Danilov; Majkin’kov; Nikulin, Chronika, S. 564. 318 So lautete der programmatische Titel der 1992 von Shanin herausgegebenen russischen Ausgabe des Sammelbandes „Peasants and Peasant Societies“. Shanin (Hg.) Velikij neznakomec. 319 Shanin, Krest’janovedenie, S. 24. 320 Stellvertretend Danilov (Hg.), Tragedija sovetskoj derevni; Berelovič; Danilov (Hg.), ­Sovetskaja ­derevnja. 321 Einen genauen Überblick bieten Danilov; Mjakin’kov; Nikulin, Chronika.

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Kontexte des Erinnerns und Vergessens

zu verankern.322 U ­ nverkennbar stellten sie das neue Forschungsfeld in die Tradition des Agrarismus und der peasant studies. Ihre Studien verbanden den aus der Zemstvo-Statistik stammenden Ansatz der Budgetstudien mit qualitativen Methoden (Tiefeninterviews, halbstrukturierte Interviews, „Reflexivität“) und Konzepten (Reziprozität, die „Waffen der Schwachen“), die westliche Kultur- und Sozialwissenschaftler seit den 1960er Jahren entwickelt hatten.323 Mit der Etablierung der peasant studies in Russland kehrte nicht nur eine intellektuelle Tradition „in ihre Heimat“ zurück,324 wie 2002 ein Rezensent anlässlich der Veröffentlichung eines Sammelbandes über das erste Jahrzehnt krest’janovedenie bemerkte. Ähnlich wie im frühen 20. Jahrhundert war und ist das wissenschaft­ liche Interesse am Dorf auch im postsowjetischen Russland häufig eine Reaktion auf die geringe Repräsentation der ländlichen Bevölkerung im politischen und wissenschaftlichen Diskurs. Die Vertreter der Disziplin vertreten den Anspruch, die Bauern von „Objekten des Verschweigens“325 (ob-ekty umolčanija) zu Subjekten zu machen, die mit ihrer eigenen Stimme sprechen.326 Durch die meisten ihrer Arbeiten zieht sich die Kritik an den radikalen Transformationsreformen der frühen 1990er Jahre, die in weiten Teilen Russlands die Renaturalisierung der Landwirtschaft, die Marginalisierung und schließlich die massenhafte Abwanderung der ländlichen Bevölkerung in die Städte nach sich zogen.327 Krest’janovedenie steht somit für einen Gegenentwurf zum „staatlichen Sehen“ (seeing like a state), das die ländlichen Regionen und ihre Bewohner auf Ressourcen staatlicher Moder­ nisierungsvisionen reduziert.328 Dass hinter diesem Ansatz eine erklärte Sympathie für ländliche Lebensformen steht, ist unverkennbar. Manche Vertreter der Disziplin entwerfen das Drohszenario verschwindender dörf­licher Lebenswelten infolge von Kapitalismus und Globalisierung.329 Angesichts des wachsenden Einflusses von landwirtschaftlichen Holdingunternehmen in der post­sowjetischen Landwirtschaft artikulieren andere die Sorge vor einer neokolonialistischen Ausbeutung des

322 „Ot redaktorov“, S. 5 – 7. 323 Vgl. Shanin, Metodologija dvojnoj refleksivnosti; Fadeeva; Nikulin, Issledovanija. 324 So äußerte sich ein Rezensent über einen Sammelband, der 2002 Bilanz über ein Jahrzehnt ­krest’janovedenie zog. Kaganskij, Krest’janovedenie. 325 Shanin, Perspektivy, S. 11. 326 Golosa krest’jan. 327 Koznova, Gor’koe maslo reform; Fadeeva, Sibirskoe selo. 328 Zum „staatlichen Sehen“ und der Kritik daran siehe Scott, Seeing like a state. Vgl. auch Shanin, Refleksivnoe krest’janovedenie, S. 14f. 329 V. G. Vinogradskij, Agrarsoziologe aus Saratov, der seit den frühen 1990er Jahren mit Shanin kooperiert, sieht seinen Auftrag darin, das Wissen über die Überlebens- und Anpassungsstrategien der ländlichen Bevölkerung zu bewahren, damit deren Spuren nicht vollständig durch den „Technik- und Globalisierungshurrican“ verwischt werden. Vinogradskij, „Orudija slabych“, S. 4.

Konjunkturen der in- und ausländischen Rezeption

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ländlichen Russlands. Sie befürchten, dass die ländlichen Regionen mit verheerenden Folgen für Gesellschaft und Natur einer kapitalistischen Gewinnmaximierungslogik geopfert und sich selbst überlassen werden, sobald sich die Profitaussichten in der russischen Landwirtschaft wieder verschlechtern.330 Hinter den russischen peasant studies verbirgt sich mehr als die nostalgische Sehnsucht nach einem „goldenen Zeitalter“ des russischen Dorfs. Mit dem wissenschaftlichen Interesse an den Bauern hat sich auch die vor 100 Jahren formulierte Vision des Agrarismus in Russland neu etabliert. Als Forschungsprogramm bildet krest’janovedenie den Ausgangspunkt für einen dezidiert gegen die politischen und wirtschaftlichen Eliten des postsowjetischen Russlands gerichteten Gesellschaftsentwurf. Im Zuge eines Forschungsprojekts zu Selbstverwaltung und s­ ozialer Stratifizierung in Russland kamen Teodor Shanin und der Agrarsoziologe A. M. Nikulin, gegenwärtig einer der aktivsten Vertreter des krest’janovedenie, 2012 zu dem Ergebnis, dass Russland in zwei unabhängig voneinander existierende Teile zerfalle: in das Russland der Staats- und Businesseliten, das sich in den beiden Hauptstädten sowie den wichtigsten wirtschaftlichen und administrativen Zentren des Landes konzentriere, und das von der Kontrolle über die Ressourcen des ­Landes vollständig ausgeschlossene „zweite Russland“, dessen Lebenswirklichkeiten sich kaum mit denen des „ersten Russlands“ überschnitten.331 Das „zweite Russland“, dem in dieser Konzeption auch die ländlichen Regionen zugerechnet werden, ist dabei mehr als eine heuristische Kategorie zur Beschreibung von marginalen Räumen und gesellschaftlichen Gruppen. Es ist ein Identifikationsangebot für diejenigen, die sich vom „ersten Russland“ nicht repräsentiert fühlen. Ähnlich wie der Ökonom N. P. Makarov am Beginn des 20. Jahrhunderts um eine „bäuerliche Ideologie“ warb, verbinden die Vertreter des krest’anovedenie ihre Forschungen mit einem klaren Credo: „Wir sind überzeugt, dass die verhängnisvolle Aufteilung Russlands in einen ersten, zweiten und möglicherweise noch weitere Teile in der näheren Zukunft ein Ende haben muss. Russland, das aus einer riesigen Vielfalt kultureller Landschaften besteht und vielfältige Lebensformen dynamisch integriert, wird seinen umfassendsten und seinen lebensfähigsten Teil dankbar in sich aufnehmen: das heutige zweite Russland.“332 Die Parallelen sind offenkundig: Wie im frühen 20. Jahrhundert ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Dorf auch im postsowjetischen Russland Teil einer Agenda zur gesellschaftlichen und politischen Transformation.

330 Štejnberg, Ostanetsja li v Rossii krest’janin? 331 Shanin; Nikulin, Predislovie, S. 7f. 332 Ebd., S. 11.

5.  „U N S E R E D Ö R F E R … B E S S E R A L S E I N E W Ü S T E “  – S C H L U S S B E T R AC H T U N G

An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sahen die Eliten des Zarenreichs in der „Agrarfrage“ eine der größten Herausforderungen ihres Landes. Unter dem Eindruck der Hungersnot von 1891/92 und landesweiten Bauernerhebungen während der Revolution von 1905/06 suchten Regierungsmitarbeiter, Wissenschaftler, Politiker, Verwaltungsangestellte und Intellektuelle nach Maßnahmen zur Modernisierung des ländlichen Russlands. Die Konjunktur der Agrarfrage zeigte sich auf allen Ebenen der Gesellschaft: in der rasanten Expansion des landwirtschaftlichen Bildungs­wesens, dem Wachstum der landwirtschaftsbezogenen Publizistik und der zunehmenden Zahl von Gesellschaften und Vereinen mit landwirtschaftlichem Profil. Parallel ging die zarische Regierung zu einer interventionistischen Agrarpolitik über. Mit dem Beginn der sog. Stolypinschen Reformen im Jahr 1906 förderte sie die Etablierung privater Eigentumsrechte an Boden und brachte ein umfassendes Programm zur Ausweitung und Intensivierung der Agrarproduktion auf den Weg. Auch nach der Revolution von 1917 blieb die Modernisierung der bäuerlichen Landwirtschaft ein entscheidender Punkt auf der politischen Agenda. Wie ihre politischen Vorgänger mobilisierten die bolschewistischen Machthaber Ressourcen und Personal, um das ländliche Russland aus seiner viel beklagten Rückständigkeit zu befreien. Es war kein Zufall, dass die Studierenden des Moskauer Landwirtschaftlichen Instituts Fortunatovs Zeilen „… in uns lebt ein Glaube, und dieser Glaube ist unsere Stärke, dass die Zukunft uns gehört“ zu ihrer Hymne machten. Die allgemeine Aufmerksamkeit für Fragen der Landwirtschaft veränderte den gesellschaftlichen Status von Vertretern landwirtschaftsbezogener wissenschaftlicher Disziplinen. Sie erweiterte ihre Karriereoptionen und verhalf ihnen zu öffentlichem Ansehen. Aus den Worten Fortunatovs sprach die Zuversicht, mit der viele Agrarspezialisten die Zukunft des ländlichen Russlands und damit Russlands insgesamt entwarfen. Doch die Vision eines Dorfes, in dem selbstständige, in Genossenschaften orga­nisierte bäuerliche Produzenten die Landwirtschaft effizient organisierten, neueste Technik anwandten, die gebildet waren und sich in der ländlichen Selbstverwaltung engagierten, wurde nie realisiert. Das Dorf lag an der Peripherie der r­ ussischen Moderne. Verglichen mit dem Lebensstandard in der Stadt war die ländliche Bevölkerung im Verlauf des gesamten 20. Jahrhunderts deutlich schlechter gestellt. Erster Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg führten zu dramatischen Einbrüchen der Agrarproduktion und einer weitgehenden Renaturalisierung der dörflichen Ökonomie.

Schlussbetrachtung

335

Nach einer zögerlichen Erholung während der 1920er Jahre wurden im Zuge der Kollektivierung Produktionsmittel, Vieh und Expertise vernichtet und die Grundlagen jeglicher Agrarentwicklung „von unten“ zerstört. Die anschließende Hungersnot kostete Millionen Menschen das Leben. Obwohl sich die Situation seit den 1950er Jahren stabilisierte und Investitionen in die soziale Infrastruktur während der Regierungszeits Brežnevs zu einem Anstieg der ländlichen Wohlfahrt führte, reichte der Lebensstandard der Dörfer nie auch nur annähernd an den der Städte heran. Nach dem Übergang zur Marktwirtschaft in den 1990er Jahren hat sich der Land-Stadt-Gegensatz in manchen Regionen Russlands sogar weiter vertieft. Infolge der Dekollektivierung und der radikalen Kürzung der staatlichen Agrarsubventionen verwandelten sich weite Teile des ländlichen Russlands in marginale Räume.1 Selbst in Regionen dynamischer Agrarentwicklung ist die gegenwärtige Situation weit von dem entfernt, was sich die Vertreter des Agrarismus am Anfang des 20. Jahrhunderts ausmalten. Anstelle genossenschaftlich organisierter klein- und mittelständischer Betriebe, dem Leitbild des russischen Agrarismus, wird die ländliche Ökonomie von so genannten „Asphalt-Farmen“ kontrolliert – vertikal integrierten Holdings, die mitunter alle Stufen der landwirtschaftlichen Wert­schöpfung unter einem Dach vereinen.2 Auch in Hinblick auf den Einfluss und Gestaltungsspielraum von Agrarexperten erwies sich Fortunatovs Zuversicht als verfehlt. Zwar veränderte die allgemeine Aufmerksamkeit für landwirtschaftliche Belange am Beginn des 20. Jahrhunderts die gesellschaftliche Position von Vertretern landwirtschaftsbezogener wissenschaftlicher Disziplinen. Als die Stalinsche Führung der bäuerlichen Agrarordnung am Ende der 1920er Jahre den Kampf ansagte und Vertreter der „alten“ Eliten als Saboteure des sozialistischen Aufbaus verurteilte, verloren die Anhänger des Agrarismus jedoch ihr gesellschaftliches Ansehen und fanden sich am Rande der sowjetischen Gesellschaft wieder. Im Zuge der Stalinschen Säuberungen wurden führende Spezialisten hingerichtet oder in den GULAG verbannt. Wer überlebte, war stigmatisiert und fand nur unter der Voraussetzung Zutritt zur sowjetischen Gesellschaft, dass er seine frühere Zugehörigkeit zu der als sowjetfeindlich diffamierten Elite nicht öffentlich thematisierte. Auch jene Wissenschaftler und Intellektuelle, die in den Jahren des Bürgerkriegs emigrierten oder am Beginn der 1920er Jahre von den Bolschewiki zwangsexiliert worden waren, nahmen am Ende der 1920er Jahre Abschied von der Vision einer ländlichen Moderne. Zwar gelang einigen von ihnen im Ausland die Fortsetzung ihrer beruflichen Laufbahn. Den gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch, 1

2

Ioffe; Nefedova; Zaslavsky, End of Peasantry. Die Autoren gehen davon aus, dass sich nach dem Ende der Sowjetunion zwei Drittel der Fläche Russlands in „Hinterland“ verwandelt haben. Ebd., S. 222. Den Begriff der „Asphalt-Farmen“ benutzt Leonard, Agrarian Reform, S. 223.

336

Schlussbetrachtung

den sie einst mit ihrer Tätigkeit verbunden hatten, und den Traum von einer bäuerlichen Agrarmodernisierung in Russland gaben sie nun jedoch auf. Wie lässt sich die Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Zeitgenossen und dem Ende des Agrarismus zu Beginn der 1930er Jahre, zwischen optimistischem Zukunftsglauben und kollektivem Scheitern deuten? War die Hoffnung auf eine Ausweitung der Agrarproduktion im Rahmen der bäuerlichen Agrarordnung, auf eine Anhebung des ländlichen Lebensstandards, die Einbindung der Landbevölkerung in Gesellschaft und Politik und eine Verbindung von Agrarwissenschaft, landwirtschaftlicher Praxis und Politik tatsächlich so illusorisch, wie sie sich angesichts dieser Bilanz darstellt? Für Zeitgenossen im späten Zarenreich und der frühen Sowjetunion war die Agenda des Agrarismus wahrscheinlich alles andere als utopisch. Seine Anhänger hatten guten Grund zu der Annahme, dass ihr Programm mittelfristig zum Erfolg führen werde. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg stieg die landwirtschaftliche Produktion kontinuierlich an. Auch wenn die Wachstums­ raten in der Landwirtschaft unter denen der Industrie lagen, gilt die These einer lang anhaltenden Agrarkrise des ausgehenden Zarenreichs inzwischen als überholt.3 Die Steigerung der Agrarproduktion ging zudem auf stabile Zuwächse der landwirtschaftlichen Produktivität zurück.4 Dass die bäuerliche Agrarordnung Russlands kein Entwicklungshindernis für die ländlichen Regionen darstellte, zeigte sich nicht nur auf dem Gebiet der Ökonomie. Die Bauern lernten lesen und sich schriftlich zu artikulieren. Sie reflektierten über sich selbst und über die Zukunft des Landes. Sie nutzten Gerichte und die lokalen Selbstverwaltungen, um ihre Interessen öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Eine wachsende Zahl von ihnen entwickelte Ideen zur Verbesserung der Landwirtschaft und zur Gestaltung des gesellschaftlichen Gemeinwesens.5 Dass ihr Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizont nicht mit der Grenze ihrer eigenen Dörfer zusammenfiel, gehört daher inzwischen zum common sense. Anlass zum Optimismus bot auch das wachsende öffentliche Ansehen, das die Befürworter einer bäuerlichen Agrarmodernisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts genossen. An den Hochschulen des Zarenreichs etablierte sich der Agrarismus als ein wissenschaftliches Paradigma. Der parallel einsetzende Trend zur Verwissenschaftlichung des Sozialen ging einher mit dem Aufstieg von Experten zu gesellschaftlichen Autoritäten und politischen Funktionsträgern. Die Visionäre der ländlichen Moderne profitierten von diesen Entwicklungen. Durch die erfolg­reiche Vernetzung untereinander und die Vermittlung ihrer Anliegen an ein Publikum jenseits des eigenen professionellen Milieus wurden sie zu einer öffentlich sicht­baren

3 4 5

Siehe Gregory, Before Command, Kap. 3 für eine ausführliche Diskussion. Leonard, Agrarian Reform, S. 227 – 243, Appendix I. Herzberg, Gegenarchive; Schedewie, Selbstverwaltung; Gerasimov, Modernism.

Schlussbetrachtung

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Elite. Dies wiederum erlaubte es ihnen, den Agrarismus in eine gesellschaftliche Bewegung zu verwandeln, die gegenüber der zarischen Regierung an Einfluss gewann. Mit dem Aufstieg in den Staatsapparat während des Ersten Weltkriegs und der Besetzung agrarpolitischer Schlüsselpositionen nach der Februarrevolution erhielten die Experten Zugang zu den institutionellen Ressourcen, um ihren Vorstellungen konkrete Gestalt zu verleihen. Auch die Machtübernahme der Bolschewiki bedeutete kein unmittelbares Ende dieser Entwicklungen. Zwar erlebten die Vertreter der Elite den Oktoberumsturz als eine Tragödie, da er ihre politischen Hoffnungen zerstörte und den Agrarismus als gesellschaftliche Kraft marginalisierte. Bereits zu Beginn der 1920er Jahre zählten viele seiner Anhänger jedoch zu den Funk­tionseliten des sozialistischen Staates. Als Mitarbeiter des Volkskommissariats für Landwirtschaft versuchten sie nun, den Traum von der ländlichen Moderne in das Modernisierungsprojekt der Bolschewiki zu integrieren. Die Ergebnisse meiner Arbeit belegen die wachsende Bedeutung modernen Ordnungs- und Planungsdenkens im Russland des frühen 20. Jahrhunderts. Dass die Agrarexperten unter drei politischen Regimen verantwortungsvolle Positionen in Wissenschaft und Politik besetzten, erkärt sich nicht allein aus dem Umstand, dass sie dank ihrer langjährigen Beschäftigung mit der bäuerlichen Landwirtschaft über Kenntnisse verfügten, die angesichts des allgemeinen Interesses an der Landwirtschaft und der Ausweitung des staatlichen Interventionismus als eine bedeutende Herrschaftsressource galten. Die Kontinuität ihres Ansehens resultierte aus der ideologischen Anschlussfähigkeit des Agrarismus.6 Die Agenda zur Modernisierung des bäuerlichen Russlands durch Wissen, Technologie und Organisation entsprach einem ideologieübergreifenden Konsens über die Gestaltbarkeit von Gegenwart und Zukunft, der unter den Angehörigen der zarischen, der Provisorischen und der bolschewistischen Regierung Zustimmung fand. Natürlich standen die Agrar­experten den verschiedenen Machthabern nicht indifferent gegenüber; das demokratische Credo der Provisorischen Regierung kam ihrem politischen Selbstverständnis ohne Zweifel am nächsten. Moderner Wissenschaftsglaube und gesellschaftlicher Gestaltungswillen waren jedoch gute Gründe, um zunächst mit der zarischen und nach dem Sturz der Provisorischen auch mit der sowjetischen Regierung zu koope­ rieren. Vor allem nach der Revolution versprachen Karriereoptionen in staatsnahen Institutionen oder im Staatsapparat die Möglichkeit, Wissenschaft und Politik zu verbinden. Wirtschaft und Gesellschaft, so schien es, könnten nun nach rationellen Kriterien gestaltet werden. Die Vertreter des Agrarismus besetzten in den 1920er Jahren wichtige Positionen in der Bürokratie, weil es zwischen ihnen und den

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Auf die ideologische Anschlussfähigkeit agrarischen Denkens verweist am Beispiel Ostmittel­ europas Harre, Demokratische Alternativen.

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Schlussbetrachtung

­ olschewiki eine inhaltliche Verständigungsgrundlage gab. Als „selbstmörderisch“7 B wird man die Mitarbeit der obščestvenniki im sowjetischen Staatsapparat daher nur bezeichnen können, wenn man die Geschichte „vom Ende“ her, das heißt, mit dem Wissen um ihr tragisches Schicksal während des Stalinismus liest. Die ländliche Moderne scheiterte daran, dass sie nicht gewollt war. Im Zentrum der Vision von Wissenschaftlern wie Fortunatov, Dojarenko oder Čajanov stand nicht der Arbeiter vor einem rauchenden Fabrikschlot, sondern der Bauer, der seine Rüben in die genossenschaftliche Zuckerfabrik brachte, der Milch und Fleisch auf städtischen Märkten absetzte oder für den Export weiterverarbeiten ließ, der las und sich in der lokalen Selbstverwaltung engagierte. Es war dieser Fokus auf das Dorf und die Landbevölkerung, der wiederholt dazu führte, dass das Anliegen des Agrarismus als konservativer Gegenentwurf zur Moderne missverstanden wurde. Die Mehrheit seiner Anhänger bekannte sich jedoch zum modernen Glauben an die Gestaltbarkeit der Welt durch Wissen und Vernunft. In Hochschulen, Genossen­ schaften, Zemstvos oder landwirtschaftlichen Gesellschaften warben sie für die Popularisierung agrarwissenschaftlicher Kenntnisse, für den Einsatz von fortschrittlichem Gerät, Kühltechnik sowie hochwertigem Saatgut, und propagierten Genossenschaften als Mittel zur Steigerung betriebswirtschaftlicher Effizienz. Die Suche nach der ländlichen Moderne offenbarte folglich kein „verstörte[s] Leiden an der Welt“8, sondern die Erwartung einer „besseren landwirtschaftlichen Zukunft“9. Dass die Version des Agrarismus mit dem Beginn des Stalinismus an Resonanz verlor, lässt sich mit dem Gegensatzpaar „Sozialismus“ und „Kapitalismus“ kaum erklären. Die begeisterten Berichte Kondrat’evs, Makarovs oder Čajanovs über die USA rührten nicht etwa von einem Glauben an die Verheißungen des Kapitalismus. Ihrem Selbstverständnis nach waren sie Kritiker eines kapitalistischen im Sinne eines von Gewinnmaximierung getriebenen, durch Monopolstrukturen gekennzeichneten Systems. Was die ländlichen Regionen der USA für sie so attraktiv machte, war die dezentrale Organisation von Wirtschaft und Verwaltung. Im „eingeschossigen Amerika“ fanden sie das positive Gegenbild zu den urbanen Zukunftsvisionen, wie sie im frühen 20. Jahrhundert in der Sowjetunion, den USA , in Deutschland, Frankreich oder England entstanden. Der ideologische Gegensatz zwischen Experten und den Bolschewiki erwuchs demnach aus der unterschiedlichen Beantwortung der Frage, ob Formen landwirtschaftlicher Kleinproduktion in der Zukunft einen Platz hatten und ob Moderne in erster Linie städtisch oder ländlich definiert wurde.

7 8 9

Gerasimov, Modernism, S. 44. Mai, Anti-Modernismus, S. 14. Čajanov, Kratkij kurs kooperacii (1915), S. 72.

Schlussbetrachtung

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Zugleich war der Konflikt mit den Machthabern am Ende der 1920er Jahre ein politischer. Die Wirksamkeit von gesellschaftlichen und politischen Ordnungsent­würfen hängt nicht nur davon ab, ob diese im Einklang stehen mit den ökonomischen oder materiellen Bedingungen, die ihre Realisierung voraussetzen. Entscheidend ist auch, ob es einen gesellschaftlichen Resonanzkörper für bestimmte Zukunftsvor­stellungen gibt bzw. ob ihre Vertreter über Autorität, Einfluss und Ressourcen verfügen, um eine breitere Öffentlichkeit oder relevante Entscheidungsträger für ihre Anliegen zu gewinnen. In den 1920er Jahren gab es durchaus Perspektiven für die Integration zentraler Anliegen des Agrarismus in die Modernisierungsagenda der Bolschewiki. Doch die Aktionsformen der vorrevolutionären Experten und ihre öffentliche Sichtbarkeit stellten den hegemonialen Machtanspruch der neuen Machthaber in Frage. Diese bekämpften daher vor allem die sozialen Räume, in denen die Anhänger des Agrarismus vor der Revolution agiert hatten. Die Einbindung der Wissenschaftler in den Staatsdienst war Teil der systematischen Homogenisierung des öffentlichen Lebens. Sie zielte darauf, konkurrierende Deutungen und Gesellschaftsentwürfe zu marginalisieren. Nach der Ausschaltung der Parteiopposition und dem Aufstieg Stalins zum faktischen Alleinherrscher am Ende der 1920er Jahre verschwand die Möglichkeit eines pragmatischen Arrangements zwischen vorrevolutionären Experten und Machthabern. Dies lag jedoch nicht nur daran, dass Industrialisierung und Kollektivierung der Vision der ländlichen Moderne widersprachen. Einige Vertreter des vorrevolutionären Agrarismus äußerten sich sogar optimistisch über die Perspektiven landwirtschaftlicher Großproduktion.10 Den Ausschlag für die gezielte Ausschaltung der Elite gab vielmehr deren Position im öffentlichen Raum. Wie die Vertreter anderer einflussreicher Expertengruppen, deren berufliche Laufbahn bis in die vorrevolutionäre Zeit zurückreichte, galten die Anhänger des Agrarismus aufgrund ihrer Sichtbarkeit in Administration und Hochschulwesen als potenzielle Störfaktoren beim Aufbau des Sozialismus. Ihre systematische Ausgrenzung folgte dem politischen Kalkül Stalins, der auf diese Weise die Transformation der Gesellschaft durch eine dem sowjetischen Staat mit bedingungsloser Loyalität zugewandte Elite sicherstellen und seine eigene Macht absichern konnte. Der russische Agrarismus belegt die Polyphonie, in der die Zeitgenossen auf die tiefgreifenden ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Veränderungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts reagierten. Die Ergebnisse meiner Studie fügen sich in den gegenwärtigen Trend, Russland in eine von den 10 So z. B. G. A. Studenskij, ein früherer Student A. V. Čajanovs, der Ende der 1920er Jahre in die Vereinigten Staaten reiste und die landwirtschaftliche Großproduktion als Mittel zur Überwindung der Agrarkise in den USA pries. Studenskijs Artikel wurde in einer amerikanischen Zeitschrift veröffentlicht, kann also nicht als blindes Lippenbekenntnis zur bolschewistischen Wirtschaftspolitik verstanden werden. Vgl. Studenskij [Studensky], Depression. Auch Čajanov glaubte, dass die landwirtschaftliche Großproduktion in der Zukunft an Bedeutung gewinnen werde. Nikulin, Transformacii, S. 116 – 119.

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Schlussbetrachtung

verschiedenen politischen Systemen und Ideologien abstrahierende Geschichte der Moderne zu integrieren.11 Da Prozesse wie Bürokratisierung, Verwissenschaft­ lichung, Industrialisierung auch im späten Zarenreich und noch viel deutlicher in der Sowjet­union mit dem Glauben an die Gestaltbarkeit der Welt durch Wissen, Technik und Vernunft zusammenfielen, ist es wenig überzeugend, die russische bzw. sowjetische Geschichte als die einer ewigen Ausnahme zu lesen.12 Meine Unter­suchung gibt diesem Ansatz insofern eine neue Facette, als sie die Vielfalt moderner Programmatik in Russland thematisiert. Das Projekt der Moderne beschränkte sich nicht auf die rücksichtslose Unterwerfung von Menschen und Natur.13 Mit seinem Fokus auf bäuerliche Wirtschaften, Genossenschaften und dezentrale Verwaltungsstrukturen unterschied sich der Agrarismus von Ideen und Praktiken, die in Form von Staudammprojekten, Fabrikanlagen und einer zentralen Organisation von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu den sichtbarsten Zeichen der russischen bzw. sowjetischen Moderne werden sollten. Seine Anhänger waren weder apolitische Technokraten, noch betrachteten sie die ländliche Bevölkerung als stummes Objekt einer elitären Zivilisierungsmission. Indem sie die Bauern als entscheidende Träger agrarischen Wachstums und ländlicher Entwicklung thematisierten, verbanden sie den populistischen Topos der „schöpferischen Gestaltungskraft des Volkes“ mit dem Glauben an die transformative Kraft von Wissen und Vernunft. Die Moderne war folglich auch in Russland ein ausgesprochen heterogenes Unterfangen. Nach der Wende zum 21. Jahrhundert könnte es scheinen, als sei die Relevanz der Thematik vor allem eine historische. Anders als in der späten Zaren- und der frühen Sowjetzeit, als sich der größte Teil der russischen Bevölkerung auf dem Land konzentrierte, leben nach offiziellen Angaben inzwischen ca. 74% der Bewohner Russlands in den Städten.14 2012 waren nicht einmal 10% der Gesamtbevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt.15 Doch diese Daten trügen. Auch heute noch kommt ein erheblicher Teil des in Russland produzierten Obsts und Gemüses aus

11 Einen Überblick über die Debatte bietet David-Fox, Multiple Modernities. 12 Hoffmann, Masses; Hoffmann; Kotsonis (Hg.), Russian Modernity. Auch Ulrich Herbert ­integriert die Sowjetunion in eine systemübergreifende Geschichte der Hochmoderne. Ebenso wie das ­nationalsozialistische Deutschland stehe die Sowjetunion für einen alternativen, aber nicht anti-­ modernen Weg zu Urbanisierung und Industrialisierung. Herbert, Europe, S. 9 – 15. 13 Beispiele für eine solche Interpretation der sowjetischen Geschichte sind etwa Scott, Seeing like a State; Josephson et al., Environmental History. 14 „Osnovnye demografičeskie pokazateli“, Internetressource: http://www.gks.ru/bgd/regl/b13_13/ IssWWW.exe/Stg/d1/04 – 01.htm [letzter Zugriff: 15.04.2014]. 15 „Srednegodovaja čislennost̕ zanjatych v ėkonomike po vidam ėkonomičeskoj dejatel’nosti“, Internetressource: http://www.gks.ru/bgd/regl/b13_13/IssWWW.exe/Stg/d1/05 – 05.htm [letzter Zugriff: 15.04.2014].

Schlussbetrachtung

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Nebenwirtschaften, Datschen sowie individuell oder kollektiv genutzten Gartenanlagen.16 Der Anteil haushaltsbasierter Formen der Landwirtschaft am Gesamtagrarprodukt des Landes ist signifikant. 2013 stammten 41,1% aller landwirtschaftlichen Erzeugnisse aus den so genannten „Wirtschaften der Bevölkerung“ (chozjajstva naselenija), einer Sammelkategorie, unter der die russische Statistik alle Formen „nichtunternehmerischer“ landwirtschaftlicher Tätigkeit subsummiert. 48,7% gingen zurück auf die Nachfolgebetriebe der ehemaligen Kolchosen oder Sowchosen und 10,2% auf die so genannten „Bauern-(Fermer)-Wirtschaften“ (krest’janskie (fermerskie) chozjajstva), das Leitbild der Agrarreformen am Beginn der 1990er Jahre.17 Mit dieser Klassifizierung entwirft die offizielle Statistik das irreführende Bild, die haushaltsbasierte Landwirtschaft diene vornehmlich der Selbstversorgung. Tatsächlich verbergen sich hinter vielen der „nichtkommerziellen“ Nebenwirt­schaften kleine Agrarbetriebe, deren Besitzer es zumeist aus steuerlichen Gründen vermeiden, ihr Unternehmen offiziell zu registrieren. 2003 ging etwa ein Viertel des von ländlichen Haushalten produzierten Obsts und Gemüses, ein Viertel bis ein D ­ rittel der Milch und Eier sowie die Hälfte der von ländlichen Haushalten ­er­zeugten Fleischprodukte an den Markt. Ökonomen und Sozialwissenschaftler schätzen allerdings, dass der Marktanteil der Haushaltsproduktion vor allem in Regionen in unmittelbarer Nähe zu städtischen Absatzmärkten oder überregionalen Transportwegen die offiziellen Schätzungen übersteigt.18 Ebenso wenig wie in der offiziellen Statistik ist die Bedeutung von „Russlands unbekannter Landwirtschaft“19 im öffentlichen Diskurs erkennbar. Im Zuge der Transformationsreformen stürzte die russische Landwirtschaft in eine tiefe Krise. In vielen Regionen ging der Übergang zur Marktwirtschaft mit einer Renatura­lisierung der ländlichen Ökonomie, dem Zusammenbruch der öffentlichen Infrastruktur auf dem Dorf und einer Migrationswelle in die Städte einher.20 Der massenhafte Bankrott kleiner und mittelständischer Agrarbetriebe führte zur Wiederbelebung antibäuerlicher Stereotype. Obwohl das Scheitern vieler Betriebe auf den Mangel an Inputs für kleine und mittelgroße Agrarproduzenten, ihre Benachteiligung auf Kreditmärkten und den fehlenden Zugang zu Absatzmärkten zurückging, setzte

16 Ioffe; Nefedova; Zaslavsky, End of Peasantry, S. 8. 17 „Produkcija sel’skogo chozjajstva po kategorijam chozjajstv“, Internetressource: http://www. gks.ru/free_doc/new_site/business/sx/tab-sel1.htm [letzter Zugriff: 08.04.2014]. Eine Erläuterung der unterschiedlichen Kategorien in der gegenwärtigen Agrarstatistik bietet Koval’čuk, Tipy ­sel’skochozjajstvennych predprijatij-proizvoditelej. 18 Pallot; Nefedova, Russia’s Unknown Agriculture, S. 4 – 8, 190 – 200. 19 So der Titel einer Studie Pallots und Nefedovas über die haushaltsbasierte Landwirtschaft im gegenwärtigen Russland. Pallot; Nefedova, Russia’s Unknown Agriculture. 20 Ioffe; Nevedova; Zaslavsky, End of Peasantry, S. 222.

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Schlussbetrachtung

sich die Überzeugung durch, die Bauern hätten ihre Chance verpasst.21 Seitdem die Landwirtschaft infolge der Banken- und Finanzkrise von 1998 zu einem Wirtschaftszweig mit steigenden Gewinnmargen geworden ist, sind in Russland hinsichtlich ihrer Größe weltweit einzigartige Holdingunternehmen entstanden, die vor allem im Süden des Landes ganze Regionen ökonomisch kontrollieren. Wie in anderen Teilen der Welt, wo die Landwirtschaft im Verlauf der letzten Dekade in das Interesse von Großinvestoren gerückt ist, lässt sich auch hier bislang nicht ab­sehen, ob diese Entwicklungen nachhaltige Wohlstandszuwächse für die länd­ lichen Regionen mit sich bringen.22 Nicht zu unterschätzen ist jedoch ihre Wirkung auf die Wahrnehmung der Landwirtschaft. Nach der euphorischen Beschwörung einer „Wiedergeburt des russischen Dorfes“ zu Beginn der 1990er Jahre domi­nieren in der staatlichen Agrarpolitik heute wieder technokratische Ordnungsvorstellungen. Obwohl private Haushalte und kleine bzw. mittelständische Unternehmen zusammen­gerechnet die Häfte der landwirtschaftlichen Güter produzieren, gelten vertikal integrierte Großunternehmen den gegenwärtigen Anforderungen einer globalisierten Landwirtschaft am besten gewachsen. Der Grund hierfür liegt jedoch weder in einer eindeutig belegbaren ökonomischen Überlegenheit dieser Betriebe, noch im mangelnden Produktions- und Wachstumspotential kleinerer Betriebsformen. Vielmehr ist es die Koalition aus politischen Eliten und finanzstarken Großunternehmern im postsowjetischen Russland, die die Vision einer vertikal integrierten Agrarproduktion wirkmächtig werden lässt.23 Die Vorstellungen über ein sinnvolles Verhältnis von städtischen und länd­ lichen Regionen sind heute ausgesprochen heterogen. Vertreter der postsowje­ tischen Funktionseliten entwerfen Russland als ein urban geprägtes Industrieland. Ė. S. Nabiullina, gegenwärtig Vorsitzende der Russischen Zentralbank, hat in ihrer Funktion als Ministerin für wirtschaftliche Entwicklung im November 2011 die Megastädte zum prioritären Ziel staatlicher Investitionen erklärt und angekündigt, man werde föderale Entwicklungsgelder künftig auf zwölf Städte konzentrieren, deren Einwohnerzahl die Marke von einer Million übersteige. Demgegenüber soll die staatliche Bezuschussung „unprofitabler“ Städte und Regionen zurückgenommen werden.24 Die 2011 getroffene Entscheidung, das Moskauer Stadtgebiet mehr als zu verdoppeln, weist in eine ähnliche Richtung. Geographen befürchten, dass sich

21 Amelina, Odinokie fermery. 22 Für einen knappen Überblick über diese Entwicklungen siehe Lindner; Vorbrugg, Landwirtschaft; Liefert; Liefert, Russian Agriculture, S. 56f. 23 Gataulina; Uzun; Petrikov; Yanbykh, Vertical Integration, S. 45 – 71. 24 RIA Novosti, Nabiullina: Količestvo malych i srednich gorodov v RF budet sokraščat’sja. 11:37 08.12.2011. Internetressource: http://www.ria.ru/society/20111208/510139616.html [letzter Zugriff: 13.04.2014].

Schlussbetrachtung

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durch die Aufwertung der Hauptstadt die regionalen Ungleichgewichte ebenso wie die Stadt-Land-Disparitäten weiter verschärfen könnten.25 Ähnlich wie im ­frühen 20. Jahrhundert stammen Vorschläge für alternative Entwicklungsszenarien auch in der Gegenwart häufig aus dem Umfeld von Sozialwissenschaftlern, die sich in Feldforschungen mit Regionen jenseits der Städte beschäftigen und Agrar­politik als Bestandteil eines umfassenderen Programms zur Entwicklung ländlicher Räume betrieben sehen wollen. In einem Essay formulierte der Agrarsoziologe A. M. ­Nikulin 2012 das Programm für einen Agrarismus der Gegenwart, dessen Grundzüge sich weitgehend mit der Agenda der obščestvennost’ der späten Zarenzeit decken. ­Soziale Polarisierung und die Marginalisierung des ländlichen Raums l­ießen sich mit einem einfachen Rezept verhindern: „Genossenschaften, eine effektive ländliche Selbstverwaltung und, schlussendlich, spezielle Programme zur sozialen und kulturellen Entwicklung ländlicher Regionen.“26 Wie bereits 100 Jahre zuvor implizieren derartige Forderungen den Wunsch nach einer Aufwertung ländlicher Lebens- und Wirtschaftszusammenhänge: „Unsere Dörfer – mögen sie klein und schwach sein, aussterben oder demographisch verfallen – sind immer noch besser als eine Wüste.“27 Eine vergleichbare Position vertritt eine Gruppe von Soziologen, Geographen und Ökonomen, die unter der Leitung des Moskauer Soziologen N. E. Pokrovskij darüber nachdenken, wie die Attraktivität ländlicher Regionen erhöht und die zunehmende Konzentration der Bevölkerung in urbanen Agglomerationen abgeschwächt werden könnte.28 Es bleibt abzuwarten, inwieweit der von gebildeten Eliten immer häufiger realisierte Wunsch einer Verlagerung ihres Lebensmittel­ punktes in ländliche Regionen dem Trend der allgemeinen Land-Stadt-Migration entgegenwirkt und tatsächlich, wie Pokrovskij Anfang 2014 prognostizierte, zu einem „regionalen Wirtschaftsaufschwung von unten“ beiträgt.29 Die unterschied­lichen Konzeptionen für die künftige Entwicklung ländlicher und städtischer Räume im postsowjetischen Russland verweisen jedoch auf einen Zusammenhang, der auch für den Agrarismus am Beginn des 20. Jahrhunderts entscheidend war: Ob das Dorf in der Zukunft einen Platz hat, ist nicht zuletzt eine Frage gesellschaft­licher Selbstthematisierung und politischer Prioritäten.

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Machrova; Nefedova; Trejviš, Moskva. Nikulin, Selo i volja, S. 120. Ebd., S. 124. Vgl. die Homepage des sog. Ugorsker Projekts: http://www.ugory.ru/teoriya.htm [letzter Zugriff: 13.04.2014]. 29 Interview mit N. E. Pokrovskij, Moskovskie Novosti, 14. Januar 2014. Internetressource: http:// www.mn.ru/society/20140114/367420437.html [letzter Zugriff: 13.04.2014].

6.  A N H A N G

6.1   Ku r z biog r a ph ie n Aleksej N. Ancyferov (1867 – 1943) Ökonom, Genossenschaftsaktivist, Autor zahlreicher theoretischer Arbeiten zum genossenschaftlichen Kreditwesen. Studium an der Moskauer Universität; seit 1903 Privatdozent für Statistik an der Univer­sität Char’kov; Lehrtätigkeit an den Höheren Kursen für Frauen in Char’kov, an der Moskauer Šanjavskij-Universität sowie am Moskauer Handelsinstitut; vor dem Ersten Weltkrieg Engagement in den Zentralorganen der russischen Genossenschaftsbewegung; Gründungsmitglied der Moskauer Volksbank und Mitinitiator eines zentralen Genossenschaftsinstituts; 1917 Gründungsmitglied der Liga für Agrar­ reformen, Mitglied des Rats der Allrussischen Genossenschaftskongresse; Mitarbeit am Genossenschaftsgesetz der Provisorischen Regierung; 1920 Emigration; 1921 Gründungsmitglied und Professor am Russischen Institut für Landwirtschaftliches Genossenschaftswesen in Prag, parallel Dozent am Russischen Institut für Recht und Ökonomie der Pariser Universität. Ende der 1920er Jahre zog A. endgültig nach Paris um, wo er 1943 starb. Viktor I. Anisimov (1875 – 1920) Agrarökonom, Autor zahlreicher Beiträge zu Fragen der bäuerlichen Ökonomie und des Genossenschaftswesens. Studium am Land- und Forstwirtschaftlichen Institut in Novaja Aleksandrija, anschließend Zemstvo-Statistiker und Agronom in den Gouvernements Kursk, Char’kov, ­Vladimir und Voronež; seit 1906 Mitglied der Volkssozialistischen Partei; in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg Dozent für Agrarökonomie am Moskauer Handels­institut, an den Golicynschen Landwirtschaftlichen Kursen für Frauen und der Moskauer ­Šanjavskij-Universität; Engagement in den Zentralorganen der russischen Genossen­schaftsbewegung; während des Ersten Weltkriegs Mitarbeiter der Ökonomischen Abteilung des Allrussischen Städtebundes, nach dem Sturz der zarischen Regierung Mitglied in der Liga für Agrarreformen, im Rat der All­ russischen Genossenschaftskongresse und im Rat des Zentralen Landkomitees der Provisorischen Regierung; seit Mai 1917 stellvertretender Versorgungs­minister, Mandat der Genossenschaft­lichen Gruppe im so genannten Vorparlament; 1918 Dekan des Genossenschaftlichen Instituts in Moskau. A. erlag während des Bürgerkriegs einer Typhuserkrankung.

Kurzbiographien

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Boris D. Bruckus (1874 – 1938) Agrarökonom. Studium am Land- und Forstwirtschaftlichen Institut in Novaja Aleksandrija, anschließend Tätigkeit als Agronom in der Jüdischen Kolonisationsgesellschaft; 1907 – 1922 Dozent am Lehrstuhl für Agrarökonomie, -geschichte und -politik am Landwirtschaftlichen Institut Sankt Petersburg; seit 1913 Mitherausgeber der Zeitschrift „Agronomičeskij ­žurnal“; 1917 Gründungsmitglied der Liga für Agrarreformen, Mitglied des Zentralen Land­komitees der Provisorischen Regierung; 1921 Mitherausgeber der Zeitschrift „­Ėkonomist“; 1922 Verhaftung und Ausweisung aus Sowjetrussland; 1923 – 1932 Professor am Russischen Wissenschaftlichen Institut in Berlin; 1933 Ausreise aus Deutschland; 1935 bis zu seinem Tod Professor für Agrarökonomie und -politik an der Hebräischen Universität Jerusalem. Aleksandr V. Čajanov (1888 – 1937) Agrarökonom, einer der Begründer der Bauern­wirtschaftstheorie. Studium der Agrarwissenschaft am Moskauer Landwirtschaftlichen Institut, Engagement in der Genossenschaftsbewegung; Mitbegründer und leitendes Mitglied im Zentralverband der russischen Flachsproduzenten; 1917 Mitbegründer der Liga für Agrarreformen, Mitglied des Zentralen Landkomitees und des Rats der Allrussischen Genossenschaftskongresse; stellvertretender Agrarminister im letzten Kabinett der Provisorischen Regierung; seit 1918 regelmäßige Tätigkeit für den Narkomzem, 1921 Mitglied des Leitungsgremiums des ­Narkomzem; in den 1920er Jahren Professor an der Moskauer Timirjazev-Akademie und Leiter des 1919 von ihm mitgegründeten Instituts für Agrarökonomie und -politik sowie Mitarbeiter des Narkomzem; 1930 verhaftet und 1932 als angebliches Mitglied der TKP verurteilt; 1934 Verbannung nach Alma-Ata. 1937 wurde Č. erneut verhaftet, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Aleksandr V. Čelincev (1874 – 1962) Fachausbildung im Gartenbau, Fernstudium der Landwirtschaft am Land- und Forstwirtschaftlichen Institut in Novaja Aleksandrija, parallel Anstellung als Zemstvo-Statistiker im Gouvernement Saratov; 1908 – 1913 Dozent im Fach Gartenbau, seit 1913 Professor für landwirtschaftliche Organisation und Ökonomie am Land- und Forstwirtschaftlichen Institut in Novaja Aleksandrija; nach der Februarrevolution Leiter der Abteilung für Agrarökonomie und -statistik des Landwirtschaftsministeriums, Mitglied des Zentralen Landkomitees und der Liga für Agrarreformen; stellvertretender Agrarminister des letzten Kabinetts der Provisorischen Regierung; während des Bürgerkriegs Flucht nach Jugoslawien; 1920 – 1923 Dozent an der Universität Belgrad; 1923 – 1925 Dozent am Russischen Institut für Agrar­genossenschaften und am Institut zur Erforschung Russlands in Prag; 1925 Rückkehr nach Moskau, Anstellung im Narkomzem, Professor an der Timirjazev-Akademie; 1930 verhaftet und als angebliches Mitglied der TKP verurteilt, Verbannung nach Voronoež, 1932 Freispruch, bis 1937 Mitarbeiter im

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Anhang

Narkomzem SSSR, anschließend wechselnde wissenschaftliche und administrative Positionen; 1940 bis 1946 Anstellung am Forschungsinstitut der Konservenindustrie, gelegentliche Forschungsaufträge der Timirjazev-Akademie; seit 1950 in Pension. Aleksej G. Dojarenko (1874 – 1958) Agronom. Studium der Naturwissenschaften, des Rechts und der Komposition in Sankt Petersburg; seit 1898 Agronomiestudium am Moskauer Landwirtschaftlichen Institut, im Anschluss Mitarbeiter der landwirtschaftlichen Versuchsstation des Instituts; aktives Mitglied der Moskauer Landwirtschaftlichen Gesellschaft; Herausgeber der Zeitschrift „Vestnik Sel’skogo Chozjajstva“; Dozent an den Golicynschen Landwirtschaftlichen Kursen für Frauen und an der Moskauer Šanjavskij-Universtität, seit 1914 Professor für Allgemeine Landwirtschaftslehre am Moskauer Landwirtschaftlichen Institut; 1917 Mitglied des Zentralen Landkomitees und der Liga für Agrarreformen; seit 1918 Berater des Narkomzem in Fragen des landwirtschaftlichen Versuchswesens, in den 1920er Jahren Mitglied in der landwirtschaftlichen Planungskommission und des Büros für landwirtschaftliches Versuchswesen des Narkomzem; 1930 als angebliches Mitglied der TKP verhaftet, 1932 zu fünf Jahren Haft verurteilt; 1935 nach Kirov verbannt, dort Tätigkeit in einer landwirtschaftlichen Versuchsstation und im ­Theater; seit 1939 Anstellung im Getreidewirtschaftlichen Institut in Saratov, seit 1947 Leiter des dortigen Lehrstuhls für allgemeine Landwirtschaftslehre; 1948 Entlassung Dojarenkos im Zusammenhang mit dem Aufstieg Lysenkos. Ivan V. Emel’janov (1880 – 1945) Agronom und Genossenschaftstheoretiker. Studium der Agronomie am Kiever Polytechnischen Institut, anschließend Tätigkeit als Zemstvo-Agronom im Gouvernement Char’kov; 1910 – 1912 landwirtschaftlicher Vertreter des Zemstvos Ekaterinoslav in den USA; während des Ersten Weltkriegs Leiter der agronomischen Abteilung des Char’kover Gouvernements-Zemstvos, verantwortlich für die Versorgung von Flüchtlingen im Gouvernement Char’kov; seit 1916 Dozent am Char’kover Handelsinstitut, Redakteur der Zeitschriften ­„Južno-russkaja sel’skochozjajstvennaja gazeta“ und „Agronomičeskij žurnal“; 1917 Deputierter des Char’kover Gouvernements-Zemstvos; 1919 Vorsitzender des Char’kover Gouvernements-Zemstvos bis zu dessen Auflösung; 1919 Emigration; Mitglied der Auslandsvertretung des Sel’skosojuz in London, 1920 – 1921 Mitglied der internationalen Delegation der Moskauer Volksbank; 1921 Mitbegründer und Dozent des Russischen Instituts für Landwirtschaftliches Genossenschaftswesen in Prag; 1927 Ausreise in die USA , bis 1933 Visiting Professor am Lehrstuhl für Agrarökonomie an der Rutgers University, anschließend wechselnde Tätigkeiten in amerikanischen Regierungsinstitutionen. E. starb 1945 in Washington.

Kurzbiographien

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Aleksej F. Fortunatov (1856 – 1925) Statistiker und Agronom. Studium der Medizin an der Universität Sankt Petersburg und der Landwirtschaft an der Land- und Forstwirtschaftlichen Petrovka-Akademie in Moskau; in den 1880er Jahren Statis­ tiker am Moskauer Gouvernements-Zemstvo, seit 1884 Dozent und später Professor für Agrarstatistik an der Petrovka-Akademie; nach der Schließung der Akademie Wechsel an das Land- und Forstwirtschaftliche Institut in Novaja Aleksandrija; 1899 – 1902 Professor für Agrarökonomie und -statistik am Polytechnischen Institut in Kiev; seit 1902 bis zu seinem Tod Professor für Agrarökonomie am Moskauer Landwirtschaftlichen Institut, bis 1917 zugleich Dozent an den Golicynschen Kursen für Frauen, am Moskauer Handelsinstitut und der Šanjavskij-Universität; 1917 Mitarbeit im Rat der Allrussischen Genossenschaftskongresse. Nikolaj A. Kablukov (1849 – 1919) Statistiker und Agrarökonom, Autor zahl­ reicher wissenschaftlicher Arbeiten im Bereich der Statistik sowie der Agrar- und der Industrieökonomie. Studium der Politischen Ökonomie an der Juristischen Fakultät der Moskauer Universität, anschließend Tätigkeit als Statistiker im Moskauer Gouvernements-Zemstvo; 1879 – 1881 Studienreise nach Deutschland; seit 1885 Leiter des Statistischen Büros des Moskauer Zemstvos; seit 1903 bis zu seinem Tod Professor für Statistik und Politische Ökonomie an der Moskauer Universität, Dozent an der Moskauer Šanjavskij-Universität und an den Golicynschen Landwirtschaftlichen Kursen für Frauen; aktives Mitglied der Moskauer Juristischen Gesellschaft und Vorsitzender der Čuprov-Gesellschaft; nach der Februarrevo­ lution 1917 Gründungsmitglied der Liga für Agrarreformen, Mitglied des Rats der Allrussischen Genossenschaftskongresse. Zacharij S. Kacenelenbaum (1885 – 1961) Wirtschaftswissenschaftler. Studium an der Moskauer Universität, anschließend Assistent am Moskauer Handelsinstitut und an der Šanjavskij-Universität; 1918 – 1921 finanzpolitischer Berater des Narkomfin und des Narkomvneštorg, 1921 – 1929 Mitglied der Leitung von Gosplan und der sowjetischen Staatsbank; seit 1917 Privatdozent, seit 1927 Professor, Lehrtätigkeiten Plechanov-Institut für Volkswirtschaft, der Universität Moskau und dem Institut der Roten Professur in Moskau; 1930 Verhaftung; 1932 bis 1938 Tätigkeit in der Finanz- und Planungsabteilung der Zentralverwaltung für den Aufbau des Hohen Nordens; 1943 – 1948 Anstellung in verschiedenen Moskauer Finanzinstituten, seit 1955 Professor am Plechanov-Institut für Volkswirtschaft. Lev B. Kafengauz (1885 – 1940) Wirtschaftswissenschaftler. Studium der Poli­ tischen Ökonomie an der Moskauer Universität, anschließend Tätigkeit als Statis­ tiker in der Moskauer Stadtverwaltung, Dozent am Moskauer Handelsinstitut; 1917 Eintritt in die Partei der Menschewiki; stellvertretender Industrieminister der

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Anhang

Proviso­rischen Regierung; nach der Oktoberrevolution Dozent an verschiedenen Moskauer Hochschulen; seit 1919 Mitarbeiter und seit 1923 Leiter der Statis­tischen Abteilung des VSNCh; 1930 als angebliches Mitglied der TKP verhaftet, administrative Verbannung nach Ufa, 1932 Rückkehr nach Moskau; Tätigkeit am Ordžonikizde-Institut für Industrieökonomie und am Stalin-Stahlinstitut in Moskau; 1937 – 1940 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wirtschaftsinstitut der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften. Aleksandr A. Kaufman (1864 – 1919) Statistiker und Ökonom. Studium an der Juristischen Fakultät der Universität Sankt Petersburg; seit 1887 statistische Er­­ hebungen zur obščina und zu bäuerlichen Wirtschaften im Auftrag des Ministe­ riums für Reichsdomänen; in den 1890er Jahren Experte für Fragen der bäuer­lichen Umsiedlung nach Sibirien, beteiligt an der Kommission zur Ausarbeitung einer Umsiedlungsgesetzgebung; statistische Erhebungen und Revisionen für das Agrarund das Innenministerium in Westsibirien; Berater des Landwirtschafts­ministeriums im Vorfeld der Stolypinschen Reform; seit 1906 Mitglied der ­Kadetten; Beteiligung an der Ausarbeitung des Agrarprogramm der Partei; Dozent an der Universität Sankt Petersburg; 1917 Mitglied des Zentralen Landkomitees der Provisorischen Regierung. Nikolaj D. Kondrat’ev (1892 – 1938) Wirtschaftswissenschaftler, Begründer der Theorie der langen Konjunkturzyklen, Autor des ersten landwirtschaftlichen Perspektivplans im sowjetischen Russland. Zwischen 1905 und 1919 Mitglied der ­Partei der Sozialrevolutionäre. Studium an der Juristischen Fakultät der Universität Sankt Petersburg; 1915 – 1916 Vorsitzender der Statistisch-Ökonomischen Abteilung des Zemstvo-Bundes in Petrograd; 1917 Mitglied des Zentralen Landkomitees, Oktober 1917 stellvertretender Versorgungsminister der Provisorischen Regierung; 1918 Umzug nach Moskau, Dozent an der Šanjavskij-Universität, Mitarbeit in der Moskauer Volksbank und in der Leitung der Zentralen Vereinigung der Flachs­ genossenschaften; Anfang der 1920er Jahre wiederholt verhaftet; seit 1920 Leiter des Moskauer Konjunkturinstituts; seit 1921 leitender Mitarbeiter in der Landwirtschaftlichen Planungsabteilung des Narkomzem; 1928 Entlassung aus dem Dienst des Narkomzem; 1930 verhaftet und anschließend als leitendes Mitglied der TKP zu acht Jahren Haft verurteilt. K. wurde im September 1938 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Vladimir A. Kosinskij (1866 – 1938) Agrarökonom, Autor zahlreicher Arbeiten zur Agrarfrage, einer der Begründer der Bauernwirtschaftstheorie. Studium der Mathematik und der Politischen Ökonomie an der Universität Moskau, Schüler A. I. Čuprovs, Mitglied der Kadetten; 1900 Privatdozent der Moskauer Universität im Fach Politische Ökonomie, seit 1902 Adjunktprofessor am Rigaer Poly­technischen Institut,

Kurzbiographien

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1904 Professor an der Universität Novorossijsk, seit 1909 Professor für Politische Ökonomie am Kiever Polytechnischen Institut; 1918 stellvertretender Arbeitsminister in der Regierung Hetman P. P. Skoropadskijs; anschließend Emi­gration; seit 1922 Professor für Politische Ökonomie an der Prager Universität, enge Verbindungen zu den wissenschaftlichen Institution der russischen Emi­gration in Prag; seit den späten 1920er Jahren Professor für Politische Ökonomie an der Universität Riga. Aleksandr P. Levickij (1884 – ???) Agronom. Leitendes Mitglied der Gesellschaft zur Verbreitung landwirtschaftlicher Bildung im Volke, vor dem Ersten Weltkrieg Vorsitzender der Moskauer Landwirtschaftlichen Gesellschaft, Leiter der Landwirtschaftlichen Versuchsstation der Region Moskau, Dozent an der Šanjavskij-Universität in Moskau und an den Golicynschen Landwirtschaftlichen Kursen für Frauen; während des Ersten Weltkriegs Mitglied der Ökonomischen Abteilung des Allrussischen Zemstvo-Bundes; 1917 Mitglied im Rat der Liga für Agrarreformen, Geschäftsführer des Zentralen Landkomitees der Provisorischen Regierung; seit 1918 Kooperation mit dem Narkomzen, Mitbegründer des Büros für landwirtschaftliches Versuchswesen des Narkomzem; 1921 für seine Tätigkeit im Allrussischen Komitee zur Hilfe der Hungernden verhaftet; in den 1920er Jahren Mitarbeiter der Landwirtschaftlichen Planungskommission Zemplan des Narkomzem; 1930 als angebliches Mitglied der TKP verhaftet. Über das weitere Schicksal L.s ist nichts bekannt. Lev N. Litošenko (1886 – 1938) Agrarökonom. Studium der Politischen Öko­ nomie an der Moskauer Universität, Dozent am Moskauer Handelsinstitut und an der Moskauer Šanjavskij-Universität; Statistiker im Allrussischen Städtebund; seit 1918 Mitarbeiter der Zentralen Statistischen Verwaltung, Durchführung von Budget­studien in Bauernhaushalten; seit 1920 Professor an der Moskauer Landwirtschaftlichen (Timirjazev-)Akademie, Mitarbeiter im Institut für Agrarökonomie und -politik; 1930 verhaftet, 1932 als angebliches Mitglied der TKP verurteilt und im selben Jahr wieder freigelassen; 1938 erneute Verhaftung und Verurteilung zu acht Jahren Lagerhaft; 1943 Tod in einem Arbeitslager in Kolyma. Konstantin A. Maceevič (1874 – 1942) Agronom. Studium am Landwirtschaft­lichen Institut in Novaja Aleksandrija, anschließend Zemstvo-Agronom im Gouvernement Saratov; Mitbegründer des „Agronomičeskij žurnal“; Dozent an der Moskauer Šanjavskij-Universität; während des Ersten Weltkriegs Mitglied der Öko­nomischen Abteilung der Allrussischen Zemstvo-Union; nach der Februarrevolution Mitbegründer der Liga für Agrarreformen, Mitglied des Zentralen Landkomitees; Umzug nach Kiev, stellvertretender Generalsekretär für landwirtschaftliche Angelegenheiten der Central’na Rada, Lehrtätigkeit, Engagement in der ukrainischen Genossenschaftsbewegung; 1919 Außenminister in der Regierung Ostapenko, anschließend

350

Anhang

ukrainischer Gesandter; Anfang der 1920er Jahre Emigration in die Tschechoslowakei. M. starb in Poděbrady. Nikolaj P. Makarov (1886 – 1980) Agrarökonom. Studium der Politischen Ökonomie an der Universität Moskau, im Anschluss statistische Erhebungen in länd­ lichen Regionen Russlands; seit 1914 Dozent für Politische Ökonomie und Statistik am Landwirtschaftlichen Institut Voronež, zugleich Lehrtätigkeit an der Moskauer Šanjavskij-Universität; während des Ersten Weltkriegs Mitglied des Allrussischen Zemstvo-Bundes; 1917 Mitbegründer der Liga für Agrarreformen sowie des Rats der Allrussischen Genossenschaftskongresse, Mitglied des Zentralen Land­komitees der Provisorischen Regierung und des Rats des Allrussischen Verbands der Agrar­ genossenschaften; zwischen 1919 und 1924 Aufenthalt in den USA und der Tschechoslowakischen Republik, Dozent am Russischen Wissenschaftlichen Institut in Berlin und am Russischen Institut für landwirtschaftliches Genossenschafts­wesen in Prag; 1924 Rückkehr nach Moskau, Mitarbeiter des Narkomzem, Professor an der Landwirtschaftlichen Timirjazev-Akademie; 1930 Verhaftung, Anfang 1932 als angebliches Mitglied der TKP verurteilt, 1935 Verbannung nach Voronež, mehr­jährige Tätigkeit als Agronom in Kolchosen und MTS im Gebiet Voronež; seit 1948 Dozent am Landwirtschaftlichen Institut Vorošilovgrad (Lugansk), 1955 bis 1973 Professor am Allunionsferninstitut für Agrarwissenschaften in Moskau. Aleksandr A. Manujlov (1861 – 1929) Ökonom. Studium an der Juristischen Fakultät in Novorossijsk, 1890er Jahre Studium in Deutschland und England; seit 1885 Dozent für Politische Ökonomie und seit 1908 Rektor der Moskauer Universität; seit 1906 Mitglied der Kadetten, beteiligt an der Ausarbeitung des Agrarprogramms der Partei; während des Ersten Weltkriegs Vorsitzender des Ökonomischen Rats des Allrussischen Städtebundes; nach der Februarrevolution Bildungsminister im ersten Kabinett der Provisorischen Regierung; nach dem Oktoberumsturz Flucht nach Tiflis; in den 1920er Jahren Professor an der Universität Moskau und Mit­ arbeiter in verschiedenen sowjetischen Zentralbehörden (Narkomfin, Narkomzem) sowie Leitungsmitglied der sowjetischen Staatsbank. Semen L. Maslov (1875 – 1938) Sozialrevolutionärer Politiker und Genossenschaftsaktivist. Studium der Medizin in Moskau; 1890er Jahren wiederholte Verhaftung wegen seines Engagements in der Narodnaja Volja, Verbannung nach Kazan’; Studium an der Juristischen Fakultät der Kazaner Universität; Tätigkeit als Zemstvo-Statistiker, Redakteur der Zeitung „Krest’janskaja gazeta“; 1905 – 1907 Redaktionsmitglied der sozialrevolutionären Zeitschrift „Syn otečestva“; 1910 Umzug nach Moskau; dreijährige Haft; seit 1913 Engagement in der Genossenschaftsbewegung, Mitbegründer und seit 1916 Vorsitzender des Zentralverbands

Kurzbiographien

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der Flachsgenossenschaften; 1917 Mitglied des Zentralen Landkomitees, Agrarminister der letzten Koalition der Provisorischen Regierung; mehrfache Verhaftung nach dem Oktoberumsturz; 1918 – 1920 Vorsitzender des Sel’skosovet; seit Sommer 1920 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Narkomzem; 1922 – 1925 Vorsitzender des Zentralverbands der Leinen- und Flachsgenossenschaften; Dozent am Moskauer Genossenschaftsinstitut, am Plechanov-Institut für Volkswirtschaft in Moskau; 1930 Verhaftung als angebliches Mitglied der TKP ; 1931 Verbannung nach Ufa, 1934 vorzeitige Rückkehr nach Moskau. Im Februar 1938 wurde M. durch den OGPU verhaftet und im Juni als Mitglied einer konterrevolutionären terroristischen Organisation zum Tode verurteilt und hingerichtet. Aleksandr N. Minin (1881 – 1938) Agrarökonom. Studium am Moskauer Landwirtschaftlichen Institut; Dozent an der Moskauer Šanjavskij-Universität; 1917 Mitglied der Liga für Agrarreformen, des Rats der Allrussischen Genossenschaftskongresse und des Zentralen Landkomitees; in den 1920er Jahren Professor am Landwirtschaftlichen Institut Voronež und Berater des Narkomzem; 1930 als angebliches Mitglied der TKP verhaftet; 1938 der Zugehörigkeit zu einer internationalen Spionageorganisation angeklagt und hingerichtet. Nikolaj P. Oganovskij (1874 – 1938?) Statistiker und Ökonom. Studium an der historisch-philologischen Fakultät der Universität Sankt Petersburg; seit 1902 Mitarbeiter im Statistischen Büro des Voronežer Zemstvos unter der Leitung von F. A. Ščerbina; Redakteur der populistischen Zeitschriften „Golos derevni“ und „­Narodnyj listok“; 1914 Assistent am Lehrstuhl für Politische Ökonomie am ­Moskauer ­Handelsinstitut; während des Ersten Weltkriegs Leiter des Statistischen Büros des Allrussischen Z ­ emstvo-Bundes; nach der Februarrevolution Mitglied der Liga für Agrarreformen und des Zentralen Landkomitees; Mandat der Sozial­revolutionären Partei bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung; während des Bürgerkriegs Unterstützung des Komuč; im November 1918 stellvertretender Agrarminister der Allrussischen Provisorischen Regierung in Omsk, nach deren Sturz Professor am Omsker Landwirtschaftlichen Institut; Mitarbeiter des Sibirischen Verbands der Konsumgenossenschaften und der sibirischen Abteilung von Gosplan; 1921 Wechsel an den Narkomzem in Moskau, Mitarbeiter von Gosplan; 1930 Verhaftung, 1933 Verbannung nach Baschkirien, wo O. wahrscheinlich 1938 verstarb. Aleksej V. Pešechonov (1867 – 1933) Statistiker und Ökonom, Autor zahlreicher Aufsätze und einiger Monographien über die bäuerliche Ökonomie, umfassende publizistische Tätigkeit in den Zeitschriften „Syn otečestva“, „­Narodno-­socialističeskoe obozrenie“ und „Russkoe bogatstvo“. Seit den 1880er Jahren Tätigkeit als ­Zemstvo-Statistiker; 1894 Verhaftung aufgrund seiner Nähe zur Partei des Volksrechts;

352

Anhang

1906 Mitbegründer der Werktätigen Volkspartei/Partei der Volkssozialisten; Mai bis August 1917 Ernährungsminister der Provisorischen Regierung; kurzzeitige Inhaftierung während des Bürgerkriegs; anschließend Statistiker in der Zentralen Statistischen Kommission der Ukraine; 1922 kurzzeitige Tätigkeit im Narkomzem; 1922 Verhaftung und Ausweisung aus Sowjetrussland; 1924 Geschäftsführer des Instituts zur Erforschung Russlands in Prag; seit 1927 handelspolitischer Berater der Sowjetunion im Baltikum. P.s Rückkehrgesuche wurden mehrfach von den sowjetischen Behörden abgelehnt. Er verstarb 1933 in Riga. Sergej N. Prokopovič (1871 – 1955) Statistiker, Ökonom und Publizist. Studium an der Landwirtschaftlichen Petrovka-Akademie, das er aufgrund der Schließung der Akademie Anfang der 1890er Jahre abbrach; 1893/94 Mitglied der Partei des Volksrechts; Verhaftung und Emigration; Studium an der Universität Brüssel; 1899 Rückkehr nach Russland; 1904 Mitglied des Befreiungsbundes, 1905 kurzzeitiges Mitglied der Kadetten; Engagement in der russischen Genossenschaftsbewegung, Dozent an der Moskauer Šanjavskij-Universität; nach der Februarrevolution Vorsitzender der Leitung des Rats der Allrussischen Genossenschaftskongresse; im Juli 1917 Minister für Transport und Industrie und im September 1917 Ernährungsminister der Provisorischen Regierung; Professor an der Juristischen Fakultät der Universität Moskau; 1918 Direktor des Genossenschaftlichen Instituts in Moskau; 1921 Mitinitiator des Allrussischen Komitees zur Hilfe der Hungernden; August 1921 Verhaftung und anschließende Verbannung; 1922 Ausweisung aus Sowjetrussland; Leiter des Ökonomischen Kabinetts am Russischen Wissenschaftlichen Institut in Berlin; 1924 Übersiedlung nach Prag. Nach der Schließung des Ökonomischen Kabinetts zog P. 1938 nach Genua um, wo er 1955 verstarb. Aleksandr A. Rybnikov (1877 – 1938) Agrarökonom. Studium an der Juristischen Fakultät der Universität Moskau, anschließend Statistiker im Büro des Smolensker Gouvernements-Zemstvos; Dozent an der Šanjavskij-Universität in Moskau; seit 1914 Dozent und später Professor für Agrarökonomie und -statistik an den Höheren Landwirtschaftlichen Kursen in Saratov; 1915 beteiligt an der Gründung der Zentralen Vereinigung der Flachsproduzenten; 1917 Mitglied der Liga für Agrar­ reformen und des Zentralen Landkomitees; 1922 Umzug nach Moskau; Dozent und bald Professor für Wirtschaftsgeographie an der Timirjazev-Akademie; Mitarbeit im agrarökonomischen Institut Čajanovs, im Narkomzem und in der landwirtschaftlichen Abteilung von Gosplan; Juli 1930 Verhaftung, 1932 als Mitglied der TKP verurteilt und im selben Jahr wieder freigelassen; vorübergehende Anstellung im Allunions-Leineninstitut. Im Dezember 1937 wurde R. erneut verhaftet und im September 1938 zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Kurzbiographien

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Pavel A. Sadyrin (1877 – 1937) Genossenschaftsaktivist. Mitglied der Kadetten; Mitglied des Organisationskomitees des Ersten Allrussischen Genossenschafts­ kongresses von 1908; Sekretär und Dozent an der Moskauer Šanjavskij-Univer­ stität; 1917 Mitglied der Liga für Agrarreformen; seit 1921 Vorsitzender des Zentral­ verbands der Agrargenossenschaften Sel’skosojuz und Berater verschiedener sowjetischer Behörden; 1930 als angebliches Mitglied der TKP verhaftet; nach einiger Zeit offensichtlich vorübergehend freigelassen; Anfang 1937 erneut verhaftet, im September 1937 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Aleksandr V. Tejtel (1874 – 1937) Agronom. Studium am der Agronomischen Fakultät des Polytechnischen Instituts in Riga; seit 1898 Tätigkeit im Samaraer Zemstvo als Statistiker, seit 1900 ebendort Zemstvo-Agronom; 1903 – 1918 ­Zemstvo-Agronom im Gouvernement Saratov; 1908 Mitbegründer und Vorsitzender der Gesellschaft zur Verbesserung der Bauernwirtschaft; Mitherausgeber der Zeitschrift „­Samarskij zemledelec“, seit 1910 Herausgeber der Zeitschrift „Zemskij Agronom“; 1917 Mitglied der Liga für Agrarreformen, nach dem Oktoberumsturz Professor und Dekan der Agronomischen Fakultät an der Universität Samara; 1921 Umzug nach Moskau; Mitglied im Allrussischen Komitee zur Hilfe der Hungernden, kurzzeitige Verhaftung bei der Auflösung des Komitees; Vorsitzender der Zentralen Landwirtschaftsverwaltung des Narkomzem; seit 1923 ständiger Mitarbeiter von Zemplan; 1930 als angebliches Mitglied der TKP verhaftet und 1932 zu dreijähriger Haft verurteilt. Im Juli 1937 wurde T. erneut verhaftet und im November desselben Jahres zum Tode verurteilt und hingerichtet. Vacham F. Totomianc (1875 – 1964) Wirtschaftswissenschaftler, Genossenschaftstheoretiker und -aktivist. Studium in Deutschland, Belgien und der Schweiz; enge Kontakte zu Vertretern der westeuropäischen Genossenschaftsbewegung; 1899 Rückkehr nach Russland, Mitglied in den Redaktion der Zeitschrift „Syn otečestva“; Dozent für Politische Ökonomie und Finanzwissenschaften am Handels- und am Landwirtschaftlichen Institut in Sankt Petersburg sowie an der Moskauer ­Šanjavskij-Universität; seit 1919 in der Emigration (Tiflis, Rom, Prag); Dozent am Landwirtschaftlichen Institut in Rom, am Russischen Wissenschaftlichen Institut und am Russischen Institut für landwirtschaftliche Genossenschaften in Prag; seit 1932 Mitarbeiter in verschiedenen genossenschaftlichen Organisationen in Sofia; seit 1953 Dozent am Russischen Wissenschaftlichen Institut in Paris. T. starb in Paris. Michail I. Tugan-Baranovskij (1865 – 1919) Ökonom, Vertreter des legalen ­Marxismus, bekannt für seine Beiträge zur Konjunktur- und zur Genossenschaftstheorie. 1896 – 1899 Studium an der naturwissenschaftlichen und an der juristischen Fakultät der Universität Char’kov; Mitbegründer und Herausgeber der Zeitschrift

354

Anhang

„Vestnik kooperacii“; nach der Februarrevolution Mitglied in der Leitung der Liga für Agrarreformen sowie des Rats der Allrussischen Genossenschaftskongresse; Sommer 1917 Rückkehr in die Ukraine; August bis Dezember 1917 Finanzminister der Ukrainischen Republik, anschließend Rückzug aus der Politik, Engagement in der ukrainischen Genossenschaftsbewegung. T.-B. starb während des B ­ ürgerkrieges auf dem Weg von Kiev nach Odessa. Aleksandr I. Ugrimov (1874 – 1974) Agronom. Studium der landwirtschaftlichen Bodenkunde in Freiburg und Leipzig; bis 1922 Vizepräsident und Präsident der Moskauer Landwirtschaftlichen Gesellschaft; nach dem Oktoberumsturz Mitarbeit im GOĖLRO; aktives Mitglied des Allrussischen Komitees zur Hilfe der Hungernden; 1922 Verhaftung und Ausweisung aus Sowjetrussland; 1923 – 1932 Dozent am Russischen Wissenschaftlichen Institut in Berlin, anschließend Bibliothekar in der Landwirtschaftlichen Bibliothek für Oststaaten und Dozent an der Berliner Universität; 1938 Jahre Ausreise nach Frankreich; Unterstützung der Resistance; 1948 Rückkehr in die Sowjetunion.

Abkürzungsverzeichnis

355

6. 2   Abk ü r z u ng s ve r z eich n i s ARAN Archiv Rossijskoj Akademii Nauk

Archiv der Russischen Akademie der Wissen­ schaften

B Arch K

Bundesarchiv Koblenz

CAGM Central’nyj Archiv Goroda Moskvy

Zentralarchiv der Stadt Moskau

Centrosojuz Central’nyj sojuz potrebitel’skich obščestv

Zentralverband der Konsumgenossenschaften

CIAM Central’nyj Istoričeskij Archiv Goroda Moskvy

Historisches Zentralarchiv der Stadt Moskau

CIK Central’nyj Ispolnitel’nyj Komitet

Zentrales Exekutivkomitee

CK Central’nyj komitet KPR (b)/KPdSU

Zentralkomitee der Partei der Bolschewiki / der Kommunistischen Partei der Sowjetunion

FON Fakul’tet obščestvennych nauk

Fakultät für Sozialwissenschaften

GARF Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii

Staatsarchiv der Russischen Förderation

Glavprovobr Glavnoe upravlenie ­professional’nogo obrazovanija

Zentralstelle für Berufsausbildung (Abteilung des Narkompros)

GOĖLRO Gosudarstvennaja komissija po ėlektrifikacii Rossii

Staatliche Kommission zur Elektrifizierung ­Russlands

Gosplan Gosudarstvennaja planovaja ­kommissija

Staatliche Planungskommission

GstA PK

Geheimes Staatsarchiv preußischer Kulturbesitz

Komuč Komitet členov učreditel’nogo ­sobranija

im Juni 1918 in Samara gegründete Übergangs­ regierung

LPCh Ličnoe podsobnoe chozjajstvo

Private Nebenwirtschaft

MTS Mašinno-traktornaja stancija

Maschinen- und Traktoren-Station

Narkomprod Narodnyj komissariat ­prodovol’stvija

Volkskommissariat für Ernährung

Narkompros Narodnyj komissariat ­prosveščenija

Volkskommissariat für Bildung

Narkom RKI Narodnyj komissariat Raboče-Krest’janskoj Inspekcii

Volkskommissariat der Arbeiter-Bauerninspektion

Narkomzem Narodnyj komissariat zemledelija Volkskommissariat für Landwirtschaft NĖP Novaja Ėkonomičeskaja Politika

Neue Ökonomische Politik

NKVD Narodnyj komissariat vnutrennych del

Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten

OGPU Ob-edinennoe gosudarstvennoe ­političeskoe upravlenie

Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung

PSR Partija socialistov-revoljucionerov

Sozialrevolutionäre Partei

Rabkrin Raboče-Krest’janskaja Inspekcija

s. Narkom RKI

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Anhang

RGAĖ Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Ėkonomiki

Russisches Staatsarchiv für Wirtschaft

RSFSR Rossijskaja Sovetskaja Federativnaja Socialističeskaja Respublika

Russische Sozialistische Föderative Sowjet­ republik

RWI

Russisches Wissenschaftliches Institut in Berlin

Sel’skosojuz Vserossijskij zakupočnyj sojuz sel’skochozjajstvennoj kooperacii

Allrussischer Verband der landwirtschaftlichen Einkaufsgenossenschaften

Sel’skosovet Sovet vserossijskogo sojuza sel’skochozjajstvennoj kooperacii

Rat des Sel’skosojuz

SNK Sovet Narodnych Komissarov

Rat der Volkskommissare

TKP Trudovaja Krest’janskaja Partija

„Werktätige-Bauern-Partei“

VASChNIL Vsesojuznaja Akademija Sel’sko-chozjajstvennych Nauk imeni Lenina

Allunions-Lenin-Akademie für Agrarwissenschaften

VCIK Vserossijskij central’nyj ispol’nitel’nyj komitet

Allrussisches Zentrales Exekutivkomitee

VČK Vserossijskaja črezvyčajnaja komissija

Allrussische Außerordentliche Kommission

VSNCh Vysšij Sovet Narodnogo Chozjajstva

Oberster Volkswirtschaftsrat

Zemplan

Landwirtschaftliche Planungskommission des Narkomzem

Glossar

357

6. 3  Glo s s a r chozrazčet (Abk. chozjajstvennyj razčet)

Bezeichnung für die Idee einer „wirtschaftlichen Rechnungsführung“ in sozialistischen Betrieben

komandirovka

Dienstreise

mešočnik

wörtl. „Sackmann“, während der NĖP Bezeichnung für mobile Händler

narodničestvo

Ideologie und soziale Bewegung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, deren Anhänger die russische Dorfgemeinde als den Prototypus eines „bäuerlichen Sozialismus“ betrachteten

Narodnik

wörtl. „Volkstümler“, Anhänger des narodničestvo

obščestvennik

zeitgenössische Bezeichnung für Personen, die sich in der nichtstaatlichen Öffentlichkeit engagierten

obščestvennost’

zeitgenössischer Terminus für nichtstaatliche Formen von Öffentlichkeit

obščina

Landumteilungsgemeinde

pomeščik

adeliger Gutsbesitzer

prodrazverstka

zwangsweise Requirierung von Getreide zu einem fixen nominalen Preis

usad’ba

Adelsgut

Zemstvo

Organ der ländlichen Selbstverwaltung

7.   Q U E L L E N - U N D L I T E R AT U RV E R Z E I C H N I S 7.1   Q u el le n 7.1.1  Archivmaterialien RGAĖ 478 533 7018 8390

Narodnyj Komissariat Zemledelija RSFSR (Narkomzem RSFSR) Sovet Vserossijskich kooperativnych s-ezdov Sel’skosovet Vsesojuznaja Akademija Sel’skochozjajstvennych nauk imeni Lenina (VASChNIL)

Fondy ličnogo proizchoždenija 731 Čajanov, Aleksandr Vasil’evič 766 Makarov, Nikolaj Pavlovič 769 Kondrat’ev, Nikolaj Dmitrievič 771 Čelincev, Aleksandr Nikolaevič 772 Kafengauz, Lev Borisovič 782 Kacenelenbaum, Zacharij Solomonovič 785 Nikonov, Aleksandr Aleksandrovič 1055 (semejnyj fond) Maslov, Semen Leont’evič 1072 Šmelev, Gelij Ivanovič 9470 Rybnikov, Aleksandr Aleksandrovič 9474 Dojarenko, Aleksej Grigor’evič 9550 Ugrimov, Aleksandr Ivanovič 9598 Kollekcija dokumentov ėkonomistov i dejatelej statistiki GARF 1796 Glavnyj Zemel’nyj Komitet Ministerstva Zemledelija Vremennogo Pravitel‘stva 1797 Ministerstvo Zemledelija Vremennogo Pravitel’stva 3529 Gosudarstvennoe Soveščanie 1917 g. Moskva A-406 Narodnyj komissariat raboče-krest’janskoj inspekcii RSFSR (NK RKI RSFSR) Fondy ličnogo proizchoždenija 3694 Oganovskij, Nikolaj Petrovič 5865 Prokopovič-Kuskova, Ekaterina Dmitrievna 5902 Prokopovič, Sergej Nikolaevič 10017 Kollekcija dokumentov ličnogo proizchoždenija i dokumentov ėmigrantskich ­učreždenij i organizacij

Quellen- und Literaturverzeichnis

CIAM 419 635 1575

359

Moskovskoe Obščestvo Sel’skogo Chozjajstva Moskovskij Gorodskoj Narodnyj Universitet im. A. L. Šanjavskogo Moskovskoe obščestvo rasprostranenija sel’skochozjajstvennych znanij v narode

Fondy ličnogo proizchoždenija 642 Fortunatov, Aleksej Fedorovič CAGM r-691 Moskovskaja Sel’skochozjajstvennaja Akademija im. Timirjazeva 1609 Moskovskij Gosudarstvennyj Universitet ARAN 353 Agrarnyj Institut Kommunističeskoj Akademii CIK SSSR 528 Kricman, Lev Natanovič Hoover Institution Archives Ivan V. Emel’ianov Papers GstA PK PK, I. HA, Rep. 76 Kultusministerium, Sekt. 2, Tit. 23 LITT. A B Arch K N 1210 Nachlass Max Sering Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin PA UK U 004 Personalakte Alexander Ugrimov

7.1.2  Quelleneditionen Artizov, A. N. u. a. (Hg.): „Očistim Rossiju nadolgo …“. Repressii protiv inakomysljaščich (konec 1921 – načalo 1923 g.). Moskva 2008 — u. a. (Hg.): Reabilitacija: Kak ėto bylo. Dok. prezidiuma CK KPSS i dr. materialy. 3 Bde. Moskva 2000 – 2004 Berelovič, A.; Danilov V. (Hg.): Sovetskaja derevnja glazami VČK – OGPU – NKVD, 1918 – 1939. Dokumenty i materialy v 4 tomach. Moskva 1998 – 2005 Browder, Robert Paul; Kerensky F. Alexander (Hg.): The Russian Provisional Government 1917. Documents, Vol. II. Stanford 1961 Bychovskij, B. E. u. a. (Hg.): Organizacija sovetskoj nauki v 1926 – 1932 gg. Sbornik ­dokumentov. Leningrad 1974 Danilov, V.; Manning, R. T., Viola, L. (Hg.): Tragedija sovetskoj derevni. Kollektivizacija i ­raskulačivanie, 5 Bde., 1927 – 1939. Moskva 1999 – 2006 „Delo Trudovoj Krest’janskoj Partii (1930 – 1932gg.)“, in: Sel’skij Mir. Al’manach. Mart 1998. Moskva 1998, S. 16 – 146 Kljukin, P. N. u. a. (Hg.): N. D. Kondrat’ev. Suzdal’skie Pis’ma. Moskva 2004 Makarov, V. G.; Christoforov, V. S. (Hg.): Vysylka vmesto rasstrela. Deportacija intelligencii v dokumentach VČK–GPU. 1921 – 1923. Moskva 2005

360

Quellen- und Literaturverzeichnis

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7. 3  Abbi ld u ng s n a chwei s Titel, Abb. 1 – 4, 6, 7, 15

Historisches Museum der Timirjazev-Landwirtschaftsakademie Moskau

Abb. 5

RGAĖ, f. 731, op. 1, d. 81, l.1

Abb. 8

RGAĖ f. 772, op. 1, d. 66, l. 2

Abb. 9

RGAĖ f. 9470, op 1, d. 130, l. 12

Abb. 10

RGAĖ f. 766, op. 1, d. 178, l. 1

Abb. 11

RGAĖ f. 769, op. 1., d. 48, l. 1

Abb. 12

RGAĖ f. 772, op. 1, d. 67, l. 49

Abb. 13

RGAĖ f. 766, op. 1, d. 186, l. 11.

Abb. 14

RGAĖ f. 771, op. 1. 271, l. 7

Abb. 16

Katja Bruisch, 2009

8.  R E G I S T E R A Aeroboe, F.  198, 199, 276 Ahnert, E.  201 Ancyferov, A. I.  77 Ancyferov, A. N.  70, 72, 85, 110, 121, 122, 156, 259, 267, 281, 344 Anisimov, V. I.  77, 79, 81, 85, 93, 96, 102, 103, 106, 109, 110, 111, 120, 122, 125 – 127, 132, 134, 135, 195, 344 Ashby, A. W.  275 Auhagen, O.  200, 201, 261, 276 B Baker, O. E.  203 Bažaev, V. G.  38, 70, 71, 80, 85 Berkengejm, A. M.  124, 134 Brežnev, L. I.  301, 321 Bruckus, B. D.  61, 67, 79, 83, 85 – 88, 98, 110, 112, 114, 131, 132, 159, 160, 162, 163, 166, 174 – 177, 262, 263, 265, 268, 272, 274, 276, 279, 282 – 284, 326, 345 Brunst, V. E.  86, 103, 259, 267, 271, 273, 274 Bucharin, N. I.  173, 194, 238, 243, 301 Bulgakov, S. N.  65, 80, 95 Bunin, I.  16 C Čajanov, A. V.  24, 59, 61, 63, 64, 68, 75 – 77, 81, 83, 85 – 88, 98, 103, 104, 106, 108, 109, 111, 112, 118, 119, 122, 125 – 127, 129 – 133, 135 – 138, 140, 144, 147, 148, 151, 152, 162 – 164, 165, 166, 169, 172, 173, 180, 181, 194 – 196, 198 – 204, 206, 207, 209, 211, 215, 221, 227, 228, 231, 232, 235 – 237, 240, 244, 247, 251 – 254, 256, 262, 270 – 273, 276, 277, 280, 282, 289 – 293, 296, 297, 299, 300, 302, 311 – 317, 324 – 330, 338, 345, 352, 361

Čelincev, A. N.  57, 59, 61, 63, 64, 79, 81, 83, 84, 87, 88, 98, 103, 105, 109, 110, 112, 114, 115, 118, 119, 122, 132, 147, 152 – 154, 156, 157, 180, 183, 185, 186, 194, 215, 216, 217, 223, 229, 231, 233, 236, 240, 244, 251, 252, 259, 260, 268, 282, 286, 288, 294, 302 – 308, 310, 311, 324, 325, 345 Cellinskij, B. A.  33 Černenkov, N. N.  95, 112, 181 Černov, V. M.  117, 261 Chejsin, M.  68 Chižnjakov, V. V.  68, 85, 120, 122, 123, 127, 135, 170 Chrjaščeva, A. I.  235 Chruščev, N. S.  300, 307 Chruščov, A. G.  111, 114 Čuprov, A. I.  53 – 56, 58 – 60, 70, 79, 93, 196, 198, 282, 347, 348 D Danilov, V. P.  300, 326, 330, 331 Dojarenko, A. G.  13 – 17, 20, 22 – 25, 77, 78, 80, 81, 85 – 88, 91, 92, 98, 103, 110, 113, 122, 143, 144, 146, 147, 168, 170, 173, 175, 181, 207, 215, 228, 246, 252, 254, 289, 290 – 292, 302 – 308, 325, 328, 338, 346 Dubrovskij, S. M.  188, 219, 230, 231 E Einstein, A.  277, 278, 279 Elmhirst, L. K.  204, 205, 276 Emel’janov, I. V.  156, 259, 267, 274, 280, 282, 346 Ermolov, A. S.  45 Evdokimov, A. A.  85, 87, 103 F Fabrikant, A. O.  81, 194, 252, 254, 287, 325

392

Personenregister

Fisher, I.  205 Fortunatov, A. F.  26, 54, 55, 74, 77 – 81, 85, 86, 88, 90, 98, 103, 132, 173, 194, 334, 335, 338, 347 G Gajster, A. I.  232, 244, 250 Gibner, N. P.  93, 137 Golder, F.  204 Gorbačev, M. S.  323 – 326 Gor’kij, M.  16, 168, 254, 255 Groman, V. G.  101, 103, 230 H Harper, S. N.  274, 275 Haushofer, H.  199 Hayek, F. v.  284 Hoetzsch, O.  261, 264 I Ievlev, A. I.  322 J Jakovlev, Ja. A.  195, 242, 245 – 247 Jaroslavskij, E. M.  185, 233, 254 Jasny, N.  280 Jurovskij, L. N.  254, 289, 298 K Kablukov, N. A.  54 – 56, 59, 71, 80 – 82, 85, 87, 90, 98, 103, 110, 112, 122, 132, 146, 198, 347 Kacenelenbaum, Z. S.  81, 82, 85, 97, 110, 122, 132, 172, 194, 205, 252, 288, 292, 302, 347 Kafengauz, L. B.  59, 81, 82, 85, 97, 110, 122, 145, 172, 194, 195, 252, 254, 280, 287, 288, 292, 302, 325, 347 Kalinin, M. I.  224, 240, 242, 294 Kamenev, L. B.  170, 238 Karyšev, N. A.  56 Kasso, L. A.  81 Kaufman, A. A.  59, 88, 96, 98, 112, 113, 115, 132, 348 Kerblay, B.  313 Kerenskij, A. F.  118, 124

Keynes, J. M.  198 Kil’čevskij, V. A.  85, 102, 103, 110, 120, 122, 175, 176, 195, 209, 292 Klimenko, I. E.  242 Knapp, G. F.  54 Kočetkov, V. P.  87, 143, 271 Kondrat’ev, N. D.  27, 97, 112, 115, 132, 136, 137, 140, 141, 144, 167, 169, 170, 175, 176, 181, 183, 184, 187 – 189, 194, 195, 198, 199, 202, 203, 205, 208, 215 – 217, 219 – 222, 228, 231, 233, 240, 244, 246, 247, 251 – 254, 270, 273 – 276, 279 – 281, 289, 294 – 296, 298 – 301, 324 – 328, 330, 338, 348 Kosinskij, V. A.  16, 17, 23, 24, 58 – 61, 80, 89, 95, 110, 156, 267, 282, 348 Kostrov, N. I.  77, 87, 302 Kostyčev, P. A.  45 Kovalevskij, M. M.  49 Kricman, L. N.  187 – 189, 194, 219, 230, – 233, 235, 236, 239, 241, 247 – 250 Kricman, L. P.  230 Kubanin, M.  232, 237, 238, 241, 244 Kubjak, N. A.  228, 242 Kulyžnyj, A. E.  93, 103, 109, 120 Kuskova, E. D.  97, 110, 125, 165, 169, 170, 177, 268, 270, 273, 274 Kušner, P. I.  319 Kuzovkov, D. V.  230 L Larin, Ju.  173, 186, 229 Lederer, E.  199 Lenin, V. I.  62, 63, 134, 136, 152, 169, 174, 188, 210, 211, 234, 246 Levickij, A. P.  67, 85 – 88, 93, 103, 109, 110, 112, 117, 132, 143, 144, 169, 170, 181, 196, 349 Litošenko, L. N.  59, 74, 81, 87, 98, 103, 110, 112, 144, 161, 162, 166, 172, 174, 181, 194, 195, 204, 231, 235, 240, 252, 254, 287, 288, 292, 296, 298, 300, 325, 326, 349 Litvinov, M. M.  204 Ljaščenko, P. I.  230 Ljudogovskij, A. P.  34, 53 Lysenko, T. D.  238, 304, 305, 346

Personenregister

393

M Maceevič, K. A.  74, 79, 85, 88, 102, 103, 109, 112, 119, 122, 147, 154, 349 Makarov, N. P.  17, 23, 24, 59, 61, 77, 81, 83 – 85, 87, 96, 97, 103, 109, 112, 114, 115, 119, 127, 129, 130 – 132, 137, 138, 140, 147, 153, 157, 165, 167, 180, 185, 186, 194, 204 – 207, 215 – 217, 222, 223, 229, 231, 233, 236, 240, 244, 246, 252 – 254, 259, 262, 268, 270, 272, 279, 282, 289, 290, 292, 294, 301 – 304, 306 – 311, 323, 324, 325, 333, 338, 350 Manujlov, A. A.  58, 59, 69, 80 – 82, 85, 88, 95, 100, 103, 152, 156, 157, 180 – 183, 188, 194, 217, 350 Maslov, P. P.  88, 109, 112, 132 Maslov, S. L.  102, 106, 109, 112, 114, 118, 119, 120, 122, 132, 137, 138, 140, 146, 167, 196, 209, 252, 287, 292, 296, 297 – 299, 325, 350 Maslov, S. S.  253, 260 Meerson, G.  235, 237 Merkulov, A. V.  150, 195 Mesjacev, P. A.  193, 211, 227 Meyer, K.  266 Miljutin, V. P.  173, 230 Minin, A. N.  77, 81, 85, 86, 103, 110, 112, 122, 132, 135, 137, 151, 252, 256, 270, 274, 297, 300, 302, 351 Molotov, V. M.  240, 241, 242, 253, 294 Muralov, A. I.  242

P Pavlov, M. G.  35 Perelešin, V. A.  93, 137, 169 Peršin, P. N.  130 – 132 Pervušin, S. A.  59, 81, 87, 103, 110, 122, 172 Pešechonov, A. V.  41, 42, 60, 62, 90, 91, 95 – 97, 109, 111, 112, 117, 127, 150, 175 – 177, 181, 260, 261, 268, 282, 351 Popov, P. I.  219, 230 Posnikov, A. S.  93, 95, 110, 111, 117 Prjanišnikov, D. N.  85, 87, 103, 147, 173, 271 Prokopovič, S. N.  27, 59, 69, 85, 86, 92, 93, 95, 97, 98, 102, 110, 120, 122, 125, 128, 136, 145, 168, 169, 170, 172, 177, 195, 198, 200, 262, 267 – 269, 270 – 274, 276, 279, 282, 284, 285, 352

N Nabiullina, Ė. S.  342 Nemčinov, V. S.  304 Nikonov, A. A.  323 – 328 Nikulin, A. M.  333, 343

S Sadyrin, P. A.  87, 93, 96, 110, 169, 209, 212, 252, 253, 276, 296, 298, 300, 353 Sahlins, M.  314 Ščerbina, F. A.  41, 95, 351 Schlömer, F.  200, 277 Schumpeter, J. A.  199 Šefler, M. E.  245, 291 Senin, V. I.  183, 186, 244 Sereda, S. P.  139, 140, 147, 230 Sering, M.  198 – 201, 205, 261, 264 – 266, 276, 277, 279 Shanin, T.  315, 325, 326, 330, 331, 333 Sidorova, M. I.  320

O Oganovskij, N. P.  26, 43, 59, 64, 77, 96, 100, 103, 109, 112, 114, 131, 132, 155, 157, 173, 175, 176, 177, 181, 184, 187 – 189, 194, 198, 200, 215, 233, 292, 298, 325, 351 Orlov, V. I.  40, 54, 55, 90 Osinskij, V. V.  230

R Raevič, G.  232 Roscher, W.  54 Rozenberg, V. A.  58, 181 Rudnickij, N. V.  290, 291 Rudzinskij, D. L.  92 Rybnikov, A. A.  59, 61, 77, 81, 83, 84, 87, 98, 108, 110, 112, 119, 131, 132, 147, 168, 169, 174 – 176, 181, 184, 194, 195, 215, 252, 254, 287, 288, 296, 298 – 300, 302, 310, 325, 352 Rykov, A. I.  195, 243, 273 Ryvkina, R. V.  322

394

Personenregister

Šingarev, A. I.  110, 111 Šmelev, I. G.  320 – 323, 328, 325, 326 Smirnov, A. P.  179, 184 – 186, 189, 212, 220, 228, 233, 234, 242, 303 Sorokin, P. A.  251, 270, 273 – 275, 279, 281, 282 Stalin, I. V.  176, 238, 239, 242, 243, 247, 249 – 251, 253, 254, 285, 288, 294 – 296, 299, 307, 311, 318, 319, 326, 327, 339, 348 Stebut, I. A.  45, 48 Stein, L. v.  54 Strumilin, S. G.  194, 230, 269 Studenskij, G. A.  204, 240, 282, 339 Suchanov, N. N.  81, 254, 279, 280 Sviderskij, A. I.  188, 189, 226, 234, 242 T Taylor, H. C.  202 Tejtel, A. V.  86, 88, 110, 169, 170, 181, 215, 217, 244, 252, 254, 287, 296, 297, 300, 325, 353 Teodorovič, I. A.  157, 177, 179, 183, 189, 194, 213, 215, 230, 234, 242, 273 Thorner, D.  313 Tolstoj, L. N.  71, 77 Tomskij, M. P.  242, 243 Totomianc, V. F.  67, 69, 71, 72, 85, 87, 93, 152, 156, 198, 259, 262, 267, 281, 282, 353 Trockij, L. D.  176, 195 Tugan-Baranovskij, M. I.  68, 69, 70, 85, 88, 96, 110, 122, 123, 132, 154, 156, 198, 282, 353 Tulajkov, N. M.  92, 307

U Ugrimov, A. I.  87, 93, 133, 137, 138, 144, 149, 169, 174, 176 – 178, 262, 265, 266, 354 Unšlicht, I. S.  177 V Vavilov, N. I.  289 Venžer, V. G.  319, 320, 323 Vermeničev, I. A.  232, 237, 241, 244 Verner, K. A.  80, 90 Vichljaev, P. A.  81, 103, 105, 110, 112 Vil’jams, V. R.  192, 305, 307 Vonzblejn, M. N.  76, 77, 80, 137, 196 Voroncov, V. V.  60 W Warren, G. F.  203, 205 Weber, A.  199 Wolf, E.  314, 315 Z Zal’cman, L. M.  310 Zaslavskaja, T. I.  320, 322, 323, 331 Železnov, V. Ja.  147 Zel’gejm, V. N.  85, 87, 93, 101 – 103, 106, 109, 120, 122, 136 Zimmermann, C. C.  281, 282 Zinov’ev, G. E.  175, 182, 195, 206, 238, 240

TANJA ZIMMERMANN

DER BALKAN ZWISCHEN OST UND WEST MEDIALE BILDER UND KULTURPOLITISCHE PRÄGUNGEN (OSTEUROPA MEDIAL, BAND 6)

Der Balkan ist nicht nur ein Produkt der kulturellen und politischen Imaginationen des Westens, sondern entstand vielmehr im Fadenkreuz der Blicke aus Ost und West. Als Zwischenraum bot er sich für die Übertragung unterschiedlicher kultur politischer Entwürfe eines »dritten Raumes« an – vom Niemandsland bis zum jugoslawischen »dritten Weg«. Die medialen Gestalten des Balkans zeigen den Übergang fester Stereotype in entfesselte, imaginäre Phantasmen. Die Autorin untersucht Balkan-Narrative in unterschiedlichen Medien seit dem Niedergang der philhellenischen Begeisterung 1830 bis zur post-jugoslawischen Periode. 2014. X, 504 S. 120 S/W-ABB. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-22163-8

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BIANKA PIETROW-ENNKER (HG.)

RUSSLANDS IMPERIALE MACHT INTEGRATIONSSTRATEGIEN UND IHRE REICHWEITE IN TRANSNATIONALER PERSPEKTIVE

Der Band schließt an die aktuelle Imperiumsforschung an und widmet sich dem neuzeitlichen Russland bis in die Gegenwart. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive werden an prägnanten Beispielen Integrationsstrategien untersucht, die die Macht des russischen Imperiums an dessen labilen Peripherien und auf internationaler Ebene sichern sollten. Im Fokus der Studien stehen dabei Symbolpolitiken, Kommunikations- und Erinnerungskulturen. Gleichzeitig wird gezeigt, inwiefern die russische/sowjetische Machtpolitik an ihre Grenzen stieß und welche Formen von Widerständigkeit sich herausbildeten. 2012. 398 S. 10 S/W-ABB. GB. 155 X 230 MM. | ISBN 978-3-412-20949-0

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VISUELLE GESCHICHTSKULTUR HERAUSGEGEBEN VON STEFAN TROEBST IN VERBINDUNG MIT ARNOLD BARTETZKY, STEVEN A. MANSBACH UND MAŁGORZATA OMILANOWSK A

EINE AUSWAHL

BD. 12 | ARNOLD BARTETZKY, CHRISTIAN DIETZ, JÖRG HASPEL (HG.) VON DER ABLEHNUNG ZUR ANEIGNUNG? DAS ARCHITEKTONISCHE ERBE DES SOZIALISMUS IN MITTEL- UND OSTEUROPA FROM REJECTION TO APPROPRIATION? THE ARCHITECTURAL HERITAGE OF SOCIALISM IN CENTRAL AND EASTERN

BD. 9 | ARNOLD BARTETZKY NATION – STAAT – STADT ARCHITEKTUR, DENKMALPFLEGE UND VISUELLE GESCHICHTSKULTUR VOM 19. BIS ZUM 21. JAHRHUNDERT 2012. 276 S. 69 S/W- UND 177 FARB. ABB. GB. | ISBN 978-3-412-20819-6 BD. 10 | AGNIESZKA GASIOR (HG.) MARIA IN DER KRISE KULTPRAXIS ZWISCHEN KONFESSION UND POLITIK IN OSTMITTELEUROPA 2014. 388 S. 81 S/W- UND 47 FARB. ABB. GB. | ISBN 978-3-412-21077-9 BD. 11 | ARNOLD BARTETZKY, RUDOLF JAWORSKI (HG.) GESCHICHTE IM RUNDUMBLICK PANORAMABILDER IM ÖSTLICHEN EUROPA

EUROPE 2014. 297 S. 43 S/W- UND 175 FARB. ABB. GB. | ISBN 978-3-412-22148-5 BD. 13 | AGNIESZKA GASIOR, AGNIESZKA HALEMBA, STEFAN TROEBST (HG.) GEBROCHENE KONTINUITÄTEN TRANSNATIONALITÄT IN DEN ERINNERUNGSKULTUREN OSTMITTELEUROPAS IM 20. JAHRHUNDERT 2014. 352 S. 51 S/W- UND 12 FARB. ABB. GB. | ISBN 978-3-412-22256-7 BD. 14 | STEFAN ROHDEWALD GÖTTER DER NATIONEN RELIGIÖSE ERINNERUNGSFIGUREN IN SERBIEN, BULGARIEN UND MAKEDONIEN BIS 1944 2014. 905 S. 18 S/W- UND 10 FARB. ABB. GB. | ISBN 978-3-412-22244-4

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ISBN 978-3-412-22147-8

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BEITR ÄGE ZUR GESCHICHTE OSTEUROPAS HERAUSGEGEBEN VON

JÖRG BABEROWSKI, KLAUS GESTWA, MANFRED HILDERMEIER UND JOACHIM VON PUTTKAMER

EINE AUSWAHL

BD. 43 | FRANK GRÜNER PATRIOTEN UND KOSMOPOLITEN

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Verena Moritz, Hannes Leidinger

die russiscHe reVoLution

Die monumentalen Ausmaße einer Zeitenwende verdichten sich zum symbolträchtigen Bild: Der Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg steht für die großen Umwälzungen und visualisiert jene »Tage, die die Welt veränderten«. Die Konzentration auf den kurzen Moment des Umsturzes engt allerdings das Blickfeld ein. Neben, vor und hinter Lenins »Rotem Oktober« öffnet sich ein weiter Horizont, der das ganze Ausmaß und die eigentliche Tragweite der »Russischen Revolution« erkennen lässt. Verena Moritz und Hannes Leidinger zeigen sie als Konglomerat verschiedener Krisen. Machtwechsel und Bürgerkriege, Bauernrebellionen und Nationalitätenkämpfe, ausländische Interventionen sowie soziale, kulturelle und wirtschaftliche Transformationen verbinden das Epochenjahr 1917 mit Entwicklungen auf unterschiedlichen Zeitebenen. Ein historisches Hauptereignis wird daher auch im Hinblick auf Strukturen und Prozesse zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und den beginnenden 1930er-Jahren erfasst. 2011. 108 S. Br. 120 x 185 mm. ISBN 978-3-8252-3490-9

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